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German Pages 290 Year 2015
Maria Heidegger, Nina Kogler, Mathilde Schmitt, Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek (Hg.) sichtbar unsichtbar
Gender Studies
Die Herausgeberinnen arbeit(et)en an folgenden Instituten der Universität Innsbruck: Forschungsinstitut Brenner-Archiv Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie sowie am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Standort Innsbruck.
Maria Heidegger, Nina Kogler, Mathilde Schmitt, Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek (Hg.)
sichtbar unsichtbar Geschlechterwissen in (auto-)biographischen Texten
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, der Philosophisch-Historischen Fakultät, des Vizerektorats für Forschung, der Interfakultären Forschungsplattform Geschlechterforschung und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9 Geschlechterwissen in auto_biographischen Texten – Annäherungen verschiedener Disziplinen
Maria Heidegger, Nina Kogler, Mathilde Schmitt, Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek | 11 Tradierung von Wissensbeständen in der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung
Anita Runge | 21 »Es ist erklärlich genug, dass die Geschichte über Catharina’s stilles Walten unter den Kindern schweigt.« Die Rezeption Katharina von Boras oder: Geschichtskonstruktionen als Übungen im strukturierten Unsichtbarmachen
Gabriele Jancke | 37 Weibliche (Selbst-)Darstellung in medizinischen und moralischen eitschri ten der deutschen ätau klärung
Elisa Leonzio | 51 Intellektuelle Symbiose und Geschlechterwissen in den (auto)bi(o)graphischen Schriften John Stuart Mills und Harriet Taylors
Hans Jörg Schmidt | 67 »Kämpferinnen« und »Heroinnen«. Marianne Webers Charakteristik studierender Frauen in Gegenüberstellung mit Lebensberichten der ersten Ärztinnen der Habsburgermonarchie
Sabine Veits-Falk | 85 Geschlechterordnung im Kirchenkampf. Konstruktionen von Gender in der autobiographischen Verarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus
Benedikt Brunner | 103
Archiv, Stasi-Akten und Geschlechterwissen in Susanne Schädlichs Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich. Selbstnarration als Sichtbarwerden
Myriam Naumann | 119 Wie die Tochter eines Sport-Reporters von ihren Hunden erzählt und welche Politiken sie dabei treibt – Biographisches bei Donna Haraway
Stefanie Schäfer-Bossert | 133 De-Konstruktion von Geschlechterstereotypen. Impulse zum diakonisch-sozialen Lernen
Ulrike Witten | 151 Negativ_formen. Zu den Ausgaben der Werke von Hertha Kräftner
Verena Mermer | 165 Sich zum Verschwinden bringen: Maria Erlenbergers Bericht Der Hunger nach Wahnsinn. Eine literaturwissenschaftliche Spurensuche
Bianca Sukrow | 179 Geschlechterwissen in biographischen und autobiographischen Texten von Françoise Giroud
Saskia Wiedner | 195 ›Poetisches Geschlechterwissen‹ sichtbar werden lassen: Barbara Hundeggers schreibennichtschreiben
Eleonore De Felip | 213 ›Neue‹ Väter. Vaterschaft und Männlichkeit in Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Anne-Dorothee Warmuth | 229 »Untangle the webs«: Identitätskonstruktionen in queer/feministischen personal zines
Maria Bühner | 243
Oxana Chis tänzerische Wissensschaffung. Biographische Erinnerung an Tatjana Barbakoff aus feministischer Perspektive
Layla Zami | 261 Autor_innen und Herausgeberinnen | 277 Personenregister | 281
Vorwort
Die vorliegende Publikation ist Teil der Aktivitäten der Forschungsgruppe Auto_Biographie – De_Rekonstruktionen der Interfakultären Forschungsplattform Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen an der Universität Innsbruck. Die interdisziplinäre Forschungsgruppe konstituierte sich im Herbst 2010 und beschäftigt sich aus geschlechterkritischer Perspektive mit der Analyse sowohl von Subjekt- und Identitätskonstruktionen als auch von Wissens- und Handlungspotentialen in autobiographischen und biographischen Quellen. Sie diskutiert einschlägige Texte mit Bezug auf die Diskurse ihrer unterschiedlichen Disziplinen (Geschichte, Literatur- und Sozialwissenschaften, Romanistik, Theologie) – mit Gewinn für alle Beteiligten. Mit Workshops und Studientagen wurde der interdisziplinäre Austausch intensiviert: Er betraf neben prinzipiellen Fragen zur ›Quellenproduktion‹ (wie sie etwa mit den narrativen Interviews in der Soziologie vorliegt) auch ›Ego-Dokumente‹ und ihre Stellung in der Historiographie und die vor allem in den Literaturwissenschaften geführte Debatte über das Verhältnis von realisiertem Leben und fiktionalem Text. Die Auseinandersetzung der Forschungsgruppe über den Umgang mit »Raum« in autobiographischen Texten fand ihre Fortsetzung in einem interfakultären Forschungskolloquium zum Thema Subjekt und Raum. Raumkonstruktionen in Ego-Dokumenten und autobiographischen Texten aus geschlechterkritischer Perspektive im Spätherbst 2011. Die Antworten auf unseren diesbezüglichen Call for Papers hatten die Themenvielfalt gezeigt, die in diesem Kontext bearbeitet wird. Erfreulich waren insbesondere die Poster-Präsentationen von vier NachwuchswissenschaftlerInnen: Waren der Schwerpunkt der Vorträge und unser damaliger Fokus literaturwissenschaftlich dominiert, zeigten die jüngeren KollegInnen, wie fruchtbar das Thema auch für die Architekturgeschichte und -theorie, die Pflegewissenschaft und die Theologie sein kann.
10 | VORWORT
Im Januar 2013 fand ein Studientag zum Thema Auto/Biographie und Geschlecht. Methodologische und theoretische Reflexionen aus der Forschungspraxis statt, der seine Fortsetzung im Mai 2015 fand, um die Kooperation mit ForscherInnen aus Bozen, Graz, Salzburg und Wien zu festigen und von den Ergebnissen gemeinsamer Diskussionen zu bestehenden und hinzugetretenen Forschungsproblemen zu profitieren. Neben den intensivierten Kontakten durch Kooperation hat die Forschungsgruppe Kompetenzgewinn auch durch »Sammeln« angestrebt und einen Call for Articles formuliert. Gesucht wurden Antworten auf Fragen nach Praktiken des Erschließens und des Sichtbarmachens (dem vordringlichen Ziel der Frauenforschung in ihren Anfängen), vor allem aber des Sichtbarhaltens von Geschlechterwissen in seinen autobiographischen und biographischen Dimensionen. Die Anzahl der eingereichten Exposés bestätigte den Eindruck, dass damit eine allgemeine und aktuelle Problemstellung vorliegt und dass die Fragestellung noch weiter ausgeleuchtet und theoretisch weiter getrieben werden kann. Eine Schneise dürfte mit dem vorliegenden Buch gebahnt sein. Auf dem Weg zu dieser Publikation haben uns viele Personen und Institutionen unterstützt. Wir möchten ihnen hiermit unseren Dank aussprechen: allen voran den Autorinnen und Autoren, deren Beiträge auch interne Diskussionen belebten und weiterhin inspirieren. Bei Jennifer Niediek vom transcript Verlag bedanken wir uns für die umsichtige und kompetente Betreuung. Für die finanzielle Förderung dieses Bandes danken wir dem Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck (Vizerektorin Sabine Schindler), den Dekanaten der Philosophisch-Historischen Fakultät (Dekan Klaus Eisterer), der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät (Dekan Sebastian Donat) und der Theologischen Fakultät (Dekan Wolfgang Palaver) sowie der Interfakultären Forschungsplattform Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen an der Universität Innsbruck. Maria Heidegger, Mathilde Schmitt, Ursula Schneider, Annette Steinsiek, Nina Kogler Innsbruck und Graz, im Mai 2015 http://www.uibk.ac.at/geschlechterforschung/geschlechterforschungprofil/ autobiografiehome.html
Geschlechterwissen in auto_biographischen Texten – Annäherungen verschiedener Disziplinen M ARIA H EIDEGGER , N INA K OGLER , M ATHILDE S CHMITT , U RSULA A. S CHNEIDER , A NNETTE S TEINSIEK
W ARUM
ES S ICHTBARHALTEN BRAUCHT UND WAS ES DAFÜR BRAUCHEN WÜRDE Seit ihren Anfängen war das Sichtbarmachen von Frauen und ihren Leistungen eine der zentralen Aufgaben der Frauenforschung. Die wissenschaftliche Auswertung etwa von autobiographischen Zeugnissen und lebensgeschichtlichen Interviews und die Auseinandersetzung mit methodischen Fragen der Biographieschreibung waren und sind wichtige Arbeitsgebiete dieses Projekts, das sowohl feministisch-politisches, als auch gesellschaftskritisches Anliegen von WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen wurde. Der Mangel an Quellen gilt in diesem Prozess des making visible als ebenso interpretierbar wie vorhandene Spuren. Die Rahmenbedingungen – die Produktionsbedingungen, die Wirkmöglichkeiten und auch die mit und in den Quellen verfolgten Strategien – wurden verstärkt ins Auge gefasst. In etlichen Wissensbereichen wird inzwischen konstatiert und moniert, dass die Anstrengungen des Sichtbarmachens zwar in ihren Ergebnissen (Lexika, Biographien, Editionen, Werkverzeichnisse, Studien usw.) durchaus erfolgreich waren, die Implementierung und Integration in den wissenschaftlichen und kulturellen Diskurs – das keeping visible sozusagen – jedoch kaum gelungen ist. Will man das engagierte Projekt geschlechterkritischer Biographieforschung der 1970er Jahre fortsetzen, muss es gerade angesichts der Entwicklungen der
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letzten Jahre neu gedacht werden. Der ungeheure Digitalisierungsschub und die Ubiquität von Daten haben das Sichtbarmachen, Sichern und Sichtbarhalten zwar in mancher Hinsicht erleichtert, zugleich aber inflationiert. Es kann sich einerseits jede und jeder in diese virtuelle Welt einschreiben, andererseits gibt es jede Menge nicht zuordenbares Wissen, gibt es anonyme Wissenswelten mit je eigenen Methoden der Wissensverwaltung und -erhaltung, die den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen und stärker steuern, als Vielen bewusst ist. Die Begriffe von AutorInnenschaft und UrheberInnenschaft verschwimmen, Interessensgruppen bilden sich ebenso schnell, wie sie wieder zerfallen. Beides schwächt das Verantwortungsprinzip und die Nachhaltigkeit wissenschaftlichen Arbeitens. Inwieweit nicht-hegemoniales und alternatives Wissen generiert, weitergegeben und erhalten wird, ist kaum mehr überschaubar. Es braucht – trotz aller bisherigen Anstrengungen und Erfolge – weiterhin die Bereitstellung von Quellen und Dokumenten (von Frauen). Die Digital Humanities als männlich dominiertes Feld mit entsprechender Definitionshoheit haben in den letzten Jahren zwar feministische und postkoloniale Kritik erfahren,1 trotzdem müssen sich WissenschaftlerInnen weiterhin aktiv einmischen, soll es mit dem Medienwechsel nicht – mehr oder weniger unbemerkt – zu einem massiven Verlust bereits generierten Wissens kommen. Wie kann angesichts dieser Umstände das »subjektive Potenzial von AkteurInnen differenzierter in den Blick genommen und in seiner jeweiligen perspektivischen Offenheit zugleich in seiner biografie- und feldabhängigen Logik und Ambivalenz rekonstruiert«2 und also sichtbar gemacht werden? Und: Wie kann es sichtbar gehalten werden? Das keeping visible ist nur scheinbar eine Folge des making visible, auf keinen Fall eine automatische. Es erfordert andere Praktiken und andere methodische und strategische Reflexionen z.B. hinsichtlich der Nutzung technischer Möglichkeiten oder eines Reagierens auf gesellschaftliche Veränderungen. Der Diskurs der Informations- und Repräsentationsgesellschaft ist nicht mehr der einer Leistungsgesellschaft, und es ist nicht egal, ob er auf eine soziale Marktwirtschaft rekurriert oder in neoliberalen Kontexten steht. Nicht das Projekt ist falsch oder überholt, sondern die Fragestellungen und Ansprüche müssen den Entwicklungen gemäß umformuliert und anders akzentuiert werden. Die Dialektik von making visible und keeping visible ist angedeutet in der Frage, 1
Vgl. u.v.a. Moya Z. Bailey: All the Digital Humanists Are White, All the Nerds Are Men, but Some of Us Are Brave. In: Journal of Digital Humanities Vol. 1, No. 1, Winter 2011 (online).
2
Irene Dölling: ›Geschlechter-Wissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien 23 (2005) 1+2, 44-62, hier 55.
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ob etwa ein Lexikon über Frauen, entstanden in den frühen 1980er Jahren, digital bereit gestellt werden soll oder ob die Beiträge auf den heutigen »Geschlechterwissensstand« zu bringen und in einem digitalen Medium aktuell zu halten wären. Auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung der WissenschaftlerInnen wäre zu überprüfen und zu adaptieren: Wird making visible (inzwischen) als produktive Tätigkeit wahrgenommen und dürfen sich jene, die sie ausüben, als PionierInnen sehen, als ForscherInnen in Räumen, die sie mit defizitären Landkarten betraten, scheint keeping visible eine reproduktive Tätigkeit zu sein: administrativ geprägt, auszuüben im Kontext der männlich kontrollierten Digital Humanities. Ansehen auf dem Gebiet ließe sich erst mit einem theoretischen Fundament erwerben.
F ACETTEN DES G ESCHLECHTERWISSENS In Anlehnung an Irene Dölling und Angelika Wetterer unterscheiden wir zwischen dem objektivierten bzw. gesellschaftlichen und dem subjektiven Geschlechterwissen von AkteurInnen. Es kann sowohl habitualisierte, inkorporierte als auch kognitive, reflektierte Elemente aufweisen.3 Im vorliegenden Band werden soziale, historische und kulturelle Kontexte rekonstruiert, in denen »Verschiedenes gewusst und damit auch potenziell ›wirklich‹ wird«4. Es wird Geschlechterwissen auf Grundlage von biographischen oder autobiographischen Texten und Quellen untersucht, in Bezug zu den individuellen biographischen und feldspezifischen Differenzierungen gesetzt sowie der Spannung von diskursivem und inkorporiertem Wissen, von Veränderung und Beharrung 5 Rechnung getragen. Gehen Dölling und Wetterer in ihren Darstellungen von einer sozialwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs Geschlechterwissen aus, so will dieser Band u.a. ausloten, wie sich dieser Begriff als methodologisches Werkzeug in den sogenannten Kulturwissenschaften gebrauchen lässt. Allen Beiträgen liegt diese Frage zu Grunde, die im Call for Articles aufgeworfen war. Es zeigt sich,
3
Vgl. Dölling 2005 (Anm. 2), 44-62; Angelika Wetterer: Geschlechterwissen: Zur Geschichte eines neuen Begriffs. In: dies. (Hg.): Geschlechterwissen und soziale Praxis. Theoretische Zugänge – empirische Erträge. Königstein i. Ts.: Ulrike Helmer 2008, 13-36.
4
Wetterer (Anm. 3), 17.
5
Vgl. Dölling (Anm. 2), 52.
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dass der Begriff »Geschlechterwissen« auch in anderen Disziplinen mit Gewinn einzusetzen ist. Insbesondere bei Untersuchungen autobiographischer Texte oder bei Fragen der Biographieschreibung hat er sich als tragfähig erwiesen. Der multi- und interdisziplinären Ausrichtung und Methodenvielfalt unserer Forschungsgruppe entsprechend bringt der Band Beiträge aus einer Vielzahl von Disziplinen: Geschichte, historische Theologie und Pastoraltheologie, Medizingeschichte, anglistische, germanistische, romanistische Literaturwissenschaft, Kultur- und Sozialwissenschaft. Theoretische Reflexionen über das making visible von Geschlechterwissen finden sich ebenso wie Beiträge, die anhand von Fallstudien die historische, speziell die biographische Dimension des Geschlechterwissens untersuchen. In ihnen wird deutlich, dass selbstverständlich gefasstes und vermeintlich natürliches implizites ›Alltagswelt-Wissen‹6 von Geschlecht und Geschlechterdifferenz häufig erst entlang von biographischen Brüchen verhandelt und damit sichtbar wird. Quellen kritisch zu lesen, könnte zukünftig also heißen, sie auf Strategien bezüglich einer Geschlechterordnung hin zu befragen. Mit dem paradoxalen Begriff des Unsichtbarmachens hatten wir im Call for Articles die Überlegung gefasst, dass es bisher unerkannte Strategien für ein absichtsvolles Auslassen gegeben haben könnte.
D IE B EITRÄGE
IM
Ü BERBLICK
Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Ratlosigkeit angesichts der aktuellen Forschungs- und Wissensperspektiven leitet den Band ein. Zu unwegsam erscheint im Unterschied zu den Anfängen der Frauenforschung nunmehr das Feld einer geschlechterkritischen Auseinandersetzung mit dem Auto_biographischen angesichts der Fallgruben, die die Gendertheorie aufgedeckt hat. In ihrem Beitrag setzt sich Anita Runge mit dem Vorwurf auseinander, das Projekt des making visible von »vergessenen und verlorenen« Geschichten von Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen sei gendertheoretisch naiv, weil es letztlich die kritisierte heteronormative Geschlechterordnung rekonstruiere und also stabilisiere. Mit der Ablösung des Gender-Begriffes, so Runge im Gegenzug, würde die Gender-Theorie die (Leistungen von) Frauen wieder verwischen. Runge schlägt eine empirische Umorientierung als Ausweg vor:
6
Vgl. Dölling (Anm. 2), 52; Wetterer (Anm. 3); Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2003; Sabine Maasen: Wissenssoziologie. Bielefeld: transcript Verlag 2009.
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sorgfältig kontextualisierend, nahe an den historischen und literarischen Quellen, kritisch gegenüber universalisierenden Theorien und ohne die Relevanz der Kategorie Geschlecht von vorneherein festzulegen, um auch das Subversive, Kreative und Inszenierte sichtbar machen zu können. Anita Runge zeigt diesen Weg am Beispiel von Autorinnen der Zeit um 1800 auf, mit denen sie ihre eigenen Forschungen in den 1980er Jahren begonnen hatte. Im Anschluss an diesen Beitrag setzt sich Gabriele Jancke am Beispiel von Katharina von Bora mit Geschichts- und Gesellschaftskonstruktionen einschließlich der darin enthaltenen Geschlechterkonzepte auseinander, die für das Sichtbar- und Unsichtbarmachen von Bedeutung sind. Im Zentrum ihres Beitrags steht die weibliche Hauptfigur der Reformationsgeschichte, die als reale Person schwer zu fassen und abgesehen von ihrer Rolle als Gefährtin Martin Luthers und als exemplarische Haus- und Pfarrfrau weitgehend unsichtbar geblieben ist. Biographische Mitteilungen über Katharina von Bora vom 16. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit spiegeln vor allem die Haltungen und Interessen ihrer Verfasser wider, und die Rezeption dieser Deutungen und Zuordnungen macht verschiedene Geschichtsbilder mit beträchtlicher Wirkung sichtbar. Für die Frühe Neuzeit dürfte, so Jancke, eher das Unsichtbarmachen von Frauen die Norm gewesen sein. Das Sichtbarmachen sei – sozusagen als Umkehrschluss – damit ein geschichtswissenschaftlich erklärungsbedürftiges Verfahren geworden. Elisa Leonzio befasst sich in ihrem Beitrag mit Selbst- und Fremddarstellungen des Weiblichen in medizinischen und moralischen Schriften der deutschen Spätaufklärung, die sie zunächst den Autonomisierungsmöglichkeiten im Rahmen der dualistisch denkenden cartesianischen Epoche gegenüber stellt. Im Zuge der anthropologischen Wende in den 1770er Jahren, also zu einer ganzheitlichen Auffassung vom Menschen in der Spätaufklärung, dies Leonzios These, wurde ein medizinisch begründetes Geschlechtermodell durchgesetzt, das Frauen mit den Attributen »empfindsam« und »irrational« belegte. Die Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung von Frauen sei auf dieses Modell verwiesen gewesen und verwiesen worden, womit sich der weibliche Autonomisierungsprozess verlangsamt habe. Damit, so könnte laut Leonzio argumentiert werden, habe sich nachhaltig die feldspezifische Dimension des historischen Geschlechterwissens verschoben, welche unter anderem für das alltägliche doing gender unverzichtbar war. Darüber konnten die untersuchten Quellen allerdings nur teilweise Auskunft geben.
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Hans Jörg Schmidt widmet seinen Beitrag John Stuart Mill und Harriet Taylor, einem berühmten Paar bzw. einer intellektuellen Beziehung, die zeitgenössisch als skandalös empfunden wurde und seither wiederholt große Aufmerksamkeit erfuhr, auch seitens der biographischen Forschung. Dabei interessiert Schmidt im Kontext unseres Bandes vor allem die Frage, welches Geschlechterwissen in der intellektuellen Symbiose des Paares sichtbar wird. Er untersucht zu diesem Zweck dessen reichhaltiges autobiographisches und biographisches Schrifttum, insbesondere die aufeinander bezogenen Schriften und Passagen. In den Reflexionen des Autors Mill und der Autorin Taylor über die Rechte der Frau, die Frauenemanzipation und die viktorianische Geschlechterordnung, die besonders in den für das Paar existenziellen Fragen des Ehe- und (fehlenden) Scheidungsrechts zu Tage traten, werden die Verwobenheit von Beziehungsleben und Werk sowie ein gemeinsam erworbenes und geteiltes Geschlechterwissen im Sinne eines »Zusammenhangs-Wissens«7 erkennbar. Sabine Veits-Falk rückt einen im Jahr 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, erschienenen analytischen Text der Soziologin, Rechtshistorikerin und Frauenrechtlerin Marianne Weber in das Zentrum ihres Beitrags. In Vom Typenwandel der studierenden Frau hatte sich Weber mit der Charakteristik der ersten Frauen an den Universitäten, den »Kämpferinnen« und »Heroinnen« innerhalb eines bis dahin allein Männern zugänglichen Raums befasst. Sabine Veits-Falk diskutiert die Kernaspekte von Marianne Webers typologisierender Analyse anhand von biographischen und autobiographischen Texten der ersten Ärztinnengeneration in der Habsburgermonarchie, die um die Jahrhundertwende in einer Artikelserie publiziert worden waren. Diese ersten Ärztinnen, so Sabine Veits-Falk im Anschluss an ihren Vergleich von zeitgenössischer soziologischer Analyse und (auto-)biographischem Kontext, erweiterten sowohl das alltagsgeschichtliche als auch das feldspezifische Geschlechterwissen und stellten ein neues »Geschlechter-Orientierungswissen« zur Verfügung. Das Potential von Autobiographien und Biographien als Quellen für eine historische Fragestellung lotet Benedikt Brunner am Beispiel von Lebensbeschreibungen evangelischer TheologInnen aus, die auf verschiedene Weise am sogenannten »Kirchenkampf« beteiligt gewesen waren und die mit ihren Lebensgeschichten zugleich an der damit verbundenen »Meistererzählung von den widerständigen Kirchen« im Nationalsozialismus mitgeschrieben hatten. Brunner verfolgt mit einer dekonstruierenden Strategie die geschlechterkritische Frage nach den Männlichkeitskonstruktionen der AutorInnen. Er greift den Ansatz von 7
Vgl. Dölling (Anm. 2), 49.
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Ulrike Auga auf, Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens zu fassen. Die Geschlechterordnung bleibt, so Bunners Fazit, in den autobiographischen Texten derer, die nach 1945 über ihr Verhältnis zu Nationalsozialismus und Kirchenkampf reflektieren, zwar unhinterfragt und unausgesprochen, ein Geschlechterwissen lasse sich jedoch in der kämpferischen Rhetorik des »Gesinnungsmilitarismus« aufzeigen: Kameradschaft, Mut und Tapferkeit als omnipräsente Motive verweisen auf spezifische hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen. Diese wären, in einem nächsten Schritt, mit anderen zeitgleichen (religiösen) Männlichkeitsvorstellungen und denen der Folgegeneration zu vergleichen. Anhand von Susanne Schädlichs Autobiographie Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (2009) zeigt Myriam Naumann, wie die Akten der von der Stasi observierten DDR-BürgerInnen auch in der Generation der Nachkommen eine Erschütterung der Identität hervorrufen können. In den Akten über Hans Joachim Schädlich, der mit seiner Familie 1977 in die Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden war, vor allem als Tochter erwähnt, muss sich Susanne Schädlich erst als selbständiges Subjekt setzen und ihre Erfahrungen als Heranwachsende mit dieser Perspektive neu verorten. Die Stasi, ihr militärischer Aufbau samt Aufstiegsverheißung sind wie selbstverständlich männlich codiert, ein Geschlechterwissen ist jedoch – wie Naumann feststellt – in Schädlichs Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte letztlich weniger relevant als die Differenzkategorie Ost-West. Die Zuschreibungspraxis, die mit dem Begriff »Osten« verbunden (gewesen) ist, sei eben nicht erst ein diskursives Produkt der Nachwendezeit, wie in der jüngeren Forschung vielfach behauptet werde, sondern traf Schädlich bereits in den 1970er Jahren. Die feministische Theoretikerin Donna Haraway (geb. 1944) hat in ihren Schriften, darunter u.a. das einflussreiche Cyborg Manifesto von 1985, kaum biographische Informationen preisgegeben. Mit dem Companion Species Manifesto, 2003, änderte sich das. Stefanie Schäfer-Bossert geht diesen qualitativ andersartigen Informationen im Zusammenhang mit der theoretischen Entwicklung Haraways nach. Eine companion species, nach Haraway durch »signifikante Andersheit« definiert, fordere eine Überprüfung jeder menschlichen Definition und damit des Selbstverständnisses des Menschen ein. Haraways biographische Selbstaussagen sind in ihren darauffolgenden Werken When Species meet (2008) und in Notes of a Sportwriter’s Daughter (ab 2006) als solche markiert. Die biographische Erzählung Haraways, so Schäfer-Bossert, findet auf hohem theoretischem Niveau statt, ist Teil der Theorie.
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Ulrike Witten fragt in ihrem Beitrag danach, inwieweit Geschlechterwissen in diakonisch-sozialen Lern- und Arbeitsprozessen durch das kommunikative Gedächtnis weiterwirkt. Sie stellt dar, dass Mädchen keine bewusste Berufswahl treffen, sondern die ihnen vermittelte traditionelle Frauenrolle realisieren. Eine Folge davon ist, dass sie kaum Selbstwertgefühl aus ihrer getroffenen Entscheidung ziehen, während sozial engagierte Jungen durch ihre ungewöhnliche Berufswahl in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. Um zu vermeiden, dass Geschlechterstereotype unhinterfragt in die nächste Generation diakonischsozial Handelnder weitergetragen werden, werden didaktische Szenarien entworfen, die eine Reflexion sowie De- und Neu-Konstruktionen von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen ermöglichen. Verena Mermer macht deutlich, inwieweit die vier Ausgaben des Werkes der österreichischen Autorin Hertha Kräftner (1928-1951) allein in (nicht begründeter) Auswahl und Anordnung die Rezeption präjudizierten. Sie waren besonders auf zwei biographische Aspekte, das Liebesleben und den Suizid der Autorin, ausgerichtet. Die Gleichsetzung von Werk und Biographie bei Autorinnen – man ging betreffend Kräftner sogar so weit, ihre Lyrik und ihre Prosa als ein einziges Werk, als Roman, zu beschreiben, dessen Hauptfigur sie selbst sei – ist ein Jahrhunderte altes Rezeptionsmuster, das zur Abwertung der literarischen Produktion geführt hat: angeblich bloße sprachliche ›Nach-Formung‹ von angeblich persönlich Erfahrenem hatte keinen Anspruch auf Originalität als Qualität. Dieses Rezeptionsmuster beobachtet auch Bianca Sukrow, die einer biographischen Leerstelle der Literaturgeschichte nachgeht. In Maria Erlenbergers preisgekröntem »Bericht« Der Hunger nach Wahnsinn (1977) schreibt eine Ich-Erzählerin von ihrem Aufenthalt und ihrer Heilung in einer psychiatrischen Anstalt. Der Bericht legt die Identifikation der Autorin mit der Ich-Erzählerin und Protagonistin nahe. Paradox ist die Situation allerdings dadurch, dass über die Autorin nichts bekannt ist. Maria Erlenberger ist ein Pseudonym, das nie gelüftet wurde. Alle biographischen Angaben über die »Autorin« gehen auf textimmanente Angaben zurück. Sukrow führt aus, wie dieser Zugriff die literarischen Qualitäten in den Hintergrund drängt. Sähe man sich diese aber genauer an, so Sukrow, ließe sich der Text »kaum noch als der referenzielle Tatsachenbericht lesen«, als der er rezipiert wurde. Saskia Wiedner stellt autobiographische Texte der französischen Publizistin und Autorin Françoise Giroud (1916-2003) den Biographien gegenüber, die Giroud über Alma Mahler, Jenny Marx und Cosima Wagner geschrieben hat. Girouds
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erst posthum veröffentlichtes autobiographisches Werk Histoire d’une femme libre (2013) ist, wie Wiedner belegt, ohne die Kenntnis von Simone de Beauvoirs Werk Le deuxième sexe (1949, dt. Das andere Geschlecht) kaum verständlich. Girouds Geschlechterwissen ist eindeutig geprägt von Beauvoirs Version des Existentialismus und ist als solches auch in die Biographien von Alma Mahler, Jenny Marx und Cosima Wagner eingegangen. Freiheit und Glück, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind zentrale Begriffe des Existentialismus. In ihrer autobiographischen Schrift habe Giroud eine Frau, die versucht, Freiheit und Glück zu verbinden, als radikal scheiternde dargestellt. Barbara Hundegger (geb. 1963) beschreitet in ihrem Buch schreibennichtschreiben einen »innovativen Weg […], um auf die […] Differenzen zwischen kollektivem, biographischem und feldspezifischem Geschlechterwissen hinzuweisen«, analysiert Eleonore De Felip. Die in der Wissenschaft beschriebene Diskrepanz zwischen ExpertInnenwissen und Alltags- und Erfahrungswissen kann, so zeigt De Felip, in der poetischen Sprache und in der künstlerischen Konstruktion eines Textes »zusammengeführt werden«. Hundeggers lyrisches Werk zeichnet sich durch einen wahrnehmbar hohen Grad an ExpertInnenwissen im Bereich der Geschlechterforschung aus. Im lyrischen Sprechen tritt die ›kunstschaffende Frau im Literaturbetrieb‹ vor die Augen der Lesenden, zugleich gelingt es der Autorin, das ›Konstrukt Frau‹ zurückzunehmen – De Felip spricht von einer »ambivalenten und offenen poetischen Konstruktion«. Ausgehend von einem zunehmend auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dargestellten Phänomen – einem historisch neuen Typus von Väterlichkeit und Vaterschaft, der sich im Zusammenhang spätmoderner Veränderungen in Arbeitsleben und Familie herauszubilden beginnt – arbeitet Anne-Dorothee Warmuth in ihrem Beitrag heraus, wie sich Konstruktionsprozesse von Vaterschaft und Männlichkeit wechselseitig beeinflussen und damit ein neues »Geschlechternarrativ« geschaffen werde. Es gelte einerseits die Verschiebungen und Neuerungen im Geschlechterverhältnis sichtbar zu machen, andererseits auch die Beharrungen und Stabilitäten aufzuzeigen. Warmuth kommt zu dem Schluss, dass die sich äußernde Persistenz tradierter Geschlechterrollen bisher zu wenig als Ausdruck einer möglichen Inkompatibilität von modernen Vaterschaftsentwürfen und dem traditionellen Konzept hegemonialer Männlichkeit gedacht und diskutiert wird. Die Kategorie der ›neuen‹ Väter bleibt daher grundsätzlich zu hinterfragen und sollte in entsprechenden Arbeiten nicht unreflektiert verwendet werden.
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Maria Bühner setzt sich in ihrem Beitrag »Untangle the webs« mit der Identitätskonstruktion in queer/feministischen (personal) zines, selbst-publizierten, nicht-kommerziellen Untergrund-Veröffentlichungen in kleiner Auflage auseinander. In diesem Genre, das zwischen Tagebuch und persönlichem Essay changiert und zwischen akademischem Diskurs und Aktivismus im Feld des queer/Feminismus angesiedelt ist, kommt sowohl ein expressiver Individualismus als auch ein politisches Bewusstsein zum Vorschein. Die AutorInnen, Zinester genannt, machen sichtbar, wie beschränkt die gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Skripte sind, nach denen Menschen jenseits von Heterosexualität und/oder des ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts leben müss(t)en. Zines sind emanzipatorische Praxen, mit denen sich Menschen der Verwobenheit ihrer Identität mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen bewusst werden und in denen sie widerständig agieren können. Mit Tanz Wissen schaffen – diesen Ansatz verfolgt Layla Zami im abschließenden Beitrag über die tänzerische Auseinandersetzung von Oxana Chi mit der Biographie der Tänzerin Tatjana Barbakoff. Es handelt sich um einen Problemaufriss im Zusammenhang mit einem Promotionsvorhaben, einen persönlich motivierten Versuch, eine postkoloniale Tanzgeschichte zu schreiben.
V IELFALT
DER SPRACHLICHEN
F ORMEN
Das sprachliche Sichtbar-Machen von Frauen ist im Deutschen seit den 1980er Jahren thematisiert und in verschiedenen Formen ausprobiert und praktiziert worden. Jede der Formen hat ihren sprachtheoretischen oder gesellschaftspolitischen Hintergrund, deshalb wurden in diesem Band die von den BeiträgerInnen gewählten Formen beibehalten. Schon in dieser Vielfalt der sprachlichen Formen, die der Sichtbarkeit dienen, ist zu erkennen: Weder das Projekt des Sichtbar-Machens noch das des Sichtbar-Haltens ist abgeschlossen. In diesem Sinne wünschen wir uns und allen, die diesen Gesichtspunkt in die Frauen- und Geschlechterforschung integrieren wollen, Freude und Hartnäckigkeit für die anstehende gendertheoretische Auseinandersetzung mit dem unsichtbaren Einfluss auf den digitalen Datenbestand und Datenfluss. Nach wie vor und immer braucht es, als das A und O: kritische LeserInnen.
Tradierung von Wissensbeständen in der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung A NITA R UNGE
Die Geschlechterforschung1 ist auch im deutschsprachigen Raum ein nach wie vor umstrittenes Wissenschaftsfeld. Sie hat mit Anerkennungsproblemen zu kämpfen, und ihre Leistungen sind immer noch nicht in allen Fachdisziplinen selbstverständlicher Bestandteil des Kanons. Zugleich ist die Geschlechterforschung aber seit einigen Jahren auch von inneren Widersprüchen gekennzeichnet, was dazu führt, dass viele Errungenschaften ihrer jahrzehntelangen Forschungsgeschichte bedroht sind. Diese Situation wird innerhalb der Geschlechterforschung inzwischen mehr und mehr als Krise wahrgenommen, die vor allem die aktuellen Paradigmen der westlichen Gender Studies betrifft. Dieser krisenhaften Situation liegen die problematischen Auswirkungen eines grundsätzlich positiven Merkmals der Geschlechterforschung zu Grunde. Es handelt sich nämlich um die Konsequenzen ihres Anspruchs, nicht nur die dominierende Wissenschaftskultur, sondern auch sich selbst zu reflektieren und dabei permanent in Frage zu stellen. Diese an sich fruchtbare Dynamik, von der die
1
Der Beitrag ist die geringfügig überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen des Workshops »Geschlechterforschung und Gleichstellung von Frauen an deutschsprachigen und chinesischen Universitäten« (Peking University, 9.-11. Okt. 2013). Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Funvyanjiuluncong. Journal of Women Studies, Peking, Mai 2014. Ich bedanke mich bei den HerausgeberInnen der Zeitschrift für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung der deutschsprachigen Fassung. – In der Folge verwende ich Geschlechterforschung als übergreifenden Begriff, Gender Studies als Bezeichnung für (de-)konstruktivistische Ansätze.
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Geschlechterforschung von Anfang an gekennzeichnet war, ist inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem die engagierten Wissenschaftlerinnen erschreckt die anti-feministischen Konsequenzen und die politische Ohnmacht elaborierter Gendertheorien registrieren – und nach einem Ausweg suchen. Pauschal gesagt: Die Entwicklung von der frühen Frauenforschung der 1970er Jahre zu den Gender Studies, die spätestens seit der Jahrtausendwende als das zentrale geschlechtertheoretische Paradigma gelten, hat zu Problemen und Verlusten geführt, die mittlerweile sehr ernst genommen werden – vor allem auch zum Verlust eigener Wissensbestände. Die systematischen Probleme der westlichen Gender Studies sollen im Folgenden nicht pauschal und generalisierend, sondern exemplarisch aus der Perspektive einer Literaturwissenschaftlerin erläutert werden, die sich lange mit der Wiederentdeckung und Rehabilitierung der literarischen und wissenschaftlichen Leistungen von Frauen in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt hat. Seit den 1980er Jahren habe ich zusammen mit vielen anderen Geschlechterforscherinnen vergessene Romane deutschsprachiger Autorinnen aus der Zeit von 1770 bis 1810 ermittelt, konnte mehr als 300 Bücher finden und bibliographisch erfassen;2 eine ganze Reihe von ihnen wurde erstmals seit ihrem Erscheinen neu herausgeben.3 Es wurden Namen von Schriftstellerinnen bekannt, die anonym historische Romane, Familienromane oder auch Reiseliteratur verfasst haben. In verschiedenen Studien habe ich versucht zu zeigen, wie eigenständig und originell – wenn auch immer auf die bekannte, von Männern geprägte literarische Tradition bezogen – diese Autorinnen gearbeitet haben und wie innovativ sie mit bestimmten Genres umgegangen sind.4 2
Vgl. Helga Gallas/Anita Runge: Romane und Erzählungen deutscher Schriftstellerinnen um 1800. Eine Bibliographie mit Standortnachweisen. Unter Mitarbeit von Reinhild Hannemann/Imma Hendrix/Ingrid Klöpper/Elke Ramm. Stuttgart/Weimar: Metzler 1993.
3
Vgl. die Reihe: Frühe Frauenliteratur in Deutschland. Hg. v. Anita Runge. Hildesheim/New York: Georg Olms 1987 ff. (bislang erschienen: http://www.olms.de/ > Reihen > Frühe Frauenliteratur in Deutschland, 15.05.2014); Benedikte Naubert: Neue Volksmärchen der Deutschen. Kommentierte Neuausgabe in 4 Bänden. Hg. v. Marianne Henn/Paola Mayer/Anita Runge. Göttingen: Wallstein 2001.
4
Vgl. Anita Runge: Literarische Praxis von Frauen um 1800: Briefroman, Autobiographie, Märchen. Studien zu Caroline Auguste Fischer, Johanna Isabella Eleonore von Wallenrodt und Benedikte Naubert. Hildesheim/New York: Georg Olms 1997. Einzelstudien: Mitleid im Revolutionsroman: Therese Huber: Die Familie Seldorf (1795/96). In: Margrid Bircken/Marianne Lüdecke/Helmut Peitsch (Hg.): Brüche und Umbrüche. Frauen, Literatur und soziale Bewegungen. Potsdam: Universitäts-Verlag
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Parallel dazu habe ich mich mit den Geisteswissenschaftlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt, die entscheidend dazu beigetragen haben, die vergessene schriftstellerische Tradition von Autorinnen seit dem 18. Jahrhundert wiederzuentdecken: Wissenschaftlerinnen wie Käte Hamburger, Ricarda Huch, Margarete Susman oder Christine Touaillon z.B. trugen ganz entscheidend zu einer Neubewertung der Epoche der Romantik in der Literaturwissenschaft bei. Ihre Werke sind ebenso wenig kanonisiert und als Bestandteil der wissenschaftlichen Tradition anerkannt wie die Romane der Autorinnen um 1800 als Teil des literarischen Erbes in Deutschland. Mit den Bemühungen um die vergessene und verlorene Geschichte von Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen setze ich mich wie viele andere VertreterInnen der literatur- oder geschichtswissenschaftlichen Geschlechterforschung seit geraumer Zeit dem Vorwurf der gendertheoretischen Naivität aus, dem Vorwurf der Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass ich mit der Perspektive auf Frauen die Geschlechterpolarität, die ich kritisiere, gleichzeitig (mit-) konstruiere und dadurch dazu beitrage, die heteronormative Geschlechterordnung zu stabilisieren.
APORIEN DER F ORSCHUNGSSITUATION Diese Situation führt in eine Aporie für alle Forschungen, die sich mit der Geschichte von Frauen und ihren kulturellen Leistungen beschäftigen: Politischemanzipatorische Zielsetzungen wie die Bemühungen um historische Gerechtigkeit für Frauen auf der einen und avancierte gendertheoretische Herangehens-
2010, 15-40; Schweizerische Geschichte in Familiengeschichten: Elisabeth, Erbin von Toggenburg von Benedikte Naubert (1756-1819). In: Christian von Zimmermann/ Nina von Zimmermann (Hg.): Familiengeschichten. Biographie und familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York: Campus 2008, 29-44; Märtyrerinnen des Gefühls. Weibliche Empfindsamkeit, Anthropologie und Briefroman bei Sophie von La Roche und Johann Karl Wezel. In: Wolfgang Emmerich/Eva Kammler (Hg.): Literatur. Psychoanalyse. Gender. Festschrift für Helga Gallas. Bremen: edition lumière 2006, 29-47; Konstruktionen von Geschichte und Geschlecht im Geschichtsroman deutschsprachiger Autorinnen um 1800. Das Beispiel Benedikte Naubert (1756-1819). In: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 29 (2005) 2: Gattung und Geschlecht. Hg. v. Anne Fleig/Helga Meise, 222-240.
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weisen wie z.B. De-Gendering5 auf der anderen Seite scheinen nicht mehr kompatibel. Im Jubiläums-Heft zum 30-jährigen Erscheinen der Feministischen Studien hat Anne Fleig diese Situation folgendermaßen beschrieben: »[…] historische Untersuchungen zu Frauen und insbesondere zu Leben und Werk von Autorinnen [werden] unter Generalverdacht gestellt. So führte der Erfolg der Gender Studies zum (erneuten) Verschwinden der Frauen aus der Literaturgeschichte.«6 Sie behauptet provokativ, »dass Gender zum Verschwinden der gerade entdeckten Frauen beiträgt und damit letztlich das feministische Projekt auflöst.«7 Mit dem »feministischen Projekt« meint Fleig nicht mehr und nicht weniger als: »[…] die Richtung der möglichen Veränderung der Welt anzugeben, und dazu beizutragen, in einem zunehmend unübersichtlichen Feld den Überblick zu bewahren.«8 Um zu verstehen, warum die westliche Gendertheorie aktuell dazu nicht mehr – oder so wenig – in der Lage ist, warum sie – gegen ihre eigenen Absichten – Frauen »zum Verschwinden« bringt, ist ein Blick auf die Entwicklung dieser Theorie in den letzten Jahrzehnten hilfreich. Dafür liegt eine Reihe von (selbst-)kritischen Beiträgen vor, u.a. von Gabriele Dietze, die in einem Aufsatz schon 2003 festgestellt hat, dass die Entwicklung der deutschsprachigen Geschlechterforschung nicht linear verläuft, sondern krisenhaft, und dass die Reihe der Erschütterungen sicher geglaubter Gendertheorien durch neue Paradigmen womöglich noch nicht abgeschlossen ist.9 Inwieweit diese Entwicklungen in nicht-westlichen Ländern nachholend nachvollzogen werden oder anders verlaufen, wäre im Einzelnen zu untersuchen. Studien zeigen, dass aktuelle Paradigmen wie das der Intersektionalität etwa in Lateinamerika nur eingeschränkt rezipiert werden und die Konjunkturen bestimmter Theoreme keineswegs parallel verlaufen.10
5
Vgl. Judith Lorber: Breaking the Bowls: Degendering and Feminist Change. New York: Norton 2005.
6
Anne Fleig: Das dreißigste Jahr – Vom Zusammenstoß mit der Wirklichkeit. In: Feministische Studien 31 (2013) 1, 46-50, hier: 48.
7
Ebd.
8
Ebd., 47.
9
Vgl. Gabriele Dietze: Allegorien der Heterosexualität. Intersexualität und Zweigeschlechtlichkeit – eine Herausforderung an die Kategorie Gender? In: Die Philosophin 28 (2003), 9-36.
10 Vgl. Martha Isabel Zapata Galindo: Intersektionalität und Gender Studies in Lateinamerika. In: QJB. Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 16 (2012), http://www.querelles.de/ > Archiv > 2012 > Band 16 (15.05.2014).
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Noch einmal zurück zum feministischen Ausgangspunkt, dem sich auch meine eigene Arbeit mit vergessenen und verdrängten Autorinnen und Wissenschaftlerinnen seit dem 18. Jahrhundert verdankt: In ihrer bereits 1979 erschienenen bahnbrechenden Studie Die imaginierte Weiblichkeit analysiert Silvia Bovenschen die kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen.11 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Idealisierung von Frauen und ihre Zuweisung in den Bereich des privaten Raumes, der Schutz vor dem feindlichen gesellschaftlichen Außenraum bieten sollte, als eine wesentliche Ursache der weiblichen Geschichtslosigkeit angesehen werden muss. Frauen, die veröffentlichten, verstießen gewissermaßen gegen ihre weibliche ›Natur‹ und (wie Clemens Brentano nicht müde wurde, seiner Frau, der berühmten Schriftstellerin Sophie Mereau, brieflich zu versichern): Sie setzten ihre weibliche Attraktivität und ihren moralischen Ruf aufs Spiel.12 Die intensiven Bemühungen um das Wiederauffinden von Schriftstellerinnen, die in der Zeit um 1800 trotz dieser Zuschreibungen (meist anonym) Bücher veröffentlichten, war geprägt von den Fragen: Was bedeutet es für Frauen, unter diesen widrigen Bedingungen zu schreiben, und was bedeutet es für die Texte selbst? Wie setzen sie sich mit den vorgegebenen Frauenbildern auseinander? Wie positionieren sie sich zur männlich dominierten Höhenkammliteratur eines Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Schiller? Wenn ich es richtig sehe, hat sich die Frauen- und Geschlechterforschung auch in anderen Ländern seit den 1980er Jahren intensiv diesen Themen zugewandt: Wie etwa Zang Jian 1995 in ihrer Arbeit zur Erforschung der Frauengeschichte in China zeigen konnte,13 sind in diesem Kontext wichtige Werke sowohl zur sozialen Situation von Frauen der Vergangenheit als auch zu den Bildern von Frauen in der chinesischen Kultur entstanden. Auch in der chinesischen literarischen Tradition konnte eine Reihe von Autorinnen gefunden werden, die kritisch und subversiv mit den ihnen vorgegebenen Rollenmodellen und Bildern von Weiblichkeit umgegangen sind. 11 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979 (edition suhrkamp 921). 12 Vgl. Julia Augart: Eine romantische Liebe in Briefen. Zur Liebeskonzeption im Briefwechsel von Sophie Mereau und Clemens Brentano. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 (Reihe Literaturwissenschaft 541). 13 Vgl. Zang Jian: Frauengeschichte. Themen und Charakteristika. In: Heike Frick/ Mechthild Leutner/Nicola Spakowski (Hg.): Frauenforschung in China. Analysen, Texte, Bibliographie. München: Minerva 1995, 119-126.
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»ANTI - UNIVERSALISTISCHE L ERNERFAHRUNGEN « Die in der frühen westlichen feministischen Forschung intensiv betriebene Auseinandersetzung mit den kulturellen Leistungen von Frauen früherer Jahrhunderte, die heute in der deutschsprachigen Geschlechterforschung überwiegend mit dem tendenziell eher negativ konnotierten Begriff ›Frauenforschung‹ bezeichnet und als ›Heldinnengeschichte‹ abgelehnt wird, ist nun in mehreren Schritten in ihren theoretischen Fundamenten und vermeintlichen Gewissheiten erschüttert worden. Gabriele Dietze bezeichnet diese Erschütterungen als »antiuniversalistische Lernerfahrungen« und beschreibt eine Abfolge von krisenhaft erfahrenen Umorientierungen. Die erste Lernerfahrung betraf nach Dietze die Einführung der Gender-Kategorie, durch die die »Kategorien ›Frau‹ und ›Mann‹ als Einheiten von Körper, Verhalten und sozialer Position aufgelöst« wurden.14 Sowohl Weiblichkeit als auch Männlichkeit seien nicht länger als ›natürliche‹ Gegebenheiten, sondern als soziale Konstruktionen wahrgenommen worden, an deren Festschreibung diejenigen, die im Bemühen um die Emanzipation von Frauen die historische Bedingtheit der Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«15 nicht mitreflektierten, mitwirkten und damit die Machtverhältnisse mitkonstruierten, gegen die sie antraten – eine die Gewissheiten feministischer Theorie zutiefst erschütternde Erkenntnis. Die zweite Erschütterung ergab sich aus der Kritik von Frauen, die nicht der weißen westlichen, insbesondere anglo-amerikanischen, Mittelschicht angehörten, am Alleinvertretungsanspruch des westlichen Feminismus und der Betonung von Differenzen unter Frauen. Schmerzhaft bewusst sei dadurch geworden, dass der Universalitätsanspruch des westlichen Feminismus auf dem Ausblenden anderer Ungleichheitskategorien, insbesondere der Kategorie race, beruhe und dass die Vorstellung von Frauen als Kollektivsubjekt – jenseits historischer, regionaler, ethnischer und religiöser Unterschiede – unbeabsichtigte hegemoniale Machtansprüche beinhalte. Die dritte, fundamentale Erschütterung ging nach Dietze von der Position Judith Butlers aus, die nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische (sex) als Ergebnis von Konstruktionsprozessen definierte und die
14 Vgl. Dietze 2003 (Anm. 9), 10. 15 Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart: Klett 1976, 363-393.
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Universalisierung biologischer Weiblichkeitsfunktionen (z.B. im Zusammenhang mit Mütterlichkeit) kritisierte, die – so Butler – eine heteronormative Geschlechtervorstellung verallgemeinere, durch die nicht-heterosexuelle Menschen marginalisiert werden. Die vierte, – nur vorerst – letzte Erschütterung sieht Dietze in der Aufmerksamkeit gegenüber denjenigen Formen geschlechtlicher Existenz, die nicht eindeutig der traditionellen Zweigeschlechtlichkeit zuzuordnen sind, also Phänomenen der Inter- oder Transsexualität. Diese Beobachtung stelle, so Dietze, »das Ordnungssystem der geschlechtlich definierten Binarität selbst«,16 also die Vorstellung von nur zwei Geschlechtern, grundsätzlich zur Disposition. Alle diese Erschütterungen, insbesondere die letzte, führen dazu, wie Anne Fleig konstatiert, dass die Beschäftigung mit den Kulturleistungen von Frauen unter Ideologieverdacht gestellt wird: Wenn es für die Gender Studies aktuell und zukünftig unabdingbar ist, anstelle von nur zwei Geschlechtern eine Vielfalt von Geschlechtlichkeit zu betrachten, erscheint es geschlechtertheoretisch nicht nur naiv, sondern geradezu anti-emanzipatorisch, die Aufmerksamkeit auf Frauen (als Kollektivsubjekte) zu richten. Zu den Veränderungen und Verunsicherungen innerhalb der Geschlechterforschung kommt seit geraumer Zeit eine veritable anti-biographische Tendenz, die gerade die Beschäftigung mit dem Leben von Frauen trifft. Biographischem Arbeiten wird ein naiver, theorieloser Umgang mit (individueller und allgemeiner) Geschichte unterstellt, und das Genre insgesamt – vor allem in seiner Erscheinungsform als massenhaft verbreitete populäre Biographik – steht ebenfalls unter Ideologieverdacht. Dies gilt insbesondere für Lebensdarstellungen von Frauen, da sie stärker noch als die von Männern der Gefahr des Voyeurismus und der Kolportage ausgesetzt sind. Indem unterstellt wird, dass bei Frauen ohnehin das Leben interessanter sei als ihr Werk, wird die traditionelle Festlegung von Frauen zum privaten Bereich ein weiteres Mal auch in der Biographik bestätigt. Die in neueren biographietheoretischen Arbeiten diskutierten Ansätze zu einer geschlechtertheoretisch informierten Biographik haben noch wenig Eingang in die Praxis der (wissenschaftlichen) Biographik gefunden.17
16 Dietze 2003 (Anm. 9), 13. 17 Vgl. Anita Runge: Gender Studies. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, 402-407.
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H ISTORISCH - KONTEXTUALISIERENDE H ERANGEHENSWEISEN Wie kann man sich unter diesen Voraussetzungen noch mit der Wiederentdeckung vergessener Schriftstellerinnen oder Wissenschaftlerinnen beschäftigen, ohne in alle diese Fallen zu tappen? Die Falle der Festschreibung der Geschlechterdifferenz, die Falle der Blindheit gegenüber den Unterschieden in der Gruppe ›der‹ Frauen, die Falle der Normierung scheinbar ›natürlicher‹ Gegebenheiten wie Mutterschaft und die Falle der Illusion, es gebe nur zwei Geschlechter? Und kann man sich mit den Biographien historischer Frauen beschäftigen, ohne wiederum ihr Leben an die Stelle des Werks zu setzen oder – schlimmer noch – Lebensgeschichten von ›Opfern‹ zu konstruieren, in denen immer wieder die Marginalisierung und Verhinderung ›weiblicher‹ Kulturleistungen durch die Nacherzählung privater ›Frauen‹-Schicksale dokumentiert wird? Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann nicht darin bestehen, die Arbeit an der historischen Rekonstruktion der Leistungen von Frauen in der Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte aufzugeben, diese Leistungen damit erneut ›un_sichtbar‹ zu machen und gewonnenes Wissen aufzugeben. Es geht vielmehr darum – wie die Historikerin Claudia Opitz in ihrem Beitrag Nach der GenderForschung ist vor der Gender-Forschung formuliert hat –, »am Projekt des ›Umschreibens der Geschichte‹ festzuhalten«18 und dabei weiterhin geschichtliche Prozesse unter der Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht zu rekonstruieren. Dass dies durchaus nicht gendertheoretisch naiv erfolgen muss, hat schon 1997 die Münchener Anglistin Ina Schabert in ihrer Englischen Literaturgeschichte […] aus der Sicht der Geschlechterforschung gezeigt: Schabert legt ihren Darstellungen die Überzeugung von der »Geschichtlichkeit von Genus« zugrunde.19 Damit ist gemeint, dass jede historische Epoche (und auch jede Kultur in den verschiedenen Regionen der Welt) je spezifische Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterbeziehungen entwickelt. Schabert betrachtet die englische Literaturgeschichte im Licht sich wandelnder und permanent neu ausgehandelter Geschlechterideologien und -beziehungen. Es gelingt ihr, aus
18 Claudia Opitz-Belakhal: Nach der Gender-Forschung ist vor der Gender-Forschung. Plädoyer für die historische Perspektive in der Geschlechterforschung. In: Rita Casale/Barbara Rendtorff (Hg.): Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Bielefeld: transcript 2008, 13-28, hier: 24. 19 Vgl. Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner 1997, Kap. 2.
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dieser Perspektive die Geschichte der englischen Literatur vollständig umzuschreiben. Diese historisch-kontextualisierende Betrachtungsweise gilt es weiterzuentwickeln und auch auf die aktuelle Gendertheorie selbst anzuwenden, sie also in ihrer Geschichtlichkeit und ihrer Verankerung in der westlichen Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu verorten. Das bedeutet konkret, dass neuere geschlechtertheoretische Einsichten, etwa die in die Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit geschlechtlicher Existenz, nicht unreflektiert auf frühere Zeiten oder andere Länder und Regionen übertragen werden dürfen. Für eine Zeit wie das 18. Jahrhundert, in der sich die Vorstellung von der anthropologischen Bedeutung der Zweigeschlechtlichkeit gerade erst durchsetzte und als neues Orientierungsmodell Einfluss erlangte, ist es geradezu absurd, z.B. anzunehmen, dass geschlechtliche Uneindeutigkeit als Thema in der Literatur eine zentrale Rolle gespielt haben könnte. Gleichzeitig darf die Bedeutung der Kategorie Geschlecht als gesellschaftliches und kulturelles Orientierungsmodell nicht generell vorausgesetzt werden, doch es muss für jede historische Epoche, jede Region, jedes kulturelle Phänomen konkret und präzise untersucht werden, ob Geschlecht als Differenzmerkmal wirklich relevant ist bzw. wie die Geschlechterordnung mit anderen Ordnungssystemen bzw. Ungleichheitskategorien (z.B. soziale und ethnische Herkunft, Alter, Religion etc.) verknüpft ist.
E MPIRISCHE U MORIENTIERUNG Dies ist alles nicht neu, und ich möchte einen weiteren Ausweg für die in die Krise geratene westliche Geschlechterforschung vorschlagen, der vielleicht wenig spektakulär ist, dafür aber vielfältige Forschungsperspektiven und vor allem die Möglichkeit des interkulturellen Austausches unterstützt: Mein Vorschlag ist ein Plädoyer für ein stärker induktives Vorgehen und eine Rückkehr zu quellenorientierten und materialgesättigten Forschungsdesigns in der Geschlechterforschung – verbunden mit einer kritischen Auseinandersetzung mit Herangehensweisen, die Quellen und Materialien lediglich auf ihre Passfähigkeit zu aktuellen Gendertheorien hin betrachten. Der Ausweg läge also nicht in der Suche nach einem neuen (womöglich noch avancierteren) Paradigma, sondern in einer wissenschaftlichen Umorientierung, die sich (wieder) stärker der empirischen Forschung, der kritischen Textedition und der intensiven Auseinandersetzung mit historischen und literarischen Quellen zuwendet und dabei die Aufmerksamkeit eher auf jene Ergebnisse rich-
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tet, die das vermeintliche Wissen über eine Epoche, eine Tradition, über soziale und kulturelle Ordnungssysteme und die in ihr wirksame Geschlechterordnung nicht bestätigen, sondern irritieren – und dadurch dazu beitragen, universalisierende geschlechtertheoretische Annahmen prinzipiell in Frage zu stellen. Dafür sind insbesondere Fallstudien, die in kulturvergleichender und transnationaler Perspektive diskutiert werden können und womöglich überraschende Unterschiede (oder auch Gemeinsamkeiten) im Umgang mit Geschlechtlichkeit deutlich machen, besonders geeignet. Will man dabei die Frage nach der Relevanz der Kategorie Geschlecht nicht vorab festlegen, scheint als heuristischer Ausgangspunkt der Fallstudien die Frage nach Inklusion und Exklusion im (kulturellen) Prozess, nach der Position von Gruppen und Personen im Hinblick auf Zentrum und Peripherie, die Frage nach dem spezifischen Umgang von Personen oder Gruppen mit Privilegierung und Marginalisierung sinnvoll. Ob bei diesen Gruppen Geschlecht, ethnische, soziale, religiöse oder auf sexueller Orientierung beruhende Aus- und Eingrenzungsmechanismen dominant sind, sollte nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis der Analyse sein. Ein besonders wichtiger Erkenntnisgewinn besteht dabei im Entdecken des vielfältigen kreativen Umgangs mit Marginalisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen und damit in der Arbeit an einer subversiven Tradition, die prinzipiell kritisch mit ›großen‹ Theorien und Erklärungsmodellen umgeht. Für die Auseinandersetzung mit Autorinnen der Vergangenheit bedeutet das, zunächst einmal das Textkorpus insgesamt zu ermitteln und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu analysieren. Eine empirische Untersuchung, in diesem Fall die bibliographische Ermittlung von erschienenen Arbeiten und die Zuordnung zu zum Teil anonym veröffentlichenden Autorinnen, ergab für die Zeit zwischen 1770 und 1810 mehr als 300 eigenständige Romanveröffentlichungen.20 Im Rahmen vielfältiger Kontextanalysen wurde die um 1800 geführte intensive philosophische Debatte über Geschlechterrollen und -unterschiede als wichtigster Bezugspunkt sowohl für das schriftstellerische Selbstverständnis und die Arbeitsbedingungen, als auch für zentrale literarische Problem- und Figurenkonstellationen in diesen Romanen identifiziert; im Mittelpunkt steht dabei häufig die Frage der weiblichen ›Tugend‹.21 Aus dieser philosophischen Debatte, de20 Vgl. Gallas/Runge 1993 (Anm. 2). 21 Vgl. Lieselotte Steinbrügge: Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung. Weinheim: Beltz 1987; Esther Suzanne Pabst: Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2007.
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ren Ausgangspunkt die Schriften Jean Jacques Rousseaus sind, resultieren Restriktionen für die schriftstellerische Tätigkeit von Frauen: Indem Männer als aktives, produktives, Frauen als passives, reproduktives Geschlecht festgelegt, Frauen auf ihre privaten Funktionen als Gattinnen und Mütter reduziert werden, wird ihnen das Recht auf öffentliches Wirken (einschließlich des Veröffentlichens von Büchern) und – spätestens mit Goethes und Schillers Ausführungen zum (weiblichen) »Dilettantismus«22 – die Fähigkeit zur Kunstproduktion abgesprochen. Wenn man die in diesem Kontext entstandenen, aus dem Kanon des Überlieferten ausgeschlossenen Romane von Autorinnen auf ihren literarischen Umgang mit diesen restriktiven Arbeitsbedingungen untersucht, ergibt sich ein großes Spektrum an Reflexions- und Reaktionsweisen, die von der vollständigen Affirmation der herrschenden Geschlechterauffassung über die Subversion bis zur offenen Ablehnung reichen. Dabei wird sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtlichkeit in äußerst vielfältiger Weise literarisch inszeniert – auch wenn sie dabei auf zeitgenössische ideologische Vorstellungen bezogen bleibt. Wirklich überraschende Ergebnisse bekommt man aber erst, wenn man von der ›Unberechenbarkeit‹ dieser literarischen Texte ausgeht und sie weder auf der Folie der zeitgenössischen Geschlechtervorstellungen noch auf der der modernen oder postmodernen Gendertheorien liest. Im Hinblick auf die in diesen Texten literarisch gestalteten Marginalisierungserfahrungen muss nicht nur untersucht werden, was erzählt wird, sondern vor allem, wie erzählt wird und wer aus welcher Position heraus erzählt. Dabei ergibt sich oft, dass zwischen dem erzählten Inhalt (z.B. der formulierten Akzeptanz der gesellschaftlichen Unterordnung von Frauen) und der Gestaltung einer (weiblichen) Erzählinstanz eine Diskrepanz entsteht, die es schwierig macht, von einer konsistenten Geschlechterideologie im Text auszugehen; der literarische Text zeigt vielmehr, wie problematisch es ist, Geschlecht, Geschlechter und Geschlechtlichkeit zu definieren. Längere Zeit war die literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung darauf konzentriert zu zeigen, wie Frauen im 18. Jahrhundert mit dem ihnen zugewiesenen idealisierten Geschlechtscharakter umgingen. Man untersuchte in den Romanen von Frauen die ›weiblichen‹ Reaktionen auf das Ideal der passiven, häuslichen, tugendhaften, auf den privaten Bereich konzentrierten ›schönen 22 Johann Wolfgang Goethe/Friedrich Schiller: Über den Dilettantismus (1799). In: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Hendrik Birus/Dieter Borchmeyer/Martin Ehrenzeller/Karl Eibl u.a. (»Frankfurter Ausgabe«). Bd. I.18, 1771-1805. Hg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, 739-785.
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Seele‹ und analysierte Themen wie Liebe, Verführung, Ehe, Mutterschaft und Mädchenerziehung. Seltener gerieten Texte in den Blick, in denen Autorinnen sich auf irritierende Weise mit sog. ›männlichen‹ Themen auseinandersetzten, z.B. mit Geschichte und Politik. Gerade diese Themen ermöglichten aber offenbar ein Spiel mit Geschlechterrollenvorstellungen auf verschiedenen Erzählebenen, bei dem die zeitgenössischen Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit ins Schwimmen gerieten. Eine der Autorinnen, an denen sich das besonders gut zeigen lässt, ist die als Begründerin des deutschsprachigen historischen Romans inzwischen bekannte Autorin Benedikte Naubert (1752-1819). Sie hat mehr als 25 umfangreiche Geschichtsromane und einige mehrbändige Märchensammlungen verfasst. Wie keine andere Schriftstellerin hat sich Naubert im Zusammenhang mit den Recherchen für ihre Romane mit europäischer, aber auch mit ägyptischer Geschichte beschäftigt und ihr Wissen in ihre Texte einfließen lassen. In Nauberts Romanen werden historische mit fiktionalen Ereignissen verknüpft. Oberflächlich betrachtet bildet die ›große‹ Geschichte dabei den Hintergrund für ›private‹ Familienereignisse. Die traditionellen Rollenvorstellungen werden auf dieser Ebene nicht in Frage gestellt: Frauen sind für Heim und Herd, Männer für Kriege und Herrschaft zuständig. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass in den meisten Geschichtsromanen Nauberts die geschichtsmächtigen (männlichen) Personen die Ereignisse gar nicht oder falsch verstehen und dass die randständigen Figuren ein tieferes Verständnis entwickeln, insbesondere dann, wenn sie aus der Erfahrung von Unterdrückung und Krieg eine andere Perspektive entwickeln, die sie am vermeintlichen Sinn der Geschichte zweifeln lässt. Benedikte Naubert findet für diesen Blick auf Geschichte aus der Sichtweise der Nicht-Herrschenden ein beeindruckendes Bild. In den ersten Sätzen ihrer Geschichte der Gräfin Thekla von Thurn vergleicht sie die Betrachtung der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges mit der eines stürmischen Meeres, das es unmöglich macht, einen nicht gleich wieder von den Wellen verschlungenen Fixpunkt zu finden. In Nauberts Romanen wird immer wieder deutlich gemacht, wie wichtig es ist, aus der Geschichte zu lernen, wie groß aber gleichzeitig die Gefahr von Missverständnissen ist, wenn nicht berücksichtigt wird, dass Überlieferungen unvollständig sind – und dass dabei insbesondere das Wissen und die Erfahrungen von Personen verloren gehen, denen qua Geschlecht oder aufgrund ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft nicht zugestanden wird, Geschichte aufzuzeichnen, zu verstehen und mitzugestalten.
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Eine ähnliche Skepsis wie gegenüber den ›großen‹ Geschichtserzählungen findet sich auch im erzählerischen Umgang mit universalisierenden Geschlechternarrativen. Auf einer oberflächlichen Ebene bestätigen Nauberts Geschichtserzählungen die zeitgenössischen Vorstellungen von der Frau als passiv-empfindsamem ›Naturwesen‹. In der Erzählstimme der Texte, die geschichtliche und private Ereignisse kunstvoll verwebt, vermischen sich jedoch vermeintlich typisch ›männliche‹ Fähigkeiten (z.B. historiographische Belesenheit, Quellenorientierung, wissenschaftlicher Duktus) und typisch ›weibliche‹ Merkmale (Bevorzugung familiärer Themen, Dialogizität) so stark, dass es unmöglich ist, dieser Stimme ein eindeutiges Geschlecht zuzuordnen. Dies hat auch schon die Zeitgenossen verwirrt, so dass in den durchaus positiven Rezensionen der Romane über Jahrzehnte hinweg niemand auf die Idee gekommen ist, es könne sich bei dem anonymen Verfasser um eine Frau handeln. Damit aber stellt die Erzählinstanz bzw. die historische Autorin selbst nicht nur die Rollenklischees der Zeit in Frage, sondern führt literarisch vor, dass sich vermeintlich sicheres Wissen über das ›Wesen‹ von Frauen und Männern – ebenso wie über das ›Wesen‹ von Geschichte – Versuchen der Fixierung entzieht, ja dass Versuche einer Fixierung wie bei einem aufgewühlten Meer nicht zur Gewissheit, sondern eher zur Verwirrung führen.
R ETTUNG VON W ISSENSBESTÄNDEN Ohne den feministischen Blick der in den 1970er Jahren entstehenden Frauenforschung auf vergessene Frauen der Literaturgeschichte hätten Texte wie die von Benedikte Naubert und viele andere nie wieder gelesen werden können. Die Entwicklungsgeschichte des historischen Romans in Deutschland musste nach dieser Entdeckung neu geschrieben werden, aber auch die Vorstellungen von einer relativ homogenen und literarisch eher trivialen ›Frauenliteratur‹ im 18. Jahrhundert mussten vollständig revidiert werden. Es ist also notwendig, diese archäologische Arbeit zu sichern und weiter zu betreiben – nicht zuletzt aus Gründen der Vollständigkeit der Literatur- und Kulturgeschichte. Gibt es aber Möglichkeiten, dies zu tun, ohne sich den skizzierten Vorwürfen der geschlechtertheoretischen Naivität auszusetzen? Hier hilft ein Blick auf einen anderen wichtigen Bereich der Frauenforschung weiter: die Beschäftigung mit den Geisteswissenschaftlerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in diesem Bereich hat das von Fleig beklagte »Verschwinden« der gerade erst entdeckten Kulturleistungen von Frauen im Kontext neuer Gendertheorien dazu geführt, dass der von Vorgängerinnen prak-
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tizierte reflektierte Umgang mit einer ›weiblichen‹ Tradition in Vergessenheit zu geraten droht – und damit eine Methode, die aus dem skizzierten Dilemma der westlichen Geschlechterforschung herausführen könnte. 1956 veröffentlichte Hannah Arendt ihr Buch Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der deutschen Romantik.23 Die Arbeit war als Habilitationsschrift geplant, ihre Fertigstellung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und der Emigration Arendts aber nicht möglich gewesen. Arendt veröffentlichte das fertiggestellte und mit einem Quellenanhang versehene Buch mit einem Vorwort, in dem sie ihre Absichten erläutert. Dabei entwickelt sie ein Verfahren, das Irmela von der Lühe als »Autobiographie von fremder Hand«,24 als »verborgene intellektuelle Autobiographie im Gewand der historischen Biographie«25 bezeichnet hat. Arendt schreibt selbst über ihre Absichten: »Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können.«26 Das klingt vermessen und nach unzulässiger Identifikation mit dem historischen Objekt der Lebensbeschreibung, meint aber etwas ganz anderes: Arendt praktiziert eine Schreibweise, die in der neueren Biographietheorie als metabiographisch bezeichnet würde: Sie reflektiert nicht nur ihren Gegenstand, die historische Figur Rahel Varnhagen, sondern gleichzeitig auch sich selbst und den durch einen beispiellosen Geschichtsbruch gekennzeichneten Schreibprozess. Darüber hinaus bezieht sie das Genre der biographischen Annäherung selbst, dessen Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit dem Quellenmaterial, in die Analyse ein. Es gelingt ihr dabei, die Komplexität der verschiedenen Ordnungen, in denen Rahel Varnhagen sich bewegte, zu rekonstruieren, speziell ihre Situation als jüdische Intellektuelle um 1800. Arendt nimmt dabei eine Haltung ein, die heute möglicherweise als intersektionale Perspektive bezeichnet würde: Sie reflektiert, welche Rolle es für Rahel Varnhagen spielte, dass sie eine Frau war, die den zeitgenössischen Weiblichkeitsvorstellungen nicht entsprach, und welche Rolle es dabei für sie spielte, jüdischer Herkunft zu sein. Dabei gelingt es Arendt, den historischen Abstand zwischen ihrer eigenen Situation als jüdischer 23 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper 1981. 24 Irmela von der Lühe: Biographie als Versuch über weibliche Intellektualität. Hannah Arendts Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. In: Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, 6 (2001), 103-115, hier: 106. 25 Von der Lühe 2001 (Anm. 24), 113. 26 Arendt 1981 (Anm. 23), 10.
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Intellektueller im 20. Jahrhundert und der Rahel Varnhagens nicht einzuebnen, sondern – als Element der Fremdheit – für die biographische Darstellung fruchtbar zu machen. Diese Perspektive der Fremdheit im vermeintlich Ähnlichen – nicht die des Wiedererkennens – macht Arendts Rahel-Buch zum Modell für die Beschäftigung mit der kulturellen Tradition von Frauen.
F AZIT Die Auseinandersetzung mit den literarischen und wissenschaftlichen Verfahren, die Personen (gleich welchen Geschlechts, welcher Ethnie, welcher sozialer Herkunft) entwickeln, um aus einer marginalisierten Position heraus schreiben zu können, lehrt einen kritisch-reflektierten Umgang mit den impliziten Ein- und Ausschlussmechanismen und Machtansprüchen, von denen auch die neuesten (westlichen) Gendertheorien (bei allem gegenteiligen Anspruch) nach wie vor nicht frei sind. Die Texte von Autorinnen aus Literatur- und Wissenschaftsgeschichte machen die Relativität und Geschichtlichkeit der eigenen geschlechtertheoretischen Annahmen und deren historische Begrenztheit bewusst. Sie können eine grundlegende Skepsis gegenüber allen universalisierenden Erklärungsmodellen vermitteln. Für jede dieser Irritationen, sei es durch die Beschäftigung mit historischen Texten und Dokumenten, sei es durch transnationalen und transkulturellen Austausch, sollte die Geschlechterforschung dankbar sein: Ihre Krise kann nur überwunden werden, wenn sie sich wieder stärker empirisch orientiert, die eigene Wissenschaftsgeschichte nicht verdrängt, sondern Wissensbestände sichert, wenn sie Verunsicherungen zulässt und sich selbstbewusst ihrer Wurzeln vergewissert: dass es ihr nämlich um Gerechtigkeit, um Aufhebung von Benachteiligungen in historischer wie in aktueller Hinsicht geht, und dass ihr Ziel nicht die Fixierung einer Theorie ist, sondern, wie Aline Oloff es prägnant formuliert hat: »die Kunst des Fragens«.27
27 Aline Oloff: Feministische Theorie als Kunst des Fragens. In: Feministische Studien, 31 (2013) 1, 149-154.
»Es ist erklärlich genug, dass die Geschichte über Catharina’s stilles Walten unter den Kindern schweigt.« Die Rezeption Katharina von Boras oder: Geschichtskonstruktionen als Übungen im strukturierten Unsichtbarmachen G ABRIELE J ANCKE
Un_sichtbar?1 Diesem Thema möchte ich mich nähern, indem ich exemplarisch eine Person in den Mittelpunkt stelle. Dabei geht es mir nicht darum, dass ich 1
Mein herzlicher Dank für viele Hinweise geht an: Gudrun Emberger, Martin Leutzsch, Anna Schwindt und Claudia Ulbrich. Bei Sabine Kramer bedanke ich mich herzlich, dass ich ihre Dissertation bereits vor der Drucklegung benutzen durfte. Bei den Organisatorinnen und TeilnehmerInnen der Tagung »Gendered Visibility?«, 19. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit (AKGG-FNZ), Stuttgart-Hohenheim 31.10. bis 2.11.2013 (org. v. Andrea Griesebner und Michaela Hohkamp), bedanke ich mich für die Diskussion einer ersten Vortragsfassung dieses Beitrags. – Dieser Beitrag ist zusammen mit zwei weiteren entstanden: Gabriele Jancke: Katharina von Bora – Rezeptionen machen Geschichte. In: eine STARKE FRAUENgeschichte – 500 Jahre Reformation. Begleitband zur Sonderausstellung auf Schloss Rochlitz vom 01. Mai bis 31. Oktober 2014. Hg. v. Simona Schellenberger/André Thieme/Dirk Welich im Auftrag der Staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen GmbH. Beucha/Markkleeberg: Sax 2014, 103-109, sowie dies.: Katharina von Bora und ihre Rezeption. Genderkonzepte in Geschichtsdiskursen zur Frühen Neuzeit. In: Martina Schattkowsky (Hg.): Frauen & Reformation – Handlungsfelder, Rollenmuster, Engagement (in Vorb.). Die Beiträge sind so konzipiert, dass sie sowohl einzeln als auch zusammen gelesen werden können; der vorliegende
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diese Person sichtbar machen wollte, und dies womöglich besser, vollständiger und mit schärferem Blick auf Geschlechterverhältnisse, als es bisher unternommen wurde. Ich möchte also hier nicht Frauen- und Geschlechtergeschichte mittels Darstellung einer bestimmten Person inhaltlich anreichern, sondern es geht mir um die Untersuchung der Geschichts- und Gesellschaftskonstruktionen, die mit dieser Person jeweils vorgenommen wurden. Am Beispiel einer weiblichen Person fasse ich biographische Zugänge zur Geschichte ins Auge, um die jeweiligen Geschlechterkonzepte von Geschichte und Gesellschaft zu klären. Die Adlige und ehemalige Nonne Katharina von Bora2 (1499-1552) heiratete im Jahr 1525 den Theologieprofessor und ehemaligen Mönch Martin Luther (14831546). Diese Eheschließung wurde bereits zeitgenössisch als ein Ereignis angesehen, das Epoche machte und neue Verhältnisse begründete. So umstritten diese Ehe zwischen zwei Geistlichen war, so deutlich markierte sie bereits für die Beteiligten auch eine Zäsur, die als ›Reformation‹ auch in der Historiographie trotz aller Relativierungen bis heute einen großen Stellenwert besitzt. Einsetzend mit dieser Eheschließung selbst wird Katharina von Bora in vielen Medien immer wieder als zentrale Person behandelt. Katharina von Bora wird als exemplarische Text stellt dann den dritten Teil dar. – Sehr anregend für die hier angestellten Überlegungen waren u.a. folgende Arbeiten: Aişe Gül Altınay/Yektan Türkyılmaz: Unravelling layers of gendered silencing. Converted Armenian survivors of the 1915 catastrophe. In: Amy Singer/Christoph K. Neumann/Selçuk Akşin Somel (eds.): Untold Histories of the Middle East. Recovering voices from the 19th and 20th centuries. London/New York: Routledge 2011, 25-53; Bonnie G. Smith: The Gender of History. Men, Women and Historical Practice. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1998; Michel-Rolph Trouillot: Silencing the Past: Power and the Production of History. Boston: Beacon Press 1995. 2
Martin Treu (Hg. im Auftrag der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt): Katharina von Bora, die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages. Wittenberg 1999 (Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Katalog 5); Peter Freybe/Ev. Predigerseminar Wittenberg (Hg.): Mönchshure und Morgenstern: »Katharina von Bora, die Lutherin« – im Urteil der Zeit, als Nonne, eine Frau von Adel, als Ehefrau und Mutter, eine Wirtschafterin und Saumärkterin, als Witwe. Wittenberg: Drei-Kastanien 1999 (Wittenberger Sonntagsvorlesungen); Jeanette C. Smith: Katharina von Bora Through Five Centuries: A Historiography. In: Sixteenth Century Journal 30 (1999) 3, 745-774; Sabine Kramer: Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit. Leipzig: Diss. theol. 2010 (erschienen 2015 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig als Bd. 21 der Reihe Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie).
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Pfarrfrau dargestellt, als die Gefährtin eines zentralen männlichen Akteurs der Kirchen- und Allgemeingeschichte, als tüchtige und sparsame Hausfrau ohne intellektuelle und theologische Ambitionen, als Beweis für eine neue und bessere Stellung von Frauen im Rahmen reformatorischer Veränderungen, als Ausweis der Lebens- und Weltzugewandtheit reformatorischer Geistlicher, als eine von vielen Frauen, die sich an der Reformation aktiv und engagiert beteiligten und dafür ihre bisherigen Lebensverhältnisse verließen. Als reale Person ist Katharina von Bora schwer zu fassen. Das biographische Quellenmaterial ist ausgesprochen begrenzt und erlaubt nur wenige sichere Aussagen. Die Forschung ist ebenfalls spärlich und hat erst zu ihrem 500. Geburtstag 1999 einen späten und kurzen Höhepunkt aufzuweisen. Seither ist v.a. die kirchengeschichtliche Dissertation von Sabine Kramer aus dem Jahr 2010 hinzugekommen. Das weitaus meiste Material zu Katharina von Bora ist nicht tauglich zur Rekonstruktion ihrer biographischen Wirklichkeit und führt eher in ein weites Feld von Rezeptionen hinein. Diese Verarbeitungen und Verwendungen einer weiblichen Zentralperson haben bis heute eine große Wirkung entfaltet, Geschichtsbilder geprägt und auf diese Weise Geschichte gemacht – und dies in einem Ausmaß, das vom belegbaren Wissen über die historische Person weitgehend unabhängig ist. Diese Rezeptionen sind in einer solchen Überfülle und in verschiedenen Medien vom 16. bis ins 21. Jahrhundert hinein präsent – von Johannes Cochlaeus bis zu Christine Brückner –, dass sie die Vorstellungen zur Person mit ihren Deutungen und Zuordnungen nachhaltig prägen. Mich beschäftigt das Interesse, das sich hier manifestiert, das von unterschiedlichsten AkteurInnen an den Tag gelegt und in verschiedensten Formen realisiert wird – und das an dieser einen Person auch ganz unterschiedliche Dinge festmacht. Selbst die einfachste Grundinformation zu Katharina von Bora – verheiratet mit Martin Luther – zeigt schon deutlich, dass man diese Person erst gar nicht in den Blick bekommt ohne eine bestimmte Rezeption und alle sofort damit verknüpften Deutungen. Ihre Eheschließung mit dem männlichen Reformator wurde von männlichen Flugschriftenverfassern im 16. Jahrhundert für ihre polemischen Auseinandersetzungen erörtert, und als Martin Luthers Ehefrau wurde sie auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder thematisiert, auch noch in einer feministischen Lesart und in ökumenischen Kontexten. Gesehen wird sie dabei in einer zentralen Lebensbeziehung, mit einer darauf bezogenen Lebensaufgabe und im institutionellen Kontext von Haushalt und Kirche. Am Beispiel dieser Person lässt sich also auch erkennen, welche sozialen und kirchlichen Strukturen man jeweils mit ihr verknüpfen wollte.
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Diese Rezeptionen möchte ich beleuchten als Geschichtskonstruktionen, für die das Sichtbar- und Unsichtbarmachen von großer Bedeutung ist. Für die Zeit vor einem feministischen Programm des Sichtbarmachens von Frauen stand das Sichtbarmachen von Frauen in ganz anderen Diskurs- und Gesellschaftskontexten. Für eine frühneuzeitliche weibliche Person konnte in manchen Kontexten zunächst einmal eher das Unsichtbarmachen von Frauen die Norm sein, und das tatsächlich vorgenommene Sichtbarmachen zeigt sich als ein erklärungsbedürftiges Verfahren. Dabei spielt es eine große Rolle, wer diese spezielle Person genau ist bzw. was jeweils mit ihr verbunden wird. In diesem Beitrag sollen drei schriftliche Quellen diskutiert werden – aus dem 18., 19. und frühen 21. Jahrhundert. Dabei will ich folgende Fragen stellen: In welchen Facetten ihres Lebens wird Katharina von Bora hier zum Thema, welche bleiben ausgeblendet? In welchen Diskursen wird dies jeweils angesiedelt? Und welche Anliegen werden mit ihrer Person verknüpft? Wie lässt sich dies jeweils als ein Verfahren des Sichtbar- und Unsichtbarmachens rekonstruieren? Die erste Quelle trägt den Titel LUCIFER WITTENBERGENSIS, Oder der Morgen=Stern Von Wittenberg / Das ist: Vollsta(e)ndiger Lebens=Lauff CATHARINAE von Bore, Des vermeynten Ehe=Weibs D. Martini Lutheri, Meistentheils aus denen Bu(e)chern Lutheri, aus seinen safftigen Tischbrocken, geistreichen (scilicet) Send=Schreiben, und anderen raren Urkunden verfasset, In welchem Alle ihre Schein=Tugenden, erdichtete Großthaten, falsche Erscheinungen, und elende Wunder=Werck nebst dem gantzen Canonisations=Process, wie solcher von ihrem Herrn Gemahl noch bey ihren Lebs=Zeiten vorgenommen worden, weitla(e)uffig erzehlet werden. Die Schrift ist in 1. Auflage 1747 erschienen, zwei Jahre später bereits in 2. Auflage. Gedruckt wurde sie unter dem Namen »Eusebius Engelhard«. Geschrieben wurde sie von Michael Kuen (oder Khuen, 1709-1765), Regularkanoniker im Stift der Regulierten Chorherren des heiligen Augustinus zu Wengen in Ulm seit 1727, seit 1754 dessen Propst Michael III., über die konfessionellen Grenzen hinaus angesehener Ordens- und Kirchenhistoriker und schließlich auch Verfasser von verschiedenen polemischen Arbeiten.3 Das Werk hat zwei Teile mit jeweils mehreren hundert 3
Erstaufl. Landsberg: [Eigenverlag] 1747, 2., verb. Aufl. Landsberg: [Eigenverlag] 1749, online bei der ULB Sachsen-Anhalt, http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/; zu Kuen und dem kulturell sehr aktiven Wengenstift, insbesondere dessen Rolle in der katholischen Aufklärung, siehe Ulrich Scheinhammer-Schmid: ... consummatae eruditionis lumina diffundere ... – Das Licht der vollendeten Bildung ausbreiten ... Chorherren aus Bayerisch Schwaben im Ulmer Wengenstift als Mittelsmänner der
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Druckseiten; der erste Band beschäftigt sich mit Katharina von Boras familiärer Herkunft, ihrer Kindheit und Jugend, in erster Linie aber mit ihrer Zeit im Kloster, die bis hin zu ihrer Flucht in vielen Details beschrieben wird. Der zweite Band hat dann Brautstand, Ehe und Witwenzeit bis zu ihrem Tod bzw. ihrer Beerdigung zum Gegenstand. Es handelt sich um eine polemische Schrift, die ein konkretes Argumentationsziel hat und alle Inhalte als Argumente für dieses Ziel vorträgt. Als konkreten Ausgangspunkt nennt Kuen eine akademische Rede des protestantischen Theologen Daniel Maichel (1693-1752), in der die historische Existenz der Hl. Katharina von Alexandrien bestritten wurde. Katharina von Bora gab eine protestantische Zentralfigur ab, die sich aufgrund ihres gleichlautenden Vornamens ganz besonders für eine Gegenoffensive eignete und zudem bereits seit dem 16. Jahrhundert immer wieder Gegenstand konfessioneller Polemiken gewesen war. Mit seinem Pamphlet wollte Kuen/Engelhard die ProtestantInnen beschämen und beweisen, dass der evangelische Glaube falsch sei, wozu sich Luthers Ehe besonders gut eigne: An ihr seien Luthers Laster am ersichtlichsten, und wenn bereits der Urheber der »falschen Sect«4 lasterhaft sei, könne ihn der Geist Gottes nicht getrieben haben, und folglich sei die ganze Religion falsch. Sein Anliegen ist auf die ganze protestantische Kirche hin orientiert und nimmt sich deren Leitfigur Luther als Zielscheibe. Seine Argumentation trägt er nun interessanterweise anhand von Katharina von Bora vor. Über diese Person und alles, was er an ihr Negatives darzustellen hat, versucht er ihren Ehemann zu treffen und in seinem Ansehen derart zu schädigen, dass dies auch nachhaltige Konsequenzen für die konfessionelle Gegenpartei insgesamt hat. Katharina von Bora ist hier zwar in aller Ausführlichkeit dargestellt, aber es geht eigentlich nicht um sie. Sie wird thematisiert als Argument im konfessionellen Kampf, mit dem ihre ganze »Sect« der Legitimität beraubt werden soll. Wichtig sind für Kuen/Engelhard v.a. ihre Lebensphase im Kloster, außerdem Bücher – v.a. geistliche Literatur – und andere Arten von Schriftlichkeit. Katharina von Bora und andere Nonnen werden beschrieben als im Besitz von Büchern, in der Lage zur Beschaffung auch von aktueller theologischer Literatur, mit regelmäßigen Lektürepraktiken, ferner auch als schreibgewohnt, d.h. mittels Briefen in außerklösterliche Kommunikation und Netzwerke nach eigener Entscheidung aktiv involviert. Eine geistliche männliche Aufsicht scheint praktisch nicht aktiv zu sein – die vorgetragene Kritik an dieser Freiheit und dem
Aufklärung. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 104 (2012), 169199, zu Kuen bes. 179-182. 4
Engelhard/Kuen 1747 (Anm. 3), Teil I, Vorrede, 5.
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behaupteten Umgang damit wird den Nonnen zur Last gelegt, nicht einer geistlichen Aufsicht und ihrem Versagen. Innerhalb des Klosters wird eine Aufteilung in zwei Gruppen behauptet, von denen die eine sich als Leitungsgremium die aktuellen lutherischen Positionen aneignet – wobei Katharina von Bora als Äbtissin auch institutionell in die oberste Leitungsposition gesetzt wird –, während die andere Gruppe an der traditionellen Lebensweise und Theologie festhält. Konflikte und Kämpfe zwischen den beiden Gruppen werden beschrieben. Die Übernahme von lutherischen Auffassungen durch die eine dieser Nonnengruppen wird auf sexuelle Wünsche und Freiheitsvorstellungen zurückgeführt. In diesem Kontext werden Luthers Argumente für das Verlassen von Klöstern, die ja die Sexualität sehr stark betonten, genüsslich zitiert. Der Vorwurf, dass die eigenen körperlichen und materiellen Bedürfnisse die theologische Option bestimmten, wird hier von katholischer Seite gegen die ProtestantInnen gerichtet, so wie er umgekehrt genau analog von Protestanten gegen Katholiken bzw. Altgläubige erhoben wurde (sog. ›Bauchdienst‹). Im zweiten Band befasst sich Kuen/Engelhard mit Katharina von Boras Leben nach dem Verlassen des Klosters. Diese Phase wird insgesamt als eine Zeit liederlichen, undisziplinierten, auf Sexualität und leibliche Genüsse orientierten Verhaltens beschrieben. Sowohl die zwei Jahre vor ihrer Eheschließung als auch die Ehe selbst und die Zeit als Witwe nach Luthers Tod werden ausschließlich von ihrer Zeit als Nonne her beurteilt. Ihr komplettes Leben danach verfällt dem Verdikt, dass sie mit der geistlichen Lebensform im Kloster auch jegliche religiöse Haltungen und Praktiken und damit auch alle Moral und Tugend aufgegeben habe. Es werden ihr vor- und außereheliche Sexualität, ein vorehelich gezeugtes Kind und Alkoholismus zugeschrieben, außerdem Herrschsucht gegenüber ihrem Ehemann, Stolz und Hochmut, Gier und Geiz sowie übles, verschwenderisches Haushalten. All dies wird minutiös mit ausführlichen Quellenzitaten ausgebreitet, in die bereits vorhandenen gelehrten Diskussionen eingeordnet und an vielen Stellen auf seine Plausibilität hin erörtert. Das Werk ist eine Mischgattung aus 1. Biographie – Kuen/Engelhard sagt, dies sei die erste Biographie Katharina
von Boras aus katholischer Feder –, mit Bezügen zu anderen geistlichen Lebensbeschreibungen; 2. wissenschaftlicher Geschichtsschreibung mit Bezugnahme auf Quellen und ihre Diskussion durch andere Autoren;
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3. Polemik, ein klares und heftiges Argument gegen lutherische Auffassungen
4.
5. 6. 7. 8.
von Theologie, Kirche und Lebensweise, vorgetragen mit explizitem Bezug auf die Argumente anderer Teilnehmer an diesem Streit; Fiktion; über viele Seiten hinweg pure unbelegte und unbelegbare Erfindungen z.B. über Katharina von Boras angebliches Amt als Äbtissin, über klosterinterne Ereignisse und Interaktionen; praktisch der ganze erste Band handelt von Katharina von Boras Klosterphase, über die es jedoch so gut wie keine Quellen gibt; geistlicher Abhandlung über eine geistliche Lebensweise, ihre Traditionen und Merkmale; Diskurs über weibliche Heilige; normativem Text, der die Person als (Negativ-)Exemplum verwendet, und Unterhaltungsliteratur.
Insgesamt würde ich das Werk, v.a. den ersten Band, über weite Strecken als ›religiöse soap‹ ansehen, mit der eine unter gelehrten männlichen Verfassern ausgetragene Konfessionspolemik ähnlich wie vergleichbare Texte aus protestantischen Federn an ein breiteres Publikum zu vermitteln war. Im zweiten Band dominiert dann eine Strategie der Quellendokumentation und -diskussion, mit der der Verfasser seine Kenntnis der vorhandenen Literatur beweisen will, seine Aussagen abstützt und sich ausgiebig in einem Feld agonalen Streitverhaltens unter männlichen Gelehrten platziert. Die Reformation ist zwar ein wichtiges Thema, aber die für Kuen relevante Geschichte reicht in die Antike zurück mit Paulus und den Kirchenvätern als zentralen Bezugspunkten. Die zweite Quelle stammt von Wilhelm Beste (1817-1889), evangelisch-lutherischer Pfarrer und Superintendent in Wolfenbüttel und Braunschweig, zur Abfassungszeit laut Titelblatt noch Lehrer an der westlichen Bezirksschule von Braunschweig und ordentliches Mitglied der historisch-theologischen Gesellschaft in Leipzig. Das schmale Büchlein über Katharina von Bora erschien im Jahr 1843. Mit seinem Titel Die Geschichte Catharina’s von Bora, nach den Quellen bearbeitet stellt Beste sein Werk als Teil einer seriösen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung dar, und auch der Anhang mit beigegebenen Quellen zeigt an, dass hier dokumentierbare historische Wirklichkeit den Ton angeben soll. So erklärt Beste denn auch gleich im Vorwort programmatisch: »Demnach glaubt der Verfasser mit vorliegender Schrift [...] in der kirchengeschichtlichen Litera-
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tur eine Lücke auszufüllen, zumal, da er sich bewußt ist, selbstständig und getreu den Quellen nachgegangen zu sein.«5 Dass es sich dennoch nicht um ein neutrales wissenschaftliches Unternehmen handelt, macht er bereits im folgenden Satz klar: »Die Polemik gegen katholische Schmähschriftsteller ist nicht [...] die Haupttendenz dieser Schrift; doch schien es nothwendig, das Lebensbild Catharina’s, welches sie zu entwerfen beabsichtigt, von den entstellenden Flecken älterer und neuerer Verleumdungen zu reinigen und sonach die Polemik nicht auszuschließen.«6
In diesem Zusammenhang wird neben dem Protestanten Christian Wilhelm Franz Walch (1726-1784) auch Engelhard genannt. Die historische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts aus protestantischer Sicht betont die Quellenorientierung und zugleich die Einbindung in den Diskurskontext der Konfessionspolemik. Bestes Büchlein ist in drei Teile untergliedert: 1. »Jungfrauenstand und Hochzeit«; 2. »Der Ehestand«; 3. »Der Wittwenstand«. Katharina von Boras Lebensphase als Nonne wird darin so knapp wie möglich gehalten, ihr Lebenslauf auf die Phase der Ehe hin orientiert (mit Vor- und Nachgeschichte), sie selbst als Person ihrem Ehemann zugeordnet. Mit dieser Darstellungsstrategie erscheint sie als eine vollkommen reformatorisch zentrierte Person, die sich durch ihre Unterordnung unter den Reformator und Ehemann Martin Luther charakterisieren lässt. Sie wird definiert durch Gehorsam, Demut, Sorge für Mann und Kinder und Haushalt; als eine Person, die sich durch ein völliges Fehlen von eigenem Handeln, eigenen Ansichten und eigenen Beziehungen außerhalb des als Kernfamilie dargestellten Haushaltes charakterisieren lässt. Dieses Bild ist einerseits gekennzeichnet durch die entsprechenden Geschlechtervorstellungen des 19. Jahrhunderts. Deutlich erkennbar spiegeln z.B. die drei Lebensphasen die protestantische weibliche Normalbiographie für bürgerliche Frauen – ein für viele protestantische Frauen im 19. Jahrhundert nicht realisierbares Modell. Andererseits entwirft diese Darstellung ein Gegenbild zu der Figur, die in der katholischen Polemik beschrieben wird – und Beste macht dies durch explizite Auseinandersetzung mit einzelnen Punkten auch Schritt für Schritt nachvollziehbar. Dieser konfessionspolemische Hintergrund hat einen bestimmenden Einfluss darauf, dass die protestantische Katharina von Bora keine eigenen Entscheidungen trifft, dass ihr keinerlei Autorität zugeschrieben wird, 5
Wilhelm Beste: Die Geschichte Catharina’s von Bora. Nach den Quellen bearbeitet.
6
Ebd., III-IV.
Halle: Richard Mühlmann 1843, III.
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dass sie von einem eigenen Modell religiösen Lebens so weit wie möglich entfernt wird, dass sie weder mit Schriftlichkeit noch mit eigenen Gedanken und Konzepten in Verbindung gebracht wird, dass sie ein sexualitätsfreies Wesen zu sein scheint – alles Themen, die für eine Katharina von Bora aus katholischer Sicht von großer Bedeutung waren. Im Kapitel zur Ehe wird Katharina von Bora in ihrem Charakter und als Ehefrau skizziert, in Widerlegung diffamierender Äußerungen, und es folgt eine Aufzählung der sechs Kinder (bei Kuen: sieben). Dann heißt es: »Es ist erklärlich genug, dass die Geschichte über Catharina’s stilles Walten unter ihren Kindern schweigt; die meistens unsichtbaren Einflüsse der erziehenden Liebe werden ebenso wenig in den Annalen der Menschheit verzeichnet, als sie darauf berechnet sind. Jedenfalls gestattet jedoch Catharina’s Erscheinung, wie und wo sie uns bisher vorgekommen ist, einen Schluss auf ihre wahrhafte, christliche Mütterlichkeit. Sie, die mit glaubens- und liebevoller Gesinnung sogar auf den Gatten dergestalt einwirkte, dass Erasmus sagt: ›Luther fängt jetzt (nachdem er geheirathet) an, milder zu sein und wüthet nicht mehr mit der Feder‹ (Erasm. opera Ausgabe v. Le Clerc T. III. S. 900), muss unzweifelhaft auch eine gute Mutter gewesen sein. Milde, wie sie war und wie wir sie bei der zuweilen gegen seine Kinder losbrechenden Heftigkeit Luther’s beobachtet haben, verstand sie, auch Andere zu mildern. Ihre Betrübniss bei’m Tode ihrer Kinder ist nur ein Zeichen ihrer innigen Liebe. Luther selbst erkennt sie in seinem Testament als treue Mutter an, indem er nicht nur seiner Kinder Angelegenheiten in ihre Hände niederlegt, sondern daselbst ausdrücklich erklärt: ›Ich halte, dass die Mutter werde ihrer eigenen Kinder der beste Vormund sein.‹«7
Beste führt hier eine Norm der Unsichtbarkeit an, die in Bezug auf bestimmte Personen und Handlungsfelder existiert. Das Vorhandensein ebenso wie die Gültigkeit dieser Norm wird als eine Tatsache präsentiert, die nicht weiter erläutert und begründet werden muss. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung wird u.a. darin gesehen, diese Grenze zwischen öffentlich und privat zu ziehen und damit Frauen und familiäre Handlungsfelder effektiv aus dem, was als ›Geschichte‹ verstanden und konstruiert wird, auszuschließen – eine als so grundlegend vorausgesetzte normative Vorstellung, dass sie implizit und damit ebenfalls unsichtbar bleibt. Jedoch durchbricht er mit dieser Bemerkung faktisch die Geltung dieser normativen Konstruktionsprinzipien. Durch das Sichtbarmachen dieses Unsichtbarmachungsprozesses wird dieser als das Ergebnis aktiven Handelns erst kenntlich gemacht, und er selbst tritt als einer der sich dafür berufen fühlen7
Ebd., 80-81.
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den Traditionshüter agierend auf den Plan. In wünschenswerter Deutlichkeit erklärt Beste hier, dass es um das Hüten und Aufrechterhalten gesellschaftlicher Normen und Machtverhältnisse geht, und macht seinen eigenen Text als einen Teil dieses Unternehmens kenntlich. Geschlechterkonzepte stellt er ins Zentrum dieser Geschichtskonstruktion. Bora wird auch in dieser Darstellung von Martin Luther her definiert. Wie Martin Luther und andere Reformatoren repräsentiert sie die reformatorische Wahrheit, gibt ein Exemplum für eine entsprechende Lebensweise, und zwar im Bereich des für alle gleich gültigen Privatlebens. Der Kern von Luthers Privatleben – und darum geht es dem Verfasser letztlich – ist seine Ehe, und Katharina von Bora kann die Realisierung dieses reformatorischen Grundgedankens bei Martin Luther demonstrieren, aber zugleich auch für den Personenkreis außerhalb der Reformatoren vorführen. Die Thematisierung Katharina von Boras dient dem Nachweis, dass die protestantische Lehre wahr und glaubwürdig ist, weil ihre zentralen Figuren diese Wahrheit in ihrem Leben in untadelhafter Form verkörpern. In dieser Weise als Exemplum vor Augen gestellt, wird Katharina von Bora damit zur generalisierbaren Person. Die weibliche Person dient dazu, ein Prinzip zu personifizieren, das nicht nur auf Frauen Anwendung finden soll: Mit diesem Bild vorbildlicher Weiblichkeit werden alle Frauen und diejenigen Männer erfasst, die nicht, wie die Theologen oder andere männliche Elitenangehörige, über Autorität verfügen sollen. Alle diese Menschen werden pauschal in den an ihnen erwünschten Eigenschaften ins Bild gebracht: Demütige Anerkennung der an Martin Luther exemplifizierten Autorität und keinerlei Ansprüche, selbst zu denken und zu urteilen. Männlichkeit hingegen wird hier nur an einer Figur aus der Gruppe der protestantischen Theologen vorgeführt und auf diese Weise eindeutig mit legitimen Ansprüchen auf Autorität und Definitionsmacht verknüpft. Bestes Konzept von Männlichkeit schließt stillschweigend die meisten Männer aus, wobei sie als Männer in diesem Kontext komplett unsichtbar gemacht werden. Diese exemplarische Männlichkeit ist als protestantisch konzipiert: Luther erscheint als Kulturheros, dem als Begründer einer neuen und höheren historischen Phase ein zentraler Platz in der Geschichte zugesprochen wird. Boras Vorbildlichkeit könnte – implizit – durchaus auch in Bezug auf männliche Theologen gemeint sein, zumindest in vielen Lebenssituationen und in der Unterordnung unter die in extremer, exklusiver Singularität konstruierte LutherFigur. All dies wird gleichzeitig als ein eigener wissenschaftlicher Geschichtsdiskurs markiert, in dessen Rahmen Quellen und Fakten die vorgetragenen Konzepte mit einer unabhängigen, neutralen Autorität versehen. Die Quellen und die
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mit ihrer Hilfe plausibel zu machenden Fakten dienen jedoch weiterhin als Argumente für eine religiöse Wahrheit, die nach wie vor von konfessionspolemischen Anlässen und Zielen bestimmt ist. Damit geht es auch in diesem Büchlein nicht um Katharina von Bora selbst und auch nicht um historische Wirklichkeit als solche. Zur Debatte stehen vielmehr Martin Luther, die protestantische Kirche und eine für alle Nicht-TheologInnen gültige Autoritätsstruktur, exemplifiziert an einer weiblichen Person, die genau in ihrer Beziehung zu einem geistlichen Ehemann auch das Allgemeine eines vorbildlichen religiösen Lebens verkörpert. Der wissenschaftliche Diskurs aber, durch den diese Wahrheiten als Wirklichkeit bestimmt und zugleich verbindlich gemacht werden, wird von männlichen Gelehrten betrieben. Sie sind es weiterhin, die untereinander die Regeln ihres wissenschaftlichen und polemischen Diskurses festlegen. Sie definieren, welche die gültigen Normen und Geschichtskonstruktionen sind, und sie setzen einen der ihren ins Zentrum ihrer Geschichtskonstruktion. Aus der breiten Bewegung der Verwissenschaftlichung von Geschichte im 19. Jahrhundert stellt Beste eine Variante dar, die solche Normen und Geschichtskonstruktionen als faktual und als religiös autorisiert zugleich präsentiert. Die dritte Quelle stammt von Sabine Kramer (geb. 1962), evangelisch-lutherische Kirchenhistorikerin und Pfarrerin in Halle an der Saale. Sie trägt den Titel Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit, es handelt sich um eine theologische Dissertation, die 2010 in Leipzig eingereicht wurde (und 2015 erschienen ist).8 Das umfangreiche Werk von knapp 400 Seiten befasst sich mit Katharina von Bora, aber nicht, um erneut eine (Re-)Konstruktion ihrer Person vorzunehmen und neben anderen zur Diskussion zu stellen. Sichtbar gemacht werden soll vielmehr, wie sich Katharina von Boras direkte Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts über sie äußerten, in welchen Textsorten und Kontexten dies geschah und welche Themen dabei besonders wichtig waren. Das Ziel ist, »ein Bild der Gattin Martin Luthers aus ihrer Zeit zu erhalten« und damit einen »Beitrag zur Geschichte der Wittenberger Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts« zu leisten. »Dies erscheint um so wichtiger«, so fährt Kramer fort, »da das frühere Bild von der Lutherin stärker einem sich im orthodoxen Protestantismus herausbildenden Frauenbild, das bis in die Gegenwart hinein nachwirkte, verpflichtet war, als den zeitgenössischen Quellen zu entsprechen.«9
8
Kramer 2010 (Anm. 2).
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Ebd., 3.
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Kramer resümiert den Forschungsstand und die Fragestellungen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert und widmet sich im Hauptteil den Quellen des 16. Jahrhunderts: verschiedenen Briefwechseln, den Tischreden Luthers, der Kontroversliteratur und weiteren schriftlichen Quellen. Diese werden mit detailreichen Inhaltsangaben und Informationen zu Verfassern und Daten präsentiert. Als Ergebnis werden zusammenfassend folgende Themen genannt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
bekannteste ehemalige Konventualin und entlaufene Nonne; Ehefrau des prominentesten Wittenberger Professors; Zugehörige zur führenden Schicht Wittenbergs; als Luthers Frau nicht nur im internen Kreis bekannt; eigenständige Wirtschaftsführerin und Unternehmerin; Teilnehmende der hochrangig besetzten Tischgespräche; Partnerin im reformatorischen Diskurs; Gehilfin, Vertraute, Leib- und Seelsorgerin Luthers; als Thema in der Publizistik der Wittenberger Reformation kaum erwähnt (hier wird also eine zeitgenössische Strategie des Unsichtbarmachens angesprochen); 10. Katharina Luther – (k)eine evangelische Heilige.10 In diesem Text wird nun nicht, wie bei Kuen/Engelhard oder Beste, eine als vorhanden erklärte Wahrheit verkündet. Bora wird auch hier eine Figur, mit der bestimmte Anliegen thematisiert werden. Sie wird aber gerade nicht als scheinbar problemlos sichtbar zu machende Realität fertig präsentiert, in der sich dann die ebenfalls fertigen Normen und Anliegen exemplarisch wiederfinden. Das Unsichtbarmachen der realen historischen Person geht einher mit dem Sichtbarmachen von Konstruktionen und den damit verbundenen normativen Projekten. Mit diesem Verfahren stellt sich die Verfasserin analytisch in Distanz zu vorhandenen Arbeiten. In ihrer auf Frauenbilder fokussierenden Geschichtskonstruktion ergibt sich eine neue Konstellation, die diesmal nicht konfessionell orientiert ist und auch nicht an der innerkirchlichen Ausübung einer religiösen Autorität. Sie stellt eine Konstellation her, in der die konfessionellen und hierarchischen Differenzen tendenziell unsichtbar gemacht werden. Darin geht es ihr um Geschlechterverhältnisse innerhalb ihrer Kirche und um unterschiedliche bis gegensätzliche Positionierungen verschiedener Akteurinnen und Akteure darin, sichtbar gemacht durch eine historische Perspektive.
10 Ebd., Kap. 6, 264-279.
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In diesem Zugang wird, so könnte man sagen, die Hauptperson selbst unsichtbar gemacht, um die Frage nach dem Sichtbar- und Unsichtbarmachen und seinen Hintergründen stellen zu können. Dabei werden erstens die Akteure und Akteurinnen solcher Thematisierungen sichtbar gemacht und zweitens ihre Akte des Sichtbar- und Unsichtbarmachens ansatzweise in kommunikative und gesellschaftliche Kontexte eingebettet. Ausdrücklich geht es darum, diese Recherche in frühen Texten mit bestimmten Konstruktionen späteren Datums zu konfrontieren, um diese letzteren als partikular zu zeigen und in ihrer Wirksamkeit begrenzbar zu machen. So wird eine Auseinandersetzung mit Traditionen der eigenen (protestantischen) Kirche seit dem 17. Jahrhundert aufgebaut, geführt von einer Position als Theologin und Pfarrerin innerhalb dieser Gruppierung. Die Aussagen historischer Dokumente sichtbar zu machen und vor dem Hintergrund gegenwärtiger Positionierungen zu bündeln, soll die gegenwärtige Entwicklung eines anderen als des erwähnten traditionellen Frauenbildes fördern. Diesem Zugang liegt ein doppelter Wandel zugrunde, in gesellschaftlicher ebenso wie in kirchlicher Hinsicht, den die Verfasserin in beiden Aspekten aufgreift und in dem sie ihre Perspektive entfaltet, um diesen Prozess ihrerseits weiter voranzutreiben. Katharina von Bora wird zu einer Figur der innerprotestantischen Auseinandersetzung um Geschlechterkonzepte und damit auch zum Ausgangspunkt für eine Binnendifferenzierung innerhalb dieser Gruppe: Die WissenschaftlerInnen und TheologInnen werden nicht mehr als eine intern einheitliche Gruppe gefasst, die eine dauerhafte Wahrheit mit Autorität zu verwalten beanspruchen kann. Ansprüche dieser Art werden vielmehr durch einen historisch situierenden Blick als partikulare sichtbar gemacht und damit dekonstruiert. Auch die Nicht-TheologInnen erscheinen nicht als eine einheitliche Gruppe und schon gar nicht als eine Gruppe, die sich von gelehrter theologischer oder wissenschaftlicher Autorität regieren zu lassen hätte. Es geht um Differenzen innerhalb der protestantischen Kirche, die als Problem markiert werden. Nicht markiert wird, dass die Thematisierung von Frauen als eine Aufgabe von Frauen im Wissenschaftsbetrieb praktiziert wird. Unsichtbar bleibt, dass ein solches Unternehmen kritischer Dekonstruktion nicht zuletzt zu tun hat mit männlichen Akteuren, mit ihrer Gruppenkultur als Verwalter von Tradition und Autorität, mit ihren Geschlechterkonzepten für Kirche und Gesellschaft insgesamt und mit den an männlichen Zentralfiguren festgemachten Geschichtskonstruktionen. Was lässt sich als Fazit aus den vorgestellten Rezeptionen Katharina von Boras feststellen?
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Bisher war vom Sichtbarmachen ebenso wie vom Unsichtbarmachen die Rede, und dazu hat sich eine ganze Reihe von Beobachtungen ergeben. Im Titel dieses Beitrags habe ich sogar von Geschichtskonstruktionen als Übungen im strukturierten Unsichtbarmachen gesprochen. Was hat es damit auf sich? Es scheint mir wichtig, nicht nur von Sichtbarkeit und auch nicht nur von Unsichtbarkeit zu sprechen. Beides gehört zusammen und ergibt eine komplexe Matrix, und es gibt dabei keine eindeutige, vorab feststehende Wertung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: Die Tatsache allein, dass hier eine Frau thematisiert wird, sagt noch nicht viel aus über die damit verbundenen Anliegen, Konzepte und Wertungen. In allen drei Beispielen hat sich eine Strukturierung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gezeigt, die an Geschlechterkonzepten orientiert war, ansetzend an der thematisierten weiblichen Person, von da aus zu anderen Personen im Umfeld ausgreifend und mit ganz grundsätzlichen Aspekten von Kirche, Gesellschaft und Geschichte verknüpft. Besonders wichtig scheint mir, dass bei dem, was unsichtbar bleibt, auch ein »strukturiertes Unsichtbarmachen« vorliegen kann, das als ein ›Etwas‹ wahrgenommen und mitsamt den damit verbundenen Bedeutungen ausdrücklich thematisiert wird. Gerade weil Katharina von Bora meist qua Geschlecht als marginal für die ›eigentlich relevanten‹ Tatsachen angesehen wurde, führte ihre Thematisierung dazu, auch die gesamte Konstruktion dieser Marginalisierung sichtbar zu machen und so deren Grenzen zu zeigen. Damit wurde auch die Tatsache offengelegt, dass eine solche Konstruktion immer wieder erneuter Bemühungen und Investitionen bedarf, um betrieben und aufrechterhalten werden zu können, und dass sie in unterschiedlichen Varianten immer auch auf Geschlechterkonzepten basiert. Es finden in den untersuchten Beispielen in dieser Hinsicht ständig Handlungen des Errichtens, Aufrechterhaltens, Um- und Abbauens statt, die auch sehr deutlich sichtbar gemacht werden. Die Untersuchung dieses Sichtbarund Unsichtbarmachens hilft, solche Konstruktionen besser zu erkennen – nicht unbedingt, um sie dann vermeiden zu können, sondern um auf dieser Grundlage dann bewusster mit solchen Konstruktionen umgehen zu können und die jeweiligen Anliegen auch explizit diskutierbar zu machen.
Weibliche (Selbst-)Darstellung in medizinischen und moralischen eitschri ten der deutschen ätau klärung E LISA L EONZIO
Die vielfältigen Rollen, die jede Epoche und jede Gesellschaft der Individualität zusprechen, werden durch Formen und Techniken der Selbst- und Fremddarstellung konstituiert.1 Im 18. Jahrhundert führten ebensolche (Selbst-)Thematisierungen insbesondere zur Festsetzung einer Polarität zwischen dem männlichen Einzelsubjekt und dem weiblichen Gattungssubjekt.2 Anhand dieser Thesen möchte ich Darstellungen des Weiblichen in deutschen populärwissenschaftlichen Zeitschriften der Aufklärung untersuchen und analysieren, wie und durch welche Mechanismen die Entwicklung der medizinischen Theorie und Praxis auf die Bildung und Bestätigung eines neuen Bildes von der empfindsamen zerbrechlichen Frau wirkte. Insbesondere soll zunächst belegt und erläutert werden, dass der Wandel des Frauenbildes in der Aufklärung eher aus einem medizinischen, anthropologischen Diskurs als aus einer sozialen Transformation der Familienstruktur in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft resultiert; parallel dazu muss die Relevanz des medizinischen Diskurses, auch und vor allem in
1
Vgl. Alois Hahn/Volker Kapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987.
2
Vgl. Claudia Honegger: Hexenprozesse und »Heimlichkeiten der Frauenzimmer«. Geschlechtsspezifische Aspekte von Fremd- und Selbstthematisierung. In: Hahn/Kapp 1987 (Anm. 1), 95-109.
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seinen popularisierenden Formen, als Quelle für eine soziale Geschichte der Frauen hervorgehoben werden.3
D IE E NTSTEHUNG EINES WEIBLICHEN ERZÄHLENDEN S UBJEKTS Zu den Prinzipien der Frühaufklärung zählte – zumindest theoretisch – die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Glaube, Rasse und Geschlecht. Logische Konsequenz dieser Bewertung auf der Ebene des Geschlechterdiskurses war die Herausbildung der Figur der gelehrten Frau, die, dank einer geeigneten Bildung, die sich von der der Männer nicht unterschied, fähig war, autonom zu denken und sich selbst auszudrücken.4 Eigentlich gehört die literarische weibliche Selbstdarstellung zu einer Tradition, die aus dem Mittelalter stammt. Mittelalterliche Schriften von Frauen beschränkten sich aber meistens auf die Gattungen des religiösen Bekenntnisses, der hymnischen Dichtung und, wenn auch nur in beschränkter Weise, der Ho-
3
Wegweisende Überlegungen zu sozialgeschichtlichen Implikationen eines »medizinischen Schreibens« im 18. Jahrhundert bietet Sandra Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert: von der erneuerten Fortschrittskritik bis zum ›Medical Writing‹. In: Gesnerus 63 (2006), 127-143 (www.gesnerus.ch, 15.01.2015). Ausgehend von einer Rekonstruktion der Zusammenhänge zwischen Literatur und Medizin (von dem Verfahren der Literarisierung von Medizin und der Medikalisierung von Literatur bis zum wissensstiftenden Potenzial der Literatur) und des aktuellen Forschungsstandes analysiert Pott die Entwicklung eines »Medical Writing« im 18. Jahrhundert, das nicht nur die Literatur im engsten Sinn (Romane, Erzählungen), sondern jede »medizinische Gattung« umfasst, wie z.B. Lehrbücher und Zeitschriften, die zu einer Popularisierung des Wissens beitragen. Auf dieser Basis erwähnt Pott Forschungsdesiderata wie die Erarbeitung der Frage nach der Spezifizität jeder Darstellungspraktik und deren Möglichkeit, Wissenschaft und Gesellschaft zu beeinflussen: Jede Gattung ist nämlich ein »kognitives Schema« (137), das von gesellschaftlichen Konventionen abhängig ist und durch diese Konventionen anerkannt wird und sich als öffentlichkeitswirksames Medium profiliert. Erst nach der progressiven Spezialisierung der Medizin im 19. Jahrhundert wird das »Medical Writing« langsam diese Funktion verlieren.
4
Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979.
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miletik5 und boten eher mystische Visionen als psychologische Einsichten an. Dieser Umstand hängt mit der Geschichte der Schriftlichkeit an sich zusammen: Diese blieb jahrhundertelang das Vorrecht des Klerus und wurde Nonnen und adligen Frauen von den Klerikern vermittelt.6 Damit wurden nicht nur Vorgaben eine Gattung betreffend gegeben, sondern auch mögliche Inhalte vorbestimmt und andere ausgeschlossen. Die Vitae der Frauen dienten zur Durchsetzung eines Idealty us von Weiblichkeit und waren als Erbauungsliteratur gedacht.7 In solchen Texten also trat eine Frau als exemplarisches Modell von Devotion – gegenüber Familie und Gott – hervor, welche andere Frauen nachahmen sollten: Mutterschaft und Heiligkeit wurden als Ideale propagiert, während die subjektiven und sich auf die Singularität beziehenden Elemente unerwähnt blieben oder eine starke Typisierung durchliefen.8 Die Frau als Subjekt blieb gesichts- und geschichtslos.9 5
Berühmte Beispiele liefern die Predigten von Hildegard von Bingen. Vgl. Ariane Czerwon: Predigt gegen Ketzer. Tübingen: Mohr Siebeck 2011. Weibliche Predigten verbreiten sich jedoch vor allem mit der Reformation, als Luther in seinem Priestertum aller Gläubigen ein geschlechterübergreifendes Evangelium vertrat: »Darum sind alle Christenmänner Pfaffen und alle Weiber Pfäffinnen, es sei Jung oder Alt, Herr oder Knecht, Frau oder Magd, Gelehrter oder Laie«. Zit. nach Hans Martin Müller: Homiletik: Eine evangelische Predigtlehre. Berlin/New York: de Gruyter 1996, 420. Dieser priesterliche Dienst schließt auch die Aufgabe ein, dem Nächsten das Evangelium zu bezeugen, insbesondere ihm die Vergebung der Sünden zu verkünden.
6
Vgl. Wiebke Freytag: Geistliches Leben und christliche Bildung. Hrotsvit und andere Autorinnen des frühen Mittelalters. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Erster Band: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München: C.H. Beck 1988, 65-76, hier: 67.
7
Vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit. München: C.H. Beck 1993, 17-21, 82 und 139, wo Erbauung durch ein vorbildliches Heiligenbild als edificationis fructus dargestellt wird.
8
Das gilt im besonderen Ausmaß für die Vitae der Mystikerinnen, da das Sterben des Ich die Voraussetzung für jegliche mystische Erfahrung ist. Die Visionen bieten zwar scheinbar subjektive Inhalte dar, sind aber eigentlich personenübergreifend und hinsichtlich eines Genderdiskurses indifferent. Vgl. Tanja Scagnetti-Feurer: Religiöse Visionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 24 und 71. Eine differenzierte Interpretation suggeriert anhand der Subjekttheorien des Literaturwissenschaftlers Jerry Roots: Blanca Gari: Geistliche Viten und Beichtpraktiken. Zur Produktion und Überlieferung spiritueller (Auto-)Biographien von Frauen auf der Iberischen Halbinsel und in der Neuen Welt. In: Monika Mommertz/Claudia Opitz-Belakhal (Hg.): Das Geschlecht des Glaubens. Religiöse Kulturen Europas zwischen Mittelalter und Mo-
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Mit der Renaissance und noch dezidierter mit der Aufklärung trugen ein neues, laizistisches wissenschaftliches Paradigma und die entsprechende neue Auffassung vom Menschen dazu bei, dass ein Übergang von einem von Männern geprägten Frauenbild zu einer autonomen und selbstkonturierenden Weiblichkeit stattfand. Dieser Paradigmenwechsel verdankt sich der cartesianischen Philosophie. Zunächst war es der methodologische Skeptizismus, der dem Denken von Descartes (1596-1650) und dessen Nachfolgern zugrunde liegt, der zum Wechsel führte: Jede Tradition und gesellschaftliche Konstruktion solle in Frage gestellt werden; der Mensch sei in seinem ursprünglichen, vor-gesellschaftlichen Naturzustand zu betrachten, womit immerhin denkbar wurde, dass die Frau nicht von Natur aus immer eine untergeordnete Rolle gehabt habe. 10 Eine noch maßgeblichere Rolle spielte der cartesianische Dualismus: Indem dieser res cogitans und res extensa radikal trennte, wurde die Gleichheit von Männern und Frauen auf der psychischen Ebene behauptbar. Explizit wurde das Thema von François Poullain de la Barre (1647-1723) in seiner 1673 erschienenen Abhandlung De lʼ galit des deu se es, discours physique et moral, o lʼon voit lʼimportance de se d faire des r ug z diskutiert, in welcher er, dem Dualismus entsprechend, behauptete:
derne. Frankfurt a. M./New York: Campus 2008, 229-256. Nach Gari eröffnen die Beichtpraktiken im Mittelalter einen »space to speak« für Individualisierung und Konstruktion einer eigenen Sprache des Subjekts: Das würde vor allem für die geistlichen Viten der Frauen gelten, denen zum ersten Mal »Techniken der Selbstprüfung und Formeln der Repräsentation des Ich« (230) zur Verfügung stehen. Bei den Beichtpraktiken und den (Auto-)Biographien, die daraus resultieren, handelt es sich jedoch – so meine These – um eine zu streng kodifizierte und institutionalisierte Praxis, als dass man von einer eigentlichen, spontanen Selbstbehauptung eines selbstständigen Subjekts sprechen könnte: Die (selbst-)geschriebenen Konfessionen sind nämlich Auftragstexte, die mit dem präzisen Ziel der Erbauung geschrieben werden und die, wie die Beichten selbst, Beichtmanualen und Regeln für das Gespräch zwischen den heiligen Frauen und deren Beichtvätern folgen, die einen freien Raum zum autonomen Selbstdenken stark beschränken. 9
Vgl. Barbara Becker-Cantarino: (Sozial)Geschichte der Frau in Deutschland, 15001800. Ein Bericht. In: dies. (Hg.): Die Frau von der Reformation zur Romantik: Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1987, 243-281, hier: 246 (Erste Auflage 1980).
10 Vgl. Doris Alder: Die Wurzel der Polaritäten: Geschlechtertheorie zwischen Naturrecht und Natur der Frau. Frankfurt a. M./New York: Campus 1992, 120-125.
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»Il est ais de remar uer, que la difference des sexes ne regarde que le Cor s […]. La constitution du Corps; mais particulièrement lʼéducation, lʼexercice, & les impressions de tout ce qui nous environne estant par tout les causes naturelles & sensibles de tant de diversit
ui sʼy remar uent. […] lʼesprit nʼagissant pas autrement dans un sexe, que dans
lʼautre, il y est également capable des mêmes choses.«11
Die Frauen seien demnach zwar physisch schwächer, diese Schwachheit des Körpers habe aber keinen Einfluss auf die geistigen Fähigkeiten, also auf das Vermögen, Wissen zu erwerben und sich tugendhaft12 zu verhalten. Die Frau sei ein voll- und gleichwertiger Teil der Menschengattung und ihr sollten die gleichen Möglichkeiten in der Gesellschaft und in den Wissenschaften zukommen. Diese auf dem cartesianischen Dualismus basierende Auslegung der geschlechtsspezifischen Unterschiede öffnete eine beträchtliche »Vergrößerung des genusfreien Raumes zur Zusprechung von ratio«13, und dementsprechend erschloss sich Frauen die Möglichkeit, an dem Gestalten und Konturieren eines neuen Frauenbildes teilzunehmen: des Bildes der gelehrten Frau, die dank einer adäquaten Ausbildung über die kulturellen Mittel verfügte, um sich – auch und gerade über sich selbst – öffentlich auszudrücken.
11 François oullain de la Barre: De lʼ galit des deu se es, discours hysi ue et moral, o lʼon voit l’im ortance de se d faire des r jug z. Paris: Chez Jean de Puis 1673, 109-111. Online bei google books (28.01.2015). 12 Auch das tugendhafte Verhalten setzt Vernunft voraus, denn das Verstehen der eigenen Leidenschaften und das Kalkül, Leidenschaften profitabel zu machen, sind von Ratio und intellektuellem Vermögen abhängig. Tugend hat hier eine starke rationalistische Komponente und wird mit der Fähigkeit gleichgesetzt, sich gesellschaftlich adäquat zu benehmen. Die ganze Abhandlung von Poullain de la Barre, und vor allem deren zweiter Teil (s. besonders 144-146) ist von solchem Rationalismus erfüllt, der seine Basis in Platons Theorie über den Zusammenhang von Kenntnis und Tugend hat: Wenn der Mensch tugendlos handelt – wiederholt Sokrates in vielen Dialogen –, hängt dies damit zusammen, dass man das Gute nicht verstanden hat. Poullain, auch durch die Philosophie der französischen Moralisten inspiriert, verschärft diesen Gedanken und verbindet ihn mit einem dezidierten ethischen Relativismus: Tugend sei also kein Absolutum, sondern ein von den Umständen abhängiger Begriff: »il faut remar uer u’il n’y a ue nostre ame qui soit capable de vertu, laquelle consiste en general dans la resolution ferme & constante de ce u’on juge le meilleur, selon les diverses occurrences« (ebd., 203). 13 Friederike Hassauer: Homo. Academica. Geschlechterkontrakte, Institution und die Verteilung des Wissens. Wien: Passagen 1994, 29.
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V ON GELEHRTEN ZU EMPFINDSAMEN F RAUEN : D IE MEDIZINISCHE D EBATTE ÜBER DIE ( WEIBLICHE ) G ELEHRSAMKEIT IM R AHMEN DER ANTHROPOLOGISCHEN W ENDE ›Gelehrte Frauen‹ existierten bereits seit der Antike und dem Mittelalter, wie beispielsweise die Mathematikerin und Philosophin Hypatia von Alexandria und die Benediktinerin Hildegard von Bingen, aber ihre Geschichten hatten einen eher beispielhaften Ausnahmecharakter und dienten nicht als Beleg, dass das ganze weibliche Geschlecht ähnliche Talente hat.14 Dagegen sprachen auch die vielen Florilegien mit Auszügen aus der Bibel und den antiken Philosophen, die pseudowissenschaftliche Argumente mit der biblischen Annahme mischten, dass die Wissensbegierde der ersten Frau, Eva, zum Sündenfall geführt hätte. Im 17. Jahrhundert setzte sich ein tatsächlich neues, obwohl nicht unumstrittenes Erziehungsmodell durch, das für die Frauen der höheren Schicht keine separate und eingeschränkte Mädchenerziehung, sondern eine geschlechterübergreifende Ausbildung vorsah. Der Erwerb des Wissens erfolgte nicht mehr autodidaktisch – wie es in der Vergangenheit oft der Fall gewesen war –, sondern als kodifizierte und von der Gesellschaft normierte Praxis. Aus der Perspektive der Publizistikgeschichte für den deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts entsprach diesem Prozess die Erweiterung des lesenden Publikums und potenziell – und teilweise de facto – die Entstehung einer neuen Figuration: Die Frauen wurden immer öfter als Adressatinnen von Zeitschriften betrachtet und damit wurde in Kauf genommen, dass sie auch als Autorinnen hervortraten. Dies erfolgte im Lebensverlauf zunächst meistens anonym, später traten Frauen als erkannte und erkennbare Autorinnen immer öfter hervor.15 Dieser Erweiterung der weiblichen Kompetenzen in der Publizistik entsprach jedoch paradoxerweise eine generelle Tendenz zur Rückkehr zu älteren, vorcartesianischen Mustern von Weiblichkeit. Wenn man für Frauen gedachte und manchmal von Frauen selbst herausgegebene Zeitschriften aus dem letzten Drit-
14 Vgl. Elisabeth Gössmann: Für und wider die Frauengelehrsamkeit. Eine europäische Diskussion im 17. Jahrhundert. In: Brinker-Gabler 1988 (Anm. 6), 185-193, hier: 188. 15 Exemplarisch sind diesbezüglich die Figuren der Herausgeberinnen und Autorinnen Sophie La Roche und Marianne Ehrmann, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine bzw. zwei Frauenzeitschriften herausgaben. Vgl. Helga Brandes: Das Frauenzimmer-Journal: Zur Herausbildung einer journalistischen Gattung im 18. Jahrhundert. In: Brinker-Gabler 1988 (Anm. 6), 452-468.
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tel des 18. Jahrhunderts liest, wird man mit regressiven Tendenzen konfrontiert: Es dominieren Begriffe wie Mutter, Gattin, Haushälterin, und es wird immer mehr auf die sentimentale Komponente der weiblichen Seele zuungunsten ihrer Vernünftigkeit hingewiesen.16 Aufschlussreich sind diesbezüglich einige Auszüge aus der Monatsschrift Pomona für Teutschlands Töchter, die von Sophie La Roche (1730-1807) zwischen 1783 und 1784 herausgegeben wurde und die als eine der berühmtesten Frauenzeitschriften der Epoche gilt. Das erste Heft eröffnet mit einer Anrede an fiktive Leserinnen: Die Veranlassung der Pomona wird dort mit einem Spaziergang durch die Umgebung von Speyer erklärt, welche La Roche, begleitet von einem Freund, unternommen habe. Nach Hause zurückgekehrt, unterhält sie sich mit einer Freundin: Beschrieben werden die Schönheit der Landschaft und das Gespräch mit dem Freund, der sie mit seinen umfangreichen literarischen und wissenschaftlichen Kenntnissen fasziniert hat, wie sie nun der Freundin berichtet. Diese äußert den Wunsch, dass auch die Frauen ähnliche Gelehrsamkeit besitzen möchten und dass Sophie dazu beitragen solle, indem sie eine Monatsschrift für Frauen veröffentliche: »Es giebt aber jetzo so viele gelehrte Frauenzimmer ---«.17 Die Antwort von La Roche ist eindeutig: »Diese sind Ausnahmen der Natur und des Zufalls«.18 Ihrem Wesen nach sei die Frau mit der Gelehrsamkeit unvereinbar und La Roche plane nicht, diese Kluft zu überbrücken. Die Gründe dafür werden ausführlich genannt: »Gelehrsamkeit, meine Liebe! Sollten Sie nicht darinn [in der Monatsschrift, E.L.] finden, einmal, weil ich selbst keine besitze, und auch deswegen, weil sie oft der Güte des Herzens und dem, was man guten Humor nennt, einen ungleichen Gang giebt, und da wir von der Natur und den besten Gesetzen bestimmt sind, durch freundliches Bezeugen und Güte alles, was uns umgiebt, glüklich zu machen; so möchte ich nur suchen, die Blumen zu zeigen, welche schon auf dem Wege unserer Bestimmung wachsen, und die benennen, welche wir noch ohne viele Mühe mit Ehre und Vergnügen in unser Gebiet verpflanzen können.«19
16 Vgl. Helga Brandes: Der Wandel des Frauenbildes in den deutschen moralischen Wochenschriften. In: Ernst Fischer/Alberto Martino (Hg.): Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700-1848). Tübingen: Max Niemeyer 1989, 49-64. 17 Sophie La Roche: Pomona für Teutschlands Töchter 1 (1783) 1, 14. Online. 18 Ebd. 19 Ebd., 13-14.
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Deckte sich die weibliche Gelehrsamkeit schon im beginnenden 18. Jahrhundert nicht vollkommen mit der männlichen,20 beobachtet man im ausgehenden Jahrhundert einen weiteren Rückschritt gegenüber der cartesianischen Vorstellung einer intellektuellen Gleichheit der Geschlechter, welcher hier in der Pomona vollen Ausdruck fand. Teile der Argumentation, und insbesondere das Bekenntnis zur Unwissenheit, gehören zu einer strategischen captatio benevolentiae in Richtung des männlichen Publikums und müssen deshalb relativiert werden. Aber der Ton und der Wortschatz der ganzen Vorrede beweisen, dass hier den Frauen tatsächlich bestimmte Bereiche versperrt werden. Um etwas zu schreiben, das für die Frauen wirklich nützlich ist und sie glücklich machen kann, müssen AutorInnen und ErzieherInnen den Wegen der Natur folgen – schlug La Roche vor:21 Die Ausbildung wird mit einem Spaziergang gleichgesetzt, welcher, ganz wie La Roches eingangs beschriebener eigener Ausflug mit ihrem Begleiter, Heiterkeit und sanftes Vergnügen in der weiblichen Seele erweckt: daher sollte »[...] ich meinen Weg fortsetzen […], weil meine Leserinnen dadurch wirklich im Spaziergehen eine Menge nützlicher und angenehmer Kenntnisse erlangen würden.«22 Schöne Natur und gute Bücher seien die Inhalte, die für die natürliche Bestimmung der Frauen geeignet seien, während ex negativo die Natur als Gegenstand von wissenschaftlicher Beobachtung und die Wissenschaften selbst ausgeschlossen seien. Eine solche naturhafte Ausbildung spreche die Gefühle an und widersetze sich der Gelehrsamkeit, die die Vernunft anstrenge und »sehr oft die Güte des Herzens unterbricht«.23 Konfrontiert sind wir hier mit einer Ethik der Gefühle, die zum primären Ziel der Erziehung der Frauen wird und den Rationalismus und das Wissen als Gefahr darstellt. Im 9. Heft der Pomona veröffentlichte La Roche einen Text Ueber das Lesen, in welchem diese Prinzipien vertieft wurden: Auch das Lesen wird mit einem
20 Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart: Metzler 1968, 525. 21 Den Begriff ›Glück‹ gerade in seiner Verbindung zur Natur und zum Naturwissen in La Roches Werk analysiert Monika Nenon: Über das Glück. Stoizismus und Popularphilosophie im Spätwerk Sophie von La Roches. In: Gudrun Loster-Schneider/Barbara Becker-Cantarino: »Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften.« Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit. Tübingen: Francke 2010, 45-54. Es sei die Natur, mit ihrer Vermischung von Schönheit und Nutzbarkeit, die den Menschen die Ruhe garantiert, die nach der stoischen Lehre als Voraussetzung des Glücks gilt. 22 La Roche: Pomona (Anm. 17), 1 (1783) 1, 15. 23 La Roche: Pomona (Anm. 17), 1 (1783) 2, 143.
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Spaziergang verglichen,24 denn bei beiden Aktivitäten werde man durch eine Landschaft von Gegenständen geführt und verweile an bestimmten Punkten. Die Lektüren sollten zwar zur Erweiterung des Verstandes dienen; der Maßstab, um über Nützlichkeit und Annehmlichkeit jeden Buches zu urteilen, blieb aber die Bibel mit ihren moralischen Lehren. Diese ›Diätetik des Lesens‹, die mit einer sorgfältigen Wahl des Lesestoffs und der Einteilung der Zeit, die man der Lektüre widmen kann, beginnt, leitet die Gefühle hin zu einem guten Leben. Interessanterweise wird beim Lesen die Rolle des Infragestellens hervorgehoben: Indem man nach der Finalität jeder Lektüre fragt, beginnt nämlich ein Selbstgespräch, das zur innerlichen Veredelung führt. Noch interessanter ist die Tatsache, dass das Selbstgespräch, wie La Roche weiter argumentiert, vom Lesen abgesehen seine Nützlichkeit nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer zeigt. Nach dem Anführen eines Zitats eines »Unbekannten« über die »üble Laune«, die durch ein Selbstgespräch geheilt wurde, bemerkt die Autorin nämlich: »Denn NB. dieß Fragment ist von einem Mann geschrieben, der hinzusetzt – ›Auf diese Art bin ich guter Gatte, guter Vater, Freund und Herr geblieben.‹ – Das Recept hilft aber gewiß auch der bösen Laune einer Frau, wie China Rinde dem Fieber bey beyden Geschlechtern abhilft.«25
Bestimmte Beschäftigungen des Geistes besitzen bei La Roche explizit medizinisch-therapeutischen Charakter, indem sie beim diätetischen Ausgleichen der Empfindungen Tugenden entstehen lassen und aus Menschen gesellschaftliche Wesen machen. Dass diese ›Therapien‹ geschlechterübergreifend sind, könnte zunächst in Erstaunen versetzen, aber das entspricht einerseits dem noch offenen Frauenbegriff und andererseits dem Vorhandensein von anderen Problematiken, die das Geschlecht gar nicht thematisieren. Zahlreiche Ebenen überlagern sich also in diesem Diskurs: die negative Einschätzung der Gelehrsamkeit, die Behauptung eines konstitutiven Unterschiedes zwischen Mann und Frau, aber auch eine partielle Wiederannäherung der beiden Polaritäten. Diese Themen und deren manchmal widersprüchliche Behandlung werden nachvollziehbar, wenn man sie unter Berücksichtigung einer neuen Disziplin, der medizinischen Anthropologie, analysiert. Die medizinische Anthropologie, die sich in den 1770er Jahren in Deutschland manifestierte, versuchte, den Menschen in seiner psycho-physischen Ganzheit zu erklären. In der virulenten Debatte über das commercium mentis et cor24 La Roche: Pomona (Anm. 17), 1 (1783) 9, 846. 25 Ebd., 849.
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poris stellte Ernst Platner (1744-1818) in seiner 1772 in Leipzig erschienenen Anthropologie für Aerzte und Weltweise, dem Haupt- und Grundwerk der Disziplin, die These von einer Wechselwirkung zwischen geistigen und körperlichen Kräften auf. Dieser Zusammenhang hat wichtige Folgen für die beiden Themen, mit denen sich Sophie von La Roche – und mit ihr Ärzte, Physiologen, Philosophen und Pädagogen der Zeit – beschäftigte. Wo der cartesianische Dualismus für die intellektuelle Gleichheit von Männern und Frauen gesprochen hatte, da trat mit der Anthropologie und ihrer ganzheitlichen Auffassung des Menschen die entgegengesetzte Theorie in den Vordergrund: die der Ungleichheit der Geschlechter, die sich aus der wechselseitigen Abhängigkeit von Seele und Körper herausbildete. Wenn der weibliche Körper schwächer ist, wird eine ähnliche Schwachheit auch den geistigen Fähigkeiten beigemessen. Diese Konstellation von Theorien wird dann eng mit dem Thema Gelehrsamkeit verknüpft: Wenn die Nerven der Frauen feiner und reizbarer (also »schwächer«) sind, können die Frauen die Anstrengungen des Geistes, die beim Studieren unvermeidlich sind, nicht ertragen. Im Fall der Frauen kam also zur Apotheose eine Polemik gegen die Gelehrsamkeit, die, beide Geschlechter betreffend, das ganze letzte Drittel des 18. Jahrhunderts prägte. In Johann August Unzers (1727-1799) Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift, die zwischen 1759 und 1764 herausgegeben und in den folgenden Jahrzehnten dank ihres großen Erfolgs in zwölf Bänden erneut veröffentlicht wurde, lässt Unzer unter Pseudonym einen fiktiven »Anti-Gelehrten« behaupten, dass die Gelehrsamkeit »eine höchstbeschwerliche Krankheit ist. […] Die Natur hat uns Vernunft und Sinne gegeben, und wir erhalten den Gebrauch von beyden, ohne daß wir uns die geringste Gewalt anthun müssen. Allein, wenn wir gelehrt werden wollen, so müssen wir unsere Kräfte übertreiben […]. Dieser Zustand einer übertriebenen Natur ist die Gelehrsamkeit, und wer sie besitzt, der befindet sich in einem unnatürlichen Zustande, welcher mit dem vollkommensten Rechte eine Krankheit genennet werden kann. […] Wir haben die Natur umgekehret. Wir haben unsere Seelen durch die Gelehrsamkeit männlich, groß und fruchtbar, und hingegen unsere Körper weibisch, klein und gebrechlich gemacht.«26
Aufgrund der physischen Krankheiten, die durch die Anstrengung des Geistes verursacht werden, korrumpiere der Mensch seine eigene Natur, kehre sie um: Die Männer werden zu weiblich, was als Krankheit interpretiert wird: Bei analoger Umkehrung der ursprünglichen Natur seien die Frauen den gleichen Gefah26 [Bombastus, Quadratus, Horribilis] in: Johann August Unzer: Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift 4 (1760) 79. Stück, 413-427, hier: 413-416. Auch online.
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ren ausgesetzt, zumal ihre psycho-physische Konstitution an sich schwächer sei und ihre Anstrengungen, um eine »männliche Seele« zu erreichen, noch krankhafter wären.
I N DER P RAXIS : D IE F RAU ALS P ATIENTIN , L ESERIN UND VERHINDERTE ÄRZTIN Die stets wachsende Ausdifferenzierung zwischen Frauen und Männern hatte konkrete Folgen in der medizinischen Praxis und spiegelt sich in den medizinischen Frauenzeitschriften der Zeit wider, in denen Ratschläge für die weibliche Gesundheit immer stärker ethische Konnotationen aufweisen und die die Position der Frau in der Gesellschaft und der Familie de facto bestimmen. Drei Konstellationen lassen sich identifizieren: die Frau als Patientin, die im Vergleich zum Mann an besonderen Krankheiten leidet und besondere Behandlungen braucht, die Frau als Rezipientin eines medizinischen Wissens, das ›frauenorientiert‹ sein und daher in besondere Formen umgestaltet werden muss, und die Bestimmung der Frau zu pflegenden Rollen, von denen der ärztliche Beruf jedoch ausgeschlossen ist. Als mustergültiges Beispiel einer solchen Zeitschrift gilt Der Arzt der Frauenzimmer. Eine medicinische Wochenschrift, die zwischen 1771 und 1773 erschien und eine der bekanntesten medizinischen Frauenwochenschriften der Zeit war. Die Inhaltsverzeichnisse der Hefte bieten einen lehrreichen Überblick über Themen und Perspektiven der Zeitschrift. Was darin besonders auffällig ist, ist die konstante Alternanz und gelegentliche Vermischung von physischen, psychischen und psychosomatischen Untersuchungen und Problematiken: Liebesfieber, Musik und Tanzen, Bekleidung, die Gestaltung von Wohn- und Schlafzimmer, die kurative Wirkung der Bäder, die Diätetik des Körpers und der Leidenschaften sind einige der am häufigsten diskutierten Themen. Die an der Praxis orientierten Ziele der Zeitschrift wurden in der Vorrede ausdrücklich hervorgehoben. Der Aufklärung, auf die sich der Verfasser Johann Georg Friedrich Frantz (1737-1785) bei der Darstellung der Aufgaben der Zeitschrift im Vorwort bezieht, seien die empirische Begründung des Wissens und die praktische Orientierung der Wissenschaften, die nach unmittelbaren Auswirkungen für das Leben der Menschen streben sollen, zu verdanken. 27 Der Nutzen
27 Vgl. [J.G.F. Frantz]: Vorrede. In: Der Arzt der Frauenzimmer. Eine medicinische Wochenschrift 1 (1771), [II]-[XIII] (http://gdz.sub.uni-goettingen.de > Schnellsuche »arzt frauenzimmer«, 22.01.2015).
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einer solchen »Arzneywissenschaft« sei daher nun ein allgemeinerer, der auch Frauen adressiere. Dennoch, wie explizit im ersten Stück des ersten Jahrgangs formuliert wurde, stellt die Frau einen spezifischen und von dem des Mannes ganz unterschiedlichen Fall für die Medizin und die Arzneikunde dar, weil sie, neben all den mit den Männern gemeinsamen Krankheiten, noch andere Leiden habe und außerdem öfter erkranke: »Die Uebel, welche man bey Personen von großen Fähigkeiten des Geistes antrift, stellen sich auch bey ihnen [den Frauen, E.L.] ein. […] daß eine große Fertigkeit und Lebhaftigkeit der Seele mit einer schwächlichen Leibesconstitution, gleichsam durch ein schwesterliches Band, verknüpfet, und daß sie mit einer ganz besondern Empfindlichkeit des Nervengebäudes vergesellschaftet sey, welche den Körper zu einem frühzeitigen Tode zubereiten.«28
Die tradierte Argumentation der geistigen Unterlegenheit der Frauen verwandelte sich hier paradoxerweise in ihr Gegenteil. Die Frau sei höher begabt, aber genau deswegen schwächer und besonders geneigt zu seelischen, nervösen Krankheiten (Schwindel, Ohnmacht, Nervenbeschwerden, Melancholie). Daher sollten die Männer die Frauen vor jeder Anstrengung des Geistes schützen. Diese Auslegung spiegelte sich in der geschlechtsspezifischen Kommunikationsmaxime wider, die der Zeitschrift zugrunde liegt, und die am auffälligsten in der sukzessiven Erläuterung formuliert wird: »Ich verspreche hiermit öffentlich, daß ich mich eifrig bemühen werde, dem andern Geschlecht so viel mir möglich ist, nützlich zu werden, ihr Vergnügen und ihre Glückseligkeit zu befördern.«29 Die sich herausbildende Hauptregel der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, eine differenzierte und einzelfallorientierte Praxis, wurde also ebenso zur Hauptregel in der Medizinkommunikation. Die »Lehre von [der] Erhaltung der Gesundheit des Menschen« sei dabei in eine sparsame Sprache zu kleiden und in einfachen Regeln festzuschreiben, die Vorschriften seien von der »Dunkelheit« der Kunstwörter zu befreien, unter der sie »begraben lagen«.30 Obwohl Frauen in den wissenschaftlichen Debatten der Epoche zwar sichtbarer Gegenstand, aber sicherlich die unsichtbarsten Gesprächspartnerinnen waren, näherte sich interessanterweise gerade die einfache, unterhaltende Sprache, mit der den Frauen das Wissen sichtbar gemacht wurde, dieser idealen Sprache am meisten an.
28 Untersuchung der Frage: Warum die Frauenzimmer vor den Mannspersonen vorzüglich zu Krankheiten geneigt sind? In: Ebd., Erstes Stück, [1]-16, hier: 5-6. 29 [J.G.F. Frantz]: Vorrede (Anm. 27), [IX]. 30 Ebd., [III].
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Annehmlichkeit, Unterhaltung und Nützlichkeit sind genau die Themen von La Roche, die aber hier in einem wissenschaftlichen Rahmen und auf wissenschaftlicher Grundlage präsentiert werden, ausgehend von der Annahme, dass auch der Rezeptions- bzw. Lesepraxis ein geschlechtlicher Charakter unterliege. Aus dieser Perspektive diskutierte Frantz auch die von einer Leserin vermutete Möglichkeit, dass einige Frauen Ärztinnen werden und andere Frauen heilen könnten: »Die Frauen haben das Recht, wie die Mannspersonen haben, durch die Wissenschaften ihren Verstand aufzuklären [...]. Ich bin sehr geneigt zu glauben, daß Frauenzimmer sowohl einen innerlichen als auch einen äußerlichen Beruf die Arzneykunst zu treiben haben [...]«.31 Die Frauen besitzen eine »lebhaftere Menschenliebe«, sind zur Hilfe und Pflege geneigt, bei Krankenbetten sind sie zuvorkommend und haben gute Intuition, was die Arten von Krankheiten betreffe. Trotz dieser Vorteile wird ihnen aber abgeraten, Medizin zu studieren und vor allem zu praktizieren: Es wird zwar behauptet: »Ihre Seelenkräfte sind vollkommen geschickt, die weitläufigen Wissenschaften in der Arzneykunst zu erlernen«,32 aber es würde »ihnen viel zu beschwerlich werden, viele Patientinnen zu besuchen, und endlich würde ihnen die allzuzärtliche Liebe die wichtigsten Hindernisse in den Weg legen, wodurch sie bey schweren Krankheiten, worinne man den Patienten unerträgliche Schmerzen, ehe eine gründliche Heilung erfolgen kann, verursachen muss, sich dieser Pflicht zu entziehen genöthiget werden würden.«33
Formuliert ist damit eine weitere Variante der auf wissenschaftlicher Grundlage behaupteten weiblichen Unterlegenheit: Sollten die Frauen die Schwierigkeiten des medizinischen Studiums überwinden – was hier theoretisch möglich erscheint –, würden sie jedenfalls zu bestimmten beruflichen Rollen nicht aufsteigen, denn die sentimentalen Komponenten der weiblichen Seelen, abhängig von der Beschaffenheit des (physischen) Nervengebäudes, würden sie daran hindern. Am Rande dieser Diskussion verdient noch eine Figur Erwähnung: die Altphilologin Ernestine Christiane Reiske, die als die einzige Autorin in Karl Philipp Moritzʼ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793) auch namentlich erwähnt wurde. 1785 veröffentlichte sie im dritten Band des Magazins vier Beiträge. In zweien dieser Beiträge legte sie, in einer Doppelrolle als Patientin und
31 Ebd., 67-80, hier 69. 32 Ebd., 70. 33 Ebd., 74.
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Ärztin, Selbstbeobachtungen dar. Im einen beschrieb sie Symptomatiken, die sie an sich selbst wahrnahm, und benutzte als Muster einen im ersten Band des Magazins von Johann Joachim Spalding über sich selbst veröffentlichten Bericht.34 Insofern überwand Reiske den tradierten Unterschied von typisch weiblichen und männlichen Krankheiten. Im anderen Artikel35 berichtete sie von einer jungen Frau, die von der Überzeugung gequält war, eine Sünderin zu sein und ihre Ehe und Ehre geschändet zu haben: In diesem Fall erstellte Reiske eine Diagnose und heilte die Frau, wie es eine Ärztin getan hätte, und überwand damit die strikte Berufsdichotomie zwischen den Geschlechtern. Keine Einwände wurden gegen die Beiträge von Reiske erhoben, weder in diesem Band noch in den folgenden. Denn im Magazin wurden seelische Krankheiten schließlich verallgemeinert als menschliche Zustände beider Geschlechter, sowohl des männlichen, als auch des weiblichen. Diese Neuerung erklärt sich daraus, dass der – nach der Lehre der medizinischen Anthropologie untrennbare – Zusammenhang von Körper und Seele nun relativiert wird. Moritz leugnete den influxus physicus, den Einfluss des Körpers auf die Seele und das seelische Vermögen: Sehr bekannt war seine in diesem Sinne argumentierende Verteidigung der Denkfähigkeiten der Taubstummen, eine Problematik, die im 18. Jahrhundert europaweit sehr umstritten war.36 Die Möglichkeit eines influxus psychicus, des Einflusses der Seele auf den Körper, wurde hingegen akzeptiert und am Beispiel der sog. »sitzenden Berufe« (Künstler und Handwerker) dargestellt. Die Implikationen von Moritzʼ theoretischen Voraussetzungen für den Frauendiskurs würden eine Studie an sich erfordern, aber es ist unwiderlegbar, dass sich bei ihm die physische Begründung der weiblichen Unterlegenheit und damit die auf dem Körper basierten geschlechtlichen Unterschiede auflösen. Es sei dazu angemerkt, dass das Magazin, anders als die Zeitschriften, die ich bis jetzt analysiert habe, keine moralisierenden Ziele verfolgte und keinen Beitrag zur Be34 Ernestine Christiane Reiske: Parallel zu der Selbstbeobachtung des Hr. O.C.R. Spalding im 2ten Stück des ersten Bandes. In Karl Philipp Moritz (Hg.): Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 3 (1785) 3, 36-38. Volltext online. 35 Ernestine Christiane Reiske: Heilung des Wahnwitzes durch Erweckung neuer Ideen, in zwei Beispielen. In: Ebd., 27-33. 36 Vgl. Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2007, 31-121 und meinen Beitrag: Elisa Leonzio: Der empfindungslose Mensch und die Rehabilitierung der Sinne im psychologischen und literarischen Diskurs der deutschen Aufklärung. In Katja Battenfeld/Cornelia Bogen/Ingo Uhlig/Patrick Wulfleff (Hg.): Gefühllose Aufklärung. Anaisthesis oder die Unempfindlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2012, 291-309.
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stimmung sozialer Rollen anbieten wollte. Die bekannte Devise »Fakta, und kein moralisches Geschwätz«, die Moritz in der Vorrede37 des Magazins als führendes Prinzip erklärt, stellt Fakta Reflexion und Moral gegenüber und negiert jeden anderen Zweck.38 Nur im Dienst der Wissenschaft, um ihr eine neue Entwicklung zu eröffnen, will Moritz, dass das Magazin gelesen wird: Die gesammelten Materialien werden »zu einem Gebäude« zusammengetragen, »daß [sic] seinen Baumeister noch sucht, und ihn wahrscheinlich einmal finden wird.«39
Z USAMMENFASSUNG Der weibliche Autonomisierungsprozess, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, verlangsamte sich allmählich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts: Im Zuge der Durchsetzung der medizinischen Anthropologie mit ihrer ganzheitlichen Auffassung des Menschen wurde die Frau zum empfindsamen, irrationalen Wesen, das als untergeordnetes Objekt betrachtet wurde, aber nicht mehr als selbstbeobachtendes Subjekt in Erscheinung trat. Wenn sie ihre Selbstbeobachtungen doch publizierte, orientierten sich ihre Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung an von Männern propagierten Modellen. Dieser Wandel des Frauenbildes findet im medizinischen Diskurs seinen Ursprung: Frauen wurden bestimmte Krankheiten zugeschrieben und bestimmte Heilmethoden nahegelegt; sie wurden auf bestimmte Rollen festgelegt. Anhand unterschiedlicher Zeitschriften, in denen Darstellungen von Weiblichkeit entweder als von Männern protokollierte und wiedergegebene Zeugnisse oder als von Frauen selbst verfasste Artikel enthalten sind, hat die vorliegende Arbeit gezeigt, wie das tradierte ab- und ausgrenzende Modell der Weiblichkeit in der populärwissenschaftlichen Publizistik der Spätaufklärung wiederholt wurde. Im Besonderen hat die Analyse versucht, die dialektische Bewegung zwischen Medizin und Gesellschaft hervorzuheben, die den moralisch-medizinischen Diskurs der Spätaufklärung prägte: Medizin wurde zwar zur Projektionsfläche von sozialen
37 [Karl Philipp Moritz]: [Vorrede]. In: ders. (Hg.): Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 1 (1783) 1, 1-3, hier 2. 38 Vgl. Yvonne Wübben: Vom Gutachten zum Fall. Die Ordnung des Wissens in Karl Phili
Moritz’ »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«. In Sheila Dickson/Stefan
Goldmann/Christoph Wingertszahn (Hg.): »Fakta, und kein moralisches Geschwätz«: zu den Fallgeschichten im »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« (1783-1793). Göttingen: Wallstein 2011, 140-158. 39 Moritz 1783 (Anm. 37), 2.
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Geschlechterrollen, aber Gesellschaft wurde ihrerseits zur Projektionsfläche von medizinischen Geschlechterrollen, zu deren Bewahrung Frauen selbst dezidiert beigetragen haben.
Intellektuelle Symbiose und Geschlechterwissen in den (auto)bi(o)graphischen Schriften John Stuart Mills und Harriet Taylors H ANS J ÖRG S CHMIDT
»Wie bei allem, was ich seit vielen Jahren geschrieben habe, kommt die Autorschaft ihr ebenso zu wie mir«, schrieb der für das viktorianische Zeitalter äußerst unkonventionelle englische Philosoph, Ökonom, Politiker, europäische Intellektuelle sowie Streiter für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung der Frau, John Stuart Mill (1806-1873), in der Zueignung des Essays Über die Freiheit (1859) im »Andenken an die« von ihm »Geliebte und Beklagte«1 Harriet Taylor (1806-1858). Mills Freundin, Lebensgefährtin und Gattin seit dem Jahr 1851 war kurz vor Veröffentlichung der Freiheitsschrift verstorben.2 Kennenge-
1
John Stuart Mill [im Folgenden JSM] mit Harriet Taylor Mill [im Folgenden HTM]: Über die Freiheit [übers. von Angela Marciniak auf der Grundlage der Übersetzung von Theodor Gomperz]. In: JSM: Ausgewählte Werke. Hg. v. Ulrike Ackermann/Hans Jörg Schmidt. Bd. III.1. Individuum, Moral und Gesellschaft. Hg. u. eingel. v. Michael Schefczyk/Christoph Schmidt-Petri. Hamburg: Murmann 2014, 304-440, hier: 305. – Auch sei an dieser Stelle den Herausgeberinnen des Bandes ein besonderer Dank für ihre konstruktiven Hinweise sowie das aufmerksame Lektorat ausgesprochen.
2
Vgl. ausführlich zu HTM die Biographie von Jo Ellen Jacobs: The Voice of Harriet Taylor Mill. Bloomington: Indiana University Press 2002.
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lernt hatten sie sich 1830 in einem liberalen Salon. 3 Auf Geheiß ihres Vaters war Harriet früh mit dem elf Jahre älteren Londoner Geschäftsmann John Taylor verheiratet worden. Mit ihm hatte sie zwei Söhne und eine im Jahr 1831 geborene Tochter. Aus der Bekanntschaft zwischen John Stuart Mill und Harriet Taylor entwickelte sich alsbald eine intensive Arbeits- und Freundschaftsbeziehung. Beide verbrachten während der Abwesenheit des Ehemannes gemeinsame Abende oder verreisten, oftmals nach Paris oder auch andernorts auf den europäischen Kontinent. Späterhin hielt sich Harriet Taylor mit ihren Kindern zumeist in einem Landhaus außerhalb Londons auf. Mill und Taylor korrespondierten ausführlich und nutzten jede Gelegenheit, sich fernab der geschäftigen Großstadt privat zu treffen. Im viktorianischen England war diese ›skandalöse‹ Beziehung von Hohn und Spott begleitet. Mill stünde unter negativem Einfluss, sei gar dem ›Zauber‹ Harriet Taylors erlegen.4 Abschätzig bezeichnete der mit Mill befreundete Schriftsteller Thomas Carlyle in Briefen Taylor als »Mrs. (Platonica) Taylor«.5 Verdikte, die sich – gleichwohl in abgeschwächter Weise – in der Mill-Forschung und der öffentlichen Wahrnehmung Mills fortgeschrieben haben.6 Als Harriets Ehemann John Taylor, um den sie sich zuvor während einer längeren Krankheitsphase aufopferungsvoll gekümmert hatte, 1849 starb, konnten Mill und Taylor ihre Beziehung uneingeschränkt von gesellschaftlichen Konventionen leben. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der klatschsüchtigen Londoner Gesellschaft zogen sie sich jedoch weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. 1851 erfolgte die Heirat, welche zum Bruch Mills mit seiner Familie führte. Trotz der Schwächung durch mehrere Krankheiten widmeten sich nun beide der Umsetzung einer gemeinsam aufgestellten, äußerst umfangreichen Agenda: »Charakterunterschiede (Nation, Rasse, Alter, Geschlecht, Veranlagung). Liebe. Erziehung des Geschmacks. Religion de l’Avenir, lato. Verleumdung. Grundlagen der Moral. Nutzen der Religion. Sozialismus. Freiheit. Die Lehre, dass Kausalität Wille ist«, 3
Vgl. Ulrike Ackermann: Einleitung. In: JSM: Ausgewählte Werke. Hg. v. Ulrike Ackermann/Hans Jörg Schmidt. Bd. I. Freiheit und Gleichberechtigung. Hg. u. eingel. v. Ulrike Ackermann. Hamburg: Murmann 2012, 24-38, v.a. 24-31.
4
Vgl. Alexander Bain: John Stuart Mill. A Criticism with Personal Recollections. London: Longmans, Green & Co. 1882, 172.
5
Brief von Thomas Carlyle an John Carlyle, 15. August 1834 [übers. v. Siegfried Kohl-
6
Vgl. zur Tradition der Kritik an HTM: Jo Ellen Jacobs: »The Lot of Gifted Ladies Is
hammer]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 114. Hard«: A Study of Harriet Taylor Mill Criticism. In: Hypatia 9 (1994) 3, 132-162.
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befanden sich als Vorhaben auf ihrer »Liste der Themen«.7 Infolge des frühen Todes von Harriet Taylor im Jahr 1858 gelangten allerdings nicht mehr alle Pläne zur gemeinschaftlichen Ausführung. Als gediegenstes Resultat ihrer »Gemeinschaftsproduktionen«8 kann die Freiheitsschrift gelten. Diesen Anspruch vertrat Mill auch selbst, indem er in seiner Autobiographie über den Essay und die darin geborgene intellektuelle Symbiose schrieb, es werde wahrscheinlich »alles, was ich sonst geschrieben habe, überleben, weil die Verbindung ihres Geistes mit dem meinigen daraus eine Art philosophisches Lehrbuch für eine einzelne Wahrheit gemacht hat, die in den Veränderungen, welche in der modernen Gesellschaft progressiv um sich greifen, mehr und mehr hervortreten wird – ich meine die Wichtigkeit für den Menschen und die Gesellschaft, dass ihre Charaktere so verschieden sind und dadurch der menschlichen Natur volle Freiheit gegeben werde, sich in unzähligen und widerstreitenden Richtungen zu entfalten.«9
»Die Schrift Über die Freiheit«, bemerkt Mill fernerhin über den Prozess der gemeinschaftlichen Erarbeitung, »war im unmittelbaren und buchstäblichen Sinne des Wortes mehr unsere gemeinsame Arbeit als irgendetwas, was meinen Namen trägt, denn es ist kein Satz darin, der nicht mehrmals von uns gemeinsam durchgegangen, nach allen Richtungen erörtert und von allen Fehlern, die wir im Gedanken oder in der Diktion entdecken konnten, bereinigt worden wäre.«10
Aus Mills Autobiographie erhellt sich in einer weiteren Passage über den Entstehungsprozess des Essays auch die enge Verwobenheit von Leben und Werk. Rückblickend auf die gemeinsame Schaffenszeit mit Harriet Taylor schreibt Mill dort, wiederum zu On Liberty:
7
Brief von JSM an HTM, 7. Februar 1854 [übers. von Siegfried Kohlhammer]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 239.
8
JSM: Vorbemerkungen zu »Über Frauenemanzipation« [übers. von Florian Wolfrum]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 354-355, hier: 354.
9
JSM: Autobiographie [übers. von Carl Kolb]. In: JSM: Ausgewählte Werke. Hg. v. Ulrike Ackermann/Hans Jörg Schmidt. Bd. II. Bildung und Selbstentfaltung. Hg. u. eingel. v. Hans Jörg Schmidt. Hamburg: Murmann 2013, 26-229, hier: 187.
10 Ebd., 188.
70 | H ANS J ÖRG SCHMIDT »Keine von meinen Schriften ist je so sorgfältig abgefasst und korrigiert worden wie diese. Nachdem ich sie wie gewöhnlich zweimal niedergeschrieben hatte, behielten wir sie uns, holten sie von Zeit zu Zeit hervor und gingen sie aufs Neue durch, wobei jeder Satz erwogen und kritisiert wurde. Die Schlussrevision wollten wir im Winter 1858 auf 1859, dem ersten nach meinem Rücktritt,11 welchen wir im südlichen Europa zuzubringen gedachten, vornehmen; allein diese und jede andere Hoffnung wurde vereitelt durch das unerwartete schmerzliche Ereignis ihres Todes; sie starb, als wir uns auf dem Weg nach Montpellier befanden, in Avignon an einer Lungenentzündung.«12
In der eingangs zitierten Zueignungspassage der Freiheitsschrift, welche im Jahr 1859 publiziert wurde, setzte Mill seiner verstorbenen Frau ein bleibendes Denkmal. Auch das Grabdenkmal im französischen Avignon, in dessen unmittelbarer Nähe Mill seinen Alterssitz nahm, ist ein solches, steingewordenes Monument einer außergewöhnlichen Beziehung. In den Carrara-Marmor des Grabmonuments ließ er eine Inschrift meißeln, die seine Bewunderung und den Stellenwert, den er seiner Frau als »Ratgeber und Beistand« zumaß, zum Ausdruck bringen, und welche in würdigenden Worten festhält: »Ihr Einfluss machte sich in vielen der bedeutendsten Verbesserungen des Zeitalters bemerkbar und wird das in künftigen tun«.13 Zahlreiche seiner späteren Schriften hat er auf ihre intellektuelle Inspiration zurückgeführt. Noch deutlicher geht die intellektuelle Symbiose Mills und Taylors aus einem als programmatisch zu bezeichnenden Abschnitt der Autobiographie hervor, der sich auf der Grundlage von persönlicher Erfahrung mit der Frage dualer Urheberschaft14 und der Schwierigkeit der individuellen Zuordnung von Resultaten gemeinschaftlicher geistiger Arbeit befasst: »Wenn zwei Personen in ihrer Denkweise und in ihren Spekulationen vollkommen übereinstimmen, wenn alle Gegenstände des intellektuellen oder moralischen Interesses von ihnen im täglichen Leben erörtert und weit gründlicher geprüft werden, als es 11 JSM war 1823 als 17-Jähriger durch Vermittlung seines ebenfalls dort beschäftigten Vaters als »Junior Clerk« in die East India Company eingetreten. Bei der Auflösung der Kolonialverwaltungskörperschaft im Jahr 1858, auf die er hier Bezug nimmt, erhielt der mittlerweile zum »Head of the E aminer’s Office« aufgestiegene Mill eine stattliche Pension. 12 JSM: Autobiographie 2013 (Anm. 9), 187. 13 Vgl. den vollständigen Wortlaut der im Original englischsprachigen Inschrift in JSM 2012 (Anm. 3), 317. 14 Vgl. Lisa Ede/Andrea Lunsford: Singular Texts/Plural Authors. Perspectives on Collaborative Writing. Carbondale: Southern Illinois University Press 1990.
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gewöhnlich oder gewohnheitsgemäß in Schriften geschieht, die für das allgemeine Publikum angelegt sind, wenn sie von denselben Prinzipien ausgehen und durch gemeinsam verfolgte Prozesse zu ihren Schlüssen gelangen, so ist es hinsichtlich der Originalitätsfrage von geringem Belang, wer von ihnen die Feder führt. Derjenige, der am wenigsten zu der Abfassung beiträgt, hat vielleicht den weit größeren Anteil an den Gedanken; die Schriften, die so geschaffen werden, sind das vereinigte Produkt von beiden, und es muss oft unmöglich werden, mit Sicherheit jedem seinen Anteil am Ganzen zuzuschreiben. In diesem weiteren Sinne waren nicht nur während der Jahre unseres ehelichen Lebens, sondern auch während der vorangegangenen vielen Jahre unserer vertrauten Freundschaft alle Schriften, die ich veröffentlichte, ebenso gut ihr Werk wie das meinige, in dem ihr Anteil daran mit jedem Jahr anstieg.«15
Auch später, als Mill nach dem Tod seiner Frau zusehends in die Position eines öffentlichen Intellektuellen rückte, mithin zu einer vielbeachteten moralischen Instanz Großbritanniens aufstieg, setzte er sich in Weiterbearbeitung der gemeinsam angeschlagenen Thematik mit zahlreichen schriftlichen Einlassungen sowie in mehreren Parlamentsreden und öffentlichen Ansprachen für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Zum Teil tat er das durch sehr konkrete Maßnahmen und Gesetzesvorlagen. Als Jugendlicher war Mill sogar einmal kurzzeitig inhaftiert worden, weil er Flugblätter zur Empfängnisverhütung verteilt hatte. Das Thema der Geschlechterordnung hatte ihn also von früh auf beschäftigt. Erste intellektuelle Anhaltspunkte und Bestätigung für sein Denken über die absolute Gleichheit der Geschlechter hatte er in der jugendlichen Lektüre der SaintSimonisten gefunden.16 In der Autobiographie bemerkt er jedoch, dass »die Auffassung der ungeheuren praktischen Tragweite der Benachteiligung der Frauen […] hau tsächlich ihren Belehrungen«17, also aus Harriet Taylors Erfahrungen und den gemeinschaftlich dazu angestellten Überlegungen, entstamme, und fährt Bezug nehmend auf seine Ansichten über die Gleichberechtigung der Geschlechter fort: »Ohne Zweifel wären meine Anschauungen die gleichen geblieben; aber ohne ihre einzigartige Kenntnis der menschlichen Natur und ohne ihre richtige Würdigung der moralischen und sozialen Einflüsse würde ich nur eine sehr ungenügende Vorstellung von der
15 JSM: Autobiographie 2013 (Anm. 9), 181. 16 Vgl. M. Ashworth: The Marriage of John Stuart Mill. In: Englishwomen 30 (1916), 159-172, hier: 167-168. 17 JSM: Autobiographie 2013 (Anm. 9), 183.
72 | H ANS J ÖRG SCHMIDT Art gewonnen haben, wie die Folgen der untergeordneten Position der Frauen in alle Übel der bestehenden Gesellschaft hineinspielen und sich mit den Hemmnissen des menschlichen Aufschwungs verweben.«18
Neben der frühzeitig aufgeworfenen Frage des Eherechts setzte sich Mill auch mit der ebenfalls für die Geschlechterverhältnisse bedeutsamen Thematik der politischen und gesellschaftlichen Partizipation auseinander. Einen Schwerpunkt seines demokratietheoretischen gleichwie demokratiepraktischen Wirkens widmete er dem Kampf für das Frauenwahlrecht. Im Jahr 1866, Jahrzehnte nach Entstehung der Essays von Mill und Taylor über Ehe und Scheidung in den frühen 1830er Jahren, brachte Mill, kurz zuvor als Abgeordneter ins Parlament gewählt, eine Petition für das Frauenwahlrecht ins britische Unterhaus ein.19 Ausgehend vom engen Konnex zwischen Freiheit und Gleichberechtigung, war Mill, wie einem Brief an den amerikanischen Journalisten und Verfechter der Freihandelslehre, Parke Godwin, vom 1. Januar 1869 zu entnehmen ist, davon überzeugt: »Die Emanzipation der Frauen und die Zusammenarbeit der Geschlechter sind die zwei großen Veränderungen, die die Gesellschaft erneuern werden.« (Übersetzung HJS)20 Besonders sichtbar wird das von beiden in intellektueller Symbiose erworbene und geteilte Geschlechterwissen – im Sinne eines, wie Irene Dölling in Anlehnung an Pierre Bourdieus Feldtheorie treffend formuliert hat, »Vorrat[s] an Deutungsmustern und an Fakten- und/oder Zusammenhangs-Wissen, mit dem die Geschlechterdifferenz wahrgenommen, bewertet, legitimiert, begründet bzw. als selbstverständliche, quasi ›natürliche‹ Tatsache genommen wird« – etwa darin, dass Mill die Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frau im viktorianischen Zeitalter immer wieder mit explizitem Bezug auf Harriet Taylors Grundlegungen in den Fokus seiner Schriften gerückt hat. 21 Für die späteren
18 Ebd. 19 Vgl. Constance Rover: Womens Suffrage and Party Politics in Britain 1866-1914. London/Toronto: Routledge 1967. 20 Brief von JSM an Parke Godwin, 1.1.1869. In: JSM: Collected Works. Hg. v. John M. Robson. Bd. XVII. The Later Letters of John Stuart Mill 1849-1873. Hg. v. Francis E. Mineka/Dwight N. Lindley. Toronto: University of Toronto Press 1972, 1535. 21 Vgl. zum Terminus Geschlechterwissen die Arbeiten von Irene Dölling, insbesondere ihren Beitrag: ›Geschlechter-Wissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23 (2005) 1/2, 44-62, hier: 49.
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Schriften spricht Mill seiner rege in der Frauenrechtsbewegung aktiven Stieftochter Helen Taylor22 (1831-1907) eine ähnliche Rolle als »Begleiterin, Anregerin, Beraterin und Lehrerin von seltenster Qualität« zu.23 So vermag er, auf sein Schaffen im Rahmen der Autobiographie rückblickend, über die gemeinsamen Werke, bei denen er sich die Funktion »eines Dolmetschers«24 oder »eines Herausgebers und Sekretärs«25 zugestand, für die Rezeptionsgeschichte der Werke äußerst bedeutsam zu formulieren: »Wer immer, sei es jetzt oder später, meiner oder der von mir geleisteten Arbeit gedenken mag, möge nie vergessen, dass er darin nicht das Produkt eines einzigen Geistes, eines einzigen Bewusstseins vor sich hat, sondern das von dreien, wobei mein Beitrag dazu der geringste und am wenigsten originellste ist, auch wenn das Produkt meinen Namen trägt.«26
Unerhört modern zeigt Mill in verschiedenartiger Weise auf, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter Voraussetzung für die freie Entfaltung des persönlichen Lebens und die Autonomie des Individuums ist, zugleich aber auch von zentraler Bedeutung für Fortschritt und Wohlstand der Gesellschaft.27 Grundgelegt sind diese Gedanken bereits in den ersten aufeinander bezogenen Texten Taylors und Mills über Ehe und Scheidung (vermutlich 1832). Paradigmatisch für das gemeinsame Gedankengut ist jedoch die Schrift Die Unterwerfung der Frauen (1869). In dieser »Zivilisationsgeschichte der Herrschaft«28 sind alle zentralen Auffassungen Mills und Taylors zur Freiheit und Geschlechterordnung gebündelt. Auch beider Briefwechsel und Mills Autobiographie sind bislang noch kaum auf das dort geborgene Geschlechterwissen untersuchte Texte. Harriet Taylor hatte, wie dem Briefwechsel zu entnehmen ist, Mills Autobiographie noch in Teilen kritisch redigiert und ausführlich mit ihm darüber korrespon-
22 Vgl. Ann . Robson: Mill’s Second rize in the Lottery of Life. In: Michael Laine (Hg.): A Cultivated Mind: Essays on J.S. Mill Presented to John M. Robson. Toronto: University of Toronto Press 1991, 215-241. 23 JSM: Autobiographie 2013 (Anm. 9), 196. 24 Ebd., 182. 25 JSM: Vorbemerkungen 2012 (Anm. 8), 354. 26 JSM: Autobiographie 2013 (Anm. 9), 196. 27 Vgl. Susan M. Okin: John Stuart Mill’s Feminism. »The Subjection of Women« and the Improvement of Mankind. In: Maria M. Morales (Hg.): Mill’s »The Subjection of Women«. Critical Essays. Oxford: Rowman & Littlefield 2005, 24-51. 28 Ackermann 2012 (Anm. 3), 33.
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diert.29 Aber auch in den gemeinsam von Mill und Taylor verfassten Schriften über Frauenrechte (1847-1850) oder in Mills in den späten 1860er Jahren vor großen öffentlichen Auditorien30 gehaltenen Reden zum Frauenwahlrecht finden sich wesentliche Einsichten über den Zusammenhang von liberaler Kultur und Geschlechterordnung, die originär aus Mills und Taylors persönlicher Erfahrung und der Auseinandersetzung mit dem strikten Scheidungsrecht des viktorianischen Zeitalters hervorgegangen sind. Erst durch die Gleichberechtigung könne, zugleich ein Argument für mehr Wettbewerbsfähigkeit, »die enorme Menge von Intelligenz, Moral und praktischem Geschäftssinn der Frauen«,31 die bislang nicht in das Gemeinwohl eingebracht worden sei, zum gesellschaftlichen Fortschritt und zur Mehrung des allgemeinen Wohlstandes beitragen. Somit lässt sich aus den autobiographischen und aus den weiteren in Zusammenarbeit oder gegenseitiger Bezugnahme entstandenen Schriften ein hochinteressanter zeitgenössischer Diskurs um noch stets akute Fragen des Geschlechterwissens rekonstruieren. Diese bis heute von einer »männlich-liberalen« Rezeption Mills übersehene, zusätzliche Dimension32 (sichtbar etwa daran, dass der qua Mills mehrfachen Bekundungen gemeinsam mit Taylor erarbeitete Essay Über die Freiheit immer noch fast ausschließlich als alleinige Schrift Mills rezipiert wird)33 aus den zuvor genannten Texten herauszuarbeiten, wird – die eingangs vorgenommene (auto)bi(o)graphische Annäherung an die intellektuelle Symbiose von John Stuart Mill und Harriet Taylor komplementierend – im Folgenden vornehmliche Aufgabe des Beitrags sein.
29 Vgl. Jack Stillinger: Who Wrote Mill’s Autobiography? In: Victorian Studies 27 (1973), 7-23. 30 JSM fungierte sogar als Ehrenpräsident der »London National Womenʼs Suffrage Society«, die von Helen Taylor ins Leben gerufen worden war. Vgl. Ann P. Robson 1991 (Anm. 22), 234-235. 31 JSM: Reden zum Frauenwahlrecht [übers. von Florian Wolfrum]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 412-437, hier: 433. 32 Für diese Sichtweise vgl. z.B. David Stove: The Subjection of John Stuart Mill. In: Philosophy 68 (1993), 5-13. 33 Im Rahmen unserer Neuausgabe (JSM 2014, Anm. 1, 303) wurde die Formulierung »von John Stuart Mill mit Harriet Taylor« zur Verdeutlichung des gemeinschaftlichen Erarbeitungsprozesses gewählt, da – was JSM in der eingangs zitierten Zueignung der Freiheitsschrift beklagt – HTM zum Publikationszeitpunkt im Jahr 1859 bereits verstorben war.
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Zu wichtigen, aus biographischen Erfahrungen gewonnenen Einsichten in die Geschlechterordnung gelangten Mill und Taylor, wie bereits angesprochen, in Auseinandersetzung mit dem rigiden viktorianischen Ehe- und Scheidungsrecht, über das sie – auch angesichts ihrer persönlichen Situation als infolge eines fehlenden Scheidungsrechts per se Ehebrüchige und von der Gesellschaft ohnehin wegen ihres unkonventionellen Verhaltens und Denkens Diskreditierte – zu Beginn ihrer Bekanntschaft in den 1830er Jahren ausführlich debattierten und einen umfangreichen Schriftwechsel führten.34 Im Rahmen der Diskussion über die Ehe- und Scheidungsthematik entstanden gegen 1832 die beiden unmittelbar aufeinander bezogenen Texte mit den gleichlautenden Titeln Über Ehe und Scheidung. Mills Essay ist unter anderem zu entnehmen, dass »in der Beziehung zwischen Mann und Frau […] gerade das Gesetz, das beide zu beachten haben, auch von beiden gemacht werden«35 sollte. Damit spielt er einerseits an auf das seinerzeit nicht vorhandene Wahlrecht der Frauen und andererseits auf das ebenfalls nicht gegebene Recht sowie die – noch grundlegendere – soziale Unmöglichkeit für Frauen, die Ehe durch ein rechtlich geregeltes Verfahren aufzulösen. In der sozialen Benachteiligung der Frauen, die hierdurch zementiert sei und negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt habe, sieht Mill ein wesentliches Hindernis für den zivilisatorischen Fortschritt. Denn gäbe es nicht die von ihm kritisierten rechtlichen und vor allem sozialen Zwänge, könnte sich ein ganz anderes Modell der Partnerschaft, dasjenige der freiwilligen Bindung unter Gleichen, durchsetzen: »Wären alle oder nur die meisten Menschen in der Wahl eines Begleiters des anderen Geschlechts von wirklichem Streben nach dem Glück – oder im Sinne des Glücks – geleitet, das eine solche Verbindung in ihrer höchsten Form den besten Naturen geben kann, so hätte nie ein Grund bestanden, warum Gesetz oder Meinung der uneingeschränkten Freiheit der Bindung und Trennung Schranken hätten auferlegen sollen.«36
Im weiteren Verlauf der Argumentation, in der sich Mill mit nahezu allen zeitgenössischen Vorurteilen, sozialen Abhängigkeitsverhältnissen, ungleichen Handlungsoptionen und Ausgangsbedingungen im Zusammenhang mit der Ehebzw. Scheidungsthematik kritisch auseinandersetzt, kommt er auch auf die Frage
34 Vgl. Susan Mendus: John Stuart Mill and Harriet Taylor on Women and Marriage. In: Utilitas 6 (1994) 2, 287-299. 35 JSM: Über Ehe und Scheidung [übers. von Siegfried Kohlhammer]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 93-108, hier: 93. 36 Ebd., 95.
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nach der Gleichheit bzw. der von seinen traditionsverbundenen Zeitgenossen behaupteten natürlichen Ungleichheit der Geschlechter zu sprechen. Aus seinem soziologischen Blick auf die Gesellschaft entwickelt er eine – wenngleich implizite – Unterscheidung zwischen dem biologischen und sozialen Geschlecht: 37 »Es gibt keine natürliche Ungleichheit der Geschlechter, außer vielleicht an körperlicher Stärke; und selbst das unterliegt dem Zweifel. Wenn körperliche Stärke der Maßstab der Überlegenheit sein soll, dann sind die Menschen nicht besser als Wilde. Jede Stufe im Fortschritt der Zivilisation hat zu einer Verringerung der Achtung gegenüber körperlicher Stärke geführt; bis zu unserer Zeit, in der diese Qualität kaum noch andere Vorteile hat als die natürlichen: Der starke Mensch hat nur geringe oder keine Macht, seine Stärke als ein Mittel zu gebrauchen, das ihm gegenüber dem Schwächeren irgendwelche weiteren Vorteile einbringt. Jede Stufe im Fortschritt der Zivilisation ist also auch durch eine stärkere Annäherung an die Gleichheit der Geschlechter gekennzeichnet; & wenn sie noch immer weit von Gleichheit entfernt sind, so liegt das Hindernis jetzt nicht mehr in der unterschiedlichen physischen Stärke, sondern in künstlichen Empfindungen und Vorurteilen.«38
Aus den Ausführungen Harriet Taylors zur Scheidungsthematik spricht wiederum ihre persönliche Erfahrung, »dass gegenwärtig in nichts Gleichheit besteht – wo alle Vergnügen die der Männer & alle Unannehmlichkeiten & Schmerzen die der Frauen sind, anstatt dass jegliches Vergnügen der Art & dem Grade nach durch die vollkommene Gleichheit der Geschlechter unendlich erhöht würde.«39
In dem von ihr harsch kritisierten »System der Gewohnheiten« würden die Frauen »auf ein einziges Ziel hin erzogen, ihren Lebensunterhalt durch Heirat zu verdienen«.40 »Das klügste & vielleicht auch am schnellsten wirkende Mittel, die Übel abzuschaffen«, liegt für Harriet Taylor »in der Förderung der Bildung«.41 Ihre Argumentation summierend stellt sie gegen Ende ihres Ehe- und Scheidungs-Essays die rhetorische Frage: »Welcher Schaden könnte daraus erwach-
37 Vgl. Nadia Urbinati: John Stuart Mill on Androgynity and Ideal Marriage, in: Political Theory 19 (1991) 4, 626-648. 38 JSM: Über Ehe und Scheidung 2012 (Anm. 35), 93-108, hier: 98. 39 HTM: Über Ehe und Scheidung [übers. von Siegfried Kohlhammer]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 108-111, hier: 109. 40 Ebd. 41 Ebd.
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sen, wenn man in der jetzigen Zeit erstens die Frau in allen bürgerlichen und politischen Rechten und Privilegien gleichstellen und, zweitens, die Ehegesetze abschaffen würde?«42 Im Rahmen der gemeinsam verfassten Schriften über Frauenrechte, die in den Jahren von 1847 bis 1850 entstanden, denken beide vom zeitgenössischen Diskurs um das Frauenwahlrecht ausgehend grundlegend über die Gleichberechtigung der Geschlechter und deren positive Wirkungen für die Freiheit nach. Der »Aristokratie des Geschlechts« sagen sie hierbei den Kampf an.43 In diesem Zusammenhang hat nicht – wie bei den meisten anderen gemeinsamen Schriften – nur Mill Feder geführt, sondern ist den Originalmanuskripten, die sich in der Bibliothek der London School of Economics befinden, aufgrund der unterschiedlichen Handschriften die Zusammenarbeit 44 und das intensive gemeinschaftliche Feilen am Text besonders augenfällig zu entnehmen. Ausgangspunkt der gemeinschaftlichen Argumentation Mills und Taylors ist die Feststellung, »dass die Benachteiligungen von Frauen exakt von der Art sind, auf deren Überwindung die moderne Zeit am meisten stolz ist – Benachteiligungen von Geburt.«45 Die Fragment gebliebenen Schriften, die als Vorarbeiten in den späteren Essay Über Frauenemanzipation integriert wurden, formulieren äußerst konkrete politische und gesellschaftliche Ziele. Neben der Einführung eines gleichen Wahlrechts steht unter anderem die Abschaffung aller erblichen Privilegien auf Seiten der politischen Reformziele. Und die Idee von der Ehe als jederzeit löslichem Kontrakt zwischen zwei gleichgestellten Individuen findet sich unter den gesellschaftlichen Zielen Taylors und Mills genauso wieder wie die an oberster Stelle der Reformagenda notierte Aussage: »Alle Berufe sollen Männern und Frauen gleichermaßen offenstehen, ebenso alle Ausbildungsarten und -institute.«46 In ihren Ausführungen kritisieren sie die überholte und gegen jegliche neuen politischen Ansprüche gerichtete Überzeugung ihrer Zeitgenossen, »die in Sätzen wie ›Die der Frau angemessene Sphäre ist das Privatleben‹ oder ›Frauen haben nichts mit Politik zu tun‹ zum Ausdruck kommt«.47 Dem setzen 42 Ebd., 110. 43 Vgl. HTM/JSM: Schriften über Frauenrechte. In: JSM 2012 (Anm. 3), 328-347, hier: 345. 44 Vgl. Jo Ellen Jacobs: Harriet Taylor Millʼs Collaboration with John Stuart Mill. In: Cecil T. Tougas/Sara Ebenreck (Hg.): Presenting Women Philosophers. Philadelphia: Temple University Press 2000, 155-166. 45 HTM/JSM: Schriften über Frauenrechte 2012 (Anm. 43), 330. 46 Ebd., 347. 47 Ebd., 334.
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sie vehement entgegen, dass die »Rechte von Frauen nichts anderes als die Rechte menschlicher Wesen«48 sind und kritisieren hierbei en passant noch den irreleitenden Sprachgebrauch, der in der Debatte immer wieder zum Vorschein komme: »Wenn die Ansichten zu diesem Thema Fortschritte auf eine Richtigstellung hin machen sollen, werden weder ›Frauenrechte‹ noch ›Gleichheit der Frauen‹ gebräuchliche Begriffe sein, denn keiner von ihnen drückt vollständig das reale Ziel aus, um das es geht, nämlich die Negation aller Unterschiede zwischen Personen, die sich auf den zufälligen Umstand des Geschlechts gründen.«49
Eine rationale Analyse des menschlichen Charakters und der Verhältnisse zeige, »dass der Unterschied hauptsächlich, wenn nicht zur Gänze, der Effekt von Unterschieden in Erziehung und sozialen Verhältnissen ist oder von physischen Eigenschaften, die keinesfalls dem einen oder anderen Geschlecht eigentümlich sind.«50
Das Beste, was Mill und Taylor zufolge für die Frauen im viktorianischen England51 getan werden könne, um die Forderungen der Schriften über Frauenrechte zu bündeln, sei, sie als gleichwertige Bürgerinnen anzuerkennen.52 Die von Harriet Taylor Mill geschriebene, allerdings zunächst unter Mills Namen publizierte Schrift Über Frauenemanzipation (1851) setzt den Diskurs um Freiheit und Gleichberechtigung fort. 1859 wurde der Text unter Taylor Mills Namen neu aufgelegt. Am Rande sei hier bemerkt, dass sich ein Wiener Student namens Sigmund Freud als Übersetzer des Emanzipationsessays verdingte.53 In der deutschsprachigen Übersetzung der Werke, die der Altphilologe Theodor Gomperz in den 1860er- bis 1880er-Jahren herausgab, wurde Mills Entscheidung, die Autorschaft der Schrift durch Harriet Taylor offenzulegen, allerdings nicht berücksichtigt. Mill stellte in den Vorbemerkungen zu einer Aufsatzsammlung, den Dissertations & Discussions, die er 1859 erstmalig edierte, 48 Ebd., 339. 49 Ebd. 50 Ebd., 341. 51 Die Schriften sind von Taylor und Mill der englischen Monarchin Queen Victoria (1819-1901, Regentin seit 1837) gewidmet. Die oberste Repräsentantin des Vereinigten Königreichs diente ihnen in verschiedenen Zusammenhängen als Beleg für ihre Thesen. 52 Vgl. HTM/JSM: Schriften über Frauenrechte 2012 (Anm. 43), 345. 53 Vgl. Ackermann 2012 (Anm. 3), 30.
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dahingegen die Frage nach der Urheberschaft klar: Der Essay sei »in einem ganz besonderen Sinne das ihre«, sein Anteil daran »kaum mehr als der eines Herausgebers und Sekretärs«.54 Explizit verweist er darauf, dass »ihre Urheberschaft damals bekannt war und ihr öffentlich zuerkannt wurde«,55 es Mill und Taylor aber dennoch opportun erschien, die tatsächliche Autorschaft Harriets wegen der antizipierten öffentlichen Reaktion zugunsten des übergeordneten Anliegens nicht namentlich explizit zu machen. Man könne nicht erwarten, formulieren sie ihre Überzeugung im Buch über die Unterwerfung der Frauen, »dass die Frauen selbst sich der Emanzipation ihres Geschlechtes widmen sollen, ehe nicht eine beträchtliche Anzahl von Männern vorbereitet ist, sich mit ihnen zu dem Unternehmen zu verbinden.«56 Ausgehend von einer Frauenrechtsresolution aus den Vereinigten Staaten von Amerika, entwickelt Harriet Taylor Mill im Essay ihre Idee von der »Gleichheit vor dem Gesetz ohne Unterschied des Geschlechts«.57 Nur »volle Freiheit« könne die Antwort auf die Frage sein, ob »diese oder jene Beschäftigung für das eine oder andere Geschlecht geeigneter erscheinen mag.«58 »Man braucht nicht zu fürchten«, führt sie die Argumentation weiter, »dass die Frauen den Männern irgendwelche Beschäftigungen entreißen werden, welche diese besser als jene betreiben. Jedes Individuum wird seine oder ihre Befähigung auf dem einzigen Weg erweisen, auf dem sich Befähigung erweisen lässt, nämlich durch den Versuch, und die Welt wird aus den besten Fähigkeiten aller ihrer Bewohner Vorteil ziehen. Aber im Voraus mit einer willkürlichen Beschränkung einzugreifen und zu erklären, dass, wie groß immer das Genie oder Talent, die Energie oder Geisteskraft eines Wesens aus einem gewissen Geschlecht oder Kreise sein mögen, diese Gaben nicht gebraucht werden oder doch nur in einigen wenigen von den vielen Weisen gebraucht werden dürfen«,
findet Harriet Taylor Mill, um an dieser Stelle den ausführlichen und präzise abwägenden Gedankengang abzukürzen, »eine Ungerechtigkeit gegen den Einzelnen und eine Schädigung der Gesellschaft«.59 54 JSM: Vorbemerkungen zu »Über Frauenemanzipation« [übers. v. Florian Wolfrum]. In: JSM 2012 (Anm. 8), 354. 55 Ebd. 56 JSM und Helen Taylor unter Rückgriff auf Gedanken von HTM: Die Unterwerfung der Frauen [übers. von Jenny Hirsch]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 440-560, hier: 533. 57 HTM: Über Frauenemanzipation [übersetzt von Sigmund Freud]. In: JSM 2012 (Anm. 3), 356-383, hier: 359. 58 Ebd., 364. 59 Ebd.
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Mit diesen Erwägungen wird ein mit der Einzigartigkeit des Individuums argumentierender »liberaler Feminismus«60 begründet. An diese Gedankengänge anschließend ist in der Schrift über Frauenemanzipation zu lesen, dass hohe Geisteskraft unter den Frauen so lange zufällige Ausnahmen bleiben dürfte, »bis ihnen jeder Lebensweg offensteht und bis sie so gut wie die Männer für sich selbst und für die Welt erzogen werden, nicht das eine Geschlecht für das andere.«61 Politische und gesellschaftliche Gleichheit der Geschlechter sind der im Jahr 1851 noch weit entfernte Forderungshorizont, den das Emanzipationsessay entwirft. Die 1869 publizierte Schrift mit dem Titel Unterwerfung der Frauen (The Subjection of Women), die in der ersten deutschsprachigen Übersetzung von Jenny Hirsch (ebenfalls 1869) unter dem Titel Die Hörigkeit der Frau publiziert wurde,62 war von Mill, wie er in der Autobiographie über den Entstehungszusammenhang berichtet, niedergeschrieben worden »auf Anregung meiner Tochter [Helen Taylor] und weil ich für alle Fälle eine schriftliche Darlegung meiner Ansichten in dieser großen Frage hinterlassen wollte, und zwar so vollständig und endgültig, als es mir nur möglich war. Sie sollte unter anderen nicht veröffentlichten Arbeiten liegen bleiben und nur gelegentlich für notwendige Verbesserungen hervorgeholt werden, bis eine Zeit einträte, in der sich von der Veröffentlichung eventuell ein nennenswerter Nutzen erhoffen ließ. Als sie endlich gedruckt erschien, wurde sie um einige wichtige Ideen und Passagen von meiner Tochter bereichert. Die gründlichsten und eindrücklichsten Stellen darin rühren von meiner Frau her, wie überhaupt das Ganze aus dem Gedankenschatz geschöpft ist, den wir gemeinsam in unseren zahlreichen Besprechungen und Erörterungen eines Gegenstands, der unseren Geist so sehr beschäftigte, zusammengetragen haben.«63
Einleitend legt Mill darin dar, welche Absichten er mit der von seinen Zeitgenossen vielfach belächelten Schrift verfolgt. Er möchte in ihr ausführlich begründen, 60 Wendy Donner: John Stuart Mill’s Liberal Feminism. In: Philosophical Studies 69 (1992) 2/3, 155-166. 61 HTM: Über Frauenemanzipation 2012 (Anm. 57), 375. 62 JSM: Die Hörigkeit der Frau. Aus dem Englischen übersetzt von Jenny Hirsch. Nebst einem Vorbericht enthaltend eine kurze Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Frauenfrage von der Übersetzerin. Berlin: Berggold 21872. (Die erste Auflage 1869 ohne den Vorbericht.) 63 JSM: Autobiographie 2013 (Anm. 9), 197.
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»dass das Prinzip, nach welchem die jetzt existierenden sozialen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern geregelt werden – die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechtes unter das andere –, an und für sich ein Unrecht und gegenwärtig eines der wesentlichsten Hindernisse für eine höhere Vervollkommnung der Menschheit sei und dass es deshalb geboten erscheine, an die Stelle dieses Prinzips das der vollkommenen Gleichheit zu setzen, welches von der einen Seite keine Macht und kein Vorrecht zulässt und von der andern keine Unfähigkeit voraussetzt.«64
In der sozialen Stellung der Frauen erkennt Mill, indem er die Gleichberechtigungsfrage in einen breiteren, liberalen geistesgeschichtlichen Kontext einrückt,65 »das sicherste und untrüglichste Merkmal für den Grad der Zivilisation eines Volkes oder Zeitalters«.66 Die bereits in den vorhergehenden Schriften diskutierte Thematik der Geschlechterordnung wird hier in ausführlichen Abwägungen, gleichsam als Summe des Mill-Taylorschen Œuvres präsentiert, wobei die verwendete Unterscheidung in das natürliche und das soziale Geschlecht (s.o.) wegweisenden Charakter für spätere Debatten hatte. Nach wie vor treibt Mill auch in der Spätschrift »Die Frage: Was sind die natürlichen Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern?« um, insofern sie ihm als »eine der schwierigsten, die es gibt«,67 erscheint. Mit dem Hinweis auf die Erfahrungs- und Kulturgebundenheit des Naturbegriffs bringt Mill im Verlauf seiner weiteren Überlegungen zur Annäherung an diese Frage überdies noch einen anderen, sehr modernen Aspekt zur Geltung: »Ebenso wenig wie durch die Berufung auf die Erfahrung wird erwiesen durch die Versicherung, die Natur der beiden Geschlechter verweise sie jedes auf seine gegenwärtige Stellung und seinen gegenwärtigen Pflichtkreis und lasse sie ihnen als für sie passend erscheinen. Aufgrund des gesunden Menschenverstandes, und indem ich die Beschaffenheit des menschlichen Geistes in Betracht ziehe, leugne ich, dass irgendjemand die Natur der beiden Geschlechter kennen kann, solange dieselben in ihren jetzigen Beziehungen zueinander verharren. Hätte es jemals eine Gesellschaft gegeben, die aus lauter Männern, oder umgekehrt eine solche, die nur aus Frauen bestand, oder hätten wir schon das Beispiel ei64 JSM und Helen Taylor unter Rückgriff auf Gedanken von HTM: Die Unterwerfung der Frauen 2012 (Anm. 56), 440. 65 Vgl. Jacques Kronberg: Feminism and the Liberal Dialectic: John Stuart Mill on Women’s Rights. In: Historical Papers/Communications historiques 9 (1974) 1, 3763, hier: 38. 66 JSM und Helen Taylor unter Rückgriff auf Gedanken von HTM: Die Unterwerfung der Frauen 2012 (Anm. 56), 464. 67 Ebd., 466.
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Gerade weil nach dem Dafürhalten Mills der Zivilisationsprozess noch nicht weit genug fortgeschritten sei, bedürfe es zur Ergründung der Geschlechterfrage weiterführender wissenschaftlicher Überlegungen, insbesondere zur Psychologie und Charakterkunde. Ein entsprechendes Programm dazu hat er in einem Kapitel des Systems der deduktiven und induktiven Logik (engl. Original 1843) entworfen, welches unter dem Namen ›Ethologie‹ begründet werden sollte.69 Als Fallstudie dafür kann das Buch über Die Unterwerfung der Frauen gelesen werden.70 Ein weiterer wichtiger Baustein der Millschen Beweisführung, den bereits Harriet Taylor in den Schriften über Ehe und Scheidung klar benannt hat, ist die Bildungs- und Erziehungsfrage. Ausgehend von der Erkenntnis, »dass alle angeblich zwischen den beiden Geschlechtern existierenden geistigen Unterschiede nur die natürliche Folge von Erziehung und Verhältnissen sind und keineswegs ein von Natur radikaler Unterschied oder gar eine radikale Überlegenheit von der einen, Unterordnung von der andern Seite«,71
wird Bildung als das geeignetste Mittel zur Verbesserung der Situation der Frauen angeführt: Fortschritte sind vor allem »zu erreichen durch die bessere und vollkommenere geistige Erziehung des weiblichen Geschlechtes«.72 Neben diesen allgemein gehaltenen Erwägungen enthält die Schrift über Die Unterwerfung der Frauen aber erneut zahlreiche konkrete Vorschläge zur Verbesserung der zeitgenössischen Situation, etwa in eindeutiger Benennung der »von der Gerechtigkeit geforderten Zulassung der Frauen zu allen Ämtern und 68 Ebd., 464-465. 69 Vgl. Nicholas Ca aldi: Mill’s Forgotten Science of Ethology. In: Social Theory and Practice 2 (1973), 409-420. 70 Vgl. Terence Ball: The Formation of Character: Mill’s »Ethology« Reconsidered. In: Polity 33 (2000), 25-48, v.a. 37-40. 71 JSM und Helen Taylor unter Rückgriff auf Gedanken von HTM: Die Unterwerfung der Frauen 2012 (Anm. 56), 502. 72 Ebd., 538.
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Beschäftigungen«.73 Kritik antizipierend verteidigt Mill seinen auf das autonome Individuum als Bezugspunkt ausgerichteten Reformkurs. Ihm zufolge bedarf es »für das weibliche Geschlecht durchaus keiner andern Vorsichtsmaßregeln, als für das männliche geboten sind. Es gibt nicht den Schatten eines gerechten Grundes dafür, dass man die Frauen nicht unter denselben Bedingungen und innerhalb derselben Grenzen, wie man sie für die Männer aufgestellt hat, zur Wahl zulässt.«74
Mit der Teilnahme an der Wahl im Politischen, der gleichberechtigten Partizipation im öffentlichen Bereich überhaupt, geht bei Mill stets auch die Überzeugung einher, seine »Lebenszwecke selbst zu wählen«75 und Gebrauch von den je eigenen Talenten zu machen. Denn, um den Gang durch die (auto)bi(o)graphischen Schriften John Stuart Mills und Harriet Taylor Mills zu beenden und die von ihnen in intellektueller Symbiose antizipierten zivilisatorischen Wirkungen der Gleichberechtigung der Geschlechter zu resümieren, »die Vorteile, welche der Welt daraus erwachsen würden, sobald sie aufhörte das Geschlecht zu einem Hindernis für Privilegien und einem Kennzeichen individueller und gesellschaftlicher Unterdrückung zu machen […] würden bestehen in einer Vermehrung der Hauptsumme an Denk- und Arbeitskraft und in einer großen Verbesserung der allgemeinen Bedingungen der Verbindung zwischen Männern und Frauen.«76
73 Ebd., 498. 74 Ebd., 501. 75 Ebd., 539. 76 Ebd., 554.
»Kämpferinnen« und »Heroinnen« Marianne Webers Charakteristik studierender Frauen in Gegenüberstellung mit Lebensberichten der ersten Ärztinnen der Habsburgermonarchie S ABINE V EITS -F ALK
E INLEITUNG 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, und rund 20 Jahre nachdem Frauen erstmals der Zugang zu einigen Fakultäten an österreichischen und deutschen Universitäten gewährt worden war, erschien ein Aufsatz der Soziologin, Rechtshistorikerin und Frauenrechtlerin Marianne Weber1 mit dem Titel Vom Typenwandel der studierenden Frau.2 Darin setzt sich Weber mit den Veränderungen des »leiblichen und geistigen Gepräges« der ersten Frauen an den Universitäten auseinander. Sie teilt mit anderen Ehefrauen berühmter Männer bis heute das Schicksal, in erster Linie als ›die Ehefrau von …‹, in diesem Fall des bedeutenden deutschen Soziologen Max Weber, bekannt zu sein. Marianne Weber (1870-1954) besuchte als Gasthörerin die Universitäten Freiburg und Heidelberg. Sie vollendete zwar im Jahr 1900 ihre Doktorarbeit,3 aufgrund des fehlenden Abiturs konnte sie aller1
Zu Marianne Weber vgl. Bärbel Meurer: Marianne Weber. Leben und Werk. Tübingen: Mohr Siebeck 2010.
2
Marianne Weber: Vom Typenwandel der studierenden Frau. In: Die Frau 24 (1916/17), 514-530, auch in: Marianne Weber: Frauenfragen und Frauengedanken. Gesammelte Aufsätze. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1919, 179-201 (zitierte Ausgabe, online).
3
Marianne Weber: Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin. Tübingen 1900 (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen 4,3).
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dings nicht promovieren. 1922 erhielt sie jedoch als erste Frau die juristische Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg. Noch heute gilt Marianne Webers Monographie Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung4 als Standardwerk zur Eherechtsgeschichte. In einigen Aufsätzen setzte sie sich auch mit bestehenden und zukünftigen Frauenbildern auseinander.5 In ihrem in der Zeitschrift des Bundes deutscher Frauenvereine, Die Frau,6 erschienenen Beitrag bezeichnet Weber die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium als »Beginn eines neuen Zeitalters für unser Geschlecht«7 und unterscheidet zu diesem (frühen) Zeitpunkt bereits drei unterschiedliche Generationen von Studentinnen, die sich vom »heroischen« über den »klassischen« zum »romantischen« Typus gewandelt hätten.8 Für den vorliegenden Beitrag, der sich mit den verschiedenen Selbst- und Fremdwahrnehmungen von ›Weiblichkeit‹ im Kontext des Prozesses der Aneignung der männlich konnotierten akademischen Medizin befasst, ist vor allem Webers Charakteristik der ersten Generation der (Einzel-)Kämpferinnen von Interesse. Ihre Analyse stelle ich (auto-)biographischen Texten von Frauen gegenüber, deren Strategien und Handlungsweisen Weber untersucht, – konkret sind dies die ersten Frauen, die in der Habsburgermonarchie Medizin studiert hatten. Die kurzen Artikel erschienen 1896 und 1897 als Serie mit dem Titel Vorkämpferinnen des Frauenstudiums in Österreich-Ungarn in den Jahresberichten des Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien.9 Der 1888 gegründete Verein setzte sich hauptsächlich aus weiblichen, aber auch männlichen Mitgliedern sozialreformerischer Intellektuellenkreise zusammen, eröffnete 1892 die erste gymnasiale Mädchenschule Österreichs und spielte im Kampf um die Öffnung
4
Marianne Weber: Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung. Tübingen: Mohr 1907.
5
Vgl. z.B. Marianne Weber: Die neue Frau. In: Centralblatt 15 (1914), 154-156; dies.: Die besonderen Kulturaufgaben der Frau. In: Die Frau 26 (1918/19), 107-113, 137143; siehe auch Meurer 2010 (Anm. 1), 369-370, 443-445.
6
Die von Gertrud Bäumer und Helene Lange herausgegebene Zeitschrift erschien von 1893 bis 1944.
7
Weber 1919 (Anm. 2), 179.
8
Vgl. auch Meurer 2010 (Anm. 1), 444.
9
Vorkämpferinnen des Frauenstudiums in Österreich-Ungarn. In: Jahresbericht des Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 8 (1895/96), 35-48 und Jahresbericht des Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 9 (1896/97), 41-54.
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der medizinischen Fakultäten für Frauen eine wichtige Rolle. 10 Die Vereinsleitung hatte sich an die ersten bekannten Universitätsabsolventinnen aus Österreich-Ungarn gewandt und Auskunft über ihren bisherigen Werdegang erbeten. 11 Diese Lebensberichte von »hervorragenden, willenskräftigen Frauenindividualitäten« sollten sowohl als Beweis für den Erfolg des Frauenstudiums dienen, als auch die »falschen gewohnheitsmässigen Begriffe von der Leistungsfähigkeit der Frau und von den Motiven ihres Strebens nach wissenschaftlicher Bildung« korrigieren.12 Insgesamt werden 15 Frauen vorgestellt, davon zwölf Ärztinnen und drei Doktorinnen der Philosophie.13 Sie alle hatten Österreich-Ungarn zwischen 1870 und 1890 verlassen und in der Schweiz studiert, denn in Österreich wurden Frauen erst im Jahr 1897 zum Philosophie- und 1900 zum Medizinstudium zugelassen.14 Zürich war neben Paris die erste europäische Universität, die 1864 weiblichen Studierenden ihre Hörsäle öffnete. Die in den Kurzberichten präsentierten ersten Akademikerinnen bzw. Ärztinnen kamen aus den unterschiedlichsten Regionen der Monarchie und bis auf eine Ausnahme aus groß10 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann: Frauenbewegung und Studentinnen. Zum Engagement der österreichischen Frauenvereine für das Frauenstudium. In: Waltraud Heindl/Marianne Tichy (Hg.): »Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …«. Frauen an der Universität Wien (ab 1897). Wien: WUV-Universitätsverlag 1990, 49-78, hier: 49-51 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs Wien 5); Harriet Anderson: Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siècle Wiens. Wien: Deuticke 1994, 50. 11 Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 38. 12 Jahresbericht 1896/97 (Anm. 9), 54. 13 Vgl. Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 35-48: Dr. med. Anna Bayer, Dr. med. Bohuslava Keck, Dr. phil. Gabriele Stadler, Dr. phil. Siddy Eisenschitz, Dr. med. Georgine von Roth, Dr. med. Milica Tschawoff-Schwiglin, Dr. med. Marie Vucetich-Prita, Dr. med. Rosa Kerschbaumer, Dr. med. Theodora Krajewska, Dr. med. Leonore Welt, Dr. med. Rosa Welt-Strauss; Jahresbericht 1896/97 (Anm. 9), 41-54: Dr. med. Gabriele Possanner von Ehrenthal, Dr. med. Vilma Hugonay, Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann, Dr. phil. Susanna Rubinstein. 14 Vgl. dazu allgemein: Trude Maurer: Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2010; Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen: Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996 (Bürgertum 10); Alois Kernbauer/Karin Schmidlechner-Lienhart (Hg.): Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz. Graz: Akad. Druck- u. Verl.-Anst. 1996 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 33); Anne Schlüter (Hg.): Pionierinnen – Feministinnen – Karrierefrauen? Zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland. Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges. 1992 (Frauen in Geschichte und Gesellschaft 22).
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oder bildungsbürgerlichen Familien, drei von ihnen waren adeliger Abstammung. Sechs »Notizen« sind in der ersten und weitere sechs in der dritten Person verfasst.15 Die Frauen waren zum Zeitpunkt, als sie selbst ihr bisheriges Leben präsentierten oder über sie geschrieben wurde, durchschnittlich 39 Jahre alt (die Älteste 49, die Jüngste 29 Jahre). Der vorliegende Beitrag ist in drei Unterkapitel gegliedert, die sich – grob gesprochen – an den Lebensbedingungen und Erfahrungen von Frauen vor, während und nach dem Studium orientieren. Ausgangspunkt der jeweiligen Kapitel sind Kernaspekte von Marianne Webers Aufsatz, gefolgt von einem Kommentar zum Kontext und einer Gegenüberstellung mit Aussagen aus den genannten (auto-)biographischen »Notizen«.
Z UGANG ZUR U NIVERSITÄT : »S CHRANKEN DURCHBRECHEN « (M ARIANNE W EBER ) Marianne Webers Analyse 16 Die erste Generation der »Kämpferin«, schreibt Marianne Weber zu Beginn ihres Textes, habe sich aus eigener Kraft Zutritt zu den Hörsälen erzwungen. Oftmals seien es schon berufserfahrene Lehrerinnen oder »Ausnahmenaturen: besonders begabte und wissensdurstige Frauen« gewesen, die sich »irgendwie auf mühevollen Privatwegen den Eintritt zur Universität« erkämpft hätten. Auf dem Weg dorthin hätten sie viele festgefügte Schranken wie »die chinesische Mauer eines jahrtausendealten überlieferten Weiblichkeitsideals« durchbrechen müssen. Marianne Weber geht davon aus, dass ihre LeserInnen wüssten, wie dieses aussähe und erklärt es nicht näher. Sie betont allerdings, dass dieses Frauenideal »die Bestimmung der Frau durch die Bedürfnisse des Mannes« begrenze und »den Sinn ihres Daseins ausschließlich im leben für ihn« sehe. Dazu komme der »stachelige Zaun einer Familientradition, die den Drang nach einheitlich geistiger Arbeit, die sich nicht sofort wieder zum Dienst am Persönlichen« umbiege, nicht nur als »absonderlichen Seitentrieb der Weiblichkeit« empfinde,
15 Mit den Lebensgeschichten der in den Jahresberichten genannten zwölf Ärztinnen setze ich mich auch im Rahmen eines Buchprojekts mit dem Arbeitstitel »Die erste Generation von Ärztinnen in der Habsburgermonarchie um 1900. Motive, Karrieren und Strategien« auseinander. 16 Vgl. Weber 1919 (Anm. 2), 179-180.
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sondern als »lieblos und ›egoistisch‹, also als moralischen Mangel« ablehne. Nicht genug, auch die Blicke der Spießbürger und die öffentliche Meinung, die »alles Ungewohnte und Außeralltägliche an Frauen mit dem Bann« belegen und studierende Frauen »in unendlichen Abwandlungen als lächerliche Figuren« verspotten, gelte es auszuhalten. Zum Kontext Der Wunsch einiger Frauen zu studieren wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert, wie auch Marianne Weber feststellt, als Irritation und Überschreitung der hegemonialen Geschlechterrollen empfunden. Die von Weber genannten Hindernisse und Vorurteile gegenüber studierenden Frauen sind auch im Zusammenhang eines europaweiten Diskurses über die Zulassung von Frauen zu den Universitäten ab den 1870er Jahren zu sehen. Die Debatten pro und contra Frauenstudium wurden in der Literatur bereits eingehend beschrieben.17 Zu den zentralen Gegenargumenten zählte das Postulat der physiologischen Schwäche und der intellektuellen Inferiorität der Frau. Die in der Öffentlichkeit v.a. von Männern repräsentierte Gegnerschaft befürchtete darüber hinaus eine mögliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und eine durch ›Verweiblichung‹ hervorgerufene Abwertung akademischer Berufe. In erster Linie schienen aber vor allem jene Denkmuster, auf denen die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts beruhte, bedroht zu sein: »Aus dem bisherigen Naturwesen, dem Weib, soll ein Culturwesen wie der Mann werden? Das verändert die ganze Structur der Menschheit«, warnte etwa 1895 der Wiener Chirurg Eduard Albert.18 Parallel dazu wurde in der Habsburgermonarchie, vor allem ab der Wirtschaftskrise 1873, über die prinzipielle Frage des Zugangs zur Berufsausbildung und -tätigkeit bürgerlicher 17 Vgl. Marina Tichy: Die geschlechtliche Un-Ordnung. Facetten des Widerstands gegen das Frauenstudium von 1870 bis zur Jahrhundertwende. In: Heindl/Tichy 1990 (Anm. 10), 27-48; Sonja Stipsits: »… so gibt es nichts Widerwärtigeres als ein die gesteckten Grenzen überschreitendes Mannweib«. Die konstruierte Devianz – Argumente gegen das Frauenstudium und Analyse der Umstände, die 1900 dennoch zur Zulassung von Frauen zum Medizinstudium geführt haben. In: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller/Sonia Horn (Hg.): Töchter des Hippokrates. 100 Jahre akademische Ärztinnen in Österreich. Wien: Pressestelle und Verlag der Österreichischen Ärztekammer 2000, 27-44, hier: 30-37; Beate Ziegler: »Zum Heile der Moral und der Gesundheit ihres Geschlechtes …«. Argumente für Frauenmedizinstudium und Ärztinnen-Praxis um 1900. In: Eva Brinkschulte (Hg.): Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland. Berlin: Edition Hentrich 1993, 33-43. 18 Eduard Albert: Die Frauen und das Studium der Medizin, Wien: Alfred Hölder 1895, 6.
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Frauen diskutiert, nachdem offensichtlich geworden war, dass nicht alle Frauen, wie im bürgerlichen Gesellschaftsentwurf vorgesehen, von Ehemännern oder männlichen Familienernährern ›versorgt‹ werden konnten und wurden.19 Die ökonomische Krise, die quasi wirtschaftliche Notwendigkeit einer ›standesgemäßen‹ Ausbildung bürgerlicher Mädchen, brachte auch die gemäßigte bürgerliche Frauenbewegung als Hauptargument für das Frauenstudium ein. Unterschiedliche Vorstellungen von ›Weiblichkeit‹ prägten außerdem das alltagsgeschichtliche und feldspezifische Geschlechterwissen20 der männlichen Eliten in der Medizin, welche die Diskussion um den Zugang von Frauen zum Medizinstudium dominierten: Mit der so genannten naturwissenschaftlichen Wende in der Medizin im 19. Jahrhundert hatte sich immer mehr die Vorstellung von der männlich-rationalen, akademischen Medizin auf der einen und weiblich-emotionalen Krankenpflege auf der anderen Seite durchgesetzt.21 Aufgrund der in der bürgerlichen Geschlechterordnung Frauen zugeschriebenen Geschlechtercharaktere wurde Krankenpflege mit Begrifflichkeiten wie Fürsorge, Empathie oder Aufopferung als genuin weibliche Aufgabe definiert.22 BefürworterInnen des Medizinstudiums von Frauen und Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung brachten neben dem ökonomischen ein weiteres, von den GegnerInnen nur schwer zu entkräftendes Argument für weibliche Ärzte ins Spiel, indem sie auf das ›natürliche‹ weibliche Schamgefühl rekurrierten, das viele Frauen abhielte, (rechtzeitig) zum männlichen Arzt zu gehen. Damit setzten sie selbst bei bestehenden, bürgerlich-selbstpositionierenden Geschlechterrollenbildern an, um einen Zugang zur männlichen, akademischen Medizin zu argumentieren.
19 Vgl. dazu Margret Friedrich: »Das Recht der Frau auf Erwerb«, in: Julia Neissl/Agnes Kurz (Red.): Geschlecht und Arbeitswelten. Beiträge der 4. Frauen-Ringvorlesung an der Universität Salzburg. Salzburg: Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales 1998, 15-35, hier: 16. 20 Vgl. Irene Dölling: ›Geschlechter-Wissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23 (2005) 1/2, 44-62, hier: 44-46. 21 Vgl. Claudia Bischoff: Frauen in der Krankenpflege. Zur Entwicklung von Frauenrollen und Frauenberufstätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York: Campus 21994, 98. 22 Vgl. Christa Hämmerle: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, 32-34; zu ›Geschlechtercharaktere‹ vgl. Karin Hausen: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 19-49.
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(Auto-)Biographische »Notizen« Fast alle Artikel der Serie Vorkämpferinnen des Frauenstudiums gehen auf die Motivation der Frauen für das Medizinstudium und die Hindernisse, die sie überwinden mussten, ein. Als Ausgangspunkt und Erklärung für ihr Streben werden in vielen Fällen besondere Talente, Ausnahme-Begabungen und Entschlossenheit genannt, die studierwillige – unausgesprochen – von ›normalen‹ Frauen unterschieden. Der Herkunftsfamilie wird in den Berichten eine unterschiedliche Rolle zugeschrieben und auch der Tod von Angehörigen konnte sich sowohl hemmend als auch befreiend auf die Frauen auswirken. Nach dem anlässlich ihrer Promotion verfassten, stark idealisierten Bericht über Gabriele Possanner von Ehrenthal (1860-1940), wären die »glücklichen Familienverhältnisse« – ein »treusorgender Vater« und eine »zärtliche Mutter« – für die »reiche Begabung«, den Fleiß und den »tüchtigen Charakter« ihrer Tochter verantwortlich gewesen. Unter diesen Voraussetzungen hätte sie schon bald den Wunsch verspürt, »die Leistungsfähigkeit der Frau darzuthun«.23 Bei Marie PritaVucetich (1866-?) schienen nach dem Tod ihres Vaters ihre Studienpläne zum Scheitern verurteilt gewesen zu sein. Wie berichtet wird, stand aber ihre Mutter, eine »hochgebildete Frau«, entgegen der ablehnenden Haltung von Verwandten und Freunden ihrer Tochter »treu zur Seite« und unterstützte ihr Vorhaben.24 Georgine von Roth (1861-1940) konnte hingegen erst nach dem Tod ihres Vaters ihrem »Drang« nach einer ihr »Streben ausfüllenden Berufsthätigkeit« nachgeben. Ihre Immatrikulation an der Universität Zürich verzögerte sich aber aus »Rücksicht auf die Familie« danach noch um weitere sieben Jahre. Ganz im Einklang mit der zeitgenössischen Debatte nennt Roth auch den Wunsch nach Berufstätigkeit als Beweggrund für ihr Studium.25 Mit dem »Widerspruch der Eltern« war auch die aus einer adeligen polnischen Familie stammende Lehrerin Theodora Krajewska (1834-1935) konfrontiert, die nach dem Tod ihres Ehemanns ihr Studium begann.26 Auch in anderen Berichten werden Veränderungen in der eigenen Familie, Ehekonflikte und Trennungen – ›Knicke in der Biographie‹ – als Gründe für die Entscheidung für ein Studium genannt, eine Facette, die Marianne Weber nicht 23 Jahresbericht 1896/97 (Anm. 9), 45-48, hier: 46; vgl. Marcella Stern: Gabriele Possanner von Ehrenthal, die erste an der Universität Wien promovierte Frau. In: Heindl/Tichy 1990 (Anm. 10), 189-220. 24 Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 43-44, hier: 44. 25 Ebd., 42. 26 Ebd., 45.
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reflektiert. Nachdem die ungarische Adelige Vilma Hugonay (1847-1922) und ihr Ehemann eine vorübergehende Trennung beschlossen hatten, ging sie 1872 mit der Einwilligung ihres Mannes, wie sie betont, nach Zürich. Ihre Entscheidung für eine »wissenschaftliche Laufbahn« sei aber schon kurz vorher gefallen, als ein Lehrer den Unterricht ihres Sohnes übernommen hatte und ihr damit die »geistige Anregung« abhanden gekommen sei.27 Eine gescheiterte Ehe war auch der unmittelbare Anlass für die gebürtige Russin Rosa Kerschbaumer, ein Medizinstudium in der Schweiz zu beginnen – in ihrer »autobiographischen Skizze« verliert sie aber weder ein Wort über ihre Ehe noch über ihre Trennung. Basierend auf den Erkenntnissen aus der Lebensgeschichte Rosa Kerschbaumers (1851-1923)28 möchte ich am Beispiel ihres Textes exemplarisch aufzeigen, wie konstruiert die Selbstpräsentationen der ersten Ärztinnen sein konnten. Kerschbaumer schreibt, sie hätte mit 18 Jahren von einer jungen Russin an der Universität Zürich – gemeint ist Nadeschda Suslowa29 – gehört und beschlossen, auch zu studieren: »Mein Plan erregte in meiner Familie grosse Entrüstung und ich hatte harte Kämpfe zu bestehen, bis ich meinen Willen durchsetzte«. Dass sie nur mit der Unterstützung ihrer Eltern, die mit ihr, ihren drei kleinen Kindern, einer Amme und einem Kindermädchen nach Zürich kamen, das Studium aufnehmen konnte, verschweigt sie ebenfalls. Dies hätte wohl nicht in ihre Selbstdarstellung als kämpferische ›Pionierin‹ gepasst.30 In den auf konkrete Erfahrungen der ersten Studentinnen fokussierten Lebensberichten wird noch eine weitere Hürde genannt, die Marianne Webers soziologische Analyse nicht thematisiert: Für die meist wohlbehüteten bürgerlichen Medizinstudentinnen aus der Habsburgermonarchie stellte das Verlassen der Heimat und das Leben in der Fremde ein weiteres Problem dar, da diese Art von weiblicher Bildungsmigration ebenfalls nicht im Einklang mit vorherrschenden Geschlechtermustern stand.
27 Jahresbericht 1896/97 (Anm. 9), 48-51, hier: 48; vgl. auch Eszter KissDeák/Christoph Frei: Doktor Gräfin Hugonnai – erste Ärztin Ungarns. In: Schweizer Monatshefte (2006) 2, 54-57. 28 Sabine Veits-Falk: Rosa Kerschbaumer-Putjata 1851-1923. Erste Ärztin Österreichs und Pionierin der Augenheilkunde. Ein außergewöhnliches Frauenleben in Salzburg. Salzburg: Stadtarchiv und Statistik Salzburg 22012 (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 23). 29 Nadeschda Suslowa war die erste Frau, die 1867 in Zürich promovierte. 30 Veits-Falk 2012 (Anm. 28), 31-40. Vgl. auch Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 38.
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AN DER U NIVERSITÄT : S PRENGUNG DER G ESCHLECHTSHAFT (M ARIANNE W EBER ) Marianne Webers Analyse 31 Im nächsten Abschnitt ihres Beitrags setzt sich Marianne Weber mit den Bedingungen der ersten Frauen an den Universitäten und den Konsequenzen für ihre ›Geschlechtlichkeit‹ auseinander: Die Frauen, die nun endlich in »den geheiligten Bezirken der Alma mater« angekommen wären, fühlten sich als »Eindringlinge und Fremdkörper«, die für ihr »Dortsein um Entschuldigung bitten und sich so unauffällig wie möglich den festgefügten Ordnungen einschmiegen« müssten. Daher hätten sie in »Kleidung, Haartracht und Gesamthaltung ihr Frausein möglichst« versteckt und sich in ihrer »Erscheinung« den männlichen Studenten angepasst. Dies sei oft karikiert und als Bestätigung einer weiblichen »Entartung« gesehen worden. Für dieses Verhalten der Studentinnen bietet Marianne Weber eine psychologische Erklärung an: Vielleicht sei der tiefere Grund dieser »außergeschlechtlichen Selbststilisierung«, dass diese Frauen »unter der bloßen Tatsache als Frau geboren zu sein« stark gelitten und ihre »Geschlechtsbestimmtheit« als eine Fessel für ihre Bewegungsfreiheit empfunden hätten. Sie zu durchbrechen, habe die Frauen solche Schmerzen und Kämpfe gekostet, dass »geistig begabte Naturen ihr Frausein wahrhaftig nicht als Eigenwert«, sondern als »ungerechte, grausame Hemmung des ersehnten Aufstiegs zu höherer Geistigkeit« empfänden. Nun, an der Universität, sei es an der Zeit, das »Menschsein«, das Freisein »zum Wachsen und Werden nicht nur nach den Gesetzen der Gattung, sondern nach dem eigenen individuellen Gesetz« hervorzubringen und »das Weibsein als dessen unwesentliche Abwandlung in den Hintergrund zu drängen«. So hätten die ersten Studentinnen »das spezifisch Weibliche erst einmal abgestreift wie die Hülle der Puppe, wenn der Falter die Kraft spürt, sich zu neuer Daseinsform zu erheben«. Wie Marianne Weber weiter schreibt, sei, wenn auch »sehr vereinzelt«, unter den ersten Studentinnen der Typus »streitbarer Jungfräulichkeit« entstanden, »der bewußt auf den Blütenkranz weiblicher Anmut« verzichtet hätte. Diesen Verzicht würden Lebensalter und Schicksal erleichtern, da die »leibliche Jugendblüte« meist bereits »abgefallen« sei. Da sich diese Frauen in einer Welt von Vorurteilen, Zweifel und Spott durchsetzen müssten, würden sie ohne ihr Zutun an »Weichheit und Anmut« verlieren, dafür »Kraft und Selbstbewußtsein« gewinnen, aber auch »Kanten und Einseitigkeiten« erhalten. Die Jugend sei bei
31 Vgl. Weber 1919 (Anm. 2), 180-182.
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ihnen ohnehin vorbei und die »Hoffnung auf Frauenglück durch Liebe des Mannes« vorüber. Davon hätten sie sich entschlossen verabschiedet und ihre »Lebenskraft« auf »Entfaltung und Menschwerdung« gerichtet. Trotz »Fremdheit und Vereinzelung« sei die erste Generation von Studentinnen »glücklich, dankbar, siegesfroh und von unbekümmertem Selbstgefühl getragen« gewesen, betont Weber. Sie hätte sich »beschenkt mit neuer Heimat« und »neuen unbegrenzten Möglichkeiten der Entfaltung« gefühlt. Zu den positiven Seiten des Studiums zählt Weber auch die »Befreiung aus der erstickenden Luft einer Familiengemeinschaft«, die keine den eigenen Fähigkeiten entsprechenden Aufgaben biete, bzw. von »der geistigen Öde eines unangemessenen Erwerbsberufs«. – »Endlich waren die Tore der Geschlechtshaft gesprengt und man erschaute jubelnd einen ins Unendliche strebenden Weg«, der »vor allem Zuwachs an Kraft bedeuten sollte.« Zum Kontext Seit Ende der 1860er und Anfang der 1870er Jahre studierten zahlreiche Frauen aus Europa, meist aus Russland, vor allem Medizin an den Universitäten Zürich und Bern. Im Sommersemester 1873 betrug der Frauenanteil in Zürich 26 Prozent, von den 114 Studentinnen kamen 109 aus dem Russischen Reich.32 Die Universität war ein Ort des Studiums und der Wissenschaft, aber auch der männlichen Sozialisation, von dem Frauen exkludiert waren. Frauen fielen in diesem Umfeld unweigerlich als »Eindringlinge« oder »Fremdkörper« auf. Nach Weber bestand die Strategie der Aneignung des männlich konnotierten Raums Universität aus Unterordnung, Nicht-Auffallen und Anpassung. Wie auch aus anderen Quellen hervorgeht, kaschierten viele Frauen im Bestreben um Zugang zur Universität ihr weibliches Aussehen. Als Extrembeispiel galten die russischen Studentinnen mit kurzen Haaren, die als »unerquickliche Blaustrümpfe« karikiert und als »Mannweiber« diskreditiert wurden.33 Agnes Bluhm, eine deutsche Ärztin, die 1890 in Zürich promoviert hatte, erklärte das »Zerrbild der 32 Russinnen war um 1860 kurzfristig ein Studium an russischen Universitäten möglich gewesen, aufgrund von politischen Radikalisierungen aber wieder verboten worden. Daraufhin wechselten die Frauen an die für ihr »freies Klima« bekannte Universität Zürich. Vgl. Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (Hg.): Ebenso neu als kühn. 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich. Zürich: eFeF 1988, 197; vgl. dazu allgemein: Franziska Rogger/Monika Bankowski: Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Baden: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH 2010. 33 Th. K.: Russische Studentinnen. In: Neues Frauenleben 14 (1902) 5, 1.
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emancipirten Frau mit dem demonstrativ zur Schau getragenen vernachlässigten Aeussern« mit folgenden »theoretischen Deductionen«: »Eine Frau, die etwas Anderes thut als die Mehrzahl der Frauen, muss eo ipso sich auch in ihrem Aeussern von jenen unterscheiden.«34 Die studierenden Frauen, die in den Augen Vieler keine ›echten‹ Frauen mehr waren, wurden daher zugleich als Beweis dafür angesehen, dass Wissenschaft und Intellektualität mit ›Frau-Sein‹ nicht vereinbar sei. Gegen diese Schlussfolgerung verwahrten sich BefürworterInnen des Frauenstudiums und Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, wie z.B. die Lehrerin und Publizistin Ella Hruschka. Sie beschwor in einem Vortrag über den »Wirkungskreis des Weibes« im Jahr 1890 jede studierende und in der Öffentlichkeit tätige Frau, »echte Weiblichkeit« zu bewahren, dann werde sie auch »nichts von der Achtung« als Frau »einbüßen«, die ihr gebühre.35 Nicht das Bewahren, sondern das Ablegen des von den ersten Studentinnen verinnerlichten hegemonialen Weiblichkeitsbildes sah hingegen Marianne Weber als notwendige Voraussetzung, um den qua Geschlecht eingeschriebenen Ausschluss von Universität und Wissenschaft überwinden zu können. Nur so könnten Frauen als »Menschen« reflektieren und agieren. Das heißt, in dem von Weber beschriebenen Prozess des »Ablegens der Geschlechtshaft« unterminierten die ersten Studentinnen Rollenzuschreibungen – oder, um es in der Terminologie der Geschlechtergeschichte auszudrücken, sie vollzogen mit ihren Interaktionen ein Undoing Gender, ein Irrelevant-Machen von Geschlechterzugehörigkeit.36 (Auto-)Biographische »Notizen« Während in der Serie Vorkämpferinnen des Frauenstudiums die beschwerliche Erfüllung von Zugangsanforderungen zum Studium von Privatunterricht und ersten Mädchengymnasien über vorangegangene Ausbildungen als Lehrerin (z.B. bei Gabriele Possanner von Ehrenthal und Theodora Krajewska) bis zu Maturitäts- und Aufnahmeprüfungen ausführlich geschildert wird, sind die Studienjahre meist nur knapp abgehandelt. Keine Auskünfte geben die Beiträge über äußerliche Anpassungen, wie sie Weber schildert. Nur über Vilma Hugonay wird an anderer Stelle berichtet, sie hätte nach ihrem Entschluss zu studieren und 34 Agnes Bluhm: Studentinnen in Zürich. In: Jahresbericht des Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 2 (1889/90) 17-26, hier: 24. 35 [Bericht über den Vortrag von Ella Hruschka am 23. März 1890] In: Der LehrerinnenWart 2 (1890) 5, 126. 36 Vgl. Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. Frankfurt a. M./New York: Campus 2010, 27-30.
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der Trennung von ihrem Mann ihre Schmuckstücke verkauft und sich ihr Haar kurz schneiden lassen. Danach sei sie nach Zürich gefahren.37 Die kurzen Haare symbolisieren hier wohl Protest und Sichtbarmachung eines neuen Lebensabschnitts. Hugonays Bericht über besondere Anpassungsleistungen wird von anderen »Notizen« bestätigt, nach denen die ersten Frauen an den Universitäten sich ihrer exponierten Situation bewusst gewesen wären und »mit verdoppeltem Fleisse« die Anforderungen erfüllt hätten.38 Fallweise werden in den »Notizen« auch männliche Kollegen für ihr »schlechtes Benehmen« kritisiert. Dies ist ein Beispiel dafür, dass auch studierende Frauen gängige Rollenmuster, wie etwa ein von Männern erwartetes ›galantes‹ Verhalten Frauen gegenüber, reproduzierten. In vielen Darstellungen werden einzelne Universitätsprofessoren namentlich genannt, sowohl als Referenz für die Qualität ihrer Ausbildung, als auch als Beweis für die Akzeptanz der Frauen in der männlichen Scientific Community, besonders, wenn wie z.B. bei Theodora Krajewska eine Assistenz bei einem bekannten Professor damit verbunden war. Weder in den autobiographischen noch in den biographischen »Notizen« ist über eine Strategie einer »außergeschlechtlichen Selbststilisierung«, wie sie Weber beschreibt, zu lesen. Dies muss nicht unbedingt im Widerspruch zu Webers Beobachtungen und Analyse stehen, denn es wäre kontraproduktiv gewesen, wenn in der Zeitschrift eines Vereins der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, welche die bestehende Gesellschaftsordnung nicht prinzipiell in Frage stellte, über die »Ablegung der Geschlechtshaft« reflektiert worden wäre. Im Gegenteil: Anna Fischer-Dückelmann (1856-1917) wird als Paradebeispiel dafür angeführt, »wie mächtig der Geist einer Frau nach einem bestimmten wissenschaftlichen Wirkungskreis streben kann, ungeachtet eines tüchtigen, wirtschaftlichen und häuslichen Schaffens und eines befriedigenden Familienlebens«.39 Sie kann zugleich auch als Gegenbeispiel zu Webers »Jungfrau«-Studentin angesehen werden. Die dreifache Mutter begann erst im Alter von 34 Jahren ihr Medizinstudium in der Schweiz und betrieb zum Zeitpunkt ihres Berichts in Dresden eine Praxis mit naturheilkundlichem Schwerpunkt. Vier Jahre danach, 1901, sollte die erste Ausgabe ihres millionenfach verkauften Bestsellers Die Frau als Hausärztin erscheinen.
37 Kiss-Deák/Frei 2010 (Anm. 27), 55. 38 Jahresbericht 1896/97 (Anm. 9), 49. 39 Ebd., 51-53, hier: 51; vgl. auch Johanna Bleker: Die ersten Ärztinnen und ihre Gesundheitsbücher für Frauen. Hope Bridges Adams-Lehmann (1855-1916), Anna Fischer-Dückelmann (1856-1917) und Jenny Springer (1860-1917). In: Brinkschulte 1993 (Anm. 17), 65-83.
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DEM S TUDIUM : »H OCHGEFÜHL DIE E RSTEN ZU SEIN « UND FÜR DAS EIGENE G ESCHLECHT W EGE BEREITET ZU HABEN (M ARIANNE W EBER )
Marianne Webers Analyse 40 Zum Schluss ihrer Ausführungen konstatiert Weber, dass die Frauen, die sich das Studium so schwer erkämpft hätten, weder an eigenen Zulänglichkeiten noch »an der unbegrenzten Entwicklungsfähigkeit des eigenen Geschlechts« zweifelten. »Langsame Umstimmung widerwilliger Dozenten, Erkämpfung des Seminarbesuchs, der Zulassung zu den Prüfungen, Überraschung der Welt mit gut bestandenen Examina oder wertvollen Abhandlungen – das alles waren Siegespreise, um die allein es sich schon lohnte, zu studieren und zu leben.«
Und abschließend resümiert sie: »Diese erste Generation war ja auch eine Auslese, […] und die ihr Zugehörigen durften sich tragen lassen von dem Hochgefühl die Ersten zu sein, die nicht nur […] für sich, sondern für ihr ganzes Geschlecht die Wege bereiteten.«
Die Bedeutung, die Marianne Weber der »Kämpferin« als Wegbereiterin einräumt, wird vor allem in der Abgrenzung zu den beiden nachfolgenden Generationen deutlich: Der »klassische« Typus könne auf den Errungenschaften der »Kämpferinnen« aufbauen und müsse nicht mehr das Menschsein »auf Kosten des Weibseins« zum Ausdruck bringen. Für den »romantischen Typus« hingegen sei das Studium schon selbstverständlich. Gerade deswegen geraten aber diese meist noch jungen, »unfertigen«, für eine Liebesbeziehung bzw. Ehe offenen Studentinnen oft in Konflikt mit ihrer Weiblichkeit, die sie nicht auf Kosten der Wissenschaft aufgeben möchten. Kontext und (auto-)biographische Berichte Schon im Abschnitt über die Situation während des Studiums weist Weber vorausschauend auf eine »oft mühselige Zukunft« hin, die den ersten Universitätsabsolventinnen bevorstünde. Tatsache war, dass den ersten Ärztinnen nicht viele
40 Vgl. Weber 1919 (Anm. 2), 182-183.
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Möglichkeiten offen standen, ihren Beruf auszuüben, da das Schweizer Doktorat in Österreich nicht anerkannt war. Erst mit dem Nostrifizierungserlass von 1896 durften Frauen in Österreich alle Rigorosen nochmals ablegen und erhielten danach einen anerkannten Doktortitel. Nach der Öffnung der medizinischen Fakultäten im Jahr 1900 wurden Frauen erst 1907 als Sekundarärztinnen (Assistenten unterstellte Hilfsärztinnen) in Krankenhäusern zugelassen.41 Alle Lebensberichte geben Auskunft, welche Wege die ersten Ärztinnen bis zu den Jahren 1896/1897 eingeschlagen hatten. Viele mussten weiterhin hegemoniale bürgerliche Weiblichkeitsnormen überschreiten. So entschieden sich einige Frauen auf der Suche nach Möglichkeiten zur Berufsausübung für eine – durchwegs männlich assoziierte – Single-, Karriere- und Langstreckenmigration innerhalb Europas bzw., wie die Schwestern Rosa Welt-Strauss (1856-1936) und Leonore Welt-Kakels (1858-1944),42 für eine transatlantische Migration.43 Aber auch umgekehrt war es möglich, dass die Kategorie Geschlecht den Frauen einen speziellen weiblichen Zugang zur Medizin ermöglichte und Männer exkludierte: 1891 wurden von der österreichischen Regierung weibliche Amtsärzte in den von Österreich okkupierten Gebieten in Bosnien und Herzegowina gesucht, da sich muslimische Frauen nicht von Männern untersuchen lassen wollten bzw. durften. Es war genau jenes in Österreich als Argument für das Medizinstudium von Frauen vorgebrachte »weibliche Schamgefühl«, das hier als Begründung für die Notwendigkeit von Ärztinnen akzeptiert wurde.44 Anna Bayer (1835-1924) ging 1892 als erste Amtsärztin nach Bosnien, kehrte aber nach einem Jahr wieder zurück: »Wenn sie auch nach Verlauf eines Jahres, durch Vorurtheile in der Ausübung ihrer Praxis gehemmt, dieses Land verliess, so war doch ihr Wirken von Bedeutung für ihre Nachfolgerinnen«, lobt der Artikel in den Jahresberichten ihre Vorbildwirkung.45 Theodora Krajewska und Bohuslava Keck (1854-1911) waren Nachfolgerinnen. Über letztere wird berichtet,
41 Vgl. Ingrid Arias: Die ersten Ärztinnen in Wien. Ärztliche Karrieren zwischen 1900 und 1983. In: Bolognese-Leuchtenmüller/Horn 2000 (Anm. 17), 55-78. 42 Vgl. Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 47-48. 43 Vgl. Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung. Frankfurt a. M./New York: Campus 2012, 138-151. 44 Vgl. dazu z.B. Brigitte Fuchs: »Weiche Knochen«. Medizinhistorische Diskurse über Ethnizität, Religion und Weiblichkeit in Bosnien und Herzegowina (1878-1914). In: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 7 (2008), 69-83. 45 Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 38-39, hier 39; vgl. Franziska Rogger: Der Doktorhut im Besenschrank. Das abenteuerliche Leben der ersten Studentinnen – am Beispiel der Universität Bern. Bern: eFeF 2002 (2., erw. Aufl.), 47-51.
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ihre »Mission« in Bosnien sei auch eine kulturelle für ihr Geschlecht gewesen, da sie einige Frauen und Mädchen im Lesen und Schreiben unterrichtet hätte. 46 Drei der in den »Notizen« vorgestellten Frauen heirateten nach ihrem Studium und gingen damit mit um 1900 ›typisch‹ weiblichen Lebensentwürfen konform, ohne allerdings »ihren ärztlichen Beruf aufzugeben«, wie es 1896 über Milica Tschawoff-Schwiglin (1867-?)47 hieß. Marie Vucetich-Prita arbeitete nach ihrer Eheschließung in einem Krankenhaus in Schabatz (Šabac) in Serbien und führte eine Privatpraxis.48 Dem »klassischen« Typus Webers, der »Beruf und Weiblichkeit« in Einklang bringen wollte, entsprach wohl Vilma Hugonay. Sie ließ sich zwar nach ihrer Promotion scheiden, ging aber danach eine neue Ehe ein und bekam noch eine Tochter. Ihre öffentliche Praxis hätte sie daraufhin aufgegeben, nicht jedoch ihren Beruf, betont sie. Diesen übe sie nun im Kreis bekannter und verwandter Frauen aus. 1897 promovierte sie durch Nostrifikation unter nochmaliger Ablegung aller Prüfungen an der Universität Budapest. Zu diesem Zeitpunkt war sie 50 Jahre alt. Auch Rosa Kerschbaumer hatte ein zweites Mal geheiratet – den Assistenten ihres Professors, Friedrich Kerschbaumer. Dieser errichtete großteils mit ihrem Vermögen eine private Augenheilanstalt in Salzburg, sodass sie im geschützten Bereich einer Privatklinik als Ärztin praktizieren konnte. Rosa Kerschbaumers Darstellung lautet: »Prof. Arlt unterstützte mein Vorhaben und ich errichtete unter dem Namen des Herrn Dr. Kerschbaumer, gewesenen Assistenten Professor Arltʼs, eine Privatklinik für Augenkranke in Salzburg.«49 Dass sie mit Friedrich Kerschbaumer auch verheiratet war, unterschlägt sie – sie wollte wohl auch hier das Bild von der heroischen Einzelkämpferin nicht verwässern. Nichtsdestotrotz konnte sie sich als angesehene Augenärztin etablieren, und 1890 gewährte ihr Kaiser Franz Joseph eine Sondergenehmigung, mit der sie selbständig als Ärztin praktizieren und die Klinik leiten konnte. Sie war somit die erste in Österreich praktizierende Ärztin, worüber sowohl mit Sensationslust berichtet wurde als auch mit der Hoffnung, ihr Beispiel möge möglichst bald zur Öffnung des Medizinstudiums für Frauen beitragen. Als Wegbereiterin »für ihr ganzes Geschlecht«, wie Weber es nennt, wurde auch Gabriele Possanner von Ehrenthal bezeichnet. Bei ihrer Promotionsfeier an der Medizinischen Fakultät in Wien 1897 (sie war die erste Frau, die in Österreich durch Nostrifizierung promovierte), lobte sie der Rektor »als muthige, siegreiche Vorkämpferin um die Erweiterung der Frauenrechte«. Der Verein für 46 Jahresbericht 1895/96 (Anm. 9), 40. 47 Ebd., 43. 48 Vgl. ebd., 43-44. 49 Ebd., 45.
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erweiterte Frauenbildung pries sie zusätzlich als »eine Vorkämpferin für das Vertrauen der Frauen zur Frau«.50
S CHLUSSBEMERKUNG Nach Ansicht der Historikerin Marina Tichy gibt es zwei Facetten der Taxierung von Frauen als »Ausnahmefrauen«: Erstens die »Ausnahmefrau« als »irrtümlich mit Intelligenz begabte Frau«, also die Ausnahme, die die Regel bestätigt, und zweitens die »Ausnahmefrau« als Vorläuferin eines insgesamt differenten weiblichen Geschlechts der Zukunft.51 Die als »Kämpferinnen« und »Heroinnen« charakterisierten ersten studierenden Frauen wurden von der Mehrheitsgesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wohl ersterer zugerechnet. Marianne Weber, der Verein für erweiterte Frauenbildung in Wien und auch die ersten Akademikerinnen selbst waren hingegen von ihrer Rolle als »Wegbereiterinnen« für ihr Geschlecht überzeugt. Die ersten Ärztinnen erweiterten schon aufgrund ihrer neuen Handlungsfelder sowohl das alltagsgeschichtliche als auch das feldspezifische Geschlechterwissen um einen neuen Bereich. Zu den weiblichen Rollen der (dem männlichen Arzt untergeordneten) Helfenden und Dienenden und des (vom männlichen Arzt medizinisch behandelten) Objekts kam nun, wenn zunächst auch nur vereinzelt, die Rolle des aktiv handelnden Subjekts (als Ärztin) hinzu. Die (auto-)biographischen »Notizen« gaben anhand von selbst- bzw. fremdkonstruierten Mitteilungen konkreter weiblicher Lebensläufe und Karrieren Einblicke in neue Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen. Sie präsentierten alternative weibliche Lebensentwürfe, stellten neues ›Geschlechter-Orientierungswissen‹ zur Verfügung, eröffneten Perspektiven und trugen damit implizit und explizit zum Aufweichen von Geschlechterstereotypen bei. Während die ersten Ärztinnen noch kaum Vorbilder hatten, waren die »Kämpferinnen« und »Heroinnen« der ersten Generation v.a. für nachfolgende bürgerliche Frauen sehr wohl Identifikationsmodelle. Kommen wir noch einmal zum Erscheinungsdatum von Marianne Webers Aufsatz, zum Jahr 1917, zurück. Im Ersten Weltkrieg überschritten Frauen in einem zuvor noch nie dagewesenen Ausmaß ihrem Geschlecht zugeschriebene Handlungsräume und Weiblichkeitsnormen. Der Krieg versetzte auch die akademi-
50 Jahresbericht 1896/97 (Anm. 9), 47. 51 Tichy 1990 (Anm. 17), 38.
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sche Medizin in einen Ausnahmezustand, von dem Medizinstudentinnen und Ärztinnen vorerst v.a. aufgrund von Ressourcenknappheit profitierten. Obwohl einige Ärztinnen unmittelbar nach dem Krieg von den zurückkehrenden Männern wieder verdrängt wurden, konnten sie längerfristig, mit den für die Frauengeschichte des 20. Jahrhunderts typischen Brüchen, Fuß fassen: Heute ist eine knappe Mehrheit der Medizinstudierenden weiblich, Spitzenpositionen in der Medizin sind allerdings mehrheitlich männlich besetzt. Zu diesem mehrdimensionalen Prozess trugen sicherlich auch »Ausnahmefrauen« mit ihren atypischen Lebensläufen bei.
Geschlechterordnung im Kirchenkampf Konstruktionen von Gender in der autobiographischen Verarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus B ENEDIKT B RUNNER
E INLEITUNG »Mit den Nationalsozialisten hatte ich nie etwas gemein gehabt. Die Großmäuligkeit ihrer Propaganda und das herausfordernde Benehmen der SA-Leute stieß mich ab. Mit Hitlers Telegramm an die nationalsozialistischen Mörder von Beuthen 1 waren für mich die Akten über diese Bewegung geschlossen. […] Die Nachricht [der nationalsozialistischen Machtergreifung, B. B.] war aufregend. Aber die Kirche war noch nicht unmittelbar gefordert. Wir mußten abwarten.«2
So leitet Otto Dibelius (1880-1967) den Abschnitt seiner Autobiographie ein, in dem er sich mit den Anfängen dessen, was später als ›Kirchenkampf im Nationalsozialismus‹ bezeichnet wurde, beschäftigt. In diesem Auszug finden sich be1
Gemeint ist der Mord von Potempa in Oberschlesien. Dort hatten im Kontext der Reichstagswahlen von 1932 fünf uniformierte SA-Leute den Gewerkschafter Konrad Pietrzuch vor den Augen seiner Mutter zu Tode geprügelt. Ein Sondergericht in Beuthen verurteilte die fünf Täter zum Tode. Hitler solidarisierte sich öffentlich mit den Mördern, was zur erneuten Ablehnung einer Reichsregierung unter der Führung von Hitler durch Hindenburg führte. Vgl. Richard Bessel: The Potempa Murder. In: Central European History 10 (1977), 241-254.
2
Hier folgt eine Beschreibung des sog. »Tags von Potsdam«. – Otto Dibelius: Ein Christ ist immer im Dienst. Erlebnisse und Erfahrungen einer Zeitenwende. Stuttgart: Kreuz 1961.
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reits einige typische Elemente der autobiographischen Verarbeitung des Nationalsozialismus, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird. Der »erbitterte Kampf«, den Dibelius heraufziehen sah, ist ein Motiv, das nicht nur während der NS-Zeit geradezu omnipräsent war, sondern sich – häufig verbunden mit einer Aspekte der Männlichkeit in den Vordergrund rückenden Reflexion – in den Autobiographien zahlreicher TheologInnen der Nachkriegszeit findet. Auffällig ist jedoch, dass diese Quellen bislang in der religionshistorischen Forschung kaum berücksichtigt worden sind. Auch wenn man die Rede vom biographical turn3 für übertrieben halten mag, lässt sich doch nicht leugnen, dass in den letzten Jahren verstärkt Bemühungen zu einer theoretisch und methodisch fundierten Verwendung von Autobiographien und Biographien als Quellen für die Geschichtswissenschaften zu beobachten sind.4 Potenzial besteht nicht zuletzt im Hinblick auf die Lebensbeschreibungen evangelischer TheologInnen, die in verschiedener Form am Kirchenkampf partizipiert hatten. Der Kirchenkampf und die mit ihm verbundene Meistererzählung von den widerständigen Kirchen harren noch immer einer angemessenen Dekonstruktion, auch wenn in dieser Hinsicht erste Schritte unternommen worden sind.5 Insbesondere die Untersuchung autobiographischer Schriften im Hinblick auf ihre (kirchen)geschichtspolitischen Verwendungen versprechen noch großen Erkenntnisgewinn.6 Thomas A. Seidel hat zudem in einem Aufsatz vor einigen Jahren die Bedeutung des Begriffs der Männlichkeit bei durch den Kirchenkampf geprägten protestantischen Geistlichen als ein noch nicht erschöpftes und Potenzial bergendes Forschungsthema benannt.7 Insofern
3
Simone Lässig: Toward a Biographical Turn? Biography in Modern Historiography – Modern Historiography in Biography. In: Bulletin of the German Historical Institute 35 (2004), 147-155.
4
Vgl. Simone Lässig: Die historische Biographie auf neuen Wegen? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), 540-553.
5
Hierfür steht insbesondere Joachim Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 24, 1994, 43-78 sowie Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus. Stuttgart: Reclam 2014.
6
Vgl. Björn Krondorfer: Nationalsozialismus und Holocaust in Autobiographien protestantischer Theologen. In: ders./Katharina von Kellenbach/Norbert Reck: Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 23-170.
7
Vgl. Thomas A. Seidel: Im Wechsel der Systeme. Anmerkungen zur evangelischen Landeskirche Thüringens 1919 bis 1989. In: Manfred Gailus/Wolfgang Krogel (Hg.): Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu
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gilt es die oben angedeutete ›Meistererzählung‹ durch eine Dekonstruktion der autobiographischen Erinnerungen weiter zu relativieren, um somit einen Beitrag für eine ausgewogene Interpretation des Verhältnisses von Kirchen und Nationalsozialismus zu leisten. Ich werde in einem ersten Schritt meine methodische Vorgehensweise darlegen bzw. erklären, was ich unter Autobiographie, Dekonstruktion und Gender verstehe. In einem Folgeschritt werde ich einen religionshistorischen Abriss vom Ende des Kirchenkampfs bis zur sog. »religiösen Krise« der 1960er Jahre darlegen, um die historischen Hintergründe der Autobiographien angemessen kontextualisieren zu können. Es folgt die inhaltliche Arbeit an einer repräsentativen Auswahl von Autobiographien, ehe ich mit einer Zusammenfassung meiner Arbeitsergebnisse und den hiervon ausgehenden Implikationen für weitere Forschungen schließe.
M ETHODISCHER Z UGANG Lange Zeit galten Autobiographien als chronisch unzuverlässige und bestenfalls hochproblematische Quellengattung. In den letzten Jahren wurde jedoch auf verschiedene Art und Weise dafür plädiert, Autobiographien als geschichtswissenschaftliche Quellen (wieder) ernst zu nehmen. Charlotte Heinritz vertritt den Standpunkt, Autobiographien würden einer »Klärung des Selbstbildes«8 dienen, diese sogar erst ermöglichen. Sie führt weiter aus: »Lebensgeschichtliches Erzählen führt zur Herstellung und Sicherung des eigenen Identitätsentwurfes. Die Frage nach der ›Wahrheit‹ in autobiographischen Texten muss von daher als ›fundamentales Missverständnis‹ bezeichnet werden.«9
In eine ähnliche Richtung argumentiert auch die Frühneuzeithistorikerin Renate Dürr. Sie macht aber auch deutlich, dass sich über einen gattungstheoretischen Zugriff »die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion in Autobiogra-
Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000. Berlin: Wichern 2006, 331-359, v.a. 332-335. 8
Charlotte Heinritz: Autobiographien als Medien lebensgeschichtlicher Erinnerungen. Zentrale Lebensthemen und autobiographische Schreibformen in Frauenautobiographien um 1900. In: BIOS 21 (2008), 114-123, hier: 115.
9
Ebd.
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phien kaum je befriedigend beantworten«10 ließe. Sie plädiert dafür, das Erinnern als einen kommunikativen Akt und hiervon ausgehend auch Autobiographien und Selbstzeugnisse als kommunikative Handlungen zu verstehen. »Denn die Reflexion des eigenen Lebensweges, des eigenen Ich oder bestimmter Erfahrungen im Verlaufe des Lebens kann nur dialogisch gedacht werden, und zwar in doppelter Hinsicht: mit Blick auf die erinnerte Vergangenheit […] auf der einen Seite; als nach außen getragene Kommunikation mit Blick auf einen möglichen Rezipientenkreis auf der anderen.«11
Demnach konstruieren Autobiographien nicht nur die Identität des Autors/der Autorin im Akt des Schreibens, sondern mit Blick auf den Kreis der RezipientInnen auch darüber hinausgehende soziale Wirklichkeit. So erscheint nach Ansicht Volker Depkats »[a]utobiogra hisches Schreiben […] als Akt sozialer Kommunikation, durch den sich der Verfasser zu seinem Umfeld in Beziehung setzt und in seiner Erzählung zugleich durch dieses Umfeld geprägt ist.«12 Ferner seien »Autobiogra hien […] Ausdruck von Gru enzugehörigkeit und Ergebnis einer sozialen Praxis, die vorgibt, wie Mitglieder einer Gruppe zu einer bestimmten Zeit ihr Leben schildern ›sollen‹«.13 Bei Depkat kommt jedenfalls ein neuer Aspekt hinzu: Nicht allein das »retrospektive Ausdeuten des eigenen Lebens, die sinnfällige Organisation einzelner Erlebnisse und Erfahrungen« konstituiere eine Autobiographie, sondern auch die »Suche nach einer sozial akzeptierten Form, die diesen Lebenszusammenhang narrativ organisiert.«14 Wichtig erscheint noch, dass Autobiographien, folgt man Depkat, weniger Quellen für die Zeit sind, die sie beschreiben. Vielmehr seien sie als soziale Selbstbeschrei-
10 Renate Dürr: Funktionen des Schreibens. Autobiographien und Selbstzeugnisse als Zeugnisse der Kommunikation und Selbstvergewisserung. In: Irene Dingel/WolfFriedrich Schäufele (Hg.): Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. Mainz: von Zabern 2007, 17-31, hier: 20 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 74). 11 Ebd., 21. 12 Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), 441-476, hier: 442. 13 Ebd. 14 Beide Zitate ebd., 443.
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bungen anzusehen und damit »selbst historische Fakten« und »Bestandteil der Zeit […], in der sie entstehen«.15 Welcher geschichtswissenschaftliche Umgang mit Autobiographien ist angesichts dieses – freilich nur skizzenhaft dargelegten – Forschungsstandes empfehlenswert? Dass der Quellenwert in hohem Maße von den erkenntnisleitenden Fragestellungen, die man an die Autobiographien heranträgt, abhängt, deutete sich bereits an.16 Depkat plädiert für einen kommunikationspragmatischen sowie diskursgeschichtlichen Zugriff,17 wobei insbesondere der Aspekt der Textualität autobiographischer Texte betont wird. Zum einen seien diese ein in sich selbst zentriertes Sinnganzes, das eine Vielfalt von widersprüchlichen Erlebnissen aufeinander bezieht, sie durch einen durch den Text selbst definierten Zusammenhang integriert und so ein Deutungsmuster hervorbringt, das sowohl die eigene biographische Erfahrung als auch die allgemeinen historischen Entwicklungen der selbst erlebten Zeit wie auch immer sinnvoll interpretiert.18 Zum anderen seien sie aber als Akte sozialer Kommunikation auf einer Konfrontation mit ihrer Umwelt gegründet. Mir scheint jedenfalls vom vorliegenden Verständnis ausgehend ein diskursgeschichtlicher Zugriff am besten geeignet.19 Als Quellenkorpus bislang kaum in den Blick der historischen Forschung gerückt ist die Vielzahl von Autobiographien deutscher evangelischer Theologen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der »Historizität narrativer Strukturen«20 in diesen Autobiographien diskurshistorisch nachzuspüren ist der methodische Ansatz, der hier mit dem Versuch einer »Dekonstruktion« dieser Strukturen verbunden werden soll. Damit ist zweierlei 15 Ebd. Vgl. außerdem Carsten Heinze: Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung. Über autobiographisches Schreiben und Erinnern in sozialkommunikativen Kontexten. In: Geschichte und Gegenwart 36 (2010), 93-128. 16 Vgl. Volker Depkat: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung. In: Thomas Rathmann/Nikolaus Wegmann (Hg.): »Quelle«. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin: E. Schmidt 2004, 102-117 (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 12). 17 Vgl. Volker Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS 23 (2010), 170-187, hier vor allem 177-179. 18 Vgl. Depkat 2003 (Anm. 12), 454. 19 Für einen Überblick vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M./New York: Campus 2008 (Historische Einführungen 4). 20 Vgl. Depkat 2003 (Anm. 12), 462-466.
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intendiert: zum einen soll deutlich gemacht werden, dass man sich auch bei der Erforschung von Autobiographien nicht der »biographischen Illusion« hingeben darf, was die Kohärenz der erinnerten Lebensdarstellungen betrifft. Zum anderen sollen durch die Dekonstruktion der autobiographischen Texte die Praktiken des Erschließens, Sichtbarmachens (making visible) und Sichtbarhaltens (keeping visible)21 soweit wie möglich offengelegt werden. Die dekonstruktive Strategie, wie beispielsweise der amerikanische Historiker Ethan Kleinberg die Methode nennt, besteht darin »to approach a te t […] as a site of contestation and struggle, though one that is hidden, because one element in the text asserts itself as the source of order by establishing a hierarchy of meaning. […] The ur ose of deconstruction is to e ose the binary construct and arbitrary nature of the hierarchy at work in a text by revealing how the binary elements in fact exchange properties with each other. Furthermore, deconstruction also focuses on what is left out of a text, that about which it is silent but on which it also depends.«22
Folgt man diesem Verständnis von Dekonstruktion, so wird deren Potenzial für die Aufdeckung von Geschlechterwissen in autobiographischen Diskursen deutlich. Ulrike Auga versteht Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens. Sie schließt dabei explizit an die Überlegungen Judith Butlers zum Undoing Gender an. Nach Butler gibt es keine ahistorische Substanzialität des Geschlechtlichen, dieses wird vielmehr diskursiv erzeugt: »There is no gender identity behind the e ression of gender; […] identity is erformatively constituted by the very expressions that are said to be its results.«23 Auch religiöses Wissen wird diskursiv erzeugt und ist diskursiv umkämpft. Im Hinblick auf die Autobiographien der TheologInnen ist zu überprüfen: Wie
21 Vgl. Maria Heidegger, Nina Kogler, Mathilde Schmitt, Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek: Geschlechterwissen in auto_biographischen Texten – Annäherungen verschiedener Disziplinen, in diesem Band, 11-20, hier: 11-14. 22 Ethan Kleinberg: Haunting History: Deconstruction and the spirit of revision. In: History and Theory 46 (2007), 113-143, hier: 114. 23 Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge 1990, 25, zit. nach Ulrike Auga: Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens. Intersektionalitätsdebatte, Dekonstruktion, Diskursanalyse und die Kritik antiker Texte. In: Ute E. Eisen/Christine Gerber/Angela Standhartinger (Hg.): Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam. Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 37-74, hier: 54.
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wird das Verhältnis von Religion und Geschlecht bestimmt? 24 Welche Diskurse sind dominant und über welche Bereiche wird geschwiegen? Diese Fragen sind Gegenstand des übernächsten Abschnitts.
D ER RELIGIONSHISTORISCHE K ONTEXT DER AUTOBIOGRAPHISCHEN S CHRIFTEN Die im folgenden Abschnitt analysierten Autobiographien25 entstanden zwischen 1959 und 1977, also ungefähr in jenem Zeitraum, den man in der Geschichtswissenschaft üblicherweise als die »langen 1960er Jahre« bezeichnet.26 Man ist sich in der Forschung weitgehend darüber einig, dass es in diesen Jahren in Europa zu einem fundamentalen und irreversiblen Wandel gekommen ist. Bezogen auf Westdeutschland und die Kirchengeschichte wurden die Nachkriegsjahre sowie die 1950er Jahre insgesamt als eine Zeit der Restauration beschrieben. Die zum Teil euphorischen Rechristianisierungshoffnungen der ersten Nachkriegsjahre wurden aber schon sehr bald enttäuscht; auch wenn der institutionelle Wiederaufbau bei beiden Großkirchen recht schnell und durchgreifend gelang und man sich als »Siegerin in Trümmern«27 wähnte, hat der Umbruch der 1960er Jahre seinen Ursprung bereits früher. So spricht Frank-Michael Kuhlemann von einer Zeit der »Gärung« zwischen 1945 und dem Beginn der 1960er Jahre.28 Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die Kirchen in den 1950er Jahren in
24 Zur Frage nach der Bedeutung von Gender im Hinblick auf die Autorschaft von Texten vgl. Daniel Fulda: Hat Geschichte ein Geschlecht? Gegenderte Autorschaft im historischen Diskurs. In: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin/New York: de Gruyter 2003, 185-201. 25 In diesem Abschnitt kann ich mich freilich nur auf einige Aspekte beschränken. Für eine umfangreiche Analyse der relevanten Entwicklungen in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland vgl. Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 26 Vgl. Arthur Marwick: The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c. 1958 - c. 1974. Oxford: Oxford University Press 1998. 27 Vgl. Joachim Köhler/Damian van Melis (Hg.): Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Stuttgart: Kohlhammer 1998. 28 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann: Nachkriegsprotestantismus in Deutschland. Religionssoziologische und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven. In: Bernd Hey (Hg.):
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gesellschaftlicher und politischer Hinsicht in hohem Ansehen standen und gefragte Gesprächspartnerinnen des Staates, etwa hinsichtlich ethischer Orientierungen, gewesen sind. Das nachfolgende Jahrzehnt stand aber im Unterschied hierzu im Zeichen einer Kirchenkrise. Es kam ferner zu einer Pluralisierung und Politisierung des religiösen Feldes in Deutschland.29 Insgesamt entstand eine erhebliche Autoritätskrise und -skepsis, die gerade auch an den Kirchen nicht spurlos vorüber ging. Nicht zuletzt begann man in diesem Zeitraum mit der eigentlichen Aufarbeitung und Historisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit, wodurch auch die Kirchen und ihre Kirchenführer stärker in den Fokus der Kritik rückten.30 Vor diesem Hintergrund gilt es also die Autobiographien zu lesen. Dabei müsste in einer umfangreicheren Studie noch genauer auf die spezifischen zeithistorischen Veröffentlichungskontexte der Schriften eingegangen werden.
R EPRÄSENTATIONEN VON G ESCHLECHTERORDNUNGEN IN DEN AUTOBIOGRAPHIEN Das Sample, welches ich zur Grundlage der folgenden Analyse gemacht habe, besteht aus zehn autobiographischen Schriften, von denen neun von Männern und eine von einer Frau verfasst worden sind.31 Dabei wurden TheologInnen
Kirche, Staat und Gesellschaft nach 1945. Konfessionelle Prägungen und sozialer Wandel. Bielefeld: Luther-Verlag 2001, 23-59, hier: 26 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 21). 29 Vgl. Großbölting 2013 (Anm. 25), 120-148. 30 Vgl. ebd., 137-148. 31 In chronologischer Reihenfolge sind dies: Emil Fuchs: Mein Leben. Zweiter Teil: Ein Christ im Kampfe gegen den Faschismus, für Frieden und Sozialismus. Leipzig: Koehler & Amelang 1959; Guida Diehl: Christ sein heisst Kämpfer sein. Die Führung meines Lebens. Gießen: Brunnen o.J. [1959]; Dibelius 1961 (Anm. 2); Wilhelm Niemöller: Aus dem Leben eines Bekenntnispfarrers. Bielefeld: Bechauf 1961; Günther Dehn: Die alte Zeit – die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen. München: Kaiser 1962; Heinrich Grüber: Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1968; Hanns Lilje: Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens. Nürnberg: Laetare 1973; Hermann Diem: Ja oder Nein. 50 Jahre Theologe in Kirche und Staat. Stuttgart/Berlin: Kreuz-Verlag 1974; Wolfgang Trillhaas: Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976; Heinz-Dietrich Wendland: Wege und Umwege. 50 Jahre erlebter Theologie, 1919-1970. Gütersloh:
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unterschiedlicher Richtungen ausgewählt, wobei allerdings keine Autobiographie eines männlichen Mitglieds der »Glaubensbewegung Deutscher Christen« berücksichtigt wurde.32 Die Ausnahme bildet Guida Diehl, die 1933 Reichssachbearbeiterin der »Deutschen Christen« für Frauenfragen wurde und im Übrigen spätestens seit 1932 Mitglied der NSDAP war. 33 Davon abgesehen ist das Sample auf diejenigen beschränkt, die entweder auf Seiten der Bekennenden Kirche oder eben als Teil der großen ›neutralen‹ Gruppe die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft verbracht hatten. In der folgenden Analyse wird untersucht, inwiefern der »Gesinnungsmilitarismus im Protestantismus«, den Thomas A. Seidel als Forschungsthema zur Diskussion gestellt hat, in den hier zugrunde liegenden autobiographischen Schriften Niederschlag gefunden hat. Seidel behauptet, dass der »ganz im patriarchalischen Duktus der Zeit geprägte Begriff der ›Mannhaftigkeit‹ oder ›Männlichkeit‹ […] in Briefen, Reden oder Verlautbarungen vieler Zeitgenossen […] immer wieder«34 aufgetaucht sei. Es soll also untersucht werden, inwiefern diese Narrative im Medium der autobiographischen Reflexion tatsächlich Verwendung fanden. Auffällig ist die stark männlich geprägte Kampfrhetorik, derer sich viele Autobiographien in der Retrospektive bedienen. An zahlreichen Stellen ist Otto Dibelius bemüht, sein Wirken als einen Kampf gegen den Nationalsozialismus darzustellen. So habe seine Predigt beim »Tag von Potsdam« zu feindseligen Blicken von den Nationalsozialisten geführt. Nach dem Staatsakt habe er dann zu seiner Frau gesagt: »In sechs Monaten haben wir den erbitterten Kampf zwischen Staat und Kirche! Ich hatte mich geirrt. Es dauerte nicht sechs Monate, sondern nur sechs Wochen!«35 Eine kriegerische Rhetorik ist auch in den jeweiligen Beschreibungen des Kirchenkampfes enthalten. So behauptet etwa Hanns Lilje (1899-1977), dass die Gemeinden, die von Deutschen Christen geleitet wurden, »eine viel schärfere Kampfessituation aufwiesen als die ›intakGütersloher Verlagshaus 1977. Aus Platzgründen kann hier auf die biographischen Hintergründe der AutorInnen im Einzelnen nicht eingegangen werden; diese wären bei einer umfangreicheren Analyse freilich zu berücksichtigen. 32 Zu den Deutschen Christen vgl. Doris L. Bergen: Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich. Chapel Hill/London: University of North Carolina Press 1996, vor allem 61-81. 33 Zu Diehl vgl. ebd., 27, 136, 140. 34 Seidel 2006 (Anm. 7), 333. 35 Dibelius 1961 (Anm. 2), 173. Für den längeren Abschnitt, aus dem dieses Zitat stammt, vgl. die Einleitung dieses Aufsatzes.
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ten‹«.36 An anderer Stelle bedauert er, dass es »den leitenden Vertretern der Bekennenden Kirche an jeder Kampferfahrung fehlte«.37 Hermann Diem (19001975), der während des Kirchenkampfs dem radikalen Dahlemer Flügel der Bekennenden Kirche angehörte, sprach von einem »Zweifrontenkrieg mit Partei und Kirchenleitung«,38 den er täglich zu führen hatte oder auch von einem »Kleinkrieg mit dem deutschen Kommiß«39. Otto Dibelius sah die Notwendigkeit, den Gemeinden zu zeigen, dass »der Kampf ernst ist und daß es um alles geht«.40 Besonders deutlich werden Anleihen an einen Gesinnungsmilitarismus – zumindest auf der sprachlichen Ebene – bei jenen Theologen, die selbst als Soldaten den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Dies zeigt sich etwa bei Wilhelm Niemöller (1898-1983), der als Offizier zwischen 1942 und 1944 an der Ostfront eingesetzt worden und im Übrigen seit 1923 Mitglied der NSDAP gewesen ist. Nach 1945 wurde Niemöller zu dem Historiker des Kirchenkampfs.41 Erstaunlich ist die Bemerkung, dass zu seinen Vorgesetzten »redliche, tüchtige, lautere und fromme Männer«42 zählten. Etwas nüchterner als der zum starken Pathos und zur Verklärung neigende Niemöller berichtet Heinz-Dietrich Wendland (1900-1992) von seinem Dienst als Marinekriegspfarrer: »Es gehörten unvorstellbar viel Mut, Kraft und Zuversicht dazu, um nicht zu verzagen […].«43 Das Motiv des Mutes ist weit verbreitet, sollte aber nicht direkt als eine rein soldatische Tugend verstanden werden. Für Wendland scheint die Kameradschaft ganz ähnlich wie für Niemöller einen zentralen Topos darzustellen. So habe er in dieser Hinsicht in der Zeit seiner russischen Kriegsgefangenschaft »fast nur gute Erfahrungen gemacht«.44 Eine Variation dieser Idee findet sich bei Wolfgang Trillhaas: »Hier in den Luftschutzkellern konstituierte sich nun die vielberufene
36 Lilje 1973 (Anm. 31), 127. 37 Ebd., 137. 38 Diem 1974 (Anm. 31), 124. 39 Ebd., 135. 40 Dibelius 1961 (Anm. 2), 185. 41 Vgl. Robert P. Ericksen: Wilhelm Niemöller and the Historiography of the Kirchenkampf. In: Manfred Gailus (Hg.): Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870-1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 433-452 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 214). 42 Niemöller 1961 (Anm. 31), 265. 43 Wendland 1977 (Anm. 31), 159. 44 Ebd., 171.
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Volksgemeinschaft von einem Alarm zum anderen.«45 Und auch Propst Heinrich Grüber berichtet ausführlich von den guten »kameradschaftlichen Beziehungen«, die er im Konzentrationslager geführt habe.46 Aus der Feder von Trillhaas stammt auch der Bericht über ein »Wehrsportlager für Privatdozenten«, welches im März 1934 stattgefunden habe. Durch den »heiter-rüden Ton« des SA-Führers »verwandelte sich die Gesellschaft [der dort versammelten Privatdozenten, B. B.] in einen Haufen verspäteter Rekruten«.47 Das Dritte Reich sei einem »nun auf den Leib gerückt«.48 Eine wichtige Rolle habe hierbei der auf »Wehrhaftigkeit« angelegte Sport eingenommen.49 Auf einer Dozentenakademie, die mit einem ähnlichen Teilnehmerkreis einige Zeit später stattfand, sei man von früh bis spät eingespannt gewesen, »auch die sehr ›fröhlichen‹ und männlichen Ausbrüche kameradschaftlichen Lebens entbehrten jeder Harmlosigkeit; man lernte, sich unbefangen zu geben, ohne die Selbstkontrolle auch nur einen Augenblick aussetzen zu lassen.«50
Solcherlei Beispiele ließen sich leicht vermehren.51 Kameradschaft und Soldatentum können als typische Formen von Männlichkeitsdiskursen angesehen werden, mithin auch als häufig wiederkehrende Topoi.52 Auffällig, aber womöglich auch zeittypisch ist die verhältnismäßig seltene Thematisierung von Frauen in den Autobiographien. Wichtig scheinen aber die Ehefrauen zu sein. So übernahm Diems Frau Annelise dessen Pfarrstelle in der Zeit seines Militärdienstes und der sich anschließenden Kriegsgefangenschaft. Nach einer seiner ersten Predigten meinte ein Kirchengemeinderat, »ich solle lieber meine Frau wieder predigen lassen, die könne es besser. Es war also nicht
45 Trillhaas 1976 (Anm. 31), 187. Zur Thematik vgl. Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2006. 46 Vgl. Grüber 1968 (Anm. 31), 162-163. 47 Trillhaas 1976 (Anm. 31), 162. 48 Ebd., 163. 49 Vgl. ebd. 50 Ebd., 167. 51 Hermann Diem erinnert sich etwa, dass, nachdem das »Dritte Reich« seine Schatten immer stärker voraus warf, er den Stier bei den Hörnern gefasst habe: Diem 1974 (Anm. 31), 30. 52 Vgl. Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten. Frankfurt a. M./New York: Campus 2008, 112-136 (Historische Einführungen 5).
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gerade eine triumphale Rückkehr, sondern der Situation angemessen.«53 Andere Autoren berichten vor allem vom Einsatz ihrer Frauen für ihre Freilassung.54 Niemöller berichtet von »deutschen Frauen, die es nicht aufgaben, die Betttücher als weiße Fahnen aus ihren Wohnungen herauszuhängen«.55 Hierin sieht er widerständiges Verhalten gegen den Befehl Hitlers, bis zur völligen Vernichtung weiter zu kämpfen. An anderer Stelle erzählt er die Geschichte einer »uralten Frau aus Südrußland«, bei der er sich einquartieren konnte, deren »sauberes und schönes Häuschen« er aus Dankbarkeit im Anschluss vor dem Zugriff der SS bewahrte.56 Lilje fügt seinen Memorabilia unter anderem auch eine Art Biogramm von Magdalene von Tiling bei.57 Diese sei eine »kluge Frau« mit einem »sichern Gespür für das theologisch Wertvolle« gewesen, »wenngleich ihr Urteil von Einseitigkeiten nicht frei war«.58 Als Schülerin Gogartens habe sie 1933 dessen große Stunde kommen sehen. »Sie veranlaßte mich infolgedessen mit der ihr eigenen, souveränen und nicht viel Widerspruch ertragenden, wenn auch immer freundlichen Art, eine Verbindung mit der Kirchenleitung herzustellen.«59 Hier liegt eine sehr seltene Charakterskizze über eine Theologin von einem Theologen vor, die durchaus ausgewogen zu sein scheint. Wie Doris L. Bergen überzeugend rekonstruiert hat, wurde Guida Diehl (18681961) schon nach kurzer Zeit von den Deutschen Christen marginalisiert und spielte entgegen ihrer Hoffnung keine große Rolle in der »Glaubensbewegung« nach 1933. Noch nach dem Krieg stießen sich altgediente Deutsche Christen an dem Titel ihrer Autobiographie Christ sein heißt Kämpfer sein.60 Immer wieder akzentuiert Diehl ihren Mut, die Wahrheit zu sagen und ihren Willen, zwischen 53 Diem 1974 (Anm. 31), 144. 54 Vgl. Grüber 1968 (Anm. 31), 197: »[…] ich schreibe die Entlassung in erster Linie meiner Frau zu. Sie kämpfte von der ersten Stunde meiner Haft an um meine Freilassung und scheute sich auch nicht, alle nur denkbaren SS-Stellen aufzusuchen, auch Adolf Eichmann.« 55 Niemöller 1961 (Anm. 31), 271. 56 Ebd., 272. 57 Zu von Tiling vgl. Gury Schneider-Ludorff: Magdalene von Tiling. Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen. Ein Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, 35). 58 Lilje 1973 (Anm. 31), 131. 59 Ebd. 60 Bergen 1996 (Anm. 32), 136: » resumably, the men concerned found Diehl’s image of herself as a fighter too strident for a woman in the manly church.«
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zerstrittenen Parteien im Kirchenkampf zu vermitteln. 61 Sie habe einen »offenen Kampf gegen den antichristlichen Geist«62 der NSDAP gefochten. Besonders intensiv habe sie einen Befehl Himmlers bekämpft, in dem dieser die Mitglieder der SS angewiesen habe, sich in Deutschland fortzupflanzen. Der Befehl, wie ihn Diehl zitiert, mündet in dem Satz: »Ein Mädchen, das sich weigert, ist ebenso schlimm wie ein Kriegsverweigerer.«63 Noch viele Jahre später wird die Empörung deutlich, die dieser Erlass bei Diehl ausgelöst haben muss: »Durfte nun wirklich die deutsche Frau diese fast unglaubliche Zersetzung jedes gesunden Instinkts hinnehmen? War in Deutschland kein germanisches Ehrgefühl im weiblichen Geschlecht mehr, kein christliches Gewissen, das sich aufbäumte gegen solche Unnatur, die zu immer weiterer Volksverderbnis führen mußte?«64
Nach einem Artikel, den Diehl in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Neuland unter dem Titel Die Unverbrüchlichkeit der Gottesgesetze publiziert hatte, verbot die Gestapo das Blatt. Diehl schilderte in farbigen Worten ihren Protest gegen das Verbot und ihre Bemühungen, Hitler, Himmler und auch Göring für ihre Sache zu gewinnen. Am Ende stand aber eine große Ernüchterung, zumal sie wenig später auch aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde. Ihren eigenen Auftrag verstand sie im Anschluss an Johann Hinrich Wichern (1808-1881) als auf die Öffentlichkeit ausgerichtet: »Sein [gemeint ist Wichern, B. B.] Gedanke einer ›Öffentlichen Mission‹ wies darauf hin, daß der Christ im öffentlichen Leben nicht alles laufen lassen darf, wie es läuft, sondern dort ein Kämpfer Christi werden muß. Es ist eine schwere, aber auch große Aufgabe, und sie muß bei uns Frauen ergänzt werden durch den Dienst in mütterlicher Liebe im einzelnen und im kleinen.«65
Diehl nimmt in ihrer Rhetorik das männlich konnotierte Kämpfertum also für sich selbst in Anspruch und ergänzt es um die Mutterrolle. Zuletzt macht sie deutlich, dass sie ihren »Lebenskampf« geschildert habe, »wegen der großen Aufgabe, die uns Deutschen jetzt [1959] aufgetragen ist«.66 Insgesamt bleibt Diehl in ihrer Autobiographie stark ihrem sprachlichen Duktus von vor 1945 61 Vgl. Diehl 1959 (Anm. 31), 244. 62 Ebd., 256. 63 Zitiert ebd., 258. 64 Ebd., 259. 65 Ebd., 274-275. 66 Ebd., 275.
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verhaftet und neigt auch zu beschönigenden Darstellungen des Nationalsozialismus und der Deutschen Christen. Sie ist demnach ein hervorragendes Beispiel, wie ein eher dem Männlichen zugeordnetes Konzept wie das des Kämpfers von einer Frau in Anspruch genommen und für die eigene Selbstdarstellung instrumentalisiert wird. Seidel weist darauf hin, dass die Religiösen Sozialisten um Emil Fuchs (18741971) sich dem »Gesinnungsmilitarismus« fast gar nicht gewidmet hätten.67 Dies lässt sich bei Betrachtung der Autobiographie von Fuchs einigermaßen bestätigen. So kommentiert Fuchs die Hausdurchsuchung der Polizei im Jahr 1933, dass es zwischen ihm und seinen Kindern selbstverständlich gewesen sei, »daß wir nur mit geistigen Waffen fochten und es in unserem Hause materielle Waffen nicht gab«.68 Eine ganz ähnliche Äußerung findet sich in der Autobiographie von Günther Dehn (1882-1970), einem weiteren Religiösen Sozialisten. Es habe eine Weile gedauert, bis man erkannt habe, »daß die Kirche gegen den herrschenden Staat des Unrechtes […] werde käm fen müssen, wenn auch nur mit der Waffe, die der Kirche allein gegeben ist, nämlich mit dem Wort«.69 Die Religiösen Sozialisten stellen insofern auch in der Art und Weise ihrer autobiographischen Reflexion eine Ausnahme dar.
ARBEITSERGEBNISSE
UND
F ORSCHUNGSIMPLIKATIONEN
Geschlechterwissen spielt in den autobiographischen Texten derer, die nach 1945 über ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und den Kirchenkampf im Besonderen reflektierten, eine wichtige Rolle, die durch die Methode der Dekonstruktion sichtbar gemacht werden kann. Eine Geschlechterordnung wird in den untersuchten Autobiographien insofern repräsentiert, als die überkommenen Geschlechterrollen unausgesprochen und unhinterfragt bestehen bleiben, mit der Ausnahme der Äußerungen von Guida Diehl. Die tragende Rolle der Männer und mehr oder weniger starke patriarchalische Vorstellungen hinsichtlich der Rollen von Männern und Frauen werden nur dann durchbrochen, wenn die Frauen in besonderer Weise den Männern eine Hilfe und Unterstützung waren.
67 Vgl. Seidel 2006 (Anm. 7), 334. 68 Fuchs 1959 (Anm. 31), 221. Die Polizei hatte Fuchsʼ Aussagen zufolge nämlich vor allem nach Waffen gesucht. 69 Dehn 1962 (Anm. 31), 295.
G ESCHLECHTERORDNUNG
IM
K IRCHENKAMPF
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Dies liegt an den deutlichen Spuren des »Gesinnungsmilitarismus«, die in diesem Aufsatz aufgezeigt werden konnten. Kämpferische Rhetorik, Kameradschaft, Mut und Tapferkeit sind in den Texten nämlich geradezu omnipräsent. Auch wenn diese Phänomene keine per se untypischen Ausdrucksformen darstellen, sind die Männlichkeitsvorstellungen in der autobiographischen Reflexion wohl noch nicht durch die »sexuelle Revolution« und andere Entwicklungen der »langen 1960er Jahre« überformt worden. Darum wäre es in dieser Hinsicht spannend, die nachfolgende Generation von Theologen, die maßgeblich in dieser Zeit sozialisiert wurden, mit in eine Analyse einzubeziehen. Freilich wären diese Vorstellungen noch genauer mit den explizit religiös geprägten Männlichkeitsvorstellungen zu kontrastieren – etwa im Blick auf die christliche Sexualethik der Zeit – beziehungsweise in eine allgemeinhistorische Geschichte der Männlichkeiten einzubetten. Potenzial mag ferner auch noch der Faktor »Familie« besitzen, worauf etwa die Äußerung Wolfgang Trillhaasʼ verweist, wenn er konstatiert, dass es nur zwei Gegenkräfte zum Nationalsozialismus gegeben habe: »die Familie und die Kirche«.70 Ein geschlechterhistorischer Zugang bietet eine Fülle von neuen Erkenntnismöglichkeiten für die Erforschung der Kirchen im »Dritten Reich«.71 Die zahlreichen autobiographischen Schriften diskursanalytisch auf die sich in ihnen abbildende Geschlechterordnung hin zu untersuchen, ist eine Möglichkeit, Forschungslücken zu schließen.
70 Trillhaas 1976 (Anm. 31), 179. 71 Vgl. Olaf Blaschke: »Wenn irgendeine Geschichtszeit, so ist die unsere eine Männerzeit.« Konfessionsgeschichtliche Zuschreibungen im Nationalsozialismus. In: Manfred Gailus/Armin Nolzen (Hg.): Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 34-65. Vgl. als anregendes Beispiel für eine geschlechtergeschichtliche Untersuchung der Katholischen Kirche Nina Kogler: GeschlecherGeschichte der Katholischen Aktion im Austrofaschismus. Diskurse, Strukturen, Relationen. Wien: LIT 2014.
Archiv, Stasi-Akten und Geschlechterwissen in Susanne Schädlichs Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich Selbstnarration als Sichtbarwerden M YRIAM N AUMANN
V ORBEMERKUNG Das Wissen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (MfS) gilt in der Gegenwart, wie das von anderen Geheimdiensten auch, als verdächtig und anrüchig. Ein Wissen, das im Zusammenhang mit den Geheimnissen staatlichen Handelns und der verborgenen Seite der Macht gewonnen wird, der arcana imperii, widerspricht dem Öffentlichkeitsprinzip in Demokratien.1 Das geheimdienstliche Wissen ist auch ein Wissen über den ›Feind‹, das nicht zuletzt in die Überwachung der ›eigenen‹ Bevölkerung mündete. Bei der Gewinnung geheimdienstlichen Wissens sind schließlich Hinterlist, Verrat und Täuschung im Spiel, worüber weder eine akademische Rationalität hinwegtäuschen kann, wie sie an der Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche ausgebildet wurde, noch eine ministeriale Verwaltung.2 Mit einem Zentrum in Berlin, 14 Bezirksverwaltungen und 1
Vgl. Michael Stolleis: Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1980, 5.
2
Vgl. Eva Horn: Das Wissen vom Feind – Erkenntnis und Blindheit von Geheimdiensten. In: Wolbert K. Smidt/Ulrike Poppe/Wolfgang Krieger/Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich. Berlin: LIT 2007, 257-277, hier: 258.
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217 Kreisdienststellen hat das MfS den Raum der DDR strategisch besetzt und versucht, Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Dieses geheimdienstliche Wissen zirkuliert seit 1989 in der Öffentlichkeit. Nach beinahe 40-jähriger Existenz hat das MfS 1989 nach aktuellen Vermessungen insgesamt 111 laufende Kilometer Schriftgut hinterlassen, inklusive 40 Millionen Karteikarten sowie 1,7 Millionen Fotodokumente, 30.000 Tonband- und Filmaufzeichnungen, 47 Datenbanken und 15.000 Säcke und Behältnisse mit zerrissenen Unterlagen.3 Die Behörde der/des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) stellt seit dem 2. Januar 1992 all jenen Archivalien zur Verfügung, die zu Objekten geheimdienstlicher Schriftführung wurden. Bisher haben 1,9 Millionen Personen Akteneinsicht genommen, viele davon auch wiederholte Male.4 Vor allem in den 1990er Jahren ist eine Vielzahl aktenbasierter autobiographischer Schriften entstanden, worin die Staatssicherheit erzähltes Thema ist und die MfS-Akten als Zitate, Collagen und Faksimiles mit den Lebensnarrativen kurzgeschaltet werden. Mit der Autobiographie Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich5 der Autorin und Übersetzerin Susanne Schädlich (geb. 1965) liegt seit 2009 eine Selbstnarration vor, die von einer Tochter formuliert wird, deren Vater, der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich (geb. 1935), zielgerichtet von der Staatssicherheit und im Besonderen durch seinen Bruder Karlheinz Schädlich ausgespäht wurde. Auch diese Autobiographie wird entlang von MfSArchivalien geschrieben – jedoch betreffen sie hier nicht direkt die eigene Person. Durch die Präsenz der Staatssicherheit im Leben der Eltern, primär des Vaters, wird auch das autobiographische Ich/›Susanne Schädlich‹ mit der Staatssicherheit konfrontiert und sieht sich als eine »Beteiligte« (IwD 96). So wird mit dem Einbringen der Perspektive einer Tochter in den Diskurs der autobiographischen Aneignung von MfS-Archivalien zugleich die Geschichte der Familie erzählt. Geschlechterwissen, das vor allem in Form des ›männlich‹ codierten Wissens der Staatssicherheit von Relevanz ist, ist bei der Selbstmodellierung des Ichs weitaus weniger tragend als die Differenzkategorie ›Ost-West‹.
3
Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: Elfter Tätigkeitsbericht. Berlin: BStU 2013, 13.
4 5
Ebd., 7. Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich. München: Knaur 2010 (Erstausgabe 2009), im Folgenden mit der Sigle »IwD« abgekürzt.
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ARCHIVZUGANG UND LITERARISCHES P ROGRAMM VON I MMER WIEDER D EZEMBER Dem Archiv als solchem wird spätestens mit den 1990er Jahren attestiert, ein gesellschaftlich relevantes Thema geworden zu sein 6 und neues Wissen zu generieren. Dies wird unter anderem auch mit der »Wende im Osten« erklärt, indem mit der Öffnung der Geheimdienstarchive ein »neues Bild der Vergangenheit zum Vorschein«7 gekommen sei. In der ehemaligen DDR war damit ein Wille zum Wissen der Bürger/innen verbunden, der sich bereits mit den Forderungen »Freiheit für meine Akte« oder »Sicherheit für unsere Akten« auf Demonstrationen ab dem Spätjahr 1989 zeigte und den Cornelia Vismann als ein »Novum in der Tradition der Behördenbesetzungen, Archivplünderungen und Aktenvernichtungen«8 eingeordnet hat. Dieser Wille wird dann abermals mit den zirka 200.000 Anträgen auf Akteneinsicht markiert, die in der Behörde der/des BStU in den ersten drei Monaten nach der Eröffnung im Januar 1992 gestellt wurden.9 Auch der Vater des Ichs, der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, war im Januar 1992 dort: »Am 21. Januar um 9.00 Uhr hatte der Vater als einer der ersten in der damaligen Gauck-Behörde seine Akten eingesehen«, heißt es in Immer wieder Dezember (IwD 227). Er wurde zum Gegenstand geheimdienstlicher Schriftführung, als er Mitte der 1970er Jahre an privaten und geheim gehaltenen gemeinsamen Lesungen von Autor/inn/en aus der BRD und der DDR teilnahm, im Dezember 1976 die Petition gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnete, eine Freundschaft zum Schriftsteller Uwe Johnson pflegte und schließlich 1977 den Prosaband Versuchte Nähe im Westen veröffentlichte. Im Dezember 1977 reiste er mit Frau und Töchtern gezwungenermaßen freiwillig in die BRD aus, wobei sein Sohn aus einer vorherigen Beziehung bei dessen Mutter in der DDR blieb.
6
Vgl. Wolfgang Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive (am Ende des 20. Jahrhunderts). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, 20.
7
Ulrich Raulff: Archive und Öffentlichkeit – aus der Perspektive der Wissenschaft, des Feuilletons und eines Literaturarchivs. In: Verband der deutschen Archivarinnen und Archivare e. V. (Hg.): Archive und Öffentlichkeit. 76. Deutscher Archivtag 2006 in Essen. O. A. 2007, 15-24, hier: 15-16.
8
Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001, 307.
9
Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: Erster Tätigkeitsbericht. Berlin 1993, 8.
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Mit dem Vater wird die Staatssicherheit zum Thema in der Familie Schädlich, zudem wird mit der Akteneinsicht der Onkel des Ichs als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit entlarvt. Nach der Akteneinsicht informiert die Mutter ihre Tochter: »Euer Onkel, der Bruder deines Vaters, mein Schwager hat uns jahrelang ausspioniert. Sein Deckname war IM ›Schäfer‹.« (IwD 7) Er, der Onkel, ist in Immer wieder Dezember die Personifikation des Verrats, der Hinterlist und der Doppelgesichtigkeit. Im Jahr 2007 tötet er sich selbst: »Ein Schuss in den Mund, nicht weit von meiner Wohnung, in einem kleinen ark […] mitten in Berlin. Ein Mann tot auf einer Bank: Karlheinz Schädlich, der Bruder meines Vaters, unser Onkel.« (IwD 7) Die Selbsttötung wird zum Auslöser der Autobiographie und führt das Ich umgehend ins Archiv der »Bundesbehörde für die Stasiunterlagen« (IwD 237) und ins »Archiv des Vaters und der Mutter« (IwD 240). Es findet eine Aneignung des Operativen Vorgangs »Schädling« statt, der zum Vater, dem Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, von 1976 bis 1984 geführt wurde, und der IM-Akte »Schäfer«, die zum Onkel, dem Historiker Karlheinz Schädlich, von 1975 bis zum Dezember 1989 angelegt wurde. Darüber hinaus werden auch Telefonprotokolle aus IM-Vorgängen, Kader- und Schulungsakten der Hauptamtlichen Mitarbeiter und Archivalien der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe der Staatssicherheit eingesehen (vgl. IwD 240) und durch diverse alte Briefe sowie zahlreiche Gespräche mit der Familie, mit Freund/inn/en und mit Bekannten erweitert. Daraus ergibt sich das Verfahren der Autobiographie: die Akten zu lesen, die »Erinnerung in eine Chronologie« zu überführen, »damit sie ein Ganzes ergeben und nicht nur Bruchstücke bleiben« (IwD 11). Das Programm von Immer wieder Dezember liest sich dann folgendermaßen: »Dieser Tod macht nichts ungeschehen. Deshalb werde ich darüber schreiben, weil alles miteinander zusammenhängt, weil ich draußen war und wieder hineingezogen werde. Dabei geht es mir gar nicht darum, etwas richtigzustellen, obwohl das eine oder andere richtiggestellt werden wird. Es geht mir auch nicht um Abrechnung, obgleich es sicher guttäte. Es geht auch nicht nur um die Sache mit dem Onkel. Es geht um Himmelsrichtungen zum Beispiel. Um das Wort WO. Wie auf einem Kompass. Wo gehöre ich hin, wo komme ich her? Darum, wie es ist, wenn man keine Wahl hat. Wie es für die war, die mitgingen mit dem Vater, oder für die, die blieben.« (IwD 9-10)
Das autobiographische Ich alias ›Susanne Schädlich‹ spannt die Identität zwischen beschreibendem Subjekt und beschriebenem Objekt auf10 und macht dabei
10 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart: J. B. Metzler 22005, 1.
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den eigenen Namen »so verstehbar und erinnerbar […] wie ein Gesicht«.11 Paul de Man hat diese autobiographische Praxis, bei der es »um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierungen und Demaskierungen, Figur, Figuration und Defiguration«12 geht, als »Prosopopöie« gekennzeichnet. Sie konstituiert »das Subjekt der Rede (erst) […], das nachträglich (immer schon) gegeben zu sein scheint, und insofern ist sie andererseits eine Figur, die ihr Funktionieren gleichzeitig durch diesen ihren Effekt auch schon wieder verstellt«.13 In der Prosopopöie von Susanne Schädlich wird ein Lebensnarrativ entwickelt, das mit der Präsenz des MfS im eigenen Leben Mitte der 1970er Jahre einsetzt und bis in die jüngste Gegenwart reicht. Zentrale Themen in Immer wieder Dezember sind die »Sache mit dem Onkel« und der damit verbundene Verrat und Vertrauensmissbrauch sowie die Beantwortung der Fragen »[w]o gehöre ich hin, wo komme ich her?«, die für lange Zeit und immer wieder durch die Entscheidungen des Vaters bzw. der Eltern bestimmt ist und in der formelhaften Rede aufgeht, dass das Ich und die jüngere Schwester »keine Wahl« (IwD 18, 103, 179) hatten, selbst zu bestimmen. Vielfältig waren die Gründe, Immer wieder Dezember zu verfassen. Sie lassen sich zurückführen auf den Wunsch nach »Reinigung« (»Durch Wissen reinigen. Den Schmutz loswerden, die Sache nicht begraben, auch wenn der Onkel begraben ist.« IwD 145), auf den Wunsch nach gesellschaftlicher Beteiligung (»Das sind alles Geschichten, die erzählt werden müssen. Damit man beteiligt bleibt. Damit der Schlußstrich nicht gezogen wird. Aufgebracht zu sein ist nicht der schlechteste Weg.« IwD 98-99) und nach Wirkung in die Zukunft (»Dann denke ich an meine Kinder. Ich schreibe auch für sie.« IwD 101). Das making und keeping visible der Aktualität des Vergangenen beruft sich in Immer wieder Dezember, wie in den anderen Autobiographien auf vergleichbarer Aktenbasis auch, auf die Auseinandersetzung mit der Überwachung durch die Staatssicherheit und ihre Infiltrierung von Familien, Freundes- und Bekanntenkreisen – nicht explizit auf Geschlechterwissen. Dennoch ist es in der Modellierung der Staats-
11 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, 131-146, hier: 140. 12 Ebd. 13 Bettine Menke: Verstellt – der Ort der ›Frau‹. Ein Nachwort. In: Barbara Vinken (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 436-476, hier: 437.
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sicherheit nicht nur in Immer wieder Dezember als »Alltags- und Erfahrungswissen […] fraglos, ohne Auslegung«14 präsent.
S TAATSSICHERHEIT UND H ERRSCHAFTSWISSEN
MÄNNLICH CODIERTES
Die Staatssicherheit war neben Polizei und Armee eines der ›bewaffneten Organe‹ der ehemaligen DDR. In einer streng militärischen Ordnung vom Soldaten über den Unteroffizier bis zum General waren alle Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit klassifiziert. Dieses festangestellte Personal, im Jahr 1989 waren es neben 173.000 Inoffiziellen Mitarbeiter/inne/n 91.015 Angestellte,15 musste bei Dienstantritt das Ritual eines Fahneneids vollziehen, der militärischen Disziplin Folge leisten und Waffen tragen. In Immer wieder Dezember ist die Staatssicherheit dann auch in eine Rhetorik des Kampfes, der Schlacht und der kriegerischen Auseinandersetzung eingebunden: »Die Schlinge zog sich zu«, heißt es, als sich die Situation der Familie Schädlich im Jahr 1977 zuspitzt (IwD 31), oder, wenn die Zollbeamten, die auch mit dem MfS zusammenarbeiteten (vgl. IwD 20), die Auflösung der Wohnung vor der Ausreise überwachen: »Sie durchkämmten die Zimmer, als bewegten sie sich auf feindlichem Gebiet« (IwD 19), oder, wenn durch das Aktenwissen erkennbar wird, dass die Familie Schädlich unwissentlich einen Plan der Staatssicherheit zum Scheitern brachte: »Die Schlacht hatten wir gewonnen, ohne es zu wissen.« (IwD 158) Und, als das MfS den Vorgang »Schädling« schließt, heißt es: »Mission erfüllt. Die Familie zerschlagen. Eltern unschädlich gemacht.« (IwD 183) Die Staatssicherheit und ihr Herrschaftswissen sind in Immer wieder Dezember männlich codiert. Jeff Hearn hat insistiert, »that it is an understatement to say that men, militarism, and the military are historically, profoundly, and blatantly interconnected«.16 Die Analyse des Zusammenhangs von Militär und DDR-Staatssicherheit ist ein Forschungsdesiderat, gleichwohl ist das geheim-
14 Irene Dölling: ›Geschlechter-Wissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23 (2005) 1-2, 44-62, hier: 51. 15 Jens Gieseke: Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990. Stuttgart/ München: DVA 2001, 70 u. 113. 16 Jeff Hearn: Foreword: On Men, Women, Militarism, and the Military. In: Paul R. Higate (Hg.): Military Masculinities. Identity and the State. Westport, CT/London: Praeger 2003, XI–XV, hier: XI.
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dienstliche Wissen auf kriegerisches Wissen zurückzuführen bzw. durch dieses bestimmt.17 Andrew Bickford hat für den Zeitraum von 1978 bis 1990 herausgearbeitet, dass »[t]he vector of militarization and the family played a key role in shaping male identity in the German Democratic Republic«.18 Die Familie wurde staatlich organisiert und über Institutionen wie die Nationale Volksarmee (NVA) die Wehrerziehung nach Wehrdienstgesetz mit dem sechsten Lebensjahr etabliert. Ziel der Sozialistischen Einheitspartei (SED) war die Modellierung von »Socialist Military Personalities«19, der ein Freund-Feind-Bild zugrunde lag. Sie konstituierten sich durch Fähigkeiten wie »to perform com licated tasks, o erate certain ty es of wea ons, and […] kill at a distance«, aber auch durch Eigenschaften wie »courage and self-sacrifice«.20 Major Kurt Salatzki, der »Führungsoffizier des Onkels« (IwD 136), in Immer wieder Dezember als äußerst einflussreich dargestellt, wird durch die Tätigkeiten beim MfS zu einer solchen »sozialistischen militärischen Persönlichkeit« geformt. Mit einem vergleichenden Blick des Ichs auf zwei Fotos von Major Salatzki wird er zunächst mit »weiche[m] Mund« als »nicht unattraktiv« (IwD 136) charakterisiert. Zur offensichtlichen Wahrnehmbarkeit zählt auch seine »Intelligenz«: »Ein intelligenter Mann. Das sieht man.« (ebd.) Er ist durch das MfS formbar, denn das Foto, das Jahrzehnte später aufgenommen wurde, zeigt ihn anders: Jetzt blickt er »[a]ngsteinflößend, bedrohlich«, hat eine »schnörkellose, steile Karriere vom Feldwebel bis zum Major« hinter sich und auch Orden erhalten (ebd.). Er zeichnet sich »durch unbedingten Willen zur ständigen Leistungssteigerung, Anpassungsfähigkeit und Geschick im Umgang mit den Genossen« aus und fungiert im »Kollektiv des Referats als Vorbild« (ebd., Akte). Nicht zuletzt macht er auch »von seiner Schusswaffe Gebrauch« (IwD 137). Die Figur Kurt Salatzki zeigt eine Entwicklung von einer effeminierten zu einer militärischen Männlichkeit. Frauen waren laut Andrew Bickford von den meisten Bereichen des Militärs ausgeschlossen,21 sie hatten jedoch als Ehefrauen, Freundinnen und Töchter unterstützende Funktionen für den Eintritt und Verbleib der Männer beim Militär zu übernehmen.22 Belinda Cooper hat für die Staatssicherheit skizziert, dass Frauen als Hauptamtliche Mitarbeiterinnen weniger operative Tätigkeiten voll17 Vgl. Horn 2007 (Anm. 2), 260. 18 Andrew Bickford: The Militarization of Masculinity in the Former German Democratic Republic. In: Paul R. Higate 2003 (Anm. 16), 157-173, hier: 166. 19 Ebd., 159. 20 Ebd., 163. 21 Ebd. 22 Vgl. ebd., 164.
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zogen, als vielmehr »secretaries, day-care workers, and cooks«23 waren. In Immer wieder Dezember erscheint »IM ›Sonja‹, mit Klarnamen Hannelore Hösch« (IwD 25) als eine der wenigen weiblich ausgewiesenen Figuren, die ab 1953 »mit dem MfS zusammenarbeitete« (IwD 25) und die Familie Schädlich observierte.24 Mit dem blinden Fleck des Ichs betreffend Geschlechterwissen werden ihr besondere Sorgfalt und Fleiß nachgesagt, sie wird als »stets gewissenhaft« (IwD 25) charakterisiert. Darüber hinaus werden ihre Ausführungen der operativen Tätigkeiten hervorgehoben, denn sie »führte […] eigenständig Ermittlungen durch, machte sogar Lagepläne, Skizzen von Wohnungen, Nebenstraßen und Nachbarhäusern, stellte geeignete Beobachtungspunkte fest« (IwD 25). Durch die Betonung ihrer »Eigenständigkeit« und der Verwunderung, dass sie »sogar« Daten zur Ausspähung generierte, wird das ›Weibliche‹ als das Besondere im MfS markiert und das MfS umso deutlicher als ›männlich‹ gesetzt. Frauen beim MfS sind in Immer wieder Dezember diejenigen, die nach Raewynn (vormals Bob bzw. Robert W.) Connell durch eine »patriarchale Dividende«25, also den allgemeinen Vorteil der Männer aus der Unterdrückung der Frauen (und marginalisierter Männer), zu bestimmen sind. IM »Sonja« profitierte finanziell von der Staatssicherheit, indem sie z.B. »ab 1977 unter anderem für die Beurteilung von Manuskripten monatlich 500 Mark« (IwD 25) erhielt. Die regelmäßige Zahlung von 500 Mark weist bereits darauf hin, dass IM »Sonja« kontinuierlich für die Staatssicherheit tätig war. IM »Sonja«/Hannelore Hösch war in der Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund«) zwischen 1978 und 1985 als hauptamtliche IME tätig,26 also als eine inoffizielle Mitarbeiterin »im besonderen Einsatz«, die als »Experten-IM« speziell für das Verfassen von Gutachten und Beurteilungen zuständig war. 27 Über die Bezahlung der IM liegen 23 Belinda Cooper: Patriarchy with a Patriarchy: Women and the Stasi. In: German Politics and Society 16 (1998) 2, 1-31, hier: 3. 24 In der Familie des Major Salatzki, der eine herausragende Rolle in Immer wieder Dezember spielt, werden seine Frau, Schwägerin und Schwiegertochter als hauptamtliche Mitarbeiterinnen beim MfS benannt, jedoch nicht weiter beschrieben. Sie werden ausschließlich über ihn eingeführt (vgl. IwD 137). 25 Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: Springer 1999, 100. 26 Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Ch. Links 1996, 162. 27 Helmut Müller-Enbergs: Die inoffiziellen Mitarbeiter. In: Die BStU (Hg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden. MfS-Handbuch. Berlin 2008, 19-20.
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bisher keine systematischen Untersuchungen vor, zumal auch offen bleibt, wie viele Gutachten IM »Sonja« für 500 Mark verfasst hat. Joachim Walther gibt beispielhaft an, dass Gutachten zu literarischen Texten mit 100 Mark oder 130 Mark honoriert wurden.28 Das durchschnittliche Arbeitseinkommen von Arbeiter/innen und Angestellten in Volkseigenen Betrieben betrug 1977 bei Vollzeitbeschäftigung 943 Mark im Monat.29 Während das Wissen zu IM »Sonja« erst durch die Akteneinsicht in Immer wieder Dezember generiert wird, verfügt das Ich bereits seit der Kindheit über persönliche Erfahrungen mit dem MfS. Wenn das Ich und seine Schwester am Abend allein zu Hause waren, tauchten die beiden MfS-Mitarbeiter auf, blieben vor der Pforte stehen, klingelten und blickten zum Fenster hinauf, hinter dem das Ich stand und zu ihnen hinunterblickte: »Ich hielt ihren Blicken in der Dunkelheit stand. Den Eltern sagte ich nichts. Mit den Männern in Trenchcoats wurde ich alleine fertig.« (IwD 13-14) Die Staatssicherheit, das sind zunächst die anonym bleibenden »Männer im Trenchcoat« (vgl. auch IwD 168), welche zeitweise auch vollkommen unsichtbar bleiben. Sie gehen im Kollektivsingular »die Stasi« auf (vgl. IwD 91) und hinterlassen bloß Spuren, sogar dann noch, als die Familie Schädlich schon im Westen wohnt: »Bücher am Boden im Wohnzimmer, Poster von der Wand und zusammengefaltet auf dem Bett. Vertauschte Manuskripte. [Unbekannter] Schlüssel auf dem Tisch. […] Sie brauchten sich nicht zu zeigen.« (IwD 95) In Immer wieder Dezember baut die Staatssicherheit einen Angstraum auf, der zu »Verunsicherung« (IwD 91) führt, zu »Misstrauen« und dem »Gefühl man wird beobachtet« (IwD 95). Schließlich wird das Ich sogar vom Onkel »ins Fadenkreuz der Staatssicherheit« (IwD 188) gelockt, als es nach dem Abitur in West-Berlin auf der Suche nach einer Schneiderinnen-Lehrstelle ist. Nach seinem Rat, einen Brief an den Oberbürgermeister von Ost-Berlin mit der Anfrage nach einem Ausbildungsplatz zu schreiben, landet der Brief beim MfS (vgl. IwD 186). Dieses lädt das Ich zu zwei Treffen in ein getarntes, unauffällig bleibendes Dienstgebäude ein (»wie ein Einfamilienhaus, unscheinbar in ruhiger Lage«, IwD 187) und bleibt dabei selbst unerkannt. Dort begegnet das Ich einem Pförtner, »der nicht nur Pförtner war« (IwD 187), und einem »Mann […], hochgewachsen, dunkles Haar« (IwD 187), der die Gespräche führt. Zwar kommt das Ich in einem Raum ins »[S]chwitzen«, dessen Tür keine Klinke hat und dessen Fenster vergittert sind 28 Vgl. Walther 1996 (Anm. 27), 593. 29 Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik. 23. Jg. Berlin: Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik 1978, 106.
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(vgl. IwD 187) – doch ein Verdacht wird im Vertrauen auf den Rat des Onkels nicht geschöpft. Themen sind nicht nur das Leben in West-Berlin, die mögliche Aufgabe der Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik, sondern auch die Eltern: »Jetzt hatte ich Angst. Ich wusste, der Mann war nicht freundlich«, schreibt das Ich (IwD 189). Doch erst das Gespräch mit der Mutter über ein kurz danach erfolgtes Einreiseverbot in die DDR und über die beiden Treffen in Berlin-Pankow sowie ein Treffen mit dem Verfassungsschutz der Bundesrepublik machen das MfS als Drahtzieher sichtbar (vgl. IwD 191, 193). Eine Beteiligung des Onkels wird nicht in Betracht gezogen. Doch wer ist Karlheinz Schädlich für das Ich? Bereits mit dem Decknamen Karlheinz Schädlich alias IM »Schäfer« klingt das Foucaultsche Pastoralprinzip als eine Form der Regierungspraxis an,30 das sich durch die Beschreibungen des Ichs noch verdichtet. Stetig Vertrauen schaffen, dauerhaft Ansprechpartner sein und dann das dabei gewonnene Wissen in die Kanäle der Staatssicherheit einspeisen ist modus operandi des IMs. Das Verfahren der Menschen(ver)führung von Karlheinz Schädlich/IM Schäfer und der Einsatz seiner Stimme werden in Immer wieder Dezember mit dem guten Hirten des Johannes-Evangeliums assoziiert (vgl. IwD 192). Auch dieser »Schäfer« ist ein Herdenführer, ihm gehorchen sie, seine »Stimme«, der das Ich und andere gefolgt sind, ist das Mittel der Machtausübung (vgl. IwD 169, 192). Der Onkel ist der »Wolf, der sich Schäfer nannte und sich als Hirte dachte« (IwD 192). Seine Kleidung, jene zu seinem Markenzeichen avancierten Harris-Tweed-Jackets, sind sein »Schafspelz« (IwD 9). Mit der Akteneinsicht wird für das Ich erkennbar, dass der Onkel »ein Dieb [war], er hat sich uns gestohlen« (IwD 232) und er »hat uns unser Vertrauen gestohlen« (IwD 232). Karlheinz Schädlich war wegen Zollvergehen und seinem Verhalten gegenüber der Volkspolizei zunächst selbst als »Operativer Vorgang ›Zersetzer‹« von der Staatssicherheit geführt worden (vgl. IwD 131-132 u. 146, Aktenzitat). Für die Denunziation einer Freundin, die einen Bekannten über Ungarn aus der DDR schleusen wollte, suchte er am 26. März 1974 die Staatssicherheit auf (vgl. IwD 132, Aktenzitat). Dies bildete den Auftakt einer Zusammenarbeit, die erst im Dezember 1989 wegen »Perspektivlosigkeit bei Umstrukturierung« gelöst wurde (IwD 195, Aktenzitat). Im Zuge seiner Kontaktaufnahme mit dem MfS belastete er Personen derart schwer, dass sie ins Gefängnis kamen (vgl. IwD 132 u. 150). Er hat z.B. (die Zusammenkünfte von) Autor/inne/n aus Ost- und Westdeutschland bespitzelt (IwD 60-61, 66), Oppositionelle in Ungarn und Polen ausgekund30 Vgl. z.B. Michel Foucault: Subjekt und Macht. In: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, 269-294, 277-278.
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schaftet (vgl. IwD 170-171) und war an der Zerschlagung der Familie Schädlich und dem Unschädlich-Machen der Eltern beteiligt (vgl. IwD 183). Im Jahr 1979 erhielt er für seine Leistungen beim MfS eine Verdienstmedaille der NVA in Bronze (vgl. IwD 151). Der Onkel ist als Verräter, als Doppelgesichtiger, als Spitzel die Störung sozialer Ordnung. »Er tat unbefleckt, aufrichtig, unschuldig« (IwD 127) und wollte »mitmischen […]. 007 der DDR, schöne Frauen und das süße Leben« (IwD 133). Er war, anders als die Berliner Zeitung getitelt hatte, für das Ich »kein ›Gentleman IM‹, kein Opfer des politischen Systems«, sondern »ein Täter, ein politisch überzeugter Täter« (IwD 145). Er war nicht irgendein Onkel, sondern jemand, der »voller Geschichten war und sich Zeit nahm und zuhörte, der ein offenes Ohr hatte, für uns. Und für viele andere« (IwD 7). Er war zeitweise sein »bester Freund« (IwD 179) und sogar »wie ein zweiter Vater« (IwD 100). Ihn hatte das Ich »geliebt […], all die Jahre« (IwD 100). Nach seiner Entlarvung im Januar 1992 hatte das Ich nicht mehr mit ihm gesprochen (IwD 232). Der Onkel wurde zum Gespenst, das mit Immer wieder Dezember verscheucht werden sollte, denn er »soll unser Dämon nicht mehr sein« (IwD 129).
O ST -W EST
ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE
K ATEGORIE
Bereits im Jahr 1994 hat Margarete Jäger darauf hingewiesen, dass »es nicht allein Dominanzen zwischen Männern und Frauen gibt, sondern auch zwischen verschiedenen Schichten, zwischen Generationen, zwischen Kranken und Gesunden sowie zwischen Angehörigen verschiedener Herkunftsgru en […].«31
In Immer wieder Dezember ist die dichotome Ordnung Ost-West die zentrale Kategorie des Wissens, welche das Ich, die Herkunft‚ die eigene Geschichte bestimmt. Die programmatische Äußerung, dass es in der Autobiographie um »Himmelsrichtungen«, um das Wort »WO« ginge (IwD 10), führt in diese identitätsbestimmende Differenz ein. Das Ich, die Schwester und die Eltern sind dann auch in der Selbstbeschreibung die »vier Ostdeutschen« (IwD 35) oder diejenigen, die aus dem »Osten« (IwD 52) kommen, was vor allem mit dem Moment der »Ausreise« aus der DDR in die Bundesrepublik bzw. dem Passieren der Grenze im Jahr 1977 zum Thema wird. Der Westen wird zum Raum, wo sie
31 Margarete Jäger: Gewalt gegen Frauen – durch Sprache? Vortragsmanuskript. http:// www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/Gewalt_gegen_Frauen.htm 2014).
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»hinmussten« (IwD 29), und es stellt sich damit verbunden ein »Gefühl der Minderwertigkeit« ein (IwD 35). Der »Osten« ist nicht nur eine Himmelsrichtung, er ist auch ein symbolischer Raum und als solcher verknüpft mit einer Zuschreibungspraxis historisch variierender Merkmale, die »auf Menschen, Akteure, Bevölkerungen«32 angewendet werden. Dafür wurde das »Prinzip ›Osten‹«33 konzeptionalisiert. Ina Dietzsch hat sich mit dem Forschungsdesiderat der »Erfindung der Ostdeutschen«34 auseinandergesetzt, welche sie als ein »symbolisch-diskursives rodukt […] der Nachwendezeit« begreift. Diese »Erfindung«, die Dietzsch in ihrer Analyse abermals polar organisiert, sei maßgeblich durch eine westliche Deutungshoheit in den Printmedien und den Sozial- und Kulturwissenschaften initiiert worden. Sie habe sich immer weiter ausdifferenziert, auch indem sich die »ehemaligen DDR-BürgerInnen im Laufe der Jahre um einiges unabhängiger von westdeutschen Deutungen und Zuschreibungen gemacht [hätten].«35 Für die Zeit vor 1989 sind ihrer Meinung nach keine Hinweise auf ein »Selbstverständnis als ›Ostdeutsche‹« zu finden.36 Immer wieder Dezember suggeriert zumindest vom Standpunkt einer im Jahr 2009 veröffentlichten Autobiographie, dass die diskursive Zuschreibung bereits zuvor virulent war. Die Autobiographie kann gerade deshalb die dichotome Ordnung »Ost-West« vor 1989 veranschaulichen, weil das Ich 1977 die Erfahrung der »Ausreise« (IwD 35, 46) in die Bundesrepublik machte und dann die Erfahrung, dort zu leben. Es manifestieren sich für das Ich unterschiedliche Identitäten, denn »[e]s war nicht so: gleiche Sprache, gleiches Land. Der Satz ›Leute aus der DDR riechen anders‹, zuerst als Beleidigung aufgefasst, brauchte nur eine andere Interpretation, dann stimmte er. Der Spürsinn war es. Die andere Sensibilität, die Möglichkeit des Vergleichs, das genaue Hinschauen und dabei das ständige Hinterfragen.« (IwD 38) Feinfühligkeit, Beobachtungsgabe und Kritikfähigkeit werden zu Eigenschaften des Ostdeutschen. Beim Versuch der Anpassung des Ichs an die Lebensrealitäten 32 Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter: Das Prinzip ›Osten‹ – einleitende Bemerkungen. In: dies. (Hg.): Das Prinzip ›Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums. Bielefeld: transcript 2010, 9-20, hier: 11. 33 Ebd. 34 Ina Dietzsch: Die Erfindung der Ostdeutschen. In: Eva Schäfer/Ina Dietzsch/Petra Drauschke/Iris Peinl/Virginia Penrose/Sylka Scholz/Susanne Völker (Hg.): Irritation Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse in Deutschland seit der Wende. Münster: Westfälisches Dampfboot 2005, 92-106. 35 Ebd., 103. 36 Ebd., 94.
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wird es ein Leichtes zu verheimlichen, »dass die Bundesrepublik ein fremdes Land für uns war, wir andere Deutsche waren und Deutsch anders verstanden« (IwD 39). Denn »wir mussten hinzulernen, nicht die, die schon da waren. Und weil ich Deutsch sprach, fiel ich nicht auf.« (IwD 43) Ein Minderwertigkeitsgefühl stellt sich immer wieder ein, gerade weil vieles bisher unbekannt war und die Furcht bestand, »immer ›der blöde Ossi‹ zu bleiben« (IwD 39). Die Aneignung von Schul-, Alltags- und Mode-Wissen wird zu einer Strategie der Selbstmodellierung (vgl. IwD 42). Doch dies war hürdenreich, zumal sich niemand für die DDR interessierte, »die lag so weit weg, dass sie für viele gar nicht existierte« (IwD 42). Und für das Ich verknüpfte sich damit eine Leerstelle der Herkunft, denn »[w]enn die DDR aber nicht existierte, wo kam ich dann her? Von nirgendwo.« (Iwd 43) Das Ich, das bisher nur die DDR kennt, beginnt sich »als Halbmensch [zu fühlen]. Die eine Hälfte war in der DDR, die andere in der Bundesrepublik. Darüber redete ich nicht. Niemand redete darüber.« (IwD 43) Doch wenn der »Osten« eine Rolle spielte, dann als Zuschreibungspraxis der Diskriminierung: »Ich bekam von Mitschülern zu hören: ›Geh endlich zurück in den Osten! Sollen wir nachhelfen? Ist ja nicht weit.‹ Sie meinten es so. Der Osten, das war das Übel und ich eine von dort. Die Stimmung im Klassenzimmer war wie ein Echo der Weltpolitik.« (IwD 119) Selbst Jahre später bei einem Gespräch mit einem Lehrer während des Abfassens des Manuskripts von Immer wieder Dezember wird das Ich zur Anderen. So erinnert der Lehrer: »Ein DDRStallgeruch umwehte dich nicht, man wusste, dass du aus der DDR kamst, aber es war kein Stigma, sondern ein interessantes Accessoire für uns Lehrer.« (IwD 119) Mit einer Animalisierung (»Stallgeruch«) und Exotisierung (»interessantes Accessoire«) wird die Herkunft aus der DDR zum Differenzmerkmal. Mit einem Blick in den Spiegel (»Weil nachmittags niemand in der Wohnung war außer mir, richtete ich den Blick auf mich.« IwD 158) beginnt ein Aufbruch der Vierzehnjährigen »in Gedanken und zu Fuß« (IwD 159). Dieser geht mit der Einsicht einher, dass »[f]ast zwei Jahre […] die Lebensumstände, die robleme der Erwachsenen das Leben bestimmt [hatten]« (IwD 158) und es nun anstehe, »selber den Weg zu suchen, zu wählen, zu gehen« (IwD 159). Aus dem Gefühl der »Minderwertigkeit« wird ein Gefühl des »Stolzes« (IwD 108, 159), der sich von dem Wissen nährt, »in einer anderen Welt gewesen zu sein« (IwD 159). Berlin, wohin die Familie Schädlich von Hamburg gezogen war, wird für das Ich zur Stadt, in der es mitten in der DDR ist und doch im Westen. Das Gefühl des »Nicht-Dazugehören[s]« (IwD 108), des »Zwiespalt[s]« (IwD 165), der »Schizophrenie« (IwD 108) bleibt, doch ein proklamiertes Anderssein wird nun positiv konnotiert. »Ich lernte hören und sehen, aber von da an nur bis zur Mauer«,
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schreibt das Ich, und fährt fort: »Blickeingrenzung, um den Überblick zu behalten. Um den Blick fürs Hier zu festigen, nicht mehr den ins Zurück.« (IwD 159) Die Eltern trennten sich »und ich suchte meinen Weg« (IwD 176), schreibt das Ich. Es macht aus der Familienwohnung eine WG (IwD 177), erlebt das »erste Rendezvous« und zieht bei ihrem Freund und seiner Mutter ein. Dann die erste »eigene Wohnung«, die Vorbereitungen aufs Abitur (vgl. IwD 181-182), die Aufnahme an einer Schneider-Schule in Düsseldorf: »Einfädeln, Falte auf Falte bügeln, parallele Nähte, Biesen über Biesen« (IwD 197) und das Ausgehen mit der Freundin (vgl. IwD 197). Das ist das Leben, welches das Ich für »normal für ein Mädchen in dem Alter« (IwD 197) hält und mit dem dann gebrochen wird: »Plötzlich wusste ich, ich musste einen anderen Weg gehen als den deutschen. Vor allem musste ich ihn allein gehen, weit weg, auch weg von der Familie.« (IwD 198) Mit der (Aus-)Reise nach Amerika im Jahr 1987 stellt sich dann die Möglichkeit ein, die »Lebensumstände« selbst zu bestimmen – eine Fremde unter Fremden zu sein, gerade weil die Fremdheit erkennbar ist und nicht mit der gleichen Sprache, in einem neu gebildeten gemeinsamen Land die Unterschiede nivelliert werden (vgl. IwD 207-208). Dort, in der Entfernung zur Familie, zur Geschichte, zur DDR und zur Bundesrepublik, erfüllt sich ihr Wunsch nach Selbstbestimmung: »Ich kann nur sagen, ich war da und erledigte das Leben. Nicht umgekehrt.« (IwD 222) Und obwohl sich das »Gefühl, fremd zu sein, […] auch darum nicht ein[stellt], weil fast jeder Fremder war« (IwD 207), wird mit Amerika ein Sichtbarwerden der eigenen Person verbunden: »Eine Deutsche in Amerika zu sein war einfacher, als eine Deutsche aus Ostdeutschland in Westdeutschland gewesen zu sein. Einfacher, weil ich endlich als Fremde erkennbar war.« (IwD 207-208) Eine Fremdheit bleibt auch dann noch, als das Ich nach mehreren Anläufen 1999 wieder nach Ost-Berlin zurückkehrt. Die Erklärung, wieder dort zu sein, mündet abermals in eine Ost-West-Dichotomie – und eine Identifizierung mit dem Osten: »Es hat einen Grund, dass ich hier bin, die ich weggedrängt wurde. Sicher bin ich mir dann, wenn ich höre: […] ›Dit Traurige is, dass die ehemaligen Ostprodukte nur im Ostteil verkauft werden, aber wir müssen die Westprodukte och im Osten kaufen, das is unjerecht.‹« (IwD 236)
Wie die Tochter eines Sport-Reporters von ihren Hunden erzählt und welche Politiken sie dabei treibt Biographisches bei Donna Haraway S TEFANIE S CHÄFER -B OSSERT
Die Tochter eines Sport-Reporters erzählt von ihren Hunden – harmlos, betulich, sich über Männer definierend? Aber die sich als solche gibt ist berühmt-berüchtigt, nicht zuletzt in Sachen Geschlechterwisssen: Sie hat uns alle, auch und gerade die Frauen, zu Cyborgs erklärt, ›kybernetischen Organismen‹, zu hybriden Mischwesen aus Maschine und Organischem, zu uneindeutigen Figuren, die nie eine reine Weste haben können oder anderweitig/en Reinheitsgeboten entsprechen. Ihre Cyborgs haben die feministische Theoriearbeit gründlich in Unruhe versetzt und in Bewegung gebracht. Sie haben die Wahrnehmung von ›Natur‹ und ›Kultur‹ (inkl. Technik) als unentrinnbar verflochten geschult. Sie stellen generell jede Wahrnehmung und in früher queerer Spielerei jede Kategorie auf einen Prüfstand, der statt neuer eindeutiger nur widersprüchliche und polivalente Ergebnisse liefert. Mit Harmlosigkeit ist also nicht zu rechnen. Donna Haraway denkt schon immer (vorgeblich) disparate Felder zusammen und ist – als gelernte Biologin – eine der wenigen NaturwissenschaftlerInnen1, die konsequent gesellschaftliche Umfelder und geistes- und sozialwissenschaftliche Fragen und Erkenntnisse einbezieht. So lehrte sie am History of Conscious1
Ich verwende das Binnen-I um darzustellen, dass die gemeinten AkteurInnen nicht als geschlechtlich fixiert betrachtet werden sollen. Da dieser Artikel von Zusammengehörigkeiten handelt, die oft nur ein präziser – und selten der erste – Blick schärfer sieht, dürfte hier ein flüssiges Textbild, auch wenn es nicht immer gleich flüssig zu lesen ist, am kongruentesten sein.
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ness Department der University of California at Santa Cruz Feministische Theorie und Wissenschaftsgeschichte, auch in Verbindung mit den Departments für Women Studies, Anthropologie und Umweltwissenschaften. Sie arbeitet mit wechselnden Schwerpunktsetzungen daran, die Besetzung von Denken, Fühlen und Leben durch Machtstrukturen aufzubrechen. Sie dekonstruiert Überkommenes und sie eröffnet mit ungewohnten (auch Sprach-) Bildern ungewohnte Perspektiven, dabei die Polivalenz von Sprache und deren Alltagswissen und -weisheit ausgiebig durchspielend. Damit macht sie diejenigen sichtbar, die nicht im Zentrum – sei es der Aufmerksamkeit, sei es der Wertschätzung – stehen, und gleichzeitig die Strukturen, die sie davon fernhalten. Diese müssen also neu gestaltet, refiguriert werden, und das auf allen Ebenen (von Sprache, Politik, Gesellschaft, Alltag etc.). Dabei darf wiederum nicht übersehen werden, dass dieser Prozess ständig im Gang ist, selbst wenn dies sprachlich, philosophisch oder politisch zugedeckt wird, und es bei allen Refigurationen also nicht um das ›Dass‹ oder ›Ob‹ geht, sondern um das ›Wie‹ und darum, wer sich dabei wessen bewusst ist. Dieser Ansatz verspricht wertvolle Impulse zur Interpretation auch sprachgewordener Lebenszusammenhänge, eben biographischer Texte. »Für mich ist Geschichtenerzählen keine Form der ›künstlerischen Praxis‹, sondern eine Praxis des Verfrachtens, um aus einem Feld voller Knoten oder schwarzer Löcher von Komplexität erzählen zu können. Geschichtenerzählen steht nicht im Gegensatz zur Materialität. Aber diese selbst ist tropisch, reich an Wendungen; sie lässt uns wenden, sie bringt uns ins Stolpern; in ihr verknoten sich das Textuelle, das Technische, das Mythische/ Onirische, das Organische, das Politische und das Ökonomische.«2
Was jede von Haraways Narrationen ausmacht, ist also die Be-/Gründung: »Feministische Humanität muss, auf welche Weise auch immer, der Repräsentation und der buchstäblichen Gestaltung widerstehen und zugleich den Ausbruch in machtvolle neue Tropen, neue Sprachfiguren und Redewendungen, neue Wendepunkte der geschichtlichen Möglichkeiten wagen.«3
2
Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg/Berlin: Argument 22006, 141 (Erstaufl. 1995). Im Folgenden beschränke ich mich auf in dieser Absicht von Haraway verfasste Texte. Darüber hinaus sind etliche Interviews publiziert.
3
Donna Haraway: Ecce Homo. Bin ich nicht eine Frau und un/angeeignet anders: Das Humane in posthumanistischer Landschaft. In: ebd., 118-135, hier: 118. Hervorh. v. mir.
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Diese sind immer situiert, also in konkrete Situationen eingeflochten, und mit alledem wird unhintergehbar: Auch auto-/biographisches Schreiben ist immer beeinflusst oder vielmehr durchdrungen von den umgebenden Lebenswelten und Diskursen, in sie verknotet und verheddert. 4 Also ist auch hier keine ›unberührte Unschuld‹ zu erwarten und keine Lieferung unberührter ›objektiver‹ Fakten, wenngleich vieles sichtbar werden dürfte, was zuvor verdeckt oder zugedeckt war. So auch bei Donna Haraway, die schon immer dem feministischen Desiderat des Bedenkens konkreter Erfahrung/en nachgekommen ist und dabei auch die Ich-Rede nicht gescheut hat. Eine dennoch besondere, weil noch expliziter biographische Note hatte 2003 The Companion Species Manifesto, dem als Manifest ein politischer Veränderungswille innewohnt, das Haraway aber als »personal document« einführt,5 und in ihm ihren Vater und die Hunde. Beide Motive werden ihre weitere Arbeit begleiten. Nun geht sie erstmals über gelegentliche Einsprengsel wie »irisch-katholisches Mädchen«6 hinaus und sagt explizit, was zuvor noch mühsam biographisch recherchiert oder aus ihren Denkweisen herausdestilliert werden musste: »Meine Seele [ist] unauslöschlich von einer katholischen Formatierung gezeichnet.«7 Hatte sie sich in den 1980er Jahren nicht vom ›Blick zurück‹ darin beeinträchtigen lassen wollen, das Jetzt in den Blick zu nehmen, und lieber die Ursprungslosigkeit als Denkfigur angeboten, um nicht in die Fallen von ›ursprünglichen‹ Einheit(lichkeit)s-Idealen zu gehen,8 so verfolgt sie nun auch Fäden zurück: »Ich wuchs im Schoß zweier großer Institutionen auf, die den modernistischen Glauben in die fehlerfreie, auf unwiderruflichen Differenzen basierende Scheidung von Story und Fakt kontern. Beide dieser Institutionen, die Kirche und die Presse, sind bekanntermaßen korrupt, werden bekanntermaßen (sobald regelmäßig in Anspruch genommen) von der 4
Eine m.E. sehr brauchbare Methode, die solcherlei zu bearbeiten hilft, ist die ›Erinnerungsarbeit‹ von Frigga Haug (die als eine der ersten eine deutsche Veröffentlichung des Cyborg-Manifests initiiert hat): Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. Berlin/Hamburg: Argument 1999.
5
Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press 2003, 3. (Original US-amerikanisch; alle Übersetzungen hieraus von mir.)
6
Z.B. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M./New York: Campus 1995, 61.
7
Haraway 2003 (Anm. 5), 15.
8
Haraway 1995 (Anm. 6), 35.
136 | STEFANIE S CHÄFER -BOSSERT Wissenschaft geschmäht, und sind nichtsdestotrotz unersetzbar dafür, den unstillbaren Hunger eines Volkes nach Wahrheit zu kultivieren. Zeichen und Fleisch, Story und Fakt. In meinem Geburtshaus konnten sich die fruchtbaren Partner nicht trennen. [...] Kein Wunder, dass für mich als Erwachsene Kultur und Natur implodiert sind.«9
Später lässt sich dieses Bild noch besser verstehen: Haraways Mutter, Dorothy Maguire, brachte den irischen Katholizismus ins Familiensystem ein und die ›Option für die Armen‹10, vielleicht auch die katholischen Schulen für die Tochter; der Vater Frank Haraway war der Reporter. Donnas älterer Bruder, Bill, wurde Finanzberater, der jüngere, Rick, Sozialarbeiter. 11 Im Folgenden werde ich nun ähnlich verfahren wie Donna Haraway selbst, die Biographisches stets in größere Rahmen stellt – wo es faktisch ja auch steht. Ebenso sollen diese Skizzen zeigen, wie Haraway ihre Bearbeitung des komplexen Lebens in Text/ur/en betreibt, und mit ihrem Denken bzw. ihren Herangehensweisen, Spielen und ›Tänzen‹ vertraut machen, in denen sich zunehmend biographischer geprägte Formulierungen finden. Dahinter steht meine Überzeugung, dass Haraways Ansatz als solcher wertvolle Impulse zum Umgang mit Biographie-Arbeit gibt. Ich verhehle nicht, dass er mir selbst hilfreich war auf dem Weg, die Vorstellung von einer klaren Identität mitsamt dem dadurch aufgebauten Druck verabschieden zu können und die Komplexität und Widersprüchlichkeit meiner Umgebung be/denken zu können. Keine, auch keine biographische Erzählung, ist absichtslos, soll nicht etwas illustrieren. Haraway setzt das sehr gezielt und bewusst ein.12 Ihr geht es darum, 9
Haraway 2003 (Anm. 5), 18. Hier zeigt sich, dass inzwischen auch in der Linken die Kirche/n kein apriorischer Feind mehr ist/sind, sondern neutraler als Kulturfaktor begriffen werden, den es jeweils konkreter zu betrachten gilt.
10 Donna J. Haraway: When Species Meet. Posthumanities Bd. 3. Minneapolis/London: Univerity of Minnesota Press 2008, 172-173 (Original US-amerikanisch; alle Übersetzungen hieraus von mir). In Haraway 2003 (Anm. 5) habe ich die Mutter nicht erwähnt gefunden – was auch damit zu tun haben kann, dass sie bereits im Oktober 1960 gestorben ist. Das Kapitel »6. Able Bodies and Companion Species« (161-179) hängt sich stark auto/biographisch an Familiengeschichten auf. Es erschien auch als: Donna Haraway: A Note by a S ortswriter’s Daughter. In: Concentric: Literary and Cultural Studies 32 (September 2006) 2, 239-253. 11 Haraway 2008 (Anm. 10), 172. 12 Vgl. den legendären Aufsatz Ecce homo (Anm. 3), im Original erstmals 1992 erschienen, in dem Jesu Leiden in Beziehung gesetzt wird zum Leben der afro-amerikani-
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»die Welt zu verändern, eine Wahl zu treffen zwischen verschiedenen Lebensweisen und Weltauffassungen. Um dies zu tun, muss man handeln, muss begrenzt und schmutzig sein, nicht transzendent und sauber.«13 Dabei ist auch die Sprache als ein formatierendes Instrument erkannt, das es gezielt einzusetzen gilt, um Horizonte nicht nur im Denken, sondern auch im Fühlen(können) und im politischen wie privaten Alltagsleben aufzureißen. So gehe ich jetzt chronologisch ihren zentralen Tropen, neuen Sprachfiguren nach, deren Situiertheit sich nicht nur darin zeigt, dass sie mit allen Mitteln der Ambi- und Polivalenz aus ihrer Entstehungszeit sprechen, sondern auch darin, dass sie sich wandeln.
C YBORGS Seit den 1980er Jahren arbeitete Haraway, selbst in etlichen Widerstandsbewegungen verortet, an ihrer Cyborg-Figur, u.a. mit dem Ziel, ideologische NaturKonzepte aufzubrechen und zu versuchen, ohne sie zu denken. Dies ging wesentlich an die Adresse der Frauenbewegung, damit diese sich mit der Dämonisierung des Technischen nicht auch noch selbst aus dessen Entwicklungen und Gestaltungsmöglichkeiten herausdefinierte, damit sie sich von der zugewiesenen Kategorisierung von Frauen als ›naturnah‹ emanzipierte, damit sie also die eigene gesellschaftliche Verfasstheit treffender (an)greifen konnte. »Die Cyborg als imaginäre Figur und als gelebte Erfahrung verändert, was am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Erfahrung der Frauen zu betrachten ist.«14
schen als Sklavin geborenen Abolitionistin, Wanderpredigerin und Frauenrechtlerin Sojourner Truth (1798-1883). Er nimmt viele aktuelle Diskussionen vorweg, z.B. die noch heute zu selten getroffene Differenzierung zwischen westlicher humanistischer Tradition und Humanität. Zu letzterem vgl. Donna Haraway: Species Matters, Humane Advocacy: In the Promising Grip of Earthly Oxymorons. In: Marianne DeKoven/Michael Lundblad (Hg.): Species Matters. Humane Advocacy and Cultural Theory. New York: Columbia University Press 2012, 17-26, hier: 21-22. 13 Donna Haraway: Anspruchsvoller Zeuge@ Zweites Jahrtausend. FrauMann© trifft OncoMouse™. In: Elvira Scheich (Hg): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie. Hamburg: Hamburger Edition 1996, 347-388, hier: 362. 14 Haraway 1995 (Anm. 6), 34.
138 | STEFANIE S CHÄFER -BOSSERT »Geist, Körper und Werkzeug sind aufs innigste vereint. Die materielle Organisation von Produktion und Reproduktion des alltäglichen Lebens ist davon ebenso betroffen wie die symbolische Organisation von Produktion und Reproduktion des Kulturellen und der Vorstellungswelten.«15 »Cyborgs sind Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt.«16 »Cyborgs können Figuren für das Leben in Widersprüchen sein.«17
Sie spiegeln die Vieldeutigkeit heutiger Lebensbedingungen als Ende moralischer Eindeutigkeit. Ziel der Cyborgs ist es, »die Texte ihrer Körper und Gesellschaften aktiv umzuschreiben. Der Einsatz, um den es bei diesem Spiel der Lesarten geht, ist das Überleben.«18 Damit ist das Bio-Graphische (griech.: bios – Leben, graphein – schreiben) nicht nur ein Be-Schreiben, dessen gestalterische Kraft – auch des Um-Schreibens – bereits nicht unterschätzt werden sollte, sondern ein materialiter wirkender Akt, (ein) Leben aktiv zu schreiben. Im Rückblick sagt Haraway: »1985 veröffentlichte ich das ›Cyborg-Manifest‹, um zu versuchen, die Implosionen des zeitgenössischen Lebens in der Technoscience feministisch zu bedenken. Cyborgs sind ›Kybernetische Organismen‹, so [von der NASA] benannt 1960 im Kontext des Wettrennens ins Weltall, des Kalten Krieges, und imperialistischer Fantasien von Techno-menschlichkeit, die in Politik und Forschungsprojekte eingebaut waren. Ich habe versucht, mich mit den Cyborgs kritisch zu identifizieren, d.h., sie weder zu verherrlichen noch zu verdammen, sondern im Geist einer ironischen Aneignung von Enden, die von den Sternenkriegern nie ins Auge gefasst waren.«19
Damals war nicht absehbar, mit welcher Geschwindigkeit die allseitig provozierende, das ›Andere‹ verkörpernde Cyborg-Figur von der Unterhaltungsindustrie und ihren diskursiven und formatierenden Medien – ob nun per Buch, Film oder Computer – einverleibt und entschärft werden würde. Hier zeigt sich die dialektische Problematik, dass so mancher progressive Impuls im Lauf der Zeit wieder in eine Festigung der alten Ordnung übersetzt werden könnte und also wandelbar bleiben sollte. 15 Haraway 2006 (Anm. 2), 167. 16 Haraway 1995 (Anm. 6), 35. 17 Haraway 2003 (Anm. 5), 11. 18 Haraway 1995 (Anm. 6), 67. 19 Haraway 2003 (Anm. 5), 4.
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C OMPANION / S PECIES So setzt Donna Haraway nach immerhin 20 Jahren intensiver Diskussionen einen neuen Impuls mit dem Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness.20 »Zu Ende des Milleniums konnten Cyborgs nicht länger die Aufgabe eines ordentlichen Hütehunds erfüllen, die Fäden, die für eine kritische Untersuchung benötigt werden, aufzusammeln. So bin ich glücklich auf den Hund gekommen.«21
Angesiedelt in der Bush-Bush-Ära, hat das Manifest die Kohabitation von Menschen und Tieren im Blick. Die bekannten Denk- und Dekonstruktionsstrategien werden nun weniger von der Seite der ›Kultur/Technik‹ aus angesteuert, sondern von der ›Natur‹-Seite aus, was natürlich immer noch dem Aufweisen unentrinnbarer Verflochtenheiten dient – und eine noch stärkere Betonung darauf legt, biologistisch postulierte ›Wahrheiten‹ als diskursiv produziert zu enlarven. So schließt Haraway als Illustration der diskursiven Konstruktion auch von Sexualitäten das Manifest mit der Schilderung einer »puren polymorphen Perversität« ab, in der ihre sterilisierte – und damit der Östrogene ledige – Australian Shepherd-Hündin Cayenne Pepper sich des Kopfes des schweren PyrenäenRüden Willem bedient, der, wiewohl unkastriert, per Zunge fröhlich mitspielt. »Nichts von ihrem sexuellen Spiel hat auch nur im Entferntesten irgendetwas zu tun mit funktionellem heterosexuellem Paarungs-Verhalten [...], nichts von all diesem reproduktiven Zeug.«22 Das liest Haraway als »Hohn auf die reproduktive heterosexuelle Hegemonie, wie auch auf abstinenz-befördernde Keimdrü-
20 Haraway 2003 (Anm. 5). S. dazu: Stefanie Schäfer-Bossert: Böse (?) Provokationen jenseits der Geschlechtergrenzen. Die Post-Gender-Manifeste von Donna Haraway und Béatriz Preciado. In: Helga Kuhlmann/Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.): Hat das Böse ein Geschlecht? Theologische und religionswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen. Stuttgart: Kohlhammer 2006, 56-68; dies.: Tiere, Menschen und das Spiel ohne Grenzen, oder: Wie Donna Haraway auf den Hund gekommen ist. In: Ästhetik und Kommunikation 37 (2006) 133, Heft »Kapitalismus mit Messer und Gabel«, 77-83; dies.: Haraways Cyborgs: Figuren für das Leben in Widersprüchen. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften (2005) 259, Heft »Dialektik des weiblichen Widerstands«, 69-82. 21 »So I go happily to the dogs.« Haraway 2003 (Anm. 5), 4-5. 22 Ebd., 99.
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senektomie« und als »ontologische Choreographie«.23 Diese steht in bezeichnendem Kontrast zu biologistischen Ideologien, die, vorgeblich im Tierreich gefunden, als Natur-Norm auch an Menschen herangetragen werden und deren ›Wissen‹ um Geschlecht/lichkeit prägen. Die Trope, Figuration, Leitfigur, unter die Haraway ihre Arbeit nun stellt, ist als solche wieder überaus polivalent und ruft die verschiedensten Kontexte auf. Es geht, auch wenn primär mit Hundegeschichten durchgespielt, nicht nur um diese Tiere, sondern zentral um alle Konnotationen von companion.24 Was – Pardon: Wer im Deutschen ›Haustier‹ heißt, wird in den USA companion animal genannt,25 wobei beide Begriffe eine gewisse Nähe zum Menschen transportieren. Donna Haraway nimmt dieses – vertraute – Muster, um es erstens in bewährter Manier neu und ungewohnt zu beleuchten und die ausgeblendeten Seiten auf die Agenda zu bringen. Zweitens dehnt sie es aus auf das und die, was/die bislang nicht in die Nähe dieses vertrauten, also irgendwie akzeptierten Musters gedacht worden war/en. Wieder konstruiert und dekonstruiert sie gleichzeitig. Bei ›Hund‹ wird ›die andere Spezies‹ mitgedacht, für das Bedenken von – und den Umgang mit – ›Anderen, Andersartigen‹ lassen sich am Beispiel des Haustiers Hund neue Sichtweisen finden. Der englische Begriff companion species kann englischsprachig das Miteinander verschiedener biologischer Arten, selbst von Pflanzen, beschreiben und verweist als solcher auf die Angewiesenheiten und Verflochtenheiten, die Donna Haraway auch für die naturale Seite immer stärker herausstellt. Companion nun, die Kurzform auch für das Haustier, macht erst recht weite Felder auf, die bei der Grundbedeutung im Sinne von (Lebens-)Gefährte/ Gefährtin, Begleitung, KameradIn, Genosse/Genossin noch längst nicht enden. Wer sich für Frauenbiographien v.a. des 18./19. Jahrhunderts interessiert, hört in dem Begriff die ›Gesellschafterin‹, die für die Dame/n des Hauses auch den ›Anstandswauwau‹ geben musste. Da der Begriff ebenfalls den ›Kompagnon‹ im warenbezogenen und finanziellen Kontext meint, ist auch der Konzern, die com23 Ebd., 100. 24 Es ist auf Deutsch nahezu unmöglich, sie alle einzufangen, so lasse – nicht nur – ich den Begriff meist unübersetzt. 25 Vgl. Haraway 2008 (Anm. 10), 134. Das kann auch ›Nutztiere‹ umfassen. Die Implikationen einer Differenzierung zwischen insbesondere Haus-, Nutz-‚ und Wildtier, erst recht dann in der Behandlung der gelabelten Tiere, muss ich hier zurückstellen, jedoch nicht ohne den Hinweis, dass selbst viele Wildtiere, auf die sich allerhand Wildheits- und Wildnis-Projektionen richten, astreine Cyborgs sind mit ihren Peilsendern und implantierten Chips.
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pany nicht weit, wie wir sie als unentrinnbar aus den Cyborg-Texten kennen.26 Das deutsche Wort ›Kumpan‹ spiegelt noch deutlicher als das englische die Herkunft aus dem lateinischen cum pane – mit dem(selben) Brot, also aus der Tisch- und/oder Essensgemeinschaft. Haraway spielt mit all diesen Bedeutungen, und mit der Verschiebung auf species verwischt sie dichotomische Grenzen, auch zwischen Tieren und Menschen, die diese aufgebaut haben, statt sich als Spezies unter/mit/neben Spezies zu verstehen, in unauflöslicher Bezogenheit. »Companion Species ist eine größere und heterogenere Kategorie als companion animal, [...] weil man solche organischen Wesen wie Reis, Bienen, Tulpen und Darmflora einschließen muss, die alle das Leben für Menschen zu dem machen, was es ist – und umgekehrt.«27
Haraway besteht zudem auf der Vieltönigkeit des Begriffs, der in Spezies auch die diskursive Geschichte [!] der Evolutionsbiologie mithören lässt, die aristotelische philosophische Begrifflichkeit und Kategorisierung, das Hartgeld (engl. specie), und nicht zuletzt »höre ich bei Spezies die [katholische] Lehre der [göttlichen] Realpräsenz sub utraque specie, in beiderlei Gestalt, Brot und Wein, die transsubstanziierten Zeichen des Fleisches. Bei Spezies geht es um die korporeale Verbindung des Materialen und des Semiotischen«.28
Die Gleichzeitigkeit von als unvereinbar empfundenen Gegensätzlichkeiten, die Widersprüchlichkeit in sich29 ist etwas, was im täglichen Leben ständig begegnet, angefangen bei der eigenen Person und Identität, die immer eine plurale ist, bis hin zu breiten Bündnissen in der Politik oder eben der Tatsache, dass, was sich ›transzendent‹ oder ›als nicht von dieser Welt‹ ausgibt, diese massiv be26 So wird die Haustier-Industrie in Haraway 2008 (Anm. 10) in einem eigenen Kapitel ausgiebig in den Blick genommen: »2. Value-Added Dogs and Lively Capital«, 4467; auf Deutsch veröffentlicht als: Donna Haraway: Hunde mit Mehrwert und lebendiges Kapital. In: jour fixe initiative berlin (Hg.): Gespenst Subjekt. Münster: Unrast 2007, 81-103. Kerstin Schoof hat das Kapitel übersetzt, als When Species meet noch nicht erschienen war; die Versionen unterscheiden sich minimal, v.a. in den Fußnoten. 27 Haraway 2003 (Anm. 5), 15. 28 Ebd., 15-16; vgl. 2008 (Anm. 10), 17-18. 29 Auf diese fokussiert sie in Haraway 2012 (Anm. 12), 17-26.
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einflusst. Mit dem westlichen Denken (seit) der Aufklärung(szeit) lässt sich das oft schlecht fassen, wohl aber in guten Theologien30 und sehr wohl immer noch in der Cyborg-(Denk-)Figur, die nicht nur ich deshalb nicht ganz aus dem Dienst entlassen möchte, was Haraway auch weniger tut als die o.g. Sätze den Anschein erwecken mochten.
S IGNIFICANT O THERNESS Eine der wichtigsten Fragen des Companion Species Manifesto ist: »Wie könnte eine der Entwicklung signifikanter Andersheit verpflichtete Ethik und Politik gelernt werden?«31 Haraway spielt das an der Mensch-Hund-Verbindung durch. Der alte Mythos »Mann domestiziert Wolf« wird dekonstruiert und in eine Geschichte gemeinsamer Entwicklung der beiden Spezies aufgelöst. Hier lässt sich programmatisch zeigen und lernen, was significant otherness umfasst: Bedeutsamkeit des Anderen, der Anderen, bedeutende Verschiedenheit, signifikante Andersheit, zeichengebendes Anderssein. Damit will Haraway alterisierenden Ausgrenzungen und Hierarchisierungen wehren, aber auch Projektionen des Eigenen in alle umgebenden Wesen und Dinge oder vorschnellen Gleichsetzungen und Vereinnahmungen. Die ›Anderen‹ dürfen anders bleiben und sind gerade in ihrem Anderssein wichtig, ja unverzichtbar. Was einst in der Frauenbewegung als Zurückweisung der Verortung als ›anderes Geschlecht‹ und Kampf gegen den Sexismus begann, hat die darin geübte Sensibilisierung inzwischen auf das Erkennen und Bearbeiten von Alterisierungen aller Art ausgeweitet. Zudem werden in der Frage nach ›den Anderen‹ die Fragen nach Kategorisierungen gefunden, mit denen in der Biologie so willkürlich Grenzen gezogen werden wie in den Human- und Sozialwissenschaften. Haraway geht längst davon aus, dass »Herausbildung von Ethnien, Konstruktion von Geschlecht, Formierung von Klassen und diskursive Produktion von Sexualität durch die konstitutiven Praktiken der Technoscience selbst« stattfindet.32 Sie
30 So übt die christliche Dogmatik das Aushalten von Paradoxa ein, z.B. mit Jesus Christus als wahrer Gott – wahrer Mensch, und das unvermischt und ungesondert, oder mit der von Haraway oft bemühten Gleichzeitigkeit von Göttlichkeit und Materie in Abendmahl/Eucharistie oder mit dem Bild vom Menschen als gleichzeitig sündig und gerecht. 31 Haraway 2003 (Anm. 5), 3. 32 Haraway 1996 (Anm. 13), 361, Hervorh. i. Orig.
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denkt längst postkolonial; sie bindet inzwischen auch explizit die Diskurse um Dis/Ability, den Able-ism/Able-ismus als Norm eines gesunden funktionierenden Körpers versus körperliche Einschränkungen, ›Behinderungen‹ ein,33 und sie greift unübersehbar einen Anthropozentrismus an, der den Tieren nicht gerecht wird. Ein oft vorgebrachter Einwand gegen letzteres ist, dass bei den -ismen, die Menschen verletzen, noch genug politische Arbeit zu leisten ist, die mit Überschreiten der Spezies-Grenze und dem, womöglich gar moralischen, Einbezug der Tiere aus dem Blick gerate oder banalisiert werde, oder dass riskiert werde, Menschen – wieder – zu Tieren zu machen. In der Tat wird alles umso komplexer, je weiter man sich von den Menschen entfernt. Doch lässt sich dieser Vorwurf bei Ansätzen wie diesem insofern nicht erheben, als Haraway die Alterisierungen als solche an- und aufgreift und ins Konstruktive wendet. Damit sind sie ihrer exkludierenden Funktion beraubt: Weder andere Geschlechter‚ noch ›Andersartige‹ oder ›Abartige‹ können ihre Relevanz und Signifikanz verlieren, ihre Existenz kann weder abgestritten noch einfach ›ausgerottet‹ werden – sondern muss zumindest ausgehalten werden –, und ihre Stimme kann nicht mehr überhört, ihre Lebensäußerungen können nicht mehr übersehen werden. Dieser m.E. überfällige Umgang mit allen ›Anderen‹ unterläuft soziale Kategorien wie z.B. ›Mann‹ oder ›Frau‹, ›schwarz‹ oder ›weiß‹, ›gesund‹ oder ›behindert‹. Viele Intersektionalitätsforschungen, die die Gleichzeitigkeit, Wechselwirkungen und Widersprüche bei Kategorisierungen zeigen und sich oft auf Donna Haraway berufen, können immer noch Bewegungen und Überschreitungen schlecht fassen und in Gefahr geraten, Verortungen zu statisch und zu fremddefiniert zu handhaben. So plädiere auch ich für einen Analyserahmen, »welcher die Idee der Kategorie als Markierer eines ›umkämpften Feldes‹ aufnimmt«.34 Donna Haraway nimmt dies so auf: »Companion species ist eine permanent unentscheidbare Kategorie, eine in Frage gestellte Kategorie, die auf der Beziehung als kleinster Einheit von Sein und von Analyse besteht.«35
33 Vgl. auch Stefanie Schäfer-Bossert: Signifikant anders. Über Auferstehungen, Gleichzeitigkeiten und Grenzüberschreitungen. In: Ilse Falk/Kerstin Möller/Brunhilde Raiser/ Eske Wollrad (Hg.): So ist mein Leib. Alter, Krankheit und Behinderung – Feministisch-theologische Anstöße. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, 179-209. 34 Stefanie Krohn: Intersektionalität oder borderland als Methode? Zur Analyse politischer Subjektivitäten in Grenzräumen. In: Sabine Hess/Nikola Langreiter/Elisabeth Timm (Hg.): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld: transcript 2011, 197-220, hier: 218. 35 Haraway 2008 (Anm. 10), 165.
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B EGEGNUNGEN – V ERBINDUNGEN – B EZIEHUNGEN Ein derzeit zunehmend umkämpftes Feld ist die menschliche Beziehung zu Tieren bzw. die Pluralität möglicher Beziehungen und Beziehungsweisen. Dass und wie Haraway auf dem Weg (zu) der »Co-Konstitution, Begrenztheit, Unreinheit, Historizität und Komplexität«,36 der »Co-Habitation, Co-Evolution und verkörperten speziesübergreifenden Sozialität«37 immer weiter geht, zeigt die nächste Buchveröffentlichung bereits im Titel: When Species Meet38 – jetzt geht es also noch stärker um das Wie der companionship, das eine echte Begegnung sein soll. Haraway selbst treibt mit ihren Hunden den Agility-Sport, auch davon schreibt sie im Companion Species Manifesto erstmals ausführlicher. Das Besondere an diesem Hundesport ist, dass die Hunde alleine über einen ihnen nicht bekannten Parcours gehen und die menschlichen PartnerInnen ihnen dazu von Weitem Hilfestellungen ohne direkten körperlichen Kontakt geben. Hund und Mensch müssen also gut aufeinander eingespielt sein, sich verstehen und gut kommunizieren können.39 Das wird auch gern unter Menschen kommuniziert, also berichtet es Haraway ab 1999 in emails der Familie, FreundInnen und KollegInnen – auch aus der Hundeszene –, womit wieder die Maschinen und die hoch entwickelte Technik ins Spiel kommen, hier die private Sphäre und die des Internets in einer spezifischen Beziehungsweise zusammenspielen. Aus diesem privaten Raum sind die emails als Notes of a Sportswriterʼs Daughter dann sukzessive ausgewandert, erst in Vorträge und Veröffentlichungen,40 dann sogar auf eine eigene Internet-Seite,41 die wieder ins Buch zurückgekehrt ist.42 Die Nennung ihres Vaters intensiviert sich in der Selbstbeschreibung von ihrer Si-
36 Haraway 2003 (Anm. 5), 16. 37 Ebd., 4. 38 Haraway 2008 (Anm. 10). 39 Vgl. Haraway 2008 (Anm. 10), »8. Training in the Contact Zone«, 205-246, und http://www.doggery.org. 40 M.W. zuerst in Haraway 2003 (Anm. 5). 41 Vermutlich etwa um 2006 angelegt bzw. bis dahin auf dem aktuellen Stand; sicher zu finden über: http://www.doggery.org, Donna Haraways homepage zu den Hunden. Von dort aus ist zu weiteren Seiten und zu Notes of a Sportswriter's Daughter by Donna Haraway zu kommen. Die Fotogalerien scheinen aktualisiert worden zu sein (30.04.2014). 42 Die 19 auf der Internetseite stehenden emails sind bis auf vier in Haraway 2008 (Anm. 10) versammelt, bes. in: »7. Species of Friendship«, 182-204.
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tuierung als im Schoß seiner Institutionen Presse und Sport aufgewachsen zu einer immer stärkeren Würdigung auch seiner Person, wenn ihm zunehmend eigene Kapitel gewidmet bzw. wenn Publikationen unter Titel wie Sportswriterʼs Daughter gestellt werden.43 Diese notes werden mit uns allen geteilt, da sie gut zugänglich gemacht sind, und seien hiermit zur Lektüre empfohlen. Die Veröffentlichung im Internet freilich scheint eine eher temporäre Sache gewesen zu sein, die Seite wird nicht konsequent auf dem Laufenden gehalten und diese breit öffentliche Beziehungsweise weniger gepflegt. Die notes zeigen und sind Beispiele dafür, was Haraway nahebringen will: »Die Tiere, Menschen und Maschinen sind alle eingebettet in die hermeneutische Arbeit (und das hermeneutische Spiel) durch das, was die material-semiotische Aufgabe erfordert, dass man miteinander in spezifischen Lebenswelten klar- und weiterkommt. Sie berühren sich, also sind sie.«44
Dem Konstrukt eines isolierten, beziehungslosen Selbst des sich und sein Denken zentral setzenden Menschen(mannes), der cartesianisch glaubt/e: »Ich denke, also bin ich« ist eine gründliche Absage erteilt. »Menschlicher Exzeptionalismus ist etwas, an das companion species sich nicht halten können.«45 Erst »eine ›Kontakt‹-Perspektive stellt heraus, wie Subjekte in und durch ihre Verbindungen zueinander entstehen«.46
T OCHTER EINES S PORTREPORTERS Natürlich ist auch die Selbstverortung als sportswriter’s daughter eine Trope. ›Tochter‹ ist a priori ein Beziehungswort und impliziert, dass sie diese Tochter schon immer war und vom Vater und seinem Beruf geformt wurde, aber umgekehrt auch die verschiedensten Prägungen unter diesen Begriff subsumieren kann. Wenn Elisabeth von Samsonow bilanziert, »Diese ›Tochter‹ erscheint da
43 Haraway 2008 (Anm. 10), die Veröffentlichungsgeschichte (ebd., 394) und Literaturrecherchen (vgl. Anm. 11) weisen auf 2006. 44 »They touch; therefore they are.« Haraway 2008 (Anm. 10), 262-263. 45 Ebd., 165. 46 Ebd., 216, Hervorh. v. mir.
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wie ein neuer, proteischer Signifikant: nicht-identisch, aber in allem«,47 dann lässt sich darin wieder das ursprüngliche Cyborg-Konzept ausmachen – das ja auch schon von dieser Tochter verfasst worden war, die sich nun aber explizit dieser biographischen (Selbst-)Beschreibung bedient, damit gleich neu aufsetzend, was Zuschreibungen an eine ›Tochter‹ sind, und selbstverständlich ablehnend, Tiere in solche Verhältnisse zu setzen, für sie Mum and Dad sein zu wollen48 oder sie wie »Kinder mit Pelz (oder Flossen oder Federn)«49 zu behandeln. Donna Haraway nimmt alle ihre auch persönlichen Narrationen als eine Übung, diese Erfahrungen mit herrschenden Kategorien und Paradigmen abzugleichen – und damit deren Unzulänglichkeiten, meist gar deren Repressionspotenzial aufzudecken, damit zu zeigen, dass sie dem realen (Miteinander-)Leben nicht gerecht werden, weder epistemologisch noch politisch.50 Und so wird auch, was als harmlose Würdigung des Vaters beginnt, sofort wieder zum Rundumschlag: »Vielleicht ist tatsächlich dies das Wissen der Tochter, das durch die Art von Achtung/ Respekt möglich gemacht wurde, die ihr Vater ihr entgegengebracht hat – das Wissen, dass wir nie menschlich waren, und so nicht in der dieser zyklopischen Falle gefangen sind, der Falle von Geist und Materie, Handeln und Leiden, Handelnde/r und Instrument. Weil wir nie der Mensch des Philosophen gewesen sind, sind wir Körper in verflochtenen, in ontischen und in aberwitzigen Verbindungen.«51
47 Elisabeth von Samsonow: Große und kleine Tiere in totaler Interaktion. Die Cyberfeministin Donna Haraway begleitet ihre Hündin Cayenne zur Leistungsschau und philosophiert dabei über die Biosozialität von Mensch und Tier. In: http://www. recherche-online.net/donna-haraway.html; online seit 21.10.2008 (31.03.2014). 48 Haraway 2008 (Anm. 10), 225. 49 Ebd., 165. Dies zielt auch auf manche Tierrechts-Ansätze, die mit ›Bewusstseinsstand‹ operieren. 50 Damit sind sie philosophisch ›(faktisch-)ontisch‹ zu nennen (als aktuell seiend beschreibbar), aber nicht ›ontologisch‹ (das Wesen des Seins enthüllend). 51 Haraway 2008 (Anm. 10), 165, Hervorh. v. mir. Nicht übersetzbar ist das Wortspiel ontic and antic (relatings): antic (die Posse, die Fratze, das Groteske beschreibend) spielt mit antique (antik) und der humanistischen Verklärung der Antike. In »zyklopisch« wird aber die Antike direkt beerbt und liegt der Ton auf der Einäugigkeit im Sinne einer eindimensionalen Perspektive, die zudem ›(halb-)göttlich‹ ist und sich (und andere!) in Waffenschmieden und Bauwerken sowie in Gedankengebäuden niederschlägt. Diese Figuration findet sich in älteren Schriften als god trick.
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Sie ist Tochter von vielem – und ganz sicher nicht die einer vergöttlichten Väterlichkeit. Aber sie ist die Tochter der väterlichen Presse- und Sport-Verbindungen. Die lange damit zu ringen hat, dass Ihr Vater Frank Haraway (1916–2005), ein halbes Jahrhundert lang Sportreporter für die Denver Post und danach weiter prominent im Sportgeschäft tätig, ihren Sport nicht als solchen wahr- und ernstnimmt, bis sie kurz vor seinem Tod als Reaktion auf ein übersandtes Video doch einen Spielbericht nach allen Regeln der Kunst und Zunft erhält. 52 Ihr Vater war selbst aktiver Sportler, spielte Tischtennis, Baseball und Basketball.53 Seine Söhne übernahmen in ihrem Gang das väterliche körperliche Vorbild.54 So steht das biographische, das Leben des Vaters seit seiner Kindheit erzählende, Kapitel unter dem Titel Able Bodies, Körper mit Befähigung, dem Kontrastbegriff zu disabled, ›behindert‹.55 Freilich hatten sich bei Frank Haraway seit dem Alter von acht Jahren Hüfte, Oberschenkel und Knie versteift. Ein Rollstuhl ermöglichte es, dass er den sportlichen Ereignissen der Nachbarschaft nicht nur zusah, sondern sich auch beteiligte, woraus sich seine allseitige Karriere in und mit dem Sport entwickelte. »Der ganze Körper war sowohl organisches Fleisch als auch Holz und Metall«56 – eine ganz klassische CyborgKonstellation. Mit diesen Erzählungen bricht Haraway also die Vorstellungen und Kategorien um körperliche Einschränkungen auf, holt auch diese aus der biologi(sti)schen Zone und nimmt sie zum Sprungbrett für neue Denkweisen. Das tut sie gründlich, wenn sie den Weg einschlägt: »Die konstitutiven companion species-Knoten [...] sind nicht ich oder irgendein anderer Organismus, sondern ein Paar Krücken und zwei Rollstühle. Diese waren seine Partner in seinem Spiel, gut zu leben.«57 Das alte Cyborg-Exposé wird also nun über companion species und die über die Hunde eingeforderte Partnerschaft buchstabiert,58 und dies auf Nicht-Organisches ausgeweitet. Ausgeweitet wird ebenfalls 52 Ebd., 176-177. 53 Fotos ebd., 169-170; als Spielbeobachter 171, und im Internet auf der ersten Seite der Notes (vgl. Anm. 41). 54 Vgl. Haraway 2008 (Anm. 10), 172. 55 S. das Kap. Significant Otherness in diesem Beitrag. 56 Haraway 2008 (Anm. 10), 167. 57 Ebd., 165-166, Haraway spielt damit, dass »live well« gern in Genesungskontexten verwendet wird. 58 Dass Haraway nun auch die Maschine selbst als Cyborg bezeichnen kann, ist vermutlich den Debatten um Künstliche Intelligenz und Roboterrecht geschuldet – die ich lieber als abermals signifikant anders betrachten würde und für Cyborg bei der kör-
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der Spezies-Begriff, »der den Status der Spezies nicht mehr determiniert als Artefakt, Maschine, Landschaft, Organismus oder menschliches Wesen«.59 Damit provoziert sie wieder einmal auch diejenigen, die sich auf ähnlichen Wegen wähnen mit ähnlichen Zielen wie sie, und die wie ich an dieser Stelle fragen können: Wie in aller Welt soll dem Ziel, Menschen und wenigstens Tieren zu mehr Partnerschaft und Augenhöhe zu verhelfen, näher zu kommen sein, wenn sich alles in holistischem Wohlgefallen auflöst?60 Politisch ist es jedenfalls eine sehr spezifische Differenz, ob Technisches als menschliche(rseits implantierte) Artefakte gewertet wird oder als eigene Entitäten und zu respektierende ›Gegenüber‹. Im ersten Fall sind konkrete Menschen in konkrete Verantwortungen und Pflichten zu nehmen, im zweiten lösen sich diese in eine diffuse numinose ›Evolution‹ auf, wie sie in vielen Technik-Debatten propagiert wird und paradoxerweise damit gerade dem alten Unausweichlichkeitsmodell Vorschub leistet, das biologistisch den Status quo fixiert. Also plädiere ich dafür, weiterhin kategorial zwischen Lebe- und anderen Wesen zu differenzieren. Für mich bleiben Frank Haraways Krücken und Rollstühle Werkzeuge und Körpererweiterungen, sie sind keine Partner. Was diese biographische Erzählung in hohem Maße leistet, ist die Zerschlagung eines Defizitmodells, in dem ›Behinderung‹ aus der Gesellschaft und Gemeinschaft derer ausschließt, die relevant etwas leisten (können), indem es mit der konkreten Biographie ad absurdum geführt wird. Gerade darin zeigt sich jedoch diese Narration als ihrerseits debattenhistorisch situiert, sogar als cyborgesk ambivalent, da sie sich in der Herausstellung der Stärken ansiedelt.
perlichen Verbindung von Organischem und Technischem bleiben möchte. Vgl. Stefanie Schäfer-Bossert: Roboter und Anthropologie. Kritik zu: Anne Foerst: Robots and Theology. In: EWE (Erwägen Wissen Ethik) 20 (2009) 2, 225-228. 59 Haraway 2008 (Anm. 10), 165; im Anschluss an die o.g. Unentscheidbarkeit von Kategorien (s.o. bei Anm. 35) und in Anlehnung an Karen Barads Agential Realism. 60 Siehe die mit viel Literatur unterlegte Beschreibung der Herangehensweisen (anthropozentrisch, sentientistisch, biozentristisch und holistisch, bei denen im Mittelpunkt steht: der Mensch, die Fühlenden (Tiere), das Leben/dige, alles Existierende) und deren Konsequenzen für konkret ethisches Handeln: Stefanie Schäfer-Bossert/ Leonie Bossert: Über Anthropozentrismus, Speziezismus und die Würde der Kreatur. Impulse aus tier- und umweltethischen Diskursen. In: Stefanie Schäfer-Bossert/Elisabeth Hartlieb (Hg.): Feministische Theologie – Politische Theologie. Entwicklungen und Perspektiven. Königstein i. Ts.: Ulrike Helmer 2012, 197-218. Ein Ergebnis darin ist, dass mit dem Modell der significant otherness weiter zu kommen ist als mit dem Postulat einer ›Tierwürde‹, die den ›Selbstwert‹ schlechter fassen kann.
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Inzwischen verschiebt sich der Ton auf Aushalten auch der Schwächen und Schwachen, wozu Haraway freilich sonst genügend Material liefert.
S HUT
UP AND TRAIN 61
Donna Haraway macht vieles sichtbar, was im Verborgenen Kräfte entfaltet, im Guten wie im Schlechten, und meist beides gleichzeitig in veränderlichen Anteilen. Diese Anteile wirklich zu verändern und damit die Lebenswelten, das ist ihr Anliegen. Dazu gilt es im Großen wie im Kleinen biographische Verflochtenheiten zu entwirren, gleichzeitig im Denken und Erkennen wie in den Praxen, von denen das Schreiben eine ist. Hierfür hat Haraway schon immer eine größtmögliche Werkzeugkiste bereit gehalten, die bereits zu frühen Frauenforschungszeiten weit über die Betrachtung von ›Geschlecht‹ und ›Natur‹ hinausging. Die naturkulturelle Konstitution von deren jeweiligen RepräsentantInnen blieb und bleibt aber – unter sich verändernden Fragestellungen – als Thema seither stets auf der Agenda. Haraway liefert keine ethischen Handlungsanweisungen, ist aber eine der wenigen, die der Zersplitterung in Einzelbereiche – bis hin in Bereichsethiken, die nicht miteinander kommunizieren und folglich unwirksam bleiben – ein Denken in größeren Zusammenhängen entgegensetzen und damit unsere tatsächliche Verfasstheit ernst nehmen, dass wir kreuz und quer in Beziehungen eingewebt und verknotet sind. Gerade dies hat ethische Implikationen, wird doch auch in der angewandten Ethik die Fragmentierung und Sektoralisierung beklagt und gefordert: »[I]ch [...] empfehle, das unglückliche Desiderat der Meta-Ethik, das Moralische als eine Perspektive moralisch neutral zu modellieren, aufzugeben und die unabweisbare Aufgabe philosophischer Ethik, das Moralische zu markieren, vielmehr vorrangig am Leitfaden einer Phänomenologie von Unrechtsbewusstsein zu erforschen: empirisch, normativ hybrid und interdisziplinär.«62
61 Dies nimmt Haraway gerne als Schlussworte, u.a. auch in 2008 (Anm. 10), 301; deutsch in etwa: »Halt’s Maul und mach’!« 62 Matthias Kettner: Wann haben wir ein moralisches Problem? In: Matthias Maring (Hg.): Bereichsethiken im interdisziplinären Dialog. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing 2014, 25-44, hier: 26 (Schriftenreihe des Zentrums für Technik- und Wissenschaftsethik am Karlsruher Institut für Technologie Bd. 6). Hervorh. v. mir.
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So lasse ich mich gern von Haraway und ihren Biosozialitäten inspirieren auf der Suche nach »Hoffnung auf Multispezies-Gedeihen im Nährboden humaner, matschiger Erdlinge«63 und »auf der Suche nach einer Möglichkeit, diese Themenstellungen in nichtmenschlichen [nichthumanistischen] Begriffen zu präzisieren, die die Unterschiede zwischen den Spezies [mindestens] so ernst nehmen wie artübergreifende Kontinuitäten und Ähnlichkeiten.«64
Ich selbst könnte von spezifischen Verbindungen erzählen – von höchst wirksamen und hoch dosierten Antidepressiva auf Pfötchen und im Mäusepelz, die mir unter Zuhilfenahme von Internet oder Telefon ins selten verlassene Haus schneien, die mir die häufigsten Direktkontakte mit außerfamiliären ArtgenossInnen bescheren, die unsere Wohnkultur so signifikant gestalten wie sie meine persönliche Evolution formen – aber das ist eine eigene Geschichte, die sich freilich bestens mit Harawayschem Instrumentarium umspielen lässt. Also – wenn Sie Ihr Leben be/schreiben, vergessen Sie die vielen Anderen nicht, ohne die Sie nicht wären, was Sie sind: die Menschen im globalen Dorf, die Konzerne, die Widerstandsbewegungen, die WissenschaftlerInnen, die PhilosophInnen, die Que(e)rdenkerInnen, die Sprüche Ihrer Oma und Ihres Nachbarn, Ihre Darmbakterien bzw. die 90% nicht menschliche DNA in »Ihrem« Körper65, die Tiere, die Sie sehen oder nicht sehen oder die bald nicht mehr zu sehen sein werden, und ... und ... und ...
63 Haraway 2012 (Anm. 12), 21. Das E bei »humane (muddy earthlings)« differenziert zum biologischeren human, ›menschlich‹. Deutsch wird diese ethische Konnotation mit ›human‹ wiedergegeben. 64 Haraway 2007 (Anm. 26), 102. Einfügungen nach Haraway 2008 (Anm. 10), 67. 65 Für den Sie ihn bislang hielten, vgl. Haraway 2008 (Anm. 10), 3.
De-Konstruktion von Geschlechterstereotypen Impulse zum diakonisch-sozialen Lernen U LRIKE W ITTEN
»Mädchen pflegen, helfen, kümmern sich. Das ist immer dieses Verhalten, dieses frauliche Verhalten, sich kümmern, sich um andere sorgen, das ist immer so Aufgabe der Frau. Das steckt auch da noch so drin.«
In diesem Zitat, das aus einem lebensgeschichtlichen Interview aus dem Jahr 2009 stammt, kommt zum Ausdruck, was viele Menschen unreflektiert für gegeben halten: Mädchen und Frauen sind auf Grund ihres Geschlechts, welches über die Fähigkeit zur Mutterschaft verfügt, dazu prädestiniert, sich um andere zu kümmern, für andere Sorge zu tragen.1 Im Folgenden wird der religionspädagogischen Forschungsfrage nachgegangen, inwiefern im diakonisch-sozialen Lernen Geschlechterwissen in auto-biographischer Form vermittelt wird und welche Folge dies für das Lernen von Jungen und Mädchen hat. Dazu wird zunächst das didaktische Setting des diakonisch-sozialen Lernens beschrieben. An-
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Widerlegt ist seit langem die Annahme Carol Gilligans, dass es ein geschlechtsspezifisch unterschiedliches moralisches Denken gäbe. Statt des Geschlechts ist bei moralischen Entscheidungen vielmehr die Involviertheit in das Thema entscheidend. Die Ursache für eine unterschiedliche Entwicklung sind verdeckte Rollenzuschreibungen und eine entsprechende Erziehung, vgl. Gertrud Nunner-Winkler: Weibliche Moralentwicklung? In: Gottfried Adam/Friedrich Schweitzer (Hg.): Ethisch erziehen in der Schule. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, 355-369.
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schließend wird exemplarisch Geschlechterwissen in einem lebensgeschichtlichen Interview analysiert. Zum Abschluss werden Möglichkeiten und Grenzen abgesteckt, inwieweit alltägliches Geschlechterwissen mit didaktischen Methoden dekonstruiert werden kann.
D ER K ONTEXT : D AS
DIAKONISCH - SOZIALE
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Das diakonisch-soziale Lernen hat in den letzten Jahren in der Religionspädagogik erheblich an Bedeutung gewonnen. Beginnend mit diakonischen Praktika Ende der 1970er Jahre hat sich das diakonisch-soziale Lernen nicht nur zum profilbildenden Element evangelischer Schulen (teilweise mit Diakonie als Unterrichtsfach) entwickelt, sondern stellt eine religionspädagogische Konzeption dar, die praxiserprobt vielfältigste Lernmöglichkeiten für junge Menschen bietet.2 Diakonisches bzw. diakonisch-soziales Lernen wird als Persönlichkeitsentwicklung verstanden. Das heißt, es ist nicht nur zu lernen, was Diakonie ist oder wie man diakonisch handeln könnte. Leitend ist ein theoretisches Verständnis von diakonischem Lernen als Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, sodass diakonisch gehandelt wird, um dem entwickelten Selbstbild zu entsprechen. 3
2
Vgl. Walter Boës: Diakonische Bildung. Grundlegung einer Didaktik diakonischen Lernens an der Schule. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013 (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 49); Gottfried Adam/Heinz Schmidt/Uta Hallwirth (Hg.): Diakonisch-soziales Lernen. Ein religionspädagogischer Reader. Münster: Comenius-Institut 2013; Ulrike Witten: Diakonisches Lernen an Biographien. Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale, Mutter Teresa. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014 (Arbeiten zur Praktischen Theologie 56).
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Arbeitskreis Diakonisches Lernen: Diakonische Bildung und diakonisch-soziales Lernen. Positionspapier. In: Christel Ruth Kaiser (Hg.): Diakonie und Schule. Die Hallenser Barbara-Schadeberg-Vorlesungen. Münster/New York/Berlin: Waxmann 2006, 111-119 (Schule in evangelischer Trägerschaft 6); Helmut Hanisch/Christoph Gramzow/Siegfried Hoppe-Graff: Diakonisches Lernen – Konzeptionelle Annäherungen auf empirischer Grundlage. In: Helmut Hanisch/Heinz Schmidt (Hg.): Diakonische Bildung. Theorie und Empirie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004, 76170; Helmut Hanisch: Diakonisch-soziales Lernen als Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung. In: Gottfried Adam/Helmut Hanisch/Heinz Schmidt/Renate Zitt (Hg.): Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens. Stuttgart: Calwer 2006, 43-55; Gottfried Adam: Diakonisches Lernen in Schule und Gemeinde. In: Glaube und Lernen 15 (2000) 1, 68-79.
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Diakonisches Lernen wird verstanden als situiertes4 und damit enkulturierendes Lernen. Schülerinnen und Schüler werden zur engagierten Teilhabe an einer Kultur des Helfens befähigt, indem sie in diakonischen oder sozialen Einrichtungen mitarbeiten, die dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beobachten und mit ihnen ins Gespräch kommen. Auf diese Weise haben sie Anteil am kulturellen und kommunikativen Gedächtnis der Diakonie, in dem Erfahrungen vorangegangener Generationen gespeichert sind. Diakonie ist Praxis des christlichen Glaubens, denn die »biblisch geforderte Überführung des Glaubens in den Vollzug der Nächstenliebe bedarf eines grundlegenden praktischen Handelns«5 und diakonisches Handeln ist nur zu erwarten, wenn es handelnd eingeübt wurde. Schülerinnen und Schüler lernen daher, sich als Teil der diakonisch tätigen Gemeinschaft zu verstehen, zu der alle Christen gehören.6 In der Durchführung bedeutet dies, dass das diakonische Praktikum das »Herzstück« diakonischen Lernens bildet7 und das Lernen in der Praxis intensiv vor- und nachbereitet wird.8 Diakonisches Lernen bedeutet also nicht, etwas über Diakonie zu lernen, sondern zu lernen, in der Praxis diakonisch zu handeln. Im situierten Lernen soll nicht über etwas gesprochen werden (talking about) wie dies in der Regel beim akademisch orientierten schulischen Unterricht geschieht , sondern es soll an der Gesprächskultur der Gemeinschaft teilgenommen werden (talking within).9 Wissen wird also in der Praxis situiert vermittelt, erworben und individuell konstruiert. Dabei handelt es sich auch um Geschlech-
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Vgl. Jean Lave/Etienne Wenger: Situated learning. Legitimate peripheral participation. New York: Cambridge University Press 1991.
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Huldreich David Toaspern: Diakonisches Lernen. Modelle für ein Praxislernen zwischen Schule und Diakonie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 (Arbeiten zur Religionspädagogik 32), 49-50. Der Erfolg des diakonischen Lernens hängt von diesen Lernformen ab und ist darauf zurückzuführen, dass sie sich vom herkömmlichen schulischen Unterricht unterscheiden, vgl. Hanisch/Gramzow/Hoppe-Graff (Anm. 3), 92 u. 118.
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Anastasios Kallis: Diakonie. Östliche Kirchen. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Stuttgart: UTB 42008 (RGG4), 795-796; Michael Schibilsky: Diakonie. Praktisch-theologisch. In: RGG4, Bd. 2, 798-801.
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Vgl. Gottfried Adam: Lernen an außerschulischen Lernorten. In: Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium. Hg. v. Michael Wermke/Gottfried Adam/Martin Rothgangel. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2006, 357-382.
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Vgl. Hanisch/Gramzow/Hoppe-Graff (Anm. 3), 133-141.
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Ebd.
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terwissen in Form des Alltagswissens.10 Die Erfahrung zeigt, dass männliche und weibliche Heranwachsende in verschiedener Weise diakonisch lernen.11 Unterschiede zeigen sich auch in der Berufswahl junger Frauen und Männer. Zwar soll diakonisch-soziales Lernen nicht in erster Linie berufsorientierend sein, weil Diakonie als Aufgabe nicht nur institutionell-hauptamtlich zu realisieren ist, aber es kann für junge Menschen, die kurz vor Abschluss der Schule stehen, durchaus diese Wirkung zeigen. Mädchen bevorzugen nach wie vor weiblich dominierte Berufsfelder, die schlechter bezahlt sind, schlechtere Arbeitsbedingungen haben und die weniger Karrieremöglichkeiten bieten. 12 Mit der Krankenpflege wählen sie einen Beruf, der der traditionellen Frauenrolle besonders entspricht.13 Zur Entstehung der Krankenpflege als einer anerkannten Tätigkeit für Frauen trug die Übernahme des bürgerlichen Frauen-Ideals bei. Das wirkt sich auch auf heutige Krankenpflegerinnen noch aus; dass sie sich für den Beruf der Krankenpflege entscheiden, ist vor allem in ihrer Sozialisation bedingt. Bevor nach den Folgen, die diese Gegebenheiten für das diakonisch-soziale Lernen haben, gefragt wird, soll exemplarisch das Geschlechterwissen, über welches eine Mitarbeiterin einer sozialen Einrichtung verfügt, dargestellt werden.
G ESCHLECHTERWISSEN IM LEBENSGESCHICHTLICHEN
G ESPRÄCH
Im März 2009 wurde mit Anne Schmidt14, einer Mitarbeiterin eines Leipziger Altenheims, die zugleich als Mentorin im diakonischen Praktikum fungierte, ein
10 Vgl. Angelika Wetterer: Geschlechterwissen & soziale Praxis: Grundzüge einer wissenssoziologischen Typologie des Geschlechterwissens. In: dies. (Hg.): Geschlechterwissen und soziale Praxis. Theoretische Zugänge – empirische Erträge. Königstein i. Ts.: Ulrike Helmer 2008, 39-63, hier: 50. 11 Vgl. Lothar Kuld/Stefan Gönnheimer: Compassion – Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 2000, 152. 12 Vgl. Ursula Neuhof: Vielfalt statt rosa Zukunftsträume und hellblauer Berufswünsche – Ansätze geschlechtersensibler Berufsorientierung. In: Sven Ernstson/Christine Meyer (Hg.): Praxis geschlechtersensibler und interkultureller Bildung. Wiesbaden: Springer VS 2013, 87-102, hier: 88-89. 13 Vgl. Doris Leusch-Moraga/Kerstin Wittig-Brackelmann: Mädchensozialisation und ihre Auswirkungen auf die Berufssozialisation zur Krankenschwester. Pflegedokumentation. Hintergrundinformationen für Unterricht und Praxis 50 (1997) 10, 2-18. 14 Der Name wurde anonymisiert.
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lebensgeschichtliches Interview geführt. Ziel des Gesprächs war es, das kommunikative Gedächtnis, in das die Lernenden eintreten, exemplarisch zu erschließen. Im bewusst offen gehaltenen Gespräch ging es nicht explizit um die Kategorie Geschlecht, sondern ausgehend von der auto-biographischen Rekonstruktion um Prägungen, Vorbilder, Wandel des Berufsfeldes und religiöse Einstellungen. Es ist daher umso interessanter, dass sich in der Analyse des Interviews dennoch das alltägliche und berufsfeldspezifische Geschlechterwissen15 sehr deutlich zeigte. Quellenkritisch ist anzumerken, dass Befragte und Interviewerin gemeinsam die Quelle, die nun analysiert wird, erschaffen. Das diakonisch-soziale Lernen, die Mentor/innenfunktion, die die Befragte für Schülerinnen und Schüler inne hat, ihr Berufsfeld sowie der Arbeitsort, an dem das Gespräch geführt wurde, schaffen einen Rahmen, der das Gesagte beeinflusst. Bevor das Geschlechterwissen analysiert wird, soll kurz der Lebenslauf der Interviewpartnerin nachgezeichnet werden. Anne Schmidt wurde 1967 in der DDR geboren und wuchs mit ihrer Schwester bei einer alleinerziehenden Mutter auf. In den Sommerferien arbeitete sie als Schülerin erstmalig in einem Altenheim, was sie nicht nur als erschreckend, sondern auch als abschreckend empfand. Nach der zehnklassigen Polytechnischen Oberschule absolvierte sie eine Lehre zur Tierwirtin. Schon während der Ausbildung merkte sie, dass sie nicht weiter in diesem Berufsfeld arbeiten wollte. Auf der Suche nach einem Beruf mit Menschen und einem Berufsfeld, »wo du mal noch aufbauen kannst«, bewarb sie sich in dem städtischen Altenpflegeheim, in dem sie auch heute noch arbeitet. Auf Grund des Pflegenotstandes wurde sie sofort eingesetzt. Nebenberuflich qualifizierte und bildete sie sich stetig fort, pflegte teils parallel ihre Angehörigen und wurde Mutter zweier Kinder. Neben den biographischen Inhalten waren im Gespräch mit Anne Schmidt die Geschichte der Einrichtung, die Versorgung der Bewohner/innen, die Zustände vor und nach 1989, aktuelle Herausforderungen sowie die Arbeit als Mentorin für Schülerpraktikant/innen Thema. Für die Mentor/innentätigkeit waren vor allem ihre eigenen Erfahrungen prägend. Junge Menschen sollten nicht dieselben negativen Erlebnisse wie sie haben, vielmehr sollte behutsam der Kontakt zwischen Bewohner/innen und Praktikant/innen aufgebaut werden.
15 Vgl. Irene Dölling: ›Geschlechter-Wissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23 (2005) 1-2, 44-62, hier: 50-51.
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Im Folgenden wird der Kontext, in dem das Geschlechterwissen zur Sprache kommt, erläutert und Ausschnitte aus dem Interview analysiert. Als Anne Schmidt im Gespräch auf ihre Berufssuche als junge Frau zurückkommt, »Na irgendwas möchtest du ja jetzt machen und was willste jetzt machen? Na. Und jetzt irgendwo ein Beruf, wo ich nicht mit Menschen in Kontakt wäre, nicht so, das wäre nicht so das Ding für mich gewesen. Na. Und für ’ne gute Verkäuferin habe ich mich auch nicht unbedingt gehalten. Das war nicht so der Weg, den ich auch einschlagen wollte. Und da habe ich gedacht, das robierste einfach mal. Du guckst, wenn’s nicht funktioniert, musste dir was anderes suchen, ist klar. Es war mehr so die Suche, was kannst jetzt machen […].«
stellt die Interviewerin die Frage, ob dieser Beruf damals ein typischer Frauenberuf gewesen sei. »S: Ja! Wir hatten auch Pfleger, aber selten. Das waren Exoten. Ist ja eigentlich auch heute nicht so viel. Also, die Klassen, wenn man jetzt unsere Altenpflegeklassen haben, oder auch unsere, wir haben ja auch Fachschüler von der Uni, die ihr Pflegepraktikum dann hier machen. Also das sind größtenteils Mädchen, größtenteils. I: Wissen Sie, woran liegt das? S: Hm, ganz normales Verhalten. Mädchen pflegen, helfen, kümmern sich. Das ist immer dieses Verhalten, dieses frauliche Verhalten, sich kümmern, sich um andere sorgen, das ist immer so Aufgabe der Frau. Das steckt auch da noch so drin. Hm. Auch wenn ein junger Mann sagt: ›Ich bin Pfleger.‹ Das ist auch nicht so anerkannt, irgendwie. I: Obwohl, die Pflege an sich ist doch ein körperlich auch sehr anstrengender Beruf. Na, deswegen ist das ja eigentlich schon so vom Körperbau, sind Männer dafür viel eher geschaffen. S: Ich denke mal, da in dem Ausführen von so einem Beruf denkt man da an das Körperliche ja nicht. Man denkt, jetzt gehe ich da hin, jetzt kümmerʼ ich mich um jemand anderes, muss bestimmte Arbeiten für den machen, was, denke ich, auch im Kopf auch immer noch so ne Frauenarbeit ist. I: Haben Sie hier einen männlichen Mitarbeiter? S: Ja. Wir haben jetzt, mittlerweile haben wir jetzt zwei, der eine ist nur noch ein halbes Jahr bei uns da, der geht dann wieder weg. Dann haben wir aber auch noch einen Mann. Das tut uns gut. Tut dem Team sehr gut, wenn das also nicht durchweg Frauen ist.«
Am Text wird deutlich, dass die Entfaltung des Themas ausgehend von Impulsfragen durch die Interviewerin geschieht. Es wurde versucht, die Nachfragen so zu gestalten, dass sie das Gespräch weiterführen, ohne eine bestimmte Richtung
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vorzugeben. Einmal konstruiert die Interviewerin einen Widerspruch zum Gesagten, um dadurch das Gespräch zu diesem Thema zu intensivieren. Daraus entwickelt sich ein Themenkreis, der die Gender-Frage in der Pflege, aus Perspektive der Pflegenden sowie aus Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner behandelt. »I: Hm. Und für die Bewohner. Wie ist es da? Gibt es da auch mehr Frauen oder ist das gemischt? S: Mehr Frauen. Wir sind viel mehr Frauen als Bewohner. I: weil Frauen länger S: Ja. I: leben. S: In der Generation auf jeden Fall. Die leben auf jeden Fall in der Generation länger. Und dann kommt ja auch noch dazu, wenn Männer ein gewisses Pflegebedürfnis haben, kümmern sich doch die Frauen drum. I: Ja, gibt’s meistens noch die Frau. S: Da gibt’s immer noch die Frau, die sich zuhause um den Mann kümmert.«
In diesem Interviewabschnitt zeigt sich, wie Interviewerin und Befragte gemeinsam Geschlechterwissen konstruieren. Aus der Beobachtung, dass in der Einrichtung mehr Frauen leben, was durch die höhere Lebenserwartung von Frauen gegenüber Männern begründet wird, ziehen beide die ›logische‹ Schlussfolgerung, dass dies der Grund dafür sei, dass Frauen sich um ihre Männer kümmerten. Die Geschlechterrollen scheinen für Anne Schmidt bisher keine besondere Bedeutung gehabt zu haben und von ihr innerhalb ihres beruflichen Kontextes bislang nicht bewusst reflektiert worden zu sein. Geschlechterwissen, das Irene Dölling definiert als »den biografisch aufgeschichteten, sich aus verschiedenen Wissensformen zusammensetzenden und strukturierten Vorrat an Deutungsmustern und an Fakten- und/oder Zusammenhangs-Wissen, mit dem die Geschlechterdifferenz wahrgenommen, bewertet, legitimiert, begründet bzw. als selbstverständliche, quasi ›natürliche‹ Tatsache genommen wird«,16
wird in diesem Interview durch den Bezug zur eigenen Biographie und die Schilderung des Berufsalltags vermittelt. Es wird legitimiert durch den empirisch in Vergangenheit und Gegenwart beobachtbaren Befund, dass Frauen in der Al16 Ebd., 49.
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tenpflegepraxis in der Überzahl sind. Diese Beobachtung wird darauf zurückgeführt, dass Pflege dem ›normalen‹ Verhalten von Frauen entspreche. Sorgen und sich kümmern gehöre zu den Aufgaben der Frau. Wenn Männer in diesem Berufsfeld arbeiten, sei dies »nicht so anerkannt«. Alltags- und berufsspezifisches Geschlechterwissen beinhalten bei Anne Schmidt die Überzeugung, dass Frauen zu diesem Aufgabenfeld eine besondere ›Veranlagung‹ hätten, die allerdings nicht näher benannt wird. Dies vermittelt den Eindruck, dass es sich dabei um eine Art geistige Anlage handeln würde. Diese Annahme kann auch mit Anne Schmidts Biographie erklärt werden. Durch ihren Quereinstieg in die Altenpflege und die erst später folgende nebenberufliche Qualifizierung hat sie erlebt, dass sie über die für ihren Beruf notwendigen Kompetenzen bereits verfügte oder sie im Prozess erwarb. Es liegt also nahe, dass sie ihren Bildungsprozess nicht nur als professionellen berufsspezifischen Kompetenzerwerb ansieht, sondern auch auf ihre mit dem Geschlecht gegebene ›Veranlagung‹ zurückführt. Im Gespräch beginnt Anne Schmidt zu reflektieren, dass Männer sich auf die Praxis des Berufsfelds bereichernd auswirken und dass die Festlegung der Pflege als Frauenarbeit nur »im Kopf« Frauenarbeit ist. Mit der Reflexion ist ein erster Schritt getan, um Vorurteile bzw. Stereotype zu überwinden. Was bedeutet dies für diakonisch-soziale Lernprozesse, in die Mitarbeitende sozialer Einrichtungen, wie beispielsweise Anne Schmidt, involviert sind?
D IDAKTISCHE I MPLIKATIONEN Die Gemeinschaft der diakonisch Tätigen, zu der Schülerinnen und Schüler durch das diakonisch-soziale Lernen Zugang erhalten sollen, richtet sich an alle Menschen. Problematisch ist daher, wenn sich in den Praxisphasen durch unreflektiertes Geschlechterwissen der Eindruck manifestiert, dass vor allem Frauen für diakonisch-soziales Handeln geeignet wären. Daher sollen im Folgenden didaktische Szenarien entworfen werden, dies zu verhindern. Die erste grundlegende Forderung ist, das Geschlechterwissen sichtbar zu machen. Situiert erworbenes Wissen kann nach verschiedenen Kategorien analysiert werden und das Geschlechterwissen sollte eine davon sein. Denn nur bewusst wahrgenommenes Geschlechterwissen kann kritisch analysiert werden. Um das Geschlechterwissen sichtbar zu machen, sollten wissenschaftliche Prinzipien, die beim Führen und Auswerten von Oral History-Gesprächen angewendet werden, zum Tragen kommen. Diese sollen im Folgenden beschrieben werden.
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Da Handelnde gewöhnlich nicht wissen, dass sie über Geschlechterwissen verfügen, sondern diese Wissensbestände als ›natürliche‹ Einstellungen im Alltag unbewusst nutzen, ist es notwendig, das Geschlechterwissen integriert im Kontext der Gespräche innerhalb diakonisch-sozialer Lernprozesse zu erheben. Es kann nicht explizit danach gefragt werden, sondern die Erhebung sollte in ein lebensgeschichtliches Interview17 eingebettet sein. Ausgehend von offenen, erzählgenerierenden Fragen beispielsweise zur Biographie, zu Prägungen, Vorbildern etc. wird dem Interviewpartner oder der Interviewpartnerin die Möglichkeit gegeben, seine/ihre Geschichte zu erzählen und zu deuten. Die entstandene Narration wird im Anschluss daran analysiert. Dazu bedarf es einer Textgrundlage. Wenn möglich, sollte also das geplante Gespräch aufgezeichnet und transkribiert werden.18 Bei Gesprächen, die sich ›zwischendurch‹ ergeben, können im Rahmen des reflektierenden Praktikumsberichts Gedächtnisprotokolle angefertigt werden, in denen die Themen, die ›nebenbei‹ zur Sprache kamen, benannt werden. Die Notwendigkeit einer später anschließenden Textanalyse zeigte sich bei der Auswertung des Interviews. Es wurde zuerst ein Gedächtnisprotokoll angefertigt und dies dann mit dem Eindruck, der sich nach der Transkription des Interviews ergeben hatte, verglichen. Dadurch mussten zunächst erfolgte Interpretationen hinterfragt werden und es wurde deutlich, wie stark die Interviewerin in ihren Deutungen von der positiven Gesprächsatmosphäre und der Sympathie für Anne Schmidt beeinflusst war. Die zeitlich versetzte Auswertung des Interviews ermöglichte veränderte Einsichten. In der Analyse des oben dargestellten Interview-Ausschnittes war zu erkennen, dass Anne Schmidt im Gespräch beginnt, ihre Ausführungen zu reflektieren und zu relativieren. Das wäre bei einem einmaligen Hören nicht in dem Maße deutlich geworden. Die Aufzeichnung und das Transkript bieten zudem die Möglichkeit, das Gespräch weiteren Personen zugänglich zu machen, z.B. Mitschülerinnen und Mitschülern oder der Lehrkraft, und so gemeinsam die Quellenkritik durchzuführen. Die Interpretation eines lebensgeschichtlichen Interviews kann sich nicht auf die Nacherzählung des Erinnerten beschränken. Die Aufgabe besteht darin, »die
17 Vgl. Roswitha Breckner: Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster: Westfälisches Dampfboot 1994, 199-222. 18 Vgl. Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Hamburg: ErgebnisseVerlag 1999, 30.
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Erzählung unter einer bestimmten Fragestellung zu deuten«.19 Das Interview kann strukturiert werden, der Lebenslauf der Befragten herausgearbeitet und zwischen Themen, die die Person von sich aus anspricht, und Themen, die auf Nachfrage zur Sprache kommen, unterschieden werden. Von Interesse sind die individuellen Deutungen der Befragten. Dazu gehört auch die Analyse der Erzählstruktur mit den Fragen: »Was wird in welcher Reihenfolge warum erzählt? Was wird in welchem Kontext mehr oder weniger ausführlich beschrieben? Wie wird an welcher Stelle warum argumentiert?«20 Da eine historische Erzählung recht eingängig sein kann und zudem eine Beziehung zwischen Schülerpraktikant/innen und Mentor/innen besteht, ist es für die Analyse entscheidend, eine Distanz zu den Gesprächspartner/innen herzustellen.21 Das schafft den Raum, um das Gehörte kritisch zu analysieren. Vorgenommene Attribuierungen können aufgedeckt und in Frage gestellt werden, etwa dass Frauen die Sorge um die Mitmenschen auf natürliche Weise mitgegeben sei. Die Analyse darf aber nicht dazu führen, dass von einer Überlegenheit des theoretischen – eher wissenschaftlich orientierten – diakonischen Lernens gegenüber dem praktischen – eher alltagsorientierten – Wissen ausgegangen wird.22 Ein solches Besser-Wissen widerspräche dem Ansatz des situierten Lernens und würde das Lernen in der Praxis entwerten. Eine Möglichkeit, Theorie und Praxis sinnstiftend miteinander zu verbinden, ist der Vergleich. Mit ihrer Annahme, dass Frauen auf Grund ihres Geschlechts für pflegende Arbeitsbereiche besonders geeignet seien, knüpft Anne Schmidt an ein Stereotyp an, das sich durch die gesamte Geschichte der Diakonie zieht und lange Zeit als Leitbild für Frauen in der Diakonie vertreten wurde.23 Dabei han19 Ebd., 37. 20 Breckner 1994 (Anm. 17), 215. 21 Vgl. Jureit 1999 (Anm. 18), 390. 22 Auf nicht hierarchisch, sondern qualitativ zu unterscheidende Wissenstypen, die auf das Eingebundensein in unterschiedliche Formen sozialer Praxis zurückzuführen sind, verweist Wetterer 2008 (Anm. 10), 41-42. 23 Vgl. Ute Gause: Dienst und Demut – Diakoniegeschichte als Geschichte christlicher Frauenbilder. In: Siri Fuhrmann/Erich Geldbach/Irmgard Pahl (Hg.): Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften. Ein Forschungsbericht. Münster: LIT 2003, 65-88 (Theologische Frauenforschung in Europa 12); Silke Köser: Das Geschlecht der Diakonie. Historische Perspektiven auf ein aktuelles Thema. In: Lernort Gemeinde 21 (2003) 2, 29-33; Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871 bis 1929. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz 2003 (Kasseler Studien zur Sozialpolitik und Sozialpädagogik 1); Rajah Scheepers: Mütterlich
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delt es sich um institutionell-normatives Geschlechterwissen. Dass sich individuelles und institutionelles Geschlechterwissen decken, stellt den Anlass dar, dieses bewusst zu machen und quellenkritisch zu de-konstruieren, indem das Gesagte historisch eingeordnet wird. Der eigene »Anteil an der Geschlechtskonstruktion [ist, U. W.] vor Augen zu führen«,24 um Impulse für Neukonstruktionen zu gewinnen. Im diakonisch-sozialen Lernen gilt es, Stereotype zu thematisieren und zu dekonstruieren, indem gefragt wird, »auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln die symbolische Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit etabliert, legitimiert und manifestiert wurde«. Das historisch Gewordene zu eruieren, »kann ermutigen, bestehende Verhältnisse als veränderlich zu betrachten«.25 Das Aufdecken von zeitgebundenen Rollenbildern ermöglicht, sich von ihnen zu lösen. Über das lebensgeschichtliche Gespräch hinaus ist es sinnvoll, Geschlechterwissen dadurch bewusst zu machen, dass das scheinbar ›Normale‹ durchbrochen wird. Indem z.B. Männer verstärkt als Mentoren in Berufsfeldern eingesetzt werden, die weiblich konnotiert sind, und Frauen in sog. ›männlichen‹ Berufen. Entsprechende Praxiseinrichtungen sind dafür als Kooperationspartnerinnen notwendig. Es stellt sich die Frage, welche Folgen es hat, wenn unreflektiert im Geschlechterwissen die Überzeugung verankert ist, dass Pflege eine weiblich konnotierte Aufgabe darstelle. Empirisch sind unterschiedliche Lernzugänge und -wege von Jungen und Mädchen beim sozialen Lernen belegt. 26 Mädchen verfügen im Vergleich zu ihren Mitschülern über das geringste Selbstwertgefühl, die Jungen über das höchste. Dies kann damit erklärt werden, dass sich sozial engaund kinderlos von Amts wegen – Konzeptionen von Mütterlichkeit in der weiblichen Diakonie nach 1945. In: José Brummer (Hg.) Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Göttingen: Wallstein 2008, 236-253. Vgl. für den katholischen Bereich Bernhard Schneider: The Catholic poor relief discourse and the feminization of the Caritas in early 19th Century Germany. In: Patrick Pasture/Jan Art/Thomas Buermann (Hg.): Gender and Christianity in modern Europe. Beyond the feminization thesis. Leuven: Leuven University Press 2012, 35-56 (KADOC-studies on religion, culture and society 10). 24 Heidrun Dierk: (De-)Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen. Die Mutterhaus-Diakonie als Beitrag und Ausdruck von Vergeschlechtlichung weiblicher Berufsarbeit und Implikationen der Feminisierung der Pflege bis in die Gegenwart. In: Johannes Eurich/Christian Oelschlägel (Hg.): Diakonie und Bildung. Heinz Schmidt zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Kohlhammer 2008, 140-155, hier: 140. 25 Ebd., 147. 26 Vgl. Kuld/Gönnheimer 2000 (Anm. 11), 82-91 und 154-155.
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gierte Jungen über gängige Stereotype, soziales Handeln sei weiblich, hinwegsetzen, woraus sie durch die Rechtfertigung und die bewusst getroffene Entscheidung in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt werden. Mädchen hingegen werden mit der Wahl des diakonisch-sozialen Lernbereichs ihrer vorgegebenen Rolle gerecht, sie wählen diese eher aus Alternativlosigkeit, weil ihnen andere Profile nicht zusagen.27 Fatal wäre es, wenn diese unterschiedliche Ausgangslage durch unbewusst vermitteltes Geschlechterwissen noch verstärkt würde.
S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Frage nach dem Verständnis von Diakonie von Schülerinnen und Schülern hat ergeben, dass Diakonie sehr häufig mit Helfen, Liebe, Gefühl und Leid verbunden, aber kaum oder wenig mit Verstand, Spaß, Gesundheit, Leistung, Erfolg sowie Geld verdienen assoziiert wird. Für die Heranwachsenden gehört Diakonie damit nicht in den Kontext der Erfolgreichen und der Leistungsträger/innen der Gesellschaft. In der Untersuchung von Hanisch, Gramzow und Hoppe-Graff wurde als Grund für diese Auffassung vermutet, dass dieses Bild im Unterricht vermittelt würde, »wenn traditionelle schulische Leistungsanforderungen weniger stark in den Vordergrund treten als dies in anderen Fächern der Fall ist«.28 Dieses Bild der Jugendlichen von Diakonie kann aber auch von weiterwirkenden Geschlechtsstereotypen, wie sie die Diakonie selbst ausgebildet hat, bestimmt sein.29 Dass diese Stereotype weiter tradiert werden, zeigt sich in einem jüngst veröffentlichten Unterrichtsentwurf, in dem es heißt: »Als typische Merkmale für Frauen, die diakonisch leben, sind vor allem die Aufopferung der eigenen Person, ständige Dienstbereitschaft für Bedürftige und der Verzicht auf eine eigene Familie zu nennen.«30
Es gilt, solche stereotypen Vorstellungen zu de-konstruieren.31
27 Christoph Gramzow: Diakonie in der Schule. Theoretische Einordnung und praktische Konsequenzen auf der Grundlage einer Evaluationsstudie. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010, 209-215, 249, 540, 561-564. 28 Hanisch/Gramzow/Hoppe-Graff 2004 (Anm. 3), 119. 29 Vgl. Köser 2003 (Anm. 23); Scheepers 2008 (Anm. 23). 30 Silke Klatte: Diakonie. In: Christoph Gramzow/Juliane Keitel/Silke Klatte (Hg.): Sechs Unterrichtseinheiten für das 7./8. Schuljahr. Stuttgart: Calwer 2014, 225-279, hier: 243.
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Für heutige Lernende sollte ein solcher Begriff von Diakonie grundlegend weiterentwickelt werden. Dazu ist es erforderlich, Diakonie als Tätigkeit wahrzunehmen, in der individuelle Bedürfnisse wie Anerkennung und das Aufbauen sozialer Beziehungen realisiert werden. In der Praxisphase kann erlebt werden, dass Diakonie gleichberechtigt ist und dass im Hilfe-handeln eigene Bedürfnisse befriedigt werden können. Somit wird die Symmetrie, die diakonisches Handeln auf Grund des christlichen Menschenbildes besitzt, nicht aus dem Blick verloren. Neben die eigenen Erfahrungen muss im diakonisch-sozialen Lernen Wertschätzung durch andere Personen treten. Lernenden sollte verdeutlicht werden, dass es sich bei der kompetenten Sorge um den Mitmenschen nicht um eine verborgene Anlage handelt, die qua Geschlecht mitgegeben ist, sondern um einen individuellen Bildungsprozess, der entsprechende Anerkennung verdient. Dabei ist auch zu beachten, dass junge Menschen während der Pubertät ihre Geschlechtsidentität herausbilden. Das Bewusstmachen der stattfindenden Konstruktionsprozesse von Geschlechterwissen im auto-biographischen Gespräch kann zur Folge haben, dass Jugendliche erkennen, wie Geschlecht konstruiert wird, und sie in der Folgezeit dafür sensibilisiert sind und Geschlechtskonstruktionen hinterfragen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Geschlechterwissen eine Analysekategorie darstellt, die für ein diakonisch-soziales Lernen in geschlechtersensibler Perspektive hilfreich ist und deren Berücksichtigung zur Dekonstruktion von historischen und aktuellen Leitbildern anregt. Durch die Auseinandersetzung wird die Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender unterstützt.
31 Vgl. zu den Stereotypen, mit denen das diakonische Handeln von Frauen besetzt wurde, Witten (Anm. 2), 116-120.
Negativ_formen Zu den Ausgaben der Werke von Hertha Kräftner V ERENA M ERMER
Der vorliegende Artikel behandelt die Publikationen der Werke Hertha Kräftners (1928-1951) und geht von folgenden Prämissen aus: Werk- bzw. Textausgaben beeinflussen durch ihre Gestaltung das Bild der Autorin und des Autors, welches wiederum durch die essayistisch-literarische wie auch durch die literaturwissenschaftliche Rezeption1 weiter tradiert wird. Im Falle Kräftners fokussieren beide Diskurse immer noch auf zwei biographische Aspekte: das Liebesleben und den Suizid der Autorin.2
1
Beide Rezeptionsmechanismen sind hier in einem Satz genannt, da in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Autorinnen der 1950er Jahre Erinnerungsprosa nicht selten behandelt wird wie wissenschaftliche Sekundärliteratur und folglich für das (Zerr-)Bild der Autorin genauso ausschlaggebend ist. Zwei Beispiele für unkritisch rezipierte Aufzeichnungen sind: W.K. [Wolfgang Kudrnofsky]: Mein Leben mit Hertha Kräftner. (Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1951). In: wortmühle 2 (1979) 1, 19-51; Ingeborg Teuffenbach: Christine Lavant – »Gerufen nach dem Fluß«. Zeugnis einer Freundschaft. Zürich: Ammann 1989. Vgl. dazu Annette Steinsiek: Was kann sein – Überlegungen zum biographischen Umgang mit Christine Lavant. Am Beispiel Ingeborg Teuffenbach: Christine Lavant. Zeugnis einer Freundschaft. In: dies.: Christine Lavant und Ingeborg Teuffenbach. Kommentierte Edition der Briefe Christine Lavants an Ingeborg Teuffenbach und kritische Beleuchtung des Erinnerungsbuches von Ingeborg Teuffenbach. Innsbruck: phil. Diss. 1998, 213-232. Online: http://www.quellenundkultur.org/Menu/DCL/Was%20kann%20sein.pdf (1.1.2015)
2
Eine Reduktion auf lebensgeschichtliche Anhaltspunkte beeinflusst die Analysen der Werke von Autorinnen bis in die Gegenwart – hierbei wird die historisch gewachsene Annahme, Schreiben von Frauen sei stärker autobiographisch geprägt, übernommen.
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An der Reduktion auf diese beiden lebensgeschichtlichen Anhaltspunkte waren ihre ehemaligen Förderer maßgeblich, zudem auf eine respektlose Art und Weise, beteiligt – von Hans Weigel wurde sie zur »Selbstmörderin auf Urlaub«3 erklärt, Hermann Hakel charakterisierte sie als »allzu willige Nymphomanin«, deren »angebotene Liebe«4 er sich verboten hätte. In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung war es der Autor Gerald Bisinger, welcher eine Extremposition für die autobiographische Lesart einnahm: Die 1963 erschienene Ausgabe sei nicht als »Sammlung von Texten«, sondern »als ein einziges, ein ganzheitliches Werk zu betrachten […], als ein Roman etwa, der von seiner Hauptfigur geschrieben, dessen Konzept von seinen Herausgebern entsprochen wurde, und der auf Grund seiner durchaus unüblichen Entstehungsweise formal erstmalig ist und vermutlich einmalig bleiben wird.«5
Aus der Autorin Hertha Kräftner wird hier eine Figur in einem Roman konstruiert, an dessen Ende ihr Selbstmord steht. Doch auch wenn in einem Schreibprozess Geschichte bzw. Biographie gleich fungieren können wie ein literarischer Intertext,6 lässt sich das gesellschaftliche wie auch das individuelle Leben von der Warte der Literaturhistorikerin bzw. des Biographen aus nur als
Vgl. hierzu: Ursula A. Schneider/Annette Steinsiek: Werk und Leben: Einheit, Zweiheit, Drittes? Aspekte zur Biografie von Autorinnen aus dem Geist der Editionsphilologie. In: Susanne Blumesberger/Ilse Korotin (Hg.): Frauenbiografieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte. Wien: praesens 2012, 553-573 (biografiA 9). 3
Hans Weigel: Hertha Kräftner. In: ders.: In memoriam. Graz, Wien, Köln: Styria 1979, 112-117, hier: 112.
4
Hermann Hakel: Das grausame Erwachen der Hertha Kräftner. In: ders.: Dürre Äste. Welkes Gras. Begegnungen mit Literaten. Bemerkungen zur Literatur. Wien: Lynkeus 1991, 187-194, hier: 187.
5
Gerald Bisinger: Der posthume Roman »Hertha Kräftner«. In: Wort in der Zeit 10 (1964) 1, 55-56, hier: 55.
6
Vgl. etwa: »Der Terminus ›Ambivalenz‹ impliziert das Eindringen der Geschichte (der Gesellschaft) in den Text und des Textes in die Geschichte. Für den Schriftsteller [!] ist dies ein und dasselbe.« Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972, 345-375, hier: 351 (Ars poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst 8).
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etwas Außerliterarisches begreifen. Steinlechner formulierte ihre Kritik an Bisingers Konzept folgendermaßen: »Außer Acht gelassen wird bei einer solchen lebensgeschichtlichen Engführung, dass das Schreiben immer auch mit konkreten Entscheidungen, mit einer Wahl einhergeht, mit Korrekturen und Zäsuren, die der Eigengesetzlichkeit des poetischen Mediums geschuldet sind und die andererseits auf die Traditionen und diskursiven Vereinbarungen von Literatur Bezug nehmen und die nie allein aus biografischen Konstellationen herleitbar sind.«7
Auch wenn mit dem Bestreben, ein differenziertes Bild der Autorin zu zeichnen, eine Neubewertung eingesetzt hat, lässt sich festhalten, dass das alte KräftnerBild nicht durch ein neues abgelöst wurde, sondern dass nun mehrere KräftnerBilder parallel existieren. Drei in den letzten zehn Jahren erschienene Sammelbände sollen exemplarisch genannt werden für drei verschiedene Herangehensweisen an die Kräftnerschen Texte: Der 2004 von Polt-Heinzl herausgegebene Band versucht als einziger systematisch, poetologische und literaturhistorische Komponenten biographischer Bezugspunkte in den Vordergrund zu stellen. 8 Der 2007 von Clemens K. Stepina herausgegebene Band orientiert sich an biographischen Lesarten.9 2008 gab Katharina Tiwald anlässlich des 80. Geburtstages Kräftners einen Band heraus, der eine interdisziplinär-künstlerische Herangehensweise zeigt.10 7
Gisela Steinlechner: »Du bist ein Spiel in meiner Hand«. Autorschaftsmodelle bei Hertha Kräftner und Christine Lavant. In: Evelyne Polt-Heinzl (Hg.): »Zum Dichten gehört Beschränkung«. Hertha Kräftner – ein literarischer Kosmos im Kontext der frühen Nachkriegszeit. Wien: Edition Praesens 2004, 63-76, hier: 69. Zur Frage von Biographie und Fiktion siehe auch: Veronika Hofeneder: »Was ist Wirklichkeit? Eine Ferne von Dingen; ein Symbol für etwas, das ich nicht erkenne. Aber ich spüre es in meiner Phantasie.« – Phantasie und Wirklichkeit bei Hertha Kräftner. In: Clemens K. Stepina (Hg.): »Alles ist in mir«. Notate zu Hertha Kräftner. Wien: Edition Art & Science 2007, 81-91.
8
Vgl. Polt-Heinzl 2004 (Anm. 7). In den hier zusammengetragenen Abhandlungen spielen die Implikationen von Geschlechterrollen auf die Textproduktion und -rezeption eine zentrale Rolle.
9
Vgl. Stepina 2007 (Anm. 7). Es muss allerdings angemerkt werden, dass der Biographie-Begriff in manchen Beiträgen differenzierter ausgelegt und um Rollenbilder, historische Komponenten und theoretische Positionierungen bereichert wird.
10 Vgl. Katharina Tiwald (Hg.): Berührungen. Hertha Kräftner zum 80. Geburtstag. Mattersburg: edition lex liszt 12 2008. Es finden sich hier einige positive Beispiele für eine künstlerische Annäherung an das Werk Kräftners (vgl. z.B. Barbara Mayer,
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AN _/E IN _ ORDNUNGEN Schmidt-Dengler weist (wie schon Bisinger mit seinem Hinweis auf das Entsprechen durch die Herausgeber) darauf hin, dass »zu einem solchen Urteil [dass bei Kräftner eine enge Verbindung zwischen Leben und Werk besteht] auch die Erscheinungsform des Werks«11 beitrage. Ob dies zutrifft und inwieweit die verschiedenen Ansätze durch die Textausgaben begünstigt werden, soll im Folgenden untersucht werden. Bereits ein kurz gehaltener Überblick zu den verschiedenen Textausgaben (eine genaue Analyse findet sich bei Schmidjell12) zeigt, dass bei der Herausgabe von Kräftners Werken keine Kontinuität gegeben ist – allein dadurch nicht, dass diese in sechs verschiedenen Verlagen als selbstständige Publikationen erschienen. Die erste Ausgabe wurde 1963 von Otto Breicha und Andreas Okopenko veranstaltet. Ein Gesamtverzeichnis aller Texte (nebst Anführung von Varianten) liegt vor, allerdings lässt sich im Vergleich mit dem Inhaltsverzeichnis feststellen, dass nur ca. die Hälfte der Texte Aufnahme in den Band fand. 13 Eine diesbezügliche Erklärung fehlt. Lyrik und Prosa sind (so weit die Datierung dies ermöglichte) chronologisch angeordnet, jedoch ist die Prosa (ohne Angabe von Gründen) in zwei Sparten gegliedert. Eine Zuordnung in die zweite Sparte könnte darauf hinweisen, dass der Text von den Herausgebern als autobiographisch verstanden wurde. Es befremdet, dass die Notizen zu einem Roman in IchForm dazu gezählt werden (evtl. wegen der Erzählperspektive?). Briefe wurden gar nicht aufgenommen, mit Ausnahme von Zitaten aus solchen in den Biographischen Feststellungen.14 Die Hinweise zur Textgestaltung sowie zur zeitlichen Einordnung zeigen eine für die Leser_innen relativ transparente Vorgehensweise. Die zweite Ausgabe erschien 1977. Titel und Verlag wurden gewechselt, doch der Inhalt ist – bis auf die Einarbeitung weniger Korrekturen und das Feh-
Sabrina Hergovich: Sichtbar machen. In: ebd., 89-92), allerdings fehlt eine klare Trennlinie zwischen kreativer und wissenschaftlicher Interpretation. 11 Wendelin Schmidt-Dengler: Die schaurige Lust der Isolation. In: Polt-Heinzl 2004 (Anm. 7), 21-29, hier: 21. 12 Vgl. Christine Schmidjell: Vergessen, verloren, vollendet, aufbegehrend. Rezeptionsmechanismen am Beispiel Hertha Kräftner. In: Polt-Heinzl 2004 (Anm. 7), 143-163. 13 Vgl. Hertha Kräftner: Warum hier? Warum heute? Gedichte. Skizzen. Tagebücher. Hg. v. Otto Breicha/Andreas Okopenko. Graz: Stiasny 1963, 214-217 sowie 227-229. 14 Vgl. ebd., 204-213.
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len der Zeichnungen von Kurt Absalon – deckungsgleich.15 Die 1981 im Luchterhand-Verlag erschienene und einige Texte weniger umfassende Ausgabe derselben Herausgeber folgt von der Anordnung her dem gleichen Schema; anstelle des Vorwortes von Hans Weigel ist ein Nachwort von Peter Härtling zu lesen.16 Grundlegend anders ist das 1991 von Barbara Neuwirth im Wiener Frauenverlag herausgegebene Bändchen Die grausamen Morgen gestaltet. Es beinhaltet nur fünfzehn einzelne Gedichte sowie den Zyklus Litaneien; die Anordnung folgt hier keiner rekonstruierten Chronologie, sondern basiert auf thematischen Aspekten, z.B. wurde das Gedicht Mädchen aus der frühesten Schaffensperiode an den Schluss gesetzt – wie als Fazit eines unerfüllten Frauenlebens.17 Ein dem diametral entgegengesetztes Konzept scheint der erstmals 1997 von Gerhard Altmann und Max Blaeulich herausgegebenen Ausgabe zugrunde zu liegen.18 Sie ist chronologisch aufgebaut, aber nicht – wie dies bei Breicha/Okopenko der Fall ist – nach Gattungen geordnet, innerhalb derer der Entstehungszeitraum als Anordnungskriterium gilt. Briefe und Tagebucheinträge sowie das »Werk« (Gedichte und Prosatexte) folgen je nach Datierung bzw. Zuordnung aufeinander.19 Ein Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass sich die Übernahme von Formulierungen und Motiven aus zeitnah geschriebenen Texten, die einer anderen Gattung zugehören, leicht erkennen lässt. Allerdings machen sich auch Nachteile einer streng chronologischen Anordnung bemerkbar, diese können am Beispiel der Briefe skizziert werden: Briefe haben als (Verkehrs-) Schriftstücke, welche an eine Einzelperson bzw. einen begrenzten Kreis von
15 Vgl. Hertha Kräftner: Das Werk. Gedichte. Skizzen. Tagebücher. Hg. v. Otto Breicha/Andreas Okopenko. Eisenstadt: Edition Rötzer 1977. 16 Vgl. Hertha Kräftner: Das blaue Licht. Lyrik und Prosa. Hg. v. Otto Breicha/Andreas Okopenko. Darmstadt: Luchterhand 1981. 17 Vgl. Hertha Kräftner: Die grausamen Morgen. Hg. v. Barbara Neuwirth. Wien: Frauenverlag 1991 (Die fremden Länder mein eigenes Leben [ohne Nummerierung]). 18 Vgl. Hertha Kräftner: Kühle Sterne. Gedichte, Prosa, Briefe. Hg. v. Gerhard Altmann/Max Blaeulich. Klagenfurt/Salzburg: Wieser 1997 sowie die gleich lautende Lizenzausgabe: Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, 18 (stb 3299). 19 Laut Schmidjell leistet Kühle Sterne Bisingers Theorie vom posthumen Roman Vorschub (vgl. Schmidjell 2004, Anm. 12, 152). Altmann selbst bezeichnet die Substratfunktion der Tagebücher als Kriterium, welches für diese spricht, allerdings merkt er auch an, dass ein Teil der Dichtungen »sich nicht mit der Person der Autorin auseinandersetzt […] und andererseits der anges rochene ›Roman‹ ein willkürlich konstruierter ist« (Gerhard Altmann: Hertha Kräftner. Wien: Dipl. phil. 1990, 133).
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Empfänger_innen gerichtet sind,20 einen anderen Charakter als Lyrik und Prosa; der Gattungsanspruch legt einen wesentlich niedrigeren Literarisierungsgrad nahe, was zur editionswissenschaftlichen Tradition der separaten Wiedergabe in Textausgaben führte. Ein chronologischer und nicht separater Abdruck betont hingegen den Werkcharakter und lenkt den Fokus von der Dynamik einer einzelnen Beziehung auf den Aspekt des Nebeneinander (im Falle der Liebesbriefe in Kühle Sterne: der Promiskuität).
N EGATIV _ FORMEN Neben der Anordnung ist, sofern eine Vollständigkeit nicht angestrebt wird, die Auswahl ein zentrales Kriterium für die Beurteilung von Textausgaben und deren Einfluss auf die Interpretationen von Biographie und Werk einer Autorin bzw. eines Autors. Die Konsequenzen von Streichungen bzw. Kürzungen literarischer Werke können mit dem aus dem Bereich der bildenden Künste entlehnten Begriff der Negativform erklärt werden. Bei der Anfertigung dreidimensionaler Objekte bezeichnet dieser die »Matrize, die Form, in der als Höhlung (also negativ) die Plastik ausgebildet ist, die dann durch Ausgießen mit erstarrendem Material, durch Abdruck oder Prägen in ihrer endgültigen ›positiven‹ Gestalt erscheint.«21 In der Graphik wird der Terminus für die Form, welche sich außerhalb der Umrisse eines dargestellten Objektes befindet (sprich: nicht eigentlich zum dargestellten Objekt gehört), verwendet. Die Negativform determiniert somit die Positivform: Was von der einen weggenommen wird, kommt folglich als Umkehrung zu der anderen hinzu, »eine Grube erscheint später als Wölbung, eine Rille als Stab usw.«22 Ähnlich verhält es sich mit weggelassenen Texten, welche durch ihr Fehlen die Positivform – das gedruckte Werk und somit auch das Image der Verfasserin, des Verfassers – zwangsläufig verändern.
20 Vgl. Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus ›Brief‹ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 2 (1988), 1-7. 21 N.N.: Negativform. In: Harald Olbrich (Hg.): Lexikon der Kunst. Neubearbeitung. Bd. 5: Mosb - Q. München: dtv 1996, 128. 22 Ebd.
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U N _ VERÖFFENTLICHTES In den drei Textausgaben von Breicha/Okopenko fehlen beinahe alle frühen Gedichte,23 eine Auslassung, die durch deren Klassifizierung in den Biographischen Feststellungen begründet wird: »Jungmädchenhafte, allgemeine Sentimentalität.«24 Es wird erwähnt, dass Kräftner bereits 1946 Lyrik schrieb, 25 die aber nicht aufgenommen wurde – dies mutet besonders in Bezug auf den Vollständigkeit suggerierenden Titel Das Werk (1977) paradox an. In der dünnen Auswahl von Neuwirth sind die frühen Gedichte zwar stark vertreten26 (das ist wohl durch die Thematisierung von frauenspezifischen Lebenswelten und die feministische Ausrichtung der Reihe zu erklären), vor allem aber könnte das Weglassen der Prosatexte zur Verstärkung des Bildes von Kräftner als reiner Lyrikerin 27 beigetragen haben. Für diesen Aufsatz wurde ein Vergleich der nachgelassenen Texte Kräftners28 mit der Ausgabe von Altmann/Blaeulich vorgenommen. Der Nachlass wie auch die Sammlung Günter Unger dürfte diesen vorgelegen haben; es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Teilnachlässe nach 1997 um einzelne Texte erweitert wurden. Die Untersuchung ergab, dass Lyrik und Prosa nahezu vollständig aufgenommen sind – eine Ausnahme stellt jedoch auch hier das Frühwerk dar. So fehlen z.B. drei undatierte Gedichte aus der Sammlung Günter Unger, die sich aufgrund stilistischer Komponenten in den Zeitraum
23 Einzig Morgen, Eine Liebende und Der Bahnhof wurden aufgenommen. 24 [Otto Breicha/Andreas Okopenko]: Biographische Feststellungen. In: Kräftner 1963 (Anm. 13), 204-213, hier: 204. 25 Vgl. ebd. sowie [Otto Breicha/Andreas Okopenko]: Biographische Feststellungen. In: Kräftner 1977 (Anm. 15), 166-175, hier: 166. 26 Insgesamt stammen fünf Gedichte aus der Schaffensperiode vor 1950. 27 Eine derartige Fehlinterpretation betrifft Kräftner wie so manche ihrer Zeitgenossinnen, zu denken ist z.B. an Christine Lavant oder Ingeborg Bachmann, deren Prosawerke v.a. in den ersten Jahrzehnten der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung weniger rezipiert wurden als ihre Gedichte. 28 Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien (LÖNB): Nachlass Hertha Kräftner, Sig. 412 und Sammelschwerpunkt Hertha Kräftner, Sammlung Günter Unger, Sig. 224/04. – Ich danke Christiane Hirss für die Erlaubnis zum Abdruck der unveröffentlichten Passagen von Hertha Kräftner.
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1946-47 einordnen lassen:29 Lied (Herz auf den Straßen),30 sowie die beiden konventionellen Liebesgedichte Vergessen31 und Volkslied.32 Eine Aufnahme würde aber dazu beitragen, die Entwicklung der Autorin nachvollziehbar zu machen.33 Es ist darauf hinzuweisen, dass in Kühle Sterne alle Gedichte aus zwei im Nachlass erhaltenen und von Kräftner selbst zusammengestellten Gedichtkonvoluten aufgenommen wurden.34 Dies legt die Vermutung nahe, dass aus dem lyrischen Fundus nur das ausgespart wurde, was die Autorin, Mängel erkennend, selbst ausgeschieden hatte. Stilistische Gründe wären auch eine mögliche Erklärung dafür, dass zwei Prosatexte weder bei Breicha/Okopenko noch bei Altmann/Bläulich Aufnahme fanden.35 Briefe Hertha Kräftners sind in Kühle Sterne erstmals abgedruckt, allerdings ohne Angabe des Auswahlkriteriums und -verfahrens. Die Lektüre der in der Ausgabe fehlenden, im Nachlass erhaltenen Briefwechsel mit Kolleg_innen sowie mit ihrer Familie bereichert das Image der Autorin um einige Facetten. Ein Beispiel hierfür ist der Brief vom 3.08.1948 an ihre Tante Wilhelmine Karger. In diesem äußert sich die 20-jährige Hertha Kräftner empathisch, aber vehement zu den ihr verordneten restriktiven Ausgangszeiten. Sie argumentiert logisch und stringent, warum diese ihrer Vernunft widerstreben: »[…] es wurden Frauen
29 Vgl. das Gesamtverzeichnis in Kräftner 1963 (Anm. 13). Das Gedicht Vergessen wurde in das Gesamtverzeichnis von Breicha/Okopenko nicht aufgenommen. Es ist m.E. aufgrund der Bildlichkeit und der Sprache in dieselbe Zeitspanne einzuordnen. 30 Vgl. Hertha Kräftner: Lied. (Herz auf den Straßen). Typoskript m. Korr., LÖNB, Slg. Günter Unger, Sig. 224/S1/65. 31 Vgl. Hertha Kräftner: Vergessen. Typoskript, LÖNB, Slg. G. Unger, Sig. 224/S1/82. 32 Vgl. Hertha Kräftner: Volkslied. Typoskript, LÖNB, Slg. G. Unger, Sig. 224/S1/83. 33 Dadurch könnte auch dem Mythos der ›Frühvollendeten‹ das realistischere Bild einer jungen Frau, welche sich ihre Schreibkompetenzen über den Zeitraum von fünf Jahren hindurch erarbeitete, entgegengesetzt werden. Siehe auch Evelyne Polt-Heinzl: Neue Lektüren zu Hertha Kräftner. In: Polt-Heinzl 2004 (Anm. 7), 7-15, hier: 7. 34 Vgl. Hertha Kräftner: Gedichtzusammenstellung Juni 1948. Eigenhändige Manuskripte, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/W2/1 bis W2/4 sowie: Hertha Kräftner: Gedichtzusammenstellung 1949. Typoskripte (Durchschlag), LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/W4. 35 Vgl. Hertha Kräftner: Trost. Eigenhändiges Manuskript (In: Der lieben Tante, meiner besten Freundin, ein armseliges Geschenk), LÖNB, Slg. G. Unger, Sig. 224/W4/3. Dies: Die Antwort. Eigenhändiges Manuskript, 28.06.1947, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/W13.
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schon um acht überfallen«36, Theateraufführungen oder Kulturveranstaltungen dauerten oft bis spät abends, und das, »was der Volksmund als ›schlecht sein‹ bezeichnet«37, ließe sich auch tagsüber oder vor zehn Uhr abends tun. Ein anderer Brief, den sie am 25.08.1947 an ihren Freund Otto Hirss schrieb, lässt eine humorvolle Seite erkennen: Er fängt mit der Anrede »Sehr geehrter Herr Hirss!«38 an und ist im formalen Stil gehalten – bis zum P.S. auf der Rückseite, welches folgendermaßen beginnt: »Lieber Freund, wenn Du Dir noch einmal ›gestattest, mir sehr ergebene Grüße zu senden‹, kann ich nicht garantieren, ob Du mich noch einmal lebend siehst. Die Medizin wird dann dem Fall gegenüberstehen, daß jemand aus unbezähmbarer Lachlust gestorben ist.«39 Textzeugen analytischer Fähigkeiten wurden ebenso ausgespart wie jene, welche auf Empathie, emanzipatorische Bestrebungen oder auf die Fähigkeit, phasenweise auch positiv zu denken bzw. das Leben humorvoll zu betrachten, hinweisen.
AUSLASSUNGS _ PUNKTE Genauso wie die Nicht-Aufnahme in die Auswahl sind auch Streichungen von Passagen Interventionen in den Text und als solche stellen sie Eingriffe in das Gesamtwerk der Verfasserin dar. In der Kräftner-Ausgabe von Altmann/Blaeulich sind Auslassungen auf drei verschiedene Arten gekennzeichnet: In der editorischen Notiz heißt es zwar, »Auszüge aus Tagebüchern und Briefen sind mit (…) gekennzeichnet«,40 im Text passiert die Kennzeichnung jedoch durch Auslassungspunkte in eckigen und runden Klammern, aber auch durch Auslassungspunkte, welche sich nicht von denen unterscheiden, welche die Autorin selbst gesetzt hat [!] –41 d.h. es wird Vollständigkeit suggeriert, wo sie
36 Brief von Hertha Kräftner an Wilhelmine Karger, 3.08.1948, Manuskript, LÖNB, Slg. G. Unger, Sig. 224/B2/3. 37 Ebd. 38 Brief von Hertha Kräftner an Otto Hirss, 25.08.1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/1/13. Der Brief befindet sich im Kry tonachlass Otto Hirss’, um welchen der Kräftner-Nachlass angereichert wurde. 39 Ebd. 40 Gerhard Altmann/Max Blaeulich: Editorische Notiz. In: Kräftner 1997 (Anm. 18), 371-372, hier: 371. 41 Runde Klammern sind die häufigste Markierung von Auslassungen, vgl. z.B. Kräftner 1997 (Anm. 18), 17, 21; auf S. 340 sind diese durch eckige ersetzt, nicht eingeklam-
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keineswegs gegeben ist. In Kühle Sterne wurden z.B. Reflexionen ausgelassen, die für eine rationale Herangehensweise an Beziehungsangelegenheiten sprechen,42 sowie die häufig wiederkehrende, unter dem Schlagwort ›Seele‹ subsumierte Thematisierung der platonischen Komponente von Liebe. 43 Zudem wurden Passagen eliminiert, die durch einen sichtbaren Gattungsbezug oder durch ihre sprachliche Ausprägung einen Text eher als einzelnes Schriftstück denn als Teil eines Werkganzen erscheinen lassen. So sind in den meisten Briefen Anfang und Schluss weggelassen [!]. Die Tilgungen beinhalten Anrede und Grußformel, wie z.B. im Brief vom 23.07.1947, wo sich statt der eingangs gesetzten »(…)«44 im Originalmanuskript nur eine kurze Anrede findet: »Lieber.«45 Der Anfang und der Schluss des Briefes vom 27.07.1947 sind z.B. in hohem Maße selbstreflexiv – in Kühle Sterne wurde allerdings nur der mittlere Teil desselben abgedruckt.46 Neben der Anrede fehlt der erste Absatz, in welchem die Absenderin die Funktion thematisiert, die das Briefeschreiben für sie hat: »Aber wenn meine Feder über das Papier gleitet, das später Du in Deinen Händen halten wirst, dann bist Du mir sehr nah, fast so nah wie die weinroten Dahlien auf meinem Tisch.«47 Auch der letzte Absatz nimmt auf die konkrete Schreibsituation Bezug: »Ach, nun sitze ich im Dämmer, denn plötzlich erlosch das Licht. […] Vom Garten kommt nur ein blasses, graues Licht ins Zimmer; ich sehe zu merte Punkte als Kennzeichnung einer Auslassung durch die Herausgeber finden sich auf S. 64 und 340. 42 Vgl. z.B. den Brief von Hertha Kräftner an Otto Hirss, 27.09.1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/1/20. 43 Gekürzt ist diese vorhanden im Tagebucheintrag vom 17.11.1947, vgl. Kräftner 1997 (Anm. 18), Hertha Kräftner: Tagebucheintrag, 17.11.1947, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/W12. Gestrichen wurde sie an mehreren Stellen im Brieftagebuch. Vgl. Hertha Kräftner: Brieftagebuch an Otto Hirss. Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/2. 44 Kräftner 1997 (Anm. 18), 27. 45 Brief von Hertha Kräftner an Otto Hirss, 23.07.1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/1/5. 46 Kräftner 1997 (Anm. 18), 28-30. 47 Brief von Hertha Kräftner an Otto Hirss, 23.07.1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/1/6. Vgl. auch folgende Passage: »Aber mein Brief findet wieder einmal kein Ende. Das kommt daher, weil ich beim Schreiben immer das Gefühl habe, Du säßest mir gegenüber.« (Brief von Hertha Kräftner an Otto Hirss, 23.07.1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/1/14)
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wenig, um weiterschreiben zu können.«48 Aus diesen, auf den ersten Blick belanglos wirkenden Sätzen lässt sich folgender Schluss ziehen: Trotz der gewählten Sprache und der Verwendung von Motiven aus dem literarischen Werk muss die Autorin den Brief primär als Mittel der Kommunikation gesehen haben – und nicht als literarische Gattung, welche, wie die feministische Literaturwissenschaft ausführlich belegte, im Lauf der Literaturgeschichte das Attribut des Weiblichen erhielt. Die Streichung dieser Passagen kommt daher einer Literarisierung der privaten Schriftstücke gleich. 49 Auslassungen können jedoch auch Missverständnisse über die Einordnung eines Schriftstücks evozieren, wie dies beim Brieftagebuch der Fall ist, welches Hertha Kräftner Otto Hirss im Winter 1947 zukommen ließ: Durch die Streichung folgender Passage entgeht der/dem Leser_in, dass die Briefe ursprünglich ihren Adressaten nicht erreichen sollten: »Vergiß nicht, daß sie geschrieben wurden, um nicht gelesen zu werden. Sie waren für niemanden bestimmt.«50 Welche der in Kühle Sterne aufgenommenen Briefe nun zu diesem Konvolut zählen (sprich: ohne primäre kommunikative Intention verfasst wurden), geht weder aus der editorischen Notiz noch aus anderswo angebrachten Kennzeichnungen hervor. Der das Brieftagebuch einleitende Brief wird in Kühle Sterne wie folgt abgeschlossen: »Einige, die ich im Sommer in M. schrieb, habe ich verloren. Sie erfuhren das Schicksal, das ich eigentlich allen einst zu geben gedachte. Sie sollten irgendwohin verwehen. (…)«51 Dies liest sich wie eine Umkehr der letzten Sätze des Originals: »Diese Briefe sind ein armes Geschenk, sie kommen demütig zu Dir u. sind zufrieden, wenn Du sie einmal anhören willst. Lächle nicht über sie! Und vergiß das Eine nicht: eine große Sehnsucht schrieb sie
48 Ebd. 49 Ähnlich verhält es sich mit der Problematik des Tagebuches: Während Altmann/Blaeulich nur den mit Emotionen beladenen Satz »Ich möchte immerfort Gedichte schreiben, aber zu viele Gedanken stürzen auf mich los.« (Kräftner 1997, Anm. 18, 17) aus dem Eintrag vom 30.05.1946 übernommen haben, ist im Originalmanuskript ein ganzer Absatz über die Praxis des Tagebuchschreibens enthalten. (Hertha Kräftner: Tagebucheintrag, 30.05.1946, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/W12) Siehe auch: Nicole Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis. In: Renate Hof/Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Tübingen: Stauffenburg 2008, 39-60 (Stauffenburg Colloquium 64). 50 Hertha Kräftner: Brieftagebuch an Otto Hirss, Winter 1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/2. 51 Kräftner 1997 (Anm. 18), 44.
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Dir.«52 Die so formulierte Entscheidung für eine offene Kommunikation wirkt allerdings sprachlich antiquiert und kokett, v.a. im Gegensatz zur poetischen Passage von den verwehenden Briefen. Auch an anderen Stellen wurde die stilistische Bedeutung der kommunikativen übergeordnet: Ein mit »[An Otto H.] September 1947«53 betitelter Brief, der im Original datiert ist (24.09.1947),54 endet in Kühle Sterne mit: »Ich denke immer an Dich u. doch stehst Du wie hinter Nebeln. (…)«55 Der Schluss wurde ebenso gestrichen wie große Teile des nächsten Briefes, die Herausgeber lassen diesen mit folgender Stelle beginnen: »(…) Du scheinst blasser zu werden, u. ich dachte doch unaufhörlich an Dich.«56 Die gestrichenen Passagen beinhalten Fakten, welche für Außenstehende von geringem Interesse sind. Doch deren Streichung verändert den Charakter des ursprünglichen Textes und setzt anstelle des Adressatenbezugs die romanhafte Fortführung der Nebelmetapher (hinter Nebeln – blasser). Durch die Aneinanderfügung von Textpassagen, die nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstanden sind, wird letztlich der posthume Roman fingiert. Auslassungen können in diesem Kontext auch als eine Art Weichzeichner verstanden werden: Wo Gattungs- und Textgrenze nicht scharf markiert sind, verschwimmen Positiv- und Negativform. Altmann/Blaeulich als Herausgeber haben nicht nur mit Auslassungen, sondern auch mit Änderungen gearbeitet. Im Tagebucheintrag vom 28.11.1948 heißt es: »Das Leben mit ihm ist eine unaufhörliche Forderung an meine Geduld. Er macht mich manchmal so müde, daß ich gehen möchte. Wie wird das werden? Ich kann mit ihm nicht leben, aber ich kann es ohne ihn noch weniger. Bleiben oder gehen – alles heißt: Leiden. Sterben wäre gut. Mein Tod gehörte mir allein. Da könnte er nicht mit, da hätte er keine Macht mehr.«57
Der Tagebucheintrag wird noch über elf Zeilen fortgesetzt. Sie beinhalten eine genaue Reflexion der gespaltenen Gefühle, welche mit dem Oxymoron »Am 52 Kräftner: Brieftagebuch an Otto Hirss (Anm. 50). 53 Kräftner 1997 (Anm. 18), 33. 54 Brief von Hertha Kräftner an Otto Hirss, 24.09.1947, Manuskript, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/S40/1/19. 55 Kräftner 1997 (Anm. 18), 34. 56 Ebd. 57 Hertha Kräftner: Tagebucheintrag, 28.11.1948, LÖNB, Nachl. H. Kräftner, Sig. 412/W12.
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Leben sterben …«58 endet. In Kühle Sterne findet sich die Passage in umformulierter Art und Weise, die Auslassung des Schlussteils ist nicht gekennzeichnet: »Das Leben mit Anatol ist eine fortwährende Anstrengung. Bleiben oder gehen, beides heißt leiden. Sterben! Da könnte er nicht mit.«59 Die fingierte Exklamation ›Sterben!‹ erinnert (im Vergleich zum sachlichen Kurzsatz Kräftners) an die Lyrik Rilkes – einen Bezugspunkt der frühen Kräftner-Texte. Der Text wird folglich durch den Eingriff in das Schema des von Emotionen überwältigten Epigonentums gepresst.
F AZIT Eine nach editionswissenschaftlichen Kriterien gestaltete Studien- oder historisch-kritische Kräftner-Ausgabe wäre vonnöten, um das Bild, welches von der Autorin geschaffen wurde, zu korrigieren. Die Ausgaben von Breicha/Okopenko und Neuwirth beinhalten nur eine Auswahl der Texte. Auch die umfassendere Ausgabe von Altmann/Blaeulich wird dem Anspruch einer nach wissenschaftlichen Kriterien gestalteten Werkausgabe nicht gerecht; sie kann bestenfalls als eine Komposition der Herausgeber aus Versatzstücken des Kräftner-Werkes betrachtet werden. Obwohl Hertha Kräftner ihr Werk nicht als posthumen Roman geschrieben haben kann (!), wurde es durch Interpretation und einem schematischen Biographismus verhaftete Werkausgaben einem solchen angenähert.60 Durch die Selektion und Alternation des Werks, v.a. aber der Briefe und Tagebucheinträge, wird die Autorin als (Frauen-)Typus und nicht als historische Person sichtbar gemacht. Eine sachliche und auf Vollständigkeit bedachte Edition ihrer Texte könnte dem ein realistischeres, moderneres Kräftner-Bild entgegensetzen.
58 Ebd. 59 Kräftner 1997 (Anm. 18), 64. 60 Zu denken ist hier v.a. an Kühle Sterne – auch wenn Altmann sich von jener Theorie distanziert, s. Anm. 19.
Sich zum Verschwinden bringen: Maria Erlenbergers Bericht Der Hunger nach Wahnsinn Eine literaturwissenschaftliche Spurensuche B IANCA S UKROW
»Maria Erlenberger legt eine Konfession von großer, allgemeiner Bedeutung vor. Ihr Buch, das sie in einer psychiatrischen Anstalt geschrieben hat, ist keine jener (gewiß verdienstvollen) Enqueten zur Feststellung eines menschlichen Notstands. [...] Maria Erlenberger begibt sich an den Ort, den sie schildert, mit einer Art von Freiwilligkeit, die diesem Begriff eine ganz neue Geltung verschafft. Denn nicht, um sich auf ein Sozialabenteuer unter den Ärmsten und Rechtlosen oder nur auf irgendeine Form der Indiskretion einzulassen, unternimmt sie einen ›Selbstmordversuch durch Verhungern‹. [...] In der Scharfsichtigkeit ihrer Wahrnehmung und in der Ausdrucksfähigkeit bei der Vergegenwärtigung ihrer Erfahrungen (mit sich selbst und mit anderen) erweist sich Maria Erlenberger als eine außergewöhnlich begabte Schriftstellerin. Daß sie, um diese Übereinstimmung mit sich und ihren besten Fähigkeiten [sic], mit dem Verlust ihrer Existenz im bürgerlichen Sinne bezahlen muß, ist die Anklage, die dieses Buch vorbringt.«1
Bei dem solcherart beworbenen Buch handelt es sich um Der Hunger nach Wahnsinn, das 1977 mit dem Titelzusatz Ein Bericht bei Rowohlt erschien. Maria Erlenbergers »Konfession« reiht sich ein in die Folge autobiographischer
1
Maria Erlenberger: Der Hunger nach Wahnsinn. Ein Bericht. Reinbek: Rowohlt 1977, Klappentext (das neue buch 84).
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Darstellungen von Vertreterinnen und Vertretern2 gesellschaftlicher Randgruppen, die sich seit den 1970er Jahren ungebrochen großer Beliebtheit erfreuen; unter Labels wie »Erlebnis-« bzw. »Erfahrungsbericht«, »Betroffenheitsliteratur«3 oder »Verständigungsliteratur«4 versammeln sich heterogene Veröffentlichungen schwankender literarischer Qualität und von in Bezug auf ihren sozialen, intellektuellen und schriftstellerischen Hintergrund unterschiedlichen Verfasserinnen und Verfassern. Eines jedoch ist diesen Texten gemeinsam: Sie reklamieren, auf die eine oder andere Weise, sich auf die außerliterarische biographische Wirklichkeit ihrer Autorinnen und Autoren zu beziehen. Mit diesem Vorzeichen lassen sich Betroffenheitsberichte als Sonderformat der Autobiographie auffassen, das sich im Wesentlichen durch zwei Merkmale auszeichnet: 1. Betroffenheitstexte umfassen nicht die gesamte Vita ihrer Protagonistinnen und Protagonisten, sondern konzentrieren sich auf eine klar umgrenzte Lebensphase5 bzw. spezielle Lebensbedingungen6. 2. Ihre Verfasserinnen und Verfasser sind in der Regel keine Personen des öffentlichen Lebens, schreiben also auch nur im Ausnahmefall von Berufs wegen.7 Vielmehr treten sie erst durch die Publikation ihres Erfahrungsberichts in das Licht öffentlicher Wahrnehmung.
2
Der vorliegende Beitrag war ursprünglich nicht gegendert. In Absprache mit der Autorin wurde die feminine Form bei Personenbezeichnungen eingefügt. Die Herausgeberinnen.
3
Eine von professionellen und ihrem Selbstverständnis nach intellektuellen Leserinnen und Lesern zumeist latent abwertend gemeinte Bezeichnung, die im vorliegenden Artikel aber wertfrei verstanden werden will.
4
So der in den 1970er Jahren bei Suhrkamp geprägte Begriff. Zur Entstehung des Begriffs ›Verständigungsliteratur‹ vgl. zu gegebener Zeit das Ka itel Vom Mund in die Hand: Verständigungstexte in meiner Dissertation: Der Fall des Falles. Literarische Phänomene in psychiatrischen, neurowissenschaftlichen und autobiografischen Fallgeschichten, die voraussichtlich im Herbst 2015 erscheinen wird.
5
Z.B. erschütternde Lebensereignisse wie den Aufenthalt in einer geschlossenen Psychiatrie oder einem Gefängnis, Krisen-/Katastrophenerfahrungen oder individuelle Schicksalsschläge.
6
Z.B. eine Behinderung, ein Stigma oder eine spezielle Wahrnehmungsweise wie etwa Autismus.
7
Aus eben diesen Kreisen rekrutiert sich die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren herkömmlicher Autobiographien.
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Gerd Overbeck charakterisiert die Verständigungsliteratur wie folgt: »Man könnte auch sagen, es sind Gebrauchstexte, deren Wert darin liegt, daß sie in den jeweiligen Subkulturen zu einem intersubjektiven Kommunikationsaustausch führen, der die jeweilige Gruppe konsolidiert. Solche Texte finden sich daher meistens als Reihen (z.B. Emanzipation, Homosexualität, Krankheit, Behinderung), greifen menschlich-gesellschaftliche Brennpunkte auf und zieren sich gerne mit dem Suffix ›neu‹ (Die neue Frau, Die neue Innerlichkeit etc.).«8
Und, das sei Overbecks Diagnose noch explizit hinzugefügt, sie erheben Anspruch darauf, dokumentarisch zu sein: »Durch ein Beharren auf Authentizität, d.h. grob umrissen, auf dem Wahrheitsgehalt und der Realitätsnähe des dargestellten Materials, soll dessen Glaubwürdigkeit erhöht und die Skepsis des Lesers vermindert werden. Hervorgerufen wird Authentizität durch unterschiedliche Stilmittel, beispielsweise durch Vorworte, aber auch durch andere Rezeptionssignale, etwa durch gezielte und gefilterte Informationen auf dem Schutzumschlag. Oft sind die Verständigungstexte unter einem Pseudonym verfaßt, was zu implizieren scheint, daß der reale Autor seine Person vor der sozialen Stigmatisierung, die mit der Publikation bestimmter intimer Erlebnisse verbunden ist, zu schützen versucht. Und die Veröffentlichung der Verständigungstexte geht nach der für Literatur höchst ungewöhnlichen Formel ›ein Text: ein Autor‹ vor sich; es hat den Anschein, als ob die ›authentische‹ Erfahrung des einzelnen mit der Veröffentlichung eines Textes ›verbraucht‹ sei.«9
Indem das »Rezeptionssignal« ›authentisch‹ gesetzt wird, wird nicht zuletzt ein gewisser voyeuristischer Zug der Leserschaft bedient; denn es werden nicht nur die von Overbeck erwähnten konsolidierungswilligen Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Subkulturen (bzw. deren Angehörige) angesprochen, 8
Gerd Overbeck: Die Fallnovelle als literarische Verständigungs- und Untersuchungsmethode. Ein Beitrag zur Subjektivierung. In: Ulrich Stuhr/Friedrich-Wilhelm Deneke (Hg.): Die Fallgeschichte: Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument. Heidelberg: Asanger 1993, 43-60, hier: 46-47.
9
Evelyne Keitel: Psychopathographien. Die Vermittlung psychotischer Phänomene durch Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1986, 37-38 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Folge 3, 71). Da Keitel Verständigungstexte ausdrücklich von den Autobiographien ausnimmt, weicht ihre Definition von Verständigungsliteratur allerdings stark von der im vorliegenden Artikel vertretenen ab. Auch trifft im Fall von Maria Erlenberger Keitels »Ein Text: ein Autor«-Formel nicht zu, obgleich Keitel Der Hunger nach Wahnsinn explizit als Verständigungstext definiert.
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sondern auch Außenstehende, die wissen wollen, wie es denn ›wirklich‹ zugehe in diesem oder jenem Milieu. In die Sparte ›subjektiver, aber authentischer Text‹ zur Verständigung über »menschlich-gesellschaftliche Brennpunkte« fällt, zumindest auf den ersten Blick, auch Der Hunger nach Wahnsinn.10 Der Autorin sei es »mit einem bis zur Radikalität gesteigerten Realismus, dessen objektive Gültigkeit sich allein aus der Authentizität subjektiver Erfahrung« nähre, gelungen, »einen Text vorzulegen, der die Betroffenheit des Lesers bis zur Verunsicherung zu steigern imstande«11 sei, so der Essay von Riki Winter zu Maria Erlenberger im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG); im Folgenden heißt es: »Der Vernunft, die heute in der Form einer alles umfassenden Zweckrationalität den Menschen und seine Lebensäußerungen auf ein den ökonomischen Erfordernissen zurechtgeschneidertes Maß eingeengt hat, war es schon früh gelungen, den Dialog mit jenen vitalen Energien des Menschen abzubrechen, die sich gegen eine Internalisierung disziplinierender Zivilisationstechniken zu sperren anschickten. Die Installierung der Gefangenenhäuser, der Irrenanstalten und der Behindertenheime ist nur ein Beispiel dafür. Maria Erlenberger durchbricht diese schweigend akzeptierten Grenzen, indem sie mit fast akribischer Genauigkeit und ohne die Gebärde psychologischer oder soziologischer Analysen das Leben in einer Irrenanstalt beschreibt.«12
Wie sich dem eingangs zitierten Klappentextauszug entnehmen lässt, wird auch bei der Vermarktung des Buches großer Wert darauf gelegt zu vermitteln, es handele sich um die ›wahre‹ Geschichte der Maria Erlenberger.13 Gleichermaßen
10 Das Werk ist in der von Jürgen Manthey herausgegebenen Reihe das neue buch erschienen. Damit fügt es sich formal in die mit einer gewissen Ironie von Overbeck umrissene Schablone »Reihe mit dem Suffi ›neu‹«. Allerdings handelt es sich bei das neue buch nicht um eine spezielle Reihe für Verständigungstexte, so dass die Übereinstimmung nur am Rande erwähnt sei. 11 Riki Winter: Maria Erlenberger. Eintrag in der Online-Datenbank des Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: http://www.munzinger.de/search/ klg/Maria+Erlenberger/132.html, o.S., Stand des Artikels 2006 (31.01.2014). 12 Ebd. 13 Auch Jutta Osinski wirft einen kurzen Seitenblick auf die Vermarktung von Der Hunger nach Wahnsinn, allerdings hebt sie dabei nicht auf den Versuch ab, das Werk als autobiographisches herauszustellen, sondern kritisiert den Klappentext aus antipsychiatriekritischer Warte. Vgl. Jutta Osinski: Über Vernunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklärung in der Gegenwart und im 18. Jhdt. Bonn: Bouvier 1983, 29
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wird in der überschaubaren Sekundärliteratur zu Der Hunger nach Wahnsinn immer wieder auf die besonderen Entstehungsbedingungen und vor allem den Entstehungsort des Textes verwiesen: »Wie Guntram Vesper, [...] wie Verena Stefan und Jutta Heinrich«, so heißt es in einer Darstellung von Friederike Fecht, habe »auch Maria Erlenberger in einem Prozeß der Selbstfindung einen Erfahrungs-Bericht geschrieben, der ihre Lebensverhältnisse so genau und schonungslos benennt, daß die Leser sich in ihrer eigenen Suche nach objektivierbarer Erfahrung bestätigt sehen konnten. [...] Das erste Buch der Erlenberger ist als Bestandteil einer Selbsttherapie in der psychiatrischen Anstalt entstanden.«14
Die Paratexte und Rezensionen suggerieren, bei der Lektüre könnten Interessierte nicht nur hinter die Kulissen einer psychiatrischen Anstalt sehen, sondern auch einen Blick in die Innenwelt einer ›echten‹ Psychotikerin erhaschen. Dem Lesepublikum wird nahegelegt, Autorin und Erzählerin zu identifizieren. 1975, so heißt es in einem Artikel im Spiegel, sei die damals ca. 35-jährige Maria Erlenberger mit der Diagnose Schizophrenie aus einer Nervenklinik entlassen worden.15 Auch Riki Winter statuiert, die Autorin sei selbst Insassin einer Irrenanstalt gewesen, in die sie, abgemagert auf 32 Kilo, nach einem Kreislaufzusammenbruch eingeliefert worden sei; ihr Bericht gelte »daher auch ihrer eigenen Krankheit, ihrer Magersucht, die einen offensiven Versuch« darstelle, »ihrem eigenen Leben, ihrem Selbst nachzuspüren«.16 Doch die Recherche wirft die Frage auf, wer die ominöse Verfasserin tatsächlich ist (respektive: war), und schürt Zweifel an der Verlässlichkeit der biographischen Angaben im Sekundärmaterial. Obwohl Maria Erlenberger 1978 sogar der Literaturförderpreis der Stadt Bremen zuerkannt wurde,17 wurde ihr Pseudonym nie gelüftet. Kontakt konnten (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 41). Auch Evelyne Keitel weist in der oben zitierten Passage auf das »explizite Beharren auf Authentizität« im Klappentext hin. 14 Friederike Fecht: Maria Erlenberger. In: Heinz Puknus (Hg.): Neue Literatur der Frauen. Deutschsprachige Autorinnen der Gegenwart. München: Beck 1980, 216-220, hier: 216-217. 15 Vgl. Reiner Gödtel: Das ewige Schlachtfeld Frau. Reiner Gödtel über Maria Erlenbergers »Das Erlernen der Totgeburt«. In: Der Spiegel 1980, 7, 195-197, hier: 195. 16 Winter 2006 (Anm. 11). 17 »Ausgezeichnet mit dem mit 5.000,-- DM dotierten Förderpreis wurde Maria Erlenberger für ›Der Hunger nach Wahnsinn‹ [...]. Der Name wurde als seudonym von einer jungen Frau gewählt, die dies Buch in einer psychiatrischen Klinik schrieb, als Betroffene, die schreibend und mit originärer Sprachbegabung den Spuren ihrer
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Journalisten und Journalistinnen zu der Autorin nur über einen Anwalt aufnehmen,18 und seit 1982 sind keine Publikationen mehr unter dem Namen Maria Erlenberger zu verzeichnen. Zwar wird Maria Erlenbergers Werk in einigen wenigen Sekundärtexten untersucht, in Bezug auf die Biographie der Autorin scheinen sich die Verfasserinnen und Verfasser aber im Kreis zu drehen: So zitiert etwa Mirosława Czarnecka eine Te tstelle mit biogra hischen Hinweisen zu Maria Erlenberger von Friederike Fecht,19 die wiederum ihre Angaben direkt aus Der Hunger nach Wahnsinn zu beziehen scheint.20 Riki Winter, aus deren Feder der Eintrag zu Maria Erlenberger im KLG stammt, beruft sich bei ihrer Rekonstruktion der Autorinnenbiographie auf Hans Krieger – und damit ausgerechnet auf den Rezensenten, der im Gegensatz zu den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen sauber zwischen Autorin und Erzählerin/Protagonistin differenziert und vornehmlich auf den literarischen Gehalt des Textes abzielt. Außerdem zitiert auch Winter aus dem Primärtext, als seien die Aussagen der Protagonistin Selbstaussagen der Autorin.21 Es ergibt sich ein Paradox: Ausgerechnet die Urheberin eines »Berichts«, für den Verlag und Feuilleton größte Lebensnähe und autobiographische Akkuratesse reklamieren, entzieht sich der Identifizierung. Jeder Versuch, Maria Erlenberger dingfest zu machen, führt, so scheint es, in ihre Texte zurück. Vor diesem Hintergrund ist es schlüssig, dass auch diejenigen Leserinnen und Leser, die an den Entstehungsumständen von Der Hunger nach Wahnsinn interessiert sind, in der proklamierten extratextuellen Realität keine Anhaltspunkte finden und auf die tatsächliche innerliterarische Welt zurückgeworfen werden. Krankheit folgt, sie beschreibt und sich von ihr entfernt.« Undatiertes, nicht nummeriertes Typoskript der Vergabebegründung für den Bremer Literaturpreis 1978, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung, Bremen (o. Sig.). 18 Vgl. Gödtel 1980 (Anm. 15), 195. 19 Vgl. Mirosława Czarnecka: Frauenliteratur der 70er und 80er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Warszawa/Wrocłlaw:
aństwowe Wydawnictwo Naukowe
1988 (Germanica Wratislaviensia 79), 147. 20 Fecht zitiert indirekt Passagen aus Der Hunger nach Wahnsinn, genaue Stellen- bzw. Quellenangaben macht sie allerdings – dem allgemeinen Verfahren im Sammelband Neue Literatur der Frauen entsprechend – nicht. Vgl. Fecht 1980 (Anm. 14), 217218. Ähnlich vage sind die Angaben bei Jutta Osinski, die sich darauf beschränkt zu statuieren, Maria Erlenberger gehöre zur Gruppe genesender Kranker, die in der Anstalt schrieben. Vgl. Osinski 1983 (Anm. 13), 9. 21 Vgl. Winter 2006 (Anm. 11).
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Was sich extraliterarisch nur vermuten, nicht aber überprüfen lässt (eben dass der Schreibakt, die Textgenese, in einer psychiatrischen Anstalt stattfindet), ist auf der Handlungsebene des Romans unstrittig: Der Plot umfasst den Klinikaufenthalt einer mit Schizophrenie diagnostizierten Anorektikerin, 22 die auf Anregung eines Arztes noch in der psychiatrischen Anstalt die Geschichte ihrer Erkrankung und Genesung niederschreibt. Die Gegenwartssituation in der Klinik bildet den Rahmen einer Binnenhandlung, die aus Rückblicken über den Krankheitsverlauf von den ersten Einschränkungen des Speiseplans bis zur Klinikeinweisung besteht. Bei der Lektüre fällt auf, dass die Erzählerin selbst erschütternde Ereignisse in nüchternem Ton referiert, so dass die Entfaltung von tragischem Potential fast vollständig unterbunden wird: »Im Bett neben mir ist gerade jetzt eine alte Frau gestorben. Ich habe sie, während ich noch schrieb, laut schnaufen gehört. Manchmal werden alte Leute hierher ins Irrenhaus gebracht, wenn sie sich im normalen Spital zu wirr und bunt benehmen. Jetzt liegt sie da, fleckig angelaufen, mit offenem Mund und reglos. Die Schwestern machen Scherze: ›Komm, Omi, du bist schon tot.‹ Sie transportieren das Bett in einen Abstellraum, sie muß drei Stunden liegen, bis sie aufgeschnitten wird. Es ist wieder Morgen. Ich sitze schon vor dem Frühstück im Tagraum und schreibe.«23
Friederike Fecht liest gerade aus der faktischen Erzählweise eine Kritik am Psychiatriebetrieb. Als Kranke werde die Autorin (!) »Objekt, Bestandteil der Maschinerie ›Krankenhaus‹ und mit dieser eindeutigen Rollenzuweisung« finde 22 Evelyne Keitel, die Der Hunger nach Wahnsinn in ihrer literaturwissenschaftlichen Dissertation über die Vermittlung psychotischer Phänomene in der Literatur untersucht, zählt die Magersucht zum schizophrenen Formenkreis (vgl. Keitel 1986, Anm. 9, 71). Diese Zuordnung ist allerdings sachlich unzutreffend. Zwar sind komorbide Fälle bekannt, Magersucht und Schizophrenie sind aber zwei klar voneinander abgrenzbare Störungen. Nur bei 1 bis 3% der Anorexia-nervosa-Betroffenen tritt gleichzeitig eine Schizophrenie auf (vgl. A. Joos und T. Steinert: Komorbidität von Schizophrenie und bulimischer Anorexie. Ein Fall mit forensischer Relevanz. In: Der Nervenarzt 68 (1997) 5, 417-420, hier: 417). Auf welcher Grundlage bei der Erzählerin Schizophrenie diagnostiziert wird, bleibt in Der Hunger nach Wahnsinn bis zum Schluss unklar. Auch wenn die Diagnose mehrfach, auch von Ärztefiguren, erwähnt wird (vgl. Erlenberger 1977, Anm. 1, 38, 126 und 236), liefert die Innensicht der Erzählerin wenig sichere Anhaltspunkte dafür, ob die Diagnose zutreffend bzw. für die Handlung relevant ist. 23 Erlenberger 1977 (Anm. 1), 15.
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sie »offenbar so viel Entlastung, daß sie mit ungemein genauer Wahrnehmungsfähigkeit hellsichtig und unmittelbar« beschreiben könne, was und wie sie erlebe:24 »Als erschreckend schildert sie dabei nicht so sehr die Not der Kranken, so entsetzlich deren Leiden auch sein mögen – eine alte Frau verbringt seit 27 Jahren jeden Tag in einem Sessel, in dem sie sich hin- und herwiegt, sterbende alte Frauen werden, wenn sie verwirrt erscheinen, in die Psychiatrie abgeschoben und verdämmern dort [...] – erschreckend ist vielmehr die dumpfe Grausamkeit und unberührte Gleichgültigkeit der Schwestern und Betreuer, die hier die Macht ausüben.«25
Fechts Diagnose mag zutreffen, sofern man autopoietische Signale des Textes als sekundären, vielleicht sogar zufälligen, Effekt verbucht. Dass die Erzählerin selbst eine mindestens ebenso dumpfe und gleichgültige Haltung ihren Mitpatientinnen gegenüber an den Tag legt wie das Krankenhauspersonal, wäre dann, wie auch das konstante Kreisen der Erzählerin um sich selbst, rein als Symptom der Schizophrenie zu erklären.26 Die distanzierte Erzählhaltung lässt sich jedoch auch als Bestandteil eines Systems bewusst gesetzter Gestaltungsmerkmale lesen. Dafür spricht, dass in Der Hunger nach Wahnsinn selbstreflexive Elemente fast schon überinszeniert werden. Von dieser Warte aus stellt sich Der Hunger nach Wahnsinn nicht mehr nur als psychiatriekritischer Bericht einer Psychiatrieinsassin dar, sondern auch – wenn nicht sogar vorrangig – als Produkt einer machtvollen, selbstbestimmten und selbstbewussten Gestaltungsinstanz. Folgt man dieser Lesart, scheint es nur konsequent, dass die Erzählerin ihr eigenes Erleben zur einzig maßgeblichen Perspektive macht, anderen Figuren hingegen kaum Raum zugesteht. Den eigenen Innenraum, ihr Erleben, ihre Körperwahrnehmung und ihre Erinnerungsräume gestaltet die Erzählerin mit verschwenderisch poetischen Worten aus, die zuweilen die Grenze zum Pathetischen überschreiten:
24 Fecht 1980 (Anm. 14), 217. 25 Ebd., 217-218. 26 Störungen des Affekts und der Kontaktfähigkeit (auch unter dem Begriff »Autismus«, wie bei Eugen Bleuler) werden und wurden in den meisten maßgeblichen Diagnosekonzepten als Symptome für Schizophrenie angesehen. Allerdings müssen stets weitere Symptome hinzu kommen, um die Diagnose zu rechtfertigen. Vgl. z.B. den Eintrag Schizophrenie in: Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, medizinische Psychologie. München: Urban & Fischer 52000, 490-492.
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»Ich brauchte nichts. Ich saß da und sah die Straße entlang. Sie faltete sich auf wie ein Bilderbuch. Ich war leer, ich schwelte in meiner eigenen Flamme. [...] Ich hatte alle Erinnerungen bei mir, ich spürte mich als kleines Mädchen, ich erinnerte mich an meinen Geruch und an den Klang der Türschnallen unserer ersten Wohnung. Ich roch die Speisen von damals, ich hatte mich in mir, und ich war selig darüber. In mir leuchtete ein Licht. Ich war es. Ich war die einzige für mich. Ich war ruhig. Es war auch die Ruhe der Erschöpfung. Ich könnte es auch als höchste Anspannung meines Gehirns gefühlt haben. So wie ich jetzt unter höchstem Energieaufwand Seiten fülle, machen sie mich ruhig und jedem Geschehnis gegenüber gefaßt und anwesend.«27
Im Gegensatz dazu behandelt die Erzählerin andere Figuren betont (fall-)analytisch. Mitinsassinnen, Pflegekräfte und Ärzte werden fast durchgehend stereotypisiert. »Figuren, die außer der Protagonistin noch eingeführt werden, [...] gewinnen keinerlei eigenständige Charakterzüge, sie verblassen zu Schablonen und Requisiten ohne Eigenleben«,28 bemerkt auch Evelyne Keitel. Oft versieht die Erzählerin ihre Mitpatientinnen mit synektochisch-metaphorischen Etiketten oder ordnet sie selbstdefinierten Kategorien zu; es gibt »die Ratte«, »ein kleines Knochengerüst mit einem kleinen Sprachfehler«,29 »die Alte, die immer im Sessel wippt«30 oder »die Zahnbürstensucherin«.31 Die Nebenfiguren wirken wie verhaltensbiologische Untersuchungsobjekte im Beobachtungsraum der Erzählerin. Da die Erzählung monoperspektivisch angelegt ist, gibt es keine Möglichkeit, die Analysen des erzählenden Ichs zu überprüfen.32 Die Erzählerin benutzt die Nebenfiguren als Ausgangspunkt für Selbstbespiegelungen und die Rekapitulation eigener Erinnerungen, eine Funktion als eigenständige Subjekte haben sie nicht:
27 Erlenberger 1977 (Anm. 1), 136. 28 Keitel 1986 (Anm. 9), 77. 29 Erlenberger 1977 (Anm. 1), 21. 30 Ebd., 27. 31 Ebd., 130. 32 Im Folgenden wird dann zwischen einem »erlebenden« und »erzählenden« Ich unterschieden, wenn es nötig ist zu differenzieren, ob die Ich-Erzählerin von sich selbst als Figur einer in der Vergangenheit liegenden Handlung schreibt oder ob sie als die Erzählung urhebende/ordnende Instanz auftritt. Vgl. zur Begrifflichkeit Michael Basseler/Dorothee Birke: Mimesis des Erinnerns. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter 2005, 123-147, hier: 134 (Media and Cultural Memory 2).
188 | BIANCA SUKROW »Ich empfinde es nicht als unangenehm, hier mit Menschen so zusammenzurücken. Ihre Augen dürfen mich sehen, ihre Sorgen und Trübseligkeiten sind ja meine, ihre Ausbrüche, Schreie, Hysterien, ihre Angst und Gemeinheiten sind meine. Wer mir hier entgegenkommt, das bin immer nur ich in meinen unzähligen Stimmungen und Gefühlen übereinander-aufeinmal-durcheinander.«33
Die Erzählerin inszeniert ein mise en abyme, in dem sie sich letztlich nur selbst begegnet. Dazu gehört ihre intensive Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des Schreibens. Der Text thematisiert permanent seine eigene Genese; an über 50 Stellen wird auf das Schreiben verwiesen. Anders als anhand der Rezensionen und Paratexte zu erwarten wäre, steht dabei keinesfalls der therapeutische Effekt des Schreibens im Vordergrund; im Gegenteil, die Protagonistin wählt das Schreiben als Beschäftigung, weil sie sich damit der ärztlichen Kontrolle entziehen kann: »Heute hat sich der Arzt vor mein Bett gestellt, er hat mich angesehen und gefragt: ›Wollen Sie sich nicht beschäftigen? Es wäre gut für Sie. Ich kann Sie in die Nähstube einteilen lassen, wie steht es damit?‹ Ich habe nichts gegen Nadel und Zwirn, aber bitte nicht einteilen und bitte nicht jeden Tag Nadel und Zwirn, so gehen meine Gedanken, und ich wähle rasch. [...] Ich entscheide mich für das Schreiben. Ich kann mir ein Heft und einen Kugelschreiber bringen lassen. Niemand wird mich kontrollieren, niemand wird mich einteilen. Ich werde sitzen und schreiben, und ich werde den Wunsch des Arztes erfüllen.«34
Dass die Patientin einer Beschäftigung nachgeht, entspricht zwar formal auch dem »Wunsch« – nicht etwa einer therapeutisch relevanten Verordnung! – des Arztes, aber das Schreiben im Speziellen eröffnet gerade einen therapiefreien Raum. In diesem Freiraum, den sie sich durch die aktive Entscheidung für das Schreiben, das Erzählen der eigenen Geschichte, erschließt, kann sich die Erzählerin nach eigenem Gutdünken bewegen, sie kann ihn ausfüllen und gestalten. Der weiße Anstaltsraum, das leere, weiße Papier und die leere Gedankenbzw. Gehirnkammer sind motivisch gekoppelt.35 Die Weißheit der Räume, das Ein- und Umschlossensein der Erzählerin von Weiß wird immer wieder hervorgehoben, und die Zimmer, in denen sich die Erzählerin aufhält, werden mit dem Hirn, dem Gedankenraum und der Seele kurzgeschlossen; so statuiert die Er33 Erlenberger 1977 (Anm. 1), 75-76. 34 Ebd., 9-10. 35 Die Detailanalyse der prominenten Gehirn-Metaphorik in Der Hunger nach Wahnsinn muss vorerst ein Desiderat bleiben, da sie im hier vorgegebenen Rahmen nicht geleistet werden kann.
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zählerin, der nackte Anstaltsraum spiegele ihre Seele, 36 oder, an anderer Stelle, sie dürfe in ihr »weites Hirn oder beim Fenster hinaus« sehen, wenn ihr die Zeit lang werde.37 Zuvor bemerkt sie: »Spüre ich ein Kribbeln und Sich-Sehnen im Gehirn, so darf ich denken und Hefte vollschreiben.«38 Die selbstreferenzielle Ordnung, welcher der Text folgt, liegt in den Passagen, in denen das Schreiben im Mittelpunkt steht, offen. Statt eines Nähprojekts macht sich die Erzählerin selbst zum Gegenstand der Beschäftigung. Immer wieder hebt sie hervor, dass sie in der Lage sei, sich selbst zu erzeugen, den Raum mit sich zu füllen. Im Folgenden einschlägige Passagen, die exemplarisch für etliche weitere stehen: »Vielleicht habe ich wirklich nichts hinter meinen Schädelknochen? Ganz einfach leer – Luft – nichts drin – nichts, was mich treibt – ein hohler Raum – meine Gedankenkammer. Vielleicht wissen sie hier alles über meine Gedankenkammer und halten die Erkenntnis vor mir geheim? Ich halte geheim, daß ich weiß, daß sie über meine leere Geheimkammer Gehirn alles wissen. Ich fülle diesen leeren Raum mit meinen Buchstaben.«39 »[M]ein Gehirn dehnt sich. Es wird so weit – ich stehe in ihm – es ist meine Bühne – und ich bin so still. [...] ich habe einen Traum im Kopf, während er sich erfüllt. Ich träume bei Tag, ich träume bei Nacht, ich träume, daß ich schreibe. Ich lasse den Stift gleiten und die Sätze erfüllen sich. Sie treffen sich wieder und entfernen sich, und ich erkenne, was ich vorher begonnen habe zu schreiben. Jetzt leuchtet es mir ein, ich lasse die Feder weitergleiten, und die Bilder wachsen vor meinem Gehirn, und ich muß mich nicht anstrengen, den Nußbaum zu erfassen. Ich handle nur mit Bäumen, die von selbst wachsen, und ich bin es, die sie formt.«40 »Ich finde mich, indem ich mich suche. Ich schreibe mich auf in mein großes Heft, ich trage mich ein.«41
In der Rahmenhandlung entwickelt der »Bericht« seine eigene kleine Poetologie und legt es seinen Leserinnen und Lesern nahe, nicht die Referenzialität, sondern
36 Erlenberger 1977 (Anm. 1), 37, vgl. des Weiteren auch 48 und 67. 37 Ebd., 105. 38 Ebd. 39 Ebd., 97. 40 Ebd., 163. 41 Ebd., 189. Vgl. außer den hier zitierten Passagen z.B. die Seiten 37, 54, 66, 67, 145 oder 166.
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die Selbstreferenzialität zur maßgeblichen Deutungsprämisse zu machen. 42 Das Schreiben ist nicht nur ein Freiraum innerhalb der geschlossenen Anstalt; da die Erzählerin die Darstellung der Klinik in ihre Schilderung einbezieht, ist sie, die Klinik, zugleich im Geschriebenen enthalten. Die Erzählerin umschreibt ihr eigenes Wirkungsfeld; Erzähltes und Erzählinstanz verleiben sich einander ein. Während das erlebende Ich in der Binnenhandlung als »Selbstversorger« von seiner »eigenen starken Knochensuppe« lebt, die es direkt in sich selbst verzehrt,43 macht sich das erzählende Ich in der Rahmenhandlung zum Selbsterzeuger. Das Sich-Aufzehren und das Sich-Selbst-Hervorbringen in der Schrift, in der Erzählung, sind einander bedingende Operationen. So sind auch Schreiben und Essen in der Rahmenhandlung motivisch aufeinander bezogen; sie werden oft in unmittelbarer Folge geschildert: »Ein Heft ist bald zu Ende und ich weiß nicht, wie viele ich noch füllen werde. Zu Mittag gibt es Huhn mit Reis.«44 Zu- und Abnahme stehen einander antithetisch gegenüber und sind zugleich notwendige Voraussetzung für einander. Die erzählende Instanz bringt das erlebende Ich in der Binnenerzählung zwar einerseits hervor, muss es aber zugleich auch zum Verschwinden, zum Abmagern, bringen, denn genau dies ist der Erzählanlass. Während das erlebende Ich in der Binnenerzählung abnimmt, nehmen der Umfang der beschriebenen Seiten sowie der Leib der Erzählerin in der Rahmenhandlung zu. Ihr Körper ist untrennbar mit dem Schreiben verbunden: »Vielleicht hänge ich zu sehr an meinem Schreibstift und mache ihn deswegen so schwer. Er liegt wie eine Eisentraverse in meiner Hand, aber meine Hand ist angeschweißt, sie würde arg schmerzen, würde ich versuchen, sie abzulösen. Ich werde nichts tun, gar
42 Die einzige Stelle, welche explizit als referenziell verstanden werden soll, ist sogar mehr als deutlich markiert: »ich dachte, man wollte mich mit dieser Tablette töten, so wie man es mit vielen Geisteskranken in derselben Stadt in derselben Anstalt vor nicht allzu langer Zeit wirklich getan hatte. Damals war es normal, Insassen des Irrenhauses zu töten, weil man ein Gesetz gemacht hatte, das ihnen das Recht zum Leben absprach. Und sehr viele, die es getan haben, leben noch, behandeln noch. Die Mehrzahl der Normalen hat das gutgeheißen. Das ist wahr, jedes Wort ist wahr!« Ebd., 40, Hervorh. i. Orig. 43 Ebd, 169. 44 Ebd., 64. An anderer Stelle heißt es: »Mein Gehirn mußte sich erst an das Angebot gewöhnen. Jetzt habe ich tatsächlich einen ganzen Kugelschreiber ausgeschrieben. Neben den Mahlzeiten aß ich auch noch Brot und Süßigkeiten.« (42) Mit der EssSchreib-Analogie verwoben ist die Ausscheidungsthematik, die ebenfalls einigen Raum im ›Bericht‹ einnimmt, aber hier nicht näher behandelt werden kann.
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nichts, ich werde nur so daliegen, die Hand an das Eisen gelegt wie an die Infusionsnadel und werde sie bewegen ohne zu denken.«45
Das Fließen der ›Nährlösung‹ aus dem Stift, der Tinte, lässt sich als lebensverlängernde Maßnahme begreifen. »Die Buchstaben fließen, ich erlaube mir die Sattheit der Gedanken und des Magens, sie gehören zusammen.«46 So lange die Erzählerin einen Grund hat, sich selbst, ihre Geschichte, zu verschriftlichen, so lange ihr Körper – hier im doppelten Sinne als Schrift auf dem materiellen Träger sowie als zu kurierender Leib des erlebenden Ichs zu verstehen – noch nicht vollständig (wieder-)hergestellt ist, hat sie eine Existenzgrundlage. Die Hungergeschichte des erlebenden Ichs wird umfangen von der Erzählung vom Schreiben, deren Inhalt und Ausgangspunkt sie zugleich darstellt. Der rekursive Aufbau der Erzählung wird besonders dort augenfällig, wo sich die Binnenkreise schließen. Die Binnenerzählung gelangt irgendwann wieder bei der ersten Phase des Klinikaufenthalts und damit strukturell beim Beginn der Rahmenhandlung an. Die erste Zeit in der Klinik, die ursprünglich zum im Präsens verfassten Rahmen gehörte, wird nun ins Präteritum überführt und, um neue Aspekte bereichert, an die Binnenhandlung angeschlossen: »Ich habe schon viele kommen und gehen sehen und ich weiß nicht, wann ich mich gehen werde sehen. Ich lebe seit diesem Spätsommertag schon so lang, daß es genug wäre, um zu sagen: ›Ich habe gelebt, ich kann sterben. Ich habe alles gehabt, was ich mir wünschte, alles erlebt, was ich erwartet und erträumt habe. [...]‹ Zuerst möchte ich aber unbedingt noch meinen heißen Kaffee trinken, der eben hereingerollt wird. Und außerdem möchte ich noch einige Seiten schreiben ... möchte noch – noch – ich möchte noch! Ich möchte noch nicht – das heißt, ich möchte noch sagen – ich meine, ich lebe gern ... gern, hier und jetzt im Winter mit klammen Fingern, in denen der Kugelschreiber hängt und S uren über das schneeweiße a ier zieht. […] So viele sind schon hier gelegen, und jetzt erst erinnere ich mich an die Frau, die damals, als ich hier meine erste Infusion bekam, Bewohnerin dieses Bettes [nebenan, B. S.] war. Als ich hier ankam, noch so neu war, [damals, als, B. S.] [...] mir die Geschehnise [sic] in zerklüfteten und zusammenhanglosen Einzelbildern entgegeneilten, da lag sie da, diese Frau, und sie trat mir entgegen, so wie sie war.«47
Die Erzählerin legt offen, dass sie sich des nahen Handlungsendes bewusst ist. Ihre Begegnung mit der Bettnachbarin, über die sie im Folgenden erzählt, ist 45 Ebd., 184. 46 Ebd., 210. 47 Ebd., 175-176.
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deutlich als retardierendes Moment gekennzeichnet (»Ich möchte noch nicht [...]«). Der »Spätsommertag«, auf den die Erzählerin sich bezieht, ist der Tag der Klinikeinlieferung. Den Kollaps, den sie bereits zu Beginn der Handlung beschrieben hatte, greift die Erzählerin nach der Retardierung wieder auf, auch er wird neu gewendet. Diesmal ist der Zusammenbruch nicht der Ausgangspunkt, sondern Endpunkt: »Ich war am Ende angelangt. Ich hatte mein Knäuel entwickelt. Das Ende erwies sich als der Anfang, und ich lag da. Ich hatte nichts mehr zu entwirren, ich war am Ende meiner Arbeit angelangt. [...] Der Kreislaufzusammenbruch. [...] Ich war meinen Weg gegangen. In der Sackgasse habe ich mich getroffen. Ich hatte mich nicht verirrt. Ich wollte dahin. Und nach der Nacht des Kreislaufszusammenbruchs führte mich das Krankenauto ins Spital.«48
Ein zweiter Binnenkreis schließt sich. Die Erzählerin leitet damit zugleich auch die Schlussphase der Rahmenhandlung ein. Die Geschichte des anorektischen Verschmachtens, Sich-selbst-Verzehrens, ist vollständig rekonstruiert und die Re-Generation des Körpers ist zeitgleich mit der Verschriftlichung, der Materialisierung, der Geschichte abgeschlossen, »es sind nur mehr ein paar weiße Blätter da«.49 Die Erzählerin verlangt es nach einem neuen Ort: »Ich habe auch eine Art Buch, Herr Doktor, es liegt hier vor mir und ich habe es selbst geschrieben, und da steht: Die Krankheit jedes Patienten, der nach Hause will, hat kein Zuhause, und dazu zählen alle. Geben Sie es, geben Sie es, ich verlange es jetzt hier, sofort auf der Stelle verlange ich ein Zuhause. Wohin soll ich gehen, wenn ich diese Anstalt verlasse, wohin soll ich mich wenden. Ich weiß, ich gehe dorthin, von wo ich komme. Will ich das? Ich will nichts.«50
Ob die Erzählerin tatsächlich die Handlung beschließen und einen neuen (Erzähl-)Ort besetzen darf, muss eine übergeordnete Instanz entscheiden. Vor einem weißen Zimmer wartet die Erzählerin auf den entsprechenden Beschluss der Gerichtskommission, die in der hier verfolgten Lesart das Autor-Lektorin-Gespann und den Leser symbolisiert. Die Erzählerin ist sich sicher, dass ihr nichts Neues mehr einfallen werde, es werde nicht tiefer gehen, »als diese Zeilen es tun können. Wie soll ich beschreiben, was nicht ist. [...] Ich finde, sie lassen mich lang warten und sie lassen mir so übermäßig viel Zeit zum Denken. Ich könnte in48 Ebd., 205. 49 Ebd., 222. 50 Ebd., 212.
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zwischen ganze Bücher füllen«.51 Die Kommission, bestehend aus einem Mann am Schreibtisch (Autor), den die Erzählerin als Protokollanten ihrer Rede identifiziert, einer gestrengen Frau (Lektorin), die den Protokollanten kontrolliert und die Patientin schließlich entlässt, sowie einem Gutachter (Leser), der in ihrer Krankengeschichte liest und Fragen an sie richtet,52 beschließt: Sie darf die Klinik, den Ort der Handlung, verlassen. »Ich habe geschrieben, ich bin fertig, und damit erhebe ich meinen Kopf. Ich gebe den Stift zurück, nicke der Gesellschaft kurz zu, wie es sich gehört, und ich drücke die Schnalle der inneren Tür, dann die der äußeren Tür von innen.«53 Die Erzählerin verlässt den Ort der Handlung, ihre Stelle in der Erzählung, in Richtung eines ›Nicht-Ortes‹, eines phantastischen ou-topos.54 Auf Plot-Ebene müssen die Schlusspassagen als ein Ausloten der Grenzen zwischen psychotischem und ›normalem‹ Denken gedeutet werden. Liest man die gleichen Stellen aber als Selbstbeobachtung der Erzählinstanz, beschreiben sie deren zwangsläufige Selbsttilgung am Ende jeder narrativen Handlung: »Bin ich bei Bewußtsein? Bin ich? Was soll sein? Was soll ich erkennen? Was soll ich unterscheiden? Ich bin in Bewegung. [...] Außen bewegt es sich und innen. Wo sind Wände? Was erfüllt mich? Oder bin ich die Füllung? Oder gibt es keinen Raum, der leer ist? Die Leere ist selbst in Bewegung [...]. Energie-Bewegung – ich spüre sie – ich denke – ich bewege meinen Körper – er ist eins – es ist Bewußtsein – es ist Auflösung der Grenzen, die eins vom anderen unterscheiden lassen. Ich muß nicht trennen, ich kann mich ganz sein lassen. Ganz nichts, ganz im Nichts.«55
Die Erzählerin hat ihr Werk er- und gefüllt. Das erzählende Ich bringt das erlebende Ich zugleich aus der Welt (Selbstverzehr) und in die Welt (Schrift) und macht sich in einem selbstreferenziellen Zirkelschluss selbst obsolet. Im Gegensatz zur Autorin Maria Erlenberger bleibt die Erzählerin in Der Hunger nach Wahnsinn als schriftlich fixierte Instanz jedoch verortbar, greifbar. Angesichts der zahlreichen Signale, mit denen die Erzählerin markiert, dass ihre Existenz 51 Ebd., 224. 52 Vgl. ebd, 226-227. 53 Ebd., 230. 54 Die Schlusspassagen bestehen aus verschiedenen Phasen, zuletzt einer verstörenden phantastischen Traumsequenz, bei der die Ich-Erzählerin einen Weg auf einer scharfen goldenen Schneide zurücklegen muss. Eine detaillierte Analyse dieser Sequenz findet sich im exkursorischen Kapitel Die Frau zum Verschwinden bringen meiner Dissertation (Anm. 4). 55 Erlenberger 1977 (Anm. 1), 231.
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auf die literarische Welt beschränkt sei, erscheint die ohnedies problematische Identifikation von Erzählerin und Autorin umso fragwürdiger. Durch die Gleichsetzung von Diegese und außerliterarischer Welt werden die spezifisch literarischen Qualitäten des Werks – seine komplexe Struktur, die dichte poetische Sprache – negiert. Erkennt man die intentional selbstreflexive Anlage des Werks an, lässt sich Der Hunger nach Wahnsinn kaum noch als der referenzielle Tatsachenbericht lesen, als den Verlag, Kritik und vielleicht auch manche Leserinnen und Leser das Werk gerne verstanden wissen wollen. Damit verschwindet die Autorin hinter einem fiktionalen Konstrukt, dem Mythos von der Authentizität der Handlung, während die Handlung an sich als tatsächliches literarisches Konstrukt bestehen bleibt. Der Name »Maria Erlenberger« wird zu einem Anlagerungsort für Mutmaßungen und Geschichten, die Autorin gleichsam zu einer Extension ihres Romans. Als Person bleibt Maria Erlenberger unsichtbar. »Ich bin so zerstreut und versuche einen Faden zu finden, an dem ich mich aufraffen könnte. Und einen Punkt zu erreichen, von dem aus ich mein Bemühen, mein Hungern zu schildern, überblicken kann. Ich möchte meinen Standort in meiner Geschichte orten. Ich möchte ... Ich möchte ... Ich habe ja gar keinen Standort. Und glücklich geht es mir jetzt auf, daß ich ja niemals einen Standort habe und ihn niemals zu vermissen brauche. Ich habe mich verloren in meiner Geschichte, so wie ich mich in meinem Hunger verloren hatte.«56
56 Ebd., 96.
Geschlechterwissen in biographischen und autobiographischen Texten von Françoise Giroud S ASKIA W IEDNER
»On ne nait pas femme, on le devient.« Simone de Beauvoirs prominenteste Formulierung richtet sich gegen eine essentialistische und biologistische Auffassung von Frau und verweist zugleich auf den Konstruktcharakter des weiblichen Selbst- und Fremdbildes, welches im Rahmen der existentialistischen Philosophie Beauvoirs vor allem ein durch die Gesellschaft geprägtes Bild ist. Obwohl – wie Beauvoir selbst behauptet – ihr Frau-Sein für sie niemals ernsthaft nachteilig und negativ spürbar war, sind doch nahezu alle weiblichen Charaktere, die in ihrem Erzählwerk auffindbar sind, scheiternde, zerrissene Frauen.1 Erstaunlicherweise diagnostiziert sie als Protagonistin der intellektuellen Frauenbewegung bei ihren weiblichen Zeitgenossen fast durchgehend Aussichten auf ein erfülltes und glückliches Leben. Zentral für ein solches Leben wäre die Freiheit, die Frauen im 20. Jahrhundert aktiv für sich einfordern sollten. Diese Freiheit hat verschie1
»On m’a re roch
arfois de n’avoir lu, our re r senter mon se e, aucune femme
assumant, à égalité avec des hommes, des responsabilités professionnelles et politiques; dans ce roman [Les Mandarins] je fuyais les e ce tions; j’ai d crit les femmes telles que, en général, je les voyais, telles que je les vois encore: divisées« (Simone de Beauvoir: La force des choses. Bd. 1. Paris: Gallimard 1963, 363). (»Mir wurde manchmal vorgeworfen, dass ich, um mein Geschlecht zu repräsentieren, keine Frauen ausgewählt habe, die, auf Augenhöhe mit den Männern, berufliche und politische Verantwortung übernommen hätten. In diesem Roman [Les Mandarins] machte ich Ausnahmen. Ich habe die Frauen so beschrieben, wie ich sie gewöhnlich sah und wie ich sie auch heute noch sehe: zerrissen.«) – Alle ohne Angaben folgenden Übersetzungen: S. W.
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dene Aspekte: neben der ökonomischen Selbstbestimmung ist es vor allem die Wahlfreiheit, d.h. die Gestaltungsfreiheit mit Blick auf das eigene Leben, die Beauvoir und ihre Gesinnungsgenossinnen von der Gesellschaft für die Frau fordern. Selbstzeugnisse von Frauen des 20. Jahrhunderts thematisieren zahlreiche Formen anhaltender Unfreiheit im Sinne Simone de Beauvoirs. Dass hier dem autobiographischen Text als Form der Selbstaussage und als Ego-Dokument eine ganz besondere Rolle zukommt, zeigt die im 20. Jahrhundert sprunghaft ansteigende Anzahl dieser spezifischen Dokumente. Jede Form autobiographischen Schreibens dient der Reflexion des eigenen Lebens, zugleich aber auch der Vergewisserung des Selbstbildes, das mittels seiner Verschriftlichung – und durch seine Publikation – Eingang in den öffentlichen Diskurs findet und diesen in Teilen zu beeinflussen vermag. Darüber hinaus hat der autobiographische Text die therapeutische Funktion, Traumata der Vergangenheit ins Bewusstsein zu heben und sie dort für eine mögliche Durcharbeitung aufzubereiten. Diese Funktionen autobiographischen Schreibens wurden von der Forschung nicht nur mit Blick auf die Frauen erfasst und aufgearbeitet.2 Auch der hier zu besprechende autobiographische Text von Françoise Giroud bekommt von seiner Herausgeberin Alix de Saint-André diese Funktion zugesprochen »[...] ce récit, trop intime, ressemble lus à une sychanalyse u’au re ortage ou l’autobiogra hie u’il r tend être.«3 Die Untersuchung und Kontextualisierung dieses Textes im Werk Françoise Girouds (1916-2003) zeigen deutlich, dass ihm – mit Jacques Rancière gedacht – noch eine weitere, werk- und darüber hinaus diskursfunktionale und politische Aufgabe zuzusprechen ist, nämlich das Sichtbar-Machen von Geschlechterwissen, indem der Text (bzw. Literatur) »sichtbar [macht], was unsichtbar war« und er »diejenigen als sprechende Wesen hörbar [macht], die nur als lärmende Tiere verstanden wurden«4.
2
Vgl. dazu Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz (Hg.): Autobiographie und historische Krisenerfahrung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010 (Jahrbuch Literatur und Politik 5). Besonders die Traumaliteratur stellt heute einen Grenzbereich autobiographischen Schreibens dar. Vgl. Leigh Gilmore: The Limits of Autobiography. Trauma and Testimony. Ithaca (u.a.): Cornell University Press 2001.
3
Alix de Saint-André: Préface. In: Françoise Giroud: Histoire d’une femme libre. Paris: Gallimard 2013, 9-16, hier: 15: »diese beinahe zu intime Erzählung gleicht vielmehr einer Psychoanalyse denn einer Reportage oder einer Autobiographie, welche sie vorgibt zu sein«.
4
Jacques Rancière: Politik der Literatur. Wien: Passagen 2008, 14. (Orig.: Politique de la littérature. Paris: Éditions Galilée 2007)
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AUTOBIOGRAPHIE UND P OLITIK MIT J ACQUES R ANCIÈRE GEDACHT In seinem Buch Politique de la littérature (2007) legt Jacques Rancière ein Politikverständnis dar, für das die Verbindung von Politik, die er als eine Praxeologie politischer Philosophie begreift, und Literatur als Form einer historischen Ordnung konstituierend ist. Ausgehend von einem politischen »Erfahrungsraum«5, der durch eine Teilung in Objekte und Subjekte strukturiert ist, von welchen letztere über »diese Objekte [...] bestimmen und über sie [...] argumentieren«6, kommt der Literatur eine demokratische Funktion zu. Weil sich Literatur heute nicht mehr an ein bestimmtes Publikum richtet, hebt sie die »Unterscheidung [...] zwischen den Menschen des handelnden Wortes und den Menschen der leidenden und lärmenden Stimme, zwischen denen, die handeln und denen, die nur leben«7 auf und macht sie gleich. In dieser demokratisierenden Funktion kommt ihr mit Blick auf die politische Praxis eine zentrale Rolle zu: Sie vermag es, das Sagbare und das Sichtbare, die Wörter und die Dinge, zu verbinden.8 Bereits in dem 1995 erschienen Werk La Mésentente (dt. Das Unvernehmen) bereitet Rancière sein Verständnis von Politik vor und leitet es von einem Verständnis der Funktion von S rache her, das an Aristoteles’ Unterscheidung von Sprache und Stimme anknüpft: »Alleine von allen Lebewesen besitzt der Mensch die Sprache. Die Stimme nämlich ist das Mittel, den Schmerz und die Lust anzuzeigen. Auch ist sie anderen Lebewesen gegeben. Ihre Natur geht nur soweit: sie besitzen das Gefühl des Schmerzes und der Lust, und sie können es untereinander anzeigen. Aber die Sprache ist da, um das Nützliche und Schädliche kundzutun, und folglich das Gerechte und Ungerechte. Das ist es, was den Menschen eigentümlich ist im Vergleich zu den anderen Tieren: einzig der Mensch besitzt das Gefühl des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten. Aber es ist die Gemeinschaft dieser Dinge, die die Familie und die Polis macht.«9
5
Ebd., 13.
6
Ebd.
7
Ebd., 25.
8
Vgl. ebd., 20.
9
Aristoteles, zit. nach Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, 14. (Orig.: La Mésentente. Politique et Philosophie. Paris: Éditions Galilée 1995.)
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Rancières These, dass Politik Gesellschaft nicht wahrheitsgemäß abbildet, schließt an Foucaults Vorstellung von der Gesellschaft als einem nicht universellen Diskurs an, der die Stimmen der an den gesellschaftlichen Rändern Verbleibenden nicht einschließt.10 Der Literatur als Schreibkunst ist es zu verdanken, dass diese »Stimmen« in den gesellschaftlichen Raum getragen werden. Da Politik immer nur das Kontingente zu erfassen vermag, kann sie nicht, wie sie vorgibt, einen wirklichen Konsens finden, sondern generiert stattdessen den Konflikt. Aus diesem Grund muss Politik als der Widerstand jener sozialen Akteure verstanden werden, für die in der symbolischen Ordnung der Gemeinschaft der Sprechenden keine Stimme vorgesehen ist. Da sich ihre Stimme nicht in den hegemonialen Diskurs einfügt, wird sie als Lärm betrachtet. Erst dann kann von Politik gesprochen werden, wenn sich dieser Lärm auf die Logik der Gemeinschaft und deren symbolische Ordnung bezieht. Rancières Konzept einer Politik der Literatur setzt eine »wesentliche Verbindung« von »Politik als spezifischer Form kollektiver Praxis und der Literatur als bestimmte Praxis der Kunst des Schreibens«11 voraus. Sein Politikverständnis geht, ähnlich wie die Überlegungen Habermasʼ, von einer sprachphilosophischen Grundlage des gesellschaftlichen Lebens aus. Weil verschiedene Lebenssituationen verschiedene sprachliche Horizonte und in der Folge auch Begriffsformen generieren, stellt der universelle Diskurs, der für die Gemeinschaft zentrale Kommunikations- und Repräsentationsfunktion hat, immer nur einen Teil der gesellschaftlichen Realität und ihrer symbolischen Ordnung dar, nämlich die der sprechenden Wesen und ihrer he10 »Es gibt keine Politik, weil die Menschen, durch das Privileg der Sprache, über ihre Interessen übereinkommen. Es gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen und eine Gemeinschaft dadurch einrichten, dass sie das Unrecht vergemeinschaften, das nichts anderes ist als der Zusammenprall selbst, der Widerspruch der zwei Welten, die in einer einzigen beherbergt sind: die Welt, wo sie sind, und jene, wo sie nicht sind, die Welt, wo es etwas gibt ›zwischen‹ ihnen und jenen, die sich nicht als sprechende und zählbare Wesen kennen, und die Welt, wo es nichts gibt. [...] Allgemein benennt man mit dem Namen der Politik die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen. Ich schlage vor, dieser Verteilung und dem System dieser Legitimierung einen anderen Namen zu geben. Ich schlage vor, sie Polizei zu nennen. [...] Michel Foucault hat gezeigt, dass die Polizei, als Technik und Regierung, definiert von den Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts, sich auf alles, was den ›Menschen‹ und sein ›Glück‹ betrifft, erstreckte.« Rancière 2008 (Anm. 4), 38-40. 11 Ebd., 13.
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gemonialen symbolischen Ordnung. Zentral für die Vorstellung einer ›wahren‹ Politik ist deshalb nach Rancière die Integration und Sichtbarmachung der Namenlosen ohne Stimme in den universellen Diskurs. Dazu muss allerdings zuerst die Trennung zwischen der Sicht einer ereignishaften Geschichte und dem stummen Leben, dem Leben jedes unbedeutenden Beliebigen, aufgehoben werden.12 Diese unbedeutenden Figuren und Dinge der Geschichte müssen, so Rancière, sich mit eigenen Stimmen artikulieren, denn »über ihr individuelles Schicksal hinausgehend sind sie aufschlussreich für ihre Epoche«13. Zentral für die Aufhebung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, den mit Stimmen begabten und den Stimmlosen in der Geschichte ist die Biographie: »Die Biographie ist die Form von Sichtbarkeit der Bedingungen, die die Geschichtswissenschaft als Diskursform über ›das Leben‹ ermöglicht. Eine neue, wissenschaftliche Geschichte wurde möglich, als die klassische repräsentative Ordnung, die die Klarheit der Handlungen von der Dunkelheit des Lebens trennte, von dem neuen Regime der Literatur aufgehoben wurde.«14
Vor diesem Hintergrund erscheint die Untersuchung des autobiographischen Textes Histoire d’une femme libre von Françoise Giroud sowie ihrer biographischen Romane über das Leben von Alma Mahler, Jenny Marx und Cosima Wagner als der Versuch eines Sichtbar-Machens vormals unsichtbaren Lebens durch die Rekonstruktion der Sprache eines Subjekts, das sich im Kontext hegemonialer symbolischer Ordnung für die Namen- und Stimmlosen einsetzt und sie – im Sinne einer ›wahren‹ Politik – von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft hinein holt. Eine Untersuchung von Histoire d’une femme libre setzt sich damit auch zum Ziel, die Autorin selbst in ihrer individuellen Lebenssituation vorzustellen, einer Situation, die sich in Teilen sehr deutlich von jener etablierter Vertreter und Vertreterinnen der Gesellschaft absetzt.
12 Vgl. ebd., 211-212. 13 Rancière 2008 (Anm. 4), 212, zitiert hier August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Die Kunstlehre. 14 Ebd., 213.
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H ISTOIRE D ’ UNE
FEMME LIBRE
–
EIN
» TEXTE
SAUVAGE « 15
Françoise Giroud, wie sie sich seit 1964 offiziell nannte, wurde als France Léa Gourdij 1916 in Lausanne geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters 16 versuchte die Mutter die Familie mehr schlecht als recht mit einem Hotelbetrieb zu ernähren. Durch die permanente finanzielle Notlage wurde der Tochter sehr schnell klar, dass sie in dieser Beziehung auf eigenen Füßen stehen musste. Nach ihrer Schulausbildung am Lycée Molière und dem Collège de Groslay in Lausanne verdiente sie ihr erstes eigenes Geld als Sekretärin, bevor Marc Allégret sie als Script Girl für seine Kinoproduktionen einstellte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie von Hélène Lazareff für die neu gegründete Zeitschrift ELLE angeworben. Als sie 1953 ELLE verließ und zusammen mit Jean-Jacques Servan-Schreiber das Nachrichtenmagazin L’E press gründete, hatte Françoise Giroud ihren beruflichen Höhepunkt erreicht. Ihr Selbstmordversuch im Jahr 1960 war für ihre Umgebung daher ein Schock. Nach ihrer Genesung nahm sich Françoise Giroud eine Auszeit und zog sich zum Schreiben in das Haus von Freunden am Mittelmeer zurück. Hier entstand der Text Histoire d’une femme libre. Es handelt sich dabei um einen autobiographischen Text, der von ihrer Lektorin und Freundin Florence Malraux als nicht publizierbar eingeschätzt wurde17 und der bis zu Girouds Tod am 19. Januar 2003 als verschollen galt. Nach einem Tagebucheintrag Girouds, der auf den 28. Juni 1996 datiert, war es ihr Wille, dass all ihre Briefe und Dokumente vernichtet würden. Ihre Tochter Caroline Eliacheff sollte das für sie erledigen. 18
15 Vgl. de Saint-André (Anm. 3), 9. 16 Salih Gourdij stirbt 1927 an Syphilis in einer psychiatrischen Anstalt Ville-Évrard in Neuilly-sur-Marne, in die er bereits zwei Jahre zuvor eingewiesen worden war. 17 Alix de Saint-André zitiert in ihrer Einleitung sinngemäß den Eindruck, den Florence Malraux von diesem Text gewonnen hatte mit den Worten: »[...] le texte était mauvais. Sans qualités esthétiques, gênant, indiscret«. De Saint-André (Anm. 3), 10. 18 »Il y en a tant et tant [persönliche Papiere und Dokumente, S. W.], accumulés depuis des ann es, ue je [F. Giroud] suis d’abord d courag e. Mais je ne veu
as u’a rès
moi un biographe fureteur puisse tomber sur ces dizaines de lettres, ces monceaux de dossiers et en faire son miel... Alors je jette. Des cartons entiers y passent, des lettres ui m’ont t
r cieuses arce u’elles disaient l’amiti , arfois l’amour... Mais on ne
retient as la vie ui s’en va. Un classeur lein me nargue. Vais-je m’atta uer à lui? J’indi ue seulement à Caroline ue ce u’il contient est à d truire. J’ai confiance en elle. Je sais u’elle le fera. [...] Le passé est balayé, je me sens plus légère«. – Tagebucheintrag von Françoise Giroud, zit. nach de Saint-André (Anm. 3), 11.
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Dass diese dem Wunsch der Mutter nicht nachgekommen ist und dass die Materialien vor dem Reißwolf gerettet wurden, beweist der Umstand, dass am 8. Juni 2001 fünf Kartons und 19 Archivbehälter mit großen Teilen des Nachlasses Girouds dem Institut m moires de l’ dition contem oraine (IMEC) übergeben wurden, einem Archiv, das der Erforschung der Geschichte der französischen Presseerzeugnisse sowie der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts dient.19 Im Zuge einer ersten inventarisierenden Sichtung des Materials 2002 durch die Archivarin Stephanie Lamache wurde der Titel Histoire d’une femme libre zusammen mit weiteren Erzählungen, Romanen, Novellen, Theaterstücken, Essays, Tagungsbeiträgen und anderen Schriften der Sektion Françoise Giroud, auteur écrivain der Rubrik »autobiographie« zugeordnet.20 Die Eindringlichkeit der subjektiven Perspektive, in welcher Giroud ihre Kindheit, ihre Jugend sowie ihren beruflichen Aufstieg in diesem Manuskript schildert, macht den Text nicht nur zu einem wertvollen persönlichen Dokument, das Aufschluss über ein bereits in der Kindheit angelegtes Selbstverständnis und die später folgenden Krisen gibt. Ganz bestimmt ist dieser Text auch ein therapeutischer Versuch, die für Giroud traumatische Situation ihrer Trennung von Jean-Jacques Servan-Schreiber, eine Abtreibung und die Krise des L’E press über das Wort zu bannen.21 In seiner Bedeutung für Françoise Giroud sichtbar und nachvollziehbar wird dieser autobiographische Text allerdings erst durch das Wissen um seine Genese, denn das eigentliche Zentrum des Traumas wird im Text nur angedeutet. Unter dem Titel Histoire d’une femme libre liegen heute folgende Manuskripte vor: Ein Dossier mit dem Titel Histoire d’une femme libre I beinhaltet in einer losen Blattsammlung eine tagebuchartige Erzählung, welche vor dem Selbstmord der Erzählerin einsetzt. Diese erzählt vom Tod der Mutter der Protagonistin, der Psychoanalyse der männlichen Figur Blaise, hinter der Jean-Jacques Servan-Schreiber vermutet werden kann, sowie von der von der Protagonistin vorgenommenen Abtreibung, die, so de Saint-André, allesamt den 19 De Saint-André schweigt sich im Vorwort über die Umstände dieser Rettung aus. Allerdings berichtet sie, dass Caroline Eliacheff nach dem Tod der Mutter dem Archiv die verbliebenen persönlichen Dokumente übergab. Vgl. de Saint-André (Anm. 3), 11-12. 20 Vgl. ebd., 13. 21 »Dans ses livres ultérieurs, revenant sur cet épisode, elle expliqua son suicide par sa rupture, une s aration ›intolerable‹, et cette ru ture ar le d sir de Jean-Jacques d’avoir des enfants« (ebd, 10). (»In den darauf folgenden Büchern, die auf diese Episode zurückkommen, erklärt sie [Françoise Giroud] ihren Selbstmord durch den von ihm ausgegangenen Bruch, eine ›nicht zu tolerierende‹ Trennung, und diese Trennung wird durch den Wunsch von Jean-Jacques begründet, Kinder zu haben.«)
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eigentlichen Kern der Depression Girouds ausmachen, welche schließlich zum Suizidversuch geführt hatte. Dieser Erzählung vorangestellt ist ein erstes Kapitel, das mit den Worten einsetzt: »Je suis une femme libre. J’ai t , donc je sais être une femme heureuse. Qu’il y a de lus rare au monde?«22 Im zweiten Entwurf, im Archiv unter dem Titel Histoire d’une femme libre II verzeichnet, der mit demselben ersten Kapitel wie Histoire d’une femme libre I beginnt, fährt die Autorin im Lebensbericht konziser fort und entwickelt ihn um einen neuralgischen Punkt, dessen niederträchtiger und gemeiner Charakter das Potential eines Skandals aufweist, auf den die Autorin – wohl aus Gründen der Diskretion – nicht explizit zu sprechen kommt.23 Indes werden in diesem Text alle Orte und Personen bei ihrem wirklichen Namen genannt.24 Dem Manuskript Histoire d’une femme libre II angefügt ist ein Brief des Redaktionsdirektors von FranceSoir, Charles Gombault, der auf den 14. Oktober 1960 datiert und in welchem er seine Gründe für die Nichtveröffentlichung dieses Manuskripts darlegt. Unter anderem verweist er auf den seiner Ansicht nach zu intimen Charakter des Textes, der vielmehr einer Psychoanalyse denn einer Reportage oder einem Bericht gleiche.25 Tatsächlich stand am Beginn der Arbeit zu Histoire d’une femme libre ein Brief an Jean-Jacques Servan-Schreiber, den Giroud auf Anraten ihres Arztes verfasst hatte und in welchem sie alles niederschreiben und damit sichtbar werden lassen sollte, was sie Servan-Schreiber zu diesem Zeitpunkt nicht persönlich sagen konnte und wollte. Dieser Briefentwurf nahm sehr schnell die Form eines Lebensberichts an und Giroud beschloss, aus diesem intimen Bericht ein Buch unter dem Titel Histoire d’une femme libre zu machen.26 Die Histoire d’une femme libre gehört damit zu den aus der psychologischen Bewältigung von Traumata und Depressionen entstandenen autobiographischen Texten.27 Darüber hinaus ist die Histoire d’une femme libre ein wertvolles Zeitdokument, das sich im Spiegel der Frauenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg le22 Hier zitiert nach de Saint-André (Anm. 3), 14. 23 Vgl. ebd., 14. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich hier um Girouds persönliches Verhältnis zu Jean-Jacques Servan-Schreiber sowie dessen Folgen. 24 Eine Ausnahme bildet auch hier Jean-Jacques Servan-Schreiber, der von Giroud in zwei Figuren aufgeteilt wurde: die eine ist Herausgeber des Express und trägt den Namen Jean-Jacques Servan-Schreiber, die andere ist der Geliebte Girouds mit Namen Blaise. Vgl. ebd. 25 »[...] ce récit trop intime, ressemble plus à une sychanalyse u’au re ortage ou à l’autobiogra hie u’il r tend être« (zit. nach de Saint-André, Anm. 3, 15). 26 Vgl. ebd. 27 Ein weiteres Werk aus demselben lebensweltlichen Umfeld ist der 1975 publizierte Roman Les Mots pour le dire (Paris: Grasset) von Marie Cardinal.
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sen und verstehen lässt. Histoire d’une femme libre knüpft bereits in der Titelgebung an das grundlegende Werk der Frauenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, Simone de Beauvoirs Essay Le deuxième sexe an, dessen vierter Teil Vers la libération den Untertitel La femme indépendante trägt.28 Während Beauvoir die unabhängige Frau beschreibt und dabei den Fokus im Wesentlichen auf die sozialen und ökonomischen Lebensumstände der Frau richtet, zeigt der autobiographische Text Girouds die – nach Beauvoir – freie Frau nicht nur als ein soziales Phänomen, sondern vor allem als eine mit einem Problem des Selbstverständnisses: »Je suis une femme libre. J’ai t , donc je sais être, une femme heureuse.«29 Der Koppelung von Freiheit und Glück liegt hierbei ein Freiheitsbegriff zugrunde, der im Wesentlichen durch die zeitgenössische Existenzphilosophie nach Jean-Paul Sartre geprägt ist und der auf die absolute Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Individuums zielt. Kulminationspunkt und Beweismoment dieser Freiheit ist für Giroud paradoxerweise der selbstgewählte Freitod. Wie es zu diesem Paradox, dem Selbstmord, kommen konnte, wobei Giroud doch als freie, als finanziell unabhängige und intellektuell gebildete Frau auch eine glückliche Frau hätte sein müssen, ist Gegenstand ihrer »Reportage«30. Ohne die Kenntnis von Beauvoirs umfassender Studie zur biologischen, gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Situation der Frau im 19. und im 20. Jahrhundert lässt sich der Freiheitsbegriff der Histoire d’une femme libre nur schwer vermitteln. In der Folge sollen sowohl dieses Werk als auch die von Giroud verfassten Biographien über Alma Mahler, Jenny Marx und Cosima Wagner unter diesem Vorzeichen verstanden werden.
»L’ UNIVERS DES FEMMES , VU PAR UNE FEMME « 31 – DIE W ELT DER F RAUEN AUS DER S ICHT EINER F RAU 1952 entwickelt Françoise Giroud im Rahmen ihrer Arbeit bei ELLE ein Beobachtungskonzept, das authentische Ergebnisse über das Leben von Frauen lie-
28 Vgl. Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe. Paris: Gallimard 1949, 431-481 (dt. 1979). 29 Giroud 2013 (Anm. 3), 21 (»Ich bin eine freie Frau. Ich war und ich kann also eine glückliche Frau sein.«). 30 Giroud äußert sich am Ende des Textes zu ihren Beweggründen, ihren autobiographischen Text nicht in Verkleidung einer Fiktion erscheinen zu lassen. Sie deklariert diesen Text als eine Reportage. Vgl. Giroud (Anm. 3), 249. 31 Vgl. ebd., 156.
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fern sollte. Angeregt von einer Amerikareise, nahm sie sich vor, von der Lebenswelt und dem Alltag der Amerikanerinnen zu berichten. Zusammen mit Hélène Lazareff entwickelte sie das Konzept des »voir les Americaines ›de l’int rieur‹«32 (»die Amerikanerinnen ›von innen‹ zu sehen«). Zu diesem Zweck wählte sie sieben repräsentative Freiwillige aus, deren Alltag sie über einige Tage hinweg begleitete. Eine derartige Reportage, eine ›Innenperspektive‹ auf das Leben von Frauen, war in dieser Form noch in keiner Zeitung publiziert worden. Bisher herrschte der männliche Blick auf Frauen vor, der lediglich eine Außenperspektive anbot. Mit Girouds Ansatz konnten gleichsam intimere Perspektiven gewonnen und Daten und Fakten eines Doing Gender gesammelt und der Öffentlichkeit präsentiert werden. Dieser Blick auf die Mikrostrukturen der sozialen Realität von Frauen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt sich in den biographischen Romanen über Alma Mahler, Cosima Wagner, Jenny Marx und anderen bekannten Frauen aus dem 19. Jahrhundert fort. Nicht ohne Grund wählte Giroud gerade diese Frauen aus. Sie alle lebten – wie sie selbst – in einer als zutiefst bürgerlich empfundenen Epoche, deren Frauenbild bis in die Nachkriegszeit nachwirkte. Der hegemoniale Diskurs wurde vorwiegend von Männern geführt; die Stimmen von Frauen artikulierten sich im Privaten, in Briefen und Tagebüchern. Ihre intellektuellen Eigenleistungen waren weder gefragt noch erwünscht. Ganz im Sinne Beauvoirs können alle drei Portraitierten als Gattinnen und große Liebende gelten und als Frauen, die ihre Existenz über die Existenz ihres (Ehe-)Mannes definierten und damit als das zweite Geschlecht (le deuxième sexe), als sekundäre Existenzen beschrieben werden: »In der Auffassung, die Männer und Frauen von der Liebe haben, spiegelt sich vielmehr der Unterschied ihrer Situation. Ein Individuum, das Subjekt, das es selbst ist, bemüht sich, sofern es großzügig der Transzendenz zuneigt, seinen Zugriff auf die Welt zu erweitern: es ist ehrgeizig, es handelt. Ein unwesentliches Wesen aber kann im Herzen seiner Subjektivität das Absolute nicht entdecken. Ein der Immanenz geweihtes Wesen vermag sich nicht in Handlung zu realisieren. Eingeschlossen in die Sphäre des Relativen, seit ihrer Kindheit dem Mann bestimmt, daran gewöhnt, in ihm einen Herrscher zu sehen, mit dem sie sich nicht messen darf, hat die Frau – wenn sie ihren Anspruch Mensch zu sein, nicht gänzlich erstickt hat – nur einen Traum: ihr Sein auf eine jener höheren Wesenheiten hin zu überschreiten, sich mit dem souveränen Subjekt zu vereinigen, mit ihm zu verschmelzen. Es gibt für sie keinen anderen Ausweg, als sich mit Leib und Seele in demjenigen zu verlieren, den man ihr als das Absolute, das Wesentliche bezeichnet. [...] Sie entscheidet sich, ihre Hörigkeit so glühend zu wollen, daß sie ihr als Ausdruck ihrer Freiheit erscheint. Sie versucht, ihre Situation als unwesentliches Objekt zu überwinden, indem sie 32 Ebd.
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sich radikal zu ihr bekennt. Über ihr Fleisch, ihre Gefühle, ihre Verhaltensweisen preist sie den Geliebten rückhaltlos, sie setzt ihn als höchsten Wert und oberste Realität: sie vernichtet sich vor ihm. Die Liebe wird für sie eine Religion.«33
Beauvoirs Argumentation liefert im Kontext einer existentiellen Philosophie, die von einem grundlegenden Transzendenzbedürfnis des Menschen ausgeht, die Rechtfertigung für ein historisches Verhaltensmuster von Frauen, das durch eine soziale und damit sozialpsychologische Situation bedingt ist. Vor diesem philosophischen Hintergrund können die romanhaft angelegten Biographien Girouds als Fallstudien betrachtet werden, die auf der Basis von Fakten und der Annahme einer herrschenden sozialpsychologischen Struktur glaubwürdige literarische Fiktionen der dargestellten Frauen schaffen. Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster von Frauen werden über Jahre hinweg im Sozialisationsprozess weitergegeben. Inwiefern sie modifiziert werden und wie diese Modifizierung als Lebenswissen weitergegeben wird, kann exemplarisch anhand der Biographien zu Alma Mahler, Jenny Marx und Cosima Wagner sowie der Histoire d’une femme libre verdeutlicht werden.
B IOGRAPHIE ALS ERKENNTNISGELEITETER V ERSUCH DER AUFARBEITUNG VON L EBENSREALITÄT Anhand ausgewählter Quellen zeichnet Giroud in ihren Biographien über Alma Mahler34, Jenny Marx35 und Cosima Wagner36 Frauen, die im Schatten ihrer berühmten Gatten gestanden und wesentlich zu deren Ruhm beigetragen haben. Auf der Basis von Tagebüchern, Briefen und anderen Ego-Dokumenten modelliert die Autorin Porträts der sich hingebungsvoll dem Lebenswerk des Ehemannes aufopfernden bzw. dieses nach Kräften befördernden Ehefrauen. Die Porträts lassen einen Blick auf den Alltag von Männern zu, die Geschichte machten; zugleich enthüllen sie in der Mikroperspektive, dass dieser Geschichte immer ein Handlungsgeflecht mehrerer AkteurInnen zu Grunde liegt. Die Biographie über Alma Mahler erlaubt es Giroud, auf die Situation der Frau als einem ›immanenten‹ Wesen einzugehen, eine Vorstellung, die um 1900
33 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Aus d. Franz. v. Uli Aumüller u. Grete Osterwald. Reinbek: Rowohlt 1992, 800-801. 34 Françoise Giroud: Alma Mahler ou l’art d’être aim e. aris: Robert Laffont 1987. 35 Françoise Giroud: Jenny Marx ou la femme du diable. Paris: Robert Laffont 1992. 36 Françoise Giroud: Cosima la sublime. Paris: Fayard-Plon 1996.
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und darüber hinaus sehr weit verbreitet war, die das geistige Klima dieser Epoche nachhaltig geprägt hat und die deshalb einen großen Einfluss auf die Lebensumstände von Frauen hatte. Einblicke in die diskursmodellierenden Theorien dieser Zeit gibt die Autorin durch den Hinweis auf die 1903 erschienene theoretische Abhandlung Geschlecht und Charakter von Otto Weininger.37 Die diesen Einflüssen unterliegende gesellschaftliche Erwartung an das weibliche Rollenbild hat die Frauen häufig bewogen, sich trotz ihrer eigenen Fähigkeiten und Begabungen in den Dienst der Projekte ihrer Ehemänner zu stellen. Eine berufliche und intellektuelle Eigenständigkeit von Frauen war von der bürgerlichen Gesellschaft weder erwünscht, noch wurde sie erwartet – Freiräume konnten oft nur durch das Akzeptieren der Hierarchie geschaffen werden. Diese Akzeptanz, gepaart mit der Bereitschaft der Frauen, die gesellschaftliche Norm anzuerkennen und nach ihr zu handeln, unterscheidet die Biographien von der Autobiographie: Während die Protagonistinnen der biographischen Romane einem bürgerlichen Lebensmodell zustreben, in dem die Frau wesentlich als Mutter und Ehefrau verstanden wird, verlegt sich die Autorin in der Histoire d’une femme libre darauf, das erfüllte Leben einer alleinstehenden, arbeitenden Frau zu zeigen, in dem die Aspekte Familie und Ehemann keine Leerstellen erzeugt haben. Der Lebensentwurf der Histoire d’une femme libre stellt somit einen freiheitlichen und modernen Gegenentwurf zur bürgerlichen Ehe und Familie dar. Transzendenzwille und ein von der Gesellschaft induziertes Selbstbild binden indes Jenny Marx, Alma Mahler und Cosima Wagner nach Ansicht der Biographin an die Seite ihrer Ehemänner38 und lassen sie auf eigene Projekte und damit auf ihre 37 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien/ Leipzig: Braumüller 1903. 38 Eine Befreiung aus dieser Struktur ist erst mit dem Tod des Mannes möglich. Cosima Wagner allerdings identifiziert sich so intensiv mit dem Werk Wagners, dass sie auch danach ihr Dasein in seinem Schatten führt. Alma Mahler hingegen will sich immer wieder neu von ihren Geliebten bestätigt wissen. Diese existentielle Unsicherheit wird von ihr durch das Selbstverständnis kaschiert, die Witwe des berühmten Gustav Mahler zu sein, wie eine Szene mit Kokoschka belegt: »Mitten in das häusliche Glück platzte der Postbote mit einem Paket: Mahlers Totenmaske. Kokoschka brach in einen Schreikrampf aus. Er brüllte, daß er in einem Haus, das ständig an Almas Vergangenheit erinnere, nichts verloren habe. Alma blieb hart und stellte die Totenmaske an einen gut sichtbaren Platz. Er rebellierte, aber Alma dachte nicht daran, nachzugeben. Er warf ihr schreckliche Dinge an den Kopf. Und sie zahlte mit gleicher Münze zurück. Ein Wort gab das andere. Der Streit wühlte beide bis ins Innerste auf.« Françoise Giroud: Alma Mahler oder die Kunst geliebt zu werden, Wien/Darmstadt: Zsolnay 1989, 146.
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Freiheit weitgehend verzichten. Giroud lässt hingegen in der Histoire d’une femme libre keinen Zweifel daran, dass sie gerade in ihrem Beruf den für ihre Persönlichkeit wichtigen und unverzichtbaren Bereich sieht. Im Gegensatz dazu kritisiert sie anhand von Alma Mahler (1879-1964) ein prototypisches Verhalten von Personen mit einem ›uneigentlichen‹ Lebensentwurf: »Die Begabung eines Mannes wirkte auf Alma so faszinierend wie auf manche andere Frauen das Geld. Hatte ein Mann ihr Interesse geweckt, weil sie seine Begabung erkannt hatte, so neigte sie sofort dazu, ihn zu überschätzen. Der Mann, der sie, die Außergewöhnliche, bezaubert hatte, mußte selbst außergewöhnlich sein. Sie sah ihn in strahlendem Licht, sprach begeistert von seinem Talent und fachte mit ihrer Begeisterung seine Schaffenskraft an. Alma war eine Göttin, und jeden ihrer Liebhaber erhob sie zu einem Gott.«39
Alma Mahler, die aus einer zu materiellem Wohlstand gelangten Familie stammte und die in ihrer Jugend früh vom Vater, dem Wiener Landschaftsmaler Emil Jakob Schindler, an die Kunst und die Literatur herangeführt wurde, bevorzugte laut diesem biographischen Portrait Männer, die, so könnte man mit Bourdieu sagen, ausreichend symbolisches Kapital boten. Damit sei – so Giroud – jedoch nicht der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung verbunden gewesen, vielmehr habe sie, die collectionneuse berühmter Männer der Musik, Kunst, Literatur und Architektur, damit die Bestätigung ihrer Einmaligkeit und Unwiderstehlichkeit gesucht. Sie, selbst sehr begabt, habe es verpasst, ihre eigene berufliche Karriere zu forcieren und stattdessen und auf ausdrücklichen Wunsch Gustav Mahlers dessen Kompositionen kopiert. Giroud bespricht diese Tatsache in der Biographie zu Alma Mahler sehr kritisch, relativiert diese Kritik aber, indem sie zugleich erwähnt, dass es sich dabei um einen für das ausgehende 19. Jahrhundert durchaus zu erwartenden Lebensweg einer Frau gehandelt habe: »Und doch verfehlte sie [Alma Mahler] in gewisser Weise ihr Lebensziel. Ihre Männer hätten auch ohne sie in ihren Werken fortgelebt: Mahler in seinen Klanggebäuden, Gropius in seinen Stahlkonstruktionen, Werfel in seinen Romanen, Kokoschka in seiner wilden Malerei... Alma aber wäre ohne sie heute vergessen. Jeder ihrer Männer war ein schöpferisches Genie. Alma hingegen hat nur dadurch eine Spur hinterlassen, daß sie ihnen wie mit einem Brandeisen ihr Zeichen einprägte. Teilte sie dieses Los mit allen Frauen ihres Jahrhunderts? Ganz gewiß, nur wurde in Alma Mahlers Fall eine überdurchschnittliche Begabung vergeudet.«40
39 Ebd., 11. 40 Ebd., 11.
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Alle drei Frauen, deren Lebenswege Giroud nachzeichnet, waren intellektuell wie auch künstlerisch interessiert, im Falle Alma Mahlers talentiert. Jenny Baronin von Westphalen (1814-1881), die den vier Jahre jüngeren Karl Marx heiratete, war eine politisch und intellektuell wache und äußerst gebildete Frau, die ihr intellektuelles Vermögen einsetzte, um die politischen Entwürfe ihres Mannes zu diskutieren,41 seine Schriften zu kopieren, für die Familie zu sorgen und darüber hinaus die zahlreichen Umzüge zu organisieren, zu welchen die Familie wegen andauernder Finanzengpässe gezwungen war. Ihren Mann teilte sie mit Friedrich Engels und dem Hausmädchen Helene Demuth. Jenny tat in all diesen Jahren, was sie – Giroud zufolge – wohl am besten konnte: Sie passte sich an.42 In der Biographie über Alma Mahler thematisiert Giroud am deutlichsten die gesellschaftlichen Hintergründe und das soziale Gedankengut, in diesem Falle die Wiener Gesellschaft um 1900, in der Frauen wie Bertha Zuckerkandl in ihren Salons männliche Künstler förderten, Mädchen zu Prüderie erzogen wurden und Männer nichtsdestotrotz die alles verschlingende Sexualität der Frau behaupteten, die den Mann angeblich von »geistiger Tätigkeit, seinem angestammten Reich, und seinem Drang nach Höherem« abhalte und »somit die natürliche Feindin von Moral, Vernunft und geistiger Schöpferkraft«43 wäre. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden ausführlich dargestellt, Verhältnisse, in denen die Ungleichheit der sozialen Rollen sowohl in den zeitgenössischen Geschlechtertheorien, beispielsweise bei Weininger, als auch in der sozialen Praxis ausdifferenziert wird. Das historische Dokument, das mit Blick auf die Biographie Alma Mahlers das zeitgenössische Rollenverständnis und damit die Immanenz der Frau deutlich zum Ausdruck bringt, ist der »Liebesbrief«44, den Gustav Mahler an Alma schreibt. Er reagiert damit auf ein Schreiben Almas, welches nicht abgedruckt ist, worin sie aber offensichtlich ihren Wunsch äußert, sich weiterhin als Komponistin zu üben. Mahlers Antwort zeigt deutlich eine Doppelstrategie, die in einem ersten Schritt darin besteht, Alma jede Individualität und damit auch jedes schöpferische Potential abzusprechen, um ihr in einem zweiten Schritt eine relative und mittelbare Möglichkeit der Transzendenz über sich und 41 »Wenn die Männer, die ständig um Marx sind, sie verehren, so nicht nur wegen ihrer hinreißenden Schönheit und der warmen und witzigen Atmosphäre, die sie um sich verbreitet, sondern weil sie den Eindruck haben, dass diese stolze junge Frau – womöglich noch mehr als Marx selbst – sich der gerechtesten Sache der Welt in den Dienst stellt.« Françoise Giroud: Trio infernale oder das Leben der Jenny Marx. Weinheim u.a.: Beltz Quadriga 1994, 75. 42 Vgl. ebd., 97. 43 Giroud 1989 (Anm. 38), 21. 44 Ebd., 50-55.
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sein Werk anzubieten, unter der Bedingung, dass sie sich ganz seinem Werk (und seinen Wünschen) unterordne. Giroud gibt ihren Leserinnen diesen Brief in voller Länge zur Kenntnis und lässt ihn als Biographin unkommentiert, in dem Wissen, dass der Text für sich spricht und das Angebot Mahlers an Alma schlichtweg einem Skandal gleichkommt. Sie zeigt, dass Mahlers Brief schon seinerzeit von Dritten ebenso aufgefasst wurde. Die Empörung von Almas Mutter Anna Schindler, die von ihr diesen Brief vorgelegt bekommt, und ihr Rat, sich von Mahler sofort zu trennen, provozierten – so interpretiert dies wiederum die Biographin – das Selbstopfer der Tochter: »Aber Mutter und Tochter verband eine höchst ambivalente Beziehung, und je nachdrücklicher Anna zur Trennung riet, desto mehr berauschte sich Alma an der Idee, sich auf dem Altar der Kunst zu opfern.«45 Die Verbindung eines künstlerisch und deshalb auch sozial höher gestellten Mannes mit einer zwar begabten, aber doch opferbereiten Frau ist für diese selbst nicht immer nur von Nachteil. Nach dem Tod Gustav Mahlers war Alma eine reiche Frau und sozial geachtet. Auch Cosima Wagner verfügte über ein gewaltiges symbolisches Kapital – das Werk Richard Wagners. Sie vermochte es aber auch, das Lebenswerk Wagners und das Festspielhaus in Bayreuth zu einem Höhepunkt zu führen. Im Fall von Jenny Marx, die vor ihrem Gatten starb, verhielt es sich anders. Gegen Ende ihres Lebens, so berichtet Giroud versöhnlich im letzten Kapitel dieser Biographie, entfernte sich Jenny ein wenig von Karl Marx und entdeckte für sich die vertrauensvolle Atmosphäre einer Frauenfreundschaft und ihre Leidenschaft für das Theater.46 Das Verhältnis der Eheleute Marx wäre dabei bis zum Schluss liebe- und respektvoll geblieben. Von Krankheit gezeichnet, versäumte es Karl Marx nicht, am Lager seiner ebenfalls todkranken Frau zu wachen. Giroud imaginiert diese Ehe am Ende des Buches in milden und rührenden Worten: »Einmal schafft er es, aufzustehen und sich in Jennys Zimmer zu schleppen. Er setzt sich neben sie auf das Bett. Sie hat noch Kraft zu lachen, sie sind fröhlich miteinander und scherzen. Tussy [die Tochter] findet, dass sie eher wie ein junges verliebtes Paar aussehen, als wie ein von Krankheit geplagter alter Mann und eine sterbende Frau, die voneinander Abschied nehmen. Plötzlich sagt sie, merkwürdigerweise auf Englisch: ›Karl, my strength is broken...‹ – ›Ich habe keine Kraft mehr.‹ Und sanft stirbt sie.«47
45 Ebd., 56. 46 Vgl. Giroud 1994 (Anm. 41), 181. 47 Ebd., 187.
210 | S ASKIA W IEDNER »›Ihre Augen‹ schreibt s äter der Mohr [Karl Mar ]‚ ›waren voller, schöner, leuchtender als je!‹«48
H ISTORIA MAGISTRA VITAE – G ESCHLECHTERWISSEN ALS HISTORISCHE K ATEGORIE Die ›Geschichte einer freien Frau‹ endet mit einem Selbstmord,49 zum einen der stärkste Beweis von Selbstbestimmung, zum anderen jedoch eine Handlung äußerster Selbstüberwindung, die zugleich das Subjekt des Handelns auslöscht und damit seine Intention ad absurdum führt. Der Suizid ist somit Beweis und Gegenbeweis der Freiheit. Was Giroud eigentlich sucht, ist die Möglichkeit von Glück, das durch Freiheit, durch Autonomie errungen werden soll. Dass sich beide Zustände nicht leicht miteinander verbinden lassen, dass noch weniger das Glück durch Autonomie und Unhabhängigkeit hervorgerufen wird,50 ist die Erkenntnis, die am Beginn und am Ende der Histoire d’une femme libre steht: »Liberté et bonheur sont des états violents qui exigent, pour les soutenir, une sant robuste. J’ai erdu la mienne.«51 Obwohl Giroud sich im autobiographischen Text als ein Subjekt entwirft, das sich in seinen Charakterzügen deutlich von den Frauen in ihren Biographien unterscheidet, befindet sie sich mit ihrem weiblichen Selbstverständnis in einem grundlegenden Abhängigkeitsverhältnis. Auch ihr Glück resultiert aus der gelungenen Beziehung zu einem anderen Menschen. Dieser andere – Jean-Jacques Servan-Schreiber, mit dem sie im L’E press eng zusammen arbeitete, den sie liebte, der sie aber nie heiratete – wurde für Giroud zu einem paradoxen Spiegel. Er akzeptiert sie als Partnerin
48 Ebd., 187. Der zitierte Brief von Karl Marx an seine Tochter Jenny Longuet stammt vom 7. Dezember 1881. 49 Giroud schildert die Vorbereitungen, die sie für den Selbstmord trifft, und wie sie versucht, sich in ihrer Wohnung mit Medikamenten das Leben zu nehmen. Vgl. dazu Giroud 2013 (Anm. 3), 233-240. Ihr Arzt schöpfte Verdacht und fand Giroud, nachdem er sich gewaltsam Zugang zu ihrer Wohnung verschafft hatte, leblos. Giroud wurde im Krankenhaus reanimiert. Sie starb 43 Jahre später am 19. Januar 2003 in Neuilly-sur-Seine. 50 Vgl. dazu auch die Autobiographie Françoise Girouds: Arthur ou le bonheur de vivre. Paris: Fayard 1997 (dt. Ist es nicht herrlich, glücklich zu sein? Berlin: Ullstein 1999). 51 Giroud 2013 (Anm. 3), 21. – »Freiheit und Glück sind zwei heftige Zustände, für die man, um sie ertragen zu können, eine gute Gesundheit braucht. Ich habe die meine verloren.«
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beim Aufbau des Express, er verliebt sich in sie,52 stieß sie aber zugleich mit ihrem Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung als Partnerin zurück. Damit verfestigte sich für sie ein traditionelles und negatives Männerbild53 und sie war gezwungen, es in ihre Vorstellung vom geliebten Wesen zu integrieren. In der Folge scheiterte ihre Liebe und damit ihr Glück.54 Denn obwohl sie beruflich eigenständig blieb und ihrer Passion nachging, das Schlechte und Böse (le Mal)55 mit ihrem politischen Engagement und ihrer Präsenz in der Presse der unmittelbaren Nachkriegszeit zu verringern, war sie an diesem Punkt ihres Lebens weit von ihrem Lebensglück entfernt. Die Histoire d’une femme libre relativiert damit die Vorstellung, eine freie Frau, eine befreite Frau, wäre zugleich und zwangsläufig auch eine glückliche Frau. Damit stellt sich die Frage, ob bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert, denen von der Gesellschaft das Recht auf eigene Projekte, das Recht auf Eigenständigkeit zu Gunsten eines Einsatzes für die Familie und die Angelegenheiten des Ehemannes abgesprochen wurde, als glückliche Frauen imaginiert werden können. Und wenn sie glücklich gewesen sind, warum sie es unter diesen Umständen sein konnten. Die politischen Errungenschaften der Frauenbewegung, deren Integration in den hegemonialen Diskurs und die Anerkennung von Frauen als gleichwertige gesellschaftliche Akteurinnen sind weitgehend unumstritten. Das individuelle, private Leben der sich als frei bezeichnenden Frauen zeigt, dass die Vorstellung von Glück weiterhin in Abhängigkeit von einer gelungenen Partnerschaft, bisweilen auch von sexueller Erfüllung, gedacht wird. Aus den Autobiographien von und den Biographien über Frauen Lehren für das Leben ziehen zu wollen, ist deshalb ein ambivalentes Vorhaben. Dennoch kann die von Rancière vorgenommene Aufwertung biographischer Texte zu Quellen für die historischen Wissenschaften eine Wahrnehmung des »Allgemeinen im Besonderen« begünstigen und »das Jahrhundert im Augenblick, die Welt in einem Zimmer« sichtbar machen.56 Am Beispiel der Histoire d’une femme libre und der romanhaften Biographien Françoise Girouds, die ich mit Rancière als Formen einer »neuen Biographie«57 bezeichnen möchte, wird einerseits deutlich, dass Geschlechterwissen niemals universell sein kann, sondern immer konkret und historisch sein muss. Andererseits ist es durchaus möglich, Strukturen aus dem Gelebten und Wahrge52 Vgl. ebd., 130. 53 Vgl. ebd., 92-93 sowie 113-119. 54 Vgl. ebd., 216. 55 Vgl. ebd., 161. 56 Rancière 2008 (Anm. 4), 213. 57 Ebd.
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nommenen herauszuarbeiten, die in Form einer Phänomenologie lesbar sind und helfen, Geschlechterwissen mit Hilfe dieses poetisch-philosophischen Prinzips, welches das Was und Wie des Lebens von Frauen in der Vergangenheit aufdeckt, weiterzugeben.
›Poetisches Geschlechterwissen‹ sichtbar werden lassen: Barbara Hundeggers schreibennichtschreiben E LEONORE D E F ELIP
D IE ›AUTORIN ‹,
DIE ERZÄHLENDE I NSTANZ UND DAS HANDELNDE ›D U ‹
Barbara Hundeggers 2009 bei Skarabæus erschienener Gedichtband schreibennichtschreiben1 präsentiert sich als poetisches Porträt einer Wortkünstlerin, als ironisch gebrochene, kluge und formal raffinierte Reflexion über das Handwerk des Schreibens, über die Frau, die es ausübt und von ihm ergriffen ist, über die Mühe und das Glück des Schreibens sowie über die äußeren Umstände einer Existenz als Lyrikerin, die keineswegs idyllisch sind. Im Fokus der folgenden Überlegungen steht der Prozess der poetischen Transformation, durch den das differenzierte Geschlechterwissen der Erzählerin und der lyrischen Akteurin (der Du-Figur) zugleich sichtbar gemacht und poetisch verschlüsselt wird. Von besonderem Interesse sind dabei die Fragen: In welcher Form wird hier über eine schreibende Frau nachgedacht? Wie wird ihre spezifische Position in einer Gesellschaft zum Ausdruck gebracht, in der ein Überleben für alle Kunstschaffenden schwierig ist, für kunstschaffende Frauen jedoch nahezu unmöglich? Mit welchen poetischen Strategien wird der Daseinskampf einer Wortkünstlerin inszeniert? Welchen spezifischen Erkenntniswert hat die lyrische Form für diese Art ›biographischen‹ Erzählens? Und schließlich: Wer wird eigentlich in schreibennichtschreiben porträtiert? Welchen Wahrheitsgehalt hat das biographische Wissen einer lyrischen Person in einem fiktionalen Text? Die 1
Barbara Hundegger: schreibennichtschreiben. Lyrik. Innsbruck/Bozen/Wien: Skarabæus 2009; im Folgenden mit »sns« wiedergegeben.
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folgenden Beobachtungen werden zeigen, dass Hundegger Anleihen aus der eigenen Biographie mit über-individuellem, ›feldspezifischem Geschlechterwissen‹2 auf innovative Weise miteinander verknüpft, fiktionalisiert und durch Techniken der sprachlichen Distanzierung und Verfremdung semantisch öffnet. Was wir von der ›konkreten Autorin‹ als »reale[r] historische[r] Persönlichkeit« und »Urheber[in] des Werks« wissen3, gründet sich auf die biographischen Angaben auf der Homepage der Autorin: »geb. 1963 in hall in tirol; einige jahre studium der germanistik, philosophie und theaterwissenschaft in innsbruck und wien; seit anfang der 80er-jahre mitarbeit in zahlreichen feministischen arbeitsgruppen und projekten (u.a. zu gen- und reproduktionstechnologien, homosexualität, homophobie, kriminalisierung von widerstand, faschismus, herrschaftsstrategien, sexualisierter gewalt, diskriminierung, geschlechter-verhältnissen, patriarchaler ökonomie); planung und organisation von kultur/politischen/literarischen veranstaltungen; bis 2002 berufliche tätigkeit als korrektorin, lektorin und redakteurin; lebt und arbeitet als freie schriftstellerin in innsbruck. - kolumnistin der ›spuren – zeitung für zeitgenossInnen‹ der klangspuren schwaz - mitglied der grazer autorinnen/autorenversammlung - mitglied der baettlegroup for art - vernetzung freier kulturinitiativen innsbruck - universitätslektorin an der universität für angewandte kunst wien / institut für sprachkunst«4
Um eine vorschnelle Gleichsetzung von Autorin und erzählender Instanz bzw. erzählter Figur im Gedichtbuch zu vermeiden, ist im interpretatorischen Vorgehen Vorsicht geboten. Obwohl viele Erzählmomente im Gedichtbuch an die biographischen Angaben der reellen Autorin erinnern und viele Verse nichts anderes zu tun scheinen, als Bahus Kolumnen poetisch zu transformieren,5 ist die Annahme, hier spreche überall die reelle Autorin, irreführend. Im Fokus der Arbeit wird daher die Fiktionalität des poetischen Textes stehen, d.h. die Tatsache, dass die in ihm dargestellte Welt fiktiv ist. Es mag durchaus sein, dass Elemente aus dem reellen Leben der reellen Autorin Barbara Hundegger mit rein fiktiven 2
Angelika Wetterer: Geschlechterwissen. Zur Geschichte eines neuen Begriffs. In: dies. (Hg.): Geschlechterwissen und soziale Praxis. Theoretische Zugänge – empirische Erträge. Königstein i. Ts.: Ulrike Helmer 2008, 13-36, hier: 31.
3
Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York: de Gruyter 2008 (2., verb. Auflage), 45. Zu den nun folgenden Differenzierungen von ›konkreter‹ und ›abstrakter Autorin‹ und ›Erzählerin‹ vgl. Schmids Definitionen: Ebd., 43-114.
4
Barbara Hundeggers Homepage: http://www.bahu.at (14.03.2014).
5
S. http://www.klangspuren.at/footermenu/archiv/bahus-kolumne/ (14.03.2014).
›P OETISCHES G ESCHLECHTERWISSEN ‹
SICHTBAR WERDEN LASSEN
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Momenten in multiplen Transformationsprozessen miteinander verwoben wurden, doch ist es nicht Gegenstand dieser Analyse, zwischen ›Wahrheit‹ und ›Dichtung‹ zu trennen. Einen fiktionalen Text zu verfassen ist, wie Wolf Schmid sagt, »eine Simulation ohne negativen Charakter, ein Vorgehen, in dem das Moment der Lüge und des Trugs oder Betrugs getilgt ist«.6 Vielmehr sei die Fiktion »als die Darstellung einer eigenen, autonomen, innerliterarischen Wirklichkeit« zu verstehen, nicht als imitatio und Reproduktion.7 »Die Fiktion, im Aristotelischen Sinne als Mimesis verstanden, ist eine künstlerische Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit. Insofern sie nicht nur bestimmte existierende oder frühere Handlungen, Handelnde und Welten darstellt, sondern auch mögliche, hat diese Konstruktion den Charakter eines Denkmodells.«8
Das Bild der ›Autorin‹ Barbara Hundegger, das während des Lesens von schreibennichtschreiben im Kopf der Leser_innen entsteht, mag sich mit dem Bild decken, das während der Lektüre ihrer Feuilletons entsteht, es mag auch den Angaben auf der Homepage der reellen Autorin entsprechen, doch bleibt es allemal eine Konstruktion: die ›abstrakte Autorin‹ soll nicht automatisch mit der ›reellen Autorin‹ gleichgesetzt werden.9 Die Konstruktion ihrer Identität wird von Leser_in zu Leser_in und von Leseakt zu Leseakt je unterschiedlich ausfallen.10 Die ›abstrakte Autorin‹ erscheint, so Schmid, als das »Korrelat […] aller auf d[ie] Autor[in] verweisenden indizialen Zeichen des Te tes […]. Diese Zeichen entwerfen sowohl eine weltanschauliche Position als auch eine ästhetische Konzeption«.11 Die abstrakte bzw. implizite Autorin sei, so Schmid, die kreative Instanz und das semantische Zentrum des Textes. Der ›abstrakte Autor‹ existiere »im Werk nur virtuell, angezeigt durch die Spuren, die die schöpferischen Akte im Werk hinterlassen haben, und bedarf der Konkretisation durch den Leser. […] Der abstrakte Autor ist ein Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks. Die Betonung ist nicht allein auf ›Konstrukt‹ zu legen, wozu die Vertreter des Konstruktivismus tendieren. Das Konstruieren muss sich ja, soll es sich nicht im bloßen Erfüllen von Sinn6
Schmid 2008 (Anm. 3), 27.
7
Ebd.
8
Ebd., 29.
9
Dazu Wolf Schmid: Implied Author (revised version; uploaded 26 January 2013). In: Peter Hühn u.a. (Hg.): the living handbook of narratology (LHN). Hamburg: Hamburg University Press. Online: http://www.lhn.uni-hamburg.de/contents (3.02.2015).
10 Schmid 2008 (Anm. 3), 61. 11 Ebd., 59.
216 | ELEONORE D E F ELIP wünschen erschöpfen, auf die im Text enthaltenen Symptome richten, deren Objektivität die Freiheit des Interpreten grundsätzlich begrenzt. Deshalb sollte man statt von ›Konstrukt‹ lieber von ›Rekonstrukt‹ sprechen.«12
In diesem Licht erscheint auch das in schreibennichtschreiben zum Ausdruck gebrachte Geschlechterwissen als ›Rekonstrukt‹ aktiv imaginierender und wiedererkennender Leser_innen. Hundeggers öffentliche Stimme, davon es zwei Register gibt − die feuilletonistische und die lyrische −, bietet genügend Wissensmaterial, damit Leser_innen in einer Synthese aus Fremdwahrnehmung und Selbsterkenntnis genderspezifisches Handlungswissen (je für sich) rekonstruieren können. Im Kontext ihrer gesamten publizistischen Tätigkeit gesehen, gewinnt Hundeggers Lyrikband an Klarheit und Prägnanz. Mit anderen Worten: Eine Lektüre, die die ›Autorin‹ (als abstrakte bzw. implizite) »rückkehren« lässt,13 ohne dabei in die Falle voreiliger Rückschlüsse zu tappen, kann den ›biographischen‹ Erkenntniswert eines fiktionalen Textes wie schreibennichtschreiben erhöhen. Eine Lesehaltung, die Barthesʼ berühmt gewordene Losung vom »Tod des Autors« übernehmen14 und damit die im französischen Poststrukturalismus formulierte und heute noch wirkungsreiche Kritik an der Instanz des Autors bzw. der Autorin konsequent umsetzen würde, wäre im Fall der Texte von Barbara Hundegger gerade hinsichtlich der Frage nach dem in ihnen vermittelten Geschlechterwissen wenig zielführend. In Anlehnung an Irene Döllings konzeptionelle Überlegungen zum Begriff »Geschlechterwissen« verstehen auch wir im Folgenden »unter (individuellem) ›Geschlechter-Wissen‹ […] den biografisch aufgeschichteten, sich aus verschiedenen Wissensformen zusammensetzenden und strukturierten Vorrat an Deutungsmustern und an Fakten- und/oder Zusammenhangs-Wissen, mit dem die Geschlechterdifferenz wahrgenommen, bewertet, legitimiert, begründet bzw. als selbstverständliche, quasi ›natürliche‹ Tatsache genommen wird.«15
12 Ebd., 60-61. 13 Vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 2008, 71 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur). 14 Roland Barthes: La mort de l’auteur (1968). In: Roland Barthes: Œuvres com lètes. Tome II. 1966−1973. Paris: Éd. du Seuil 1994, 491-495. 15 Irene Dölling: ›Geschlechter-Wissen‹ – ein nützlicher Begriff für die ›verstehende‹ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien 23 (2005), 1-2, 44−62, hier: 49.
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Das in schreibennichtschreiben reflektierte und poetisch transformierte Geschlechterwissen problematisiert die Differenz zwischen »objektiviertem, gesellschaftliche[m] bzw. kollektive[m] Geschlechter-Wissen und dem subjektive[n] ›Geschlechter-Wissen‹ von AkteurInnen«, wie Dölling sie beschreibt.16 Die Perspektive ist die einer Autorin, die inmitten eines für Künstlerinnen nicht förderlichen Literaturbetriebs ihrer widerständigen Subjektivität Ausdruck verleiht. Aus ihrer Perspektive wird das ›feldspezifische Geschlechterwissen‹ formuliert, das, so Angelika Wetterer, »die Unterscheidungs- und Hierarchisierungsweisen umfasst, die in einem bestimmten sozialen Feld dominieren und konsensfähig sind«.17 Darüber hinaus zeichnet sich in schreibennichtschreiben die erzählende Instanz durch ein zusätzliches ›poetisches Geschlechterwissen‹ aus, das ihr einen innovativen Weg weist, um auf die aktuell zu beobachtenden Differenzen zwischen kollektivem, biographischem und feldspezifischem Geschlechterwissen hinzuweisen. Die von Wetterer beschriebene Differenz zwischen ›diskursivem‹ und ›inkorporiertem‹ Wissen,18 d.h. zwischen kognitiven Wissensinhalten und den ›natürlichen‹ Einstellungen, kann im Denkraum der poetischen Möglichkeiten zusammengeführt werden. In schreibennichtschreiben gibt die erzählende Instanz Aufschluss über die (begrenzten) Handlungsspielräume einer schreibenden Frau. Die erzählende Instanz bleibt selbst ohne explizite Geschlechtsangabe, ohne Namen und Biographie. Da sie nichts von sich verrät, fallen stereotypisierte Erkennungsmuster und -zuschreibungen weg. Die ›implizite‹ Darstellung beruht auf den »indizialen Zeichen des Erzähltextes«.19 Besonders aussagekräftig sind ihre unangepasste, pointierte Sprache, ihr scharfer Witz, ihre widerspenstigen Wörter und die widerständige Art ihres Erzählens. Charakteristisch ist auch die deutliche Hinwendung zum Wortmaterial, d.h. zu den einzelnen Buchstaben als den kleinsten Bauelementen ihrer Wortkunst. Die in ihrer innovativen Erzählweise enthaltenen Indizes markieren die fiktive Erzählerin als virtuose Sprachkünstlerin (es sei hier erlaubt, sie als tendenziell weiblich zu ›rekonstruieren‹). Ein besonderes Merkmal ihrer Erzählstrategie ist dabei die subtile Kunst, mit der sie ihr Wissen zugleich enthüllt und verhüllt, Details nennt und sprachlich sogleich verfremdet.
16 Ebd., 50-51. 17 Wetterer 2008 (Anm. 2), 31. 18 Angelika Wetterer: Rhetorische Modernisierung. Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen. In: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Münster: Westfälisches Dampfboot 2003, 286-319, hier: 302. 19 Schmid 2008 (Anm. 3), 73.
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Ihr ›praktisches Geschlechterwissen‹ formuliert die ›Erzählerin‹ als Du-Erzählung in einem teils ironischen teils zornigen Tonfall; die im Lauf des Lebens gesammelten Erfahrungen der handelnden erson − einer Lyrikerin, die in einer an Lyrik tendenziell desinteressierten Gesellschaft zu überleben versucht − finden in scharfsinnigen Sprachspielen und flammenden Pointen einen adäquaten Ausdruck. Ihr ›poetisches Geschlechterwissen‹ wiederum offenbart sich in den neuen Räumen, die die innovative Sprache schafft und die von subtilen semantischen Ambivalenzen geprägt ist. In ihnen sind neue Ordnungen möglich. Das ›poetische Wissen‹ ist die andere Stimme, die der zornigen Tonlage eine zärtliche Qualität gibt. Für die handelnde Du-Figur (aber auch für aktiv rezipierende Leser_innen) stellt diese »synthetische Qualität« des zum Ausdruck gebrachten Wissens die »›Ressourcen‹ […] für aktuelles und künftiges Handeln« dar.20 Die den widerwärtigen äußeren Umständen (sowie allen inneren Widerständen) trotzende, weiter schreibende Akteurin wird mit dem Personalpronomen »du« angesprochen. Bei der Bezeichnung von Figuren in Gedichten vermitteln Pronomen, so Simone Winko, »keinerlei Informationen, die über deren pragmatische Funktion in der sprachlichen Kommunikation hinausgehen«. Der Ausdruck »du« verweise lediglich »auf einen Adressaten, der von einer sprechenden Instanz angesprochen wird«. Diese Variante der Personen-Bezeichnung sei, so Winko, die »semantisch ärmste«.21 Die Du-Anrede mit all ihren Facetten der ironischen Verfremdung und pointierten Schärfe richtet sich gegen die Gleichsetzung von sprechender Instanz und Akteurin. In ihr verwahrt sich die ›Autorin‹ gegen eine simple autobiographische Lektüre. Die Du-Anrede ist eine wirksame Strategie gegen Exhibitionismus, gegen Selbstinszenierung und -stilisierung und schützt gleichzeitig vor invasiven Lektüren. Diese Form des poetischen SichVerwahrens zählt zu den hervorragendsten Qualitäten des Buches; in ihr zeigt sich eine schöne Facette des Geschlechterwissens der ›Autorin‹, durch die sie sich von den oft zu beobachtenden (männlichen) Praktiken der Selbstdarstellung in positiver Weise abhebt.
20 Dölling 2005 (Anm. 15), 49. 21 Simone Winko: Lyrik und Figur. In: Dieter Lampig (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart: Metzler 2011, 62-69, hier: 64.
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SCHREIBENNICHTSCHREIBEN – EINE WIDERSTÄNDIGE LYRISCHE
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E RZÄHLUNG
In der unkonventionellen Sequentialität der überwiegend mentalen Handlungen und Stationen wird eine ›Erzählerin‹ sichtbar, die gängige Denk- und Erzählmuster zu überwinden versteht.22 Das Buch beginnt mit einem Prosateil [intro], dessen Titel schon Programm ist: sns – facetten eines widerständigen alphabets. Schon das Kürzel »sns« für schreibennichtschreiben inszeniert das folgende methodische Vorgehen, indem es den Blick auf die einzelnen Buchstaben als auf das zentrale Material und Ordnungsprinzip lenkt. Als Prosa-Introitus zur nachfolgenden lyrischen SprachFuge weist er alle charakteristischen Elemente eines musikalischen Introitus auf: aufgefädelt an den 26 Buchstaben des Alphabets werden die Motive ›Schreiben‹, ›Schreibwiderstände‹ und ›Schreiben als Frau in einem gleichgültigen bis aversiven kulturellen Umfeld‹ eingeführt, variiert, permutiert und in einem abschließenden Akkord zusammengeführt. Das Widerständige des Alphabets zeigt sich in der Umkehrung der Reihenfolge der Buchstaben (von z bis a). Umgekehrt wird aber auch die gängige Zeitenfolge: die erste Prosaskizze trägt den Titel zuletzt, die letzte den Titel anfänglich. »1 zuletzt zuletzt sitzt du halt doch immer wieder da und denkst den wörtern in dingen, stimmen, stillen, in taten nach, was sie so sagen, so tragen, versprechen und halten, nicht halten davon […] weil nur so meinst du dem zu entkommen, was alles dich erdrückt. Nur so, meinst du, kann aufkommen unter all dem, was dich daran berückt.« (sns 5-6) »26 anfänglich die einsamkeit von etwas, in dem du dir erschienst. die ahnungen, die dich daheim suchten. – glücke, spätnachts. bestürzungen, mitten am tag. – die lichtspiele, wenn dir etwas dämmert. der dunkle ernst, der dir erhellt, dass du auch nur geblendet bist. – das viele-
22 Zur narratologischen Untersuchung von Lyrik Peter Hühn/Roy Sommer: Narration in Poetry and Drama, Abschnitt 1: »Lyric poetry in the strict sense (and not only obviously narrative poetry like ballads or verse romances) typically features strings of primarily mental or psychological happenings perceived through the consciousness of single speakers and articulated from their position.« In: Peter Hühn u.a. (Anm. 9). Vgl. auch: Peter Hühn: Lyrik und Narration, in: ebd., 58-62 (beide 18.03.2014).
220 | ELEONORE D E F ELIP schriftarten-sein in deinen schriften. das schriftlich eins-sein mit dem, was deiner handschrift doch gelang. Anfänglich war es nicht abzusehen, dass das bei dir bleibt.« (sns 16)
Die Prosaskizzen lesen sich als die traurig-ironische Quintessenz einer Schriftstellerin-Existenz. Nicht gesagt wird, was das »etwas« ist, in dem das »du« sich erscheint, sodass »die einsamkeit von etwas« nur als Ahnung im Kopf der Leser_innen aufsteigen kann. Der inhaltlich und stilistisch sehr reduzierte Text ist voller Gesten des Verhüllens, des Verschließens und Nicht-Sagens: was sind die »ahnungen« und was die »glücke« und »bestürzungen«? Zugleich macht er neugierig, lässt aufhorchen und lädt auf subtile Weise ein, die einzelnen Wörter genau anzuschauen. Der Text lässt nicht in sein Innerstes hinein, die Leser_innen bleiben außen vor, hören dieser ›Rede‹ wie einer verschlüsselten inneren Bilanz, einem verschwiegenen Rechenschaftsbericht zu. Auch »die lichtspiele«, »der dunkle ernst«, »das viele-schriftarten-sein« sind kaum mehr als Anspielungen, versteckte Hinweise; es sind verheimlichende Erklärungen. »glücke, spätnachts. bestürzungen, mitten am tag.« Von welchem Glück ist hier die Rede, von welchen Bestürzungen? Ist es das Glück beim nächtlichen Schreiben, die glückliche Erregung des kreativen Moments? Oder ein anderes nächtliches Glück? Zahlreich können auch die »bestürzungen« sein, die sich nachts ereignen. Die sparsam eingesetzten Wörter umfassen das ganze Universum eines Dichterinlebens. Wo sich das Enthüllen und Verhüllen simultan ereignen, öffnen sich die Räume der Imagination. Die rückläufig angeordneten Momentaufnahmen erzählen davon, wie sich das Bild verändert, in dem sich das Du anfänglich erschien. Eine Künstlerin kämpft um ein selbstbestimmtes Bild ihrer selbst. In der Auseinandersetzung mit den von außen herangetragenen Vorstellungen müssen die Selbstwahrnehmung und der Glaube an sich selbst mühsam behauptet werden. Die Stationen der poetischen Selbstbehauptung heißen unter anderem ybbslos (»ybbs, zum beispiel, da hast du noch nie gelesen«), throne (»fern jeden dichterischen und dichterinnerischen ruhms s ielt sich […], blitzlichtlos und als ereignis einer rasanten vergänglichkeit preisgegeben, so manche lesung ab.«), rechnungen (»an deinen büchern verdienst du exakt nichts«), nachschau (»warum tust du, was du tust«), mäzenatentümer, klischees, jammerverbot und inkonsequenzen. Zwischen »z« und »a« entfaltet sich der poetische Widerstand. Er richtet sich gegen die geringe gesellschaftliche Bedeutung von Literatur (insbesondere von Lyrik), gegen die äußerst prekäre finanzielle Situation von hauptberuflichen Kunstschaffenden, gegen den chronischen Mangel an Wertschätzung.
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»5 vor-ort-vorgaben kultur eine seite, sieben seiten sport. kultur eine halbe seite, fünf seiten sport. kultur eineinhalb seiten, elf seiten sport. zwei-, dreitausend seiten sport im jahr, das ganze jahr kein einziger literarischer text, nicht ein gedicht.« (sns 8)
Die ›Unsichtbarkeit‹ von Lyrik in der Gesellschaft hat zur Folge, dass eine angemessene Honorierung chronisch ausbleibt (»an deinen büchern verdienst du exakt nichts«, sns 9). Die wenigen Brosamen, die vom Tisch der Geldgeber fallen, werden vorzugsweise Männern zugesprochen. In »x« formuliert die Du-Figur, die für ihre Kunst nicht oder nur sehr schlecht bezahlt wird, ihre feldspezifische Erkenntnis: »3 xerophyten zwischendurch musst du dir ja selber ein U vormachen für deine XXe im chromosom: alles halb so wild. aber was allgemein gilt, gilt für künstlerinnen genauso: auch in der kunstszene verdienen die frauen um mindestens ein drittel weniger als die männer, bekommen weniger aufträge, fläche/n, ernsthaftigkeit, hype. und selbstverständlich wird darüber auch im kunstbereich kein wort verloren, so als handelte es sich dabei um eine von niemandem aushebelbare naturgesetzlichkeit. das ganze tritt aber nicht bloß als evidenz, sondern als atmosphäre/n auf – als zufall, sachzwang, verstimmung, nachrede, beleidigte verwahrung gegen gendermilitanz. wer dem seinen lauf lässt, will, dass es bleibt, wie es ist. oder gibt vor, diffus zu hoffen, geschlechter-fragen lösten sich ohne sein oder ihr zutun in einer art spontanheilung irgendwann und – wie von selbst. […]« (sns 6-7)
Die ausbleibende oder äußerst geringe finanzielle Vergütung von Künstlerinnen ist ein Indiz für ihren geringen gesellschaftlichen Status. Dass es sich dabei nicht um ein unumstößliches Naturgesetz, sondern um »männerbündische« MachtKonstrukte handelt, gibt berechtigten Anlass für Zorn und Bitterkeit: »aber mach dir nichts vor: sich dem männerbündischen – das auch die kompatible einefür-alle-frau vorsieht – zu widersetzen, hat einen preis. Die größeren projekte, das halbwegs-geld, das etwas-renommee kommen nach wie vor aus den älteren wie jüngeren ärmeln oberer wie halboberer herren, die schon wissen, wo die herr(schaft)liche schmerzgrenze liegt …« (sns 7)
Die unreflektierten Sprachgewohnheiten der Medien werden in ihrer die Zustände zementierenden Wirkung entlarvt:
222 | ELEONORE D E F ELIP »noch um 12.30 uhr an jenem bemerkenswerten 7. Oktober 2004, wenige minuten vor bekanntgabe des literaturnobelpreis-namens, hieß es auf www.orf.at: ›Spannung vor Literaturnobelpreis: Roth oder eine Frau?‹. Aber: ›Jelinek oder ein Mann?‹ – undenkbar.« (sns 7)
Wie also ist unter diesen Umständen ein Leben als Lyrikerin möglich? Wo liegen die Ressourcen für ein Weiter-Schreiben unter ungünstigsten Verhältnissen? Weiter-Schreiben heißt, sich an minimale Ressourcen anzupassen: »XX im chromosom also für ›xerophyten‹ – pflanzen, die an ein leben an trockenen standorten angepasst sind?« (sns 7)
Die Prosaskizze xerophyten bestätigt, was Wetterer sagt, »dass sich einige der Ziele der Frauenbewegung zwar heute großer Wertschätzung erfreuen, dass insbesondere die Gleichstellung der Geschlechter in bestimmten Milieus selbstverständlich geworden ist, dass dieses neue Wissen in der Praxis aber nur sehr begrenzt seinen Niederschlag gefunden hat.«23
xerophyten ist ein Text über die Diskrepanz zwischen wertvollem Geschlechter_Wissen und alltäglicher Praxis. Seine Funktion liegt darin, dieses Wissen als »Ressource auszuweisen, die in einer Gesellschaft, die sich zunehmend als Wissensgesellschaft versteht, wertvoll ist und Wertschätzung verdient.«24 Selbst die kärglichen Geldquellen werden problematisch, wenn das hochsensible soziale Bewusstsein der Erzählerin sie reflektiert: »6 umgänge preise und deren verleihungen – roblematische momente literarischen daseins […]. die dir urkunden übergeben, übergehen frauenhäuser, flüchtlingshilfen, sozialprojekte, kinderorte, homo-rechte, alternative wirtschaftsstrategien – während für die große-männer-spiele unentwegt abermillionen flüssig sind.« (sns 8)
15 lyrisch (sns 11-12) schließlich zitiert einen Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 29.04.2004, dass nämlich die Lebenserwartung von Lyrikern (-innen) weit unter der der Durchschnittsbevölkerung liege.
23 Wetterer 2008 (Anm. 2), 17. 24 Ebd., 16.
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Somit präsentiert sich das [intro] als pointierter Bericht über die Schwierigkeiten, als Schriftstellerin zu leben; er ist das Resümee einer ernüchternden Wirklichkeit. Der eigentliche Hauptteil schreibennichtschreiben lehnt sich an das Kompositionsprinzip der Fuge an, die »in einem polyphonen, strengstimmigen Satz ein oder gelegentlich mehrere Themen verarbeitet«.25 Die erste Stimme (Dux), die gleich zu Beginn das Leitthema vorstellt, wird von einer zweiten Stimme (Comes) begleitet. Das Leit-Thema (schreibennichtschreiben bis / die frage sich stellt hab ich, sns 18) wird als spiegelverkehrte Reprise den Schlusssatz bilden (»hab ich bis die frage sich stellt schreibennichtschreiben«, sns 94). Auch im Hauptteil wird das Thema ›Schreiben‹ (der Dux) in der Reihenfolge eines gegenläufigen Alphabets und auf polyphone Weise entwickelt: variiert und permutiert werden ›die Sätze‹, ›das weiße Blatt Papier‹, die Hochs und Tiefs des Schreibens, das kulturell-politische und familiäre Umfeld der Schreibenden. Linksseitig findet sich der Comes: stabreimmäßig geordnete Wortreihen aus Wortpaaren, die aus jeweils einem Substantiv und einem Partizip Perfekt bestehen (»zorne entfesselt zwecke / geheiligt zepter geschwungen / zungen gehütet […] zustände entsichert zuwächse / geleugnet«, sns 18). Diese Wortkaskaden scheinen ein Eigenleben zu führen; in ihnen zeigt sich das Herz der Sprache; sie drängen sich ins Bewusstsein und aufs Blatt; sie drängen sich in die ästhetische Form. Die fettgedruckten unter den linksseitigen Wortpaaren werden rechtsseitig zu Gedichten fortgesponnen. Sie handeln von Schreibhemmungen, vom Horror vor dem weißen Blatt, von der Überwindung des Schweigens und der Überfülle der Wörter, die sich wie von selbst einen Weg ins Gedicht bahnen. Der lyrische Teil zeichnet sich durch eine uneigentliche Sprechweise aus. Das Geschlechterwissen der Erzählinstanz kommt in verschlüsselter Form zum Ausdruck; minimale Details deuten das Geschehen nur an:
25 Fuge. In: Österreichisches Musiklexikon online, http://www.musiklexikon.ac.at/ (27.03.2014).
224 | ELEONORE D E F ELIP »läufe lassen stimmen gedämpft bei anblick des künstlers davon lebt der davon muss der leben stimmen spitz beim blick auf die künstlerin wovon lebt denn die davon kann die leben« (sns 60)
Den Dingen ›ihre Läufe zu lassen‹ heißt, sie zuzulassen und damit zu verfestigen. Das Gedicht inszeniert ein raffiniertes Spiel mit Wiederholungen und Variationen. Registriert werden die subtilen Unterschiede im Blick. Der wohlwollend-bewundernde Ton des männlichen Teils kühlt im weiblichen Teil merklich ab, die Stimme wird »spitz«. Der auf materielle Sicherheit verzichtende Künstler ist ein (erhebender) »anblick«, während die Künstlerin abschätzig gemustert wird. Dem Künstler zollt man Bewunderung für sein entbehrungsreiches Leben im Dienste der Kunst (»davon muss der leben«), doch für die Künstlerin hat man keine Empathie übrig. Im kühlen, abfälligen Ton (»wovon lebt / denn die«) klingt unterschwellig die Frage mit, wovon denn eine Künstlerin wirklich lebe, wer sie denn erhalte, wer sie denn aushalte? Im Gedicht hunde ausgraben (sns 68) − die ironische Ans ielung auf den Namen »Hundegger« ist unüberhörbar − wird das allgemein erwartete Bild einer Autorin dekonstruiert und als vorwiegend männliche Wunschvorstellung entlarvt. Die (gängigen) Erwartungen an eine Schriftstellerin geraten zum Vexierspiegel der ›reellen‹ Künstlerin: »lückenlos im betrieb die geschlechtsbezirke der literatur zirkeln ab was du sollst als frau schon auch körpersprachen entrichten nicht nur auf dem papier hautbilder augenabschläge haltlosigkeitsgesten mit gefälligst einem hauch stoff für koordinatensysteme förderlicher herren sie nehmen sich gelegenheiten daraus« (sns 68)
hinterhalte behandeln handelt von der Weigerung der Du-Figur, ›Weiblichkeitssignale‹ zu senden und damit Weiblichkeitsklischees zu erfüllen sowie das »gängige« zu sagen. Das lyrische »du« verwahrt sich dagegen, Klischees zu perpetuieren.
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»den weiblichkeitssignets offenbar nicht nachkommen kein brauch an dir so rosarot wie das gängige zur gängigen lage sagen das fragst du dich selbst ein befrager ja auch« (sns 69)
Zur Weigerung, Klischees zu bedienen, gehört auch das subtile Spiel mit der ambivalenten Geschlechtsattribuierung. »ein befrager ja auch«: Wer ist hier das Du und wer der männlich markierte Befrager? Schlüpft das Du hier in die Rolle eines männlichen Befragers? Der Vers ist semantisch weit offen. Auch in drähte kappen (sns 87) wird das mit Sätzen »kühn jonglierende« und die Sprache bändigende Du sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Form angesprochen: »du dompteur / dompteuse«. In verkehre verkehren (sns 28) verwahrt sich das lyrische Du gegen Geschlechtsmarkierungen auch in der Liebe: »im sie-lieben wunderwillig führst du elende sterne fort deine fracht süffiger sünden abtrünniger gründe wunden unumwunden von deinem entkommenskampf aus den dramen suchtschichten mitgiften markieren dich nach geschlecht was dir nicht passt macht dich gerecht gegen zu schön die schönen vorfälle in sie im dich-lieben planwillig führt sie ein elend ihren misstrauensschacht gegen unumwunden wunder drama sünde nennt sie das nicht ihre genug gründe für verkommenheitskämpfe den süchten schichten mitgiften die markiert sie nach geschlecht das passt ihr das ist ungerecht von wunden die zu schön unschönen rückfälle in dich« (sns 28)
Die Beziehung zwischen den Liebenden zeigt sich sprachlich als zu-geneigte Beziehung zwischen den Versen, zwischen den einzelnen Wörtern und Wortverbindungen. Das höchst kunstvolle Spiel mit Spiegelungen, Inversionen und Mutationen zeigt, dass »du« und »sie« spiegelbildlich sind, komplementär und
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gegensätzlich zugleich. Vor allem aber zeigt es, wie sie aufeinander verweisen und nur gemeinsam Sinn machen. Die eine (Gedicht)Hälfte wäre ohne die andere verstümmelt, nahezu aussagelos. Das Un-Sichtbare und Verhüllte offenbart sich im Zusammenspiel der beiden Strophen, im Dazwischen, in der inneren Einheit. »Du« empfindet Unbehagen darüber, anhand bestimmter Indizien einem Geschlecht zugewiesen zu werden (»suchtschichten mitgiften markieren / dich nach geschlecht was dir nicht / passt«), während »sie« sich in ihrer ›Markiertheit‹ wohlzufühlen scheint (»den süchten schichten mitgiften die / markiert sie nach geschlecht das passt / ihr«). Strophe 1 und 2 reflektieren die Zuweisung und die Ablehnung von Rollen innerhalb der Beziehung. Während das Objekt der Liebe (»sie«) eindeutig weiblich ist, ist das liebende Subjekt (»du«) geschlechtlich nicht fixiert; das Pronomen »du« ist semantisch ambivalent und offen. »Du« schafft sprachlich eine dritte Alternative, einen offenen Denkraum, vergleichbar dem dritten Raum im Sinne Bhabhas, »der nicht als konkrete ›Örtlichkeit‹ zu verstehen ist, sondern als Raum oder Zone der Kritik und potentiellen Subversion rigider, hierarchischer Identitätskonstruktionen und einseitiger Machtverhältnisse.«26 »Du« schafft einen ideellen Raum der Ambivalenzen, der zu Veränderung und Emanzipation einlädt; »du« ist ein ›hybrides‹ Subjekt.27 Zum ›Geschlechterwissen‹ der Akteurin zählt auch das Unbehagen an der geschlechtlichen ›Markierung‹, weil sie als Instrument einer sozialen (historischen) Machtkonstruktion erkannt wird. ›Schreiben‹ wird zur Strategie der Entlarvung, die Sprache wird militärisch, wie zustände entsichern zeigt: »wetterdaten zu atmosphären verdichten aus augenmerken sichtweisen züchten gültige muster zu klischeestapeln
26 Anna Babka/Gerald Posselt: Vorwort. In: Homi K. Bhabha: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Hg. u. eingel. v. Anna Babka/Gerald Posselt. Wien/ Berlin: Turia + Kant 2012, 7-16, hier: 9. 27 Homi K. Bhabha im Interview mit Lukas Wieselberg: »Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet sind.« hier zit. nach ebd., 13.
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schlichten gegenteile an sich richten das helllichte licht mit blindheit schlagen nicht dem ja nur amen sagen die lasten nicht zu tragend tragen faktenlagen in fragen jagen« (sns 21)
Wo Sprache der Entsicherung dient, werden die »gültige[n] / muster« keineswegs ›geschlichtet‹. Sie lässt nicht zu, dass das Augenfällige, Offenkundige, Nicht-Zu-Übersehende übersehen wird. Sie sagt zu den Zuständen nicht ja und amen. In den Redewendungen werden die Zustände ver-dreht und dekonstruiert (»das hellichte licht / mit blindheit schlagen«); Gegenteile werden virulent. In der Verdichtung der poetischen Sprache wird sichtbar gemacht, wie das Evidente übersehen wird, weil es unsichtbar gehalten wird. Die widerständige Sprache der Poesie bringt die Schieflage der Fakten ans Licht.
R ESÜMEE In schreibennichtschreiben, Barbara Hundeggers lyrischem Porträt einer Wortkünstlerin, wird ein ›poetisches Geschlechterwissen‹ sichtbar, das das rein diskursive, visuelle und praktische Wissen um einen feldspezifischen, innovativen Aspekt bereichert. Da in der Konstruktion des lyrischen Subjekts als einer DuFigur die Beschreibung des Äußeren und der Stimme als zuverlässige GenderMarker fehlen, tritt der spezifische Handlungskontext ›kunstschaffende Frau im Literaturbetrieb‹ in den Vordergrund. Dieses ›handlungsrelevante‹ Wissen der Du-Figur macht sie einerseits als Frau sichtbar; gleichzeitig wird durch die Neutralisierung des grammatischen Genus sowie durch die zornige Weigerung der handelnden Figur, Gender-Klischees zu übernehmen, die Frau (d.h. das soziale und sprachlich-diskursive ›Konstrukt Frau‹) wieder unsichtbar gemacht zugunsten einer ›hybriden‹, d.h. ambivalenten und offenen poetischen Konstruktion. Die Signalfunktion der Poesie liegt darin, auf geschlechtsbedingte Benachteiligungen und Kränkungen hinzuweisen, ihre korrigierende und irritierende Funktion darin, eine erweiterte Realität zu konstruieren, in der Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten sein dürfen. Das ›poetische Geschlechterwissen‹ erweist sich hiermit als »Veränderungswissen« im Sinne Döllings, das »die Relation von Beharren und Verändern« im Wissen der poetischen Figur ausdrückt. 28
28 Dölling 2005 (Anm. 15), 45-46.
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Hundeggers Poesie rekonstruiert nicht eine soziale Praxis, sondern macht deren unsichtbare Mechanismen sichtbar. Sie schafft darüber hinaus Denkräume, in denen die Leser_innen an der Neukonstruktion des poetischen Subjekts mitbeteiligt sind.
›Neue‹ Väter Vaterschaft und Männlichkeit in Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur A NNE -D OROTHEE W ARMUTH »Was ich meine, ist die Liebe. Sie hat den Himmel aufgerissen bei der Geburt. Sie hat Schwalben über die Gartenbank geschickt. Aber sie schickt auch die Krähe mit dem viel zu großen Ast im Schnabel. […] Luise als Mischung aus fest und flüssig. Das Gleiten der Luftdruckreifen auf dem Waldweg. Rosa bestrahlte Tuffwolken. Aber auch die schreiende Luft im Kinderzimmer. […] Sie ist überall […].« (Dirk von Petersdorff)1
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In den Sozialwissenschaften und zunehmend auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur findet sich ein historisch ›neuer‹ Typus von Väterlichkeit und Vaterschaft, der sich im Zusammenhang spätmoderner gesellschaftlicher Veränderungen herauszubilden beginnt. Von einem Wandel zeugt insbesondere die gesteigerte mediale Aufmerksamkeit für das Thema Vaterschaft, etwa in Form einer zunehmenden Ratgeberliteratur für (werdende) Väter oder der Thematisierung diverser Aspekte des Vaterseins in klassischen Männerzeitschriften 1
Dirk von Petersdorff: Lebensanfang. Eine wahre Geschichte. München: C.H. Beck 2007, 169-170 (nachfolgend ›L‹).
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wie Men’s Health. Auch wenn mithilfe des Rückgriffs auf Geschlechterstereotype hier immer wieder eine Inszenierung hegemonialer Männlichkeit im Sinne Raewyn Connells erfolgt, zeigt ein genauer Blick in die Beiträge – sie tragen Überschriften wie Die Geburt meines Kindes, Kind oder Karriere? (beide Artikel 2.04.2009) oder Neue Liebe weckt Vatergefühle (16.02.2012) –, dass offenbar eine Verschiebung stattgefunden hat, die sowohl die gesellschaftlichen Vaterbilder als auch die väterliche Praxis, das fathering, nicht unangetastet lässt. Neu an dieser erhöhten Aufmerksamkeit ist nicht nur, dass väterliche Belange überhaupt zum Gegenstand öffentlicher Diskurse gemacht werden und Männer konkret als Väter angesprochen werden; so zeigt etwa Sylka Scholz anhand einer Analyse von 250 Erziehungsratgebern von den 1950ern bis in die Gegenwart, dass sich Erziehungsratgeber lange Zeit ausschließlich an die Mütter richteten und erst seit den 2000ern ein Boom an Ratgebern auch für Väter zu verzeichnen ist.2 Das Besondere ist darin zu sehen, dass Vatersein mit einer veränderten Arbeitsteilung hin zu einer aktiven Beteiligung in der Familie, Fragen der Vereinbarkeitsproblematik und der (frühkindlichen) Erziehung, Liebe und Care in Verbindung gebracht wird – Felder, die lange Zeit ausschließlich ›weiblich‹ konnotiert waren und auch heute vielfach noch sind. »The time the father dedicates to his profession is in the specific sense also time for the family, even if it is not spent with the family.«3 Während Mutterschaft immer als zentraler Bestandteil von Weiblichkeit angesehen wurde, galt Vaterschaft im Sinne einer individuellen väterlichen Praxis nicht als Aspekt von Männlichkeit. 4 Michael Meuser beschreibt diesen Wandel als einen in den 1970er Jahren einsetzenden Prozess »der Diskursivierung von Männlichkeit, der davon zeugt 2
Vgl. Sylka Scholz: Vaterliebe. Die Konstruktion der Vater-Kind-Beziehung in aktuellen Erziehungsratgebern für Väter. Beitrag zur Tagung des Arbeitskreises AIM Gender »Sexualität, Liebe, Männlichkeiten« im Dezember 2013, 1-20, hier: 5-6. Online: https://www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ISO/de/Lehr-und-Forschungsbereiche/soziolo gie_der_geschlechterverhaeltnisse/Medienpool/AIM_2013_Tagung/Scholz_Vaeterrat geber.pdf (31.03.2014).
3
Michael Meuser/Cornelia Behnke: »Look here, mate! I’m taking aternal leave for a year« – Involved Fatherhood and Images of Masculinity. In: Mechthild Oechsle/ Ursula Müller/Sabine Hess (Hg.): Fatherhood in Late Modernity. Cultural Images, Social Practices, Structural Frames. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich 2012, 129-145, hier: 130.
4
Vgl. Michael Meuser: Vom Ernährer der Familie zum involvierten Vater? Männlichkeitskonstruktionen und Vaterschaftskonzepte. In: ders. (Hg.): Herausforderungen. Männlichkeit im Wandel der Geschlechterverhältnisse. Köln: Rüdiger Köppe 2007, 49-64, hier: 63.
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und dazu beiträgt, dass die gesellschaftliche Position des Mannes den Status einer fraglosen Gegebenheit zu verlieren beginnt«.5 Auch Scholz konstatiert eine in den 1970er und 1980er Jahren einsetzende, mit einer Diskursivierung von Vaterschaft einhergehende, zunehmende Integration des Vaters in die Familie,6 die mit veränderten Ansprüchen an die Vaterrolle einhergeht. Vor allem die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und des daran gekoppelten Ernährermodells sind als wichtige Ursachen des Wandels zu werten.7 Auch wenn hier die Annahme vertreten wird, dass das im Bürgertum entstandene Ernährermodell für das Geschlechterverhältnis und die Konstruktion von Männlichkeit lange Zeit konstitutiv war und als Leitbild noch heute seine Wirkmacht entfaltet, sei nicht in Abrede gestellt, dass es auch in der Vergangenheit nicht zu übersehende Grenzüberschreitungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gab. So zeigen z.B. Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz in ihrer Überblicksdarstellung Geschichte der Männlichkeiten, dass die lange Zeit bestehende Vorstellung einer strikten Trennung der Sphären falsch ist und die alltägliche Praxis wesentlich differenzierter war, als es »Großthesen« vermuten lassen.8 Aus historischer Sicht sind die Kategorien des ›Neuen‹ und der ›neuen‹ Väter grundsätzlich zu problematisieren: Nicht nur findet häufig eine Verwechslung von historischen Fakten und Diskursinhalten statt, 9 darüber hinaus muss beständig gefragt werden, von welchen Vätern überhaupt gesprochen wird, wenn von den ›neuen‹ Vätern die Rede ist, wobei stets von Väterlichkeiten auszugehen ist. Väter-Studien zeigen immer wieder, dass es sich bei den ›neuen‹
5
Michael Meuser: »Ganze Kerle«, »Anti-Helden« und andere Typen. Zum Männlichkeitsdiskurs in neuen Männerzeitschriften. In: Peter Döge/Michael Meuser (Hg.): Männlichkeit und soziale Ordnung. Neuere Beiträge zur Geschlechterforschung. Opladen: Leske+Budrich 2001, 219-236, hier: 219.
6 7
Vgl. Scholz 2013 (Anm. 2), 3. Vgl. ausführlicher Michael Meuser/Sylka Scholz: Herausgeforderte Männlichkeitskonstruktionen im Wandel von Erwerbsarbeit und Familie. In: Meike Sophia Baader/ Johannes Bilstein/Toni Tholen (Hg.): Erziehung, Bildung und Geschlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies. Wiesbaden: Springer VS 2012, 23-40, hier: 28-33.
8
Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten. Frankfurt a. M./ New York: Campus 2008, 86-91. Vgl. auch John Tosh: A Man’s lace. Masculinity and the Middle-Class Home in Victorian England. New Haven u.a.: Yale University Press 1999; Rebecca Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.
9
Vgl. Barbara Drinck: Vatertheorien. Geschichte und Perspektive. Opladen: Barbara Budrich 2005, 6-7.
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Vätern häufig gerade nicht um ein Mittelschichtphänomen handelt,10 so dass eine ›aktive‹ und ›involvierte‹ Vaterschaft im Sinne einer egalitäre(re)n Arbeitsteilung und einer stärkeren Beteiligung an der Kindererziehung in anderen Schichten zum Teil gar nicht derart geschlechtsspezifisch aufgeladen ist, sondern oft eher dem Modus des Pragmatischen folgt. Auch eine Studie von Anna Buschmeyer zu Männlichkeitskonstruktionen Teilzeit arbeitender Väter bestätigt, dass Milieuzugehörigkeit und Männlichkeits- sowie Väterlichkeitsmuster stark miteinander korrelieren – insbesondere was die Selbstverständlichkeit der Ausgestaltung der eigenen Position betrifft.11 Trotz einer stärkeren Involvierung der Väter in die Familie sowie einer höheren Gewichtung der Vaterrolle aus Perspektive der Väter wird eine erhebliche Diskrepanz zwischen Leitbild und alltäglicher Praxis deutlich. 12 Der von Angelika Wetterer geprägte Begriff der ›rhetorischen Modernisierung‹ erscheint hier angebracht.13 Zurückgeführt wird diese Persistenz tradierter Geschlechterrollen häufig auf strukturelle Rahmenbedingungen, wobei nicht selten eine zentrale Konfliktlinie in familiensoziologischer, aber auch in geschlechterhistorischer Hinsicht deutlich wird: Moderne Vaterschaftsentwürfe lassen sich offenbar nicht problemlos mit einem Konzept von hegemonialer Männlichkeit vereinbaren, dem als Leitbild immer noch das tradierte, vor allem für die Industriegesellschaft typische Ernährermodell zugrunde liegt.14 Meuser und Scholz sprechen in diesem Kontext davon, dass Vaterschaft sich »von einer Vorgabe zu einer Gestal-
10 Vgl. etwa Meuser/Behnke 2012 (Anm. 3), 134. 11 Vgl. Anna Buschmeyer: Männlichkeitskonstruktionen Teilzeit arbeitender Väter. In: Nina Baur/Jens Luedtke (Hg.): Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich 2008, 123-140, hier: 128 u. 138. 12 Vgl. exemplarisch Rainer Volz/Paul M. Zulehner: Männer in Bewegung. Zehn Jahre Männerentwicklung in Deutschland. Ein Forschungsprojekt der Gemeinschaft der Katholischen Männer Deutschlands und der Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Baden-Baden: Nomos 2009, 89-97. Vgl. auch Florian Schulz/Hans-Peter Blossfeld: The division of housework in the family. Results from a longitudinal analysis. In: Oechsle/Müller/Hess 2012 (Anm. 3), 204. 13 Angelika Wetterer: Rhetorische Modernisierung: Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen. In: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie & feministische Kritik II. Münster: Westfälisches Dampfboot 2003, 286-319. 14 Vgl. etwa Meuser/Scholz 2012 (Anm. 7), 33-34.
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tungsaufgabe« entwickelt habe – auch als ›reflexive Vaterschaft‹ bezeichnet.15 Dass gerade das Reflektieren der Rolle und die Abkehr vom Leitbild Unsicherheiten hervorrufen können, scheint plausibel. Denn während der männliche Habitus Pierre Bourdieu zufolge in den »ernsten Spielen des Wettbewerbs« im homosozialen Raum unter Männern hergestellt wird bzw. nach Connell am Leitbild einer »hegemonialen Männlichkeit« orientiert ist, zu dem sich andere Männlichkeiten in Beziehung setzen müssen,16 scheint der ›weibliche‹, wettbewerbsfreie, familiäre Raum zur Herstellung von Männlichkeit zunächst gänzlich ungeeignet. Daher stellt sich die Frage, was geschieht, wenn Männer als Väter weiblich konnotierte Aufgabenfelder innerhalb der Familie übernehmen und in entsprechende Räume ›vordringen‹. Die gegenwärtigen Entwicklungen deuten auf eine offensichtliche Verschiebung der Bereiche Privatheit und Öffentlichkeit hin – in welche Richtung ist noch offen: Trägt die Unsicherheit – so wie Meuser und Scholz es vermuten – zu einer Modernisierung von hegemonialer Männlichkeit in dem Sinne bei, dass eine (neue) hegemoniale Position erworben wird, wenn mit diesen Verunsicherungen produktiv umgegangen wird?17 Findet eine bewusste Abkehr von diesen Modi statt? Oder überwiegt die Unsicherheit? Nachfolgend wird ein Spannungsfeld betrachtet, das sich im Konflikt zwischen neuer Väterlichkeit und traditioneller, jedoch in Veränderung befindlicher Männlichkeit offenbart. Es wird die These vertreten, dass sich veränderte Männlichkeitsbilder heute vor allem mit Blick auf Väter und Vaterschaft zeigen. Trotz der Vielfalt an Studien aus verschiedenen Teildisziplinen zum Thema Vaterschaft scheinen der sozialwissenschaftlichen Forschung verlässliche Angaben über die Veränderungen der ›Erzählweise‹ und der kulturellen Konflikte von Vaterschaft und Männlichkeit zu fehlen: Die Forschung der letzten Jahre hat wenig Überraschendes zutage gebracht, und es werden immer wieder die Grenzen soziologischer Kategorienbildung und Zugangsweisen moniert. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind zwar vermehrt solche ›Erzählweisen‹ zu finden und entsprechende Konfliktfelder werden verhandelt, diese wurden allerdings von Seiten der Literaturwissenschaft bislang kaum auf das sozialwissenschaftliche Untersuchungsfeld bezogen. Allein Toni Tholen und Walter Erhart
15 Ebd., 33. 16 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. In: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, 153-217, hier: 189 u. 203; Robert W. Connell: Masculinities. Cambridge: Polity Press 1995, 76-77. 17 Vgl. Meuser/Scholz 2012 (Anm. 7), 23 u. 32.
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haben einige dieser Texte genauer betrachtet;18 eine umfangreiche Untersuchung steht noch aus. In diesem Beitrag werden einige Texte der so genannten ›neuen Väter‹-Literatur näher betrachtet. Hierbei handelt es sich um ein noch recht neues Genre von überwiegend autobiographisch motivierten und daher meist in der Ich-Form erzählten Romanen und Erzählungen, in denen Väter den Alltag mit ihren meist gerade geborenen Kindern zum Gegenstand machen und – so die These – ein verändertes Geschlechternarrativ schaffen. So werden Themen- und Erfahrungsbereiche in den Fokus gerückt, die bislang weder in dieser Form thematisiert wurden noch als männlich und damit artikulierbar galten.
M ÄNNLICHKEIT UND V ÄTERLICHKEIT IN DER G EGENWARTSLITERATUR Folgende Texte werden genauer in den Blick genommen: Durs Grünbeins Das erste Jahr (2001), Hanns-Josef Ortheils Lo und Lu (2001), Dirk von Petersdorffs Lebensanfang (2007) und David Wagners Spricht das Kind (2011).19 Indem die Väter ihre Vaterschaft im Erzählprozess entwerfen, können Konstruktionspro-
18 Vgl. Walter Erhart: Father figures in literature 1900/2000. In: Oechsle/Müller/Hess 2012 (Anm. 3), 61-78. Toni Tholen: Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarische Arbeit. In: Weimarer Beiträge 57 (2011) 2, 253-268. Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur. Überlegungen zu einer männlichkeitssensiblen Literaturwissenschaft. In: Cornelia Behnke/Diana Lengersdorf/Sylka Scholz (Hg.): Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen. Wiesbaden: Springer VS 2014, 235-247, hier: 242. 19 Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 (Erstaufl. 2001; nachfolgend ›DeJ‹); Hanns-Josef Ortheil: Lo und Lu. Roman eines Vaters. München: btb 2003 (Erstaufl. 2001; nachfolgend ›LuL‹); etersdorff 2007 (Anm. 1); David Wagner: Spricht das Kind. Reinbek: Rowohlt 2011 (Erstaufl. 2009; nachfolgend ›S K‹). – Ein weiterer Text, der sich diesem Genre zurechnen lässt, jedoch aufgrund des begrenzten Rahmens nicht näher beleuchtet werden kann, ist Peter Handkes 1981 erschienene Kindergeschichte, in der dem Diskurs teilweise vorgegriffen wird. Vgl. Anne-Dorothee Warmuth: Schreibende Familienmänner – Narrative Konstruktion von Vaterschaft in der Gegenwartsliteratur. In: IFF OnZeit. Online zeitschrift des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) 4 (2014) 3, 32-48, http://www.iffonzeit.de/aktuelleausgabe/pdf_texte/beitraege/ warmuth.pdf (27.01.2015). Teile der Ausführungen auf den folgenden Seiten finden sich bereits in ähnlicher Form in diesem Artikel.
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zesse von Vaterschaft und Männlichkeit auf eine bisher wenig erforschte Weise untersucht werden. Dabei wird das besondere Spannungsverhältnis zwischen tradierter, kulturell codierter männlicher Subjektposition und neuer Väterlichkeit bzw. Männlichkeit offenbar: Männlichkeit erscheint als eine »Konfliktdynamik«20, die sich nicht im Sinne einer Schwarz-Weiß-Logik fassen lässt. Dies bestätigt, dass die Kategorie des Neuen als solche problematisch ist, suggeriert sie doch einen Bruch mit dem Alten. Prozesse des Doing Gender lassen sich anhand einer literaturwissenschaftlichen Perspektive, die narrative Strukturen und die Bewusstseinslage der Figuren analysiert, besonders gut zeigen. Auch Stefanie von Schnurbein konstatiert bezüglich der Repräsentation von Geschlecht in literarischen Texten: »Ich-Romane, in denen die genannten Prozesse direkt als Schreibprozesse thematisiert werden, sind deshalb besonders geeignet, sichtbar zu machen, wie Identität durch Literatur und im Schreiben hergestellt wird. Dieser Prozeß der Identitätsbildung verläuft natürlich nicht linear, sondern in einem komplexen Wechselspiel von Konstruktion und Demontage.«21
Diese besondere Konstellation wird bei den ausgewählten Texten insofern verstärkt, als die Protagonisten, die dem akademisch-intellektualistischen Milieu entstammen und als Wissenschaftler und/oder Schriftsteller tätig sind, nicht nur Väterlichkeit und Männlichkeit im Schreibprozess entwerfen, sondern zum Teil auch veränderte Konzepte von Autorschaft präsentieren.22 Fragen nach Bedingungen und Möglichkeiten literarischen Schreibens unter den veränderten familialen Gegebenheiten nehmen dabei einen zentralen Stellenwert ein. Auch wenn diese Texte nicht als stellvertretend für das Verhältnis von Vaterschaft, Väterlichkeit und Männlichkeit angesehen werden können, bilden sie doch zentrale Konfliktfelder ab, die den Diskurs durchaus erweitern können. Im begrenzten Rahmen dieser Ausführungen können nur einige Aspekte, die für die Texte kennzeichnend und für Fragen des Geschlechterwissens von Interesse sind, beleuchtet werden. Dies geschieht anhand ausgewählter Zitate, die 20 Mechthild Bereswill: Männlichkeit als verfestigte Norm und als dynamischer Konflikt. In: Christa Binswanger/Margaret Bridges/Brigitte Schnegg/Doris Wastl-Walter (Hg.): Gender Scripts. Widerspenstige Aneignungen von Geschlechternormen. Frankfurt a. M./New York: Campus 2009, 105-118, hier: 106. 21 Stefanie von Schnurbein: Krisen der Männlichkeit. Schreiben und Geschlechterdiskurs in skandinavischen Romanen seit 1890. Göttingen: Wallstein 2001, 23. 22 Eine Ausnahme bildet der Text von David Wagner, in dem Fragen der Autorschaft und Konflikte zwischen Beruf und Familienarbeit nicht diskutiert werden.
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Schlaglichter auf die verhandelten Themenfelder werfen: die väterliche Liebe, die Auseinandersetzung mit der veränderten Arbeitsteilung, Fragen des literarischen Arbeitens innerhalb der Familie sowie die Konfrontation und Auseinandersetzung mit anderen Männlichkeitsentwürfen.
D IE L IEBE DER V ÄTER 23 – V ATERSCHAFT UND M ÄNNLICHKEIT IM S PANNUNGSVERHÄLTNIS VON B EHARRUNG UND I NNOVATION Betrachtet man die Texte im Vergleich, so fällt auf, dass sie neben der Beschreibung von Krisenmomenten, Wutausbrüchen und der Erfahrung der räumlichen und zeitlichen Einschränkung immer wieder durch eine hohe emotionale Ergriffenheit, einen pathetischen Gestus und Momente der Hinwendung zum Religiösen und Mystischen gekennzeichnet sind. Dies verleitet Rolf-Bernhard Essig in einer Rezension zu von Petersdorffs Lebensanfang zu der Kritik, dass die Originalität und das Problem der Erzählung vor allem in der Emphase bestehe, die er als »vitale[n] konservative[n] Schwenk«24 bezeichnet. Auch Jan Bürger stuft den »Familienfundamentalismus«25 des Alter ego in Ortheils Lo und Lu als peinlich ein und attestiert dem Autor, dass die Alltagsbeobachtungen weder originell seien, noch dass es ihm gelinge, sie zu einer Romanform zusammenzubringen. Beide Kritiken übersehen jedoch zwei zentrale Aspekte, die für die ›neue Väter-Literatur‹ charakteristisch sind: Zum einen zeigt sich, dass die Hinwendung zu den Kindern andere Erzählformen erfordert – ein Umstand, der den autobiographischen Gestus und das tagebuchartige, teils fragmentarische Erzählen erklärt, in dem die Reflexion des Erlebten und der Emotionen einen hohen Stellenwert einnehmen. Zum anderen erschließt sich ein väterlicher Erfahrungsbereich, der lange Zeit offenkundig übersehen bzw. nicht in dieser Form präsentiert wurde: die väterliche Liebe. Auch Erhart konstatierte 2013, »dass wir [es] als Literaturwissenschaftler ständig mit literarischen liebenden Männern zu tun haben, dass die interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung dieses Thema allerdings […] kaum berührt zu haben scheint«.26 23 Thomas Hettche: Die Liebe der Väter. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 22010. 24 Rolf-Bernhard Essig: Lao-tse und Leberwurstbrot. In: Die Zeit, 29.11.2007. 25 Jan Bürger: »so sausten wir auf den Abgrund zu«. Hanns-Josef Ortheil und Durs Grünbein ändern im Kinderzimmer ihr Leben. In: Literaturen 9 (2001), 28-29, hier: 28. 26 Walter Erhart: Die Liebe der Männer (Simmel, Luhmann, Bourdieu). Beitrag zur Tagung des Arbeitskreises AIM Gender »Sexualität, Liebe, Männlichkeiten« im De-
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Insofern stellt sich die Frage, ob sich in den literarischen Texten eine Umkodierung abzeichnet, indem im Sinne eines making visible ein Raum entstanden ist, in dem entsprechende Erfahrungen versprachlicht werden können. Mit dieser Neuerung ginge ein verändertes Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit einher. Denn das Besondere an diesen Texten ist, dass aus der Sicht von Männern Erfahrungsbereiche wie die Geburt oder das Erleben der ersten Entwicklungsschritte der eigenen Kinder zur Sprache kommen, die lange Zeit nur in Verbindung mit Frauen thematisiert wurden. Besonders die Geburt wird dabei meist als etwas Überirdisches, dem menschlichen Einfluss Entzogenes erfahren, was sich anhand eines Zitates aus Lebensanfang veranschaulichen lässt: »Ich sah an der großen Brille einer Ärztin vorbei zum Fenster. Der Himmel riss auf. Ein gezacktes Loch war mitten im Grau, aus dem es gelb herausfiel. Rotes Licht in Strahlen dahinter. Leise Anweisungen waren zu hören. Das rote und das gelbe Licht flossen zusammen. Irgendwann war alles still. Zwei Kinder wurden vorbeigetragen, verschwanden hinten im Raum. […] Die Wolkendecke hatte sich geschlossen […].« (L, 5)
In dieser Geburtsschilderung, die durch den Rekurs auf die Naturgewalten als etwas beinahe Göttliches dargestellt wird, deutet sich ein Moment an, das für den weiteren Handlungsverlauf und die Wahrnehmung des Protagonisten konstitutiv ist. Die Geburt der Kinder und ihr ›Eindringen‹ in den familialen und beruflichen Alltag werden als etwas erlebt, dem man ähnlich wie einer »Naturkatastrophe« ausgeliefert ist: »Nicht nur irgendein Menschenwesen stand dort am Urs rung, das erste eigene Kind […]. Umfassender, in jeglicher Dimension unabsehbar, ja transzendent war, was da geboren wurde: der Beginn einer neuen Welt.« (DeJ, 132) Einerseits wird diese Erfahrung als emotional ergreifend empfunden, andererseits ruft sie immer wieder Gefühle des Kontrollverlusts hervor, der für alle Texte konstitutiv ist. Zugleich ist es gerade das Gefühl der Fremdbestimmtheit, das – parallel zum Empfinden, ein »Apparat« (L, 153) zu sein –, Stabilität und Sicherheit verleiht. Die neue Vaterrolle wird dabei als das Wesentliche wahrgenommen, in dem sich die eigene Bestimmung präsentiert. »War es nicht eine Befreiung? […] Ich wusste, wohin ich gehörte. Zweifel waren nicht möglich.« (L, 23) Zudem wird bei der Lektüre der trotz aller Ähnlichkeiten sehr unterschiedlichen Texte immer wieder deutlich, dass die Nähe zu den Kindern nicht nur eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt bedingt, sondern vor allem einen anderen zember 2013, 1-13, hier: 1. Online: https://www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ISO/de/ Lehr-und-Forschungsbereiche/soziologie_der_geschlechterverhaeltnisse/Medien pool/AIM_2013_Tagung/Erhart_Liebe_der_Ma__nner.pdf (19.08.2015).
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Zugang zu sich selbst, zu den eigenen Emotionen, zur Unterscheidung des ›Wesentlichen‹ vom ›Unwesentlichen‹ und zu den eigenen Kindheitserinnerungen bewirkt: »Das Kind führt mich, an seiner Hand greife ich durch das Gestrüpp hindurch, das mir die Sicht so lange verstellt hat, und fasse die Wirklichkeit, die mir nun auf einmal, das hat so lange gedauert, wie die richtige vorkommt.« (SpK, 10-11) Der gemeinsame Alltag mit dem Kind ruft dabei oftmals Erinnerungen an die eigene Kindheit hervor. Häufig erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Eltern, insbesondere dem eigenen Vater. Bei Wagner wird dieser zwar durchaus auf eine liebevolle Weise beschrieben, zugleich erfolgt aber eine Abgrenzung, indem der eher stereotype Männlichkeits- und Väterlichkeitsentwurf des Vaters – dieser wird vor allem als Vorbild erinnert – der eigenen, aktiven Vaterschaft gegenübergestellt wird: »Mein Vater trug mich aus dem Auto ins Haus und legte mich auf mein Bett, meine Mutter zog mich aus. […] Was machst du, murmelt das schlaftrunkene Kind, als ich ihm den Schlafanzug anziehe.« (SpK, 43) Immer wieder zeigt sich, dass für die Konstruktion des eigenen Männlichkeits- resp. Väterlichkeitsentwurfes die Auseinandersetzung mit anderen Männlichkeiten und dabei insbesondere mit dem traditionellen Ernährermodell zentral ist, welches als (Negativ-)Folie für das eigene Verhalten dient. Einerseits ruft dieses Ernährermodell als Leitbild hegemonialer Männlichkeit bei den Protagonisten Unsicherheiten im eigenen Handeln hervor, andererseits findet eine bewusste Abgrenzung davon statt. Dies soll im Folgenden exemplarisch veranschaulicht werden: Insbesondere bei Ortheil, der die traditionelle Aufgabenteilung wohl in radikalster Form aufbricht, zeichnet sich im Handlungsverlauf eine kontinuierliche Entwicklung ab. Dominiert anfangs die Unsicherheit etwa im Umgang mit dem neugeborenen Sohn, findet anschließend sukzessive ein Arrangement mit der veränderten Lebensweise statt. Es deutet sich ein Entwurf von Männlichkeit und Vaterschaft an, in dem ›aktives‹ Vatersein und Berufstätigkeit einander angeglichen werden. Dieser Prozess erfolgt auf zwei Ebenen: dem Verständnis von Familienarbeit und der Vorstellung von Autorschaft. Zunächst wird die Reproduktionsarbeit innerhalb der Familie bewusst als eine mit einer klassischen Erwerbstätigkeit gleichwertige Arbeit definiert.27 »Vielleicht sollte ich etwas aufräumen, in der Küche gäbe es reichlich Anlaß dazu, aber ein so frühmorgendliches Aufräumen, Wischen und Putzen würde mich sofort in die Rolle 27 Insbesondere die Kategorie des Raumes ist in diesem Kontext für eine genauere Untersuchung der Texte fruchtbar, denn es zeigt sich, dass die ›Emanzipationsbestrebungen‹ der Protagonisten mit ›Eroberungen‹ neuer oder auch bereits bestehender Räume einhergehen.
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eines Hausmannes drängen. ›Hausmann‹ ist ein schreckliches Wort, ich werde mich hüten, auch nur in die Nähe eines Hausmanndaseins zu geraten, denn natürlich bin ich kein Hausmann, der kocht, putzt, wäscht, sondern ein Schriftsteller, der durch seine Arbeit ans Haus gebunden ist […].« (LuL, 6)
Während im Zitat noch der Gegensatz dominiert und sich der Protagonist von den als weiblich geltenden Reproduktionsarbeiten abgrenzt – durch den Verweis, dass er sich vorrangig wegen seines Berufes und nicht wegen der veränderten Arbeitsteilung zuhause aufhalte, gelingt es ihm, seine häusliche Beschränkung zumindest anfangs in einen traditionell männlichen Identitätsentwurf zu integrieren –, beschreibt er sich gegen Ende des Romans als »hart arbeitende[n] Vater, der kaum eine freie Minute hat […]«. (LuL, 55) Die Abgrenzung erfolgt dabei insbesondere gegenüber anderen Männlichkeitsentwürfen. Indem diese – etwa was die klassische Erwerbstätigkeit betrifft – eher einem traditionellen Männlichkeitsbild entsprechen, führen sie beim Protagonisten (noch) zur Verunsicherung. Dies zeigt sich z.B. bei einem Besuch von dem kinderlosen und als kinderfeindlich dargestellten Paar Hanna und Karl, wobei die Einladung eher dem Wunsch seiner Frau entspricht. Sein desinteressiertes und ablehnendes Verhalten ruft daher auch prompt Irritationen auf Seiten Karls hervor: »Wahrscheinlich folgt er mir deshalb in die Küche und damit in ein Reich, in dem er sich sonst nicht gern aufhält. Gar nicht so einfach, was? […] Du kommst nicht mehr raus, was? grinst Karl weiter, du hast nicht mal mehr Zeit, zu trinken, wenn es dir S aß macht. […] Habe ich früher manchmal so getrunken, daß es auffiel? frage ich ruhig und schiebe die Quiche in den Ofen. Manchmal schon, sagt Karl und stößt mir gegen die Schulter. Er ist mir also in die Küche gefolgt, um einen Männer-Dialog zu inszenieren, und jetzt kramt er nach den Brocken der Kumpelsprache, als prosteten wir uns gerade in einem Bierzelt zu.« (LuL, 59)
Grenzt sich der Protagonist anfangs noch bewusst von der ›weiblichen‹ Hausarbeit ab, stellt er sie nun dem männlich inszenierten Gebaren Karls entgegen. Mit dem Verweis auf die »Kumpelsprache« und das »Bierzelt« rekurriert er auf stereotyp als männlich geltende Verhaltensformen und Bereiche, in denen der männliche Habitus Bourdieu zufolge »[k]onstruiert und vollendet wird«.28 Die Textstelle – und dies zeigt sich im gesamten Roman wiederholt – lässt drei Interpretationen zu, die sich nicht ausschließen: Einerseits scheint es, als wende er sich bewusst von den Konstruktionsmodi von Männlichkeit ab, indem er sich Karl gegenüber als überlegen präsentiert und dessen Verhalten ironisierend als 28 Bourdieu 1997 (Anm. 16), 203.
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male bonding abtut. Andererseits drängt sich immer wieder der Eindruck einer grundlegenden Verunsicherung des Protagonisten auf, phasenweise irritiert ihn sein Verhalten selbst, was ihm aber nicht bewusst wird (oder werden möchte).29 Zugleich lässt diese Selbstdarstellung den Schluss zu – um dies zu belegen, reicht die zitierte Textstelle sicherlich nicht aus –, dass hier ein verändertes, modernisiertes Konzept hegemonialer Männlichkeit entworfen wird, in dem beide Existenzweisen als engagierter Familienvater und Autor (im Sinne einer Berufstätigkeit) trotz nicht zu übersehender Konflikte einander angeglichen werden. Auch diesbezüglich zeichnet sich im Handlungsverlauf eine – vergleichbar bereits in Handkes Kindergeschichte zu findende – Entwicklung in Ortheils Lo und Lu ab: »Als normaler Vater könnte ich mir das Leben mit Lo und Lu vielleicht leisten, als Schriftsteller aber darf ich an so ein Leben nicht einmal denken, denn es raubt mir mit der Zeit alle Voraussetzungen für das Schreiben, die Gegenwarts-Witterung, die Welt-Skepsis und die Vernarrtheit ins Unglück.« (LuL, 227-228)
Im Zitat wird das Konfliktpotenzial einer Arbeitsteilung präsentiert, das für die Vereinbarkeit von aktivem fathering und parallelem Dasein als Schriftsteller in gesteigerter Form gilt. Vorausgesetzt wird die Vorstellung von autonomer, realiter männlicher Autorschaft, die Liebesbeziehungen und Elternschaft idealiter gleichermaßen ausschließt. Diese findet sich u.a. auch bei Grünbein in einem Tagebucheintrag zu Wolfgang Hilbig: »Bei aller Finsternis, von der seine Phantasien künden, denkt man doch unwillkürlich an ein gelungenes Junggesellenleben, an Jahrzehnte der produktiven Einsamkeit, wie sie dem Dichter gut ansteht.« (DeJ, 300) Dennoch deuten sich mögliche Arrangements beider Lebensentwürfe an: Während bei Grünbein die Tochter Vera zum Gegenstand von Lyrik wird, wird bei Ortheil eine veränderte Produktionsästhetik entwickelt, bei der die Erfahrungen mit den Kindern sowohl die Textinhalte beeinflussen als auch die Textform. »[I]ch sollte das Fummeln und Schnippeln gleich damit verbinden und die ausgeschnittenen Zeitungsartikel, Bilder und Fotos mit hineinkleben, damit in diese Aufzeichnungsmaschine etwas Welt hineinkommt und nicht nur die Rede vom Windelnwechseln, Flaschen29 Hier stellt sich auch die Frage, ob diese Unsicherheit verstärkt werden würde, wenn Karl selbst Vater wäre, jedoch eine traditionelle Rollen- bzw. Aufgabenverteilung mit seiner Frau praktizieren würde. Es ist zu vermuten, dass die Abgrenzung dann noch stärker erfolgen würde, indem Karl als Rabenvater dargestellt und eine Hierarchie zu seinen Ungunsten hergestellt würde.
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erwärmen und Früchtebreikneten ist […]. Lo und Lu, denke ich weiter, könnten mir bei diesem Tagebuch helfen, ich werde Lo das Fotografieren beibringen und ihre Fotos mit einkleben und dazu einige ihrer Zeichnungen und Bilder, so könnte das Tagebuch ein Gesamtkunstwerk werden, mit Querverweisen auf meine Videofilme, über gesonderte Tonaufzeichnungen sollte ich mir noch Gedanken machen … Als es mir gelang, all das in einer einzigen Nacht […] zu denken, wußte ich, daß ich mich von der eigentlichen Arbeit endgültig verabschiedet hatte. Ich kann nicht mehr schreiben, murmelte ich vor mich hin, wenn es mir schlecht ging. Ich habe ein neues, anderes Schreiben entdeckt, redete ich mir ein, mit leicht trium hierendem Grundton […].« (LuL, 35-36)
Auch hier bestätigt sich der Eindruck, dass der veränderte Entwurf von Autorschaft, Männlichkeit und Väterlichkeit nicht konfliktfrei ist, sondern dass es sich hierbei um einen spannungsgeladenen, von Unsicherheiten und Ambivalenzen gekennzeichneten Prozess handelt. Doch obwohl dieser Konflikt bis zuletzt nicht aufgelöst wird, setzt sich nach und nach eine gemeinsame Existenzweise der ›Symexistenz‹ durch, die Tholen treffend mit folgenden Worten resümiert: »Ortheil nimmt Handkes Gedanken einer dem eigenen Lebenslauf angeschmiegten Form des Schreibens auf, die sich je nach Lebensphase verändern kann, ohne daß die eine Weise des Arbeitens an der literarischen Form gegen die andere ausgespielt werden müßte.«30
Somit zeigt sich, dass die hier vorliegende Konstellation von aktiver Vaterschaft und Autorschaft nicht ausschließlich prekär ist, sondern zugleich Optionen einer Neuformulierung von Männlichkeit unter Einbeziehung moderner Vaterschaftskonzepte bietet. Dennoch handelt es sich um einen Prozess, den die Protagonisten erst durchlaufen müssen und der vor allem in der Hinsicht nicht unproblematisch ist, als diese Neuformulierung nicht nur traditionelle Konzepte von Männlichkeit, sondern auch von Autorschaft infrage stellt.
R ESÜMEE Die ausgewählten Textbeispiele haben gezeigt, dass das Phänomen der neuen Väter auch vor der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht halt macht und der Diskurs, sei es im Sinne der Verarbeitung eigener Erfahrungen, als Kommentar oder als Reaktion auf die rezenten Diskussionen, aufgegriffen wird. Bedingt durch eine »Diskursivierung« von Männlichkeit und Väterlichkeit zeigt
30 Tholen 2011 (Anm. 18), 264.
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sich eine evidente Verschiebung der Bereiche Privatheit und Öffentlichkeit, die in dieser Form – trotz Grenzüberschreitungen auch in der Vergangenheit – neu ist. Indem Männer durch eine ›involvierte‹ bis ›aktive‹ Vaterschaft Zugang zu Tätigkeitsfeldern und Erfahrungsbereichen finden, die in westlichen Gesellschaften lange Zeit als primär weibliche galten, ändern sich nicht nur die Erfahrungswelten der Männer. Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewinnen an Bedeutung, zugleich zeigen sich Beharrungstendenzen und Resistenzen. Diese lassen sich u.a. mithilfe des Leitbilds hegemonialer Männlichkeit und dem Ernährermodell erklären, wobei den theoretischen Überlegungen von Bourdieu (1997) und Connell (1995) zur Herstellung von Männlichkeit nach wie vor ein hoher Erkenntniswert zukommt – zumal sie, indem sie sich auf die kulturelle Ebene beziehen, für die Erfassung des Stellenwerts von Leitbildern erhellend sind. Es zeigt sich, dass es sich um einen Wandel im Geschlechterverhältnis handelt, der von Spannungen und Ungleichzeitigkeiten geprägt ist. Die Textanalysen verdeutlichen, dass sich die Väter zwischen alten und neuen Väterlichkeits- und Männlichkeitsentwürfen suchend zu bewegen scheinen, ohne dass sich dieses Spannungsverhältnis vollends auflöst. Im Sinne eines making visible gilt es daher, sowohl Verschiebungen und Neuerungen im Geschlechterverhältnis sichtbar zu machen, als auch die Beharrungen und Stabilitäten im Geschlechterverhältnis aufzuzeigen und sichtbar zu halten (keeping visible). Die Kategorie der ›neuen‹ Väter bleibt daher grundsätzlich zu hinterfragen und sollte in entsprechenden Arbeiten nicht unreflektiert verwendet werden.
»Untangle the webs«1: Identitätskonstruktionen in queer/ feministischen personal zines M ARIA B ÜHNER »Identity is formed at the unstable point where the ›unspeakable‹ stories of subjectivity meet the narrative of history, of a culture.« (Stuart Hall)2 »What was that about queer? Peopleʼs identities extend beyond who they want to sleep with and beyond what sex they were assigned at birth. While lesbian, bisexual and trans are labels of self-identification to an extent, I feel that queer is one that goes beyond gender identity and sexuality when itʼs not being used as an umbrella term. When I meet someone who identifies as queer I feel like we have something in common.« (Will)3
Der Gegenstand meiner Untersuchung4 sind queer/feministische personal zines: selbst-publizierte, nicht-kommerzielle Veröffentlichungen mit einer kleinen Auflage, in denen die Erfahrungen des_der Autor_in im Mittelpunkt stehen. Will
1 2
Cindy Crabb: Doris #29. Athens (OH): Doris Press 2012, o.S. Stuart Hall: The Minimal Selves. In: Lisa Appignanesi (Hg.): The Real Me. Post-Modernism and the Question of Identity. London: Institute for Contemporary Arts 1987, 44-46, hier: 44 (ICA Documents 6).
3
Will: XYZ #5 queer conversations. London 2011. Alle Zitate aus zines werden in der Rechtschreibung und Grammatik des Originals zitiert, ohne die Hinweise i. O. und [sic!].
4
Dieser Artikel basiert auf den Ergebnissen meiner Masterarbeit »Identitätskonstruktionen in queer/feministischen Personal Zines« (2013), geschrieben am Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Ich danke meinen Betreuern Dr. Thomas Schmidt-Lux und Prof. Dr. Hannes Siegrist für ihre Unterstützung.
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verweist einerseits auf die Bedeutung des Wortes ›queer‹ als Bezeichnung für Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten jenseits der heteronormativen Matrix und andererseits auf etwas, was darüber hinausgeht und Verbindungen schafft. Queer/feministische personal zines sind in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges Material und bieten einen exklusiven Zugang zu Identitätsnarrativen, in denen Geschlecht und Sexualität eine zentrale Rolle spielen. Mit Hilfe der GroundedTheory-Methodologie analysiere ich queer/feministische personal zines unter der Fragestellung: Wie wird Identität in queer/feministischen personal zines durch die Autor_innen konstruiert? Ich stelle meinen Untersuchungsergebnissen eine Charakterisierung von zines und personal zines voran. Es folgt eine Einordnung von zines als life writing und eine kurze Darstellung des methodischen Vorgehens. Das Herzstück des Artikels bilden die Ergebnisse der Analyse von zwei Narrativen. Der Schluss fasst die zentralen Erkenntnisse zusammen und widmet sich der Frage nach den Funktionen dieser Art autobiographischen Schreibens.
Z INES : M EDIUM
DER
S UBKULTUREN
Zines »are noncommercial, nonprofessional, small-circulation magazines which creators produce, publish, and distribute by themselves«.5 Sie sind UntergrundPublikationen in subkulturellen Zusammenhängen zu verschiedensten Themen. 6 Inhalt und Form unterliegen keinerlei Restriktionen. »Freedom is a primary motivation among zine publishers, and the resulting zines are as different as the writers and artists who create them.«7 Zumeist werden zines unabhängig, lokal und mit Fotokopierern vervielfältigt. Sie erscheinen unregelmäßig, in den unterschiedlichsten Formaten und Druckqualitäten und sind nicht im normalen Zeitungsvertrieb erhältlich, sondern nur in szenenahen Buch- und Plattenläden, über zine-distros8 und persönlichen Austausch auf Zine-Festen, Konzerten sowie
5
Stephen Duncombe: Notes from the Underground. Zines and the Politics of Alternative Culture. Bloomington/Portland: Microcosm Publishing 1997, 10-11.
6
Vgl. Alison Piepmeier: Girl Zines. making media. doing feminism. New York/Lon-
7
Mimi Marinucci: Zines. In: Leslie Heywood (Hg.): The Womenʼs Movement Today.
don: New York University Press 2009, 2. An Encyclopedia of Third-Wave Feminism. Santa Barbara: Greenwood Press 2006, 374-376, hier: 374. 8
Distros haben ein Angebot an verschiedenen zines. Zumeist ist es möglich, das Angebot auf einer Website einzusehen und zu bestellen. Vgl. Alex Wrekk: stolen sharpie
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Veranstaltungen in subkulturellen Kontexten. 9 Zines sind abzugrenzen von Magazinen und Massenmedien, als Marker fungiert die Professionalität. Sie sind geprägt von der Ethik des Do-It-Yourself (DIY), dem eigenen und unkommerziellen Produzieren von alternativer Kultur.10 Der Wunsch und Anspruch, etwas Authentisches von sich zu vermitteln, ist zentral für zines. Dabei verhandeln sie alle (un)möglichen Themen und greifen auf unterschiedliche Formen wie Comics, Prosa, Interviews, Photographien und Illustrationen zurück. Es ist nur schwer möglich, verschiedene Kategorien oder Genres festzumachen.11
Q UEER / FEMINISTISCHE
PERSONAL ZINES
Im Fokus dieses Artikels stehen queer/feministische personal zines (kurz: perzines). Perzines »are personal diaries open to the public: shared notes on the dayto-day life, thoughts and experiences of the writer«.12 Zumeist sind sie in der ersten Person in einem tagebuchartigen Stil geschrieben und weisen Nähe zu anderen Formen biographischen Schreibens auf: dem Briefeschreiben und dem persönlichen Essay.13 Inhaltlich betrachtet sind perzines ein Literaturgenre, in dessen Mittelpunkt expressiver Individualismus steht.14 Perzines sind die persönlichste Form von zines und bisher nur wenig erforscht worden.15 Sie bieten
revolution 2. a diy ressource for zines and zine culture. Portland: Lunchroom Publishing 2009, 71. 9
Vgl. Katrin Bub: Politikkonzeptionen nordamerikanischer queer/feministischer Zines. Freie Universität Berlin, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften: Diplomarbeit 2012, 23.
10 Vgl. Duncombe 1997 (Anm. 5), 123-132. 11 Vgl. ebd., 15-17. 12 Ebd., 15. 13 Vgl. Red Chidgey: The Resisting Subject: Per-zines as life story data. In: University of Sussex Journal of Contemporary History 10 (2006), 1-13, hier: 6-8. 14 Vgl. Lasse Voß: Subcultural Narrative Identity Construction in Personal Zines. The New Orleans Punk Anarchist Scene and the Impact of Hurricane Katrina. Freie Universität Berlin, John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien: Magisterarbeit 2008, 22. 15 Vgl. Steve Bailey/Anita Michel: The Photocopied Self: Perzines, Self-Construction, and The Postmodern Identity Crisis. 2004. http://reconstruction.eserver.org/042/ bailey.htm (5.03.2013); Chidgey 2006 (Anm. 13); Voß 2008 (Anm. 14); Bub 2012 (Anm. 9); Anna Poletti: Auto/Assemblage: Reading the Zine: In: Biography 31 (2008)
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vielfältige Einblicke in das Leben der Autor_innen. Doch auch wenn über sehr intime Inhalte geschrieben wird, sind diese bewusst für ein (subkulturelles) Publikum geschaffen. Perzines dokumentieren so nicht nur Mikro-Geschichten und Ausschnitte aus dem Leben der zinester16, sondern auch die Subkulturen selbst, aus denen heraus sie geschrieben werden. Als Auswahlkriterium für perzines nehme ich in Anlehnung an Engel und Bub17 mit dem Begriffspaar queer/feministisch Bezug auf »alle Handlungen und Selbstbeschreibungen der Autor_innen von Zines [...], die sich als queer, feministisch, transgender, transsexuell, asexuell,18 schwul, lesbisch, bisexuell bezeichnen, sowie Sym athisant innen und Verbündete queer/feministischer Aktivist_innen«.19 Queer/feministische zines können auch gelesen werden als Dokumente queer/feministischer Szenen, deren konstituierende Ideen in den 1980er Jahren im Zuge der Aids-Krise entstanden sind und sich auch in akademischen Werken zu einem dekonstruktivistischen Verständnis von gender, sex und desire finden. Hinzu kommt ein kritisches Hinterfragen von rassistischen und sexistischen Strukturen. Insgesamt wird die Vorstellung, dass Identität stabil, ›natürlich‹ entstanden und eindeutig sei, in Frage gestellt, auch als Basis politischen Handelns. Vielmehr werden Identitäten in queer/feministischen Szenen verstanden als multidimensional, gebrochen und fluide. Queer/feministische Politiken
1, 85-102; Jennifer Sinor: Another Form of Crying. Girl Zines as Life Writing. In: Prose Studies 26 (2003) 1-2, 240-264. 16 Zinester ist eine Selbstbezeichnung aus dem englischsprachigen Raum für Menschen, die zines produzieren und/oder vertreiben. Vgl. Bub 2012 (Anm. 9), 3. 17 Vgl. Antke Engel: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt a. M./New York: Campus 2002, 9-10; Bub 2012 (Anm. 9). 18 Transgender ist eine (Selbst)bezeichnung für/von Menschen, die sich nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Transsexuell ist eine Bezeichnung für Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht, welches ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde, übereinstimmt. Der Begriff wird verschiedentlich kritisiert, insbesondere wegen seiner Prägung als medizinische Diagnose und weil der Wortteil »sexuell« auf Sexualität verweist. Asexuell wird von Menschen als Eigenbezeichnung benutzt, die kaum bis gar keine sexuellen Bedürfnisse haben. Vgl. Marie-Christina Latsch: Verloren in Begrifflichkeiten? Glossar. In: dies. (Hg.): _Mind the gap. Einblicke in die Geschichte und Gegenwart queerer (Lebens)Welten. Münster: Unrast 2013. 19 Bub 2012 (Anm. 9), 22.
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sind oft widerständige, in Subkulturen verwurzelte Politiken. 20 Daneben sind queer/feministische perzines eine Fortführung der queer zines, welche Ende der 1980er als Reaktion queerer Punks auf die Erfahrung mehrfacher Diskriminierung durch die Dominanzkultur sowie heteronormative und ›weiß‹21-dominierte Subkulturen entstanden, sowie der zines der Riot Grrrls,22 einer feministischen Bewegung, die Anfang der 1990er Jahre in den USA als Reaktion auf die Dominanz von Männern23 innerhalb alternativer Subkulturen entstand. Diese zines etablierten einen persönlichen Zugang zu politischen Themen. 24
Z INES
ALS LIFE WRITING
Ein Verständnis von zines als life writing öffnet den Blick auf die in ihnen verhandelten Identitätsnarrative. Life writing wird verstanden »as a general term for writing of diverse kinds that takes a life in its subject«.25 Zentral ist der Bezug auf das eigene Leben. Diese Perspektive bedeutet zines als Dokumente zu lesen, in denen Menschen über sich selbst und ihre Geschichte reflektieren und dabei ein Bild dieses Selbst schaffen. Zentral für den konstitutiven Prozess, in dem autobiographische Subjektivität hergestellt wird, sind, Smith und Watson folgend, fünf Konzepte.26 Im Erinnern
20 Vgl. Joshua Gamson: Must Identity Movements Self-Destruct? A Queer Dilemma. In: Social Problems 42 (1995) 3, 390-407. 21 ›Weiß‹-Sein ist eine Kategorie, um auf die rivilegien ›weißer‹ Menschen gegenüber People of Colour aufmerksam zu machen (vgl. Bub, Anm. 9, 16). People of Colour ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, welche Erfahrungen gesammelt haben, von der dominanten ›weißen‹ Gesellschaft als die ›Anderen‹ und nicht zugehörig markiert zu werden auf Basis von körperlichen und/oder kulturellen Zuschreibungen. Vgl. Helma Lutz/Teresa Vivar/Linda Supik: Framing Intersectionality: An introduction. In: dies. (Hg.): Framing Intersectionality. Debates on a Multi-Faceted Concept in Gender Studies. Farnham/Burlington (VT): Ashgate 2011, 11-22, hier: 11. 22 Vgl. Elke Zobl: The Global Grrrl Zine Network. A DIY Feminist Revolution for Social Change. San Diego: Dissertation 2003. 23 Geschlecht verstehe ich als eine sozial-kulturelle Konstruktion und gesellschaftliche Positionierung, ›Mann‹ und ›Frau‹ sind wandelbare Kategorien. 24 Vgl. Voß 2008 (Anm. 14), 10-12. 25 Sidonie Smith/Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis: University of Minnesota Press 2002, 3. 26 Vgl. ebd., 16-47.
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findet ein Rückgriff auf Erfahrungen statt, und zwar nicht auf das Ereignis selbst, sondern darauf wie es erfahren wurde. Erfahrungen sind das zentrale Material und bereits ein Prozess der Konstruktion des Selbst, situiert in der Wahrnehmung der Gegenwart. Erfahrungen sind sozial und diskursiv dahingehend überformt, was wir (als bedeutungsvoll) wahrnehmen und wie wir es wahrnehmen. Der Modus des life writings macht die Erzähler_innen zu den Leser_innen ihrer eigenen Erfahrungen, um diese zu deuten und in die Form einer Erzählung zu bringen. Eine Konsequenz davon ist, dass die entstehenden Texte implizit oder explizit durch eine Ebene der Reflexivität geprägt sind. Darüber hinaus zeichnet sich autobiographisches Schreiben durch eine Identifikation des_der Erzähler_in mit den Leser_innen sowie mit historisch-sozialen Modellen – oder auch gegen diese – aus. Die Art und Weise, wie Identität verhandelt wird, ist ebenfalls durch Reflexivität geprägt. So ist es möglich, in einer Analyse des Materials nicht nur die Selbstverortung des_der Schreibenden heraus zu präparieren, sondern auch die Eingebundenheit der Identitätskategorien in Diskurse und die Reflexion über die Selbstidentifikation mit diesen oder gegen diese Diskurse. Wichtig ist dabei der Körper. Als Ort der Verkörperlichung und Verleiblichung von Erfahrungen ist er ein zentraler Bezugspunkt für Erinnerung. Autobiographisches Schreiben bedeutet aber auch agency, also die Möglichkeit, selbstbestimmt über das eigene Leben zu schreiben. Zusammenfassend lässt sich feststellen: »People tell stories of their lives through the cultural scripts available to them, and they are governed by social strictures about self-presentation in public.«27 Das Bild, welches autobiographische Schriften vom Selbst liefern, ist einerseits durch Diskurse, andererseits durch den eigenen Blick auf das Selbst überformt. Die Ebene der Selbstreflexion muss, ebenso wie der Bezug zu herrschenden Identitätskategorien, bei der Analyse des Materials berücksichtigt werden. Smith und Watson verweisen darauf, dass weder die oftmals als geschlossen präsentierte Erzählung vom wahren Ich, noch dieses als kohärent gedachte Ich existieren – beides sind Mythen der Identität.28 Nicht einmal das Ich, welches alles erinnert, was uns jemals in der Vergangenheit passierte, existiert: »We are always fragmented in time, taking a particular or provisional perspective on the moving target of our pasts, addressing multiple and disparate audiences.«29
27 Ebd., 42. 28 Vgl. ebd., 47-48. 29 Ebd., 47.
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M ETHODISCHES V ORGEHEN Das Verständnis von zines als life writing hilft die Besonderheiten des Materials zu verstehen und lenkt den Fokus auf zines als ›Orte‹, an denen Identität performativ hergestellt wird. In diese Prozesse möchte ich nun Einblicke geben. Hierfür werden Ausschnitte aus zwei perzines mit Hilfe der Grounded-Theory-Methodologie30 analysiert. Meinem Forschungsinteresse entsprechend sind beide Texte längere autobiographische Narrative, in denen die Entwicklung der eigenen Identität über einen längeren Zeitraum im Mittelpunkt steht.31 In die Analyse miteinbezogen wird, neben dem Inhalt der zines, auch deren Gestaltung. Der Fokus meiner Betrachtung liegt auf personaler Identität, und zwar als politische und konflikthafte Identität.
I DENTITÄT
ALS POLITISCHE I DENTITÄT
Cindy Crabbs Zine Doris ist eines der bekanntesten perzines im englischsprachigen Raum (Cover s. Abbildung 1, nächste Seite). Das diskutierte Narrativ »How I quit worrying and learned to love being queer«32 ist sehr komplex und vielschichtig, dabei bildet Identität als politische Identität den Kern der Erzählung. Cindys Geschichte steht exemplarisch dafür, zu der Erkenntnis zu kommen, dass die eigene Identität verwoben ist mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
30 Vgl. Anselm Strauss: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. München: Wilhelm Fink 1994; Aglaja Przyborski/Monika Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag 2009 (2., korr. Aufl.), 184-217. 31 Da zines oft sehr intime Zeugnisse sind, welche für einen bestimmten und begrenzten Kontext geschrieben werden, sollten die zinester um Erlaubnis gefragt werden, wenn ihre Arbeit im akademischen Kontext diskutiert und veröffentlicht wird (vgl. Voß 2008, Anm. 14, 18). Ich danke Alix und Cindy für die Erlaubnis, ihre zines in meiner Forschung benutzen und abbilden zu dürfen. Die Rechte für die Bilder liegen bei den Autor_innen. 32 Vgl. Crabb 2012 (Anm. 1), 14 Seiten auf A6.
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Abbildung 1: Cindy Crabb: Doris #29 (Anm.1). Cover.
Der Text ist auf Schreibmaschine geschrieben und in cut and paste collagiert (s. Abbildungen 2 und 3). Den Hintergrund für die klar, entsprechend der Erzählstruktur, gegliederten Textblöcke bilden leere Kreuzworträtsel. Der Text hebt sich nur schwer vor diesem Hintergrund ab. Diese Gestaltung verweist auf einen hohen Aktivitätsgrad – auf Seiten der Herstellung und für die Leser_innen. Während die Kreuzworträtsel für klare und eindeutige Antworten ausgelegt sind, ist Cindys Geschichte komplex und voller Uneindeutigkeiten. Zum einen auf der Ebene der Erzählstruktur, etwa durch die plötzlichen Wechsel zwischen theoretischen Reflexionen und biographischen Ereignissen, zum anderen präsentiert Cindy ihre sexuelle Identität als uneindeutig. Cindy beginnt ihre Geschichte mit einer übergeordneten Frage: »Who would we be if we lived in a world where we could explore our sexual and gender identities without judgement? What if the world didnʼt surround us with hate and rotectiveness and self-doubt?«33 Mit dieser Frage ordnet sie ihre eigene Geschichte ein in eine kollektive Erzählung – die kollektiv geteilten Erfahrungen von Einschränkungen, Selbstzweifeln und Hass auf Basis von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung. Dabei wird aus der gegenwärtigen Frage »Wer sind 33 Ebd. für dieses und alle nachfolgenden Zitate in diesem Abschnitt, soweit nicht anders gekennzeichnet.
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wir?« die auf die Zukunft gerichtete Frage »Wer können wir sein?«. Dahinter liegt die Vorstellung von einer utopischen Welt, in der es keine Diskriminierung auf Grund von sexueller Orientierung und/oder Geschlecht mehr gibt. Cindy fährt fort: »I know some of us are born knowing these essential things about our natures, but the rest of us have to untangle the webs.« Identität wird hier zum Erkenntnisprozess, als Suche nach etwas, was in ihrer Vorstellung schon vorhanden ist. Schon diese ersten Sätze verdeutlichen, dass es sich hier um eine hochreflexive Identität handelt. Abbildungen 2 u. 3: Cindy Crabb: Doris #29 (Anm. 1), o.S.
Nach dieser reflexiven Einleitung beginnt Cindy mit einer chronologischen biographischen Erzählung. Cindy greift auf Kindheits- und Jugenderinnerungen zurück, um den Ausgangspunkt ihres Erkenntnisprozesses zu verdeutlichen. Dabei charakterisiert sie besonders ihre Jugend als sehr schwierig. Sie beschreibt den Druck der Umwelt zur Heterosexualität – »There was constant and continuing pressure. Who do you like? What guy do you like?« – und ihre Zuneigung zu uneindeutigen Geschlechterperformances – »I was drawn to people who were often mistaken for the opposite gender«. Weiterhin charakterisiert sie ihre Familiensituation als schwierig und stellt ihr »desire for connection« heraus. Der Suche nach Zugehörigkeit schreibt sie in der Erzählung eine große Bedeutung zu. Der Moment eines Coming-outs bleibt für sie und in ihrer gesamten Erzählung unklar. »When did I come out as queer? I had crushes on girls, but mostly I
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couldnʼt distinguish desire.« Was genau dieses ›queer‹ für sie bedeutet wird erst später in ihrer Erzählung klar: »When I was a teenager, there was no Queer. You were either gay or straight. or bi. but if you were bisexual that really just meant you were a fucking slut.« ›Queer‹ bedeutet für sie die Freiheit, sich jenseits dieser Identitätskategorien und der Abwertung von Bisexualität zu identifizieren. Cindy verweist auch darauf, dass ›queer‹ ein relativ junges Konzept ist und in ihrer Pubertät noch nicht vorhanden war. Es habe das Set möglicher sexueller Identitäten erweitert. Sie beschreibt im Folgenden das Scheitern, ihre Sexualität jenseits von Heterosexualität zu erkunden oder sich überhaupt darüber bewusst zu werden. Doch es gibt ein diffuses Hingezogen-Sein zu Orten, an denen schwul-lesbisches Leben stattfindet. Über Begegnungen mit Dragqueens auf der Straße schreibt sie: »I felt or I hoped that there was something in me that they recognized. I was shy. I could hardly even look at these vibrant beings. but I wanted so badly to be recognized. I wanted so badly to fit in.« Es bleibt noch unbestimmt, was dieses ›I‹ ausmacht, das sie erkennen sollen. Die eigene Identität erscheint hier gleichsam als ein Geheimnis, welches bereits in ihr verborgen liegt, aber noch nicht von ihr erkannt werden kann. Gleichzeitig thematisiert sie an dieser Stelle ein Gefühl von Isolation und ihre Schüchternheit, welche im Gegensatz zu ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit stehen. Den Wendepunkt ihrer Erzählung bildet ein Kurs über die Grundlagen des Feminismus. »In Feminism 101 class, one of the lecturers said ›Lesbianism is not concerned with sex, so much as putting women center in your life.‹ […] The Feminism 101 class hel ed me to see my life in a social context, and that my problems were social problems, not just a failure of my own personal strength.«
Die Anregung, ihr Leben und Handeln zu überdenken, kommt für Cindy von außen, in Form dieses akademischen Stimulus. Zugleich schildert sie ein Heranführen an Lesbisch-Sein auf einer theoretischen Ebene. Lesbisch-Sein wird hier verstanden als weitestgehend gelöst von Sexualität, und verbunden mit dem Feminismus fungiert es als Instrument zur Selbsterkenntnis – der Erkenntnis, dass ihre Probleme nicht singulär, sondern verwoben sind mit gesellschaftlichen Strukturen. Der Feminismus ist quasi eine ›Brille‹, durch die sie ihre Biographie betrachtet. Sie begreift den Feminismus als Handlungsaufforderung, Frauen eine zentrale Rolle in ihrem Leben zu geben und beschreibt ihre Versuche, dies auch tatsächlich zu tun. Sie schildert die Handlungen als eine Folge ihrer theoreti-
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schen Reflexionen. Ihre Identität ist für sie also nicht nur etwas, was sie verstehen und entschlüsseln muss, sondern auch etwas, das sich im Handeln mit anderen vollzieht. Aus der Diskussion der unterschiedlichen feministischen Positionen leitet sie ein sechs Punkte umfassendes Konzept ihrer Überzeugungen ab. Dieses erinnert sowohl in seiner Form, als auch in seinem Inhalt an ein Manifest (vgl. Abbildungen 2 und 3). Sie verweist darin auf die Notwendigkeit eines intersektionalen Feminismus. Im letzten Punkt bezieht sie sich auf eine der zentralen Feststellungen der zweiten Welle des Feminismus und leitet daraus ab: »The personal is political only when we take our personal experiences of sexism and victimization and we take the rage and the sorrow that comes, and we share these stories and emotions to create a deeper understanding of how patriarchy works in our society and in our lives, and we use the power from those connections and understandings to create ›strategies of intervention and transformation,‹ both internally, within our friendship groups, within our political movements and within the society as whole.«
Sie thematisiert hier eine wichtige Verbindung zwischen personaler und kollektiver Identität – durch das Teilen von Erfahrungen zu einem gemeinsamen Weltverständnis zu kommen und daraus Handlungsstrategien zu entwickeln, welche bestehende Verhältnisse verändern. Die geteilten Überzeugungen schaffen Verbindungen und ein ›Wir‹. Cindy versteht ihre eigene Geschichte als ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, die eigene Identität in einer Gesellschaft zu entfalten, die diese Entfaltung stark einschränkt. Die einzigen Handlungsmöglichkeiten für Cindy sind das Akzeptieren dieses Zustands oder das Schaffen von Freiräumen zusammen mit anderen Menschen. Die Verwirklichung der eigenen Identität wird mit der bewussten Selbstverwirklichung verknüpft. Dem liegt die Vorstellung von dem Vorhandensein eines solchen Selbst, welches sich von der Gesellschaft abgrenzen kann, zu Grunde. Auch wenn sie hier die eigene Geschichte neben viele andere mögliche Geschichten stellt, so macht sie doch deutlich, dass Sexualität eine zentrale Rolle für Identitäten spielt, wenn sie schreibt: »But there is something so fundamental about sexuality, and something so deeply debilitating when you canʼt be true to your desires.«
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K ONFLIKTHAFTE I DENTITÄT Als zentral für die Herausbildung der personalen Identität sind in verschiedenen Identitätstheorien Konflikte zwischen dem Individuum und der Umwelt herausgearbeitet worden.34 Ein Beispiel-zine für die Kategorie ›Identität als Konflikt‹ ist Gendrfailz #1: the first appointment von Alix Kemp (Cover s. Abbildung 4).35 Ihr_sein zine ist ein Beispiel für die vielfältigen Erfahrungen von Transgendern.36 Im Zentrum des zines steht die Dokumentation der ersten Schritte ihrer_seiner Transition:37 Arztbesuche mit dem Ziel, eine Hormonbehandlung zu beginnen. Thematisiert wird in diesem zine besonders der Konflikt zwischen dem starren System von Bürokratie, Medizin und Psychiatrie, welches eine eindeutige Geschlechtsidentität fordert, und Alixʼ Selbstidentifikation als vielfältig und uneindeutig in Bezug auf ihr_sein Geschlecht. Darüber hinaus hat das zine einen dokumentarischen Charakter – durch die chronologische Darstellung und die Kopien von offiziellen Dokumenten wie den Antrag auf Namensänderung und Studierendenausweise wird die eigene Geschichte als wahr und authentisch markiert (vgl. Abbildung 5).
34 Vgl. z.B. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper 2003; George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973; Stuart Hall: Introduction. Who Needs ›Identity‹? In: ders./Paul du Gay (Hg.): Questions of Cultural Identity. London/Thousand Oaks/New Dehli/Singapore: Sage 2010, 1-17. 35 Alix Kemp: Gendrfailz #1: the first appointment. Edmonton 2009, 20 Seiten auf A5 Format. 36 Die folgende Diskussion steht nicht verallgemeinernd für diese Erfahrungen, sondern befasst sich explizit mit Alixʼ Sichtweise. Dennoch werden in Alixʼ Erzählung Themen angesprochen, die viele Transgender beschäftigen. In einer besonderen Weise sind Transgender Pathologisierung und gendermotivierter Gewalt ausgesetzt. Vgl. Leslie Feinberg: Transgender Warriors. Making History from Joan of Arc to Dennis Rodman. Boston: Beacon Press 1996, 91-128. 37 Transition bezeichnet den Weg vom Geburtsgeschlecht zu dem Geschlecht, mit dem die Person sich identifiziert. Dieser Prozess kann neben dem (inneren) coming-out auch Hormonbehandlung, Operationen und/oder Namens- und Personenstandsänderung umfassen. Vgl. Kollektiv Sternchen & Steine: Glossar. In: dies. (Hg.): Begegnungen auf der Trans*fläche. Reflektiert 76 queere Momente des transnormalen Alltags. Münster: Assemblage 2012, 122.
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Abbildungen 4 u. 5: Alix Kemp: Gendrfailz #1 (Anm. 35), Cover u. 1.
In der Einleitung präsentiert Alix sich selbstbewusst und thematisiert das Spielen mit ihrer_seiner Geschlechtsidentität in der Präsentation nach außen: »i fail at gender. iʼm a policurious transguy with a love of dresses and four-inch heels who refuses to pick a sexual orientation. i wear skirts with my packer38 and fishnet tights, then sit with my legs splayed on the hallway floor between classes, picking at the zipper on my knee-high boots, smiling blithely at passerbys who give me curious looks. tight jeans, flat chest, menʼs button-down, eyeliner and mascara.«39
An dieser Stelle kommt die parodistische Aneignung der gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Stereotype in Bezug auf Geschlecht zur Sprache. Nach außen manifestiert sich Geschlecht für Alix vor allem über Kleidung, Körperform und Make-up, dabei werden der Körper zur Repräsentations- und Spielfläche und Identität zur Performance. Das Spiel mit diesen Zitaten der Zweigeschlechtlichkeit ist ein provokantes. In Alixʼ gender-performance wird die Kohärenz 38 Packer bezeichnet eine Socke oder etwas penisähnliches, das in die Hose gesteckt wird, damit diese sich ausbeult. Vgl. Kollektiv Sternchen & Steine: Glossar (Anm. 37), 120. 39 Kemp 2009 (Anm. 35), 1.
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zwischen sex und gender aufgebrochen, indem sowohl männlich als auch weiblich kodierte Merkmale von ihr_ihm genutzt werden. Doch geschieht dieses Spiel keineswegs konfliktfrei. Der Konflikt wird auf zwei Ebenen diskutiert: Konflikte mit der eigenen Körperlichkeit – »feeling out of place in the only skin i have«40 – und mit der Mehrheitsgesellschaft – »so much of the population seems so sure about their own identity; they are boys or they are girls, men or women [...]. i just donʼt have that. iʼm never the same person when i wake up as i was when i went to sleep.«41 Alix thematisiert hier den deutlichen Kontrast zwischen einer in Bezug auf Geschlecht binären Welt und ihrer_seiner als fluide und im ständigen Wandel empfundenen Identität. Den Hauptteil des zines bilden chronologische ›Tagebucheinträge‹, welche vor allem die Arztbesuche dokumentieren. Alixʼ Verhältnis zum psychiatrischmedizinischen System ist ambivalent, wie sich auch bei dem lang ersehnten Termin mit einem Facharzt zeigt. Als sie_er vom Arzt gefragt wird, was sie_er möchte, äußert Alix den Wunsch, Testosteron zu bekommen. Der Arzt fragt daraufhin, ob sie_er auch »surgery«42 wolle. Das klar festgelegte Prozedere des psychiatrisch-medizinischen Systems für Transgender wird hier von Alix erfahren und dokumentiert. Zunächst die Einnahme von Hormonen und dann Operationen, um die ›Geschlechtsumwandlung‹ vollständig zu vollziehen. Das dokumentiert Alix auch mit dem Abdruck von Auszügen aus dem Standards Of Care For Gender Identity Disorders (SOC) (vgl. Abbildung 6). Transgender wird darin als eine ›Krankheit‹ verstanden, die mit Hilfe verschiedener hochkomplexer Verfahren wie Operationen und Hormonbehandlung ›geheilt‹ werden soll. Im psychiatrisch-medizinischen System wird transgender ausschließlich unter der Prämisse von Zweigeschlechtlichkeit gelesen, wie der Abdruck von Auszügen eines zweiten Dokuments zeigt. Es ist ein gender workbook, welches vielfältige Fragen bezüglich der eigenen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität stellt und gleichzeitig Wissen und Vorstellungen von bestimmten Konzepten aus diesen Bereichen abfragt. Darin wird beispielsweise gefragt: »What does it mean for you to be a man? […] What is the most significant difference between being a man and a women?«43 Diese vermeintlich klare Zweigeschlechtlichkeit wird von Alix radikal in Frage gestellt, wenn sie_er schreibt: »i donʼt think there is a significant difference between a man and a woman; mostly 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Surgery verweist in diesem Zusammenhang auf eine doppelte Mastektomie, die Entfernung der Gebärmutter und Eierstöcke, sowie gegebenenfalls den Aufbau eines künstlichen Penis. 43 Kemp 2009 (Anm. 35), 17.
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just self-perception and personal comfort, built-in social norms that have been handed down over the centuries and have very little to do with reality.«44 Alix nutzt hier ein theoretisch überformtes Verständnis von Geschlecht, um den eigenen Standpunkt, dass Geschlechter nicht natürlich vorhanden sind, zu verdeutlichen. Sie_er setzt diese dekonstruktivistisch informierte Position in Kontrast zu den Anforderungen des psychiatrisch-medizinischen Systems. In diesem System sind Alixʼ Handlungsmöglichkeiten bezüglich der Verwirklichung ihrer_seiner Bedürfnisse stark begrenzt, denn der Zugang zu den jeweiligen Verfahren wird von ›Spezialist_innen‹ geregelt. So bekommt Alix auch nicht die gewünschte Hormonbehandlung: »he wants to wait before refering me to an endrocrinologist. basically, iʼm too feminine«.45 Ihre_seine Bedürfnisse beschreibt sie_er in der Reflexion des Arztbesuches als: »i want hormones, but i donʼt want surgery. i just want to take testosterone until i change enough to be ha y, and then iʼll be done.« Ihr_sein ambivalentes Verhältnis Abbildung 6: Alix Kemp: Gendrfailz #1 (Anm. 35), 12-13.
44 Ebd., 16. 45 Ebd., 11, für dieses und die folgenden Zitate in diesem Abschnitt.
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zum psychiatrisch-medizinischen System kommt hier erneut zum Ausdruck. Nur mit Hilfe des abgelehnten Systems kann sie_er die gewünschten Veränderungen herbeiführen. So erscheint es ihm unmöglich, eine Hormonbehandlung zu erhalten, solange sie_er die Operationen ablehnt. Innerhalb der medizinischen Situationen bleibt Alix sprachlos und bringt ein Gefühl von Ohnmacht zum Ausdruck – »i donʼt argue my case. i just nod and say, yeah, okay«. Nicht nur das Schreiben des zines, sondern auch ihre_seine politischen Überzeugungen und ihr_sein theoretisches Wissen helfen ihr_ihm, nachträglich Worte und Argumente gegen die als Ohnmacht erfahrene Situation zu finden. Das zine ist ein Ort, der Raum für eigene Wünsche und Argumente bietet. Den Ankerpunkt ihrer_seiner Argumentation bilden feministische Überzeugungen: »this is my body. iʼve had a uterus and ovaries my whole life – iʼve had breasts my whole life […] itʼs strange, to me. iʼm pro-choice, arguing for a womanʼs right to make decisions about their own body. […] itʼs my body. i know me, my skin, what i want and need. let me choose.«46
Alix verknüpft ihre_seine Körperlichkeit mit feministischen Positionen, dabei wird der eigene Körper eingebettet in ein politisches Verständnis von Körper, dessen Kern das Recht auf Selbstbestimmung bildet. Das Wissen um feministische Positionen hilft, die Situation besser zu verstehen und zu bewerten.
»T O CUT THROUGH ALL THE S CHLUSS UND AUSBLICK
LAYERS «:
47
In queer/feministischen perzines findet sich eine große Varianz von Erfahrungen und Subjektpositionen; gleichzeitig teilen die zinester bestimmte Themen und (politische) Überzeugungen in der Verhandlung ihrer Identität. Es zeigt sich ein besonderes Verständnis von Geschlecht und/oder Begehren – es wird jenseits der heteronormativen binären Eindeutigkeit verortet. Insgesamt zeichnet sich das Material durch einen hohen Grad an Reflexivität aus. Das Verhältnis der zinester zu ihren Erfahrungen und ihrer Identität ist zu großen Teilen ein reflexiv-intellektuelles.
46 Ebd. 47 Crabb 2012 (Anm. 1), o.S.
I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN IN
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Ein zentrales Thema dieses Nachdenkens ist die Frage, welche Rolle das ›Außen‹, die Gesellschaft mit ihren Werten und Normen, für die eigene Entwicklung gespielt hat und spielt. Allgemein werden in den zines Prozesse sichtbar gemacht, in denen sich die eigene Identität herausgebildet hat, und wie Identitätskategorien mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt werden. Ebenso werden Konflikte mit der Dominanzkultur thematisiert. Dabei werden individuelle zu kollektiven Narrativen; es findet ein Übergang von personaler zu kollektiver Identität statt. Zum einen, indem die Erzählungen miteinander geteilt werden, dabei das schreibende Subjekt seine Vereinzelung verlässt und ihm_ihr die Ähnlichkeit ihrer_seiner Erfahrungen mit denen anderer Personen deutlich wird. Ein vergleichbarer Prozess kann auch auf Seiten der Leser_innen passieren. Zum anderen, da in den zines auf kollektiv geteilte Erklärungsmuster und Wissensbestände zurückgegriffen wird, um die eigene Identität zu verorten und von ihr zu erzählen. Die zines schaffen so einen Kommunikationsraum, in dem Wissen und Erfahrungen geteilt werden; dabei werden auch kollektive queer/feministische Identitäten verhandelt und hervorgebracht. In den zines kommt auch ein politisches Bewusstsein zum Ausdruck. Die Narrative reflektieren, wie gerade Sexualität und Geschlecht gesellschaftlich reguliert werden, und machen gleichzeitig sichtbar, dass Identitäten stets eingebunden sind in gesellschaftliche Machtstrukturen. Der Zugang zu den eigenen Erfahrungen ist durch queer/feministische Ideen und Konzepte überformt. Die engen Verflechtungen zwischen akademischem Diskurs und Aktivismus im Feld des queer/Feminismus bedingen, dass die Erzählungen eine politische Dimension haben. Die zines sind eine Umsetzung des Ethosʼ »Das Persönliche ist politisch«. Die zinester machen sichtbar, wie beschränkt die gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Skripte sind, nach denen Menschen leben können. Sie dokumentieren darüber hinaus auch widerständige Praxen und bieten den Raum, eine Gesellschaft jenseits starrer Normen bezüglich Sexualität und Geschlechtsidentität zu imaginieren. Zines können so auch als eine emanzipatorische Praxis begriffen werden.
Oxana Chis tänzerische Wissensschaffung Biographische Erinnerung an Tatjana Barbakoff aus feministischer Perspektive L AYLA Z AMI
»Ich muss Alternativen schaffen zu diesem ganzen Mainstream, der im Prinzip ganz ganz berechnend eine einzige Geschichte schreibt, die, für meinen Geschmack, sehr sehr beschränkend ist. Den Radius zu erweitern, ohne Ausschluss. Das heißt, dass auch mehr Stimmen, die Geschichte gemacht haben, hörbar werden.«1
E INKLANG In diesem Beitrag möchte ich zeigen, wie Oxana Chi in und mit ihrem Tanzsolo Durch Gärten an die in Vergessenheit geratene Tänzerin Tatjana Barbakoff (1899, Liepaja, heute Lettland - 1944, Auschwitz) erinnert. Wie kann eine zeitgenössische Künstlerin eine Biographie feministisch tänzerisch darstellen? Gerade die Tanzkunst, die aufgrund ihrer vermeintlichen Flüchtigkeit so oft der als dauerhaft angelegten Geschichtsschreibung entgegen gesetzt wird, erscheint als ein vielversprechendes Medium, um Gender-Aspekte sichtbar zu machen und sowohl Tanzgeschichte als auch andere Geschichten aus feministischer Perspektive umzudeuten. Dabei entstehen sowohl Ge_schichte als auch Tanzkunst durch die Bewegungen von Körpern in Zeit und Raum, die ja auch für Gender Studies bedeutsam sind. Chis tänzerischer übergangsloser Wechsel zwischen Ballett1
Oxana Chi, in: Layla Zami: Interview mit Oxana Chi, geführt im Rahmen der Promotion (bei Prof. Dr. Lann Hornscheidt) zu »Erinnerung und Geschichtsbewusstsein in zeitgenössischer Tanzkunst«, Berlin, 17.09.2013. Unveröffentlichtes Manuskript.
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Pirouetten und Kampfkunstbewegungen in Durch Gärten macht sichtbar, wie sehr Ge_schicht_e an dem dünnen Faden einer Perspektive hängt, die von Text zu Text wechseln kann – so wie von Schritt zu Schritt gesprungen wird. Abbildung 1: Oxana Chi: Chinesisches Kleid. Berlin 2010. Foto: Layla Zami
O XANA C HI ,
TANZENDE
F ORSCHERIN
Oxana Chi arbeitet als Tänzerin, Choreographin, Kuratorin und Filmemacherin. Seit 1991 interpretiert sie ein wachsendes Repertoire an abendfüllenden Stücken, die sie choreographiert und konzipiert hat. Ihre Performances, meistens Solos, werden auf der Bühne stets von Live-Musik begleitet. Chi lebt in Berlin, tritt international auf und schöpft Inspiration aus den 30 Ländern, die sie bereiste. Sie studierte Jazz Dance, klassischen Javanesischen Tanz, Ballett, Kampfkünste, Modern Dance, ägyptischen Raks Sharki und Westafrikanische Tänze unter anderem in Düsseldorf, Berlin, Paris, Surakarta, New York, Taipeh und Sydney. Die 1966 in Frankfurt am Main geborene Künstlerin beschreibt ihre kulturelle Herkunft oft als »osteuropäisch und ostnigerianisch«.2 Ihre Arbeit wurde in akademischen Kontexten präsentiert, zum Beispiel bei den Aktionstagen Gesellschaft Macht Geschlecht an der Universität Bielefeld im November 2013 und bei einer Buchpräsentation von Lann Hornscheidt: feministische w_orte (s. Anm. 6). 2012 wurde Chi von Natasha A. Kelly (Humboldt-
2
Ebd.
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Universität Berlin) beauftragt, ein Tanzsolo für die Wanderausstellung EDEWA3 zu konzipieren. Im Interview (s. Anm. 1) verglich Chi ihren Arbeitsprozess mit dem von Wissenschaftler_innen: »Für mich ist Tanz etwas sehr sehr sehr Komplexes, so was ähnliches wie Seele. Es ist eigentlich nicht greifbar. Ich möchte es natürlich greifen, aber es ist nicht greifbar. Von daher ist es wichtig, immer weiter zu forschen, wie eine Wissenschaftlerin immer weiter zu forschen und weiter zu arbeiten.«
Dieser Vergleich ist besonders interessant, gerade weil bis jetzt selten wahrgenommen und erforscht wurde, dass auch Tanz Wissen schafft.4 Die Fragestellung meiner Dissertation ist folgende: Wie kann ich mich der wortlosen Sprache des Tanzes mit der wortlastigen Schrift annähern? Kann mir dies gelingen, ohne dass meine Stimme, im Licht angelangt, einen langen Schatten auf die Tänzerin wirft? Wie kann ich die LeserInnen ansprechen? Dies ist tatsächlich eine Herausforderung, die mich motiviert hat, die Dissertation mit einem filmischen Beitrag zu bereichern. Mein Schreiben bekommt tatsächlich erst im Kontext von Live-Aufführungen der Tanzstücke, die ich analysiere, ›Sauerstoff‹. Das Lesen des Textes kann und sollte nicht das Erleben der Performance ersetzen, sondern im besten Fall den Tanz kontextualisierend und reflexiv beleuchten. Idealerweise gehören das Performative und das Schreiben bzw. Sprechen darüber zusammen.5 Dies bringt mich zum nächsten Punkt: zur tanzgeschichtlichen Epistemologie.
3
Dieses Stück, an dem auch ich mit Musik, Sprache und Sounds mitwirke, heißt I step on air. In Memory of the Feminist Poet and Academic May Ayim; EDEWA, die Einkaufsgenossenschaft
antirassistischen
Widerstands,
ist
ein
»temporärer
Supermarkt, der Geschichte, Widerstand und Interaktion als elementare Wissensprodukte bietet: kostenlos, ohne Rassismen und Sexismen und mit empowerndem Mehrwert« (http://www.edewa.info/, 15.08.2014); zu Natasha A. Kelly s.a. http:// www.natashaakelly.com/. 4
Wissenschaftlerinnen, die zu Tanz forschen, sind oft auch als Tänzerinnen und/oder Choreographinnen tätig wie u.a. Brenda Dixon-Gottschild, Nadine George-Graves, Susan Foster, Ann Cooper Albright, Hélène Marquié.
5
Wie beispielsweise beim Internationalen Symposium Writing Womenʼs Lives (Yeditepe Universität, Istanbul, 19./20. April 2014), wo Oxana Chi und ich nach meiner akademischen Präsentation (Dancing Womenʼs Lives, Women Living Dance: Feminist Auto/Biographical Storytelling in Oxana Chiʼs Transcultural Dance Art) das Stück I step on air aufgeführt haben.
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T ANZ ( GESCHICHTE ) SCHREIBEN Ich lese Tanz als kulturwissenschaftlichen Text und in diesem Fall als intervenierende Wissensschaffung, und möchte mikroanalytisch untersuchen, wie Oxana Chi Ge_schichte gender-bewusst ›tanztextualisiert‹. Ich gehe davon aus, dass Gender konstruiert ist, aber »so lange es genderismus als strukturelle diskriminierung in seinen unterschiedlichen formen gibt, so lange ist es in konkreten situationen und kämpfen auch notwendig, sich auf [...] genderkategorien zu beziehen, um zu zeigen, wie sich genderismus materialisiert [...].«6
Der Boden, auf dem meine Forschung zu stehen sucht, ist postkolonial, postpositivistisch, trans- und postdisziplinär geprägt. In diesem Rahmen kann ich nur skizzieren, was hinter diesen Begriffen steckt. »Postkolonial« verstehe ich nach María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan als »[...] eine anti-disziplinäre Intervention, die versucht herauszuarbeiten, welche Rolle die wissenschaftlichen Disziplinen im Rahmen kolonialer Herrschaftssysteme gespielt haben und wie diese (neo-)koloniale Episteme und materielle Beziehungen reproduzier(t)en, die die ›Anderen‹ in der Position der ›Anderen‹ zu fixieren suchen.«7
In Researching Dance – Evolving Modes of Inquiry8 wird die postpositivistische Methode in Bezug auf Tanz definiert. Sie unterscheidet sich von konventioneller Wissenschaft hauptsächlich dadurch, dass sie Subjektivität verwendet, um Sinn zu erschließen. Dabei soll gerade auch die eigene Subjektivität sichtbar gemacht werden. Statt auf eine Verifizierbarkeit der Ergebnisse wird eher auf die Kohärenz der Forschung Wert gelegt. Das Hauptziel ist die Interpretation eines spezifischen Kontexts aus multiplen Perspektiven. Bis in die Verschriftlichung
6
Lann Hornscheidt: feministische w_orte: ein lern-, denk- und handlungsbuch zu sprache und diskriminierung. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2012, 66 (Wissen & Praxis, 168). Sexismus ist nur eine von vielen Diskriminierungsformen, die hier als »Genderismus« in Interdependenz mit Rassismus, Ableismus und Klassismus benannt werden.
7
María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Europa provinzialisieren? Ja, bitte! Aber wie?! In: Femina Politica 2 (2009), 9-18, hier: 9.
8
Sondra Horton Fraleigh/Penelope Hanstein (Hg.): Researching Dance – Evolving Modes of Inquiry. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1999.
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hinein kann und sollte die Forschung mehrstimmige und ggf. künstlerische Ausdrücke erlauben: »[Postpositivist research methodology] must be created as the researcher goes along, in the context of this particular piece of research. In this sense, the researcher shares much in common with the choreographer, remaining open to emerging patterns and meanings and to forms that are appropriate for them.«9
Wie Doris Ingrisch sehne ich mich nach einer »sinnlichen Wissenschaft« und lehne einen klassischen »wissenschaftlichen Schreibstil ab, der die Ich-Form ausklammert/e« und somit »nicht mehr und nicht weniger fordert, als sich als Mensch bzw. Persönlichkeit aufzugeben«.10 Ingrisch zeigt, dass Wissen »immer historisch und kulturell eingebettet ist und in diesem Kontext seine Gültigkeit erlangt. [...] Das explizite Wissen wird dem impliziten gegenüber als überlegen angesehen, das deklarierte dem prozeduralen, das semantische dem episodischen. Das Objektiv/ Subjektiv-Schema inklusive seiner geschlechterspezifischen Implikationen ist diesen Hierarchien unterlegt, fungiert also als Untermauerung.«11
Somit trifft der oben formulierte postpositivistische Ansatz auf die bereits in der Black Feminist-Bewegung entwickelte Epistemologie. 12 Auch ich möchte versuchen, eine Brücke zwischen den oft getrennten Bereichen Kunst und Wissenschaft zu bauen, und diese Brücke so oft zu überqueren, bis die Grenze zwischen ihnen verwischt. Die oben erwähnte Epistemologie spiegelt sich in Oxana Chis Kunst. Seit 2007 beschäftigt sich Chi quellenkritisch, transdisziplinär und praxisorientiert mit der Biographie von Tatjana Barbakoff. Sie nimmt eine Perspektiven-Verschiebung in der Darstellung von Barbakoffs Leben und Werk vor. Oxana Chis Tanzkunst schafft Wissen ohne Wissenschaft, indem sie das »verlassen konventioneller wege von wissensproduktion und wissensfindung«13 befördert. Somit entsteht eine Wissensschaffung, die implizit und explizit die Frage stellt, welche 9
Jill Green/Susan W. Stinson: Postpositivist Research in Dance. In: Ebd., 91-123, hier: 98.
10 Doris Ingrisch: Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung. Bielefeld: transcript 2012, 22 (Image 44). 11 Ebd., 25. 12 Siehe hierzu Uma Narayan, Amina Mama, bell hooks, Patricia Hill Collins, Grada Kilomba und spezifisch im Tanzbereich Brenda Dixon-Gottschild. 13 Hornscheidt 2012 (Anm. 6), 254.
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gendernormativen Vermutungen bis jetzt in der Forschung über Tatjana Barbakoff gemacht wurden, ohne dass diese als solche benannt wurden. Chis Tanzende Erinnerungen14 an Barbakoff sind vielfältig und beinhalten: 1.
2.
3.
die Produktion des abendfüllenden Tanzsolos Durch Gärten, welches das Leben Barbakoffs auf der Bühne nachzeichnet, und dessen Aufführung Chi immer mit einem Vortrag vorab kontextualisiert, die von Chi kuratierte Femmage an Tatjana Barbakoff im Kunstsalon Salon Qi (Berlin 2009, 2010, 2011, 2014 und Paris 2011), in der sie mit einem transdisziplinären Programm (Performance, Film, Ausstellung, Referate, Lesung) an Barbakoffs Biographie erinnert, Publikationen, in denen Chi ihre Spurensuche beschreibt, z.B. der Ausstellungskatalog Tanzende Erinnerungen, der im Deutschen Tanzarchiv Köln und im feministischen Künsterlinnenarchiv »bildwechsel« archiviert ist.
Chis künstlerische Recherche fußt auf Methoden, die zur feministischen Methodologie gehören. Sich als Frau* zu identifizieren, bedeutet nicht unbedingt, Gender zu dekonstruieren und neue Perspektiven zu konstruieren. Denn auch Frauen* reproduzieren oft den androzentristischen Blick auf Geschlecht, der in westlich sozialisierten Gesellschaften herrscht. Deshalb müssen sowohl die Themen als auch die Ansätze grundlegend infrage gestellt werden, um die Produktion einer feministischen Wissenschaft und Kunst überhaupt erst zu ermöglichen. Die Wissenschaftlerin und Choreographin Hélène Marquié untersucht »wie die Gender-Perspektive eine kritische Epistemologie für Tanzhistoriographie bietet, durch einen doppelten Arbeitsprozess von Dekonstruktion und Konstruktion.«15 Dem ›Werkzeug Gender‹ schreibt sie dabei drei Funktionen zu, die ich bereits in den ersten theoretischen Publikationen zu feministischer Epistemologie, insbesondere jenen des Black Feminism erkenne, und die ich in Chis Kunst wiederfinde:
14 Titel der von Oxana Chi kuratierten Ausstellung in der Galerie Gondwana Berlin, 27.04.-20.05.2011 (Salon Qi 2011): Oxana Chi: Tanzende Erinnerungen, Ausstellungskatalog. Berlin: Galerie Gondwana 2011. 15 Hélène Marquié: Le genre, un outil épistémologique pour lʼhistoriographie de la danse. In: Roxane Martin/Marina Nordera (Hg.): Les Arts de la Scène à lʼépreuve de l'histoire. Actes du Colloque International 2009. Paris: Honoré Champion 2011, 211222, hier: 211. Meine Übersetzung.
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Abbildung 2: Flyer Salon Qi Paris: Oxana Chi, Femmage an Tatjana Barbakoff. 2011. Foto: Layla Zami, Layout: Kika
1. Das Objektivitätspostulat und seinen impliziten Androzentrismus zu hinterfragen Tanz als Ausdrucksform zu wählen und dabei historische Narrative auf der Bühne zu repräsentieren, ist eine künstlerische Alternative zu solchen Geschichtsdarstellungen, die eine angeblich objektive Beleuchtung der Vergangenheit beanspruchen. Hinter diesem Objektivitätspostulat verbergen sich nämlich hegemoniale westlich-patriarchalische Diskurse. Werk und Wirken von Frauen* wurden in
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der hegemonialen Geschichtsschreibung lange Zeit nicht erwähnt, und wenn, dann nur zerwähnt, um den Frauenbilder-Stereotypen zu entsprechen, die Männer* und Frauen* in ihren Schriften reproduzieren. Wenn diese Frauen* People of Color (PoC)16 sind, sind sie systematisch unsichtbar im weißen Ma(i)nstream. Um »dieses systematische Nichterwähnen von Marginalisierten und Diskriminierten begrifflich fassen zu können«, spricht Alanna Lockward von »EntErwähnung«.17 Chi setzt sich als Künstlerin gegen diese »EntErwähnung« ein. Sie bietet einem vielfältigen Publikum neue Formen von Erinnerung, indem sie geschichtliche Themen und Biographien auf der Bühne inszeniert, um »die fehlenden Kapitel der Geschichtsbücher zu ergänzen«.18 Dies geschieht sowohl mit Chis Tanzstück Durch Gärten, in dem sie, fern von Gender-Stereotypen, Barbakoff auf der Bühne verkörpert, als auch mit dem Kontext, in den Chi ihre Performances einbettet. Chi benennt ihren Kunstsalon (»Salon Qi«) mit dem Wort ›Femmage‹ (statt Hommage), so dass androzentristische Benennungen von neuen Konzepten ersetzt werden. 2. Das systematische Zweifeln praktizieren Chi hinterfragt systematisch, was über Barbakoff geschrieben worden ist, sie schafft eigene Interpretationen des Werkes und der Biographie, die wiederum Material für ihre tänzerischen Kreationen sind. Barbakoff war in den 1920er und 1930er Jahren die Muse zahlreicher Künstler_innen wie u.a. Nina und Carry Hess, Otto Dix, Minya Dührkopp, Yva, Kasia von Szadurska, Willy Maywald, Helene und Christian Rohlfs, Helen Dahm und Waldemar Flaig. Sie choreographierte über 60 Stücke, die sie zwischen 1921 und 1936 an namhaften Orten wie dem Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Berliner Bachsaal, den Wiener Kammerspielen, dem Pariser Theater Le Vieux Colombier und an vielen anderen Orten europaweit aufführte. Ihre Biographie wurde von dem Ingenieur, Historiker und Autor Günter Goebbels ›wiederentdeckt‹, der mehrere Ausstellungen organisierte (z.B. 2002 gemeinsam mit Hildegard Reinhardt im August-Macke-Haus unter der Leitung von Klara Drenker-Nagels sowie 2010 im Verborgenen Museum Berlin). Er hat mittlerweile Chis zeitgenössische Erinnerung an Barbakoff 16 Siehe Kien Nghi Ha: »People of Color« als solidarisches Bündnis. Migrazine 2009, http://www.migrazine.at/artikel/people-color-als-solidarisches-b-ndnis (29.12.2014). 17 Alanna Lockward: »Diaspora«. In: Adibeli Nduka-Agwu/Lann Hornscheidt (Hg.): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2010, 56-71, hier: 59 (Wissen & Praxis 155). 18 Oxana Chi: Vortrag im Theaterforum Kreuzberg, Berlin, 29.05.2010, im Rahmen des »Salon Qi«. Unveröffentlichtes Manuskript.
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in einen Ausstellungskatalog einbezogen.19 Dort wird Barbakoff als Lebensgefährtin des Malers Gert Wollheim dargestellt. Chi unternimmt aber ein kritisches Lesen dieser heteronormativen Lektüren anhand des subjektiven Wissens aus ihrer eigenen Autobiographie. Als Tänzerin liest sie Barbakoffs Biographie anders. In ihrem Solo-Stück wird Biographie bewusst als Solo getanzt – der Fokus liegt auf Barbakoffs Leben und Werk. Chi hinterfragt die Darstellung von Barbakoff als heteronormativer Künstlerin und betont Elemente, die Barbakoffs Biographie neu beleuchten: Sie war persönlich und beruflich stets von Frauen* umgeben, wie zum Beispiel von Leni Stein, die sie am Klavier begleitete und die ihr beim Kostümwechsel half.20 Barbakoffs Auftritte wurden oft von Frauen* organisiert, zum Beispiel von Mary Bran, Impresaria, dank deren Hilfe Barbakoff nach Paris fliehen konnte, von Luise Wolff mit ihrer Agentur Wolff und Sachs, von Louise Dumont, Leiterin des Düsseldorfer Schauspielhauses, von Charlotte Bara, Tänzerin, die sie regelmäßig nach Ascona einlud. Chi betont auch, dass Barbakoff mit ihrer Kostümbildnerin Gertrude Jungmann und deren Schwester, der Sekretärin Emma Jungmann, von Südfrankreich aus deportiert und in Auschwitz sofort ermordet wurde.21 Chis Um_deuten22 des Archivmaterials, welches sie regelmäßig von Günter Goebbels zugeschickt bekommt oder welches sie in Ausstellungskatalogen findet, schafft also Raum für Interpretationen. Darüber hinaus kann zeitgenössischer Tanz als systematischer Zweifel fungieren, indem die Geschichtserzählung über abstrakte Bewegungsmuster emotional und intellektuell tradiert wird. Wenn Oxana Chi in Durch Gärten den Chinesischen Tanz interpretiert, erinnert sie subtil daran, dass Tatjana Barbakoff sich in Interviews mit der chinesischen Herkunft ihrer Mutter identifizierte. Die magische Anziehung eines grünen Kleids – im hinteren Bereich der Bühne malerisch beleuchtet – lässt die ZuschauerInnen an dem intimen Universum einer Künstlerin teilnehmen, die durstig nach Inspiration ihr kulturelles Erbe besucht – so wie Chi das Kleid an sich schmiegt, anzieht und tanzt. 19 Günter Goebbels: Tatjana Barbakoff. Eine vergessene Tänzerin in Bildern und Dokumenten. Düsseldorf: Freundeskreis Kulturbahnhof Eller e.V. 2009 (Ausstellungskatalog), 80-81. 20 Oxana Chi: Vortrag im Heinrich-Heine Haus, Paris, 16.11.2011, im Rahmen des »Salon Qi« (s.o.). Unveröffentlichtes Manuskript. 21 Deportationsliste No 67 vom 3.02.1944 von Drancy nach Auschwitz, Pariser Shoah Museum. Abgebildet in: Goebbels 2009 (Anm. 19), 54. 22 Mit dieser Schreibweise möchte ich den gap als Zeichen setzen für das Zwischen-denZeilen-Lesen, für die Suche nach dem, was ausgelassen wird – in diesem Fall die Tradierung von Genderwissen.
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3. Die Selbstpositionierung der Forscherin Auf meine Frage, wie sie es schafft(e), Vergangenheit zu vergegenwärtigen, antwortete Oxana Chi: »Also, die Vergangenheit und die Gegenwart haben sehr viel miteinander zu tun. Vieles aus der Vergangenheit fließt in unsere heutige Gegenwart. Ich sehe nicht eine große Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart [...].«23 Das Stück Durch Gärten ist dramaturgisch wie ein Theaterstück inszeniert und durch vier Hauptszenen strukturiert: Die Geburt, das Fest (die Erfolge), der Kampf (der Widerstand) und der Neumond (die Hoffnung). Chi greift auch hier Elemente aus dem klassischen Ballett und dem klassischem Indonesischen Tanz (Java), Kungfu, Westafrikanischen Bewegungen und Modern Dance auf, die sie alle in einen neuen, persönlichen Tanzstil münden lässt, den sie »Fusion« nennt. Als ich Durch Gärten erstmals in der Werkstatt der Kulturen (Berlin) im Oktober 2009 erlebte, wurde ich besonders von der atemberaubenden Kampfszene berührt. Die bedrohliche Musik empfand ich als beklemmend und somit als adäquat für eine Darstellung des Genozids, und ich wurde in die Atmosphäre der steten Drohung der Deportation versetzt. Oxana Chi schrie ohne Worte und ihr Tanz drückte ganz klar für mich aus, dass Menschen sich gewehrt haben, dass sie sich trotz des mächtigen intellektuellen ideologischen und physischen Ermordungssystems immer wieder Überlebens_wege suchten. Nachdem ich in meiner Schulzeit in Frankreich und Deutschland die immer gleiche Darstellung von jüdischen Menschen und anderen Zielgruppen des NS-Wahnsinns als anonyme widerstandslose Opferberge nicht mehr ertragen hatte können, sah ich auf einmal auf der Bühne die erleichternde Perspektive einer zeitgenössischen Tänzerin, die Widerstand verkörperte. Chi bezieht sich in dieser Szene sowohl auf jüdische Personen als auch auf Sinti/Roma, auf AfroDeutsche, Queere und überhaupt »alle Menschen, die gegen das Regime kämpften«,24 und genau so habe ich das Stück empfunden. Die subtile Mehrschichtigkeit von Durch Gärten findet ihre Form in einer abstrakten, avantgardistischen Inszenierung, die uns, den im Publikum sitzenden Menschen, die Freiheit verleiht, anhand unserer persönlichen Biographien, gesellschaftlichen Positionierungen und Alltagserlebnisse das Stück zu interpretieren. Somit kann Durch Gärten gleichermaßen als Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts wie als zeitgenössische Gesellschaftskritik zum Beispiel an Homophobie und Islamophobie gelesen werden. Es ist gleichzeitig ein Kampf gegen »die fortdauernde angestrengte Entinnerung und Unsichtbar-
23 Chi 2013 (Anm. 1). 24 Ebd.
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machung«25 von Künstlerinnen, insbesondere PoCs. Dementsprechend gehört Durch Gärten zu den »antirassistischen und feministischen Strategien in der zeitgenössischen Kunst, die in hegemoniale Diskurse intervenieren [...]. Antirassistische und feministische Strategien entwickeln somit eine Imagination für eine andere, weniger stereotype und unterdrückende Zukunft, indem sie einen Raum für alternative Identitäten sowie historische und aktuelle Gegenentwürfe entwickeln.«26
G ESCHICHTSSCHREIBUNG
TANZTEXTUALISIEREN
Wissenschaftliche Analysen von Tanz als Geschichtsschreibung sind bis auf ein paar Ausnahmen27 kaum zu finden, während die akademische Produktion über die Darstellung des Holocausts zum Beispiel in Filmen und Theaterstücken stetig wächst. Einige Wissenschaftler_innen wie Michelle Wright, Fatima ElTayeb, Nicola Lauré al-Samarai und Michael Rothberg widmen sich der Analyse von Werken, in denen PoC-Künst_lerinnen ihre Auto_biographie als Material für eine künstlerische Geschichtsschreibung verwenden. Lauré al-Samarai betont die Bedeutsamkeit dieses »autobiografischen Impulses«, der darin besteht, »sich zur AutorIn der eigenen Geschichte zu machen, sich selbst zu erzählen anstatt erzählt zu werden.«28 Allerdings beziehen diese Autor_innen Tanz nicht mit ein, obwohl gerade diese Kunstsparte innovative Formen von Erinnerung ermöglicht. Chis Handlung besteht darin, die Berührungspunkte zwischen ihren Erfahrungen und Barbakoffs Lebensgeschichte öffentlich sichtbar zu machen: das Leben als
25 Nicola Lauré al-Samarai: Inspirited Topography. Über/Lebensräume, Heim-Suchungen und die Verortung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur- und Wissenstraditionen. In: Susan Arndt/Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast-Verlag 22009, 118-134, hier: 118. 26 Webseite: Feministische Kunstintervention. Öffentliche Veranstaltungsreihe, Universität Salzburg 2013,
http://www.w-k.sbg.ac.at/de/zeitgenoessische-kunst-und-
kulturproduktion/symposien/kuenstlerische-interventionen-i.html (19.06.2015). 27 Z.B. Nadine George-Graves: Urban Bush Women. Twenty Years of African American Dance Theater, Community Engagement, and Working It Out. Madison: University of Wisconsin Press 2010; Jacqueline Shea Murphy: »The People Have Never Stopped Dancing«: Native American Modern Dance Histories. Minneapolis: University of Minnesota Press 2007. 28 Lauré al-Samarai 2009 (Anm. 25), 121.
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Künstlerin of Color in Düsseldorf, Berlin und Paris, aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Kunstsparten, das Konzipieren von Kostümen, das Choreographieren von transkulturellen Solo-Stücken mit minimalistischer Dramaturgie und ausdrucksvollen Bewegungen, überhaupt die Wahl von Kunst als Ausdrucksmittel, um gesellschaftliche Themen darzustellen und politisches Bewusstsein zu fördern.29 Oxana Chi sucht sowohl nach neuen Bewegungen als auch nach neuen Quellen, insbesondere solchen, die subjektive Positionen und autobiographische Stimmen wiedergeben, wie zum Beispiel einen Presseartikel von Lou StrausErnst, die wie Tatjana Barbakoff 1933 nach Paris flüchtete, kurz in Gurs interniert wurde, sich in Südfrankreich versteckte und 1944 von dort aus nach Auschwitz deportiert wurde.30 Oxana Chi positioniert sich selbst als PoC und erklärt, dass sie sich mit der hegemonialen Tanzgeschichte nicht identifizieren konnte, bis sie eine »›Seelenverwandtschaft‹« mit Tatjana Barbakoff spürte, als sie 2007 den vom August-Macke-Haus herausgegebenen Katalog Tatjana Barbakoff (1899-1944) – Tänzerin und Muse31 entdeckte. Oxana Chi beschreibt ihren Bezug zur deutschen Geschichtsschreibung wie folgt: »Es war mir wichtig, immer weiter zu forschen und zu sehen: Wie funktioniert Geschichte in Deutschland? Wer erzählt Geschichte? Wie, wann und wo wird Geschichte erzählt? Was mir aufgefallen ist, und mir aber auch schon früher aufgefallen ist, dass auch in der Tanzgeschichte es immer nur bestimmte Personen gibt, Menschen, mit denen ich mich aber nicht identifizieren kann. Mit dieser Arbeit zu ›Durch Gärten‹ konnte ich mich zum ersten Mal mit einer Figur identifizieren, nämlich mit Tatjana Barbakoff. Und Tatjana Barbakoff hat mich auch immer mehr dazu gebracht zu hinterfragen: ›Wer eigentlich hier in Deutschland, wer eigentlich in Europa, wer eigentlich in der Welt Geschichte schreibt oder schreiben darf?‹ Und dann wurde mir klar, dass es ganz wichtig ist, für zeitgenössische Künstlerinnen wie mich, Geschichte selbst zu schreiben. Und wenn ich nicht die Mittel habe, ein Buch zu schreiben, dann muss ich mich auf die Bühne stellen und muss sie dort vertanzen, die Geschichte.«32
29 Oxana Chi: Durch Gärten. In: Chi 2011 (Anm. 14), 4-7, hier: 5. 30 Lou Straus-Ernst: Bei Tatjana Barbakoff. In: Die Weltwoche, Zürich, 25.05.1934. In: Chi 2011 (Anm. 14), 16-17. 31 Tatjana Barbakoff: Tänzerin und Muse. Ausstellungsdauer: 1.12.2002 - 23.02.2003. Hg. v. Klara Drenker-Nagels/Hildegard Reinhardt. Bonn: Verein August-Macke-Haus 2002. 32 Chi 2013 (Anm. 1).
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Leider leidet die Rezeption von Tanzkunst in westlichen Diskursen an Stereotypen über Gender und Körper, die die Autorin Karolina Walkowicz auf den Einfluss eines patriarchalischen monotheistischen Religionserbes zurückführt. Ihre Analyse der Cloud Gate Theatre Dance Company (Taiwan) gilt auch für Oxana Chis Kunst, die ebenfalls Kampfkünste und Bühnentanz vermischt: »Die Kampfkunsttänzerin [...] ist ihr eigenes Subjekt und sie ist zugleich ihr eigener Körper. Mithilfe ihrer spezifischen Konzentration lenkt sie den Fokus der Zuschauer[_innen, L. Z.] auf die Bewegung als solche und erschafft dadurch eine Alternative zur abendländischen Auffassung der ›Tänzerin‹.«33
Abbildung 3: Oxana Chi: ›Kampf‹ in Durch Gärten. Berlin 2008. Foto: Annette Hauschild
33 Karolina Walkowicz: Die Kampfkunst-Tänzerin. Der Gender-Diskurs im interkulturellen Vergleich des Tanzes. Marburg: Tectum 2010, 149.
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Die Medialität der Performance ist nahezu direkt, weder Buch noch Bildschirm noch Leinwand stehen zwischen dem Publikum und der Performerin. Ein_e Zuschauer_in erlebt die Aufführung in der jeweils gegenwärtigen Zeit-Raum Ebene, welche aber im Fall von Durch Gärten zeitgleich mehrere vergangene zeitliche und räumliche Narrative umfasst. Somit wird die für westliche Wissenschaft klassische Linearität des Geschehens gesprengt und je nach Zuschauer_in mit unterschiedlichen Auffassungen interpretiert. Dies geschieht auch je nach Verfassung der Zuschauer_innen. Der wiederholte Besuch mancher Zuschauer_innen zeigt, dass Chis Tanz berührt. Gerade im Hinblick auf die Tradierung von Wissen erscheint es somit notwendig, Tanzkunst in Theorie und Praxis mit einzubeziehen und ihr Potenzial für eine alternative gegenwartsrelevante Geschichtsschreibung zu berücksichtigen.
AUSKLANG : R ESIS T ANZ 34 Oxana Chis Tanzkunst wirkt als empowernde queere ResisTanz, wenn queer nicht (nur) in Bezug auf sexuelle Identität verstanden wird, sondern auch mit Omise’eke als »a praxis of resistance [...] marking disruption to the violence of normative order«.35 Dieser Widerstand geschieht auf vier Ebenen, die ich hier nur ansatzweise skizzieren konnte: o Themenauswahl (in diesem Fall Frauen*(auto)biographien); o Erzählung (hier wird Vergangenheit vergegenwärtigt, entgegen der Lineari-
tät, die klassische westliche geschichtliche Narrative oft auszeichnet); o choreographische Absicht (zum Beispiel die oben erwähnte Kampfszene in
Durch Gärten);
34 Das Wort ist meine eigene Erfindung. Für eine Analyse von Tanz als Widerstand siehe Ananya Chatterjea: Chandralekha. Negotiating the Female Body and Movement in Cultural/Political Signification. In: Ann Dils/Ann Cooper Albright (Hg.): Moving History / Dancing Cultures. A Dance History Reader. Durham: Wesleyan University Press 2001, 439-454. 35 Natasha Tinsley Omise’eke: Black Atlantic, Queer Atlantic: Queer Imaginings of the Middle Passage. In: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies 14 (2008), 2-3, 191215, hier: 199.
B IOGRAPHISCHE E RINNERUNG
AN
TATJANA B ARBAKOFF
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o Bewegungssprache (Chis selbstkreierte Tanzsprache, die mehrere Tanzstile
verschmilzt). Oxana Chi bereichert die Tradierung von Genderwissen um Tatjana Barbakoff. Dies wiederum ermöglicht mir, Tatjana Barbakoff als queer-feministische Figur der Tanz_Kunst zu lesen. So wie Chi die vielschichtige Ge_schichte der Entstehung von Durch Gärten mit persönlichen Essays, E-mails und Fotos in ihrer Broschüre Tanzende Erinnerungen erzählt, so ist auch ihr Tanz eine künstlerische Collage, die viele Sinnesebenen anspricht, um hegemoniale Geschichtsschreibung zu dekonstruieren und dem Publikum die Möglichkeit zu bieten, neue Geschichte_n zu rekonstruieren, in denen Tatjana Barbakoff und viele andere Menschen sichtbar gemacht und gehalten werden. Sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft können feministische Interventionen Bewusstsein für Gender und andere gesellschaftliche Probleme anregen. Oxana Chi geht noch einen Schritt weiter, indem sie uns dazu einlädt, Kunst und Wissenschaft nicht mehr getrennt voneinander zu denken. In Durch Gärten wird sichtbar, dass Tanzkunst auch Ge_schichte schreiben und Wissen schaffen kann.
Autor_innen und Herausgeberinnen
Benedikt Brunner ist Historiker und promoviert über Die Ordnung der Kirche. Eine Geschichte der »Volkskirche« im deutschen Protestantismus, 1918-1989/90 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kontakt: [email protected] Maria Bühner hat Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und der University of East London studiert. Sie promoviert an der Universität Leipzig zum Wandel lesbischer Lebenswelten in Ostdeutschland von den 1970er bis in die 1990er Jahre. Kontakt: [email protected] Eleonore De Felip, promovierte Germanistin und Klassische Philologin, Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin mit den Arbeitsschwerpunkten zeitgenössische Lyrik und zeitgenössische österreichische Literatur. Senior Scientist am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Kontakt: [email protected] Maria Heidegger ist promovierte Historikerin mit Schwerpunkt Psychiatrieund Medizingeschichte, Inhaberin einer Erika-Cremer Habilitationsstelle an der Universität Innsbruck und Mitglied der Forschungsgruppe Auto_Biographie – De_Rekonstruktionen an der Universität Innsbruck. Kontakt: [email protected]
278 | SICHTBAR UNSICHTBAR
Gabriele Jancke ist Privatdozentin für Neuere Geschichte am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin und war Gastwissenschaftlerin an den Universitäten Wien und Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive und Frauenklöster. Kontakt: [email protected] Nina Kogler arbeitet als Gymnasiallehrerin für Latein und Katholische Religion. Sie ist promovierte Kirchenhistorikerin mit den Schwerpunkten Geschlecht & Religion sowie GeschlechterGeschichte der Katholischen Aktion im Austrofaschismus und assoziiertes Mitglied der Forschungsgruppe Auto_Biographie – De_Rekonstruktionen an der Universität Innsbruck. Kontakt: [email protected] Elisa Leonzio ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Institut für Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie freie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literatur an der Università degli Studi di Torino. Kontakt: [email protected] Verena Mermer, geb. Stross, Literaturwissenschaftlerin und Autorin, war 20112014 OeAD-Auslandslektorin an der Babeş-Bolyai-Universität Cluj/Klausenburg. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Kontakt: [email protected] Myriam Naumann, Kulturwissenschaftlerin, promoviert zu Subjektivierungen im Archiv des »Ministeriums für Staatsicherheit« der ehemaligen DDR nach 1989 und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Kontakt: [email protected] Anita Runge, promovierte Literaturwissenschaftlerin, arbeitet in der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung der Freien Universität Berlin und ist Mitherausgeberin von Querelles. Jahrbuch für Frauenund Geschlechterforschung. Sie sichert als Herausgeberin der Reihe Frühe Frauenliteratur in Deutschland wichtige Texte deutschsprachiger Schriftstellerinnen des 18. Jahrhunderts. Kontakt: [email protected]
A UTOR _I NNEN UND H ERAUSGEBER _I NNEN
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Stefanie Schäfer-Bossert, evangelische Pfarrerin i. R., frühinvalidisiert, forschte im Forschungsprojekt Hedwig Jahnow – Feministische Forschung zu Exegese und Hermeneutik im Fachgebiet Altes Testament der Philipps-Universität Marburg und arbeitet u.a. zu Frauengeschichte, Körperlichkeit, Geschlechterforschung, Populär/Kultur, Alter und ›Behinderung‹. Kontakt: [email protected] Hans Jörg Schmidt, promovierter Kultur- und Sozialwissenschaftler, ist Geschäftsführer des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg und Mitherausgeber der Ausgewählten Werke John Stuart Mills in fünf Bänden im Murmann Verlag. Kontakt: [email protected] Mathilde Schmitt, promovierte Agrar- und Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Rurale Frauen- und Geschlechterforschung, ist Mitglied des Netzwerks Geschlechterforschung und der Forschungsgruppe Auto_Biographie – De_Rekonstruktionen an der Universität Innsbruck. Kontakt: [email protected] Ursula A. Schneider, promovierte Literaturwissenschaftlerin, arbeitet am Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Universität Innsbruck. Sie ist Sprecherin der Forschungsgruppe Auto_Biographie – De_Rekonstruktionen an der Universität Innsbruck. Kontakt: [email protected] Annette Steinsiek, promovierte Literaturwissenschaftlerin, arbeitet am Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert, zu Überlieferungsgeschichte, Quellenkritik in der Literaturwissenschaft, Editionsphilologie und Biographieforschung. Kontakt: [email protected] Bianca Sukrow, geb. Lenertz, hat mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über psychiatrische und neurowissenschaftliche Falldarstellungen promoviert und ist in systemischer Therapie ausgebildet. Sie arbeitet als Publizistin, Lektorin und Coach mit den Schwerpunkten Narratologie, Metapherntheorie, Literatur um 1900 und Gegenwartsliteratur. Kontakt: [email protected]
280 | SICHTBAR UNSICHTBAR
Sabine Veits-Falk ist promovierte Historikerin am Stadtarchiv Salzburg, Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg und der Pädagogischen Hochschule Salzburg und assoziiertes Mitglied der Forschungsgruppe Auto_Biographie – De_Rekonstruktionen an der Universität Innsbruck. Kontakt: [email protected] Anne-Dorothee Warmuth promoviert nach Studien der Germanistik, Sozial-, Erziehungs- und Literaturwissenschaften zu Vaterschaft und Männlichkeit in der (Gegenwarts-)Literatur und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Geschlechterstudien/Gender Studies der Universität Paderborn. Kontakt: [email protected] Saskia Wiedner, promovierte Romanistin, ist derzeit am Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg sowie im interdisziplinären Masterstudiengang »Ethik der Textkulturen« des Elitenetzwerks Bayern (ENB) tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. der französische Existentialismus, der französische Roman im 20. Jahrhundert und Autobiographieforschung. Kontakt: [email protected] Ulrike Witten ist promovierte Gymnasiallehrerin für Evangelische Religion und Geschichte und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit den Schwerpunkten Diakonisch-soziales Lernen, Kirchengeschichtsdidaktik und Inklusive Religionspädagogik. Kontakt: [email protected] Layla Zami, diplomierte Politologin, promoviert in Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin (Stipendium der ELES Begabtenförderung). Sie ist künstlerisch in den Bereichen Musik, Foto-, Wort- und Filmkunst tätig. Kontakt: [email protected]
Personenregister
Absalon, Kurt 169 Albert, Eduard 89 Allégret, Marc 200 Altmann, Gerhard 169, 171-173, 175-177 Arendt, Hannah 34-35 Aristoteles 141, 197, 215 Arlt, Ferdinand von 99 Auga, Ulrike 17, 108 Bachmann, Ingeborg 171 Bara, Charlotte 269 Barbakoff, Tatjana 20, 261-275 Barthes, Roland 216 Bäumer, Gertrud 86 Bayer, Anna 87, 98 Beauvoir, Simone de 19, 195-196, 203-205 Benjamin, Harry 257 Bergen, Doris L. 114 Beste, Wilhelm 43-48 Bhabha, Homi K. 226 Bickford, Andrew 125 Biermann, Wolf 121 Bisinger, Gerald 166-169 Blaeulich, Max 169, 171-173, 175-177 Bleuler, Eugen 186 Bluhm, Agnes 94-95 Bora, Katharina von 15, 37-50
Bourdieu, Pierre 72, 233, 239, 242 Bovenschen, Silvia 25 Bran, Mary 269 Breicha, Otto 168-169, 171-172, 177 Brentano, Clemens 25 Brentano-Mereau, Sophie, s. Mereau, Sophie Brückner, Christine 39 Brunner, Benedikt 16, 17, 103-117, 277 Bub, Katrin 246 Bühner, Maria 20, 243-259, 277 Bülow, Cosima von, s. Wagner, Cosima Bürger, Jan 236 Buschmeyer, Anna 232 Bush, George 139 Bush, George W. 139 Butler, Judith 26-27, 108 Cardinal, Marie 202 Carlyle, Thomas 68 Castro Varela, María do Mar 264 Chi, Oxana 20, 261-275 Cochlaeus, Johannes 39 Connell, Raewynn 126, 230, 233, 242 Connell, Robert W., s. Connell, Raewynn
282 | SICHTBAR UNSICHTBAR
Cooper, Belinda 125 Cooper-Albright, Ann 263 Crabb, Cindy 249-253 Czarnecka, Mirosława 184 Dahm, Helen 268 De Felip, Eleonore 19, 213-228, 277 Dehn, Günther 116 De Man, Paul 123 Demuth, Helene 208 Depkat, Volker 106-107 Descartes, Réné 54 Dhawan, Nikita 264 Dibelius, Otto 103-104, 111-112 Diehl, Guida 111, 114-116 Diem, Annelise 113-114 Diem, Hermann 112-114 Dietzsch, Ina 130 Dietze, Gabriele 24, 26-27 Dix, Otto 268 Dixon-Gottschild, Brenda 263, 265 Dölling, Irene 13, 72, 157, 216-217, 227 Drenker-Nagels, Klara 268 Dührkopp, Minya 268 Dumont, Louise 269 Dürr, Renate 105-106 Ehrmann, Marianne 56 Eichmann, Adolf 114 Eisenschitz, Siddy 87 Eliacheff, Caroline 200-201 El-Tayeb, Fatima 271 Engel, Antke 246 Engelhard, Eusebius, s. Kuen, Michael Engels, Friedrich 208 Erasmus von Rotterdam 45 Erhart, Walter 233, 236 Erlenberger, Maria 18, 179-194
Essig, Rolf-Bernhard 236 Farragi, Elda 200 Fecht, Friederike 183-186 Fischer-Dückelmann, Anna 87, 96 Flaig, Waldemar 268 Fleig, Anne 24, 27, 33-34 Foucault, Michel 128, 198 Foster, Susan 263 Frantz, Johann Georg Friedrich 61-62 Franz Josef I. von Österreich 99 Freud, Sigmund 78 Fuchs, Emil 116 Gari, Blanca 54 George-Graves, Nadine 263 Gilligan, Carol 151 Giroud, Françoise 18-19, 195-212 Godwin, Parke 72 Goebbels, Günter 268-269 Goethe, Johann Wolfgang (von) 25, 31 Gogarten, Friedrich 114 Göring, Hermann 115 Gombault, Charles 202 Gompertz, Theodor 78 Gourdij, France, s. Giroud, Françoise Gourdij, Salih 200 Gramzow, Christoph 162 Gropius, Alma, s. Mahler-Werfel, Alma Gropius, Walter 207 Gruber, Heinrich 113 Grünbein, Durs 234, 240 Habermas, Jürgen 198 Hakel, Hermann 166 Hall, Stuart 243 Hamburger, Käte 23 Handke, Peter 234, 241
P ERSONENREGISTER
Hanisch, Helmut 162 Haraway, Bill 147 Haraway, Donna 17, 133-150 Haraway, Frank 135-136, 144-148 Haraway, Rick 136, 147 Härtling, Peter 169 Haug, Frigga 135 Hearn, Jeff 124 Heidegger, Maria 9-10, 11-20, 277 Heinrich, Jutta 183 Heinritz, Charlotte 105 Hess, Carry 268 Hess, Nina 268 Hilbig, Wolfgang 240 Hildegard von Bingen 53, 56 Hill Collins, Patricia 265 Himmler, Heinrich 115 Hindenburg, Paul von 103 Hirsch, Jenny 80 Hirss, Otto 173-177 Hitler, Adolf 103, 115 Hooks, Bell 265 Hoppe-Graff, Siegfried 162 Hornscheidt, Lann 262 Hösch, Hannelore 126-127 Hruschka, Ella 95 Huch, Ricarda 23 Hugonay, Vilma 87, 92, 95, 99 Hundegger, Barbara 19, 213-228 Hypathia von Alexandria 56 Ingrisch, Doris 265 Jäger, Margarete 129 Jancke, Gabriele 15, 37-50, 278 Jelinek, Elfriede 222 Jesus von Nazareth 136, 142 Jian, Zang 25 Johnson, Uwe 121 Jungmann, Emma 269 Jungmann, Gertrude 269
| 283
Karger, Wilhelmine 172 Katharina von Alexandrien 41 Keck, Bohuslava 87, 98-99 Keitel, Evelyne 181, 183, 185, 187 Kelly, Natasha A. 262-263 Kemp, Alix 249, 254-258 Kerschbaumer, Friedrich 99 Kerschbaumer, Rosa 87, 92, 99 Khuen, Michael, s. Kuen, Michael Kilomba, Grada 265 Kleinberg, Ethan 108 Kogler, Nina 9-10, 11-20, 278 Kokoschka, Oskar 206-207 Kräftner, Hertha 18, 165-177 Krajewska, Theodora 87, 91, 95-96, 98 Kramer, Sabine 39, 47-49 Krieger, Hans 184 Kuen, Michael 40-44, 48 Kuhlemann, Frank-Michael 109 Lamache, Stephanie 201 Lange, Helene 86 La Roche, Sophie von 56-60 Lauré al-Samaraí, Nicola 271 Lavant, Christine 171 Lazareff, Hélène 200, 204 Leonzio, Elisa 15, 51-66, 278 Lilje, Hans 111-112, 114 Lockward, Alanna 268 Longuet-Marx, Jenny 210 Lühe, Irmela von der 34 Luther, Martin 15, 38-42, 44-48 Maguire, Dorothy 136 Mahler, Alma, s. Mahler-Werfel, Alma Mahler, Gustav 206-209 Mahler-Werfel, Alma 18-19, 199, 203-209 Maichel, Daniel 41
284 | SICHTBAR UNSICHTBAR
Malraux, Florence 200 Mama, Amina 265 Manthey, Jürgen 182 Marquié, Hélène 263, 266 Martschukat, Jürgen 231 Marx, Eleanor (Tussy) 209 Marx, Jenny 18-19, 199, 203-206, 208-210 Marx, Karl 208-210 Maywald, Willy 268 Mereau, Sophie 25 Mermer, Verena 18, 165-177, 278 Meuser, Michael 230-233 Mill, John Stuart 16, 67-83 Moritz, Karl Philipp 63-65 Narayan, Uma 265 Naubert, Benedikte 32-33 Naumann, Myriam 17, 119-132, 278 Neuländer-Simon, Else, s. Yva Neuwirth, Barbara 169, 171, 177 Niemöller, Wilhelm 112 Okopenko, Andreas 168-169, 171-172, 177 Oloff, Aline 35 Omise’eke, Natasha Tinsley 274 Opitz, Claudia 28 Ortheil, Hanns-Josef 234, 236, 238-241 Osinski, Jutta 182, 184 Overbeck, Gerd 181-182 Petersdorff, Dirk von 229, 234, 236 Pietrzuch, Konrad 103 Platner, Ernst 59-60 Platon 55 Polt-Heinzl, Evelyne 167 Possanner von Ehrenthal, Gabriele 87, 91, 95, 99-100 Pott, Sandra 52
Poullain de la Barre, François 54-55 Prita-Vucetich, Marie, s. VucetichPrita, Marie Rancière, Jacques 196-199, 211 Reinhardt, Hildegard 268 Reiske, Ernestine Christiane 63-64 Rilke, Rainer Maria 177 Riot Grrrls 247 Rohlfs, Christian 268 Rohlfs, Helene 268 Roots, Jerry 53 Roth, Georgine von 87, 91 Roth, Philip 222 Rothberg, Michael 271 Rousseau, Jean Jacques 31 Rubinstein, Susanna 87 Runge, Anita 14-15, 21-35, 278 Saint-André, Alix de 196, 200-202 Salatzki, Kurt 125-126 Samsonow, Elisabeth von 145-146 Sartre, Jean-Paul 203 Schabert, Ina 28 Schädlich, Hans Joachim 17, 120-124, 126-129, 131-132 Schädlich, Karlheinz 120, 123, 125, 127-129 Schädlich, Krista Maria 120-124, 126-129, 131-132 Schädlich, Susanne 17, 119-132 Schäfer-Bossert, Stefanie 17, 133-150, 279 Schiller, Friedrich 25, 31 Schindler, Alma, s. Mahler-Werfel, Alma Schindler, Anna 209 Schindler, Emil Jakob 207 Schlegel, August Wilhelm 199 Schmid, Wolf 215
P ERSONENREGISTER
Schmidjell, Christine 168-169 Schmidt, Hans Jörg 16, 67-83, 279 Schmidt-Dengler, Wendelin 168 Schmitt, Mathilde 9-10, 11-20, 279 Schneider, Ursula A. 9-10, 11-20, 279 Schnurbein, Stefanie von 235 Scholz, Sylka 230, 232-233 Seidel, Thomas A. 104, 111, 116 Servan-Schreiber, Jean-Jacques 200-202, 210-211 Smith, Sidonie 247 Sokrates 55 Spalding, Johann Joachim 64 Stadler, Gabriele 87 Stefan, Verena 183 Stein, Leni 269 Steinlechner, Gisela 167 Steinsiek, Annette 9-10, 11-20, 279 Stepina, Clemens K. 167 Stieglitz, Olaf 231 Straus-Ernst, Lou 272 Stross, Verena, s. Mermer, Verena Sukrow, Bianca 18, 179-194, 279 Suslowa, Nadeschda 92 Susman, Margarete 23 Szadurska, Kasia von 268 Taylor, Harriet 16, 67-83 Taylor, Helen 73-74, 80-83 Taylor, John 68 Taylor Mill, Harriet, s. Taylor, Harriet Tholen, Toni 233 Tichy, Marina 100 Tiling, Magdalene von 114 Tiwald, Katharina 167 Touaillon, Christine 23 Trillhaas, Wolfgang 112-113, 117 Truth, Sojourner 137
| 285
Tschawoff-Schwiglin, Milica 87, 99 Unger, Günter 171 Unzer, Johann August 60 Varnhagen von Ense, Rahel 34-35 Veits-Falk, Sabine 16, 85-101, 280 Vesper, Guntram 183 Victoria I. von England 78 Vismann, Cornelia 121 Vucetich-Prita, Marie 87, 91, 99 Wagner, Cosima 18, 19, 199, 203-206, 209 Wagner, David 234-235, 238 Wagner, Richard 206, 209 Walch, Christian Wilhelm Franz 44 Walkowicz, Karolina 273 Walther, Joachim 127 Warmuth, Anne-Dorothee 19, 229-242, 280 Watson, Julia 247 Weber, Marianne 16, 85-101 Weber, Max 85 Weigel, Hans 166, 169 Weininger, Otto 206, 208 Welt, Leonore 87, 98 Welt-Kakels, Leonore, s. Welt, Leonore Welt-Strauss, Rosa 87, 98 Wendland, Heinz-Dietrich 112 Werfel, Alma, s. Mahler-Werfel, Alma Westphalen, Johanna von (Jenny), s. Marx, Jenny Wetterer, Angelika 13, 217 Wichern, Johann Hinrich 115 Wiedner, Saskia 18-19, 195-212, 280 Wieselberg, Lukas 226 Will [Pseud.] 143
286 | SICHTBAR UNSICHTBAR
Winko, Simone 218 Winter, Riki 182-184 Witten, Ulrike 18, 151-165, 280 Wolff, Luise 269 Wollheim, Gert 269 Wright, Michelle 271 Yva 268 Zami, Layla 20, 261-275, 280 Zuckerkandl, Bertha 208
Gender Studies Sabine Hark, Paula-Irene Villa (Hg.) Anti-Genderismus Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen Oktober 2015, 264 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-3144-9
Yvonne Franke, Kati Mozygemba, Kathleen Pöge, Bettina Ritter, Dagmar Venohr (Hg.) Feminismen heute Positionen in Theorie und Praxis 2014, 408 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2673-5
Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari (Hg.) ›Gender-Medizin‹ Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin (unter Mitarbeit von Tobias Fischer) 2014, 212 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2131-0
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2012, 226 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2266-9
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Sarah Dangendorf Kleine Mädchen und High Heels Über die visuelle Sexualisierung frühadoleszenter Mädchen
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Hyunseon Lee, Isabel Maurer Queipo (Hg.) Mörderinnen Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen 2013, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2358-1
Elke Kleinau, Dirk Schulz, Susanne Völker (Hg.) Gender in Bewegung Aktuelle Spannungsfelder der Gender und Queer Studies 2013, 358 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2269-0
2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2169-3
Stefan Paulus Das Geschlechterregime Eine intersektionale Dispositivanalyse von Work-Life-Balance-Maßnahmen 2012, 472 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2208-9
Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit 2012, 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2
Udo Gerheim Die Produktion des Freiers Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie 2012, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1758-0
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