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German Pages 380 Year 2019
Jens Beckmann Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«
Histoire | Band 148
Jens Beckmann, geb. 1982, studierte Politikwissenschaft und Neuere/Neueste Geschichte in Marburg. Am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam schrieb er seine Doktorarbeit zu LIP in einem Projekt über selbstverwaltete Industrieunternehmen. Er forscht zu französischer und deutscher Wirtschaftsund Sozialgeschichte.
Jens Beckmann
Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté« Arbeitskampf und Unternehmensentwicklung bei LIP in Besançon 1973-1987
Gedruckt mithilfe von Geldern der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Diese Arbeit ist die Veröffentlichung einer an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam in einer mündlichen Prüfung am 28. Juni 2017 abgeschlossenen Dissertation. Erstgutachter: Prof. Dr. André Steiner Zweitgutachterin: Prof. Dr. Gabriele Metzler
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© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Bernard Faille, August 1973, Archives Municipales de Besançon Ph49173 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4581-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4581-5 https://doi.org/10.14361/9783839445815 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 7 1. LIP 1973 – ein Selbstverwaltungskonflikt? | 39
1.1 Das Unternehmen am Vorabend des Ereignisses | 42 1.2 LIP 1973 – ein Selbstverwaltungskonflikt? | 60 1.3 Wirkung und Wahrnehmung | 99 2. Die Krise eines Unternehmens – Interessen und Deutungen | 109
2.1 Die Unternehmensstrategie von Ébauches – eine von der Schweiz kontrollierte europäische Uhrenindustrie | 113 2.2 „Progressive“ Unternehmer und ihre Pläne für LIP: Claude Neuschwander und die französischen Aktionäre | 123 2.3 LIP und die Uhrenbranche – von Partnern zu Konkurrenten | 132 2.4 „Sie haben Lip hingerichtet“? Das Ende für LIP 1975/76 | 138 2.5 Fazit | 143 3. Arbeiten und Leben, 1974-1976 | 147
3.1 Zurück in den Betrieb, zurück in die Schule? | 149 3.2 Weiterarbeiten, Weiterkämpfen | 160 3.3 Der Gegner zeigt sein Gesicht – Die Arbeitslosigkeit | 169 4. Technikvisionen und Gegenentwürfe – Produkte einer umkämpften Fabrik | 179
4.1 Quarz und Design als Zukunftsversprechen | 181 4.2 LIP-Ingenieure im Herzen der regionalen Orientierung: Mikro- und Medizintechnik | 190 4.3 Gegenentwürfe? Produkte der Betriebsbesetzung | 195 4.4 Grenzen der Kritik: Die Rüstungsproduktion | 205 4.5 Fazit | 212
5. Vom besetzten Gelände zur Gründung von Genossenschaften | 215
5.1 Die Dynamik einer Betriebsbesetzung | 217 5.2 LIP und CFDT zwischen Basiskoordination und Expertenpolitik | 228 5.3 Basisdemokratie mit nichtgewählten Gremien: Entscheidung zur Genossenschaftsgründung | 234 5.4 Unternehmenspläne als enger werdender Rahmen | 251 6. Die Genossenschaften – Betriebe wie alle anderen? | 261
6.1 Zwei Wege in den Zulieferbetrieb: L.I.P. und CAP | 264 6.2 Gewerkschaftsarbeit: Geschäftsführung und Opposition bei L.I.P. | 292 6.3 Unternehmensberatung und Jobrettung: SCEIP und LIPEMEC | 303 7. Arbeiten und Leben, 1981-1987 | 309
7.1 Lernen und berufliche Entwicklung im Genossenschaftsbetrieb | 310 7.2 Umgang mit der Arbeitslosigkeit: Zwischen Frühverrentungen, Beschäftigungsmaßnahmen und beruflicher Neuorientierung | 321 Fazit | 329 Dank | 347 Anhang | 349
Abkürzungen | 349 Tabellen | 352 Quellen | 354 Literatur | 359
Einleitung
F RAGESTELLUNG : S ELBSTVERWALTUNG
IM I NDUSTRIEBETRIEB
„On fabrique, on vend, on se paie!“ Das Motto auf dem Transparent am Zaun der Uhrenfabrik LIP hallte öffentlich nach. Als Reaktion auf die angekündigte Konkursanmeldung hielten die meisten der 1.300 Beschäftigten ihren Betrieb in Besançon ab dem 12. Juni 1973 besetzt. Wenige Tage später beschlossen sie auf einer Vollversammlung, als Mittel ihres Arbeitskampfs Armbanduhren zu produzieren und sich aus deren Verkauf die eigenen Löhne auszuzahlen. Ihr Kampf um Arbeitsplätze wurde schnell zum europaweit ausstrahlenden „Selbstverwaltungskonflikt“. Mit der Öffnung der Fabrik nach außen, der Thematisierung von Arbeitsbedingungen und mit Diskussionen um Gleichberechtigung, Rüstungspolitik u.v.m. wurde LIP zu einem emblematischen Arbeitskampf der 1968er Jahre. Sich mit der Fabrik LIP zu beschäftigen, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, ihren Beschäftigten und nicht zuletzt deren berühmt gewordenem Arbeitskampf, heißt also, ein zumindest in Frankreich häufig gewähltes Beispiel abermals zu untersuchen. Dieses steht je nach der eingenommenen Perspektive für „Selbstverwaltung“, für einen erfolgreichen Streik oder für dessen spätere Vereitelung durch Staat und Kapital, für eine lästige Affäre oder den Beginn des Endes der „goldenen dreißig Jahre“ der Nachkriegszeit. Die meisten der Analysen konzentrieren sich auf den Moment des Arbeitskampfs von 1973. Dabei verweist schon die Vielzahl der Interpretationen darauf, dass dem Ereignis längerfristige gesellschaftliche Veränderungen zugrunde lagen. Diese betrafen die Fabrikarbeit ebenso wie Fragen von Macht und Demokratie im Betrieb, die spätestens seit 1968 gesellschaftlich umkämpft waren. Es lohnt sich deshalb, den kurzen Zeithorizont von 1973 zu überschreiten. Zunächst soll jedoch der Guide du Routard, Frankreichs gebräuchlichster Reiseführer, verdeutlichen, wie der Arbeitskampf bei LIP heute noch Touristen beigebracht wird:
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„Im Jahr 1973 macht sich die Vorzeigemarke der französischen Uhrenindustrie – Lip hat zum Beispiel 1957 die erste elektrische Uhr erfunden –, durch die Ankunft der Quarzuhr in Nöten, daran, mehr als ein Drittel ihrer Belegschaft zu entlassen. Der kleine gewerkschaftliche Konflikt wird die erste französische Erfahrung des Selbstverwaltungssozialismus werden. Die gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen – rechtschaffene Mütter (braves mères) in weißen Kitteln – erobern einen Uhrenvorrat und schreiten in einem Hin und Her mit der Einsatzpolizei (CRS) zu wilden Verkäufen. Drei Tage später geht Besançon auf die Straße, der Bürgermeister und der Erzbischof voran, um ihre Unterstützung zu demonstrieren. Pierre Messmer, der Premierminister, kann noch so sehr betonen „Lip, das ist vorbei!“; jene, die man seitdem „die Lips“ nennt, nehmen die Produktion ohne Chef unter dem Slogan auf: „On fabrique, on vend, on se paye“. Seit 1920 war ein solches Vorgehen erprobt, als die streikenden Spengler der Franche-Comté selber ihre gemeinsame Bezahlung und Produktion organisierten... Im September vereint ein Demonstrationszug 100.000 Personen jenes „Peuple de Gauche“, für das Lip von nun an mit dem Larzac zur Pflichtveranstaltung wird. Eine Subvention von 15 Mio. Francs und ein neuer 'fortschrittlicher' Geschäftsführer bieten dem Unternehmen einen Aufschub von drei Jahren bis zu seiner Liquidierung im September 1977. Die Selbstverwaltung (autogestion) nach Art der PSU hatte sich überlebt.“1
Dieser Absatz enthält in großer Dichte all jene Aspekte des Arbeitskampfs bei LIP, die für eine verschmitzt-heroische Erzählung taugen; an dieser sollen sich Menschen mit persönlichen Erinnerungen an die 1970er Jahre ebenso erfreuen wie jüngere Besucher der Stadt. Die Erzählung wirft aber Fragen auf: Als Grund für die Krise des Unternehmens und die geplanten Entlassungen wird die Quarzuhr benannt. Warum soll diese entscheidend gewesen sein, wenn LIP doch technisch so avanciert war? Die soziale Zusammensetzung der für LIP Streitenden wird als große Einheit zwischen dem „Bürgermeister“, dem „Erzbischof“ und den „tapferen Müttern“ beschrieben. Diese scheuten sich demnach nicht, zur Durchsetzung ihrer Interessen gemeinsam den Rahmen des Gesetzlichen zu überschreiten. Ihre kollektive Identität sei so ausgeprägt gewesen, dass sie „die Lips“ genannt wurden. Waren die lokale Unterstützung und die Einheit im Betrieb wirklich so ungeteilt? Schließlich wird der Arbeitskampf bei LIP als „erste französische Erfahrung des Selbstverwaltungssozialismus“ bezeichnet und eine Verbindung zur PSU (Parti Socialiste Unifié) angedeutet, die sich diesen ins Parteiprogramm geschrieben hatte; ihr gehörten einige der prominentesten Gewerkschafter von LIP an. Jedoch betonten diese im Laufe der Ereignisse von 1973/74 wiederholt, es handle sich bei dem, was sie täten, keineswegs um „Selbstverwal-
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Le guide du routard: Franche-Comté 2008/2009, Paris 2008, S. 46f.
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tung“, sondern vielmehr um „Selbstverteidigung“.2 Sie kämpften nicht für eine Übernahme ihres Betriebs in Belegschaftshand, sondern für den Einstieg neuer Eigentümer und eine Kapitalausstattung der Aktiengesellschaft LIP, die deren Weiterbetrieb garantieren würden. Dies gelang schließlich unter staatlicher Vermittlung Ende Januar 1974. Als Aktionäre beteiligten sich neben dem bisherigen Mehrheitseigentümer, dem schweizerischen Uhren-Konzern Ébauches, mehrere französische Großunternehmer. Als LIP im Frühjahr 1976 wieder Konkurs anmeldete, besetzten die Beschäftigten den Betrieb im Stadtteil Palente ein zweites Mal. Zunächst hofften viele von ihnen auf eine abermalige Lösung nach dem Vorbild von 1973/74. Schon im Sommer 1976 begannen sie wieder zu produzieren, montierten aber zunächst keine Uhren. Erst im Herbst 1977, als sich noch immer kein Investor gefunden hatte, wurde die Genossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) von ihren Befürwortern als ein weiteres Mittel in der Auseinandersetzung um Arbeitsplätze präsentiert. Die Gründung dieser SCOP (Société Coopérative Ouvrière de Production) sollte demnach helfen, für sämtliche bei LIP entlassenen Personen im eigenen oder in anderen Betrieben Arbeitsplätze zu erstreiten. In den folgenden Jahren wurden noch weitere Genossenschaftsbetriebe von den ehemaligen LIPBeschäftigten gegründet. Während der Reiseführer erklärt, das „Zeitalter der Selbstverwaltung“3 nach Façon der PSU sei zu Ende gegangen, erfuhr der Begriff nun in den Genossenschaftsbetrieben eine praktische Konkretisierung. Diese ging mit einer Ernüchterung einher. Mit der Aufnahme des regulären Betriebs und schließlich dem Umzug von L.I.P. in eine andere Fabrikhalle im März 1981 kamen die übrigen Aktivitäten der Betriebsbesetzung an ihr Ende. Die Zahl der Beschäftigten war deutlich geringer als gehofft. Und an die Stelle der Aktivitäten der Betriebsbesetzung trat wieder die industrielle Arbeit. Im Folgenden wird untersucht, welche Erfahrungen die Beteiligten im Arbeitskampf und im Aufbau der Genossenschaftsbetriebe machten und wie diese den betrieblichen Alltag, die Entscheidungsstrukturen und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Betriebe prägten. Wodurch unterschied sich zunächst der besetzte Betrieb zwischen Juni 1973 und Januar 1974 sowie zwischen 1976 und 1981 vom Unternehmen vorher? Wie entwickelten sich schließlich die genossenschaftlichen Betriebe in Bezug auf ihre Markteinbindung, ihre Zielset-
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Vgl. beispielsweise im Est Républicain, 23. Juni 1973. Der Artikel trug den Titel: „Plus par autodéfense que par autogestion“.
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„L’âge de l’autogestion“ ist der Titel eines programmatischen Buchs zum Thema, das 1976 erschien: Rosanvallon, Pierre: L’âge de l’autogestion ou la politique au poste de commandement, Paris 1976.
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zungen und ökonomischen Entscheidungen, aber auch im Hinblick auf geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung und betriebliche Hierarchien? Welche Veränderungen wurden von den Beschäftigten selbst angestoßen, mit welchen reagierten sie auf äußere Zwänge? Und welche Rolle spielten hierbei externe Unterstützer – Gewerkschaften, Solidaritätsnetzwerke oder der Dachverband der französischen Produktionsgenossenschaften – sowie Mechanismen der staatlichen Wirtschaftsförderung und ökonomische Experten? Hiermit ist der Bogen zur „Selbstverwaltung nach Façon der PSU“ auf eine besondere Art gespannt. Der Diskurs um die Selbstverwaltung, der im Laufe der 1970er Jahre sukzessive die gesamte französische Linke erfasste, kam mit der 1981 angetretenen, sozialistisch geführten Regierung unter der Präsidentschaft 4 François Mitterrands weitgehend zum Erliegen. Er mündete aber in konkreten politischen Maßnahmen im Bereich der Wirtschaftsförderung und der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die auch die Nachfolgebetriebe von LIP betrafen. Da bereits 1973 zwei der ressourcenreichsten Unterstützer der LIPArbeiterinnen und -Arbeiter, der Gewerkschaftsverband CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail) und die PSU, den Arbeitskampf bei LIP mit ihrem jeweiligen Verständnis von Selbstverwaltung interpretierten, gilt es, diese Verbindungen zum Selbstverwaltungsdiskurs zu analysieren. Diese betreffen praktische Fragen: Was verstanden die jeweils Beteiligten zu den verschiedenen Zeitpunkten des Untersuchungszeitraums unter Selbstverwaltung? Wie wirkte sich dies in betrieblichen und überbetrieblichen Realitäten aus? Prägte dies neben den politischen Zielvorstellungen der Beteiligten auch ihre konkreten Formen des Eingreifens in die Auseinandersetzungen um den Betrieb? Hierbei geraten auch unerwartete Akteure in den Blick: Claude Neuschwander, in der Phase von 1974 bis 1976 Vorstandsvorsitzender von LIP, war vorher PSU-Mitglied gewesen. Die neuen französischen Aktionäre von LIP und der neue Vorstandsvorsitzende strebten neben der Erzielung von Gewinn auch eine neue Informationspolitik und eine veränderte Arbeitsorganisation an. Die Unternehmer reagierten hiermit erkennbar auf den Druck aus den französischen Betrieben, der sich nicht nur bei LIP äußerte. Wie sie den von den Beschäftigten gestellten Herausforderungen in Bezug auf die Gestaltung der Arbeit, Fragen kollektiver Interes-
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Vgl. Georgi, Frank: „Selbstverwaltung: Aufstieg und Niedergang einer politischen Utopie in Frankreich von den 1968er bis zu den 80er Jahren“, in: Gehrke, Bernd u. Rainer Horn (Hrsg.): 1968 und die Arbeiter –Studien zum proletarischen Mai 1968, S. 252-274; vgl. den Sammelband Georgi, Frank (Hrsg.): Autogestion – la dernière utopie?, Paris 2003.
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senvertretung und konkreter Informationsrechte begegnen sollten, war innerhalb der Unternehmerschaft umstritten. Es ist also davon auszugehen, dass der Selbstverwaltung in allen Phasen der Auseinandersetzung bei LIP eine wichtige Bedeutung zukommt. In dieser Annahme unterscheidet sich die Fragestellung dieser Arbeit klar von einer 1992 verfassten Diplomarbeit zu „La mémoire des Lip“. Die Historikerin Joëlle Beurier betonte darin die große Kluft zwischen der Außenwahrnehmung von LIP als einem erfolgreichen Selbstverwaltungskonflikt und der individuellen und kollektiven Erinnerung der LIP-Beschäftigten selbst, die wesentlich stärker von späteren Rückschlägen geprägt war. Den Begriff der Selbstverwaltung verwendeten die von Beurier interviewten Personen kaum.5 Dass es gegenüber einer solchen retrospektiven Betrachtung die damals bestehenden konkreten Verbindungen, Parallelen und Überschneidungen zwischen LIP und der Selbstverwaltung herauszuarbeiten gilt, hat kürzlich der Historiker Frank Georgi in einem Artikel angemerkt.6 Seine darin kursorisch hergestellten Bezüge zur politischen Konjunktur anhand von Literatur und den Beschlüssen von Parteitagen und Gewerkschaftskongressen gilt es in dieser Arbeit, durch die Untersuchung konkreter Einflussnahmen, Bedeutungsverschiebungen und Alltagserfahrungen bei LIP selbst zu überprüfen und zu vertiefen. Mit der Konjunktur der Selbstverwaltung ist eine weitere Dimension der Fragestellung angesprochen: Was verrät die Entwicklung bei LIP über die 1970er und 1980er Jahre, konkret über die Aushandlung von Informations- und Mitbestimmungsrechten am Arbeitsplatz, über Veränderungen der industriellen Arbeit und betrieblicher Hierarchien? Wie hat sich der Umgang mit Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit im Laufe der 1970er und 1980er Jahre verändert? Welchen Veränderungen unterlagen die beruflichen Qualifikationsanforderungen und Entwicklungsperspektiven von Frauen und Männern, konkret in der Uhrenbranche und der Region um Besançon, aber auch darüber hinaus? Die diesem Buch zugrunde liegende Doktorarbeit wurde im Rahmen des von Dr. Anne Sudrow am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) geleiteten Projekts „Moralische Ökonomie? Selbstverwaltete Industrieunternehmen
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Vgl. Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 1992. Diese beruhte auf 30 Interviews der Autorin mit ehemaligen LIP-Beschäftigten. In einem Artikel spitzte sie diese Dichotomie zwischen Innen- und Außenwahrnehmung nochmals zu: Beurier, Joëlle: „La mémoire Lip ou la fin du mythe autogestionnaire?“, in Georgi: Autogestion – la dernière utopie?, S. 451-466.
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Georgi, Frank: „Le moment LIP dans l’histoire de l’autogestion en France“, Semaine Sociale Lamy – Supplement 1631, S. 65-72.
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Westeuropas in den 1970er und 1980er Jahren“ verfasst. Neben dieser entstand dort auch eine Arbeit von Christiane Mende über die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth in Immenhausen bei Kassel ab 1970. Der Arbeit zu LIP liegt die mit den Kolleginnen geteilte Annahme zugrunde, dass die Untersuchung solcher von ihren Beschäftigten übernommenen Betriebe gerade aus einem Interesse für die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit heraus lohnenswert ist. Denn in den Selbstverwaltungsbetrieben der 1970er und 1980er Jahre wurden sowohl die Abläufe der industriellen Produktion als auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele unternehmerischer Tätigkeit in besonderer Weise zur Debatte gestellt. LIP war Anlass für Diskussionen in der französischen Unternehmerschaft, bei den Gewerkschaften, in Unterstützerkreisen und nicht zuletzt im Betrieb selbst. In diesen wurden neben den im engeren Sinne betrieblichen Themen auch eher allgemeine Fragen von Gleichberechtigung und Emanzipation, Ökologie und militärischer Rüstung verhandelt, da bei LIP bis 1976 neben Armbanduhren auch Zündmechanismen für Kriegswaffen hergestellt wurden. Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit erstreckt sich von 1973 bis 1987, als der größte aus LIP hervorgegangene Genossenschaftsbetrieb Les Industries de Palente (L.I.P.) Konkurs anmeldete. Das Unternehmen wurde anschließend von neuen Eigentümern als Aktiengesellschaft mit einer abermals reduzierten Beschäftigtenzahl weitergeführt. Nachzugehen ist der Hypothese, dass bis dahin bereits Anpassungsprozesse in den Entscheidungsstrukturen und den Arbeitsverhältnissen stattgefunden hatten, mit denen sich L.I.P. nicht genossenschaftlich geführten Unternehmen annäherte. Dies würde helfen zu erklären, warum die Konkursanmeldung verhältnismäßig wenig erkennbare Kontroversen hervorrief und entspräche Tendenzen, die Genossenschaftsforscher für ähnliche Fälle als typisch identifiziert haben.7 Es ist zu fragen, wie sich diese Tendenz durchsetzte und von welchen Faktoren sie beschleunigt oder gebremst wurde. Die wirtschaftliche Entwicklung der Genossenschaften zu untersuchen, ist hierfür wich-
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Albert Meister formulierte daraus sogar ein „ehernes Gesetz“, dessen Charakter als „ehern“ er wiederum selber in Frage stellte. Demnach folgt auf eine lebendige Aufbruch- und Gründungsphase mit regen kulturellen Aktivitäten und einer Infragestellung bisheriger betrieblicher Hierarchien häufig eine Phase wirtschaftlicher Konsolidierung. In dieser werden handwerkliche Tätigkeiten von industriellen Produktionsabläufen abgelöst, die Lohnhierarchie vergrößert sich und es bildet sich ein spezialisiertes Management heraus, dem gegenüber sich die Arbeiterinnen und Arbeiter neuerlich gewerkschaftlich organisieren, vgl. Meister, Albert: La participation dans les associations, Paris 1974.
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tig. Es wird untersucht, an welche Spezifika des vorangegangenen Unternehmens die Betriebe anknüpfen konnten – oder anknüpfen mussten – und wie dies ihre wirtschaftliche Entwicklung prägte. Und es wird gefragt, welche spezifischen Erfahrungen und Politisierungsprozesse in die Gründung der Genossenschaften einflossen und welche hierin gründenden Spezifika die Betriebe vielleicht auch noch in den 1980er Jahren auszeichneten. Die Hinwendung der Gewerkschafter bei LIP, der Beschäftigten selbst und ihrer Unterstützer zur Idee einer Genossenschaftsgründung ist erklärungsbedürftig. Nicht nur die Gewerkschafter von LIP, sondern auch die großen Gewerkschaftsverbände CFDT und CGT (Confédération Générale du Travail) standen der Gründung von Genossenschaften und insbesondere Belegschaftsübernahmen von Krisenbetrieben zu Beginn der 1970er Jahre mit großer Skepsis gegenüber. Ab Ende der 1970er Jahre stieg die Zahl der Belegschaftsübernahmen in Frankreich jedoch sprunghaft an.8 Diese wurden nun häufig von den Gewerkschaften unterstützt und begleitet. Auf welchem Weg also kam die Idee bei LIP zustande? Es kann davon ausgegangen werden, dass die Gründung zumindest bei manchen der Beteiligten anfänglich mit einem großen Enthusiasmus einherging. Welche Ziele verfolgten sie mit der Genossenschaftsgründung? Welche Vorstellungen von kollektiven Entscheidungen, von guter Arbeit und von deren Stellenwert im Leben drückten sich in ihnen aus? Waren die Genossenschaftsgründungen ein Akt kollektiver Gegenwehr nicht nur gegen die Zumutungen der Erwerbslosigkeit, sondern auch gegen die gesellschaftliche Hinwendung zu unternehmerischem Denken? Oder waren sie vielmehr bereits Ausdruck von dessen Eindringen auch in die gewerkschaftliche Mobilisierung? Der Soziologe Robert Castel hat festgestellt, dass das Unternehmen paradoxerweise ausgerechnet zu dem Zeitpunkt der Geschichte – in den 1980er Jahren – an ideologischer Aufwertung erfuhr, als es einen guten Teil seiner gesellschaftlichen Integrationskraft verlor. Seine Erforschung der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen setzte an dieser Feststellung an.9 Ève
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Vgl. Mahiou, Isabelle und Jean-Louis Laville: „Worker Takeovers – The French Experience“, in: Paton, Rob: Analysis of the Experiences of and Problems encountered by Worker-Takeovers of Companies in Difficulty or Bankrupt, Studie Nr. 85/4 im Auftrag der Europäischen Kommission, Luxemburg 1987, S. 128-158; vgl. Zaidman, Sylvie: Les sociétés coopératives ouvrières de production de 1945 à nos jours, Doktorarbeit, Paris 1989; vgl. Dies.: „Des accociations ouvrières aux SCOP de mai“, in: Georgi: Autogestion – la dernière utopie?, S. 333-346.
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Vgl. Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage, 2. Aufl., Konstanz 2008, S. 352ff.
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Chiapello und Luc Boltanski haben in ihrer Studie zum „neuen Geist des Kapitalismus“ betont, dass zahlreiche Experten der politischen Linken insbesondere aus der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste – PS), der PSU und der CFDT sich in den 1980er Jahren schnell mit neuen Formen des Managements identifizieren konnten, die vor allem auf einen flexibleren Arbeitskräfteeinsatz zielten.10 Nicht zuletzt führten die von 1982 bis 1984 eingeführten Auroux-Gesetze, die unter anderem auf eine erweiterte Mitbestimmung am Arbeitsplatz zielten, zu einer rasanten Verbetrieblichung der Tarifpolitik. Den Unternehmern gelang es außerdem, von den neuen Mitsprachemöglichkeiten vor allem jene einzuführen, die auf besondere Effizienzgewinne hoffen ließen.11 Die CFDT war eine der Trägerinnen des Kompromisses, der die Verkürzung der gesetzlichen Wochenarbeitszeit mit einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten auf betrieblicher Ebene verband, auch sie fügte sich somit in den von Chiapello und Boltanski für die 1980er Jahre in Frankreich festgestellten „Flexibilitätskonsens“ ein. Diesem lag demnach neben sozialen Veränderungen auch eine Umdeutung des Diskurses um die Selbstverwaltung zugrunde, insbesondere der in diesem Rahmen geäußerten Forderungen nach Selbstbestimmung und Autonomie.12 Die von Chiapello und Boltanski untersuchten Gruppen – Wirtschafts- und Managementexperten einerseits, sozialistische Vertreter des Staates andererseits – waren bei LIP präsent: als (gewerkschaftliche) Berater, Kommunalpolitiker oder Vertreter von Ministerien. Wie verhielten sich die unterschiedlichen Gruppen von Beschäftigten sowie deren Erfahrungen aus dem Arbeitskampf und dem betrieblichen Alltag hierzu? Im Folgenden wird von der Hypothese ausgegangen, dass der Arbeitskampf von 1973 es mit seiner der Öffentlichkeit zugänglichen Fabrik ermöglichte, verschiedene Formen der Kritik in einen Dialog zu bringen, der für die Beteiligten den Reichtum dieser Betriebsbesetzung ausmachte: Die lebendige Kritik der Arbeiterinnen und Arbeiter an ihren Arbeitsbedingungen traf auf eine antiautoritäre
10 Vgl. Boltanski, Luc und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 250ff. 11 Vgl. Kißler, Leo (Hrsg.): Industrielle Demokratie in Frankreich – Die neuen Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte in Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1985; vgl. Daley, Anthony: „The Hollowing Out of French Unions“, The Brave New World of European Labor, S. 167-214; vgl. Artus, Ingrid: „Mitbestimmung versus Rapport de force: Geschichte und Gegenwart betrieblicher Interessenvertretung im deutschfranzösischen Vergleich“, Nach dem Strukturbruch – Kontinuitäten und Wandel von Arbeitswelten, S. 213-244. 12 Vgl. Boltanski/Chiapello: Der neue Geist, S. 250ff.
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Begeisterung für ihr selbstbewusstes Überschreiten der Legalität und eine für beide Aspekte offene Gewerkschaftsführung zumindest in der CFDT. Die im Arbeitskampf gemachten Erfahrungen wirkten sicher noch lange nach, überlagerten sich aber vermutlich mit den vorherigen betrieblichen Sozialverhältnissen. In den Genossenschaften bündelte sich vermutlich nicht eine geschlossene kollektive Vorstellung davon, was und wie produziert werden sollte und wie dies weiterhin mit einem politischen Ausdruck zu verbinden sei. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich in ihnen zunächst der Zerfall des alten Bezugsrahmens spiegelte: Die Konfliktroutinen und eventuell auch die beruflichen Identitäten des alten Unternehmens LIP kamen an ihr Ende. Die Entstehung erkennbarer politischer Strömungen in den neuen Betrieben mit je unterschiedlichen Vorstellungen von Selbstverwaltung zeugt davon, dass dies mit einer großen Unsicherheit und Offenheit in Bezug auf die weitere Entwicklung einherging. Beide Betriebsbesetzungen lassen sich in ihrem Verlauf als Prozesse der Aneignung und der Enteignung von ökonomischen wie sozialen Entscheidungsmöglichkeiten, Deutungsspielräumen und Eigeninitiative beschreiben. In der Untersuchung sollen die Faktoren identifiziert werden, welche zu einer größeren Selbstbestimmung beitrugen oder diese verhinderten.
F ORSCHUNGSKONTEXT Als diese Arbeit begonnen wurde, konzentrierte sich die Diskussion in der deutschen Zeitgeschichtsforschung auf den von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael zunächst 2008 in einem Essay – „Nach dem Boom“ – und anschließend von verschiedenen Autorinnen und Autoren in nachfolgenden Studien konstatierten „Strukturbruch“ seit den 1970er Jahren.13 Manteuffel und Raphael betonten in ihrem Essay die Tiefe der gesellschaftlichen Veränderungen in den Ländern Westeuropas seit den 1970er Jahren. Mit dem Zerfall des Währungssystems von Bretton Woods 1972, dem ersten Ölpreisschock von 1973/74 und dem folgenden niedrigeren Wirtschaftswachstum wählten die beiden Ausgangspunkte, die auch von anderen Autoren bereits als Zäsuren benannt und
13 Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm und Lutz Raphael: Nach dem Boom – Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen 2010; vgl. Andresen, Knud, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011 und zuletzt Doering-Manteuffel, Anselm u.a. (Hrsg.): Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.
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weitgehend als solche anerkannt worden waren.14 Das sich anschließend herausbildende „Produktions- und Wirtschaftsregime“ bezeichneten sie in Anlehnung an soziologische Arbeiten als „digitalen Finanzmarktkapitalismus“ und plädierten dafür, die Zeit von 1973 bis heute als eine Einheit zu untersuchen.15 Durch eine starke Problemorientierung wollten die beiden vermeiden, den Archivfristen in Jahrzehnt-Schritten hinterher zu hinken; die Beschäftigung mit den 1970er Jahren hatte bei den Zeithistorikern gerade begonnen.16 Der Vorschlag war als Aufforderung zu verstehen, sich auf die Suche nach den strukturell zugrundeliegenden Veränderungen zu machen, welche auch die Gegenwart und ihre Probleme betreffen, und so die Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart zu begreifen. Mit dem Wort vom Boom betonten zwar auch Raphael und DoeringManteuffel den Ausnahmecharakter der Wachstumsdynamik in den 1950er und 1960er Jahren, der schließlich in den Kernländern Westeuropas „Vollbeschäftigung“ mit sich brachte. Dennoch stützt auch ihre an einer mittlerweile üblichen Zäsursetzung angreifende Interpretation die vorschnelle Verklärung dieser kurzen Phase. Diese wird unter anderem durch zahlreiche regulationstheoretisch inspirierte Arbeiten genährt. Diese Arbeiten untersuchten die gesellschaftliche Entwicklung seit 1973 bereits in den 1980er Jahren unter dem Begriff des „Postfordismus“.17 So anspruchsvoll und ertragreich sie sind, tragen diese Arbeiten doch in der öffentlichen Rezeption dazu bei, die Zeit von den 1970er Jahren bis heute vor allem als Niedergangsgeschichte zu begreifen, der eine Zeit des „stabilen Klassenkompromisses“ vorangegangen sei. Dessen Stabilität wird dabei tendenziell überbetont, dessen Inhalt, zum Beispiel eine rigide Kontrolle der Unternehmer über die Arbeitsorganisation, gelegentlich unterschlagen. Den rapiden Wandel im Arbeiterleben in den Jahren zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1970er Jahren hatte Josef Mooser dagegen schon in den 1980er Jahren be-
14 Vgl. den Teil „Der Erdrutsch“ in: Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 6. Aufl., München 2003, S. 503-722. 15 Sie beziehen sich auf Manuel Castells Konzept der Netzwerkgesellschaft sowie die Studien von Paul Windolf zum Finanzmarktkapitalismus, vgl. Raphael/Manteuffel: Nach dem Boom, S. 27. 16 Vgl. Jarausch, Konrad (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; vgl. Heft 3 der Zeithistorischen Forschungen 2006 zu den 1970er Jahren, darin insb. Jarausch, Konrad: „Krise oder Aufbruch? Historische Annäherungen an die 1970er-Jahre“, Zeithistorische Forschungen 3 (2006), http://www. zeithistorische-forschungen.de/3-2006/id=4539. 17 Vgl. Hirsch, Joachim und Roland Roth: Das neue Gesicht des Kapitalismus – Vom Fordismus zum Postfordismus, Hamburg 1986.
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tont.18 Mittlerweile werden auch die hiermit verbundenen Konflikte wieder intensiver beleuchtet, sodass die „Boomjahre“ selbst nicht mehr als Zeit einer unumstrittenen Fortschrittsgläubigkeit erscheinen, in der die sich durchsetzende Konsumgesellschaft gesellschaftliche Konflikte erfolgreich bemäntelt habe.19 Für Frankreich haben Historikerinnen und Historiker zuletzt in einem von Sezin Topçu, Céline Pessis und Christophe Bonneuil herausgegebenen Sammelband unterstrichen, dass in den 1950er und 1960er Jahren die Ansicht keineswegs allgemein verbreitet gewesen sei, dass sich gesellschaftlicher Reichtum in der Zahl von Kühlschränken, Fernsehgeräten und Automobilen messen lasse. In den Aufsätzen beleuchteten sie beispielsweise die gewerkschaftliche Kritik an der Stadtplanungs- und Raumordnungspolitik der 1960er Jahre und frühe Auseinandersetzungen um die französische Atompolitik.20 In der Diskussion der These von Raphael und Doering-Manteuffel haben einige Autorinnen und Autoren davor gewarnt, mit einer Überbetonung des Bruchs mögliche Kontinuitäten zu überdecken.21 Für die Untersuchung einer Uhrenfabrik, in der überwiegend mechanische Armbanduhren hergestellt wurden, erscheint die These vom Strukturbruch zunächst dennoch verlockend. Schließlich hielt mit den Quarzuhren seit den 1970er Jahren die Mikroelektronik in Form integrierter Schaltkreise Einzug in das Produkt. Unter dem Eindruck dieser technischen Veränderung und angesichts zunehmender Konkurrenz aus den USA und Japan, später auch aus Hongkong, veränderte sich die westeuropäische Uhrenindustrie stark. Außerhalb der Schweiz verschwand sie weitgehend. Von den etwa 12.000 Arbeitsplätzen in der Branche in Frankreich 1973 blieben
18 Mooser, Josef: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt am Main 1984. 19 Zum Beispiel mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Konsumgesellschaft und (post-)kolonialen Ausschlüssen in Frankreich Kristin Ross: Fast Cars, Clean Bodies. Decolonization and the Reordering of French Culture, Cambridge, Massachusetts 1995. Im Bereich der Arbeitskämpfe Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder – Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und in Dänemark, Frankfurt am Main 2007. 20 Pessis, Céline, Sezin Topcu und Christophe Bonneuil (Hrsg.): Une autre histoire des „trente glorieuses“, Paris 2013. 21 Vor einer möglichen Überbetonung des Bruchs warnte unter anderem der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Beitrag zu einer Mehrfachrezension von „Nach dem Boom“, sehepunkte 5 (2009), http://www.sehepunkte.de/2009/05/forum/mehrfachbes prechung-a-doering-manteuffel-l-raphael-nach-dem-boom-goettingen-2008-115/ (zugegriffen am 2.12.2016).
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in den 2000er Jahren weniger als 4.000 übrig.22 Jedoch gilt es, die Gründe für diese Entwicklung zu analysieren und nicht voreilig die technischen Veränderungen oder die veränderte Konkurrenzsituation als gegebene Ursachen hinzunehmen. Die seit Mitte der 1990er Jahre entstandene historische Literatur zur Transformation der Uhrenindustrie in der Franche-Comté – der Region um Besançon – kann ebenso dabei helfen, LIP im Kontext der branchenspezifischen Veränderungen zu untersuchen, wie einige in den 2000er Jahren entstandenen Arbeiten zur Uhrenindustrie in der Schweiz, mit der LIP verbunden war, und zur Entwicklung der Quarzuhren. 23 Einige Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker in Besançon haben sich mit der Transformation der Uhrenindustrie seit den 1970er Jahren und mit der Neuorientierung in verschiedenen Anwendungsbereichen der Mikrotechnik (microtechniques) beschäftigt. In ihren Überlegungen kommt der spezifischen Dynamik der regionalen Agglomeration der Uhrenbranche in der Franche-Comté eine wichtige Bedeutung zu.24 Emmanuëlle Cournarie hat 2011 in einer soziologischen Doktorarbeit die Anpassung der verschiedenen Beschäftigtengruppen der Uhrenindustrie sowie der Unternehmer an
22 Die gemeinsam von der französischen Statistikbehörde und den schweizerischen Pendants ermittelten Zahlen ergaben für 2008 die Gesamtzahl von 3657 Beschäftigten in der Branche in Frankreich, davon 1922 Personen in der Franche-Comté, vgl. Observatoire Statistique Transfrontalier de l’Arc Jurassien: L’horlogerie dans l’Arc jurassien: un portrait en chiffres, Besançon 2011. 23 Donzé, Pierre-Yves: History of the Swiss Watch Industry – From Jacques David to Nicolas Hayek, Bern u.a. 2012; Donzé, Pierre-Yves: „Global competition and technological innovation: A new interpretation of the watch crisis, 1970s-1980s“, Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 21 (2012), S. 275-290; Landes, David: Revolution in Time – Clocks and the Making of the Modern World., Cambridge, Massachussets 1983; Stephens, Carlene und Maggie Dennis: „Engineering time: Inventing the electronic wristwatch“, British Journal for the History of Science 33 (2000), S. 477-497. 24 Ternant: La dynamique longue d’un système productif localisé : l’industrie de la montre en Franche-Comté, Doktorarbeit, Grenoble 2004; Ternant, Évelyne: „Le milieu horloger Franc-Comtois face à la mutation de la montre à quartz 1965-1975“, in: De l’horlogerie aux microtechniques, actes du collque d’IRADES, Besançon 1996; Daumas, Jean-Claude und Paul Lamart (Hrsg.): Les territoires de l’industrie en Europe (1750-2000). Entreprises, régulations et trajectoires, Besançon 2007.
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diesen Prozess untersucht.25 Mit ihrer Arbeit liegt eine gute Analyse der beruflichen Selbstverständnisse und Identifikationspotentiale in der Branche vor. Es gibt also einige Vorarbeiten, auf denen eine Verortung von LIP in diesem Zusammenhang aufbauen kann. Bislang ist festzustellen, dass die branchengeschichtlichen Arbeiten LIP nur am Rande behandeln und die vorhandenen Arbeiten zu LIP den Branchenkontext weitgehend ignorieren. Die Lücke soll mit dieser Arbeit gefüllt werden. Die Herausforderung Raphaels und Doering-Manteuffels wird damit angenommen, den Charakter des „Bruchs“ durch die Einbeziehung sozial- und kulturhistorischer Fragestellungen herauszuarbeiten bzw. zu hinterfragen. Ihre Frage, „welchen Platz das Unternehmen, seine Akteure und seine Organisationsformen in den Zukunftsentwürfen der technologischen und gesellschaftlichen Umbrüche seit 1970 einnahmen“, zielte ausdrücklich auf kulturhistorische Fragestellungen.26 Neuerungen wie die Quarzuhr, ebenso wie veränderte Methoden der Unternehmensführung, transportierten auch im Fall LIP spezifische Zukunftsbilder. Präsentierten die LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter hierzu möglicherweise Gegenentwürfe, die sich näher an ihre eigene berufliche Erfahrung oder ihre politische Haltung anlehnten? Neben dem Bruch hat sich die historische Forschung zu Arbeitsverhältnissen in der Fabrik in letzter Zeit auch langen Kontinuitätslinien gestellt. Unter dem Arbeitstitel des „fordistischen Jahrhunderts“ untersucht Rüdiger Hachtmann am ZZF Potsdam die Veränderungen von Fabrikarbeitsverhältnissen im 20. Jahrhundert.27 Von Timo Luks und Karsten Uhl sind zuletzt Arbeiten erschienen, die die betriebliche Herrschaft vor allem unter dem Blickwinkel von Ordnungsvorstellungen und Planungsgedanken untersuchten.28 Uhl hat argumentiert, dass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Methoden der aktivierenden Einbeziehung
25 Cournarie, Emmanuëlle: Approche socio-anthropologique d’une reconversion industrielle – de l’horlogerie aux microtechniques à Besançon, Doktorarbeit, Besançon 2011. 26 Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom, S. 120. 27 Hachtmann, Rüdiger und Adelheid von Saldern: „‚Gesellschaft am Fließband‘. Fordistische Produktion und Herrschaftspraxis in Deutschland“, Zeithistorische Forschungen 2 (2009), http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-HachtmannSaldern-2- 2009. 28 Luks, Timo: Der Betrieb als Ort der Moderne – Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010; Uhl, Karsten: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014.
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der Beschäftigten angewandt wurden, während die gemeinhin mit dem frühen 20. Jahrhundert verbundene Disziplin und strenge Aufsicht auch in den 1970er Jahren und später keineswegs verschwanden. Solche über die längere Dauer des 20. Jahrhunderts reichenden Arbeiten mahnen also, mit der Annahme vom „Bruch“ vorsichtig umzugehen. Vielleicht kann auch die vorliegende Arbeit zu LIP als Korrektur der Annahme verstanden werden, mit dem Einzug der Elektronik in die Fabrik seien schwere körperliche Arbeit und repetitive Tätigkeiten an den Rand gedrängt worden, wie es die Formulierung Doering-Manteuffels und Raphaels in ihrem Essay nahelegt: „Die Arbeit neuen Typs bestand aus Überwachen, Steuern, Optimieren.“29 Auf je eigene Art führten unterschiedliche Autoren aufgrund solcher Zweifel in den letzten Jahren ihre Kritiken an den Annahmen der „post-industriellen Gesellschaft“ durch empirische Forschungen aus.30 Die Auseinandersetzungen bei LIP können als emblematisch für einen Zyklus politischer und sozialer Mobilisierung verstanden werden, der mittlerweile häufig als „1968er Jahre“ (les années 68) verhandelt wird.31 1994 hatte am Institut d'histoire du temps présent in Paris ein vierjähriges Seminar begonnen, dessen Arbeitstitel zum ersten Mal diesen Begriff enthielt.32 Bereits vorher hatte sich die Annahme verbreitet, dass in Frankreich der Mai 1968 mit seinem Generalstreik, den besetzten Universitäten und mit seinem Zusammengehen unterschiedlicher Protestformen eine längere Phase gesellschaftlichen Aufbruchs nach sich zog. Michelle Zancarini-Fournel formulierte nun als klare Schlussfolgerung, dass die Ereignisse des Mai und Juni 1968 in Frankreich ein Jahrzehnt vielfältiger, lebendiger und mitunter gewaltsamer „contestation“ eröffnet hätten. Dessen Dynamik lud sie ein, genauer zu untersuchen.33 Seitdem haben verschiedene Au-
29 Doering-Manteuffel/Raphhael: Nach dem Boom, S. 54. 30 Vgl. Steiner, André und Werner Plumpe (Hrsg.): Der Mythos von der postindustriellen Welt – Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960-1990, Göttingen 2016. 31 Vgl. das „ABC der 68er Jahre“: Artous, Antoine, Didier Epsztajn und Patrick Silberstein (Hrsg.): La France des années 68, Paris 2008, darin inbesondere Artous, Antoine: „Les longues années 68“, S. 15-35. Vgl. Birke, Peter u.a. (Hrsg.): Alte Linke, neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion, Berlin 2009. Zu 1968 und dem Einzug in die Geschichtswissenschaften vgl. Gilcher-Holtey: 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. 32 Vgl. Geneviève Dreyfus-Armand, Robert Frank und Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.): Les années 68 – le temps de la contestation, Paris 2000. 33 Ebenda, S. 502.
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torinnen und Autoren das Konzept der 1968er Jahre aufgegriffen. Aus dem Forschungszusammenhang selbst sind einige Arbeiten entstanden, von denen die Abhandlung Xavier Vignas über „L'insubordination ouvrière dans les années 68“ hervorzuheben ist.34 In dieser werden die „rencontres improbables“ zwischen Arbeiterinnen und anderen sozialen Gruppen in den Arbeitskämpfen dieser Phase als Besonderheit hervorgehoben. Die zunehmenden Streiks von Frauen, von Einwanderern und angelernten Arbeitern zwangen die Gewerkschaften zu einer größeren Berücksichtigung dieser Beschäftigtengruppen. Die Gewerkschaften öffneten sich Anliegen der Frauenbewegung. Kritik an der Arbeitsorganisation, der (Lohn-)hierarchie und den Arbeitsbedingungen wurde besonders vernehmlich geäußert. Methoden des Arbeitskampfs, wie sie bei LIP angewendet wurden, verbreiteten sich. Xavier Vigna benennt einige wichtige Faktoren für das Auslaufen dieses Zyklus in den späten 1970er Jahren. Hierzu gehörten eine aktive Reaktion der Unternehmerschaft bei der Neugestaltung betrieblicher Sozialverhältnisse und eine vielfältige Reaktion des Staates (in der Sozialpolitik, aber auch der Wirtschafts- und Industriepolitik), die Einhegungseffekte nach sich zog, vor allem aber die deutlich angestiegene Arbeitslosigkeit, unter deren Eindruck die Gewerkschaften ihre Politik weniger konfliktfreudig gestalteten.35 Von einer solchen Periodisierung der 1968er Jahre ausgehend ist dennoch zu fragen, welche Momente des gesellschaftlichen Aufbruchs, bei LIP etwa erweiterter Ansprüche der Beschäftigten an ihre eigene Arbeit, über das Ende dieses Zyklus hinauswirkten und möglicherweise zu neuer Selbstverständlichkeit gelangten. Dies betrifft auch Elemente des für die 1968er Jahre zentralen Themenfeldes der Selbstverwaltung, das mittlerweile auch mit Blick auf Arbeitskämpfe und unterschiedliche Vorstellungen von betrieblicher Demokratie historisiert wird.36 Es ist zu fragen, welche Konkretisierungen diese Vorstellungen über die Zeit erfuhren und wie diese möglicherweise in den 1980er Jahren fortwirkten.
34 Vigna, Xavier: L’insubordination des ouvriers dans les années 68 – Essai d’histoire politique des usines, Rennes 2007. 35 Vgl. hierzu auch Defaud, Nicolas: La CFDT – de l’autogestion au syndicalisme de proposition, Paris 2009. 36 Georgi (Hrsg.): Autogestion – la derniere utopie?, Paris 2003; Porhel, Vincent: „Le PSU dans les luttes sociales après 1968“ in: Castagnez, Noelline und Laurent Jalabert (Hrsg.): Le Parti Socialiste Unifié: Histoire et postérité, S. 211-221; Porhel, Vincent: „Factory disputes in the French provinces in the 1968 years: Britanny as a case study“, in: Jackson, Julian u.a. (Hrsg.): May 68 – rethinking France’s last revolution, S. 188-201, Vigna, Xavier: Le mot de la lutte – l’autogestion et les ouvrières de PIL à Cerizay en 1973, in: Georgi: Autogestion – la dernière utopie?, S. 381-391.
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Die Zahl der Gründungen von Genossenschaftsbetrieben stieg in Frankreich gerade seit dem Ende dieses Zyklus der Fabrikpolitisierung rapide an. Es liegt nahe, veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen als einen der Gründe hierfür anzunehmen. Jedoch sind die Motive für Belegschaftsübernahmen und die Gründung von Produktionsgenossenschaften in dieser konkreten Phase nur in Ansätzen untersucht.37 Ein Interesse an dieser Entwicklung bestand in den 1980er Jahren international überwiegend in einigen Forschungszentren, die sich explizit der Genossenschaftentwicklung verschrieben hatten und hier gleichzeitig einen grundlegenden Forschungs- wie gelegentlich auch einen Beratungsauftrag erfüllten. Hierzu gehörte die von Rob Paton und Chris Cornforth an der Open University in Milton Keynes geleitete Co-Operative Research Unit. Auch das 1947 in Genf gegründete Centre International de Recherches et d'Information sur l'Économie Collective (CIRIEC) und die von Henri Desroche angestoßenen Collèges Coopératifs, die in Frankreich bis heute existieren, sind hierzu zu zählen. In solchen Einrichtungen wurde die verstärkte Tendenz zur Gründung genossenschaftlich verfasster Betriebe aufgegriffen, denen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren auch von der Politik eine stärkere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. In Frankreich regte die Erneuerung der seit dem 19. Jahrhundert vor allem in der Holzverarbeitung, im Baugewerbe sowie bei Druckern und Setzern verankerten Bewegung von Produktionsgenossenschaften durch die Impulse von 1968 Forscherinnen und Forscher dazu an, über deren Potentiale neu nachzudenken.38 Dieses Interesse bewegt einige von ihnen bis heute, sich historisch, aber auch aktuell mit Produktionsgenossenschaften und Belegschaftsübernahmen zu beschäftigen.39 Mit einigen ihrer Forschungsergebnisse konnten die in den 1980er Jahren Beteiligten lang zurückreichende Annahmen relativieren oder widerlegen. So haben Paton und Cornforth festgestellt, dass Unternehmenspleiten in den 1980er Jahren bei genossenschaftlich verfassten Unternehmen etwa gleich häufig vorkamen wie bei anderen. Die seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitete These des Niedergangs – zurückgehend auf den Genossenschaftsforscher Franz Op-
37 Vgl. Zaidman: Des accociations ouvrières aux SCOP de mai. 38 Vgl. neben der Doktorarbeit von Sylvie Zaidman auch Demoustier, Danièle: Les coopératives de production, Paris 1984; Mahiou, Isabelle und Jean-Louis Laville: „France, à la recherche d’un second souffle“, Autogestions 22 (1985/86), S. 87-99 als Teil eines Dossiers zu SCOPs in Europa. 39 So z.B. Zaidman, Sylvie: Des associations ouvrières aux SCOP de mai, in: Georgi, Frank (Hrsg.): Autogestion – la dernière utopie?, S. 333-345.
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penheimer – wurde im Rahmen ihrer Arbeiten erheblich relativiert.40 Aktuell widmen sich einige Wirtschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistoriker sowohl diesen Tendenzen der „Demutualisation“, also der Auflösung genossenschaftlicher Strukturen und ihrer Überführung in herkömmliche Unternehmensformen, als auch den Gründen dafür, dass Produktionsgenossenschaften in einigen Ländern seit langer Zeit in bestimmten Nischen ökonomisch sehr erfolgreich sind.41 Die gemeinsam im Projekt entwickelte Arbeitsdefinition selbstverwalteter Betriebe kann helfen, die Ergebnisse dieser Genossenschaftsforschung mit der Frage nach der Selbstverwaltung zu verbinden. Demnach ist das kollektive Eigentum der Arbeitenden an ihrem Unternehmen ein erstes notwendiges Definitionsmerkmal für einen selbstverwalteten Betrieb. Dieses trifft auf Produktionsgenossenschaften bedingt zu. Zwar müssen die in ihnen Beschäftigten meist qua Gesetz über die Mehrheit der Unternehmensanteile verfügen. Sie können beim Austritt aus der Genossenschaft jedoch üblicherweise ihren Anteil des Kapitals mitnehmen, welches prinzipiell teilbar bleibt. Dies verleiht größeren – auch externen – Miteigentümern eine manchmal erhebliche Machtposition. In der Forschung für Produktionsgenossenschaften angewandte Definitionsmerkmale – das Identitätsprinzip (zwischen Arbeitenden und Eigentümern), das Förderprinzip (die Förderung der Interessen ihrer Mitglieder) und das Demokratieprinzip („ein Mitglied, eine Stimme“, unabhängig von der Höhe der Kapitaleinlage) – sind für die Arbeitsdefinition hilfreich. Jedoch muss die gemeinsame Entscheidung der Beschäftigten über wesentliche unternehmerische Belange als zweites notwendiges Definitionsmerkmal auch an den Beteiligungsansprüchen der Beschäftigten selbst gemessen werden. So lässt sich nach den übergeordneten Zielen fragen, welche in sich als selbstverwaltet verstehenden Betrieben häufig anzutreffen sind. Diese sind als fakultatives Kriterium Teil der Definition. Im Fall LIP sind dies unter Umständen auch Ziele, die mit dem damaligen politischen Begriff der
40 Vgl. Cornforth, Chris: „Patterns of Cooperative Management: Beyond the Degeneration Thesis“, Economic and Industrial Democracy 16 (1995), S. 487-523; vgl. Oppenheimer, Franz: Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig 1896. 41 Vgl. die Beiträge in: Webster, Anthony und Walton, J.K. (Hrsg.): The business of cooperation: national and international dimensions since the nineteenth century, Business History – Special Issue, 2012, und mit Fokus auf Frankreich: Pérotin, Virginie: The performance of workers’ co-operatives, in: Battiliani, Patrizia und Harm Schröter (Hrsg.): The business of co-operation – the co-operative business movement 1950 to the present, Cambridge 2012, S. 195-221.
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Selbstverwaltung zusammenhingen. Von diesem ist zu fragen, ob und wie er Unternehmen in Belegschaftshand berücksichtigte.
A NALYSEPERSPEKTIVE „M ORALISCHE Ö KONOMIE “ Die verschiedenen Dimensionen der aufgeworfenen Fragen werden unter der Untersuchungsperspektive der „moralischen Ökonomie“ gebündelt. Diese erfüllt für die Analyse mehrere Funktionen, die anhand der Geschichte und Konjunktur des Begriffs deutlicher werden, dem der britische Sozialhistoriker Edward P. Thompson 1971 in einem Artikel über Brotrevolten im England des 18. Jahrhunderts zur Prominenz verhalf.42 Bis dahin war die Tendenz verbreitet, solchen gewalttätigen Protest – „riot“ – als einfachen Ausdruck schierer Not zu deuten. Demgegenüber machte Thompson eine Perspektive stark, die als Bedingungen für den Ausbruch von Revolten insbesondere harsche Brüche mit gegebenen bisherigen Praktiken der Produktion und des Handels sowie diesen inhärenten Gerechtigkeitsvorstellungen identifizierte. Er verortete die Brotrevolten in einem größeren Kontext des Übergangs von einem paternalistischen Modell der Produktion und Verteilung zur Durchsetzung einer politischen Ökonomie des freien Marktes. Er unterstrich, dass die konkreten im Riot ausgedrückten Beschwerden innerhalb eines Rahmens geteilter Annahmen darüber geäußert wurden, was legitime und illegitime wirtschaftliche Praktiken waren. Als „Moralische Ökonomie“ beschrieb er „a consistent traditional view of social norms and obligations, of the proper economic functions of several parties within the community“.43 Dass soziale Kämpfe auch nach der Industrialisierung ihren Ursprung kaum je in reiner Verelendung haben, ist spätestens seit den 1990er Jahren allgemein gesicherter Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft.44 Für Frankreich haben Charles Tilly und Edward Shorter 1974 in einer Längsschnittstudie der Streikbewegungen zwischen 1830 und 1968 festgestellt, dass in Phasen relativen Wohlstands die Streikhäufigkeit sogar zunahm. Sie argumentierten, dass deren
42 Vgl. Thompson, Edward P.: „The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century“, Past and Present 50 (1971), S. 76-136. 43 Thompson: „The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century“, S. 78f. 44 Vgl. Welskopp, Thomas: „Von der verhinderten Heldengeschichte des Proletariats zur vergleichenden Sozialgeschichte der Arbeiterschaft – Perspektiven der Arbeitergeschichtsschreibung in den 1990er Jahren“, 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts 3 (1993), S. 42.
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Ausmaß und Heftigkeit stärker von organisatorischen und technischen Vorbedingungen sowie der Entwicklung des Produktionsprozesses abhingen als vom puren Ausmaß der Unzufriedenheit. Für die wichtigsten Phasen ihres Untersuchungszeitraums identifizierten sie jeweils die dominierenden Trägergruppen der Streikbewegungen. Ihnen zufolge kam es nach einer ersten Phase der Dominanz von „artisanal strikes“ mit der Durchsetzung der industriellen Massenproduktion zur Führerschaft von „proletarian machine tenders“. Die Streikwelle von 1968 sei schließlich die erste gewesen, in der die Forderungen von „white collar workers“, Technikern und Angehörigen der neuen, damals so genannten Massenintelligenz dominierend wurden.45 Inwieweit dieser letzte Eindruck der spezifischen Bündelung der Bewegung des Mai 1968 durch die Gewerkschaften geschuldet ist, ist am konkreten Fall zu untersuchen. Neben dem Verhältnis der verschiedenen Beschäftigtengruppen untereinander, zu ihrer Arbeit und zum Management sind hierbei die Unterstützung durch die Gewerkschaften sowie die Einbindung in lokale und regionale soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge zu berücksichtigen. Worauf E.P. Thompsons Artikel von 1971 verweist, ist die Dichte jener sozialen Beziehungen, aus denen Gerechtigkeitsvorstellungen erwachsen. Diese werden stets im persönlichen Handeln und gegenseitigen Austausch geprägt und nehmen nicht zuletzt in Form von Routinen Gestalt an. Konfliktsituationen wie eine Betriebsbesetzung bringen die Beteiligten dazu, ihre Überzeugungen und häufig nur implizit vorhandenen Maßstäbe an das richtige und angemessene Handeln zum Ausdruck zu bringen. Hierdurch ermöglicht die Konfliktsituation einen Blick auf den „Normalbetrieb“. Insbesondere der harsche Bruch mit bisherigen alltäglichen Arbeitsroutinen sowie Erwartungen in Bezug auf Beschäftigungssicherheit, Löhne oder berufliche Entwicklungsmöglichkeiten provoziert möglicherweise einen Ausbruch des Unmuts, der zunächst die moralische Ökonomie des bisherigen Alltags sichtbar macht. Neben Historikern nehmen auch Soziologen und Ökonomen den Begriff der moralischen Ökonomie in letzter Zeit auf. Der Soziologe Andrew Sayer argumentiert im Rahmen einer Arbeitsgruppe zu „Cultural Political Economy“ an der Universität Lancaster für eine Übernahme des Begriffs. Er legt der Regulationsschule, den Überlegungen des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes und anderen folgend den Gedanken nahe, dass auch in kapitalistischen Gesellschaften die Herrschaft von Marktmechanismen auf eine soziale Regulierung angewiesen ist. „Moralische“ Aspekte seien dabei keineswegs äußerliche Instanzen, in die die
45 Vgl. Tilly, Charles und Edward Shorter: Strikes in France 1830-1968, Cambridge 1974.
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Wirtschaft – mit dem Vokabular Karl Polanyis – „eingebettet“ sei. Sie seien den ökonomischen Praktiken vielmehr inhärent.46 Nimmt man diesen Hinweis ernst, so lässt er nach den Grenzen des im geschriebenen Wort überlieferten Quellenmaterials fragen. Bei der Suche nach den verborgenen Einstellungen der Beteiligten zu ihrer Arbeit, zu den Zielen der Produktion und zur Ausgestaltung des betrieblichen Alltags sind die politischen Flugschriften, Manifeste und Streikankündigungen zwar hilfreich. Sie verweisen in besonderem Maße auf die bei den Adressaten und in der sozialen Umgebung als legitim angesehenen Ziele und Handlungsweisen und können gut in dieser Hinsicht analysiert werden. Aber auch die von den Beteiligten hergestellten Produkte, die räumliche Herrichtung der Arbeitsstätten, das verwendete Werkzeug und die hiermit implizierte Arbeitsteilung, die Bezeichnungen von unterschiedlichen Arbeitsstellen und Ähnliches müssen demnach als Träger von „Moral“ ernstgenommen und analysiert werden. Nicht zuletzt ist der Hinweis Andrew Sayers hilfreich, dass es das Konzept der „moralischen Ökonomie“ – wiederum mit Rückgriff auf Karl Polanyi – ermöglicht, Prozesse des „embedding“ und „disembedding“ ökonomischen Handelns in ihrer Dynamik zu erfassen.47 In Bezug auf die beiden Betriebsbesetzungen und die Genossenschaftsgründungen bei LIP ist insbesondere die Frage interessant, ob diese eine stärkere Orientierung der Produktion an den eigenen Vorstellungen der Arbeiterinnen und Arbeiter vom guten Leben ermöglichten, wodurch diese geprägt wurden und wodurch eine solche Orientierung möglicherweise überformt, verhindert oder verändert wurde. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass, wie Ève Chiapello und Luc Boltanski es formulieren, die Äußerungen der Beteiligten „auf situationsübergreifende Rechtfertigungsregime, -dispositive oder -ordnungen verweisen, auf die sich die Akteure beziehen müssen, um ihrem Handeln Sinn zu verleihen.“48 Dennoch ist zu fragen, in welchem Verhältnis zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen die eigenen Erfahrungen aus den Arbeitskämpfen und den Genossenschaftsbetrieben, aus alltäglicher Arbeit und sozialen Nahbeziehungen standen. Bei der Vermittlung dieser Ebene mit den größeren sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen des Untersuchungszeitraums kann die eingenommene Perspektive der „moralischen Ökonomie“ eine wichtige Rolle spielen.
46 Vgl. Sayer, Andrew: „Approaching Moral Economy“, in: Stehr, Nico u.a. (Hrsg.): The Moralization of the Markets, New Brunswick 2006, S. 77-100. 47 Vgl. Sayer: Approaching Moral Economy, S. 81f. 48 Celikates, Robin: „Von der Soziologie der Kritik zur kritischen Soziologie?“, Westend – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 5/2 (2008), S. 120-138., S. 120.
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F ORSCHUNGSSTAND
ZU
LIP
„Zu Lip ist soviel Literatur erschienen, dass sie nicht in zwei Koffer passt“, zitierte der Soziologe Walter Hüls 1983 in seiner Dissertation über den Umgang der CFDT mit Betriebsbesetzungen ein vier Jahre zuvor in Italien erschienenes Buch. In diesem hatte eine Journalistin ihre Frankreich-Rundreise auf den Spuren aktueller sozialer Auseinandersetzungen zusammengefasst.49 Hüls selbst widmete den Auseinandersetzungen zu LIP in seiner Arbeit einen Abschnitt. Dieser baute im Wesentlichen auf einer Studie auf, die 1980 in Paris als Doktorarbeit eingereicht wurde; diese analysierte die Verarbeitung von LIP in der CFDT.50 Beide Doktorarbeiten kamen zu dem optimistischen Schluss, dass in der CFDT sowohl Formen gewerkschaftlicher Repräsentation als auch basisdemokratische Beteiligung gefördert worden seien. Unter den zahlreichen zu LIP veröffentlichten Arbeiten, von denen die meisten LIP jedoch nur als Beispiel verwendeten, findet sich eine einzige, unveröffentlichte Dissertation zu LIP selbst. Gérard Terrieuxs betriebswirtschaftliche Arbeit von 1983 ist aufschlussreich, weil sie auch auf mehreren Aufenthalten des Autors bei den aus LIP hervorgegangenen Genossenschaften beruhte. Anhand der gezahlten Löhne und der Finanzierungsstruktur der Betriebe zeigte er vor allem die Widersprüche und Konflikte auf, in denen die Genossenschafter zu Beginn der 1980er Jahre steckten.51 Die zeitgenössische journalistische und wissenschaftliche Bearbeitung von LIP war beachtlich. Auch in Deutschland erschienen sozialwissenschaftliche Beiträge.52 So diskutierte der Historiker Heinz-Gerhard Haupt die Bedeutung des Arbeitskampfs bei LIP im Kontext verschiedener zeitgenössischer Gegenwartsanalysen in Frankreich. Er zog hieraus den Schluss, dass in der Gesellschaftsanalyse regionale Entwicklungsbesonderheiten, die lange Geschichte ländlicher Entwicklung und die Besonderheiten des französischen Kapitalismus eine größe-
49 Hüls, Walter: Betriebsbesetzungen und Gewerkschaftskonzeption der CFDT – Praxis und Theorie des Projekts „autogestion“ in der Zeit von 1968 bis 1978, Rossdorf 1983, S. 87. 50 Rozenblatt, Patrick, Francine Tabaton und Michèle Tallard: Analyse du conflit Lip et de ses répercussions sur les pratiques ouvrières et les strategies syndicales, unveröff. Doktorarbeit, Paris 1980. 51 Terrieux, Gérard: L’expérience Lip, Doktorarbeit, Paris 1983. 52 Blanke, Thomas, Rainer Erd und Heide Erd-Küchler: „LIP – Legalität und Klassenkampf“, Kritische Justiz 1974/4, S. 402-419.
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re Berücksichtigung erfahren müssten.53 In der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation analysierte David Wittenberg den Streik von 1973 in Bezug auf die in ihm geschaffenen Formen von Öffentlichkeit.54 Mehrere Bücher erschienen zu LIP sowohl in Frankreich als auch in Deutschland: René Lourau untersuchte den Arbeitskampf von 1973 unter dem Blickwinkel der „generalisierten Institutionenanalyse“, während der Journalist Henri de Virieu unter dem Titel „100.000 montres sans patron“ eine tagesgenaue Chronologie der Geschehnisse von 1973 und 1974 lieferte.55 In Deutschland schrieben die Journalisten Arno Münster und Bodo Morawe jeweils ein Buch über den Arbeitskampf von 1973.56 Den Genossenschaftsgründungen widmeten später Boris Penth und Walther Hollstein einen Abschnitt in ihren „Beispielen gegen die Resignation“.57 Die Beteiligten selbst erhielten in Büchern das Wort, die von der CFDT oder der PSU unterstützt und mit Vor- oder Nachworten von deren Vorsitzenden ergänzt wurden.58 Seit den 1990er Jahren schließlich sind mehrere unveröffentlichte Diplombzw. Masterarbeiten von Historikerinnen und Historikern zu LIP geschrieben worden. Neben der bereits genannten Arbeit von Joëlle Beurier ist eine Arbeit von Edward Castleton aus dem Jahr 1996 zu nennen. Als erster hat er sich die Mühe gemacht, anhand des vorhandenen Quellenmaterials die politische Geschichte der Arbeitskämpfe bei LIP von 1973 bis 1983 zu untersuchen. Dabei verfolgte er ein Forschungsinteresse, dass insbesondere den politischen Veränderungen der CFDT galt. Dem Arbeitskampf von 1973 als „politischem Moment“ im Sinne Jacques Rancières, welcher demnach eine Artikulation und ein Inbeziehungsetzen zahlreicher unterschiedlicher politischer Positionen ermöglichte, stellte er den Zerfall der Unterstützung für die Arbeiterinnen und Arbeiter und
53 Haupt, Heinz-Gerhard: „LIP – Konkrete Interessen versus abstrakte Strategie“, Leviathan 2/4 (1974), S. 501-532. 54 Wittenberg, David: „Neue Kampfformen und Öffentlichkeit“, Ästhetik und Kommunikation 15/16 (1974), S. 15-57; Wittenberg, David: „Lip-Larzac“, Ästhetik und Kommunikation 17 (1974), S. 43-49. 55 Lourau, René: L’analyseur Lip, Paris 1974; de Virieu, François-Henri: 100.000 montres sans patron, Paris 1973. 56 Morawe, Bodo: Streik in Frankreich oder Klassenkampf bei Lip, Reinbek 1974; Münster, Arno: Der Kampf bei LIP, Berlin 1974. 57 Penth, Boris und Walter Hollstein: Alternative Projekte – Besipiele gegen die Resignation, Reinbek 1979. 58 Piaget, Charles (Hrsg.): Charles Piaget et les Lip racontent, Paris 1973; Maire, Edmond u. Charles Piaget (Hrsg.): LIP ‘73, Paris 1974; Collectif Lip: Affaire non classée, postface de Michel Rocard, Paris 1976.
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deren nunmehr unvermittelte Missverständnisse nach 1976 gegenüber.59 Saoura Cassou hat in ihrer Arbeit den „Mythos LIP“ anhand der Öffentlichkeitsproduktion um den ersten Arbeitskampf von 1973 untersucht und darin die Beteiligten selbst als die ersten Autoren des „Mythos LIP“ bezeichnet.60 Thomas Champeau hat 2007 unter dem Titel „LIP – le conflit et l'affaire“ die Entwicklung des Arbeitskampfs von 1973 – „le conflit“ – und dessen mediale Verarbeitung – „l'affaire“ – in ihren Wechselwirkungen analysiert. Er zeigte die Beharrlichkeit auf, mit denen die Beschäftigten von LIP erfolgreich der tendeziell dominant werdenden medialen Deutung ihrer Auseinandersetzung entgegentraten.61 Die Veränderungen der katholischen Kirche sowie katholischer Arbeiter- und Jugendorganisationen in der Franche-Comté hat Jean Divo anhand des ersten LIPKonflikts mit Materialien aus dem Diözesanarchiv in einem Buch untersucht. Dieses vermittelt das Bild einer Kirche zwischen Konservatismus und einem lebendigen, regional verankerten Linkskatholizismus, der seit 1968 weiteren Aufwind erfuhr.62 Martial Cavatz hat in einem Artikel die Annäherung der sozialistischen Stadtverwaltung Besançons an die Industrie- und Handelskammer am Beispiel des ehemaligen LIP-Geländes in den 1980er Jahren untersucht.63 Zwei Beiträge der Politikwissenschaftler Guillaume Gourgues und Ouassim Hamzaoui unterstützen die Gegenüberstellung eines großen Moments der Selbstverwaltung 1973 und deren Zerfall ab 1976, wie ihn die Arbeiten von Beurier und Castleton nahelegen.64 Dieser Analyse soll in der vorliegenden Arbeit eine präzisere Kon-
59 Castleton: Lip, une remise à l’heure – de l’action sociale à la gestion de la production (1973-1983), Diplomarbeit, Paris 1996. 60 Cassou, Saoura: Lip – La construction d’un mythe, Masterarbeit, Paris 2000. 61 Vgl. Champeau, Thomas: Lip – le conflit et l’affaire, Masterarbeit, Paris 2007. Weitere, jüngere, ebenfalls unveröffentlichte Arbeiten: Dehedin, Caroline: À Lip, les femmes ont aussi une histoire, Masterarbeit, Nantes 2011; Brangolo, Pauline: Les filles de Lip (1968-1981) – Trajectoires de salariées, mobilisations féminines et conflits sociaux, Diplomarbeit, Paris 2015. 62 Vgl. Divo, Jean: L’affaire Lip et les catholiques de Franche-Comté: Besançon 17 Avril 1972 - 29 janvier 1974, Bière (CH) 2003. 63 Cavatz, Martial: „Lip et après… Quand une municipalité socialiste collabore avec le patronat local autour d’une reprise de terrain“, in: Bertoncello, Brigitte (Hrsg.): Les Acteurs de la composition urbaine,Édition électronique du CTHS (Actes des congrès des sociétés historiques et scientifiques), Paris 2014, S. 183-198. 64 Gourgues, Guillaume und Ouassim Hamzaoui: „De la dé-pacification au dissensus“, Beitrag für die Jahrestagung der Association française de science politique 2010;
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textualisierung auch im ökonomischen Umfeld entgegengestellt werden, welche die mit den Genossenschaften verbundenen Hoffnungen und die fortdauernden Veränderungen im Alltag sichtbar machen kann. Dies leistet der erste, zeitgleich mit dieser Arbeit entstandene Versuch einer Gesamtdarstellung von LIP kaum: Donald Reid betont in „Opening the Gates – The LIP Affair 1968-1981“ zwar stark die innovativen und „transformativen“ Aspekte der Genossenschaften, bezieht sich bei dieser Bewertung aber vor allem auf die politischen Äußerungen der Beteiligten und wenig auf konkrete Arbeitsprozesse.65 Gibt es für das Unternehmen bis 1976 Vorarbeiten, so ist die wirtschaftliche Entwicklung der Genossenschaftsbetriebe ab 1977 vollkommen unerforscht. 66 Es gilt diesbezüglich, die Einbindung der Genossenschaften in Förderstrukturen und Netzwerke zu untersuchen, ebenso wie die Einbindung in die Branche und die Verschränkung von ökonomischen und sozialen Zielsetzungen in den Genossenschaften. Dies kann dazu beitragen, jenseits einer einheitlichen Verlustgeschichte die unterschiedlichen Motivlagen der Beteiligten, deren Vorstellungen von Selbstverwaltung und gelingender wirtschaftlicher Entwicklung zu untersuchen. Die Integration der ökonomischen Dimension der Auseinandersetzungen in die Darstellung ist die größte Herausforderung. Hierfür lassen sich auch einige der zeitgenössisch entstandenen, wissenschaftlichen Arbeiten verwenden – als ergänzendes Quellenmaterial. Eine Gruppe um den Soziologen Renaud Sainsaulieu begleitete die Genossenschaften in ihrer Gründungsphase im Jahr 1978, hieraus entstand eine Abschlussarbeit im Fach Soziologie.67 Claude Neuschwander, von 1974 bis 1976 Vorstandsvorsitzender, gab eine Studie zur sozialen Situation im Betrieb in Auftrag, die vor allem wegen der im Wortlaut dokumentierten Interviews aufschlussreich ist.68 Und einer der an den Genossenschaftsgründungen aktiv Beteiligten, Dominique Bondu, hat 1981 eine Doktorarbeit in Soziologie eingereicht. Auch diese enthält in einem Kapitel zu LIP einige Interviews, die
Dies. : „L’histoire de l’autogestion est-elle l’histoire des LIP? Formes et fin(s) d’une lutte mythifiée“, Jahrestagung der Association française de science politique 2011. 65 Reid, Donald: The LIP Affair 1968-1981, London 2018. 66 Vgl. Belhoste, Jean-François und Pierre Methge: Premières observations sur la transformation des rapports de propriété – LIP et l’industrie horlogère française, Paris 1978. 67 Vgl. Berry, Jean-Pic: LIP 1978, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris (undatiert), BDIC F Δ rés. 702/11. 68 Vgl. CESI: Plan d’intervention pour le changement et le développement de la C.E.H., enquête diagnostic janvier 1975-Mai 1975, BDIC F Δ rés. 702/6.
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teilweise im Wortlaut wiedergegeben sind.69 Alle diese wissenschaftlichen Studien werden zugleich als Dokumentation und als spezifische, zeitgenössische Deutungen untersucht. Der Argumentation von Rüdiger Graf und Kim Priemel folgend sollen diese als historisch spezifische Formen der Weltaneignung erkennbar gemacht und auf die damalige und möglicherweise andauernde Wirkmächtigkeit der in ihnen zum Ausdruck kommenden Deutungsmuster hin befragt werden.70
Q UELLEN Zurückgegriffen wurde für diese Arbeit auf unveröffentlichte Quellen in Archiven, auf veröffentlichte Gutachten, Broschüren und Bücher sowie auf (meist zeitgenössische) Filme, Rundfunk- und Fernsehbeiträge und eigene und von anderen Personen geführte Interviews. Im Stadtarchiv Besançon wurde in erster Linie der Fonds 5 Z bearbeitet, der das Unternehmensarchiv von LIP bis 1973 enthält. Dieses ist reichhaltig; jedoch wurde die Archivierung des Unternehmens 1968 auf Microfiches umgestellt, die mit den Konkursverfahren beinahe vollständig verloren gingen. Dementsprechend fehlen die auch für die Zeit vor 1968 raren Vorstandsprotokolle für die Zeit danach vollständig, Verwaltungsratsprotokolle sind nur einzelne vorhanden. Diese reichen zusammen mit einigen Protokollen der Personaldelegierten bis zur zweiten Konkursanmeldung 1976. In den Kartons dieses Bestandes befinden sich aber eine Dokumentation der Produktentwicklung sowie Korrespondenz mit dem Beschaffungswesen der französischen Armee. Ab 1970 sind auch Protokolle des Comité d'Entreprise enthalten. Die Buchhaltungs- und Lohnbuchhaltungsunterlagen hingegen fehlen, weil sie mit dem jeweiligen Konkursverfahren an das Handelsgericht übergingen. Dessen versäumte Archivierung im Départementsarchiv ließ es nicht zu, Unterlagen zu LIP zu bearbeiten. Außerdem befinden sich im Stadtarchiv die Unterlagen des Centre Municipal de Promotion et de Développement Économiques (CMPDE). Dieses kommunale Gremium zur Wirtschaftsförderung wurde 1972 ähnlich einem Beirat gegründet, in dem neben Vertretern des Stadtrats auch Vertreter der Industrie-
69 Bondu, Dominique: De l’usine à la communauté : l’Institution du lien social dans le monde de l’usine, unveröffentlichte Doktorarbeit, Paris 1981. 70 Graf, Rüdiger und Kim Christian Priemel: „Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften – Legitimität und Originalität einer Disziplin“, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59/4 (2011), S. 479-508.
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und Handelskammer und anderer interessierter Gruppen vertreten waren. Für die vorliegende Arbeit waren Unterlagen dieses Gremiums wichtig, welche die Gründung der Genossenschaften, den Sozialplan für die ehemaligen LIPBeschäftigten, kommunale Subventionen, Bürgschaften und Grundstücksfragen betrafen. Hierzu gehörten Protokolle des Stadtrats und seines Wirtschaftsausschusses, Korrespondenz mit der Präfektur und Geldgebern der Genossenschaftsbetriebe, vor allem aber diverse Sitzungsprotokolle des Gremiums selbst, in dessen Arbeitsgruppentreffen häufig Vertreter von LIP zugegen waren.71 Im Départementsarchiv Doubs in Besançon wurde auf den Fonds 45 J zurückgegriffen, den umfangreichsten Bestand, der zu LIP von einem der Beteiligten selbst angelegt wurde: Michel Jeanningros, CFDT-Mitglied und ab 1975 Personaldelegierter, arbeitete in der Vertriebsabteilung. Während der Betriebsbesetzung begann er als Zuständiger für die tägliche Presseschau der LIPArbeiter auch mit deren Archivierung. Der überwiegende Teil des Materials besteht dementsprechend aus Zeitungsausschnitten, darunter auch politische Zeitschriften und kleinere Veröffentlichungen. Darüber hinaus befinden sich dort zahlreiche Flugblätter, Solidaritätsbekundungen aus dem In- und Ausland, eine Dokumentation der Reisetätigkeit der LIP-Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Dokumente des Aktionskomitees und der Gewerkschaftssektionen bei LIP. Außerdem sind veröffentlichte und unveröffentlichte Bücher dort archiviert. Seine Sammelarbeit hat Jeanningros bis in die jüngste Vergangenheit fortgesetzt, weswegen auch für die Zeit nach seinem Ausscheiden aus dem Genossenschaftsbetrieb Les Industries de Palente (L.I.P.) 1985 zumindest noch Einladungen zu den jährlichen Genossenschafterversammlungen, einige Bilanzen und Jahresberichte hier vorhanden sind. Außerdem konnten Unterlagen bearbeitet werden, die der damalige Geschäftsführer Claude Neuschwander (1974-1976) in jüngster Vergangenheit dem Départementsarchiv übermacht hat. Hierzu gehörten die Verwaltungsratsprotokolle von 1975 und 1976, Briefwechsel sowie zahlreiche Unterlagen zur Geschäftsentwicklung im Bereich der Quarzuhren und außerdem das Manuskript eines langen Interviews über sein Verhältnis zu den Aktionären von LIP.72 Diese Unterlagen sollen zukünftig mit weiteren privaten Archivalien den Bestand 45 J ergänzen. Zum Zeitpunkt der Bearbeitung waren sie noch nicht eingearbeitet. Soweit die Unterlagen in der Zwischenzeit eine Inventarnummer bekommen haben, ist diese jeweils im Verweis angegeben, ansonsten habe ich die hieraus verwendeten Dokumente als „in Einarbeitung“ gekennzeichnet. Neben Claude
71 AM 86 W 39-43 und AM 86 W 112. 72 Neuschwander/Lagadieu: Ils ont tué Lip, unveröff. Typoskript, ADD 45 J 108.
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Neuschwanders Dokumenten umfasst die Sammlung privater Archivbestände die täglichen Depeschen, die die LIP-Arbeiter seit dem Oktober 1973 bis in den Januar 1974 verbreiteten sowie eine Vielzahl an Flugblättern und Stellungnahmen politischer Parteien. Eine Sammlung von Tondokumenten enthält neben mehreren Ausgaben des von LIP-Arbeitern 1973 aufgenommenen und bei öffentlichen Veranstaltungen präsentierten „Radio LIP“ auch Tonband-Mitschnitte aus Vollversammlungen und von Demonstrationen aus dem Arbeitskampf von 1973.73 Der sozialistische Nationalversammlungsabgeordnete Joseph Pinard, Mitglied des Conseil Général im Département Doubs, hat dem Départementsarchiv einen Bestand übermacht, in dem sich auch ein Dossier zu LIP und der Uhrenbranche von 1976 und 1977 befindet. Pinard war damals Mitglied eines Sonderausschusses zur Uhrenbranche, der anlässlich des zweiten Konkurses von LIP eingerichtet wurde. Im Dossier sind Sitzungsunterlagen, Gutachten und Stellungnahmen der unterschiedlichen politischen Parteien versammelt.74 Auch die Industrie- und Handelskammer des Doubs hat ein Dossier zu LIP angelegt, in dem vor allem Dokumente der lokalen Unternehmerschaft, Sitzungsunterlagen im Zusammenhang mit den beiden LIP-Konflikten und allgemeine Stellungnahmen der Unternehmerverbände enthalten sind.75 Besonders wichtig waren die Unterlagen der Arbeitsbehörden im Départementsarchiv. Diese enthalten Erhebungen über die Belegschaftsstruktur sowie eine Dokumentation der Auseinandersetzungen um Fortbildungen und Arbeitslosigkeit: behördeninterne Telexe und Briefwechsel, Kommunikation mit den Fortbildungsträgern und Belegschaftsvertretern, Einschätzungen der Arbeitsmarktsituation für verschiedene Berufsgruppen u.a.m. Sowohl zur Beurteilung der Sozialstruktur des Unternehmens als auch für die Analyse dieser politischen Auseinandersetzungen zwischen 1974 und 1978 erwiesen sich diese Bestände als hilfreich.76 Auch der Service Régional des Renseignements Généraux (SRRG), die regionale Staatsschutzabteilung der Polizei, hat diese Auseinandersetzungen durch Depeschen an andere Polizeiabteilungen, den Präfekten und Mini-
73 Fonds Monbrun, ADD 45 J 12 AV 1-32. 74 ADD 35 J 10. 75 ADD 1378 W 878. 76 Unterlagen der Direction régionale du travail et de la main d’oeuvre (DRTMO), ADD 2032 W 222-223 und 333-339.
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sterien dokumentiert.77 Die Union Régionale der CFDT hat zu LIP und zu den Auseinandersetzungen um die Uhrenbranche jeweils ein Dossier hinterlassen.78 Der für die Zeit ab 1976 wichtigste Bestand zu LIP, der die Auseinandersetzungen aus Sicht der Beteiligten dokumentiert, ist der Fonds LIP in der Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine (BDIC) in Nanterre.79 Dieser umfasst eine Sammlung von Sitzungs- und Diskussionsprotokollen, Vorstandsberichten, Arbeitsgruppentreffen, Bilanzen und Prospekten. Außerdem finden sich in diesem Bestand Korrespondenz und einige Buchhaltungsunterlagen des Freundschaftsvereins Les Amis de Lip (gegründet im November 1976) und der Belegschaftszeitung LIP Unité (1973-1983). Auch die Auseinandersetzungen um Fortbildungen und Arbeitslosigkeit sind hier aus Sicht der beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter in Form von Briefen, Diskussionsprotokollen und Stellungnahmen archiviert. Jedoch endet dieser Bestand im Wesentlichen 1983, nur wenige Einzeldokumente sind für die Zeit bis zum Jahr 1985 enthalten. Daneben befindet sich in der BDIC der Fonds der Cahiers de Mai, einer Unterstützergruppe, die bei LIP half, die Belegschaftszeitung herauszugeben.80 Zur fundierten Diskussion dieser Materialien erwiesen sich die Bestände der CFDT und ihrer Metallgewerkschaft in deren eigenem Archiv in Paris als wichtig. Da die Metallgewerkschaft der CFDT das Unternehmen Les Industries de Palente (L.I.P.) bis zu seiner Konkursanmeldung im Sommer 1987 begleitete, finden sich in deren Archiv Dokumente, die Aufschluss über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Betriebs geben. Hierzu gehören Korrespondenz mit Geldgebern und Ministerien, Gutachten und Briefwechsel mit der CFDT-Sektion von L.I.P. Vergleichbare Dokumente sind in diesen Beständen und jenen des Dachverbands der CFDT auch für die Zeit ab 1973 zu finden, ebenso wie Pressemitteilungen und Redebeiträge.81 In Nationalarchiv enthalten die Unterlagen der für die Metall- und Elektroindustrie zuständigen Direktion im Industrieministerium eine Dokumentation über den Arbeitskampf von 1973, aber auch der Verhandlungen über den Unternehmensplan für die Genossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) mit den entsprechenden Stellungnahmen und Gutachten der anderen beteiligten staatlichen Stellen. Im Zusammenhang mit den Quarzuhrenplänen für die Branche und die Rolle von LIP darin wurde ein eigenes Dossier angelegt, ebenso über die För-
77 ADD 1485 W 240. 78 ADD 85 J 55 und 85 J 64. 79 BDIC F Δ rés. 702. 80 Fonds Cahiers de Mai, BDIC F Δ rés. 536. 81 Für die Signaturen s. Quellenverzeichnis im Anhang.
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dermaßnahmen, die LIP in diesem Zusammenhang bereits vor 1973 betrafen. Daneben hat das Arbeitsministerium die Korrespondenz mit den lokalen und regionalen Behörden im Zusammenhang mit LIP archiviert, und die Pressestelle des Premierministers hat ein Dossier zu LIP hinterlassen.82 Die zentrale Leitung der Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) in der Nationalpolizei hat eine Einsatzdokumentation aus dem August 1973 archiviert. Die Depeschen verschiedener Staatsschutzstellen sind ebenfalls in einem einem eigenen Dossier zusammengefasst.83 In Bezug auf die Unterstützernetzwerke von LIP sind im privaten Archivbestand der PSU im Nationalarchiv nicht nur die Zeitschriften der Partei, sondern auch Unterschriftensammlungen aufschlussreich.84 Im Archiv des französischen Verteidigungsministeriums konnten Details der Geschäftsbeziehungen zwischen LIP und der Armee rekonstruiert werden; die diesbezüglichen Unterlagen reichen bis 1982. Außerdem konnte Klarheit darüber gewonnen werden, welche Gendarmerie-Einheiten für die Räumung des Fabrikgeländes am 14. August 1973 zuständig waren.85 In Deutschland hat das Archiv Soziale Bewegungen in Baden, Freiburg, eine Sammlung von Unterstützermaterialien zu LIP im Bestand, das Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin besitzt ein Dossier der Filmemacher Edith Marcello und David Wittenberg, die den Arbeitskampf filmisch dokumentierten. Das Online-Projekt MAO (Materialen zur Analyse von Opposition) hat diverse Zeitungsbeiträge und Flugblattartikel des Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) sowie diverser kleinerer politischer Gruppen in einem Dossier zu LIP archiviert.86 Die Filme, Rundfunk- und Fernsehbeiträge und autobiografischen Bücher, auf die für diese Arbeit zurückgegriffen wurde, finden sich im Quellen- und Literaturvereichnis. Wie bereits angedeutet, war die Verarbeitung rege. Durch die fortgeschrittene Digitalisierung sind viele der verwendeten Rundfunk- und Fernsehbeiträge über die Internetseite des Instititut National de l’Audiovisuel frei zugänglich. Online konnte auch auf die Quellendokumentation des Centre Jean Jaurès zur Debatte um die Selbstverwaltung in der Parti Socialiste (PS) zurückgegriffen werden, dort sind sowohl Zeitschriftenbeiträge als auch Kongressunterlagen und Redebeiträge mit Bezug zu LIP archiviert.
82 Siehe Quellenverzeichnis im Anhang. 83 AN 19940111/4 und AN 19860581/29. 84 AN 581 AP 117 und AN 581 AP 118. 85 Für die Signaturen s. Quellenverzeichnis im Anhang. 86 MAO – Dossier LIP: http://www.mao-projekt.de/INT/EU/F/Frankreich_Besançon_ Lip.shtml, zuletzt abgerufen am 23. Oktober 2016.
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In den privaten Beständen der LIP-Arbeiterin Fatima Demougeot konnte auf eine Sammlung von Materialien der CGT zurückgegriffen werden, die die übrigen in den genannten Archiven gut dokumentierten CGT-Stellungnahmen ergänzten. Michel Jeanningros verfügte zu Hause noch über ausführlichere Listen der durch LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter vorgenommenen Betriebsbesuche und Vortragsreisen. Interviews wurden für diese Arbeit mit Personen geführt, die im Betrieb unterschiedliche Berufsgruppen, aber auch unterschiedliche politische Strömungen repräsentierten. Den Gesprächen kam die Funktion zu, diese Perspektiven besser zu verstehen und zueinander in Beziehung setzen zu können. Sie ergänzten in dieser Hinsicht das Archivmaterial. Darüber hinaus eröffneten sie Einblicke in die lebensgeschichtlichen Einbettungen der Auseinandersetzungen bei LIP. Dies war wichtig, um die Veränderung persönlicher Perspektiven im Zuge der beiden langen Arbeitskämpfe besser einschätzen zu können. Interviewpartnerinnen und Interviewpartner waren die junge LIP-Arbeiterin Fatima Demougeot (geb. 1949), die bis 1987 in einem der Genossenschaftsbetriebe arbeitete und der junge LIP-Arbeiter François Laurent (geb. 1949), der in der Genossenschaft Les Industries de Palente eine neue CFDT-Gewerkschaftssektion aufbaute. Mit Charles Piaget (geb. 1928), Werkstattleiter und CFDT-Gewerkschafter bei LIP sowie emblematische Figur des Arbeitskampfs sowie mit Michel Jeanningros (geb. 1932) wurden Interviews geführt; beide trieben die Genossenschaftsgründungen ab 1977 enthusiastisch voran. Die interviewte ehemalige LIP-Sekretärin Monique Piton (geb. 1934) hingegen verließ Anfang 1978 enttäuscht den Arbeitskampf. Mit dem Vorstandsvorsitzenden von LIP zwischen 1974 und 1976, Claude Neuschwander (geb. 1933), wurde ein Interview geführt, das darauf zielte, seine persönlichen Perspektiven vor allem in Bezug auf die Branchenentwicklung und seine damaligen unternehmerischen Perspektiven für LIP besser einschätzen zu können.87
G LIEDERUNG
UND
H INWEISE
Die Gliederung der Arbeit folgt einem gleichermaßen chronologischen wie problemorientierten Zugang. Während die ersten drei Kapitel den Zeitraum von 1973 bis 1976 zum Gegenstand haben, behandeln die Kapitel 5 bis 7 den Zeitraum von der zweiten Betriebsbesetzung ab 1976 bis zur Konkursanmeldung von L.I.P. 1987. Im jeweils ersten Kapitel wird nach den Spezifika der in den
87 Vgl. auch die Angaben zu den Interviewpartnern im Quellenverzeichnis.
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Arbeitskämpfen geschaffenen Formen von Demokratie gefragt (Kapitel 1 und 5). Welche Vorstellungen von Selbstverwaltung kamen in ihnen zum Ausdruck und konfligierten möglicherweise miteinander? Wie organisierten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter und welches Verhältnis entwickelten sie zu ihren Unterstützern und Unterstützerinnen von außen? Im jeweils zweiten Kapitel wird die wirtschaftliche Entwicklung von LIP bis 1976 (Kapitel 2) bzw. der Produktionsgenossenschaften von 1977 bis 1987 (Kapitel 6) untersucht. Hierbei geht es darum, die Interessen und Einflussnahmen der beteiligten Akteure zu analysieren und diese auch in Bezug auf ihre Zukunftsvorstellungen für das Unternehmen und die Branche zu befragen. In einem dritten Schritt werden unter dem Titel „Arbeiten und Leben“ (Kapitel 3 und 7) jeweils die sich verändernden Arbeitsbedingungen im Betrieb, der Umgang mit der Arbeitslosigkeit, mit Qualifikationsanforderungen und Weiterbildungen durch die (ehemaligen) LIP-Beschäftigten, die Arbeitsbehörden und die Geschäftsleitung untersucht. Dem Kapitel 4 – Produkte einer umkämpften Fabrik – kommt eine Brückenfunktion zwischen den beiden Teilen zu. In ihm werden die in den Betrieben und während der beiden Betriebsbesetzungen hergestellten Produkte in Bezug auf die in ihnen transportierten Zukunftsvorstellungen und Annahmen über das „richtige Wirtschaften“ analysiert. Es leistet eine wichtige Kontextualisierungsarbeit in Bezug auf die technischen Veränderungen, die in den weiteren Kapiteln dementsprechend berücksichtigt werden können. Die französischsprachigen Zitate in dieser Arbeit habe ich, soweit nicht anders angegeben, selber ins Deutsche übersetzt. Dabei habe ich mich um deutschsprachige Verständlichkeit und Idiomatik bemüht, ohne über zeitgebundene und französische Spezifika leichtfertig hinweg zu gehen. Einige Protagonisten bei LIP entwickelten in langen Diskussionen einen sehr eigenen Sprachgebrauch. Diesen präsentiere ich gelegentlich im Original, weil er viel über ihr Selbstverständnis verrät. An verschiedenen anderen Stellen habe ich das Original kenntlich gemacht, wenn es nicht oder nur schwer wortgetreu zu übersetzen war. Auf die Verwendung einer gegenderten Schreibweise mit _, * oder Binnen-I habe ich verzichtet. Die Dominanz von Männern in so benannten Gruppen wäre möglicherweise weniger sichtbar geworden, ebenso wie die spezifischen Probleme der Frauen im Betrieb. Um deren jeweilige Kenntlichmachung habe ich mich deshalb umso mehr bemüht.
1
LIP 1973 – ein Selbstverwaltungskonflikt?
„Sie haben dieses Dokument gelesen, sie können die besorgniserregende Situation feststellen, die den LIP-Arbeitern bereitet wird. Sie werden nicht überrascht sein, wenn in den kommenden Wochen oder Monaten ein schwerer Konflikt bei LIP ausbricht.“1 So schloss ein Dossier der CFDT-Gewerkschaftssektion bei LIP Ende Januar 1973. Ausreichend lange hatten die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Unternehmens zwischen seinen Eigentümern, Geschäftsführern und dem Institut de Développement Industriel (IDI) geschwelt, einer teilstaatlichen Beteiligungsgesellschaft, die von den Eigentümern der Aktiengesellschaft LIP mit einem Restrukturierungsplan beauftragt worden war.2 Lange genug waren die fortgesetzten Verluste des Unternehmens, der längst begonnene Stellenabbau über „natürliche Abgänge“ und die Nicht-Auslastung bestimmter Abteilungen Thema auf den Sitzungen des Betriebsausschusses (comité d’entreprise) gewesen.3 Über die konkreten Umstrukturierungspläne gab die Geschäftsleitung jedoch nur sporadisch Informationen heraus. Als der Vorstandsvorsitzende Jacques Saintesprit am 17. April zurücktrat und damit Platz für zwei vom Handelsgericht bestellte Verwalter und den möglichen Weg ins Konkursverfahren freimachte, begannen die Beschäftigten bei LIP mit der koordinierten Verlangsamung der Arbeit. Hiermit zielten sie vor allem darauf, von der Betriebsleitung und dem schweizerischen Mehrheitsaktionär Ébauches Informationen über die geplante Unternehmensumstrukturierung und deren Folgen zu erzwingen, ohne sich durch einen Streik des eigenen Lohnes zu berauben. Erste Demonstrationen, Veröffentlichungen und Briefe zielten auf die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, unter anderem Besançons sozialistischer Stadtverwaltung.
1 2
CFDT LIP: Mémorandum sur la situation chez LIP, S. 21, AM 5Z 224. Vgl. zu den verschiedenen bis 1987 bei LIP und seinen Nachfolgebetrieben eingesetzten Wirtschaftsförderungsmechanismen Tabelle 3 im Anhang.
3
Vgl. die Betriebsausschusssprotokolle, AM 5Z 220.
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Als der Stadtrat Ende Mai das erste Mal über den Fall beriet, verabschiedete er eine Entschließung, mit anderen staatlichen Stellen Kontakt aufzunehmen, „damit sich bei der Suche nach einer Lösung ein Zusammenspiel etabliert.“4 Zunächst erhielten die ökonomischen Schwierigkeiten und die bevorstehende Auseinandersetzung bei LIP von Seiten staatlicher Stellen wenig Aufmerksamkeit. Eine große Öffentlichkeit und detailliertere Beschäftigung mit dem Fall durch die beteiligten Stellen des Staates – v.a. das Industrieministerium – wurden dem Arbeitskampf nach zwei gelungenen Coups der Belegschaft im Juni 1973 zuteil: Am 12. Juni sperrte eine Delegation aus dem Betrieb Mitglieder des Vorstands ein. Hierbei wurden Dokumente entdeckt, die konkreten Aufschluss über die geplanten Entlassungen gaben, welche den Beschäftigten bis dahin verschwiegen worden waren. Und am 18. Juni beschloss eine Vollversammlung in der Kantine des Betriebs, auf eigene Faust Uhren zu produzieren und zu verkaufen. Ab diesem Moment gewann einerseits die Unterstützung der Gewerkschaftssektionen von CGT und CFDT durch ein Aktionskomitee an Bedeutung, das sich bereits im April im Betrieb konstituiert hatte. Die ab dem 18. Juni täglich stattfindenden Vollversammlungen und die Arbeit in zahlreichen Ausschüssen zur Organisation der Betriebsauseinandersetzung – Verkauf, Empfang von Besuchern, Produktion u.v.m. – bildeten gemeinsam mit dem Aktionskomitee und der anschwellenden Unterstützung von außen den Kern einer Organisierung, die vor Ort Begegnungen und Erfahrungsaustausch ermöglichte. Diese verlieh dem Arbeitskampf seine Fantasie und Ausstrahlungskraft, sowie den Beteiligten ihr langes Durchhaltevermögen. Andererseits nahm die Medialisierung des Konflikts neue Ausmaße an. Deutungen von außen überlagerten das Bild, welches sich die Beschäftigten selbst von ihrer Auseinandersetzung machten und drohten gelegentlich, die Deutungshoheit zu erhalten.5 Über weite Strecken gelang es den Beteiligten im Betrieb jedoch, ihre Erfahrungen und Positionen mit einer eigenen Form von Öffentlichkeitsarbeit zu verbinden, der schließlich entscheidende Bedeutung zukam. Besuche in anderen Betrieben sowie ausführliche Solidaritäts- und Vertriebsreisen durch Frankreich und Europa gehörten ebenso hierzu wie die Herausgabe der Zeitung LIP Unité und die Produktion von Tonkassetten. Die Verhandlungen mit dem ersten Unternehmer, Henry Giraud, der von Industrieminister Jean Charbonnel zur Ausarbeitung eines Übernahmeplans im August nach Besançon entsandt worden war, waren von zahlreichen Missverständnissen geprägt. Der von ihm mit den Gewerkschaftssektionen und ihren
4
Zit. nach de Virieu, François-Henri: 100.000 montres sans patron, Paris 1973, S. 77.
5
Vgl. Champeau, Thomas: Lip – le conflit et l’affaire, unveröffentlichte Masterarbeit, Paris 2007.
LIP 1973 – EIN S ELBSTVERWALTUNGSKONFLIKT ? | 41
Dachverbänden ausgehandelte Plan beinhaltete noch immer viele Entlassungen. Er wurde am 12. Oktober von den LIP-Beschäftigten in geheimer Abstimmung abgelehnt. An den Ursprungsforderungen im Dreiklang „Keine Entlassungen, keine Aufspaltung der Firma, Erhalt der erkämpften Errungenschaften“ wurde festgehalten. Von der CGT wurde das Abstimmungsergebnis zunächst als Ergebnis der Manipulation durch linksradikale Unterstützer gedeutet. Vielmehr kann es jedoch als Durchsetzung der Basis gegenüber den Gewerkschaftszentralen verstanden werden. Die Zentrale der CFDT sah während des gesamten Konflikts eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin, Expertise bereitzustellen, um deren Ergebnisse verhandelbar zu machen. Bereits im August hatte sie auf einer Pressekonferenz erste Ergebnisse einer Studie vorgelegt, die beweisen sollte: „LIP ist lebensfähig“.6 Sein vorläufiges Ende fand der Arbeistkampf am 29. Januar 1974 mit der Zustimmung der Belegschaft zu einem Übernahmeplan, der zwischen einer Gruppe französischer Großunternehmer, der Regierung und führenden Gewerkschaftsfunktionären angebahnt und schließlich von einer kleinen Gruppe von Wirtschaftsexperten präzisiert worden war. Deshalb gilt es in diesem Kapitel, die entstehende Demokratie vor Ort in ein Verhältnis zu den Verhandlungsroutinen, dem Expertenwissen und diesen kleinen Entscheidungszirkeln zu setzen. Mit der Frage nach dem „Selbstverwaltungskonflikt“ werden diese Beziehungen zum Gegenstand. Die Spezifika der Demokratie bei LIP während des ersten Konflikts 1973 werden in einem ersten Schritt an den konkreten Veränderungen in der Produktion, bei der Herstellung von Öffentlichkeit und im Verhältnis zwischen Basismobilisierung und Verhandlungen erörtert. In einem zweiten Schritt wird die Rezeption des Arbeitskampfs bei LIP als „Selbstverwaltungskonflikt“ (conflit autogestionnaire) diskutiert. Was verbanden die Protagonisten der Debatten um die Selbstverwaltung mit LIP? Der Umweg über diese zeitgenössischen Deutungen ermöglicht erste Rückschlüsse auf das Verhältnis der LIP-Beschäftigten zu den organisatorisch ressourcenreichsten ihrer Unterstützer – insbesondere der CFDT –, dem während der zweiten Betriebsbesetzung abermals eine wichtige Rolle zukam. Zunächst gilt es jedoch, sich hierfür einige strukturelle Voraussetzungen des Arbeitskampfs zu vergegenwärtigen. Zu diesen gehören die Bedeutung des Unternehmens als Standortfaktor in Besançon, die Sozialstruktur der Belegschaft und vorangegangene Konflikterfahrungen der Beschäftigten.
6
Pressekonferenzen der Fédération Générale des Mines et de la Métallurgie (FGM) in der CFDT vom 8. August und vom 23. August, FGM 1 B 571.
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1.1 D AS U NTERNEHMEN DES E REIGNISSES
AM
V ORABEND
LIP in der Region: Vorzeigeunternehmen und Standortfaktor Mit seinen etwas über 1.300 Beschäftigten und einer Jahresproduktion von 500.000 Uhren war LIP eine der größten Uhrenfabriken in Frankreich. Drei Viertel der insgesamt etwa 300 Betriebe der französischen Uhrenindustrie konzentrierten sich damals in der Franche-Comté, deren Hauptstadt Besançon ist. Einige wenige Unternehmen der Branche in Besançon hatten ebenfalls mehrere Hundert Beschäftigte (Yema, Maty, Société des Compteurs). Einzig Kelton, eine seit 1957 in der Stadt ansässige Tochter der „American Time Corporation“, beschäftigte noch mehr Personen als LIP, hier wurden von 1500 Beschäftigten etwa zwei Millionen Uhren jährlich gefertigt. Diese Uhrenhersteller machten also zusammen mit der Kunstfaserfabrik Rhône-Poulenc Textile (ehem. Rhodiacéta, 2.500 Angestellte) und der Bekleidungsfirma Weil (1.400) einen guten Teil der über 20.000 Industriearbeitsplätze in Besançon mit seinen 130.000 Einwohnern aus.7 Traditionell gliederte sich die Uhrenproduktion in der Franche-Comté wie auch in der Schweiz jedoch in zahlreiche Kleinbetriebe, die jeweils auf bestimmte Schritte der Uhrenproduktion spezialisiert waren. Ihre Schwerpunkte hatte diese Form der Produktion – Établissage genannt – auch noch zu Beginn der 1970er Jahre in vielen kleinen Werkstätten in der Stadt Besançon einerseits und am Oberlauf des Doubs, näher an der schweizerischen Grenze, andererseits. Der Herstellung von Federn, Zeigern, Gehäusen und weiteren Einzelteilen in Kleinbetrieben standen andere Betriebe gegenüber, in denen die Endmontage vorgenommen wurde. Eine besondere Rolle in dieser arbeitsteiligen Produktion kam den Herstellern der sogenannten Rohwerke, französisch „Ébauches“ zu. Hier und im Bereich der Endmontage hatte eine deutliche Konzentration stattgefunden. Insgesamt gab es in der Uhrenbranche der Franche-Comté zum Zeitpunkt des Konflikts etwa 12.000 Arbeitsplätze.8 Was LIP sowohl von den anderen größeren Uhrenfabriken als auch von den kleinen Uhrmacherbetrieben des Haut-Doubs unterschied, war das Bemühen
7
Vgl. die Zahlen der Arbeitsbehörden, ADD 2032 W 333, Einwohnerstatistik nach Angaben des nationalen Statistikamtes (INSEE).
8
Vgl. die Sitzungsunterlagen des Conseil Général du Doubs vom 18.10.1976: „Evolution du secteur industriel dans le Doubs“, ADD 35 J 10; vgl. Ternant, Évelyne: La dynamique longue d’un système productif localisé : l’industrie de la montre en FrancheComté, unveröffentlichte Doktorarbeit, Grenoble 2004.
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seines langjährigen Eigentümers und Geschäftsführers Fred Lipmann, einen großen Teil der Vorproduktion im Betrieb zu integrieren. Wurden bei Kelton im Verhältnis zur Beschäftigtenzahl deutlich mehr Uhren produziert als bei LIP, so lag dies auch daran, dass dort mehr Vorprodukte von außerhalb verbaut wurden, der Schwerpunkt lag auf einfachen und billigeren Uhren. Die integrierte Produktion bei LIP fassten damals auch die Gewerkschafter und der spätere Vorstandsvorsitzende Claude Neuschwander mit bewunderndem Tonfall unter dem Begriff der „Manufaktur“ zusammen. Zwar ist dieser in der Uhrenbranche im Französischen wie im Deutschen ein Fachbegriff zur Beschreibung von Betrieben, „die beinahe die ganze Uhr herstellen“; diese sollen hierdurch besser von der arbeitsteiligen Produktion in vielen Kleinbetrieben unterschieden werden.9 Im Fall LIP war die Verwendung des Begriffs jedoch ein Abgrenzungskriterium in mehrere Richtungen. Erstens unterschied sich die Fabrik LIP demnach von den kleinen Uhrenproduzenten. Eine schnellere Anpassung an technische Neuerungen und Veränderungen in der Mode sowie eine Senkung der Produktionskosten der Uhren waren aus dieser Sichtweise wichtige Charakteristika, ebenso wie die Fähigkeit zur Konkurrenz mit größeren Marktteilnehmern. Zweitens war LIP aber auch keine Fabrik zur Endmontage. Mit dem Begriff der Manufaktur wurde der handwerkliche Wert der Produkte betont, deren Qualität LIP demnach in allen wichtigen Phasen des Produktionsprozesses kontrolliert habe. Auch der Vertrieb fand diesem Selbstbild entsprechend ausschließlich über ein großes Netz von mehreren Tausend französischen Fachhändlern statt; nur wenig mehr als ein Zehntel der Produktion von LIP wurde vor 1973 exportiert – vor allem nach Belgien und Italien. Der Boom von billigeren, sogenannten „Roskopf“-Uhren in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren ging an LIP vorbei, das nach wie vor klassische mechanische und automatische Uhren produzierte, und seit dem Ende der 1950er Jahre auch batteriebetriebene, elektromechanische Uhren.10 Die technologischen Fähigkeiten von LIP spielten für seine Stellung in der Branche und in der Region eine wichtige Rolle. LIP unterhielt eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung, auf die es neben den Ergebnissen des von
9
Stichwort „Manufaktur“, in: Berner, Georges-Albert: Illustriertes Fachlexikon der Uhrmacherei, La Chaux-de-Fonds 1961, S. 538.
10 In den Roskopf-Uhren wurden die nach ihrem Erfinder Georges-Frédéric Roskopf (1813-1889) bennanten, günstigeren Stiftankerhemmungen verbaut. Die erste Uhr, die Roskopf selbst in den 1860er Jahren nach diesem Prinzip entwickelt hatte, nannte er „Le Prolétaire“, Hauptkunden waren militärische Einheiten, die ihre Mitglieder hiermit ausstatteten. Automatikuhren sind mechanische Armbanduhren, die sich durch die Bewegung des Handgelenks von selbst aufziehen.
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der Branche in Besançon gemeinsam betriebenen Entwicklungszentrums CETEHOR11 zurückgreifen konnte. Für Kontrolle, Forschung und Entwicklung waren 56 Personen angestellt, 38 weitere waren mit der Entwicklung der Quarzuhren beschäftigt. Seit 1967 hatte LIP staatliche Fördergelder zur Entwicklung einer Quarz-Armbanduhr für Damen erhalten. 1971 wurde deren Prototyp präsentiert. 1973 war sie die erste französische Quarzuhr, die für die reguläre Serienproduktion bereit war.12 Baulicher Ausdruck eines von wichtigen Teilen der regionalen Öffentlichkeit geteilten unternehmerischen Selbstbildes, das gleichermaßen Tradition, handwerkliche Qualität und technologischen Fortschritt umfasste, war das Fabrikgebäude selbst. Zwischen 1960 und 1962 war dieses im Stadtteil Palente, am östlichen Rand von Besançon gebaut worden. Seine hohen Fenster, die von vielen Arbeitsplätzen einen Blick in die Hügel der Umgebung erlaubten, die Sauberkeit der Räume, die Schönheit ihrer Umgebung und das Freigelände mit einem großen Bestand an Bäumen werden bis heute von ehemaligen Beschäftigten hervorgehoben.13 849 Personen waren in der Fabrik in Palente Ende 1972 in der Uhrenabteilung angestellt. In einer zweiten Abteilung mit dem Namen „équipement civil et militaire“ waren 210 Personen angestellt. Hier wurden vor allem Zündvorrichtungen für diverse Projektile von der Mörsergranate bis zur Luft-Boden-Rakete, sowie deren Ummantelungen, also Sprengköpfe produziert. Hauptkunden waren die Rüstungsunternehmen Manurhin, Dassault und Brandt. Diese hielten zwar teilweise auch Exportgenehmigungen. Für den Großteil der Bestellungen bei diesen Firmen war jedoch das Beschaffungswesen des französischen Heeres verantwortlich. Einerseits war die Produktion der Zünder eine Massenfertigung mit entsprechend langfristigen Einnahmen – Auftragszahlen gingen in die hunderttausende. Andererseits war die Phase der Markteinführung lang, weil Tests, die sowohl bei LIP als auch bei den Abnehmern und der Armee selbst durchgeführt wurden, eine große Genauigkeit in Bezug auf Sicherheit und Flugbahn der Geschosse garantieren sollten.14 Eine dritte Abteilung, für Mechanische Fertigung,
11 CETEHOR – Centre technique industriel pour les professions de l’horlogerie, de la bijouterie, de la joaillerie et de l’orfévrie. 12 Vgl. die Dossiers des Industrieministeriums zur Förderung der Quarzuhrenproduktion bei LIP, AN 19840668/8. 13 Vgl. Interview des Verfassers mit Michel Jeanningros, 7. März 2014. 14 Das Beispiel der Einführung von Zündköpfen für 30mm-Geschosse zeigt dies. Zu deren Entwicklungsphase von 1967 bis 1972 vgl. die Korrespondenz zwischen LIP,
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ebenfalls in Palente, stellte mit 61 Personen feinmechanische und allgemeine mechanische Konstruktionen her. Hierzu gehörten feinmechanische Werkzeuge für LIP selbst; hauptsächlich wurde jedoch an andere Industriebetriebe geliefert. Eine 30 Kilometer südlich von Besançon gelegene Fabrik in der Kleinstadt Ornans, die erst 1969 von LIP gekauft worden war, diente der Produktion von Werkzeugmaschinen; hier arbeiteten 1973 172 Personen.15 Hergestellt wurden hier auch Maschinen, die in den Abteilungen von LIP Palente gebraucht wurden, Hauptkunde war jedoch die staatliche Schulbehörde, die von dieser Abteilung Rund- und Flachschleifmaschinen für Berufsschulen kaufte. Außerdem wurden hier Bestückungsautomaten für Stanzen produziert. Prägend für die öffentliche Wahrnehmung des Betriebs LIP blieben derweil die Armbanduhren; im Fernsehen wurden vor allem die batteriebetriebenen, elektromechanischen beworben. Bei Radio Luxembourg wurde die Zeitansage von LIP gesponsert und zeitgenössischen Umfrageergebnissen zufolge genoss die Marke LIP frankreichweit einen enormen Bekanntheitsgrad. Regional konnte mit den von LIP abhängigen Arbeitsplätzen in Zulieferbetrieben mobilisiert werden. Denn trotz des von der Unternehmensführung proklamierten „Manufaktur“-Charakters musste eine große Zahl von Einzelteilen aus Zulieferbetrieben bezogen werden. 6.000 Personen waren bei den 54 Zulieferern beschäftigt, die der Konkursverwalter zählte, acht dieser Betriebe machten mehr als 15 Prozent ihres Umsatzes mit LIP.16 In der politischen Auseinandersetzung wurde darüber hinaus jedoch die Befürchtung geäußert, durch das Verschwinden von LIP könne die französische Uhrenbranche den Anschluss an die Quarztechnologie verpassen; hierdurch würden auch Arbeitsplätze verschwinden, die nicht unmittelbar von LIP abhingen.17
Manurhin und der Armee sowie die Dokumentation von Versuchsreihen in AM 5Z 113. 15 Vgl. die Pressemappe der Fédération Générale des Mines et de la Métallurgie (FGM) in der CFDT vom 23. September 1973, S. 72ff., FGM 1 B 571. 16 Vgl. de Virieu: 100.000 montres sans patron, S. 105. 17 Vgl. die Stellungnahme der Association Départementale des Associations Familiales aus dem Juli 1973, ADD 45 J 5/2.
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„Normalbetrieb“: Sozialstruktur und Arbeitsalltag „LIP, das war nicht schlimmer als anderswo. Das war sogar eine der am wenigsten schlimmen Fabriken von Besançon, besonders was die Atmosphäre angeht und die Gehälter.“18 Was dieser LIP-Arbeiter zeitgenössisch mit einigem Pragmatismus über die Fabrik LIP sagte, sprachen die 30 von der Historikerin Joëlle Beurier für ihre Abschlussarbeit interviewten LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter im Jahr 1992 mit deutlich größerer Begeisterung aus. Ihr rückblickendes Selbstbild fasste Beurier aufgrund der von ihnen erwähnten Vorteile gegenüber anderen Betrieben unter dem Schlagwort der Arbeiteraristokratie zusammen.19 Die Besonderheiten der Fabrik in Palente und die lange Tradition des Uhrmacherhandwerks veranlassen Historiker, den Arbeitern retrospektiv eine enge Identifikation mit „ihrem“ Unternehmen und ihrer Arbeit zu unterstellen. So schreibt der Historiker Gaston Bordet, in Besançon CFDT-Mitglied und begeisterter Beobachter der Auseinandersetzung bei LIP: „Niemals ließ sich ihre technische Kompetenz anzweifeln. Sie waren, seit Jahrzehnten, gut ausgebildet. Am häufigsten am Institut de Chronométrie in Besançon, dank ihres Chefs Fred Lip – sie sagen es selbst –, dank der leitenden Angestellten – was sie anerkennen –, aber auch dank ihrer persönlichen und gemeinsamen Arbeit; man darf nicht vergessen, dass sie es waren, die die besten französischen Uhren herstellten und der Marke Lip weltweite Berühmtheit verschafften; sie wussten es und waren stolz darauf. Sie liebten ihre Arbeit.“20
Dass die Berühmtheit der Marke LIP sich weitgehend auf Frankreich beschränkte, ist mit den Verkaufszahlen bereits gezeigt worden. Die wichtigere Frage ist, wer aus der Belegschaft tatsächlich seine Arbeit dergestalt liebte. Es ist anzunehmen, dass beruflicher Status, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten, die Höhe der Löhne und die jeweils praktisch ausgeübten Tätigkeiten das Verhältnis der Beschäftigten zu ihrer Arbeit prägten. Ein Blick auf die Sozialstruktur des
18 Guy, „55 Jahre, OP3“, in Piaget, Charles (Hrsg.): Charles Piaget et les Lip racontent, Paris 1973, S. 137. 19 Vgl. Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 1993, S. 3ff. 20 Neuschwander, Claude/Bordet, Gaston: Lip vingt ans après, 1973-1993: propos sur le chômage, Paris 1993, S. 32. Gaston Bordet ist mit Claude Neuschwander seit den Zeiten des LIP-Konflikts befreundet und war lange Jahre aktives Mitglied der CFDT und der Sozialistischen Partei in Besançon.
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Unternehmens kann also bei der Beantwortung der Frage helfen. Dass Bordet selbst behauptet, die meisten seien am Institut de Chronométrie ausgebildet worden, entspricht einem spezifischen Blick von außen, in dem das technische Potential der Fabrik als Argument für deren Erhalt eine zentrale Rolle spielte. Tatsächlich wurden am Institut de Chronométrie, einer Ingenieursschule, technische Angestellte und Ingenieure ausgebildet. Die verschiedenen Berufsgruppen der Uhrmacher und Mechaniker erhielten ihre Ausbildung hingegen an der École Nationale d’Horlogerie, ab 1974 Lycée Jules Haag, in der Innenstadt von Besançon.21 Dort konnten Fachabiture mit Spezialisierungen in Mechanischer Fertigung, Mikrotechnik und Messtechnik erworben werden, außerdem gab es Vorbereitungsklassen für die Ingenieursschulen. Einfache Berufsausbildungen – certificat d’aptitude professionnelle (CAP) – wurden dort zum Uhrmacher in der Produktion, zum Feinmechaniker und zum Juwelier angeboten, außerdem mehrere vertiefende Berufsausbildungen – brevet d’études professionnelles (BEP) – mit Spezialisierungen in der Fein- und Mikromechanik.22 Darüber hinaus beschäftigte LIP eine große Zahl angelernter Arbeiterinnen und Arbeiter. 1972 waren bei LIP in Palente 691 Arbeiter, 269 Techniker, 70 Gruppenleiter, 66 Ingenieure und leitende Angestellte, 34 Handelsvertreter und 12 Mitglieder der Geschäftsleitung tätig. Der Altersdurchschnitt betrug 31 Jahre.23 Die 43 Wochenarbeitsstunden im Betrieb begannen morgens um 7h und endeten um 16.15h nachmittags, unterbrochen von einer zehnminütigen Frühstückspause und einer dreiviertelstündigen Mittagspause ab 12h, in der die Beschäftigten entweder – aufgrund der Zahl der Beschäftigten nach Abteilungen gestaffelt – in die Kantine
21 Zur Geschichte der Schule vgl. Musée du temps (Hrsg.): L’Horlo – L’école d’horlogerie de Besançon, Besançon 2013. Die damaligen Ausbildungsangebote vgl. Lycée Jules Haag: L’enseignement au lycée Jules Haag, Besançon 1974, ADD 2032 W 223. Mikromechanik bezeichnet die Konstruktion, Herstellung und Anwendung kleinster mechanischer Bauelemente im Bereich von Mikrometern. 22 Vgl. Lycée Jules Haag: L’enseignement au lycée Jules Haag, Besançon 1974, ADD 2032 W 223. 23 Vgl. Commission Popularisation: Dossier d’information, S. 5, ADD 45 J 106. 1972 zählte das Unternehmen LIP noch die Gesamtzahl von 1.354 Beschäftigten, vgl. Ébauches: Industrie horlogère européenne – Une expérience suisse, Ébauches SA-LIP 1967-1973, Neuchâtel 1974, S. 14, ADD 35 J 10. Eine Personalliste für LIP Palente aus dem März 1973 erfasst namentlich mindestens 535 Männer und 511 Frauen bei einer Gesamtzahl von 1.113 Beschäftigten. Da einige Personen nicht eindeutig männliche oder weibliche Vornamen trugen, kann die jeweilige Zahl entsprechend höher sein, vgl. Personalliste März 1973, AM 10 Z 1.
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gingen oder zu Hause aßen, wenn sie in der Nähe wohnten. Samstags gab es eine Vormittagsschicht. Beim näheren Blick auf die Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter im Betrieb fallen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in Entlohnung und Tätigkeit auf. Während etwa die Hälfte der Belegschaft bei LIP Frauen waren, stellten diese den Großteil der im Betrieb angelernten Arbeiterinnen, nach Zahlen der im Anschluss an den Arbeitskampf gegründeten Frauengruppe bei LIP 77 Prozent.24 Nicht nur für LIP, sondern für die gesamte Uhrenbranche der Zeit ist dies ein typisches Merkmal. Während „OS – Ouvrier Specialisé“– in der folgenden Tabelle diese Angelernten in ihren drei Vergütungsgruppen – OS1-OS3 – bezeichnet, wurden in den Lohngruppen der „Ouvriers Professionnels“ – OP1OP3 – Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung beschäftigt und solche, die sich vergleichbare Qualifikationen im Rahmen mehrjähriger Berufstätigkeit erworben hatten. Auffällig ist hier, dass die Zahl der Frauen in der niedrigsten Facharbeiter-Einstufung OP1 noch höher ist als die der Männer. In der zweiten und dritten Stufe sinkt ihr Anteil jedoch deutlich. Tabelle 1: Zahl von Männern und Frauen im Betrieb 1972 Personal: 1222
25
Männer (656)
Frauen (gesamt 566)
OS 1
10
7
OS 2
52
130
OS 3
25
150
OP 1
89
97
OP 2
70
20
OP 3
49
3
24 Die Analyse der Personalliste von März 1973 führt zu ähnlichen Ergebnissen (AM 10 Z 1). Pauline Brangolo hat dies gegen Ende der Entstehungszeit der voliegenden Dissertation in ihrer Masterarbeit getan, sie ermittelt daraus bei den OS einen Frauenanteil von leicht über 80 Prozent, vgl. Brangolo, Pauline: Les filles de Lip (1968-1981) – Trajectoires de salariées, mobilisations féminines et conflits sociaux, Masterarbeit, Paris 2016, S. 38. 25 Tabelle aus Groupe femmes: Lip au féminin, Combat Socialiste, Supplement Nr. 16, 1974, S. 9.
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Besonders die niedrigen Lohnstufen waren bei LIP bis zu 15 Prozent besser bezahlt als in der übrigen Branche. Weiter oben in der Gehaltsskala verringerte sich der Unterschied.26 Für die Dauer der Betriebszugehörigkeit und die individuelle Effizienz wurden Prämien ausbezahlt. Ein Teil des Lohns war in Form der Leistungsprämie in der Tat Stücklohn. Diese Prämie war bis in die späten 1960er Jahre individuell bemessen worden, zuletzt wurde sie dreimal jährlich gruppenweise definiert. Besonders bei den Uhrmachern gab es ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein in Bezug auf ihren Status im Betrieb und ihre berufliche Tätigkeit. Die handwerklichen Fertigkeiten prägten dieses Selbstbewusstsein, ebenso wie die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, deren Selbstbild auf die lange Tradition der Uhrenfertigung in kleinen Werkstätten zurückging. „Der Uhrmacher wird häufig als Person wahrgenommen, die eine Uhr von A bis Z herstellen kann.“27 Obwohl sich ihre alltägliche Arbeit stark von diesem handwerklichen Idealbild unterschied, kam den Uhrmachern im Betrieb eine besondere Stellung zu. Auf Fotos aus der Zeit sind die Uhrmacher an ihren weißen Kitteln deutlich von den Mechanikern in blauen Kitteln zu unterscheiden. Ihre tägliche Arbeit war in die starke Arbeitsteilung integriert. Sie waren sowohl in der Produktion als auch in der Montage und der Reparaturabteilung – service après vente – angestellt. Auch die Entwicklung neuer Uhrenmodelle wurde in erster Linie von Technikern und Uhrmachern im Betrieb vorgenommen. Als Fred Lipmann in den späten 1960er Jahren den ersten künstlerischen Gestalter von außerhalb einlud, war dies ein Novum. Neben der hieraus erwachsenden Identifikation mit dem Betrieb wurde in einer Fernsehsendung vom Juli 1973 von den Uhrmachern auch die berufliche Stabilität unterstrichen. Ein Uhrmacher aus der Entwicklungsabteilung bezog hierfür auch die betriebsinternen Ausbildungsschritte ein: „Als wir von der Schule gingen, dachten wir, einiges auf dem Kasten zu haben. Wir gingen zu LIP, man gab uns eine Ausbildung, eine ordentliche Ausbildung, eine LIPAusbildung. Und dann, im Lauf der Jahre, erkennt man, (kurze Pause), wir sind LIP, überall, in der Familie, in allem, was wir haben, in allem, da ist LIP [...].“28
26 Vgl. Tabelle in de Virieu: 100.000 montres sans patron, S. 193. Die Zahlen der Arbeitsbehörden für 1976 bestätigen diese Darstellung für einen späteren Zeitpunkt, vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit. 27 Cournarie, Emmanuëlle: Approche socio-anthropologique d’une reconversion industrielle – de l’horlogerie aux microtechniques à Besançon, Doktorarbeit, Besançon 2011, S. 99. 28 Magazine 52, 13. Juli 1973: Du côté de chez Lip, http://www.ina.fr/video/CAF93029 588/du-cote-de-chez-lip-video.html, 3min 49sec ff., abgerufen am 3. August 2016.
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Emmanuelle Cournarie unterstreicht in einer soziologischen Doktorarbeit über die Transformation der Uhrenindustrie in Besançon seit den 1970er Jahren, wie sehr solche beruflichen Selbstverständnisse sich bereits in der Ausbildung entwickelten. Während die Uhrmacher dort bereits an einzelnen Arbeitsplätzen geschult wurden, arbeiteten die Mechaniker weit häufiger in Gruppen.29 Dies setzte sich in der Fabrikarbeit fort und hatte offenbar Folgen für das Sozialgefüge im Betrieb: Die Abteilung Mechanische Fertigung war bei LIP wie in anderen Betrieben der Branche diejenige mit der stärksten gewerkschaftlichen Verankerung. Einige der Streikführer – Charles Piaget und Roland Vittot (beide CFDT) arbeiteten hier. Eine Broschüre aus dem Betrieb von 1971 fasst zusammen: „Die Aktionen gehen im Allgemeinen von bestimmten Bereichen aus, in denen die Stärke der Arbeiter am größten ist (die Mechanik und einzelne Bereiche der Uhrenfertigung). Die anderen Bereiche beteiligen sich an den Aktionen, aber ergreifen selten die Initiative dazu, je nachdem, ob es dort Kerne von Aktiven gibt oder nicht.“30 Hatten die Werkstattleiter oder Vorarbeiter in den meisten Fällen eine abgeschlossene Berufsausbildung, so galt dies offenbar nicht für alle, wie die folgenden Sätze eines Werkstattleiters in der Uhrenfertigung von LIP zeigen, die im Rahmen der Auswertung von Fortbildungsmaßnahmen 1974 aufgezeichnet wurden: LAVAL : „Die, die ohne Abschluss die Schule verlassen? Man muss nur arbeiten, mit ein bisschen Mut. Überhaupt, was machen sie denn da, in deiner Schule? Ich kann trotzdem lesen, ich kann rechnen, ich warte auf denjenigen, der mich aussticht.“ Georgette: „Du warst Werkstattleiter, wie lief das?“ LAVAL : „Ich habe nie jemanden verwarnt. Man musste sich gut erklären, fleißig arbeiten, sich auskennen. Ich habe Frauen von 35, 40 Jahren genommen. Die machen weniger Produktion als die jungen, aber die Teile sind gut. Die jungen machen zwar Produktion, aber wenn die Teile alle zurückgehen.“31
Für die gesamte Branche zeigt Cournarie, dass die Frauen, von denen Laval hier spricht, mit sehr bestimmten und häufig sehr vielfältigen Kompetenzen – Genauigkeit, Geduld, Ausdauer, Sauberkeit und Lerneifer – eingestellt wurden. Die Erwartungen an die Fähigkeiten von Männern waren bereits in der Ausbildung
29 Cournarie: Approche socio-anthropologique, S. 246. 30 PSU LIP: Un an de luttes chez LIP, Critiques Socialistes – Supplément No. 5, 1971, S. 6, ADD 45 J 106. 31 Gesprächsmitschrift einer Diskussion aus dem Sommer 1974, BDIC F Δ rés. 702/15.
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sehr ähnlich, auch von ihnen wurden neben den formalen Qualifikationen vor allem Präzision, Geduld, Ordentlichkeit und Geschicklichkeit erwartet, die als inoffizielle Kriterien in schulische Prüfungen eingingen und durch Probearbeiten im Betrieb unter Beweis gestellt werden mussten.32 Während diese spezifischen Fähigkeiten für die Männer aber als Teil eines offiziellen Berufsabschlusses formale Anerkennung und eine entsprechende Bezahlung mit sich brachten, war dies bei den Frauen nicht der Fall, die sich diese Fähigkeiten informell im Rahmen der Hausarbeit oder anderer Berufstätigkeit erworben hatten. Für die von Cournarie befragten ungelernten Arbeiterinnen, ausschließlich Frauen, bestand die Hauptbedeutung ihrer Arbeit darin, Geld zu erwirtschaften, welches häufig als Nebenverdienst angesehen wurde. Ihr Lebensmittelpunkt befand sich häufig im Zusammenhang mit Mann und Kindern im Haushalt, relativ häufig im Umland von Besançon. Zu den Fabriken LIP und Kelton fuhren kostenlose Busse. Wer selbst seine Anreise zum Betrieb organisierte, erhielt bei LIP einen Fahrtkostenzuschuss. Auch eine Stellenanzeige von LIP aus dem Februar 1967 verdeutlicht, welche diversen Fähigkeiten von den Frauen verlangt wurden, und mit welchen Annehmlichkeiten des Arbeitsplatzes sie angeworben wurden: ON RECHERCHE
WIR SUCHEN
Jeunes Femmes
Junge Frauen
ou Jeunes Filles
oder Junge Mädchen,
aimant sortir tôt le soir.
die abends gerne früh nach Hause gehen.
Habiles, précises, soigneuses.
Geschickt, präzise, sorgsam.
Aimant les bons restaurants
Die gute, günstige
pas chers.
Restaurants mögen.
Les locaux modernes
Die Räume modern,
clairs et propres
hell und sauber,
les transports gratuits
die Anfahrt kostenlos
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et intéressées par un travail
und an einer leichten,
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sauberen und gutbezahlten
et bien payé.
Arbeit interessiert.
32 Vgl. Cournarie: Approche socio-anthropologique S. 135ff.
52 | S ELBSTVERWALTUNG ZWISCHEN M ANAGEMENT UND »C OMMUNAUTÉ «
Si vous êtes de celles-là
Wenn Sie so eine sind
vous trouverez
werden sie bei uns
chez nous, la place qui
den Platz finden, der Ihnen
vous convient enfin.
endlich zusagt.
Présentez vous sans
Stellen sie Sich ohne Zögern
tarder ( il nous reste
vor (es verbleiben noch eini-
encore quelques postes à
ge Posten zu vergeben), jeden
pourvoir ), tous les jours
Tag von 7 bis 17 h, in der
de 7 à 17 H, au département
Personalabteilung
Personnel LIP – Palente Besançon.33
LIP – Palente Besançon.
Eine, die sich 1967 im Betrieb vorstellte, war die junge Arbeiterin Fatima Demougeot. 1949 in Algerien geboren und seit 1962 in Frankreich lebend, kam sie als 18-Jährige alleine nach Besançon und als Arbeiterin zu LIP. In einem katholischen Wohnheim für junge Arbeiterinnen wohnend, empfahlen ihr die dortigen Betreuerinnen, nicht die Stelle in der kleinen Werkstatt anzunehmen, in der sie sich zunächst vorgestellt hatte, sondern sich in einem „guten Unternehmen“ zu bewerben, als welches LIP offensichtlich angesehen wurde. Nach einer gewissen Zeit in der Montage besuchte sie die Abendkurse in Uhrmacherei, die im Betrieb angeboten wurden. Diese fanden an zwei Abenden in der Woche statt. Zum Zeitpunkt des Arbeitskonflikts arbeitete sie schließlich in der Endkontrolle der Uhren. Anschließend beteiligte sie sich an der Frauengruppe bei LIP, der wir eine eindringliche und kritische Beschreibung der Arbeitsbedingungen verdanken, die die Frauen bei LIP vorfanden.34 In einer Broschüre wurde diese von der Gruppe 1974 gebündelt. Unter anderem wurde darin die Arbeit der „Ouvrières Spécialisées“ in der Endmontage der Uhren beschrieben: Hier saßen an einzelnen, speziell geformten Tischen in einer langen Produktionsreihe 30 bis 40 Arbeiterinnen. Diese montierten in Fließfertigung jeweils einzelne Teile an ein Uhrengehäuse, welches sie anschließend in einem Kästchen an den nächsten Posten weiterreichten. Einzelne Posten waren mit elektrischen Schraubendrehern ausgestattet und mit Luftdüsen zur Reinigung. An vielen Posten mussten Vergrößerungsgläser verwendet werden, die ins Auge geklemmt wurden, um die präzisen Arbeiten verrichten zu können. Die Posten waren mit Signalleuchten versehen, auf denen dem Werkstattleiter am Kopfende mitgeteilt werden konnte, wenn
33 Stellenanzeige, loses Blatt, AM 5 Z 218. 34 Vgl. Interview des Verfassers mit Fatima Demougeot, 2. Juli 2014.
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Teile fehlten.35 Auf eine andere als die von den Zeitgenossen beschriebene Art erinnerte LIP also tatsächlich an eine Manufaktur: „Während in der Fabrik Arbeitsrhythmus und Fabrikdisziplin technisch durch die Funktionsweise der Arbeitsmaschine vorgegeben wurden, mussten in der Manufaktur Arbeitsleistung und -Disziplin durch intensive Aufsicht und Sanktionen erzielt werden.“ 36 Auch für Arbeitsplätze, die der Uhren-Montage vorgelagert waren, thematisierten die Autorinnen der Broschüre die Härte ihrer Arbeit: „Alice (Carpena, J.B.): Ich nahm Platinstreifen, die ich in 1mm lange Stücke zerschnitt. Ich schnitt 7000 bis 8000 in der Stunde, an diesem Platz arbeitete ich eine bis zwei Stunden, denn je schneller ich arbeitete, desto erträglicher schien es mir. Wenn diese Arbeit getan war, legte ich diese kleinen Teilchen eins nach dem anderen auf eine Platte, rieb sie daran glatt, nahm sie mit einer Art Nadelspitze einzeln auf, um sie in einen Spitzer zu legen. Bei dem Spitzen entstand ein Rand, den ich entfernen mußte, wozu nochmals jedes Teilchen herausgeholt, geglättet und mit der Nadelspitze wieder aufgenommen werden mußte. Und endlich war die Arbeit beendet: ich mußte einen Durchschnitt von 800 die Stunde schaffen. Es war schrecklich, die Geschwindigkeit, die man drauf haben mußte. Nach und nach gelang es mir, meine Sollzahl zu erreichen, aber ich habe mich niemals damit verrückt gemacht, noch mehr zu schaffen; ich wollte die Leistung, die ich mir gesetzt hatte, nicht überschreiten, so daß man mich nicht noch mehr beanspruchte. Außerdem war es unmöglich. Ich hätte es nicht geschafft, andauernd diese Arbeit zu machen, ich war manchmal total erschöpft. Dann setzte mich der Meister an einen Rüstungsplatz mit größeren Teilen. Aber da es langsamer wurde, schickte er mich zu meiner Drecksarbeit zurück.“37
Begegnungen mit Zeitnehmern sind eine häufig geschilderte Erfahrung der LIPArbeiterinnen.38 François Laurent, 1946 geboren, der sich 1971 als Lackierer in der Rüstungsabteilung bei LIP beworben hatte, zunächst aber als Reinigungskraft auf dem gesamten Gelände arbeitete, beschreibt im Interview die Begegnung mit Zeitnehmern, die zuvor bereits bei Rhodiacéta tätig geworden waren, wo er bis dahin gearbeitet hatte.39 Ob und in welcher Form die Ergebnisse dieser
35 Vgl. LIP-Frauengruppe (Hrsg.): Wir Frauen von Lip – Frauen im Kampf (Lip au féminin), Hannover 1975. 36 Pfister, Ulrich: Stichwort Manufaktur, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Sp. 1-8, Stuttgart 2008. 37 LIP-Frauengruppe (Hrsg.): Wir Frauen von Lip, S. 11f. 38 Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, S. 57. 39 Vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014.
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Messungen nicht nur zur Akkord- und Prämienfestlegung, sondern auch für grundlegendere Zeit- und Bewegungsstudien weiterverarbeitet wurden, ist leider nicht rekonstruierbar. Es ergibt sich vorläufig also bereits ein differenzierteres Bild der Belegschaft und ihrer jeweiligen Identifikation mit Arbeit und Betrieb. Eine Bindung ans Unternehmen wurde von der Geschäftsleitung auf verschiedene Weise gefördert. Im Gegensatz zu anderen Fabriken der Branche in Besançon verfügte LIP über eine eigene Weiterbildungswerkstatt. Es gab eine Hilfe zum Wohnungskauf in Form von Krediten, die vom Betriebsausschuss vermittelt wurden. Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung oder einer Kinderbetreuung sowie bei Problemen mit Sozialleistungen wurde von einer fest angestellten Sozialhelferin im Betrieb geleistet. In bestimmten Straßen – etwa der rue Charles Fourier unweit des Bahnhofs von Besançon – gab es darum eine Häufung von LIP-Beschäftigten. Eine Minderheit der Arbeiter, aber keine kleine, wohnte im Stadtteil Palente, wo sich die Fabrik befand, was soziale Kontakte außerhalb der Arbeit erleichterte. Diese fanden auch in der Kirchengemeinde von Palente statt, deren Pfarrer sich während des Arbeitskampfs der streikenden Belegschaft gegenüber freundschaftlich verhielt. Während von außen vor allem das technische Potential der Fabrik, sowie die Leistungen der Ingenieure, Techniker und Facharbeiter hervorgehoben wurden, drückten die gelernten Uhrmacher im Betrieb eine enge Bindung an das von ihnen hergestellte Produkt und an ihre Arbeit aus. Die im Betrieb angelernten Arbeiterinnen hingegen betonten die Härte ihrer konkreten Tätigkeiten innerhalb einer Arbeitsteilung, die ihnen stark repetitive Tätigkeiten zuwies und wenig Veränderungsmöglichkeiten bot. Konfliktjahre: 1968 bis 1973 Ökonomische Schwierigkeiten hatten sich bei LIP bereits seit den frühen 1960er Jahren entwickelt. So war zwischen 1962 und 1968 der jährliche Umsatz im Bereich der Uhrenproduktion nur um etwa drei Prozent gestiegen, gegenüber zehn Prozent im Branchendurchschnitt.40 1967 führte diese Stagnation zum Rückzug der Privatbank Mallet aus dem Verwaltungsrat und dem Kreis der Aktionäre von LIP.41 Auf der Suche nach neuen Aktionären war Fred Lipmann schließlich beim
40 Vgl. Belhoste, Jean-François/Methge, Pierre: Premières observations sur la transformation des rapports de propriété – LIP et l’industrie horlogère française 1944-1974, Paris 1978, ADD 2032 W 222. 41 Bei LIP besaß wie in den meisten französischen Aktiengesellschaften ein aus der Aktionärsversammlung gewählter Verwaltungsrat – Conseil d’Administration – sämtli-
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schweizerischen Unternehmen Ébauches fündig geworden, ursprünglich einem Hersteller von Rohwerken. Dieses Unternehmen war als Teil der schweizerischen Kartellbildung in der Uhrenindustrie in den 1920er Jahren gegründet worden und gehörte zur „Allgemeinen Schweizerischen Uhrenindustrie AG“ (ASUAG). Neben der Beteiligung an LIP hielt Ébauches in Frankreich auch noch bei Spiraux Français und France Ébauches, dem größten französischen Rohwerkhersteller, Anteile. Die Beteiligung von Ébauches an LIP wurde mit Genehmigung des französischen Staates 1970 offiziell auf 43 Prozent, schleichend durch mehrere Kapitalerhöhungen jedoch zu einer faktischen Mehrheitsbeteiligung ausgebaut. Hiermit fand LIP als Familienunternehmen ein Ende. 1867 von jüdischen Uhrmachern aus dem Elsass in Besançon gegründet, war das Unternehmen zwar seit 1931 eine Aktiengesellschaft mit weiteren Teilhabern, bis zum Einstieg von Ébauches jedoch mehrheitlich im Familienbesitz. Fred Lipmann, ein Enkel des Gründers Emmanuel Lipmann, hatte bereits seit den 1930er Jahren die technische Leitung des Unternehmens verantwortet, und nach dem Tod seiner von den Nationalsozialisten deportierten Eltern am Ende des Zweiten Weltkriegs als Vorstandsvorsitzender die geschäftsführende Leitung übernommen.42 Bis 1970 wurden die Veränderungen in der Eigentumsstruktur und die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation von den Belegschaftsvertretern noch nicht mit größerer Sorge betrachtet oder im Detail analysiert. Über die Entwick-
che geschäftsführerischen Rechte. Deren Ausübung delegierte er per Wahl an einen geschäftsführenden Vorstand und seinen Vorsitzenden. Der Vorstandsvorsitzende ist in diesem Modell gleichzeitig Präsident des Verwaltungsrats und wird deshalb auch als Président-Directeur-Général (PDG) bezeichnet. Die rechtlich ebenfalls mögliche und dem Fall einer deutschen Aktiengesellschaft nähere Variante eines unabhängigen Aufsichtsrats – Conseil de Surveillance – wird erst in den letzten Jahren häufiger verwendet. In diesem Fall wird auch der Vorstand aus der Aktionärsversammlung gewählt. 42 Vgl. Daumas, Jean-Claude: „Fred Lip“, in: Ders. (Hrsg.): Dictionnaire des Patrons Français, S. 439-441. Während der deutschen Besatzung Besançons wurde die Fabrik LIP beschlagnahmt; unter der Kontrolle des deutschen Uhrenbüros mussten dort Uhren für Junghans produziert werden, außerdem Tachometer und Messgeräte für die Luftwaffe. Fred Lip zog sich mit einem Teil der Beschäftigten und der Produktion in den nichtbesetzten Teil Frankreichs, zunächst nach Issoudun (Indre) und später nach Valence, zurück. In Issoudun wurden, bis zum Verbot der Rüstungsproduktion, weiter Zünder produziert, schließlich Fahrradventile, und in Valence wieder Uhren, vgl. Auschitzky-Coustans, Marie-Pia: Lip, des heures à conter, Seyssinet 2000, S. 37.
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lung der betrieblichen Auseinandersetzungen bei LIP im Jahr 1970 gab jedoch die Betriebsgruppe der Parti Socialiste Unifié (PSU) eine Broschüre heraus, die als Supplement der regionalen PSU-Zeitschrift Critiques Socialistes veröffentlicht wurde. In der Broschüre betonen die Verfasser, dass es zukünftig nötig werde, die wirtschaftliche Entwicklung zu kennen, um die Schwächen der Unternehmer im Betrieb zu identifizieren und entsprechend die gewerkschaftliche Strategie anpassen zu können.43 Im Wesentlichen beschränkte sich die Analyse auf die klassischen Ansatzpunkte gewerkschaftlichen Handelns: Wann drohen Entlassungen? Welche Spielräume lassen sich für Forderungen nach Lohnerhöhungen nutzen? Wie kann die Einheit der Beschäftigten im Streikfall aufrechterhalten werden? In mehrerer Hinsicht wurden die Auseinandersetzungen bei LIP als Erfolg bezeichnet. Hierzu gehörten erstens die eindeutigen materiellen Erfolge bei der Durchsetzung von Lohnerhöhungen sowie der Abwendung von Entlassungen und Kurzarbeit. Zweitens wurde in der Broschüre auch die demokratische Organisierung der Streikbewegungen als Erfolg herausgestrichen: „Die Arbeiter beginnen, ihren Kampf ernsthaft in die eigenen Hände zu nehmen. Die wesentliche Rolle der Delegierten ist es nun, die Reflexionsgruppen anzuleiten, die Entscheidungen zu bündeln, die aus ihnen hervorgehen und das gemeinsame Handeln zu koordinieren.“44 Spontane Versammlungen, Rundgänge durch die Fabrik, Vollversammlungen und Diskussionen in den Werkstätten wurden betont, ebenso wie die Einrichtung eines „Comité de liaison“, welches 1970 die Zusammenarbeit zwischen den gewerkschaftlich organisierten LIP-Arbeitern – immerhin 40 Prozent der Belegschaft – und den nicht gewerkschaftlich organisierten verbessern sollte.45 Über den Juni 1970, als in einem Streik mit Betriebsbesetzung auch die Auslieferung für eine Woche blockiert wurde, schrieben die Verfasser der Broschüre: „Kein abweisender Streikposten wird aufgestellt, sondern überredende Streikposten, die am Eingang mit jenen diskutieren, die zum Arbeiten kommen (etwa 1000 Streikende bei 1300 Arbeitern).“46 Die Betonung der internen Demokratie entsprach dem Anspruch der PSU, deren prominenteste
43 Vgl. PSU LIP: Un an de luttes. 44 PSU LIP: Un an de luttes, S. 12. 45 Der gesamtwirtschaftliche Organisationsgrad in Frankreich betrug damals noch 20 Prozent, gegenüber etwa 9 Prozent in den späten 1990er Jahren, vgl. Daley, Anthony: „The Hollowing Out of French Unions“, in: Ross, George und Andrew Martin (Hrsg.): The brave new world of European labor – European trade unions at the millenium, Oxford 1999, S. 171; vgl. Labbé, Dominique: Sydicats et Syndiqués en France depuis 1945, Paris 1996, S. 132. 46 Ebd., S. 13.
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Mitglieder im Betrieb, Roland Vittot und Charles Piaget, zugleich Gewerkschaftsvertreter der CFDT waren. Die PSU, 1960 gegründet, war aus dem Zusammengehen verschiedener Strömungen entstanden: Sozialisten, die mit der Politik ihrer Partei, der S.F.I.O. (Section française de l’internationale ouvrière) in Bezug auf die Algerienfrage unzufrieden waren und deshalb die Parti Socialiste Autonome (PSA) gegründet hatten, vereinten sich in ihr mit einer Strömung um Pierre Mendès France, ehemals Staatsratspräsident47 der Vierten Republik und bis dahin prominentes Mitglied der Parti Radical, sowie oppositionellen Kommunisten der „Tribune Communiste“. Zu Beginn ihres Bestehens durch die Opposition gegen den Algerienkrieg und die neue Präsidialverfassung geeint, nahm die Partei mit der Bewegung von 1968 den Schwung sowohl aus der Streikwelle als auch aus der studentischen Bewegung auf. In Besançon gab es neben der Gruppe bei LIP auch in anderen Unternehmen Betriebsgruppen.48 Der Optimismus der PSU-Betriebsgruppe bei LIP wurde von anderen geteilt. Trotz des Wissens um die prekäre ökonomische Situation des Unternehmens und der befürchteten Umstrukturierung mit Entlassungen ist ein Optimismus zu bemerken, der sich aus der eigenen Fähigkeit speiste, die Belegschaft effektiv zu organisieren und Forderungen durchzusetzen. Der Mai 1968 lässt sich für diesen Optimismus als Gründungsmoment interpretieren. Auf ihn gingen bei LIP nach damals zwei Wochen Streik mit Betriebsbesetzung die jährliche Inflationsanpassung der Löhne zurück, „échelle mobile“ genannt. Seitdem machte die Belegschaft auch regelmäßig vom im Juni 1968 eingeführten Recht auf dreimal jährliche Betriebsversammlungen während der Arbeitszeit Gebrauch. Gerne habe Fred Lip damals diese Verbesserungen zugestanden, berichteten Arbeiterinnen und Presse.49 Jedoch hatte eben dieser Fred LIP zu jenem Zeitpunkt bereits zugestimmt, seine Aufgaben als Vorstandsvorsitzender niederzulegen. Im Februar
47 Das Äquivalent des heutigen Premierministers. 48 Vgl. Castagnez, Noelline/Jalabert, Laurent (Hrsg.): Le Parti Socialiste Unifié : Histoire et postérité, Rennes 2013. Im Oktober 1973 fand ein frankreichweiter Kongress von PSU-Betriebsgruppen in Besançon statt, dessen Kurzzusammenfassung vgl. ADD 45 J 106. 49 Im Fernsehen standen Fred Lip und Charles Piaget gemeinsam vor der Kamera, um die Notwendigkeit von Informationen im Unternehmen zu verdeutlichen, vgl. Journal Télévisé vom 25. Mai 1968: https://www.youtube.com/watch?v=egJkL5wGMLo/, abgerufen am 3. August 2016. Michel Chemin, der die meisten der Artikel über LIP in der Libération schrieb, merkte an: „Rufen wir uns in Erinnerung, dass 1968 bei LIP nur eine symbolische Besetzung war, Fred Lip ging mit Vergnügen auf sämtliche Forderungen ein.“, Libération, 21.7.1973, S. 11.
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1971 setzte der Verwaltungsrat Jacques Saintesprit, seit 20 Jahren in der Geschäftsführung angestellt, als neuen Vorstandsvorsitzenden ein. Auffällig ist, wie sehr trotz seines Bedeutungsverlusts im Betrieb dennoch der alte Chef Fred Lipmann, genannt Lip, als Gegner, als Gegenüber und als Verhandlungpartner in den Veröffentlichungen der Arbeiter eine Rolle spielte, der seit seiner Absetzung bis 1972 nur noch als beratendes Mitglied des Verwaltungsrats (ohne Stimme) und danach gar nicht mehr im Betrieb zugegen war. Die ökonomischen Probleme traten ab 1970 auch auf den Sitzungen des Betriebsausschusses (comité d’entreprise) in den Vordergrund. Anfragen der Belegschaftsvertreter an die Geschäftsleitung sollten klären, welche konkreten Maßnahmen der Restrukturierung geplant wurden und wann endlich wieder neue Personen eingestellt würden; in den beiden Jahren 1971 und 1972 hatte es keine einzige Neueinstellung gegeben. Größere Streiks dagegen blieben vorerst aus. Trotz der 1973 kulminierenden ökonomischen Probleme blieb es dieser Optimismus, ein Selbstvertrauen in die eigene Kampfkraft und Fantasie, die auch den Arbeitskampf von 1973 prägte. Die Voraussetzungen hierfür waren schon in den Auseinandersetzungen der Vorjahre gelegt worden. Darüber hinaus ermöglichten einige strukturelle Bedingungen, die schon wesentlich länger zurückreichten, die lokale Verankerung des Arbeitskampfs. Besançon hatte seit 1953 mit Jean Minjoz einen sozialistischen Bürgermeister und wurde seitdem durchgehend von sozialistischen Mehrheiten regiert. Charles Piaget war im März 1973 in Besançon bei der Wahl zur Nationalversammlung für die PSU angetreten und hatte mit 4,7 Prozent der Stimmen ein passables Ergebnis erreicht, während der Kandidat der Sozialistischen Partei, Joseph Pinard, im zweiten Wahlgang sehr knapp dem gaullistischen Kandidaten Jacques Weinmann unterlag. Zwar war die sozialistische Stadtverwaltung durchweg pragmatisch orientiert. Schon bald galt ihre Sorge der Frage, ob der LIP-Konflikt Investoren von Unternehmensniederlassungen in Besançon abhalten könnte.50 Dennoch gab es eine Nähe zu den Streikenden bei LIP, deren politische Lebenswege oft in denselben Organisationen – zumal in der CFDT – ihren Lauf genommen hatten. Diese, bis 1964 noch Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC), hatte seit ihrer säkularisierten Umbenennung auch programmatisch neue Wege eingeschlagen. So wurde in der CFDT ab der Mitte der 1960er Jahre zunächst in kleinen Kreisen auf konföderaler Ebene die Einheit von „sozialistischer Planung“ und „autogestion“ propagiert. Das PSU-Mitglied Edmond Maire, Vorsitzender der Chemiegewerkschaft der CFDT und ab 1971 CFDT-
50 Vgl. die Unterlagen des Centre municipal de promotion et de développement économique, AM 86 W 39.
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Generalsekretär, beteiligte sich intensiv an der Ausgestaltung dieses Zweiklangs. Auf ihrem 35. Kongress 1970 beschloss die CFDT schließlich „die drei sich ergänzenden Säulen, durch welche die Gesellschaft gekennzeichnet ist, die sie voranbringen möchte: Selbstverwaltung, demokratische Planung, gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln. [...] Die CFDT wurde offiziell sozialistisch.“51 Die starke lokale Präsenz katholischer Arbeiter- und Arbeiterjugendorganisationen war sowohl für die gewerkschaftlich Aktiven bei LIP wichtig, als auch auch für die lokale Politik; eine starke linkskatholische Strömung prägte die Sozialistische Partei vor Ort. Die Jeunesse Ouvrière Chrétienne (JOC) und die Action Catholique Ouvrière (ACO) spielten in der persönlichen Entwicklung einiger Gewerkschafter bei LIP einige wichtige Rolle. Neben den CFDTDelegierten Charles Piaget, Roland Vittot und Raymond Burgy hatte auch die CGT-Delegierte Noëlle Dartevelle ihre ersten gewerkschaftlichen Erfahrungen in der ACO gemacht.52 Der Historiker Jean Divo geht sogar so weit, die demokratischen Praktiken bei LIP mit der individuellen Gewissensbefragung in Verbindung zu bringen, die in der ACO praktiziert wurde. In den beiden großen Streikbewegungen der Vorjahre, in der Textilfabrik Rhodiacéta 1967 und im „Preventorium“ im Stadtteil Bregille, einem Heim für tuberkulosekranke Kinder 1972, hatte die ACO mit ihren Mitgliedern, auch von LIP, eine unterstützende Rolle gespielt.53 Die kommunistische Gewerkschaft CGT (Confédération Général du Travail) ihrerseits unterhielt mit dem „maison du peuple“ im Innenstadtteil Battant einen wichtigen Treffpunkt. Bei LIP selbst war die CGT etwa genauso stark vertreten wie die CFDT. Es ist festzuhalten, dass vielmehr die ganze Stadt das Organisationsbassin für die Streikbewegung war als nur der Stadtteil Palente, auch wenn dessen Name in kaum einem Flugblatt fehlte. „Im Laufe von drei Jahren der Auseinandersetzung haben wir den aktuellen Arbeitskampf vorbereitet“, schlussfolgerte eine Broschüre von 1973 bei LIP.54 Nicht nur in den vergangenen drei Jahren, sondern bereits seit langem hingegen gab es eine starke Verankerung gewerkschaftlicher, kirchlicher und nachbarschaftlicher Beziehungen, aus denen sich die Konfliktfähigkeit bei LIP im Jahr 1973 speiste.
51 Defaud, Nicolas: La CFDT – de l’autogestion au syndicalisme de proposition, Paris 2009, S. 39f. 52 Vgl. Divo, Jean: Lip et les catholiques de Franche-Comté: Besançon 17 Avril 1973 29 janvier 1974, Bière 2003. 53 Vgl. ebenda, S. 58ff. Zum Streik bei Rhodiacéta siehe auch den Film von Chris Marker und Mario Marret: „À bientôt, j’espère“, 44min, Besançon 1967. 54 Commission Popularisation: Dossier d’information, S. 4, ADD 45 J 106.
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1.2 LIP 1973 –
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Im letzten Abschnitt ist deutlich geworden, dass bei LIP gute Voraussetzungen für eine demokratische Organisierung des Arbeitskampfs gegeben waren, an die 1973 angeknüpft werden konnte. Diese wurden in der konkreten Auseinandersetzung nutzbar gemacht. Im Konflikt entfaltete sich ein spannungsreiches Verhältnis zwischen der Mobilisierung und der Notwendigkeit, diese in konkrete, zielführende Verhandlungen zu überführen. Um dieses Verhältnis besser zu erfassen, wird zunächst die Rolle des Aktionskomitees, der Arbeitsgruppen und der Vollversammlungen beleuchtet. Die öffentliche Vermittlung des Arbeitskampfs wird zwischen den Polen „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Erfahrungsaustausch“ verortet, und es wird diskutiert, was die Produktion bei LIP in der Besetzungsphase an Erfahrungen ermöglichte. „Selbstverwaltungskonflikt“, so das zeitgenössische Wort, was hieß das für die unterschiedlichen Beteiligten und wie sind heute deren Perspektiven auf die Selbstverwaltung zu interpretieren? Dies wird in einem zweiten Schritt an den Nachwirkungen des Arbeitskampfs bei LIP in Bezug auf weitere Betriebsbesetzungen und gesetzliche Neuerungen, sowie an der Rezeption durch die Protagonisten des Selbstverwaltungsdiskurses diskutiert. Angeleitete Basisdemokratie? Die Rolle des Aktionskomitees, der Arbeitsgruppen und der Vollversammlungen Angesichts der Verluste von LIP plante die Unternehmensleitung seit 1970 eine betriebliche Umstrukturierung und eine Kapitalaufstockung durch den Eintritt neuer Aktionäre. An den Plänen war auf Einladung Ébauches zunächst auch die Branchenvereinigung Chambre Française d’Horlogerie (CFH) beteiligt, die auf eine französische Aktienmehrheit am Unternehmen und eine stärkere Integration von LIP in die Branche hoffte. Schließlich verwehrte sich Ébauches jedoch gegen den Verlust der Aktienmehrheit. Seit April 1972 führte Ébauches deshalb die Verhandlungen allein mit dem Institut de Développement Industriel (IDI), einer auf staatliche Initiative 1969 geschaffenen Beteiligungsgesellschaft für kleine und mittlere Unternehmen. Diese erarbeitete gemeinsam mit der Geschäftsführung von LIP einen Restrukturierungsplan, der zahlreiche Entlassungen beinhaltete. Seine Details wurden den Belegschaftsvertretern gegenüber verschwiegen. Das IDI verlangte, um sich am Kapital beteiligen zu können, eine
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stärkere Beteiligung Ébauches an der Kapitalerhöhung, zu der diese nicht bereit war. Die Umsetzung des Plans lag also auf Eis.55 In dieser Situation trat am 17. April 1973 der Vorstandsvorsitzende und Präsident des Verwaltungsrats der Aktiengesellschaft LIP, Jacques Saintesprit, von seinen Posten zurück. Da der Verwaltungsrat innerhalb der nötigen Frist keinen Nachfolger ernannte, bestellte das Handelsgericht zwei provisorische Verwalter. Ob diese das Unternehmen ins Konkursverfahren überführen würden, war noch nicht ausgemacht, stand jedoch zu befürchten. Die gewerkschaftliche Mobilisierung zielte in einer ersten Phase zwischen dem 17. April und dem 12. Juni 1973 in erster Linie auf die Herausgabe von Informationen und die Aktivierung der Belegschaft für einen möglicherweise harten Arbeitskampf, vor dem die Gewerkschafter bereits einige Monate zuvor gewarnt hatten. Ab dem Juni 1973 richtete sich dieser gleichzeitig gegen die Konkursdrohung und gegen die geplanten Entlassungen im Rahmen des Restrukturierungsplans, dessen Details den Beschäftigten am 12. Juni durch die Besetzung des Direktionszimmers endlich bekannt wurden. Zunächst organisierten die Gewerkschafter des Betriebs Demonstrationen durch die Stadt, unter anderem zur Präfektur und zum Konsulat der schweizerischen Eidgenossenschaft. Am 3. Mai wurde zum ersten Mal das Büro der Verwalter aufgesucht, um diese zu einem Gespräch über die weiteren Planungen für das Unternehmen zu nötigen.56 Am 18. Mai wurde auf Vorschlag des Aktionskomitees auch vor dem Firmensitz von Ébauches im schweizerischen Neuchâtel demonstriert, wo schließlich einige Vertreter zu einem Gespräch hineingebeten wurden.57 Gespräche führten die Gewerkschafter aus dem Betrieb mit dem gaullistischen Nationalversammlungsabgeordneten Weinmann und dem sozialistischen Bürgermeister von Besançon, Jean Minjoz. In der Stadt gründete sich ein Unterstützungskomitee, dem Politiker der linken Parteien in Besançon angehörten.58 Über diese Öffentlichmachung der Probleme bei LIP hinaus wurde die Mobilisierung in der Fabrik selbst vorangetrieben. Der wichtigste Schritt hierzu
55 Vgl. zu diesen Verhandlungen das Kapitel 2 dieser Arbeit. 56 Vgl: Champeau, S. 36, nach einem Bericht des polizeilichen Staatsschutzes (Renseignements Généraux) über diese Aktion. 57 Vgl. Flugblatt des Aktionskomitees: Pourquoi être en Suisse aujourd’hui?, 18. Mai 1973, unterzeichnet: „Les travailleurs de Lip constitué en comité de défense“, ADD 45 J 2. 58 Vgl. die Zeitung der Betriebsgruppe („cellule“) der PCF bei LIP: L’heure LIP, Juni 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung; vgl. Joseph Pinard: L’action d’un conseiller général à LIP, 1976, ADD 35 J 10.
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war die eigenständige Verlangsamung der Arbeit. Eine Vollversammlung der Belegschaft hatte diese unmittelbar nach dem Rücktritt Saintesprits beschlossen. Da die Mechanikabteilung ohnehin seit Monaten unausgelastet war und dort außerdem häufig zur Montage nötige Einzelteile fehlten, war dies ein naheliegender Schritt. Die frei gewordene Zeit wurde von den Beschäftigten vor allem dazu genutzt, um sich gegenseitig zu informieren und über das weitere Vorgehen zu diskutieren. In allen Abteilungen in Palente wurde die Arbeitsgeschwindigkeit bis in den Juni hinein immer stärker abgesenkt, bis schließlich nur wenig mehr als zehn Prozent der sonst üblichen Produktion geleistet wurden.59 Die Gewerkschafter im Betrieb erhielten bei diesen Aktivitäten die Unterstützung eines Aktionskomitees. Dieses hatte sich zum Ziel gesetzt, auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen in die Auseinandersetzung einzubeziehen. Bereits seit Januar hatte es eine Gruppe gegeben, die sich informell außerhalb der Arbeitszeit traf, um zu diskutieren und sich in Bezug auf den schwelenden Konflikt zu beraten. Im April wurde diese Gruppe in Absprache mit den Gewerkschaftsvertretern im Betrieb institutionalisiert. Sowohl CGT- und CFDT-Mitglieder als auch nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen an den Treffen des Aktionskomitees teil. Zu seinem ersten Treffen kamen bereits 50 Personen. Es stand allen Beschäftigten offen, die Mitglieder waren keine gewählten Delegierten. Nach eigenen Angaben der Beteiligten kamen im weiteren Verlauf zwischen 20 und 100 Personen zu seinen Treffen.60 Von einem Ort des Austauschs und einem Impulsgeber wurde es ab der Betriebsbesetzung im Juni schließlich zu einer eigenen politischen Kraft, die Vorschläge zur Debatte und zur Abstimmung stellte, auch wenn diese den Vorstellungen der Gewerkschaftssektionen im Betrieb zuwiderliefen. In der medialen Öffentlichkeit wurden seitdem häufig Verbindungen zwischen dem Aktionskomitee und maoistischen Gruppen gesehen. Erstens hatte die Gauche Prolétarienne (GP), 1968 gegründete und seit 1970 offiziell verbotene maoistische Partei, in anderen Fabriken die Gründung solcher Komitees betrieben.61 Zweitens wurde der charismatische Dominikaner Jean Raguenès schon bald als herausragende Figur des Aktionskomitees wahrgenommen. Dieser unterhielt rege Beziehungen zu einigen GP-Mitgliedern in Paris, wo er selbst 1968 an der besetzten Sorbonne als Universitätsseelsorger Seminare zu Religion und Revolu-
59 Vgl. Flugblätter aus dem Mai 1973, ADD 45 J 2. 60 Vgl. Commission Popularisation: Dossier d’information, S. 12. 61 Vgl. Vigna, Xavier: L’insubordination des ouvriers dans les années 68 – Essai d’histoire politique des usines, Rennes 2007, S. 287ff.
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tion gegeben hatte.62 Er arbeitete seit 1971 bei LIP als angelernter Arbeiter in der Rüstungsabteilung. Auch in Gewerkschaftskreisen waren die Arbeit und der Zweck des Aktionskomitees erklärungsbedürftig. Die nicht-gewählten Komitees wurden als „antigewerkschaftlich“ wahrgenommen. Vor allem die von der GP angestoßenen Komitees waren von CGT und CFDT so bezeichnet worden.63 Selbst ohne die Annahme eines „anti-gewerkschaftlichen“ Charakters aber wurde diese Bewegung außerhalb der repräsentativ-demokratischen Gremien mit Skepsis beäugt, erschwerte sie doch unter Umständen die Kontrolle des Verlaufs betrieblicher Konflikte durch die Gewerkschaftszentralen und ihre Rolle in den Verhandlungen. Diese Sorge um den Machtverlust trug ab 1976 zu offenen Konflikten zwischen der CFDT-Zentrale und den Gewerkschaftern bei LIP bei, die 1973 eher verdeckt blieben. Die relative Offenheit der CFDT und auch der CGT gegenüber solchen Organisationsformen im Konflikt 1973 muss demnach als spezifisches Zeichen der Zeit und der Umstände im Betrieb gedeutet werden. Für die Herstellung von Kontakten nach außen kam den Personen, die das Aktionskomitee gegründet hatten, eine besondere Rolle zu. So berichtet Jean Raguenès von den zahlreichen Besuchern, die in seinem Haus wohnten. 64 Der Journalist und Schriftsteller Daniel Anselme wohnte schließlich sogar ein ganzes Jahr in Besançon, wo er mit einer Gruppe der Cahiers de Mai die Herausgabe der Betriebszeitung LIP Unité förderte. Diese Gruppe gab eine gleichnamige Zeitschrift heraus und versuchte, Arbeitskämpfe durch gemeinsame Reflexion zu unterstützen.65 Offensichtlich war es selbst in deren Kreisen nötig, das Aktionskomitee zu erklären. Daniel Anselmes Hintergrundnotizen für einen Vortrag von 1973 zeigen dies: Anselme bemühte sich demzufolge besonders, zu erklären, dass das Aktionskomitee „innerhalb und auf Initiative“ der Gewerkschaften bei LIP gegründet wurde, und dass besonders die CFDT sich spätestens seit 1968 um eine enge Verbindung mit den nicht formal organisierten Arbeiterinnen und
62 Vgl. Raguenès, Jean: De mai ’68 à Lip: un dominicain au cœur des luttes, Paris 2008. 63 Vgl. Vigna: L’insubordination, S. 287ff. 64 Vgl. Raguenès: De mai ’68 à Lip, S. 136ff. 65 Zur Geschichte der Cahiers de Mai vgl. Wajnsztein, Jacques u. Jean-Louis Jarrige: Bilan critique de l’activité des cahiers de mai (1972), mit einem Vorwort von Jacques Wajnsztein, Grenoble 2012. Zu Daniel Anselme vgl. Reid, Donald: „Daniel Anselme: On Leave with the Unknown Famous“, South Central Review 32/2 (2015), S. 109130. Anselmes erster Roman „La permission“ (1957) ist soeben auf Deutsch erschienen als: Adieu Paris, Zürich 2015.
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Arbeitern bei LIP bemüht habe. Auch das 1970 gegründete „comité de liaison“ erläuterte Anselme.66 Mindestens ebenso wie die konkreten Initiativen machte die Form des Zusammentreffens die Besonderheit des Aktionskomitees aus. Weniger formell gestaltet und außerhalb der Arbeitszeiten gaben dessen Treffen auch Personen die Chance sich zu äußern, die dies im Rahmen einer Vollversammlung vielleicht nicht getan hätten. Monique Piton, die als Sekretärin bei LIP arbeitete, betont dies besonders: „Zunächst einmal nahmen wir uns im Aktionskomitee Zeit, denn es gab keinen Grund sich unter Druck zu setzen, wenn wir uns sahen; es gab nicht immer ein genaues Thema zu diskutieren. Und dann ermutigten wir diejenigen, die sich nicht gut auszudrücken wussten (…), die nicht wussten, wo sie anfangen sollten oder die schüchtern waren, wir ließen ihnen ihre Zeit. Also, manchmal sagten sehr schüchterne Leute, die niemals in der Öffentlichkeit oder in der Vollversammlung das Wort ergriffen hätten, sehr interessante Dinge, stellten sehr subtile Überlegungen an. 1973 war das Aktionskomitee sehr nützlich.“67
Nützlich war in der frühen Phase des Konflikts vor allem der Elan der Beteiligten. Diese gingen von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, um mit den anderen Arbeiterinnen und Arbeitern das Gespräch zu suchen. Sie waren es, die die Demonstration in der Schweiz vorgeschlagen hatten. Und sie regten in den häufiger werdenden Arbeitspausen ihre Kolleginnen und Kollegen dazu an, in Gedichten, Zeichnungen und Plakaten ihren Unmut auszudrücken. Diese Produktionen der LIP-Arbeiter hingen in der Folge in den Fluren aus, wo sie ab dem Juni auch Besuchern von außerhalb als Anstoß zum Erfahrungsaustausch dienten.68 Sie zeigen, dass für die Beteiligten bereits in einer frühen Phase der Auseinandersetzung keineswegs nur der Kampf um Arbeitsplätze im Mittelpunkt stand. Auf den Plakaten kritisierten sie vielmehr den Kampf um umfassende Informationen ebenso wie ihre Arbeitsbedingungen. Besonders die Bedingungen im Akkord wurden karikiert, auch die Hierarchie und die Rolle der Meister und Einrichter bei der Durchsetzung des Akkordtempos wurden in die Kritik einbezogen. Die Broschüre der zum Ende des Arbeitskampfs gegründeten Frauengruppe bei LIP,
66 Handschriftliche Vortragsnotizen von Daniel Anselme, BDIC F Δ rés. 578/37. 67 Interview des Verfassers mit Monique Piton, 6. März 2014. 68 Sowohl im Film von Chris Marker: „Puisqu’on vous dit que c’est possible“ als auch in der Fernsehreportage „Du côté de chez Lip“ vom 13. Juli ist den Plakaten in der Passerelle zwischen zwei Gebäudeteilen bei LIP jeweils eine Kamerafahrt gewidmet.
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die sich besonders intensiv der Kritik der Arbeitsverhältnisse widmete, enthält deshalb einige der Karikaturen.69 War das Komitee für die einen vor allem ein Ort der freien Diskussion, wurde von anderen der pädagogische Aspekt der Selbstorganisation betont. Den Arbeiterinnen und Arbeitern beizubringen, ihre eigenen Belange in die Hand zu nehmen, dies war wichtiger Antrieb für einige CFDT- und PSU-Repräsentanten im Betrieb und auch für einige andere Mitglieder des Aktionskomitees. Charles Piaget bemerkte in verschiedenen Interviews die zögerliche Haltung seiner Kollegen, wenn es darum ging, in der Auseinandersetzung eigenständig Verantwortung zu übernehmen. Ein von ihm vorgebrachtes Beispiel betraf die Beschaffung von 500 Kilogramm Kohle, für die erst das Einverständnis eines Gewerkschaftsvertreters gesucht wurde. Er brachte diese Unfähigkeit zur eigenen, spontanen Übernahme von Verantwortung mit den Verhältnissen in der Fabrik und der Gesellschaft in Zusammenhang, die eine solche Selbstbestimmung meistens verhinderten. An diese Verhältnisse seien die meisten von Kindesbeinen an gewöhnt.70 Mit der Entscheidung, das Betriebsgelände zu besetzen, und mit der Öffnung der Fabrik für Besucher ab dem 18. Juni wurden die sich nun konstituierenden Arbeitsgruppen zum wesentlichen Ort der Selbstorganisation. Für Jean Raguenès boten das Aktionskomitee, die Organisierung in Arbeitsgruppen und die Erfahrungen, die die Beteiligten nun in der Betriebsbesetzung machen konnten, die Möglichkeit, ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Gesellschaft und zum eigenen Leben zu erproben. Neben dem Verhältnis zur eigenen Arbeit wurde ihm zufolge auch auch eine Reflexion über die übrigen Lebensverhältnisse ermöglicht, die durch Entfremdung geprägt seien: „Die Konditionierung der Person, das ist das Fernsehen, die Reklame, das ‚Verschuldet-Euch‘, alles was die Reflexion verhindert [...]“.71 Die Auflehnung gegen diese „Konditionierung“ verband sich für ihn mit der intensiven Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen würde leben können. Diese Bedürfnisse überhaupt zum Vorschein zu bringen, war ihm zufolge die große Chance der Betriebsbesetzung. Die Begegnung mit der religiös geprägten Befreiungsperspektive von Jean Raguenès, den basisdemokratischen Bemühungen Charles Piagets und der beiden anderen, medial stark präsenten CFDT-Gewerkschafter Roland Vittot und Raymond Burgy, inspirierte den Journalisten Maurice Clavel dazu,
69 Vgl. LIP-Frauengruppe (Hrsg.): Wir Frauen von Lip – Frauen im Kampf, S. 16ff. 70 Vgl. Gespräch mit vier Arbeitern von LIP aus dem Oktober 1973, Charles Piaget stieß im Lauf des Gesprächs dazu, in: Münster, Arno: Der Kampf bei LIP, Berlin 1974, S. 143f. 71 Libération, 19. Oktober 1973, Gespräch mit Marc Géhin und Jean Raguenès, S. 3.
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einen Roman über den LIP-Konflikt zu verfassen: Les paroissiens de Palente. Die Hauptpersonen tragen darin die Namen der Evangelisten, die christliche Motivation der Beteiligten wird stark überhöht. Dennoch liegt keine voreilig geschlossene Geschichte vor, immer wieder werden in Gesprächsauszügen die Missverständnisse zwischen Clavel und den verschiedenen gewerkschaftlich oder nicht gewerkschaftlich organisierten Beteiligten wiedergegeben.72 Diese verweisen auf die Wichtigkeit der Begegnungen mit Unterstützerinnen und Besuchern für den Verlauf und den Ideenreichtum der Auseinandersetzung, aber auch auf die Beharrlichkeit der LIP-Beschäftigten, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Das Verhältnis der CGT zum Aktionskomitee dagegen neigte zum Instrumentellen. Dass dieses aus ihrer Sicht vor allem den Gewerkschaften Verhandlungsmacht bringen sollte, ohne ihnen die Zuständigkeit hierfür streitig zu machen, wird in einem Interview mit Claude Mercet deutlich, Mitgründer des Aktionskomitees und CGT-Delegierter im Betrieb: „Das Aktionskomitee, das war für uns die Masse der Arbeiter, die gern am Streik teilnehmen wollten. Um die materiellen Aufgaben gut zu erfüllen, um die Aktivisten zu erleichtern, um es ihnen zu ermöglichen, besser zu reflektieren, ihre Rolle besser zu spielen.“73 Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen die CGT die Wortmeldungen des Komitees beschränken und auch die Aussprache in der Vollversammlung reduzieren wollte. Hiergegen gab es in den Versammlungen spontane Wortmeldungen von Frauen und Männern, die die Wichtigkeit dieser Aussprache betonten.74 Auch Charles Piaget betonte im September, dass „die Öffnung eine der Stärken unserer Bewegung gewesen ist.“75 Und die am Komitee beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter erarbeiteten sich schnell eine eigene Form der Willensbildung. Deren Ergebnisse überführten sie in Vorschläge, die auch auf die bisherigen Formen der Organisierung Rückwirkungen hatten. So war im Juli das Saalmikrofon in den Vollversammlungen auf Bestreben der CGT abgeschafft worden, wenig später setzte das Aktionskomitee seine Wiedereinführung durch.76 Insgesamt war das Verhältnis zwischen Aktionskomitee, Gewerkschaftssektionen und Vollversammlung ab dem Juni ein dynamisches Wechselspiel. Dass das Aktionskomitee gemeinsam mit den Gewerk-
72 Clavel, Maurice: Les paroissiens de Palente, Paris 1974. 73 Zit. in Lourau, René: L’analyseur Lip, Paris 1974, S. 134. 74 Vgl. Vollversammlungsmitschnitt aus dem September ADD 45 J 12 AV 18, ab Minute 5. 75 Ebenda, 5:40min. 76 Vgl. Champeau: LIP – Le conflit et l’affaire, S. 90f.
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schaftern die Vollversammlungen vorbereitete, hatte auf deren formalen Verlauf aber wenig Einfluss. Mit 250 bis 1000 Teilnehmern gab es an ihnen im Durchschnitt eine große Beteiligung. Thomas Champeau hat für seine Abschlussarbeit aus den Meldungen des polizeilichen Staatsschutzes, der „Renseignements Généraux“, eine Beteiligungskurve erstellt, die zeigt, dass nach einem eher ferienhaften Juli in der Folge vor allem an den Tagen der Lohnzahlungen und der entscheidenden Abstimmungen besonders viele Personen anwesend waren. Offen für alle – auch von außerhalb des Betriebs, dann jedoch ohne Stimmrecht –, waren in den Vollversammlungen bis zu 400 Personen von außerhalb zugegen.77 Schon seit 1970 hatte die Praxis bestanden, nach der Präsentation der Gewerkschaftsvertreter in den Vollversammlungen Zettel zu verteilen, damit Fragen notiert und an das Podium zurückgereicht werden konnten.78 Die Frontalstellung Podium-Publikum blieb trotz der zahlreichen Beteiligung an den Versammlungen und zahlreicher werdender Wortmeldungen von Arbeiterinnen und Arbeitern erhalten. Die Vollversammlungen liefen regelmäßig nach gleichbleibenden Tagesordnungspunkten ab. Als erstes informierten die Gewerkschaftsvertreter über aktuelle Entwicklungen. Nur in seltenen Fällen folgte dem eine neuerliche Diskussion. Entscheidungen, die in den Arbeitsgruppen, dem Aktionskomitee und den Gewerkschaftssektionen vorbereitet worden waren, wurden im zweiten Tagesordnungspunkt in der Regel nur noch bestätigt. Dann kamen die Delegationen von LIP zu Wort, die bei anderen Betrieben waren, es wurden Solidaritätsadressen verlesen oder persönlich überbracht, sowie schließlich über die Probleme und nächsten Vorhaben der Arbeitsgruppen gesprochen.79 Die vorliegenden Tonaufnahmen geben häufig das Verlesen von Solidaritätsadressen oder kurze Berichte der Arbeitsgruppen wieder. Obwohl die Versammlungen von mehreren Gewerkschaftern geleitet wurden, ist in den Mitschnitten auffällig oft Charles Piaget zu hören, der sich Mühe gab, Anregungen aus dem Versammlungsraum aufzunehmen, dabei aber seine eigene Perspektive stets deutlich machte.80 So wird der Eindruck verständlich, den der Journalist Bodo Morawe hatte, als er 1974 ein Buch über den LIP-Konflikt veröffentlichte. Er erkannte die Ambivalenz einer täglichen und gut „vorbereiteten“ Vollversammlung [Hervorhebung i.O.]. „Vor allem in der Anfangsphase nach dem 18. Juni dominieren die Momente einer sich selbst entdeckenden Arbeiterdemokratie, die neue Energien
77 Vgl. Champeau: LIP – Le conflit et l’affaire, Tabelle im Anhang. 78 Vgl. Handschriftliche Vortragsnotizen von Daniel Anselme, BDIC F Δ rés. 578/37. 79 Vgl. Champeau: Le conflit et l’affaire, S. 94. 80 Dies gilt v.a. für die Mitschnitte ADD 45 J AV 12-16.
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freisetzt. Jeder kann mitdiskutieren, jeder seine Vorschläge und Anregungen einbringen, die akzeptiert oder verworfen werden.“81 Für den Juli hingegen bestätigte er aus seiner eigenen Wahrnehmung eine scharfe Beobachtung der GPZeitschrift La cause du peuple, die damals schrieb: „Die Vollversammlung verliert viel von ihrem demokratischen Charakter: immer weniger Debatten, es geht mehr und mehr parlamentarisch zu. Sie hat die Tendenz, eine Applausmaschine bei erfreulichen Nachrichten zu werden und Entscheidungen zuzustimmen, die anderswo getroffen wurden.“82 Jedoch wurden die Entscheidungen am häufigsten in den Arbeitsgruppen vorbereitet. Sie waren hier also bereits von den LIP-Beschäftigten diskutiert worden, bevor sie zur Abstimmung in die Vollversammlung gegeben wurden. So wurde eine größere Beteiligung aller und eine deutlich intensivere Reflexion erreicht, als dies nur im Rahmen der Vollversammlung möglich geworden wäre. Problematisch wurde die von La Cause du Peuple skizzierte Dynamik im Zuge der Verhandlungen ab August, als die Regierung, Vertreter der Branchengewerkschaften und Unternehmer mit ihren je eigenen Routinen in die Auseinandersetzung eintraten. Nun erhielten die Gewerkschafter aus dem Betrieb, welche die Informationen bündelten, zunehmend das Monopol bei der Problemformulierung und bei Lösungvorschlägen gegenüber den Beschäftigten. Das Aktionskomitee – mitunter eine kleine Gruppe – machte weiterhin Gegenvorschläge, die gemeinsame Reflexion mit allen Beteiligten gestaltete sich nun aber deutlich schwieriger. Produktion: Ein ambivalentes Mittel für den Erhalt des „outil de travail“ Als die LIP-Beschäftigten am 18. Juni in einer Vollversammlung einstimmig beschlossen, als Mittel ihrer Auseinandersetzung zur Montage und zum Vertrieb von Uhren zu greifen, rückte die Produktion in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Ein verantwortungsvoller Einsatz für den Erhalt der Arbeitsmittel – des „outil de travail“ – und den Erhalt der Fabrik, eine enge Bindung der Beschäftigten an ihren Betrieb, ein Einsatz für die gesamte französische Uhrenbranche wurden zu wichtigen durch die Gewerkschaften öffentlich vermittelten Charakteristika der Auseinandersetzung.83 Dies stand in einer Spannung zur vor-
81 Morawe, Bodo: Streik in Frankreich oder Klassenkampf bei Lip, Reinbek 1974, S. 89. 82 Zit. ebd. 83 Vgl. beispielsweise das Dossier der CGT-Metallgewerkschaft vom 21. Juli 1973, in dem besonders die „haute technicité“ von LIP betont wurde. Für die CFDT vgl. die
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herigen Verlangsamung der Arbeit, zur sich entwickelnden Kritik der konkreten Arbeitsbedingungen und zum utopischen Gehalt der nun beginnenden Phase der Betriebsbesetzung. Was verbanden die Beteiligten mit der Produktion und dem Verkauf von Uhren, der ihnen insgesamt fünf Lohnzahlungen ermöglichte, wer beteiligte sich hieran und welchen Einfluss hatte die Tatsache, dass nun produziert und verkauft wurde, auf die Dynamik der Betriebsbesetzung? Zunächst ist es zur Beantwortung dieser Fragen wichtig zu verstehen, wie die Entscheidung zustande kam. Am 5. Juni hatte eine erste Besetzung des Büros der Verwalter keine Informationen erbracht, diese zeigten keinerlei Bemühungen um neue Aufträge.84 Am 10. Juni hatte die Produktion beinahe den Nullpunkt erreicht, die Belegschaft beschloss auf ihrer Vollversammlung die Besetzung des Fabrikgeländes. Und am 12. Juni fanden schließlich Gespräche zwischen den Verwaltern und den Gewerkschaftern aus dem Betrieb statt, die per Lautsprecher in den Hof der Fabrik übertragen wurden. Als die Verwalter – bereits in Gegenwart des Handelsrichters – mitteilten, dass sie die Juni-Löhne nicht auszahlen und in Kürze Konkurs anmelden würden, stürmte spontan eine große Menge aus dem Hof in das Büro der Verwalter, wo nach anfänglicher Ratlosigkeit bald beschlossen wurde, diese festzuhalten, bis sie sich zu Verhandlungen bereit erklären würden.85 Im Verlauf dieser Einsperrung, beim Durchblättern einiger Schubladen des Vorstandsbüros, fielen den Besetzern – lediglich einige Belegschaftsvertreter blieben im Büro – Unterlagen in die Hände. Hierzu gehörte ein aus dem Mai stammender Plan der Unternehmensberatung Interfinexa. Dieser beinhaltete ein Minimum von 250 Entlassungen.86 Das Vorstandsmitglied Laverny, der den provisorischen Verwaltern zur Seite stand, hatte sich während einer Besprechung mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Saintesprit, sowie den Vertretern von Ébauches Du Pasquier und Renggli am 7. Mai 1973 schnelle, handschriftliche Notizen über deren Vorstelllungen bezüglich der Zukunft von LIP gemacht. „Interesse ausschließlich Uhrenfertigung“, „Rüstung und Mechanik fallen lassen“, „480 Personen freisetzen“ stand dort unter dem Namen Du
Pressekonferenz ihrer Metallgewerkschaft vom 24. August 1973, „LIP est viable“, FGM 1 B 571. 84 Vgl. Est Républicain, 6. Juni 1973. 85 Vgl. hierzu die verschiedenen persönlichen Schilderungen der Beteiligten, Raymond Burgy in Piaget, Charles: Charles Piaget et les Lip racontent, S. 51ff., Monique Piton in ihrem Buch: Anders Leben, S. 43. 86 Vgl. Interfinexa (Jean-Louis Mignard): Reprise de Lip et création d’un groupe horloger français et européen, 31. Mai 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung.
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Pasquiers, ähnlich die Formulierung Rengglis.87 Der konkrete Inhalt, viel mehr aber noch der beiläufige Tonfall, mit dem hier über die Arbeitsplätze ohne jegliche Konsultation der Betroffenen bestimmt werden sollte, vervollständigten die Delegitimierung der Eigentümer und der Betriebsleitung in den Augen der Beschäftigten. Nach einer kurzen Unterredung mehrerer Gewerkschafter mit dem Präfekten ließ dieser die eingesperrten Verwalter um kurz vor Mitternacht schließlich durch Bereitschaftspolizisten vom Gelände holen.88 Noch in der Nacht brachten die Gewerkschafter einen Vorrat von etwa 25.000 fertig produzierten Uhren aus der Fabrik vom Gelände und versteckten diese. Der Schritt wurde am folgenden Tag in der Vollversammlung mit Applaus begrüßt. Die Illegalität der Handlung und deren bemerkenswerte, öffentliche Legitmität blieben den Beteiligten in lebendiger Erinnerung. Auch der Großteil der leitenden Angestellten stellte sich hinter diese Entscheidung, die auch von ihrer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft CGC (Confédération Général des Cadres) gutgeheißen wurde.89 Die Konkursankündigung und die öffentlich wirksame Delegitimierung der Geschäftsleitung erleichterten nun die Mobilisierung für eine Großdemonstration in Besançon am 15. Juni, die nicht nur die Zukunft der einen Fabrik, sondern die der ganzen Stadt zum Thema hatte: „Besançon, tote Stadt“ war das Motto der Demonstration, an der sich 15.000 Personen beteiligten, unter ihnen auch der Bürgermeister Jean Minjoz sowie der Erzbischof von Besançon, Lallier. Auszüge der dortigen Rede des Erzbischofs wurden in der folgenden Woche zu einem Grußwort in den Kirchen der Stadt.90 Neben der großen symbolischen Geschlossenheit, die diese Demonstration zum Ausdruck brachte, war jedoch kaum ersichtlich, welche konkreten Handlungsschritte von Seiten der Unternehmerschaft oder öffentlicher Stellen erwartet werden konnten. So lag die Idee nahe, sich den eigenen Lebensunterhalt durch den Abverkauf des Uhrenvorrats und die Fertigstellung bereits in der Produktion befindlicher Uhren zu finanzieren. Nach allen vorliegenden Überliefe-
87 Ab dem 23. Juli wurden diese Dokumente das erste Mal von der Bisontiner CFDT für die Öffentlichkeit mit Kommentaren zusammengefasst, u.a. in ADD 35 J 10, später wurden diese unter Herausgeberschaft leitender französischer CFDT-Gewerkschafter auch in Buchform publiziert, vgl. Piaget, Charles/Maire, Edmond (Hrsg.): LIP ’73, Paris 1974. 88 Vgl. Est Républicain, 13. Juni 1973. 89 Vgl. Flugblatt der CGC vom 14. Juni 1973, ADD 45 J 3. 90 Vgl. hierzu Divo, Jean: L’affaire Lip et les catholiques de Franche-Comté: Besançon 17 Avril 1972 - 29 janvier 1974, Bière (CH) 2003.
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rungen war die Idee von einem Journalisten der linken Wochenzeitung Politique Hebdo gekommen, der für seine Berichterstattung über LIP bei Jean Raguenès zu Besuch war.91 Zunächst wurde der Gedanke in einem kleinen, informellen Kreis zwischen Mitgliedern des Aktionskomitees und der CFDT-Sektion von LIP diskutiert, bevor er am 17. Juni von den Beschäftigten in Kleingruppen sowie im üblichen zwischengewerkschaftlichen Rahmen besprochen wurde. Die CGT und die CFDT befürworteten diesen letzten Schritt in die Illegalität; die CGC lehnte diesen ab, stellte sich der Entscheidung jedoch nicht aktiv entgegen. Bis auf sehr wenige Ausnahmen beteiligten sich die cadres nun auch persönlich nicht mehr an der Betriebsbesetzung. Direkte Vorbilder gab es also nicht. Dennoch waren einige Vorläufer den Protagonisten bei LIP zumindest in groben Linien bekannt oder wurden es bald. Die Juli/August-Ausgabe 1973 der Zeitschrift „L’outil des travailleurs“ aus dem privaten Besitz von Charles Piaget belegt dies. Darin wurde die Problematik eines Kampfs für das „outil de travail“ behandelt. Die Arbeiter der Aluminiumschmelze von Péchiney in Noguères, die 1968 während ihres Streiks eine größere als die übliche Notbelegschaft bereitgestellt hatten, überließen demnach während eines neuerlichen Streiks 1973 die Organisation des Notbetriebs der Unternehmerseite. Eine Lehre aus dem Streik von 1968 war demnach dort die Feststellung gewesen, dass die Produktion in ihrem Fall kein wirksames Druckmittel gewesen sei. Der „Work-in“ der Upper Clyde Shipbuilders in Schottland von 1971, der mit der Übernahme durch ein amerikanisches Unternehmen geendet hatte, wurde ebenfalls thematisiert. Die dort in diesem Zuge vorgenommenen Entlassungen belegten für die Autoren, dass dort die unternehmerische Macht nicht effektiv angegriffen worden sei. Auf jeden Fall gelte es zu vermeiden, das „outil, l’outil des patrons“ ohne weitere Reflexion um jeden Preis zu verteidigen.92
91 Vgl. Raguenès, Jean: De mai ’68 à Lip: un dominicain au cœur des luttes, Paris 2008; vgl. Clavel: Les paroissiens de Palente, Paris 1975. 92 Vgl. L’outil des travailleurs, Juli/August 1973, aus dem Privatbestand von Charles Piaget, ADD 45 J, in Einarbeitung. Zum Streik 1968 bei Péchiney vgl. Vindt, Gérard: „La CFDT à Péchiney Noguères – Autogestion et évolution des pratiques syndicales dans un établissement industriel“, in: Georgi (hrsg.): Autogestion, la dernière utopie?, S. 413-435. Zum Work-in der Upper Clyde Shipbuilders vgl. Foster, John: The politics of the UCS work-in – Class alliances and the right to work, mit einem Vorwort von Tony Benn, London 1986 und die Erinnerungen des damaligen Streikführers Jimmy Reid: Reflections of a Clyde-built man, London 1976.
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Was wollten also die Beteiligten vor Ort mit der Produktion erreichen? In der Vollversammlung am 18. Juni hatte der CGT-Delegierte Claude Mercet die Aufgabe, den Vorschlag zu unterbreiten. Von vornherein sollte gezeigt werden, dass auch die CGT im Betrieb hinter dem Vorschlag stand, und dass er weder von „spontaneistischen“ Gruppen noch von der CFDT alleine kam. Mercet: „Es geht grob gesagt darum, die vorbereitete Produktion fertigzustellen, ungefähr 30.000 Stück, Handelswege zu finden und sie so in Umlauf in zu bringen, dass wir daraus die Kasse füttern und die Arbeiter bezahlen können.“93 Charles Piaget führte dann die Erläuterungen aus: „Es geht nicht darum, der Bevölkerung zu erzählen, wir würden die Fabrik wieder ans Laufen bringen. In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem ist es nicht möglich, eine Fabrik in der Verantwortung der Arbeiter wieder ans Laufen zu bringen. Unmöglich, es gäbe sofort einen Boykott sämtlicher Produkte, ebenso des Vertriebsnetzes und die Operation wäre ein Kurzschluss. Es geht nicht darum, von Selbstverwaltung zu sprechen oder wer weiß was zu erzählen [...]“ Und er ergänzte, um jedes Missverständnis zu vermeiden: „Dieses ist kein Unternehmen, das normal läuft, wir sind nicht in Selbstverwaltung, wir sind keine Genossenschaft, [...]“94
Der Dachverband der CGT verwehrte sich 1973 grundsätzlich gegen die von ihnen als reformistische Illusion bezeichnete Idee der Selbstverwaltung. Für die CGT-Gewerkschafter im Betrieb war die Produktion „eine originelle Form des Arbeitskampfs“, die sie als möglichst pragmatischen Schritt erscheinen lassen wollten.95 Aber auch die CFDT-Gewerkschafter im Betrieb bezeichneten die Produktion bei LIP als „Selbstverteidigung“. Dies war nicht nur dem Kompromiss mit der CGT geschuldet. Vielmehr problematisierten die Vertreter beider großer Gewerkschaften im Betrieb bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung sehr konkret die mögliche Interpretation im Rahmen der Selbstverwaltung. Sie erkannten die Gefahr, dass den LIP-Beschäftigten eine genossenschaftliche Übernahme der Betriebe nahe gelegt werden könnte. Der große Kapitalbedarf für das Unternehmen hätte einen solchen Genossenschaftsbetrieb schnell überfordert. Außerdem sahen sich die Beschäftigten hierfür in keinerlei Verantwortung. Charles Piaget hatte die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens kategorisch unterstrichen. Die regionale Tageszeitung Est Républicain hingegen berichtete am
93 Transkription der Tonbandaufnahmen von der Vollversammlung, S. 12, BDIC F Δ rés. 758/36. 94 Ebd., S. 13. 95 Vgl. Le Travailleur Comtois, Juli 1973, ADD 45 J 4.
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nächsten Tag „Eine Montagereihe (40 Personen) wird wieder laufen“ und stellte dies wesentlich sorgloser als die Gewerkschafter unter den Titel: „Versuch der Selbstverwaltung“.96 Vor dem Fabriktor wurde nun der Slogan angebracht: „C’est possible, on fabrique, on vend !“ Neben der Sicherstellung des Lebensunterhalts der Beschäftigten, denen im Konkursfall 1973 noch kein Arbeitslosengeld zustand, steckte in dem Motto bereits die ganze Vielfalt der nun mit der Einrichtung zahlreicher Arbeitsgruppen und der Öffnung für Besucher einhergehenden Betriebsbesetzung. „C’est possible“ betraf nicht nur die Produktion. Möglich war vielmehr ein Arbeitskampf, der in den Augen Vieler zeigte, dass eine andere Art zu leben möglich war; dies unterstrich auch das genannte „L’outil des travailleurs“ aus dem Juli/August 1973. Und vor allem sollte die öffentliche Unterstützung vergrößert werden. Die erste produzierte Uhr wurde deshalb dem Beigeordneten des Bürgermeisters übergeben.97 Bis zur Räumung der Fabrik durch Mobilgardisten der Gendarmerie am 14. August wurde auf dem LIP-Gelände die Endmontage bereits in der Produktion befindlicher Uhren in einer Fertigungsreihe vorgenommen. An dieser Arbeit waren zwischen 30 und 80 Personen beteiligt. Dies geschah in derselben Arbeitsteilung wie zuvor und weiterhin unter der Leitung eines Vorarbeiters. Hierdurch unterschied sich die Produktion bei LIP von einigen in der Folge vorgenommen Betriebsbesetzungen mit Produktion, wo die vorherige Arbeitsteilung stärker durchbrochen wurde.98 Neben den angelernten Arbeiterinnen aus der Uhrenabteilung stießen zu den Freiwilligen, die diese Arbeit übernahmen, jedoch auch Arbeiter aus den anderen Abteilungen hinzu. Außerdem war die Arbeit vom strengen Zeitdruck der Produktion vorher befreit, die Arbeiterinnen und Arbeiter konnten Pausen machen oder sich unterhalten. In der Regel wurde nun von 8 bis 12h und nachmittags von 13.30h bis 15h gearbeitet. Eingebettet in die Erfahrungen der Solidarität, mit zahlreichen Besuchern und der stets gegeben Möglichkeit, sich eine andere Aufgabe zu suchen, wurde auch diese Arbeit für die Beteiligten zu einer befreienden Erfahrung. Persönliche Erlebnisberichte der Beteiligten interessierten in der Folge vor allem linksradikale Gruppen, die – neben der Zeitung Libération und den Zeitschriften der PSU – am häufigsten die Spalten
96 Est Républicain, 19. Juni 1973, S. 1. 97 Vgl. Est Républicain, 19. Juni 1973. 98 Vgl. für den Fall einer Bekleidungsfabrik in Cerizay, zu der die LIP-Arbeiter direkten Kontakt hatten: Vigna, Xavier: „Le mot de la lutte? L’autogestion et les ouvrières de PIL à Cerizay en 1973“, in: Georgi Frank (Hrsg.): Autogestion – la dernière utopie?, Paris 2003, S. 381-394.
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ihrer Veröffentlichungen für O-Töne aus Palente öffneten.99 In einer dieser Zeitschriften erläuterte ein leitendes Mitglied der für die Produktion zuständigen Arbeitsgruppe den Unterschied zu vorher: „Wir haben in letzter Zeit nicht mehr über Effizienz gesprochen, muss man wissen. Wir haben uns vielmehr darum gesorgt, eine gute Arbeit zu machen.“ „Es gab mehrere Verantwortliche, aber auch wenn es Verantwortliche gab, haben wir trotzdem niemandem etwas aufgezwungen. Wenn es Bedarf nach einer Person gab, ging man sie suchen. Allerdings hatten wir jede Menge Personal. Leute aus der Mechanik und der Rüstung kamen jeden Tag vorbei: Braucht ihr uns?“100
In den Worten dieses Verantwortlichen schwingt also ein Stolz mit, einerseits eine größere Hilfsbereitschaft und gegenseitige Rücksichtnahme geschaffen zu haben, andererseits in der konkreten Produktion eine Sorgfalt wahren zu können, die unter dem Zeitdruck des Fabrikalltags normalerweise nicht möglich gewesen sei. Auch andere Mitglieder der Arbeitsgruppe berichteten von solchen Erfahrungen. Diskussionen über eine andere Aufgabenverteilung in der Montagereihe selbst gab es offenbar keine, obwohl im Laufe der weiteren Betriebsbesetzung eine Kritik der bisherigen Arbeitsbedingungen in der Fabrik LIP und an anderen Orten in den Vordergrund rückte.101 Auch die Arbeiterinnen und Arbeiter von Kelton, die im September 1973 in einen Streik traten, kämpften nicht nur für höhere Löhne, sondern betonten in einer Ansprache in der LIP-Vollversammlung die „unerträglichen Arbeitsbedingungen und den unerträglichen Arbeitstakt“, der die Empörung bei Kelton habe explodieren lassen.102 Nach dem 14. August konnten die Uhren nicht mehr öffentlich produziert werden, die Stadtverwaltung hatte für die bereitgestellte Turnhalle der Schule
99
Vgl. z.B. La Brèche Rouge, Zeitung der schweizerischen Ligue Marxiste Révolutionnaire und der französischen Action Communiste, Sondernummer zu LIP; vgl. Rouge, Zeitung der Action Communiste, Sondernummer; beide ADD 45 J, in Einarbeitung; vgl. Kollektiv: Il était une fois la révolution – Lip et la commune étudiante, Paris 1974.
100 Mitglied der „Commission Production“, zitiert in: Révolution: Des militants du comité d’action parlent, S. 28f., Archiv Soziale Bewegungen Freiburg Bro 1.0.2.47. 101 Daniel Mothé wies gegenüber der CFDT zum Ende des Streiks auf diesen Widerspruch hin, vgl. Mothé, Daniel: „Lip : réussite de la lutte, échec de la grève“, Esprit 12 (1973), S. 890-896. 102 Bericht eines Gewerkschafters von Kelton auf der LIP-Vollversammlung, September 1973, Tonmitschnitt ADD 45 J 12 AV 20.
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Jean Zay explizit den Verzicht auf die Produktion als Bedingung formuliert. Auch der Verkauf an Einzelpersonen wurde nun eingestellt, die Polizei nahm nach einer Anzeige des Konkursverwalters bald die Verfolgung auf. Stattdessen wurden die Uhren nur noch über Gewerkschaftssektionen, Betriebsräte und andere Sammelbestellungen herausgegeben.103 Gelegentlich wurden Personen in diesem Zusammenhang vorübergehend festgenommen. Die PSU sammelte deshalb im September mindestens 1659 Unterschriften in einer Liste von Personen, die erklärten, LIP-Uhren verkauft zu haben: „Wir sind alle Hehler“.104 Am 23. Oktober wurde auch das Maison pour Tous in Palente in Gegenwart mehrerer Polizeihundertschaften – ergebnislos – durchsucht.105 Nach einigen Tagen der Reorganisierung im Anschluss an den 14. August konnte Raymond Burgy schon am 31. August betonen, dass „die klandestine Werkstatt aufs Wunderbarste funktioniert.“106 Diese brachte nach seinen Angaben mehr als 100 Uhren täglich heraus, für die nach wie vor Garantiescheine ausgegeben wurden.107 Falls dort wirklich produziert und nicht bloß für den Versand verpackt wurde – keine der von mir hierzu befragten Personen gab diesbezüglich Aukunft –, so scheint diese Aktivität schnell an ein Ende gekommen zu sein. Keine der weiteren Ausgaben der LIP Unité enthält hierzu Angaben. Die Verkäufe immerhin gingen lebhaft weiter. Bis in den Januar 1974 wurde den Käufern der bis dahin übliche Händlerrabatt von 42 Prozent eingeräumt. Die Menge an Käufern, unter ihnen auch gaullistische und sozialistische Abgeordnete, Bürgermeister und andere Personen des öffentlichen Lebens, war beachtlich, die Hauptfunktion der Produktion bestand darin, eine breite Öffentlichkeit zu schaffen. Dennoch war die Produktion nur ein Teil der Auseinandersetzung: „Wir blieben im Betrieb. Das war unser wahres Zuhause, dort kamen Verwandte hin und tranken einen Schluck unter den Lindenbäumen.“108 (Monique Piton über den Juli 1973)
Neben der Arbeit entwickelte sich auf dem Gelände der besetzten Fabrik mit den Besuchern und Käuferinnen im Juli eine sommerliche Feierstimmung. Die Betä-
103 Vgl. LIP Unité No. 7, 23. August 1973, BDIC F Δ rés. 702/1. 104 Vgl. Unterschriftensammlung „Wir sind alle Hehler“, AN 581 AP 118. 105 Vgl. Service Central des CRS – État Major: Fiche relative à la participation des CRS au maintien de l’ordre à Besançon pendant l’affaire Lip, AN 19940111/4. 106 Radio LIP – le journal sonore des travailleurs de LIP Nr. 2, 29. August-2.September 1973, ADD 45 J 12 AV 34, ab Minute 22. 107 Vgl. LIP Unité No. 8, 3. September 1973, S. 3. 108 Piton: Anders leben, S. 71.
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tigung in den zahlreichen weiteren Arbeitsgruppen fügte sich hier ein. Ob das Ausfegen und Wischen, das Abspülen von Tellern, die Produktion und Vervielfältigung von Plakaten, Flugblättern und Zeitungen oder der Verkauf von Uhren und die Information von Besuchern, dies alles ereignete sich auf dem Gelände einer Fabrik, die nun ein offener Ort war. Hier fanden zahlreiche Begegnungen und kulturelle Betätigungen statt; Bilder zeugen vom gemeinsamen Musizieren und Singen, Tanz und entspannten Gesprächen auf dem grünen Freigelände der Fabrik.109 Vom 13. bis 15. Juli, am Wochenende des Nationalfeiertags, wurde per Plakat zu einer fête populaire auf dem Gelände eingeladen. Angekündigt waren ein Ball mit Orchester, mehrere Theaterstücke und Lesungen.110 Schon am 21. Juni hatten der berühmte Liedermacher Mouloudji und seine Kollegin Simone Barthel im Palais du Sport in Besançon ein Solidaritätskonzert gegeben, 5720 Karten wurden verkauft.111 Der Uhrmacher René Mercier, der die Verantwortung für den Weiterbetrieb der Kantine übernahm, berichtete von der Freude, diese weiterhin als Treffpunkt offen zu halten, und dort das Essen sogar zum günstigeren Preis als vorher anzubieten.112 Auch wurden die alten Angestellten der Kantine weiterbeschäftigt, die vorher durch die Restaurantkette Borel betrieben worden war. Nach dem 14. August stellte die Stadtverwaltung für die Kantine die alte Festung auf dem Berg im Stadtteil Bregille zur Verfügung. Trotz der Distanz zur Fabrik blieb diese ein wichtiger Versammlungsort. Als am 2. August die erste eigene Lohn-Auszahlung durch die LIPBeschäftigten stattfand, denen am selben Tag durch den Konkursverwalter offiziell ihre Entlassungsschreiben zugestellt wurden, geschah diese zwar in aller Ordnung in einem Büro der Fabrik. Die öffentliche Legitimität war den Beschäftigten sicher. Claude Mercet, CGT-Delegierter von LIP, hatte den Konkursverwalter vorher zum wiederholten Mal auf den rechtlichen Status der Beschäftigten als privilegierte Gläubiger hingewiesen. Dieser enthielt ihnen nach wie vor die fälligen Löhne vor.113 Dennoch machte neben der praktischen abermals die symbolische Bedeutung, die Offensivität der eigenwilligen Entscheidung, den
109 Vgl. die Fotos von Bernard Faille für den Est Républicain aus dem Juli 1973. Seine Bilder sind für das Stadtarchiv digitalisiert worden: memoirevive.besançon.fr. 110 Vgl. Plakat „Les travailleurs vous invitent à leur fête populaire“, Juli 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. 111 Vgl. Abrechnung der Einnahmen aus dem Konzert, ADD 45 J, in Einarbeitung. 112 „Le nerf de la guerre, c’est dormir, boire et manger“, Artikel in La Cause du Peuple, 13. September 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. 113 Vgl. Claude Mercet in: Radio LIP – le journal sonore des travailleurs de LIP Nr. 2, 29. August - 2. September 1973, ADD 45 J 12 AV 34.
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Kern dieser Handlung aus. Und diese fügte sich immer noch in die allgemeine Feierstimmung ein. Die Banderole vor dem Werkstor wurde ergänzt: „C’est possible, on fabrique, on vend, on se paie !“ Eine weitere Funktion benannte Raymond Burgy anlässlich der zweiten Lohnauszahlung vom 31. August, mittlerweile in der Turnhalle: „die gesamte Belegschaft wieder zusammen zu schweißen.“114 Die Überlegung des Aktionskomitees, für die Auszahlung einen Einheitslohn von 1500 FF festzusetzen, wurde auch aus diesem Grund nicht eingebracht. Mit Rücksicht auf die soziale Situation der Beschäftigten sowie die stets prekäre Beteiligung der besser verdienenden Teile der Belegschaft wurde beschlossen, die Löhne jeweils auf ihre alte Höhe aufzustocken.115 Wichtiger als die Erfahrung einer selbstverwalteten Produktion als solcher war jedenfalls deren Bedeutung für die Dynamik der Betriebsbesetzung und die Möglichkeit, sich den eigenen Lohn auszuzahlen. Erst durch das Produzieren und Sich-Bezahlen, dessen Illegalität und grundsätzliche Legitimität auch die Gewerkschaftsdachverbände unterstrichen, wurde dem Arbeitskampf die enorme Öffentlichkeit zuteil, die ihn zu einem in Frankreich und Europa beachteten Ereignis machte. Diese breite Unterstützung war das entscheidende Mittel, um den seit dem 18. Juni im Dreiklang vorgetragenen Forderungen: „Keine Zerstückelung, keine Entlassungen, Beibehaltung der errungenen sozialen Zugeständnisse“ Nachdruck zu verleihen. Nur hierdurch konnte schließlich auch die Regierung zu Verhandlungen gezwungen werden und eine Lösung im Sinne der LIPArbeiterinnen und -Arbeiter denkbar werden. Die Ambivalenz eines Kampfs für den Erhalt des „outil de travail“ schließlich, in dem gleichzeitig deutliche Kritik an der bisherigen Form zu arbeiten geäußert wurde, blieb bis zum Schluss bestehen. Zwischen Erfahrungsaustausch und Öffentlichkeitsarbeit – die „Popularisation“ Der Verkauf von Uhren war also das wichtigste Mittel der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter, um ihrem Arbeitskampf die Öffentlichkeit zu verschaffen, ohne die er nicht so erfolgreich hätte sein können. Er band eine große Käuferschaft in das nun geschaffene Netzwerk der Klandestinität ein. Woran sich Bürgermeister, Politiker aller Parteien und Respektspersonen des öffentlichen Lebens beteiligten, konnte nur eine gerechte Sache sein. Da die Verkäufe jedoch überwiegend im Zusammenhang mit Betriebsbesuchen, Demonstrationen und Diskussions-
114 Ebenda, ab Minute 22. 115 Vgl. LIP Unité No. 4, 2. August 1973, BDIC F F Δ rés. 702/1.
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veranstaltungen stattfanden, ermöglichten sie außerdem einen Erfahrungsaustausch, dessen Qualität für einige der Beteiligten immer wichtiger wurde. So berichtete Monique Piton von einem durch die CGT organisierten Besuch bei den Pariser Renault-Werken in Billancourt und ihrer Enttäuschung, dass sie dort außer den CGT-Delegierten mit niemandem habe sprechen können.116 Das individuelle Wortergreifen und die Möglichkeit, sich auf verschiedene Arten auszudrücken, erhielten mit der Betriebsbesetzung wachsende Bedeutung. Dass dies für einige der Beteiligten in einer Form möglich wurde, die auch eine schriftliche oder audiovisuelle Überlieferung nach sich zog, ist den zeitspezifischen – glücklichen – Umständen zuzuschreiben. Nicht nur war bei LIP selbst seit dem Frühjahr 1973 eine innerbetriebliche Öffentlichkeit geschaffen worden, in der die konkreten Ziele der Arbeitsauseinandersetzung ebenso thematisiert wurden wie die alltäglichen Arbeitsbedingungen. Auch interessierten sich seit 1968 vermehrt politische Gruppen wie Medienschaffende gleichermaßen für Formen der Berichterstattung, die jenseits der üblichen politischen Sphäre und jenseits großer Ereignisse nach der Sichtbarmachung von Alltagserfahrungenen strebten. Manche von ihnen verstanden dies als eingreifendes Handeln auf der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter. Dass die Zeichnungen aus den frühen Tagen des Arbeitskonflikts bei LIP in mehreren Filmen gezeigt wurden, zeugt von diesem Interesse, auch für eine Fernsehreportage im Juli wurde den LIPBeschäftigten selbst die Kamera in die Hand gegeben.117 Manche Einzelpersonen erhielten in diesem Zusammenhang einen privilegierten Zugang zu den Medien. So konnte Monique Piton häufig für die am Jahresbeginn 1973 gegründete Libération aus ihrer persönlichen Perspektive von LIP berichten.118 Ihren Kontakten zu aktiven Feministinnen in Paris verdankte sie den Vorschlag, ihre Tagebuchaufzeichnungen zu einem Buch zu verarbeiten. Den Verlag konnte sie sich angesichts des großen Interesses selbst aussuchen.119 In der sonstigen Presseberichterstattung dominierten die Gesichter von Charles
116 Piton: Anders Leben, S. 132. 117 Vgl. den Fernsehbeitrag des Magazine 52 vom 13. Juli 1973 und den Film von Chris Marker: Puisqu’on vous dit que c’est possible. 118 Vgl. zum Beispiel ihren Beitrag zu den Verhandlungen, Libération, 6./7. Oktober 1973. 119 Vgl. Interview des Verfassers mit Monique Piton, 6. März 2014. Das Buch erschien schließlich bei der Édition des femmes als: C’est possible : Le récit de ce que j’ai éprouvé durant cette lutte de Lip, Paris 1975. Die im Suhrkamp-Verlag erschienene deutsche Übersetzung wurde von einem jungen Filmemacher aus Frankfurt, David Wittenberg, vorgenommen.
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Piaget und Jean Raguenès. Neben der Parole am Werkstor wurden manche von Charles Piagets Worten zu weit verbreiteten Slogans. So hatte er im Anschluss an die Räumung der Fabrik die drohende Konfrontation um das Gelände entschärft und den Angriff der Polizei ins Leere laufen lassen, indem er betonte: „Die Fabrik ist da, wo die Arbeiter sind.“ Nicht Mauern und Maschinen, sondern Menschen mit schöpferischen Fähigkeiten seien schließlich deren Herzstück. Für ihn und die anderen Beteiligten wurde fortan die Schulturnhalle zur „Fabrik Jean Zay“ und die Fabrik in Palente, wo nun dauerhaft Polizei stationiert war, zur „Kaserne LIP“.120 Dieser Mut zur eigenen Wahrheit, das Spiel mit der selbstbewussten Setzung von Legitimität und Evidenz machten für viele Unterstützerinnen und Beobachter die Anziehungskraft des LIP-Konflikts aus. Hierzu gehörte auch die konsequente Weigerung der Beschäftigten, sich nach ihrer Entlassung als arbeitslos zu begreifen: „Aber wir sind keine Arbeitslosen!“ hielten sie dem Unternehmer Henry Giraud entgegen, als dieser begann, mit ihnen über einen Unternehmensplan zu verhandeln.121 Ohne die entstehenden engen Bindungen der LIP-Beschäftigten untereinander wären solche Worte allerdings schnell verflogen. Manche benutzten für diese den Begriff der „communauté“, die im Französischen sowohl eine Gemeinschaft als auch die christliche Gemeinde bezeichnet.122 Jenseits der neuen „Stars“ der Betriebsbesetzung gab es in Palente und in der „Fabrik Jean Zay“ erhebliche Bemühungen um Transparenz und Demokratie bei der Schaffung von Öffentlichkeit. So arbeitete die Redaktionsgruppe der LIP Unité viel mit den Texten von Arbeiterinnen und Arbeitern bei LIP, die sie sich gegenseitig vorlasen, diskutierten und korrigierten.123 Diese ab dem Juli produzierte Zeitung entstand aus einem Zusammentreffen mit den Cahiers de Mai.
120 Vgl. LIP Unité No. 7, 23. August 1973. 121 Vgl. Giraud: Mon été chez Lip, S. 117. 122 So stellte Jean Raguenès nach der Abstimmung über den Giraud-Plan fest: „Une communauté d’hommes et femmes libres a décidé“, Libération, 13. Oktober 1973. Saoura Cassou bezeichnet in ihrer Abschlussarbeit über den „Mythos“ LIP die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst als dessen erste Produzentinnen und Produzenten: Cassou, Saoura: Lip – La construction d’un mythe, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 2000. 123 Die Lebhaftigkeit der Diskussionen und die Begegnung mit den Beteiligten von außerhalb waren für einige prägende Ereignisse, so schildert François Laurent den Furor Daniel Anselmes, eine Zigarre im Mund, beim permanenten Bearbeiten der Schreibmaschine wie beim Leeren des Kühlschranks, vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014.
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Diese Gruppe griff nach dem Vorbild der italienischen Quaderni Rossi in Arbeitskämpfe ein, indem sie den Beteiligten half, ihre Anliegen zu veröffentlichen. Die letzte große Aktivität der Gruppe vor LIP war 1972 ihre Hilfe beim Streik in den Altmetallwerken von Pennaroya in Lyon und Paris gewesen, wo die häufig arabischsprachigen Kollegen sich gegen die Gesundheitsschädigung in der Bleiverarbeitung wehrten.124 Die erste Ausgabe der LIP Unité vom 11. Juli 1973 – 19 Ausgaben erschienen in der ersten Serie bis zum April 1975 – bestand noch aus einem doppelseitig bedruckten A4-Blatt. Sie begann mit einer Absichtserklärung. Demnach richtete sich das Blatt in erster Linie an die LIP-Arbeiter, die im Urlaub waren, dann an die Arbeiter von LIP-Ornans, an die Arbeiter, von denen bei LIP Delegationen empfangen oder wo umgekehrt LIP-Arbeiter zu Besuch gewesen waren, und erst zuletzt an eine breitere Öffentlichkeit von Unterstützern.125 Auch diese Veröffentlichung zielte also zunächst auf den innerbetrieblichen Zusammenhalt und auf die Kommunikation untereinander. Bald wurde sie jedoch zu einem der wichtigsten Mittel der Außendarstellung. Im gedruckten Ergebnis war meist eine eher schlaglichtartige Zusammenfassung der Ereignisse der vergangenen ein bis zwei Wochen zu lesen. Häufig gab sie trotz des lebendigen Redaktionsprozesses nur die Ergebnisse der Willensbildung der LIP-Beschäftigten und die Kompromisse zwischen ihren Gewerkschaften wieder. Gedruckt wurde die LIP Unité in einer genossenschaftlichen Druckerei in Besançon. Für die Ausgabe No. 4 wurde bereits eine Auflage von 8.000 Exemplaren erreicht.126 Die Cahiers de Mai begründeten die Herausgabe der Zeitung so: „Das Ziel ist es, eine Informationspraxis zu entwickeln, die eine Fortsetzung des kollektiven und geschlossenen Ausdrucks der Arbeiter bei LIP bildet. Nach unserer Erfahrung ist diese Politik am effektivsten bei der Entwicklung eines aktiven Unterstützerkreises.“127 Dazu gehörte auch, dass in den seit April regelmäßig erscheinenden wöchentlichen Suppléments der eigenen Zeitschrift – Cahiers de Mai – nun besonders viel Platz für LIP eingeräumt wurde. Auch für den Vorsitzenden der Metallgewerkschaft der CFDT, Jacques Chérèque, waren diese Äußerungen offenbar wichtig: Er hatte die Zeitschrift persönlich abonniert.128
124 Vgl. Jarrige, Jean-Louis und Jacques Wajnsztein: Bilan critique de l’activité des cahiers de mai, Grenoble 2012. 125 Vgl. LIP Unité No. 1, 11. Juli 1973, S. 1. 126 Vgl. LIP Unité No. 4, 2. August 1973; organisatorische Notizen zur Großdemonstration am 29. September 1973, FGM 1 B 575. 127 Cahiers de mai, supplément hebdomadaire, 29. Juni 1973, S. 1, FGM 1 B 571. 128 Die Suppléments befinden sich in FGM 1 B 571.
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Die Produktion von Tonkassetten, die ab dem August eine zeitlang wöchentlich aufgenommen und durch öffentliches Abspielen in anderen Fabriken und bei Veranstaltungen verbreitet wurden, war ebenfalls auf ein Zusammentreffen von externen Unterstützern und den Beschäftigten bei LIP zurückzuführen. Hier war es die Gruppe CREPAC-Scopcolor, die das technische und redaktionelle Wissen mitbrachte, welches es für die Produktion des „Radio LIP – journal sonore des travailleurs de LIP“ brauchte.129 Auf jeweils vier bis fünf „akustischen Seiten“ präsentierte diese Zeitung zum Hören Aspekte des Arbeitskampfes, die aktuell besonders wichtig waren. Sie präsentierte Auszüge aus Vollversammlungen und Erläuterungen, die am häufigsten von CFDT-Vertretern aus dem Betrieb gegeben wurden. Jedes „journal“ begann mit dem eingängigen Lied: „À LIP, rien ne sera plus jamais comme avant.“130 Der Song betonte, welche persönlichen Veränderungen die Teilnehmenden im Rahmen der Betriebsbesetzung machten. In Radio LIP No. 3 für die Zeit vom 3. bis 5. September wurde das erste Mal über die Rolle der Frauen im Arbeitskonflikt berichtet.131 Für die Arbeitsgruppe „Popularisation“ schließlich dürften die zahlreichen Kontakte im Rahmen ihrer Reisetätigkeit am beeindruckendsten gewesen sein. Diese Tätigkeit war nicht ohne öffentliche Skandale. Neben ihren Reisen in Betriebe in Frankreich, Belgien und Italien und neben den Einladungen zu Gewerkschaftsveranstaltungen in Deutschland, Dänemark und an vielen anderen Orten wurden sie auch von Offiziellen empfangen. Ihr Besuch beim belgischen Arbeitsminister, einem Sozialisten, sorgte für einen kurzzeitigen Eklat. Die französische Regierung protestierte gegen eine solche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs.132 Retrospektiv betonten die Beteiligten jedoch nicht so sehr diese Momente, sondern die für viele von ihnen – vor allem die Frauen – ungewohnte Erfahrung des Wortergreifens und Gehörtwerdens.
129 Vgl. den Vortrag von Thierry Lefebvre: „Une prefiguration des radios libres: Radio Lip“, auf dem Kolloquium: Images de LIP, créations en lutte, Paris (maison des métallos), 13. November 2013. 130 Vgl. Radio LIP – journal sonore des travailleurs de LIP, No.1-3, ADD 45 J 12 AV 33-35. 131 Aufgrund solcher Veröffentlichungen bezeichnet Saoura Cassou in ihrer Abschlussarbeit über den „Mythos“ LIP die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst als dessen erste Produzentinnen und Produzenten. Cassou, Saoura: Lip – La construction d’un mythe, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 2000. 132 Vgl. Le Monde, 19. Juli 1973.
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Alice: „Ich bin öfter mit Mme. T zusammengewesen, und stets war nur ich es, die geredet hat. Eines Tages hatten wir in Paris acht Veranstaltungen an einem einzigen Tag, wir mußten uns trennen. Mme T. hatte unglaubliche Angt, als sie wegging. Doch am Abend, als wir uns wieder trafen, sagte sie: „Ich bin sehr zufrieden, daß ich allein gegangen bin. Denn da konnte ich auf einmal sprechen.“133 Colette: „Ich habe vorher an Treffen teilgenommen, aber ich habe nie das Wort ergriffen (…) „Dann ging ich sehr oft mit dem Komitee aus der Fabrik, das bei den Landwirten die Auseinandersetzung erklärte. Schließlich informierte ich sie, legte unsere Probleme dar und lernte ihre kennen.“134
Schließlich produzierten auch Dritte ihre jeweilige Verarbeitung des LIPKonflikts mit dem Anspruch, die Arbeiterinnen und Arbeiter darin selbst zu Wort kommen zu lassen.135 Die Filmemacherin Carole Roussopoulos filmte einen Monolog Monique Pitons, in dem diese die Rolle der Frauen mit der der Araber verglich und die Ausgrenzung der Frauen bei der Arbeit mit dem gesellschaftlichen Rassismus.136 Chris Marker überließ in seinem Film „Puisqu’on vous dit que c’est possible“ vor allem den männlichen CFDT-Gewerkschaftern von LIP das Wort.137 Die „Groupe Z“ führte ihr komisches Theaterstück „Arthur, ou t’as mis les montres?“ sowohl in Besançon bei LIP selbst auf, als auch in anderen Städten. In Eindhoven wurde eine niederländischsprachige Version auf die Bühne gebracht.138 Die westdeutsche Filmemacherin Edith Marcello und ihr Kollege David Wittenberg stellten in ihrem Film „Der Kampf der LIPArbeiter“ unter anderem das Foto der auf dem Boden liegenden Stechuhr in den Mittelpunkt, der gesprochene Begleittext betonte das Ende der Akkordarbeit, das Ende des Ein- und Ausstempelns und der Fabrikhierarchie.139 Für einen Teil der
133 Zit. in LIP-Fauengruppe (Hrsg.): Wir Frauen von Lip – Frauen im Kampf, S. 27. 134 Zit. in Piaget (Hrsg.): Charles Piaget et les Lip racontent, S. 73. 135 Zu Wort kommen zu lassen, für die einen, ins Bild setzen für die anderen, so HenriCartier Bresson: Les travailleurs de Lip : 53 photographies, Supplement zu Libération No. 42, Paris 1973. 136 Vgl. Roussopoulos, Carole: LIP I, Monique Piton. 137 Vgl. Chris Marker: Puisqu’on vous dit que c’est possible. 138 Vgl. Edith Marcello und David Wittenberg: Der Kampf der LIP-Arbeiter. 139 Der Dokumentarfilm wurde nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung nicht im Fernsehen gezeigt. Ab 1977 konnte er auf Veranstaltungen unter dem Titel „Der Kampf der LIP-Arbeiter“ gezeigt werden, Vgl. Archiv Grünes Gedächtnis Akte Wittenberg/Marcello, Mappe 7. Das Skript des Films in Projektgruppe Film, ESG
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Öffentlichkeit war dieser Bruch das entscheidende Moment im Arbeitskampf der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter. Als die LIP-Beschäftigten zur Großdemonstration am 29. September 1973 aufriefen, hatten sie jedenfalls eine Menge Mobilisierungsmaterial anzubieten: „das journal sonore, (…), die Platte mit den Liedern unseres Kampfs und Auszügen von der Vollversammlung am 18. Juni, (…), ein Informationsdossier (…), Aufkleber, Postkarten, usw.“140 Zurückgegangen war die Entscheidung zur Großdemonstration auf den Besuch von LIP-Beschäftigten im August im Larzac. Dort wehrten sich die ansässigen Bauern und Viehzüchter gegen die Ausweitung eines militärischen Übungsgebiets, eine Auseinandersetzung, die sich noch bis Anfang der 1980er Jahre hinzog. 200 LIP-Arbeiter waren dorthin zu einer Demonstration gefahren. Bei den Gewerkschaftszentralen und ihren Branchenverbänden stieß die Organisation des „Marschs auf Besançon“ – auch der Titel wurde analog zum „Marsch auf das Larzac“ gewählt – zunächst auf deutliche Skepsis; die Verhandlungen mit dem Unternehmer Henry Giraud befanden sich in einer sensiblen Phase. Durch die Entscheidungen der Vollversammlung und die Beharrlichkeit der Gewerkschaftsvertreter aus dem Betrieb konnte die Demonstration schließlich doch noch mit der Unterstützung der CGT und der CFDT stattfinden.141 Und kurz vorher konnte auch die öffentliche Unterstützung durch den Bürgermeister gewonnen werden, dessen Stadtrat die polizeilichen Warnungen vor Ausschreitungen wiederholt hatte.142 Der Aufzug wurde streng der Reihenfolge nach geordnet, auf eine Rede des Aktionskomitees wurde verzichtet.143 Den Beschäftigten von LIP am Anfang des Demonstrationszuges folgten die Gewerkschaftsblöcke und schließlich die übrigen Unterstützer, zu denen auch die diversen linksradikalen, in erster Linie trotzkistischen oder maoistischen Gruppierungen gehörten. Bis heute ist die Demonstration vom September 1973 die größte Demonstration, die je in Besançon stattgefunden hat. Die Staatsschutzbeamten, die in Paris die Busvorbereitung beobachteten, teilten die Busse akkurat nach „Linksextremen“ (gauchistes) und „Gewerkschaftern“ ein. Nach ihren Zahlen gab es neben den Sonderzügen 50 Busse der PSU, 30 der trotzkistischen Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und 15 der Gruppe Rouge (Action Communiste), sowie 15 von Maoisten
Frankfurt (Hrsg.): Lip – Entlassungen muss man nicht als Schicksal hinnehmen. Erfahrungen und Konsequenzen aus dem Kampf der Lip-Arbeiter, Hannover 1975. 140 LIP Unité No. 9, 14. September 1973. 141 Vgl. Briefwechsel in FGM 1 B 572. 142 Vgl. LIP Unité No. 10, 21. September 1973. 143 Vgl. ebenda.
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(wahrscheinlich hauptsächlich der Gauche Prolétarienne).144 Die sonstigen Teilnehmergruppen reichten von der linkskatholischen Vie Nouvelle über die CGTund CFDT-Gewerkschaften, über die trotzkistische Alliance Marxiste Révolutionnaire bis zur Sozialistischen (PS) und Kommunistischen Partei (PCF). Aus Italien, der Schweiz und Belgien kamen ebenfalls zahlreiche Unterstützer. Ein Bus des Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) aus Freiburg wurde an der Grenze festgehalten.145 Insgesamt nahmen nach den Zahlen der Veranstalter bis zu 100.000 Personen an der Demonstration am Samstag teil, die Polizei sprach von 30.000. Das begleitende Kulturprogramm und die Informationsstände fanden jedoch am gesamten Wochenende statt. In der Vorbereitung legten zumindest einige Personen auch hier besonders viel Wert auf einen intensiven Erfahrungsaustausch; inwieweit dieser das im Rahmen einer Großdemonstration übliche Maß überschritt, ist jedoch kaum zu beurteilen.146 Nach diesem Höhepunkt der massenhaften Aufmerksamkeit und dem baldigen Scheitern der Verhandlungen im Oktober entwickelte sich eine gewisse Isolation. Ab dem 10. Oktober wurden deshalb von der LIP Unité tägliche Depeschen eingeführt. Die Produktion der Depeschen wurde als ein Teil des Aufbaus eines neuen Solidaritätsnetzwerks begriffen, in dem auch diverse „Minicommissions Lip“ gegründet wurden – 75 zu Hochzeiten –, die außerdem Diskussionsveranstaltungen und Verkäufe veranstalteten.147 Die Depesche wurde jeden Abend per Telefon an mehrere Orte durchgegeben – mindestens nach Roubaix, Lyon und Paris –, um dort transkribiert und weiter gegeben zu werden. An den Zielorten wurde sie schließlich mit Durchschlägen vervielfältigt, um dort an Pinnwänden von Gewerkschaften oder Stadtvierteln aufgehängt zu werden. In der Region Lyon wurden 1500 Exemplare abgezogen, deren Verteilung über 202 Kontaktpersonen erfolgte, hauptsächlich aus größeren (Industrie-)Betrieben. In Lyon alleine gab es 14 „Mini-commissions“, die die Verbreitung übernahmen. In Besançon wurde die Verteilung der seit dem 10. Oktober erscheinenden Depeschen im Büro der Union Locale der CFDT koordiniert.148 Bereits in der De-
144 Vgl. Depeschen der Renseignements Généraux aus Paris, AN 19860581/29. 145 Vgl. Kommunistische Volkszeitung des KBW, Nr. 4, 10. Oktober 1973, S. 16, www .mao-projekt.de/INT/EU/F/Frankreich_Besancon_Lip.shtml, abgerufen am 23. Oktober 2016. 146 Vgl. Bericht aus einer der Vorbereitungsgruppen, Radio LIP – journal sonore des travailleurs de LIP No.3, ADD 45 J 12 AV 35. 147 Deren Tätigkeit ist dokumentiert in BDIC F Δ rés. 578/37. 148 Vgl. Cahiers de Mai – Supplément Hebdo No.17, 22 November 1973, FGM 1 B 571.
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pesche vom 18. Oktober konnte auch die Vorbereitung von längeren Reflexionstreffen mit LIP-Beschäftigten unter dem Titel „Sechs Stunden mit LIP“ angekündigt werden, sowie ein von der CFDT im Dezember organisiertes frankreichweites Kolloquium zur Beschäftigungsproblematik, das in Besançon stattfand.149 Auf diesem Kolloquium wurde vom 7. bis 11. Dezember 1973 mit Delegierten aus anderen von Schließung bedrohten Betrieben, Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Interessierten über „Gesundheit im Arbeitskampf“, „industrielle Restrukturierung und die Rolle des Staates“, „berufliche Weiterbildungsmaßnahmen“, „Wohnung und Beschäftigung“, „Frauenarbeit“, vor allem aber über die eigenen Erfahrungen und die derjenigen gesprochen, die sich in ähnlichen Situationen befunden hatten.150 Die inhaltlichen Vorstellungen der CFDTGewerkschafter dominierten dabei die Themenwahl bei den Workshops. Die CGT war zur Vorbereitung eingeladen worden, beteiligte sich jedoch nicht.151 Für die „Sechs Stunden mit LIP“ schließlich hatten die Organisatoren eine Diavorführung zusammengestellt. Von einem „6 Stunden mit LIP“ bei den Arbeitern von La Redoute, einem Warenversandhaus in Roubaix, ist die Transkription eines Video-Mitschnittes erhalten. Dort war im Frühjahr 1973 gestreikt worden, die Veranstaltung diente nun dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Nachdem der Film transkribiert worden war, wurde die Transkription verwendet, um ein zweites Mal zu diskutieren.152 So stellte sich das Abreißen der medialen Öffentlichkeit indirekt als Gelegenheit heraus, intensivere Reflexionen in den Gewerkschaften und bei den Arbeiterinnen und Arbeitern von LIP und aus anderen Fabriken anzustoßen. Hierbei konnte auf die Erfahrungen zurückgegriffen werden, die mit der „popularisation“ gesammelt worden waren. Was mindestens einigen der LIP-Beschäftigten am Ende blieb, war trotz aller Missverständnisse, trotz aller Widersprüche und Rückschläge die Erfahrung, das Wort ergreifen zu können. Einige Frauen betonten dies besonders, die angelernte Arbeiterin Reine Jeanningros: „Allein schon diese Bereicherung muss um jeden Preis gewahrt werden: Sich nicht minderwertig fühlen, weil man eine Frau ist, weil man ein Arbeiter ist, vor irgendwelchen
149 Vgl. Dépêche quotidienne 18. Oktober 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. 150 Vgl. die von den Cahiers de Mai gesammelten Unterlagen zum Kolloquium, BDIC F Δ rés. 578/52. 151 Vgl. vorbereitende Unterlagen zum Kolloquium, BDIC F Δ rés. 578/52. 152 Vgl. BDIC F Δ rés. 578/52.
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Leuten, die das Glück hatten, ihre Ausbildung fortsetzen zu können oder mit viel Glück einen guten Posten ergattern konnten.“153 Verhandlungen zwischen Vollversammlung und rundem Tisch Nach dem zähen Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit im Frühjahr 1973 brachten die Besetzung des Betriebsgeländes und die Entscheidung der Vollversammlung vom 18. Juni den LIP-Beschäftigten schließlich schnell die Aufmerksamkeit von Regierungsstellen. Am 5. Juni hatte der sozialistische Abgeordnete Boulloche bereits in der Nationalversammlung die Verantwortung des Staates in dieser Frage angemahnt.154 Am 21. Juni schließlich lud Premierminister Pierre Messmer die Abgeordneten des Département Doubs zu einem Gespräch. Darin versprach er, sich gemeinsam mit seinem Industrieminister Jean Charbonnel der Sache anzunehmen.155 Während Messmer zunächst eine Lösung in Form eines verhandelten Sozialplans vorschwebte, erklärte Charbonnel – ein erklärter „Gaulliste de gauche“ – bald, dass er die kompetenten Stellen seines Ministeriums mit der Ausarbeitung eines Plans für den möglichen Erhalt der Betriebe von LIP bemühen werde.156 Und am 2. August präsentierte Jean Charbonnel der Öffentlichkeit schließlich den Unternehmensplan, der als Grundlage für Verhandlungen mit dem von ihm designierten Metall-Unternehmer Henry Giraud dienen sollte. Dieser „Charbonnel-Plan“ sah die Aufteilung des Unternehmens in drei Einzelunternehmen vor, sowie deren Betrieb mit insgesamt zwischen 700 und 900 Personen. Der Unternehmer Claude Arbel sollte demnach die Leitung einer neuen Gesellschaft – Spemelec – für die Rüstungsabteilung übernehmen. Die Firma Ernault-Semua, französischer Marktführer in der Werkzeugmaschinenbranche, sollte die Fabrik in Ornans übernehmen und der als Verhandler vorgesehene Henry Giraud Geschäftsführer der Uhrenproduktion werden. Die Abteilung für Mechanische Fertigung hingegen wäre nach dem Plan vollständig aufgeben worden. Unmittelbar wurde der Plan von den Gewerkschaftern der CGT, der CFDT und dem Aktionskomitee als „nichts anderes, als der von Ébauches
153 Reine Jeanningros, in: Wir Frauen von Lip – Frauen im Kampf (Lip au féminin), Hannover 1975, S. 42. 154 Vgl. Anfrage von André Boulloche in der Nationalversammlung, JO No. 37 AN, Sp. 1773f. 155 Vgl. Est Républicain, 22. Juni 1973. 156 Zu den Konflikten zwischen Messmer und Charbonnel vgl. Charbonnel, Jean: L’aventure de la fidélité, Paris: Seuil 1976. Zur Geschichte des Gaullismus vgl. Berstein, Serge: Histoire du Gaullisme, Paris 2001.
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ausgearbeitete Plan“ verstanden.157 Le Monde präsentierte Henry Giraud am 4. August als geschickten Unternehmensretter, warnte jedoch, dass er bereits eine Firma von 1400 Personen auf 900 Personen reduziert habe. Gegenüber der Belegschaft von LIP und deren Vertretern war er nun mit dem Problem konfrontiert, zunächst als Sachwalter des Charbonnel-Plans wahrgenommen zu werden und nicht als unabhängiger Unternehmer. Die Diskussionen begannen Mitte August nicht nur mit Missverständnissen, sondern auch unter Druck auf die Belegschaft. Vor dem „Charbonnel-Plan“ waren bereits mehrere nur angedeutete Vorschläge im Sand verlaufen. Als am 12. Juli zum ersten Mal Gewerkschaftsvertreter aus Besançon zu einem Gespräch mit dem Fachreferenten Falque aus der Ministeriumsabteilung für die Metall- und Elektroindustrie eingeladen waren, hatte dieser ihnen noch die Gründung einer Genossenschaft nahegelegt. Die CFDT- und CGT-Vertreter von LIP lehnten unmittelbar ab, lediglich die Gewerkschafter der Force Ouvrière (FO) aus der Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans befürworteten diesen Vorschlag.158 Der Vorsitzende des französischen Dachverbandes der Produktionsgenossenschaften, Antoine Antoni, hingegen sicherte den LIP-Arbeitern sowie dem Bürgermeister von Besançon per Telegramm die Unterstützung seines Verbandes zu, sollten sich die Arbeiter für die Gründung einer Genossenschaft entscheiden. Der Beigeordnete des Bürgermeisters unterstützte diese Vorschläge durch einen Artikel im Est Républicain.159 Eine Begeisterung für diese Lösung war also vorhanden, jedoch hauptsächlich bei Politikern außerhalb des Betriebs. Die großen Gewerkschaftsdachverbände hatten nicht nur die bereits angeführten konkreten Bedenken, was den hohen Kapitalbedarf des Unternehmens und einen möglichen Boykott durch die Unternehmerschaft anging. Sie hatten Anfang der 1970er Jahre auch keinerlei systematische Unterstützungsmechanismen für die Gründung von Genossenschaften und waren diesen gegenüber grundsätzlich skeptisch. Unter anderem unterstellten sie diesen eine Tendenz zur Selbstausbeutung.160
157 LIP Unité Nr. 4, 2. August 1973, S. 1. 158 Vgl. Jean Charbonnel im Interview, Le Figaro, 21. August 1973. 159 Vgl. Est Républicain, 6. Juli 1973, S. 3f. 160 Vgl. Zaidman, Sylvie: „Des accociations ouvrières aux SCOP de mai“, in: Georgi (Hrsg.): Autogestion – la dernière utopie?, S. 343; Demoustier, Danièle: Économie sociale et politiques publiques – une construction chaotique en France, in: Dies. (Hrsg.): The emergence of the Social Economy in Public Policy – An international Analysis, Brüssel 2013.
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Der einzige mögliche Investor für eine Übernahme des gesamten Unternehmens, eine englische Firma, stellte ihr Interesse nach wenigen Wochen im Juli ein. Und parallel zur Veröffentlichung des Charbonnel-Plans vermeldete die PSU, über ihren einzigen Abgeordneten in der Nationalversammlung, Yves Le Foll, einen Gesetzentwurf zur temporären Verstaatlichung von LIP einbringen zu wollen. Mit dem Zweck lanciert, die Debatte um die Verantwortung des Staates für die Entwicklung der Uhrenindustrie voranzutreiben, hätte der Vorschlag konkret bedeutet, das Unternehmen auf drei Jahre in staatlichen Händen mit einem Vetorecht der Beschäftigten gegen kollektive Entlassungen zu entwickeln, um es danach entweder an private Aktionäre oder eine möglicherweise zu gründende Genossenschaft abzutreten. Einige Vertreter der Partei, unter ihnen der Vorsitzende Michel Rocard, hätten eine Genossenschaftsgründung durchaus befürwortet. Die Formulierung der Pressemitteilung spiegelt jedoch den Zwiespalt wieder, in dem sich die Partei bezüglich dieser Frage befand: „Zur Not könnte der Regiebetrieb auch in eine Produktionsgenossenschaft umgewandelt werden, wenn das der Wille der Arbeiter ist; aber diese Hypothese ist so weit wie möglich zur Seite zu legen, da eine solche Geschäftsführung durch die Arbeiter im kapitalistischen System nur eine Fata Morgana ist.“161 Schließlich begannen die Verhandlungen also auf der Basis des CharbonnelPlans. Die Situation war angespannt: Seitdem das Handelsgericht in Besançon am 13. Juli die Auflösung der Gesellschaft LIP beschlossen hatte und der Konkursverwalter ab dem 1. August allen Beschäftigten ihre Kündigungsschreiben zugesandt hatte, stand die mögliche Räumung der Fabrik in Palente zur Diskussion. Am 8. August beschloss das Handelsgericht die Versiegelung der Fabrik, die Arbeiter entfernten jedoch umgehend wieder alle Siegel. Die Räumung am frühen Morgen des 14. August geschah schließlich nach Absprache der Regierung und an den lokalen Polizeibehörden in Besançon vorbei.162 Zunächst übernahm Premierminister Messmer die Verantwortung für den Räumungsbefehl, retrospektiv erklärte Jean Charbonnel jedoch, dass es sich hierbei um einen gemeinsamen Beschluss der Regierung gehandelt habe. Für den Beginn der Verhandlungen habe er persönlich diesen Schritt als notwendig erachtet.163 Durchge-
161 Vgl. Pressemitteilung der PSU vom 7. August 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. 162 Vgl. Nouvel Observateur, 20. August 1973, S. 14. 163 Vgl. die Aussagen von Jean Charbonnel in: Georgi, Frank: „Un conflit ‚autogestionnaire‘ sous Georges Pompidou, S. 157-177. Der sozialistische Abgeordnete Boulloche fragte den Industrieminister, der für den Einsatz die Verantwortung übernommen habe, am 25. August in der Nationalversammlung, wie sich diese Repression
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führt wurde die Räumung Mobilgardisten der Gendarmerie aus dem Territoire de Belfort, um eventuelle Solidarisierungstendenzen lokaler Polizeieinheiten zu umgehen.164 In der Stadt kam es in den folgenden Tagen zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Einsatzhundertschaften der Nationalpolizei verschossen nach eigener Zählung zwischen dem 15. August 1973 und dem 17. August in Besançon 904 Tränengasgranaten.165 Anwohner beschwerten sich über Granaten, die sogar in Wohnungen explodierten. Es gab zahlreiche Verletzte, Journalisten wurden festgehalten und an ihrer Arbeit gehindert. Mindestens 25 Betriebe wurden allein in Besançon kurzzeitig aus Solidarität bestreikt, unter ihnen die Post- und Telefonbehörde und das Rathaus, die Bahn, sowie die großen Betriebe Kelton und Rhodiacéta.166 Am 16. August versammelten sich 4500 Personen im Palais du Sport in Besançon. Hier riefen sämtliche Kräfte der Linken zur Solidarität mit LIP auf. Die beiden Vorsitzenden der Gewerkschaften der CGT, Georges Seguy und der CFDT, Edmond Maire, traten hier gemeinsam aufs Podium – zu einer der wenigen Gelegenheiten überhaupt – und verurteilten die Räumung der Fabrik.167 In Fabriken in ganz Frankreich kam es zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen, ebenso bei der Nachrichtenagentur Agence France Presse, da zwei ihrer Journalisten im Zuge der Räumung mutmaßlich von Polizisten misshandelt worden waren.168
mit einer verantwortungsvollen Politik des „Aménagement du Territoire“ vertragen solle, vgl. JO AN vom 29.September 1973, Absatz 4359. 164 Vgl. die Korrespondenz und die Einsatzberichte der Schwadrone 3/21 aus Belfort und 2/21 aus Héricourt im Dossier der Legion der Franche-Comté GD 2007 ZM 1/13393 und in ihrer eigenen Dokumentation GD 2007 ZM 1/31276. 165 Vgl. Service Central des Compagnies Républicaines de Sécurité, État Major: Fiche Relative à la participation des CRS au maintien de l’ordre à Besançon à l’occasion de l’affaire LIP, AN 1994-0111/4. 166 Vgl. die Depeschen des Staatsschutzes, AN 19860581/29. 167 Vgl. Presseerklärungen der CFDT, FGM 1 B 571. 168 Vgl. Liste von Solidaritätskundgebungen vom 15. August 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. Die zwei trotz kenntlich gemachter Pressearbeit festgenommenen Journalisten erstatteten Anzeige. In der Folge ihrer Festnahme seien sie von Dutzenden im Spalier stehenden Gendarmen mit Gewehrkolben und Fußtritten traktiert worden, vgl. ihre Aussagen und die Nachbearbeitung in der Polizei, AN 19860581/29. Dies wurde Gegenstand einer Anfrage des Abgeordneten Boulloche in der Nationalversammlung, vgl. Journal Officiel No. 61 AN, 1.September 1973, Sp. 3532f.
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Nach einigen Diskussionen über den Ort der Verhandlungen begannen diese schließlich am 21. August in der ehemaligen königlichen Saline im Ort Arc-etSenans. Die Lage außerhalb von Besançon wurde nach der Räumung von vielen im Betrieb als weiterer Versuch verstanden, dem verhandelnden Unternehmer einen Vorteil zu verschaffen. Zunächst dominierten formale Fragen. Während die Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf der Präsenz des Aktionskomitees bestanden hatten, sogleich mit Tonbandaufzeichnungen der Verhandlung begannen, sperrte sich Giraud gegen die Mitschnitte und betonte, dass er selbst auch ohne solche Hilfsmittel komme.169 Schließlich wurde dennoch mitgeschnitten, einzelne Verhandlungstage wurden transkribiert und veröffentlicht, ansonsten in den Vollversammlungen aus verschiedenen Perspektiven ausführlich von den Verhandlungstagen berichtet. Bei den Verhandlungen waren Gewerkschafter aus dem Betrieb, den jeweiligen Ortsgruppen und den Branchenverbänden anwesend, diese wurden außerdem – was extrem ungewöhnlich war – von Mitgliedern des Aktionskomitees unterstützt.170 Ausgangspunkt der Verhandlungen waren mehrere sich scheinbar ausschließende Positionen: Erstens der Charbonnel-Plan als Ausgangsbasis für Henry Giraud, also die Aufteilung in mehrere Unternehmen und die Entlassung von 300 bis 500 Personen. Zweitens die Expertise der CFDT, die mithilfe ihres Beratungsbüros Syndex am 8. August die ökonomische Machbarkeit unterstrichen hatte, das Unternehmen ökonomisch sinnvoll erhalten zu können und und dies in einer zweiten Pressekonferenz am 24. August noch detaillierter ausführte.171 Und drittens noch die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP, für die stellvertretend die LIP Unité am 14. August verkündete: „Die CGT, die CFDT und das Aktionskomitee haben durch Flugblätter und Presseerklärungen ihren gemeinsamen Willen bekundet, auf der Basis unserer Forderungen eine Verhandlung ohne Vorbedingungen zu beginnen.“172 Diese – „Keine Entlassungen, keine Zerstückelung, Erhalt der sozialen Errungenschaften“ – standen in deutlichem Gegensatz zum Charbonnel-Plan.
169 Vgl. LIP Unité Nr. 7, 23. August 1973. 170 Vgl. hierzu die Tonbandaufnahmen, ADD 45J 12 AV 20-25. Die Zeitung Libération berichtete in einer zweiteiligen Serie: „Les négociations sont un art.“ am 18. und 19. September 1973. 171 Vgl. Pressemappe der FGM zu den drei Pressekonferenzen vom 8. August, 24. August und 26. September 1973, „L’affaire LIP“, „LIP est viable“ und „LIP – l’emploi pour tous“, FGM 1 B 571. 172 LIP Unité No. 7, 23. August 1973.
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Entsprechend der aufgeheizten Atmosphäre wurde angestrebt, als erstes über den juristischen Status des Unternehmens und die mögliche Einheit des Betriebs zu sprechen. Am 11. September wurde in dieser Frage eine Einigung erzielt, nach der eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft die verschiedenen Bereiche bündeln sollte. Claude Arbel hätte sich damit verpflichtet, die Rüstungsproduktion auf dem Gelände der Fabrik in Palente einzurichten, ein gemeinsamer Betriebsausschuss wäre zugesichert worden, das IDI wäre für den Staat mit Zuschüssen tätig geworden. Trotz der gewissen Fortschritte ist in den Protokollen zu erkennen, dass sich der Eindruck, Giraud könne gar nicht eigenständig verhandeln, immer wieder aufs Neue bestätigte. Als nach dem 11. September begonnen wurde, über die Zahl der Arbeitsplätze zu diskutieren, kam blitzartig der Eindruck wieder auf, Henry Giraud werde nur zur Umsetzung des von Jean Charbonnel vorgelegten Planes tätig: Giraud: „Also, sehen sie, der Eindruck, den sie von mir haben, als Vermittler der Regierung, beschämt mich ein wenig. Tatsächlich bin ich von der Regierung bestellt worden, meine Ansichten werden ein wenig gehört, aber das jetzige Ziel, das wir erreichen wollen, ist es, LIP in Gang und schließlich wieder ans Laufen zu bringen, ab dem Moment bin ich der Verantwortliche jener neuen Gesellschaft.“173
Der Widerwille Girauds, unternehmerische Risiken einzugehen, belegbare oder widerlegbare Zahlen auf den Tisch zu legen, bestätigte immer wieder aufs Neue diesen Eindruck, der sich vor allem bei den Beschäftigten von LIP verfestigte. Als der Sekretär der CFDT-Metallgewerkschaft, Fredo Moutet, Giraud in den Verhandlungen vorrechnete, dass es noch Rüstungsbestellungen gebe, die für sechs Monate vorhalten würden, erklärte Giraud dies kurzerhand für unglaubwürdig.174 Am 26. September unterstrich die Metallgewerkschaft auf ihrer dritten großen Pressekonferenz: „Er (Henry Giraud, J.B.) erweist sich als unfähig, sein Organigramm auf der technischen Ebene zu verteidigen – nicht er ist es, der es vorbereitet hat –, es handelt sich immer noch um den Plan, der vom IDI und von den alten Leitern von LIP auf die Bitte von Ébauches SA vorbereitet wurde.“175
173 Vgl. Volltext der siebten Verhandlungssitzung, S. 2, BDIC F Δ rés. 578/37. 174 Ebd., S. 14. 175 Pressemappe zu den Pressekonferenzen der FGM, 26. September 1973, S. 59, FGM 1 B 571.
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Die Mobilisierung zur Großdemonstration schließlich ließ Giraud selbst nochmals skeptischer gegenüber seinen Verhandlungspartnern werden. Die Aufzeichnungen in seinem Buch „Mon été chez LIP“ lassen ihn als einsamen Verhandler gegenüber einer permanent Druck ausübenden Menge erscheinen.176 Am 6. Oktober machte er schließlich sein letztes Angebot, das er am 9. Oktober bei einem erneuten Verhandlungstreffen in Dijon in seiner Endgültigkeit bestätigte: 989 Personen sollten demnach wiedereingestellt werden, die Mechanikabteilung vollständig aufgegeben und die 160 nicht wieder eingestellten Personen in die Arbeitslosigkeit entlasssen werden. In den Verhandlungen am 9. Oktober dominierte der Eindruck von Beginn an, dass keine Verhandlungen mehr stattfinden würden. Giraud verhehlte nicht seine deutliche Abneigung gegenüber denjenigen, die in dieser Lage noch an Demonstrationen teilnahmen.177 Die Gewerkschaften einigten sich gemeinsam darauf, die Zustimmung zum Giraud-Plan von der Möglichkeit abhängig zu machen, über die Weitervermittlung der NichtWiedereinzustellenden zu verhandeln. Um diese Position stark zu machen, war auch der Vorsitzende der Metallarbeiterföderation in der CFDT, Jacques Chérèque, extra nach Besançon gereist. Das erste Mal war die CFDT jetzt also bereit, Entlassungen bei LIP explizit zuzustimmen. In einem gemeinsamen Dossier schlugen CFDT, CGT, CGC und FO den Beschäftigten vor, den Plan unter dieser Bedingung anzunehmen. Dieses Dossier diente am 11. Oktober als Grundlage für Diskussionen der Belegschaft in Kleingruppen, unter sich und ohne Öffentlichkeit, die den ganzen Nachmittag dauerten. Als zweites Diskussionspapier lag ein Reflexionstext des Aktionskomitees vor: „LIP – Hoffnung der Arbeiterklasse?“. Dieser drückte die Bereitschaft aus, über den vorliegenden Gewerkschaftstext zu diskutieren, allerdings nur dann, wenn dieser in all seinen Konsequenzen bedacht würde. Diese wurden als gravierend eingeschätzt: „Für das Aktionskomitee sind diese Konsequenzen erdrückend, sie sind die Negation dessen, was unsere Stärke ausgemacht, unseren Kampf beflügelt, was unsere und die Hoffnung vieler Arbeiter gerechtfertigt hat. Wir akzeptieren unsererseits einen solchen Ausgang nicht.“178 In der geheimen Abstimmung am nächsten Tag wurde entschieden: Annahme des Giraud-Plans oder Fortführung der Auseinandersetzung auf der Basis der ursprünglichen Forderungen, d.h. keine Entlassungen. Von den 817 abgegebenen Stimmen waren 17 Enthaltungen, 174 für den Giraud-Plan und 626 für dessen Ablehnung. In Ornans stimmten derweil 60 Per-
176 Vgl. Giraud, Henry: Mon été chez Lip, Paris 1974. 177 Mitschrift der Verhandlungen, BDIC, F Δ rés. 578/37. 178 Comité d’action: LIP – espoir de la classe ouvrière?, 10. Oktober 1973, FGM 1 B 575.
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sonen für die Wiederaufnahme der Arbeit nach dem vorliegenden Plan und 16 dagegen.179 Premierminister Pierre Messmer erklärte am 15. Oktober öffentlich: „LIP, c’est fini, en ce qui me concerne“ und präzisierte, er werde den Industrieminister nicht mit weiteren Verhandlungen betrauen.180 Die Gewerkschaften hatten vor Ort und auf nationaler Ebene nun einige Mühe, ihre Einheit wiederherzustellen, die sie bis dahin so deutlich zur Schau gestellt hatten. Während die Metallarbeiterföderation der CFDT entgegen ihrer vorherigen Überzeugung unmittelbar nach der Abstimmung erklärte, sie stelle sich voll hinter die Ablehnung des Giraud-Plans, lehnte die CGT das Abstimmungsergebnis als unverantwortlich ab, sicherte den LIP-Arbeitern aber weiter Solidarität zu und ermahnte sie zugleich: „In der Fortsetzung des Kampfes und der Solidarität mit den Arbeitern von LIP warnen die CGT und die Metallgewerkschaft der CGT diese vor den provokanten Umtrieben linksradikaler (gauchistischer) Gruppen von außen, für sie sich die CFDT leider hergibt.“181 Während in Ornans am 19. November die Arbeit unter der Leitung der neuen Eigentümergesellschaft SUPEMEC – einer Tochterfirma der von Giraud geleiteten „Forgeries du Saut-du-Tarn“ – aufgenommen wurde, drängte die Regierung die Stadtverwaltung Besançons, dem am Giraud-Plan beteiligten Unternehmer Claude Arbel für die Übernahme der Rüstungsproduktion eine Halle im Stadtteil St. Claude zur Verfügung zu stellen, was diese schließlich tat. Die Arbeiterinnen und Arbeiter demonstrierten zwar weiter und verhinderten effektiv die Aufnahme des Betriebs in der neuen Halle. Auch meldeten sich die LIP-Beschäftigten im November schließlich arbeitslos, gaben bei Vermittlungswünschen allerdings stets an, dort weiter arbeiten zu wollen, wo sie vorher gearbeitet hatten.182 Währenddessen kontaktierte noch im Oktober José Bidegain für eine Gruppe von Unternehmern das Industrieministerium. Bidegain, Generalvertreter der Unternehmervereinigung Entreprise et Progrès und Vorsitzender des Unternehmerverbands der Schuhindustrie, war kurz zuvor mit der Rettung einer Salamander-Schuhfabrik in Romans aufgefallen, die mit den Mitteln der Beteiligungsgesellschaft seiner Branchenvereinigung wieder in Betrieb genommen wurde. Am 19. Oktober 1973 lieferte die Libération ein Porträt von ihm und zitierte ihn mit der Bemerkung: „Die einzige Gemeinschaft, der sich die Menschen heute solida-
179 Vgl. Dépêches Quotidiennes vom 10., 11. und 12. Oktober 1973, ADD 45 J 13. 180 Zur Diskussion dieser Erklärung vgl. Charbonnels Äußerungen in: Un conflit autogestionnaire sous Georges Pompidou. 181 Gemeinsame Pressemitteilung des Bureau de la Confédération de la CGT und der Fédération Générale des Métaux (FGM) der CGT, Privatarchiv Fatima Demougeot. 182 Vgl. Registrierungsbögen der Arbeitsbehörde, ADD 2032 W 338.
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risch verbunden fühlen, ist das Unternehmen. Die traditionellen Gemeinschaften, das Dorf, das Stadtviertel, die Kirchengemeinde, sind zerbrochen.“183 Entsprechend betrachtete Bidegain das Unternehmen als privilegierten Ort für Reformbemühungen, auch mit dem Ziel, neue Identifikationspotentiale für die Beschäftigten zu schaffen. Seine Gruppe Entreprise et Progrès, die sich 1968 gegründet hatte, nahm früh Anregungen von Arbeitssoziologen und Unternehmensberatern auf, die sich einer Veränderung der Arbeitsverhältnisse im Sinn von mehr Eigenverantwortlichkeit der Beschäftigten widmeten und nahm die Streikwelle des Mai 1968 als Anstoß zur Reflexion.184 Während der Industrieminister gegenüber den Plänen zunächst skeptisch war, warb die Metallgewerkschaft der CFDT dafür, auf dieser Basis zu Verhandlungen zu gelangen. Auch der PSU-Vorsitzende Michel Rocard, der gute Kontakte zu den Mitgliedern von Entreprise et Progrès pflegte, vermittelte in diesem Sinne.185 Am 14. Dezember empfing Jean Charbonnel schließlich die Vorsitzenden der nationalen Branchengewerkschaften der CGT, der CFDT und der CGC (Breteau, Chérèque und Brachetti) sowie Antoine Riboud, den Vorstandsvorsitzenden von BSN-Danone als Vertreter der Unternehmergruppe, um eine Grundsatzvereinbarung für eine mögliche Lösung im LIP-Konflikt zu erreichen. Die Vereinbarung sah vor, bis zum 15. Januar einen Plan zur Wiederaufnahme der Uhrenabteilung zu präsentieren.186 Nicht mehr in der aufgeheizten Atmosphäre des Sommers, außerdem mit der Unterstützung nicht nur des Industrieministeriums, sondern auch der Gewerkschaftszentralen ausgestattet, sollte es den nun beteiligten Unternehmern wesentlich schneller gelingen, einen Plan vorzulegen, der akzeptiert werden könnte. Gegenüber einer Belegschaft, die von monatelangen Auseinandersetzungen und zunehmender Unsicherheit ermüdet war, konnten nun weitgehend im kleinen Kreis ausgearbeitete Pläne präsentiert werden, die schließlich in schnellen Verhandlungen zum Ergebnis gebracht werden sollten. Die Gewerkschafter bei LIP wussten am Vorabend des 14. Dezember offiziell weder, wer ihren Branchenvertretern in Paris am nächsten Tag gegenüber sit-
183 Libération, 19. Oktober 1973, S. 11. 184 Vgl. Weber, Henri: Le parti des patrons, Le CNPF (1946-1986), Paris 1987, S. 176ff; Boltanski, Luc und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 236. 185 Vgl. Presseerklärung der FGM vom 21. November 1973, FGM 1 B 571, vgl. Interview Rocard in Le Monde, 20. März 2007. 186 Vgl. Dépêche Quotidienne, 15. Dezember 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung.
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zen würde, noch welche konkreten Vorschläge dort unterbreitet werden würden.187 Claude Neuschwander, PSU-Mitglied und bis dahin seit einigen Jahren in der großen Werbeagentur Publicis unter anderem seit 1962 für die LIP-Reklame zuständig, wurde am 8. Januar 1974 als zukünftiger Geschäftsführer der neuen Firma vorgestellt. Grundzüge einer Lösung waren bereits abzusehen. Zu ihnen gehörte die Gründung einer Holding, die es ermöglichen würde, Claude Arbel und die Rüstungssparte weiter an das Unternehmen LIP zu binden, nicht jedoch die Fabrik in Ornans. Neuschwander selbst unterstrich in einem 1975 erschienenen Buch, „Patron, mais...“, wie schnell die Erstellung des Plans vonstatten ging. Eingeschlossen in eine Pariser Wohnung habe er eine Woche lang mit zwei Experten der Unternehmensberatung McKinsey an dem Plan gearbeitet, welche demzufolge kostenlos tätig wurden.188 Am 14. Januar konnte Neuschwander im Industrieministerium das Einverständnis der wesentlichen Akteure für diesen Plan gewinnen. An der vierstündigen Besprechung zwischen Neuschwander, Arbel und den Experten des Industrieministeriums unter Leitung des Fachreferenten Falque nahmen außerdem ein Staatssekretär aus dem Arbeitsministerium sowie die Vorsitzenden der drei bei LIP Palente vertretenen nationalen Branchengewerkschaften teil. Zum Abschluss der Einigung stieß auch der Indutrieminister selbst zum Treffen hinzu.189 Die Beschäftigten bei LIP erfuhren am Abend gegen 22h in einer außer der Reihe durch die CFDT einberufenen Vollversammlung vom Stand der Planung.190 Die Verhandlungen mit den Gewerkschaftern aus dem Betrieb verliefen dann im Schnellverfahren: Der Unternehmergruppe war es mittlerweile gelungen, noch weitere Aktionäre ins Boot zu holen und auch Ébauches an dem Vorhaben zu beteiligen. Die Verhandlungen begannen am Freitag, den 26. Januar in einem Sitzungssaal in Dôle, etwa 40 km von Besançon entfernt. Bereits am Montag konnte ein Ergebnis mitgeteilt werden und der Vollversammlung der Belegschaft zur Entscheidung vorgelegt werden, die sich mit 631 Ja-Stimmen, drei
187 Vgl. Dépêche Quotidienne, 13. Dezember 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. 188 Vgl. Neuschwander, Claude: Patron, mais..., Paris 1975, S. 39. Charbonnel schrieb rückblickend über seine Zuversicht gegenüber Neuschwander: „Nach dem Verhandler Henry Giraud musste ein Experte für Marktstudien gefunden werden.“ [...] „Die technischen Qualitäten dieses Direktors von Publicis waren gut bekannt.“, Charbonnel, Jean: L’aventure de la fidélité, Paris 1976, S. 245. 189 Vgl. Le Monde, 16. Januar 1974, S. 31. 190 Vgl. Dépêche Quotidienne, 15. Januar 1974, ADD 45 J, in Einarbeitung.
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Nein-Stimmen und 16 Enthaltungen für die Annahme des Plans aussprach.191 José Bidegain leitete mit der Hilfe von fünf Angestellten die Verhandlungen für die Unternehmer. Jeweils mehrere Vertreter der Gewerkschaften bei LIP sowie Vertreter der Branchengewerkschaften CGT, CFDT und CGC verhandelten für die Beschäftigten. Das Aktionskomitee nahm nicht an den Verhandlungen teil. Da Pressevertretern in den Verhandlungspausen kaum Zeit blieb, Fragen zu stellen, fielen in der Öffentlichkeit vor allem Fotos von der Begrüßung und von der Unterzeichnung auf.192 Die Dépêche Quotidienne vom 28. Januar rechtfertigte die Verschwiegenheit: „Sie sind vielleicht vom Ausbleiben unserer Depesche am Samstag und Sonntag überrascht gewesen, als wir mitten in den Verhandlungen waren. Der Grund dafür ist einfach: Um falschen Interpretationen vorzubeugen, die schnell aufkommen, hatten sich die Gewerkschaften und die Unternehmer auf ein Stillhalten geeinigt, damit nichts über diese Phase vor dem Abschluss der Diskussionen nach außen sickert. Diese Maßnahme hat uns ermöglicht, heute in der morgendlichen Vollversammlung die Verhandlungsergebnisse zu erörtern, unter uns, ohne Journalisten und Personen von außen.“193
Jedoch hatte die Verhandlungsdelegation der CGT am 27. Januar festgestellt, dass die realen Verhandlungsspielräume mittlerweile so gering geworden waren, dass es sich bei den Treffen eher um eine Informationsveranstaltung gehandelt habe.194 Waren also die Verhandlungen mit Henry Giraud noch von dem deutlichen Bestreben der Belegschaftsvertreter geprägt, größtmögliche Transparenz zu erreichen und sowohl in der Belegschaft als auch nach außen möglichst viele Informationen zu übermitteln, so verzichteten diese angesichts der geringen Verhandlungsspielräume, der dringenden Notwendigkeit einer Einigung und des Drucks der Unternehmer nun hierauf. Die Unternehmer hatten bei der Lösung die Federführung. Nachdem sie das Einverständnis des Industrieministers gewonnen und einen Unternehmensplan entworfen hatte, einigten sie sich in den wesentlichen Belangen zunächst mit den Vorsitzenden der Branchengewerkschaften, bevor sie auch die Belegschaftsvertreter von LIP zu den Verhandlungen in Dôle hinzuzogen.
191 Vgl. Dépêche Quotidienne, 30. Januar 1974, ADD 45 J, in Einarbeitung. 192 z.B. im Est Républicain, 30. Januar 1974. 193 Dépêche Quotidienne, 28. Januar 1974, ADD 45 J, in Einarbeitung. 194 Vgl. Déclaration de la délégation CGT, 27. Januar 1974, private Archivbestände Fatima Demougeot.
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Die Einigung, „Accord de Dôle“, versprach im Gegensatz zum Giraud-Plan nicht die sofortige Wiedereinstellung des gesamten Personals, sondern dessen Wiedereinstellung gestreckt über den Zeitraum von einem Jahr, abhängig von der ökonomischen Situation, und sicherte zu, die Unterstützung der entsprechenden staatlichen Stellen für Fortbildungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Zunächst sollte der Betrieb im März mit einer reduzierten Zahl an Personen wieder aufgenommen werden.195 Zwar herrschte nun auf allen Seiten Erleichterung, die Gewerkschaften hatten sämtlich für die Annahme des Plans geworben. Die CGT warnte aber vor einer Komplizenschaft mit den neuen, sich sozial profilierenden Unternehmern.196 Wer waren neben José Bidegain die prominenten Kapitalgeber von LIP? Renaud Gillet war seit Oktober Vorsitzender des Chemiekonzerns RhônePoulenc, welcher bereits die Textilfabrik Rhociacéta in Besançon gekauft hatte. Rhône-Poulenc war damals Frankreichs zweitgrößtes privates Unternehmen (nach den Usines Péchiney-Kuhlmann). Antoine Riboud, geboren 1918, war der Eigentümer des Konzerns Boussois-Souchon-Neuvesel (BSN), ursprünglich einem Familienunternehmen in Lyon, das Glasflaschen produzierte. Mit dem Kauf des Brauereiunternehmens Kronenbourg sowie weiterer Lebensmittelhersteller und einer Fusion mit der Lebensmittelgruppe Gervais-Danone im Jahr 1973 wurde Riboud an der Spitze des Konzerns zu einem der wichtigsten Unternehmer Frankreichs. Innerhalb der Unternehmergruppierung Entreprise et Progrès war er die wohl prominenteste Figur.197 1972 hatte er auf dem Kongress des Unternehmerverbands CNPF (Conseil National des Patrons Français) eine Rede gehalten, die weit über das unmittelbare Publikum hinaus ihre Wirkung entfaltete. Der Kongress des CNPF stand unter dem Motto: „Das Wachstum, das Unternehmen und die Menschen“. In seinem dortigen Vortrag „Wachstum und Lebensqualität“ am 25. Oktober 1972 griff Riboud auf sozialkatholische Traditionen zurück und plädierte für eine Versöhnung des „Habens“ mit dem „Sein“. Zwar stand der Kongress insgesamt unter dem Eindruck der seit 1968 anhaltenden Streiks und Proteste in den Fabriken, die häufig auch von migrantischen Arbeitern und von Frauen getragen wurden. 1971 hatte der CNPF bereits eine Studie zum „Hilfsarbeiterproblem“ in Auftrag gegeben. In den Handlungsempfeh-
195 Vgl. Accord de Dôle, AM 5 Z 224. 196 Vgl. etwa den Rundbrief der lokalen CGT, Le trait de l’union No. 41, 15. Februar 1974, mit Beiträgen von Claude Mercet, der CGT-Sektion von LIP, des Generalsekretärs der CGT, Henri Krasucki u.a., Private Archivbestände Fatima Demougeot. 197 Vgl. Dessaux, Pierre-Antoine: „Antoine Riboud“, in: Daumas (Hrsg.): Dictionnaire historique des patrons français, S. 594-596.
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lungen beschränkte sich der Bericht jedoch weitgehend auf die Einhegung der Streikdynamik durch Zugeständnisse an männliche, französische Kerngruppen von Arbeitern, an die sich Angebote der Aufgabenbereicherung und des Zugangs zu Möglichkeiten der Weiterqualifizierung richten sollten.198 Riboud war aber der erste aus dem Unternehmerlager, der in seiner Rede explizit die Slogans der 1968er-Bewegung, nun jener der Studierenden, aufgriff, und für seine Schlussfolgerungen in Bezug auf Industriebetriebe nutzbar machte: „Heute scheinen das materielle Wohlergehen, der Komfort im Haushalt, das Radio, das Fernsehen mit einem Refrain einherzugehen: ‚Métro, boulot, dodo‘. Viele haben ‚den Kaffee auf‘.199 Sie haben die Parolen des Mai 1968 erkannt. Die Jugend war der Auslöser. Sie macht die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Aber wie sind wir zu jenen revolutionären Tagen gelangt, die uns eine blockierte Gesellschaft vorgeführt haben? Das Wachstum hat eine sehr große Demokratisierung des Konsums erlaubt. Aber Produzieren und Konsumieren werden heute als Werte für viele unzureichend. Mehr noch, der übermäßige Gebrauch der Konsumgüter führt schließlich zur persönlichen Entfremdung. (…) Was sollen wir suchen? Ohne Zweifel müssen wir neue Werte finden, die die Lebensqualität in der industriellen Realität der heutigen Welt wieder herstellen.“200
Deutlicher als andere formulierte Riboud in seinen Schlussfolgerungen eine Abkehr von tayloristischen Formen der Arbeitsteilung als Notwendigkeit und betonte die Bedeutung einer aktiven Informationspolitik im Betrieb: „Zunächst gilt es, eine Bestandsaufnahme der Probleme zu machen, Werkstatt für Werkstatt in Erfahrung zu bringen, was nicht geht und dahin zu gelangen, dass jede Gruppe sich an dieser Bestandsaufnahme beteiligt.“201 Die Mehrheit der im CNPF organisierten französischen Unternehmerschaft wollte also durch einfache Zugeständnisse eine Einhegung des Unruhepotentials in den Fabriken erreichen. Riboud ging darüber hinaus, indem er die aktive Beteiligung aller Beschäftigten an betrieblichen Verbesserungsprozessen einforderte. Diese spezifische, von der
198 Vgl. Vigna: L’insubordination des ouvriers dans les années 68 – Essai d’histoire politique des usines. 199 Im Original jenes „ras-le-bol“, das bis heute am Ausgangspunkt vieler Demonstrationen steht. 200 Vgl. Antoine Riboud: Croissance et qualité de vie, Vortrag vom 25. Oktober 1972. http://politiquedesante.fr/wp-content/uploads/2015/02/%C2%AB-Croissance-etqualit%C3%A9-de-vie-le-discours-prononc%C3%A9-par-Antoine-Riboud-PDG-deDanone.htm, abgerufen am 3. August 2016. 201 Ebenda.
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Unternehmensleitung ausgehende und zu ihr hinführende Informationspolitik kann auch als Reaktion auf die erst kürzlich neu erkämpften gewerkschaftlichen Informations- und Verhandlungsrechte verstanden werden. Mit dem Abkommen von Grenelle im Anschluss an die Streikwelle vom Mai 1968 hatten die betrieblichen Gewerkschaftssektionen erstmals eine rechtliche Anerkennung erhalten. Mit der Wahl von Gewerkschaftsdelegierten – Délégués Syndicaux – in Betrieben über 50 Personen trat ein explizit gewerkschaftliches Vertretungsorgan an die Seite der bisherigen Gremien betrieblicher Interessenvertretung.202 Zwar war die Gruppe Entreprise et Progrès sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen im Betrieb gegenüber aufgeschlossener als die Mehrheit im CNPF. Dennoch schwebte Riboud anstelle einer gewerkschaftlich vermittelten, kollektiven Vertretung offenbar eine individuelle Einbeziehung der Beschäftigten in Kommunikationsprozesse vor, die von der Unternehmensführung angeregt und geleitet werden sollten. Nicht kollektive Rechte, sondern individuelle Frustrations- und Entfaltungspotentiale rückten in dieser Sichtweise ins Zentrum. Indem Riboud grundsätzlich von einer Übersättigung materieller Bedürfnisse ausging, schuf er, gewollt oder nicht, auch die Grundlagen, um weiterhin anhaltende materielle Forderungen von Arbeiterinnen und Arbeitern zur Seite zu wischen. Welchen Einfluss diese spezifische Unternehmerpolitik auf die industrielle Strategie von LIP zwischen 1974 und 1976 hatte, wird in Kapitel 2.2 dieser Arbeit diskutiert, ihre Folgen für Arbeit und betriebliche Sozialbeziehungen bei LIP in Kapitel 3.
1.3 W IRKUNG
UND
W AHRNEHMUNG
Betriebliche Kämpfe und gesetzliche Neuerungen im Anschluss an LIP Zum Zeitpunkt des ersten LIP-Konflikts hatte die Arbeitslosigkeit noch etwa zwei Prozent betragen.203 In der unmittelbar folgenden Zeit vermehrten sich jedoch die Betriebsschließungen und Entlassungen. In den betrieblichen Auseinandersetzungen der Jahre 1974 bis 1977 wurde häufiger zu den im LIP-
202 Vgl. Artus, Ingrid: „Mitbestimmung versus Rapport de force: Geschichte und Gegenwart betrieblicher Interessenvertretung im deutsch-französischen Vergleich“, in: Andresen, Knut u.a. (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch – Kontinuitäten und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 213-244., S.229f. 203 Vgl. Eymard-Duvernay, François: Le chômage a augmenté de 12 % entre mars 1973 et mars 1974, in: Économie et Statistique Nr. 62, 1974, S. 39-43.
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Konflikt angewandten Mitteln der Betriebsbesetzungen und der Solidaritätsverkäufe gegriffen, Begriffe wie „aktiver Streik“ oder „produktiver Streik“ wurden hierfür vermehrt benutzt. Das Gewerkschaftsmagazin CFDT Aujourd’hui vom September-Oktober 1975 diskutierte diese als Konjunktur der „Enfants de Lip“.204 Zwischen Juli 1974 und Juli 1975 gab es demnach allein in Frankreich 200 Betriebsbesetzungen. Am 1. Juli 1975 waren gleichzeitig 35 Betriebe in Frankreich besetzt. Auch in politischen Organisationen stieß der LIP-Konflikt Reflexionen an. Die Gauche Prolétarienne, deren Selbstverständnis als Avantgarde von der Auseinandersetzung bei LIP erschüttert wurde, ließ ihre Unterorganisation für Betriebsarbeit, die „Union Nationale des Comités de luttes d’atelier“ (UNCLA), am 14. Oktober ihren Conseil National mit mehr als 100 Personen in der Kantine von LIP in Bregille abhalten. Unter den Anwesenden waren Bernard Lévy, Serge July und andere Prominente.205 Auch die PSU-Betriebsgruppen versammelten sich im Oktober 1973 zu ihrem frankreichweiten Kongress am 27. und 28. Oktober in Besançon.206 Die Gruppe aus Besançon betonte dort, dass es die aktuell entstehenden betrieblichen Kämpfe für eine Orientierung der PSU als revolutionäre Partei brauche. Es gelte im Anschluss an LIP, aber auch an den Streik der Frauen in der Bekleidungsfabrik in Cerizay, die Strategie der „Arbeiterkontrolle“ zu stärken und schließlich zu zeigen, dass „die Arbeiterkontrolle und die Selbstverwaltung die Achse einer revolutionären Strategie sind (…) und nicht ein Thema von Kongressen“207, eine Kritik, die sich auch an die nationale Leitung der eigenen Partei richtete. Der genannte Streik in Cerizay war der erste, dessen Methoden sich unmittelbar an LIP anlehnten. Ab dem 18. Juli 1973 wurde von den in der Bekleidungsfabrik tätigen Arbeiterinnen – zum überwiegenden Teil Frauen – gestreikt, um eine Anerkennung ihrer gewerkschaftlichen Vertretungsrechte zu erzwingen.
204 Vgl. CFDT Aujourd’hui No. 15, Sep.-Okt. 1975, S. 17-26, CFDT 1 F 21. 205 Vgl. die Depesche des polizeilichen Staatsschutzes vom 17. Oktober, AN 19860581/29, zur sonstigen Nachbearbeitung in der GP vgl. die Artikel von Dominique Bondu und Donald Reid im Themenheft der Zeitschrift Les Temps Modernes zum „Établissement“: Bondu, Dominique: „L’élaboration d’une langue commune : Lip - la GP“, Les Temps Modernes 3-4 (2015), S. 69-80; Le grand récit des établis (et ses multiples entrées), ebenda, S. 34-53; in der BDIC in Nanterre sind im Fonds der GP auch Materialien zur Nachbearbeitung von LIP enthalten, F Δ rés. 576/1-15. 206 Vgl. PSU – Conseil National des entreprises, 27./28. Oktober 1973, Beitrag der Gruppe aus Besançon, ADD 45 J, in Einarbeitung. 207 Ebenda.
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Ab dem 30. August 1973 produzierten die Arbeiterinnen unter dem Label PIL (populaires inventés localement), einem Anagramm von LIP, auf dem Gelände eines Bauernhofs Hemden mit den Nähmaschinen, die sie aus der Fabrik mitbrachten. Hier erhielt das Wort von der Selbstverwaltung einen vielstimmigen, teilweise widersprüchlichen Klang. Auch bei PIL wurde von den gewerkschaftlich Aktiven betont, dass es sich weder um eine Genossenschaft noch um Selbstverwaltung handle. Dennoch sangen PIL-Streikende bei einer LIP-Demonstration in Paris am 7. September: „Sans chef et sans patron, vive les ouvrières, vive l’autogestion“. Viele der Beteiligten konnten sich im stärker werdenden Diskurs um die Selbstverwaltung wiederfinden, auch wenn sie selbst den Begriff selten benutzten.208 Als 1975 die Arbeiterinnen bei den „Confections Industrielles du Pas-de-Calais“ (CIP) ebenfalls beschlossen, in ihrem Streik zu produzieren, konnten sie auf diese Erfahrungen zurückgreifen.209 Eine Schlachthofbelegschaft in der Bretagne, die im Rahmen schon häufiger erprobter Hilfe unter Kollegen schließlich während ihres Streiks weiter Hühner schlachtete, dichtete an LIP angelehnt: „On tue, on vend, on se paye (es geht nur um Hühner!)“.210 In der Nähe von Lüttich übernahm die Belegschaft der Kristallglashütte Val Saint Lambert 1975 die Produktion und verkaufte ihre Gläser auch in Paris.211 Die Belegschaft der Möbelfabrik Manuest im Elsass, die nach einem drohenden Konkurs 1975 ihre Fabrik als Genossenschaftsbetrieb übernahm, hatte von Charles Piaget im Januar 1975 Besuch bekommen. Wenige Jahre später, als auch in den Nachfolgebetrieben von LIP Holz bearbeitet wurde, kamen Geschäftskontakte zwischen beiden auf. Auch im Fall von Manuest, wo die CFDT als stärkste Gewerkschaft vertreten war, bezeichnete die Gewerkschaft die Übernahme in Genossenschaftshand noch als letzte Notlösung nach Monaten ergebnisloser Aktionen.212 Jedoch konnte hier eine Zusammenarbeit mit dem Dachverband der Produktionsgenossenschaften (Confédération Générale des SCOP) erprobt werden, die in den Folgejahren häufiger wurde.
208 Vgl. Vigna: „Le mot de la lutte? L’autogestion et les ouvrières de PIL à Cerizay en 1973“, in Georgi (Hrsg.): L’autogestion, la dernière utopie?, S. 381-391. 209 Zum Streik bei CIP vgl. Maruani, Margaret: Les syndicats à l’épreuve du féminisme, Paris 1979. 210 Vgl. Porhel, Vincent: „L’ambiguité de la référence autogestionnaire: l’exemple d’un conflit breton“, in: Georgi (Hrsg.): Autogestion, la dernière utopie?, S. 395-412. 211 Vgl. Le Monde, 21. Mai 1975: „Les maîtres verriers vendent leur production à Paris.“ 212 Vgl. Le Carpentier, Sabine: Manuest – À la recherche de l’autogestion, Paris 1980, S. 44f.
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Der Druck der steigenden Arbeitslosigkeit und die Hartnäckigkeit der Beschäftigten bei der Abwehr kollektiver Entlassungen ließen auch die Regierung über gesetzliche Neuerungen nachdenken, die helfen sollten, Betriebsschließungen und -verlagerungen weniger konfliktreich zu gestalten. Im September hatte Staatspräsident Georges Pompidou auf einer Pressekonferenz abermals die Position unterstrichen, dass die Regierung im Fall LIP keinerlei ökonomische Verantwortung trage, sondern nur aus sozialen Erwägungen verhandle. Diese seien auch auf gewisse gesetzliche Lücken zurückzuführen, die es zu beheben gelte.213 Bis dahin hatte es keine feste Regelung der Auszahlung durch den Konkurs gefährdeter Löhne gegeben. Im Fall LIP hatte der Konkursverwalter den Beschäftigten – obwohl auch dies juristisch umstritten war – ihre Löhne vorenthalten können. Mit einem Gesetz vom 27. Dezember 1973 wurden Arbeitgeber nun unabhängig von der Größe des Betriebs zum Abschluss einer Lohnausfallversicherung verpflichtet. Weil bereits 1972 61 Prozent der Lohnschulden aus Konkursen in Frankreich unbezahlt geblieben waren, war dieses Vorhaben zum Zeitpunkt des LIP-Konflikts bereits in Arbeit. Jedoch hat der Konflikt den Gesetzgebungsprozess unzweifelhaft beschleunigt. Bei der Vorbereitung des frankreichweiten berufsübergreifenden Abkommens vom 14. Oktober 1974 wurde LIP hingegen wenig diskutiert.214 Das Abkommen veränderte aber die Bedingungen für die Beschäftigten im Konkursfall erheblich, indem es die Zahlung von 90 Prozent des vorherigen Bruttoeinkommens aus der Arbeitslosengeldkasse zusicherte. Da die Arbeitslosengeldzahlungen im Konkursfall bis dahin nicht klar geregelt waren, und die Sozialhilfe in Frankreich noch bis in die 1980er Jahre hinein aus lokalen Beihilfen bestand, war dies eine bedeutende Veränderung.215
213 Vgl. Pressekonferenz des Staatspräsidenten vom 29. September 1973, http://www. ina.fr/video/CAF94060427/conference-de-presse-de-monsieur-pompidou-presidentde-la-republique-video.html, abgerufen am 3. August 2016. 214 Vgl. Jeammaud: Le conflit Lip et le droit du travail, S. 29-34. 215 Zu dessen Bedeutung vgl. auch Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage – eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2008, S. 335. In Besançon gab es seit 1967 eine Minimum Social Garanti genannte Beihilfe für Rentnerinnen und Rentner. Diese wurde 1974 auch auf Personen im erwerbsfähigen Alter ausgedehnt und gilt als einer der Vorläufer des 1988 in Frankreich eingeführten Revenu Minimum d’Insertion (RMI), heute RSA (Revenu de Solidarité Active).
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Diskussion im Rahmen der „Autogestion“ Charles Piaget hatte am 18. Juni betont: „Wir sind nicht in Selbstverwaltung, wir sind keine Genosssenschaft [...]“216 So stetig, wie dieses Dementi ab dem Juni vorgetragen wurde, so untrennbar war der LIP-Konflikt dennoch in der öffentlichen Wahrnehmung und in politischen Diskussionen mit dem Schlagwort der „Autogestion“ verbunden. Diejenigen, die die Selbstverwaltung damals im Programm trugen, interpretierten LIP ganz selbstverständlich in diesem Zusammenhang. „Dieser Konflikt ist beispielhaft für eine Situation der Selbstverwaltung, weil er auf einer Beseitigung der Macht und der Hierarchie beruht“, folgerte Michel Rocard, der Vorsitzende der PSU, in seinem Nachwort für das Buch „Charles Piaget et les LIP racontent“.217 Das „Comité de liaison pour l’autogestion“ (CLAS), von der PSU für die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Parteien und anderen Initiativen ins Leben gerufen, formulierte im Sommer 1973 in einem Flugblatt: „Was bei LIP gezeigt wurde, ist, dass die Arbeiter in der Lage sind, sich selbst, an der Basis, zu organisieren, um ihre Produkte herzustellen und zu verkaufen.“218 Die dominante Deutung der CFDT und PSU verschob die Selbstverwaltung jedoch konsequent in die Zukunft. Selbstverwaltung, sozialistische Planung und demokratisches Eigentum waren demnach die entscheidenden Kriterien einer sozialistischen Gesellschaft, die es nur gemeinsam zu erreichen galt. Zwar hatte der CFDT-Kongress im Juni 1973 in Nantes unter dem Motto gestanden: „In unseren Kämpfen von heute das Morgen leben.“ Der Arbeitskampf bei LIP schien die perfekte Manifestation dieses Mottos zu sein. Dennoch gab es gegenüber allzu großen Experimenten in der Gegenwart eine deutliche Zurückhaltung.219
216 Transkription der Vollversammlung vom 18. Juni 1973, S. 12, BDIC F Δ rés. 578/36. 217 Piaget, Charles (Hrsg.): Charles Piaget et les Lip racontent, Paris 1973, S. 187. 218 Flugblatt des CLAS: LIP: un bon en avant dans la lutte des travailleurs, ADD 45 J, in Einarbeitung. 219
Jacques Chérèque, Vorsitzender der Metallarbeiterföderation der CFDT, und Edmond Maire würdigten in ihrem Nachwort für das Buch „LIP 73“ zunächst die Arbeit des Aktionskomitees bei LIP, um dann auf dessen zweifelhafte Ergebnisse zu sprechen zu kommen, die mit einer „démocratie de masse“ unvereinbar gewesen seien: „Es geschah mit ihm, was Aktionskomitees häufig passiert. Es endete darin, das Druckmittel einiger Aktivisten zu werden, der Ausdruck einer Handvoll Arbeiter, die im Namen aller anderen agieren wollten“.
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Die Arbeiterinnen und Arbeiter bei LIP hatten einen offenen Prozess erlebt, in dem sie zahlreiche Kontakte etablierten. Sie überschritten bisherige Statusund Milieugrenzen – mit allen dementsprechenden Missverständnissen. Wenn das Wort von der „Selbstverwaltung“ bei ihnen eine Resonanz erfuhr, dann im Sinne eines gewachsenen Selbstbewusstseins, der Möglichkeit, das Wort zu ergreifen und selber Entscheidungen zu fällen. Zu den bei LIP in Frage gestellten Hierarchien gehörten nicht zuletzt die der gewerkschaftlichen Organisationen selbst. Eine Tendenz hierzu gab es spätestens seit 1968. In der Erinnerung der LIP-Beschäftigten spielte, wie die Historikerin Joëlle Beurier gezeigt hat, der Begriff der Selbstverwaltung kaum eine Rolle. Sie äußerten in den von Beurier geführten Interviews jedoch häufig die Bedeutung der Illegalität ihrer Auseinandersetzung und das Selbstbewusstsein, welches von der eigenen Schaffung öffentlicher Legitimität ausging.220 Aufgrund dieses Prozesses konnten sich schließlich auch Charles Piaget und andere, die besonders den Aspekt der „Selbstverteidigung“ betont hatten, dazu durchringen, den Arbeitskampf als „lutte autogérée“, als selbstverwalteten Arbeitskampf, zu bezeichnen.221 Die Tendenz, solche Erfahrungen im Begriff der Selbstverwaltung in den Mittelpunkt zu stellen, erfuhr in den Jahren nach dem LIP-Konflikt deutlichen Aufwind. Als Pierre Rosanvallon 1976 sein emblematisches Buch „L’age de l’autogestion“ schrieb, hatte der Begriff, der ursprünglich aus dem jugoslawischen und algerischen Kontext entlehnt worden war und seit 1968 eine deutlich wachsende Bedeutung erfahren hatte, sich bereits gewandelt. Für Rosanvallon standen nun diverse Formen sozialen Experimentierens in allen gesellschaftlichen Bereichen – nicht nur in den Fabriken – eindeutig im Vordergrund. Hingegen trat die Umwälzung gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse bei ihm – bis 1977 Chefredakteur der CFDT-Zeitschrift CFDT aujourd’hui – dahinter ebenso zurück wie der Begriff des Sozialismus.222
220 Vgl. Beurier: La mémoire des Lip und Beurier, Joëlle: „La mémoire Lip ou la fin du mythe autogestionnaire?“, in: Georgi (Hrsg.): Autogestion – la dernière utopie?, S. 451-466. 221 Vgl. Maire/Piaget: LIP 73; Georgi, Frank: „Le ‚moment LIP‘ dans l’histoire de l’autogestion en France“, Semaine Sociale Lamy – Supplement, Bd. No. 1631, S. 68. 222 Vgl. Rosanvallon, Pierre: L’age de l’autogestion ou la politique au poste de commandement, Paris 1976; vgl. Georgi, Frank: Selbstverwaltung in Frankreich von den 1968er bis zu den 1980er Jahren, in: Gehrke, Bernd/Horn, Gerd-Rainer (Hrsg.): 1968 und die Arbeiter – Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa, Hamburg 2007, S. 269.
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Michel Rocard, der derselben politischen Strömung wie Pierre Rosanvallon zugerechnet werden kann, bezog den Begriff der Selbstverwaltung in seiner Interpretation des LIP-Konflikts wie gezeigt auf die Überwindung bisheriger (betrieblicher) Hierarchien. Jedoch spielte auch die Produktion der LIP-Arbeiter in seiner Interpretation eine wichtige Rolle.223 So speiste sich für ihn der Reichtum der Auseinandersetzung aus einem „glücklichen Zusammentreffen der alten Facharbeiterkultur und einer neuen der technischen Angestellten.“ Diese hätten den Arbeitskampf als Mittel ihres Kampfes um persönliche und technische Weiterentwicklung kennengelernt, während die Arbeiter ihre „handwerklichen Werte der individuellen Verwirklichung im Produkt“ verteidigt hätten.224 In einer solchen Lesart hätte er vermutlich auch die Gründung einer Genossenschaft als Projekt persönlicher Selbstentfaltung interpretiert. Wie gezeigt wurde, waren eine enge Bindung an den Betrieb und an die eigene berufliche Tätigkeit zwar für einige Beschäftigtengruppen bei LIP eine wichtige Motivation. Diese speiste sich bei den Uhrmachern aber nur selten aus den tatsächlich verrichteten Arbeiten im Betrieb, sondern vielmehr aus einer vor Ort gewachsenen Zugehörigkeit zu einer beruflich angesehenen Gruppe. Einige der nach Rocard neu hinzugekommenen technischen Angestellten im Betrieb waren hingegen bereits seit Jahren gewerkschaftlich organisiert. Für die meisten der Angelernten im Betrieb schließlich, die sich aktiv an der betrieblichen Auseinandersetzung beteiligten, spielte die berufliche Identifikation überhaupt keine erkennbare Rolle. Und auch die führenden Gewerkschafter aus dem Betrieb, obwohl meistens Facharbeiter, betonten sehr viel deutlicher den Bruch, die Unterbrechung der Arbeit und die Herstellung anderer sozialer Beziehungen als wichtigste Charakteristika des Ar-
223 Zu Rosanvallons politischem und intellektuellen Werdegang in den 1970er Jahren vgl. Gaubert, Christophe: „Genèse sociale de Pierre Rosanvallon en ‚intellectuel de proposition‘“, revue Agone – histoire, politique et sociologie 41-42 (2009), S. 123147. 224 Piaget/Maire: Charles Piaget et les Lip racontent., S. 188. Damit drückte Rocard eine gewisse Nähe zur Annahme von der „neuen Arbeiterklasse“ aus, die auch auf Ebene der CFDT-Zentrale die Reflexionen leitete. Die Soziologen Serge Mallet – PSU-Mitglied –, Alain Touraine und andere schrieben den neuen qualitativen Ansprüchen von Akademikern und technischen Angestellten eine Qualität zu, die den Rahmen der bisherigen Arbeitsteilung in Frage stelle, vgl. Mallet, Serge: Die neue Arbeiterklasse, Neuwied: Luchterhand 1972; zur Diskussion der verschiedenen Positionen vgl. Deppe, Frank (Hrsg.): Die neue Arbeiterklasse – Technische Intelligenz und Gewerkschaften im organisierten Kapitalismus, Frankfurt am Main 1970.
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beitskampfs bei LIP. Die „handwerkliche Selbstverwirklichung“ spielte für sie eine deutlich geringere Rolle. Die größere Problemstellung, die Rocard von seinen Ausführungen herleitete, wies bereits große Schnittmengen mit den Überlegungen auf, die sich zur gleichen Zeit die Unternehmergruppe um Antoine Riboud machte, Rocard fragte: „Wie lässt sich die Bindung an ein Unternehmen durch permanentes Lernen und nicht durch die individuelle Befriedigung durch aufgezwungene Verbesserungen erreichen: Dies ist eine der Fragen, die LIP an die Selbstverwaltung stellt.“225 Während seine Partei noch stets betonte, echte Selbstverwaltung sei erst in einer sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen, so zog Rocard Schlussfolgerungen für die unmittelbare Gegenwart. In der Begründung ging er sogar so weit zu behaupten, die Produktion der Arbeiterinnen und Arbeiter bei LIP während der Betriebsbesetzung sei effizienter gewesen als unter Normalbedingungen, eine Behauptung, der sich angesichts des hochgradig symbolischen Charakters dieser Produktion schwerlich folgen lässt. Seine diesbezügliche Formulierung muss vielmehr als Ausdruck des seiner Meinung nach gesellschaftlich Wünschenswerten gelesen werden: „Die Reduktion der Anzahl von Modellen, […] hat gleichzeitig eine unendlich viel einfachere und effizientere Funktionsweise der Vertriebsabteilung ermöglicht und das Produkt seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt, ohne es mit einem sinnentleerten Prestige zu füllen, das nur dazu dient, die Preise zu verfälschen.“226 Der LIP-Konflikt führte bei der PSU im Jahr 1974 noch zu Auseinandersetzungen. Eine Minderheitenströmung schlug die Ernennung Charles Piagets als Präsidentschaftskandidat vor. Als „candidat des luttes“ repräsentierte er für sie die Fähigkeit demokratischer Basisbewegungen. Die politische Leitung auf nationaler Ebene sprach sich unmittelbar gegen diese Kandidatur aus, die wenig später auch im Conseil National der Partei abgelehnt wurde.227 Die PSU unterstützte in der Folge die Präsidentschaftskandidatur François Mitterrands, für die auch Piaget schließlich – mit vorsichtiger Zurückhaltung – auf öffentlichen Veranstaltungen warb: „Wir stimmen nicht für Mitterrand und glauben dann, dass die PSU der Linksunion die selbstverwalterische Ergänzung bringen wird. Denn wir wissen, dass es sich dabei um zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen handelt. Die Selbstverwaltung geht davon aus, dass die Macht in den Händen der Arbeiter liegen soll. Für Mitterrand zu stimmen,
225 Ebenda. 226 Ebd., S. 191f. 227 Vgl. Castleton: Lip, une remise à l’heure, S. 88f.
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heißt nicht zu glauben, dass eine Regierungsbeteiligung die Frage lösen kann nach der Macht, die an die Arbeiter gehen soll.“228
Während Piagets Vorstellungen von Selbstverwaltung in den betrieblichen Kämpfen der Folgejahre eine lebendige und stets prekäre Verwirklichung fanden, wurde Rocards Variante zunehmend auf der parteipolitischen Ebene dominant. Rocard verließ im Herbst 1974 die PSU und schloss sich mit einigen Mitstreitern der Parti Socialiste (PS) an, wo sich bald die Strömung des „Rocardisme“ etablierte. Sie war federführend bei der Formulierung von „15 Thesen zur Selbstverwaltung“, die die PS 1975 beschloss.229 Die seit 1972 als „Zielrichtung unserer Gesellschaft“ im Regierungsprogramm der PS verankerte Idee der Selbstverwaltung erfuhr hierdurch nochmals eine Konkretisierung.230 Dezentralisierung und Selbstverwaltung gingen darin zunehmend mit einer prinzipiellen Akzeptanz von Marktmechanismen und Wettbewerb einher, auch wenn dies zunächst noch vorsichtig geäußert wurde.
228 Vgl. das Manuskript einer Rede von Charles Piaget, undatiert, ADD 45 J, in Einarbeitung. 229 „Quinze thèses sur l’autogestion“, Le poing et la rose Nr. 41, Supplément, Mai 1975, Archives Socialistes – Fondation Jean Jaurès. 230 Changer la vie. Programme du gouvernement du parti socialiste, Paris 1972, S. 14, Archives Socialistes; zit. nach Georgi, Frank: „Le ‚moment LIP‘ dans l’histoire de l’autogestion en France“, Semaine Sociale Lamy – Supplement No. 1631, S. 169.
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Abbildung 1: Für viele Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutete die Selbstverwaltung in erster Linie eine Unterbrechung des Fabrikalltags.
Foto: Bernard Faille, Archives Municipales de Besançon
Abbildung 2: Am Verhandlungstisch in Dôle
Foto: Bernard Faille, Archives Municipales de Besançon
2. Die Krise eines Unternehmens – Interessen und Deutungen
Zur wirtschaftlichen Entwicklung von LIP und zu den Gründen für die beiden Konkursanmeldungen 1973 und 1976 äußerten sich zeitgenössisch alle beteiligten Seiten in der Öffentlichkeit. Rückblickend lassen sich die von ihnen verfolgten Absichten besser von den ökonomischen Realitäten und den tatsächlich bestehenden Handlungsoptionen der Akteure trennen. Gemeinsam mit der wirtschaftlichen Situation von LIP sollen in diesem Kapitel die jeweiligen Interessen, aber auch die jeweiligen Vorstellungen über die Ziele des eigenen Handelns und die Zukunft der Uhrenindustrie herausgearbeitet werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, welches Wissen den verschiedenen Akteuren jeweils zur Verfügung stand. Besonders in der ersten Phase des Arbeitskampfs 1973 mussten die Beschäftigten hartnäckig um die Erfüllung ihrer Informationsrechte und verlässliche Auskünfte zum ökonomischen Zustand des Unternehmens ringen. Die erste Deutung der von ihnen entdeckten Dokumente durch die Gewerkschafter aus dem Betrieb war dementsprechend noch stark von einer Skandalisierung geprägt, welche den Alteigentümer Fred Lipmann und die Unternehmenspolitik von Ébauches gemeinsam in den Mittelpunkt stellte.1 Fred Lip wurde ab 1973 auch in den Medien als größenwahnsinnig, egomanisch und eigennützig beschrieben: eine durchaus plausible Schilderung, liest man sich dessen eigene Äußerungen gegenüber Branchenkollegen durch, doch keine hinreichende Erklärung für die Probleme des Unternehmens.
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Zu den besonders skandalisierten Dokumenten gehörten Abrechnungen, die die hohen Geldzahlungen Fred Lips an seine im Betrieb angestellten Verwandten belegten. Ébauches zahlte ihnen dann hohe Abfindungen, um sich ihrer zu entledigen, vgl. Maire, Edmond und Charles Piaget (Hrsg.): Lip ’73, Paris 1974.
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Schon ab dem Juli 1973 analysierten jedoch die Gutachter der zur CFDT gehörenden Beratungsfirma Syndex im Auftrag der CFDT-Metallgewerkschaft die strukturellen Voraussetzungen und denkbaren Entwicklungsmöglichkeiten für den Betrieb, um zu belegen, dass sich LIP mit seiner gesamten bisherigen Belegschaft profitabel betreiben ließe. Sie betonten die Notwendigkeit größerer Investitionen sowie einer deutlichen Steigerung der Produktion für den erfolgreichen Weiterbetrieb. Der bisherige Mehrheitseigentümer, der schweizerische Konzern Ébauches, bewertete die strukturellen Voraussetzungen von LIP durchaus ähnlich wie die gewerkschaftlichen Experten. Ihre Schlussfolgerungen waren aber weitgehend entgegengesetzt. Dies zeigt, wie stark die verschiedenen Optionen von den jeweils verfolgten Absichten bestimmt waren: Entweder Personal abbauen und sich in die Produktionsabläufe des schweizerischen Mutterkonzerns einfügen – die Ébauches-Variante –, oder deutlich wachsen und die integrierte Produktion aufrechterhalten – die Syndex-Variante –, das waren im Wesentlichen die sich ergebenden Handlungsalternativen. In den Gutachten von Syndex spielte die Einbindung des Unternehmens in die Branche in Frankreich eine ebenso wichtige Rolle, wie die sich mit den steigenden Exportzahlen aus Japan und den USA ergebenden Probleme. Der Branchenverband, die Chambre française de l’horlogerie (CFH), behauptete auch 1976 noch, die Probleme von LIP hätten mit dem Rest der französischen Uhrenindustrie nichts zu tun, der es weiterhin gut gehe. Vorerst waren die kleineren Hersteller mechanischer Uhren tatsächlich noch weniger von den zwei wichtigsten Entwicklungen betroffen, die schließlich die drastische Verkleinerung der französischen Uhrenbranche in den 1980er Jahren bedingten: Die Veränderungen in der internationalen Konkurrenz und die Entwicklung der Quarzuhren. Beide beeinflussten jedoch bereits die Unternehmensstrategie von Ébauches. Auch die politischen Voraussetzungen für deren Konzernhandeln in der Schweiz waren in den Vorjahren den sich verändernden Konkurrenzverhältnissen angepasst worden. Es ist zu fragen, wie die Akteure in der Schweiz und in Frankreich auf diese Veränderungen reagierten, welche Strategien sie dabei verfolgten und welche Zukunftsvorstellungen sie für die Branche als ganze hatten. Der Wirtschaftshistoriker Jean-Claude Daumas möchte die Aufmerksamkeit von der lokal verankerten Erzählung der unverantwortlichen Unternehmensführung auf strukturelle Faktoren lenken; er stellt fest: „Das Scheitern von LIP ist weniger das eines antikonformistischen und visionären Unternehmers, eines Enfant Terrible der Unternehmerschaft, wie es die lokale Tradition hält, sondern
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das Scheitern einer Manufaktur, die aufgehört hatte, wettbewerbsfähig zu sein.“2 Diese Perspektive ist nicht falsch. Sie unterschlägt aber, dass die Krise von LIP auch politisch gemacht war. So waren mögliche Entlassungen schon länger Teil des Kalküls von Ébauches. Und nicht zuletzt bot das Konkursverfahren dem Mehrheitsaktionär von LIP einen scheinbar einfachen Ausweg aus einer verfahrenen Lage. Diese bestand für Ébauches darin, Entlassungen als den einzigen noch gangbaren Weg zu betrachten, diese aber gleichzeitig aufgrund der drohenden Gegenwehr der Beschäftigten nicht ohne weiteres vornehmen zu wollen. Auch die strategischen Interessen der übrigen beteiligten Akteure, des Branchenverbandes und der Konkurrenten von LIP, müssen in ihren Auswirkungen diskutiert werden. Nur mit diesen zusammen lässt sich die ökonomische Situation von LIP angemessen schildern. So kann schließlich eine Darstellung erreicht werden, die weder die persönliche Skandalisierung in den Mittelpunkt rückt, noch politische Fragen nach Interessen und Strategien aufgrund eines voreiligen Strebens nach struktureller, vermeintlich objektiver Bewertung außen vor lässt. Die jeweiligen Erzählungen der beteiligten Akteure gilt es, als Zeugnis ihrer Einbettung in allgemeinere Diskurse und ihrer je eigenen, spezifischen Vorstellungen über die Ziele ihres Handelns ernstzunehmen. Auch für den Konkurs von 1976 ist dies wichtig. Die Erstellung eines staatlich moderierten Plans zur Anpassung der französischen Uhrenbranche an die Quarztechnologie, wurde unter der Geschäftsleitung Claude Neuschwanders zum Katalysator der Konflikte zwischen LIP und den übrigen Unternehmen der Uhrenindustrie. Die auch aus diesen Konflikten resultierenden Kosten für LIP beflügelten ab dem Herbst 1975 Divergenzen zwischen Claude Neuschwander und Antoine Riboud als Vorsitzendem der nun wichtigsten Eigentümergruppe von LIP. Dieser wollte das benötigte Kapital nicht mehr beisteuern. Am 8. Februar 1976 forderte er Neuschwander im Namen der Mitglieder des Verwaltungsrates auf, bei der nächsten Sitzung des Gremiums seinen Rücktritt einzureichen. Neuschwander wurde aus der Geschäftsführung verbannt. Wenige Tage zuvor, am 3. Februar 1976, hatten mehr als 200 Uhren-Unternehmer, vor allem aus dem Haut-Doubs, in Paris demonstriert, ihre Fabriken für den Tag geschlossen und ihre Beschäftigten ausgesperrt. Hiermit protestierten sie gegen die ihrer Meinung nach einseitigen Staatshilfen für LIP, die den Rest der Branche schlechter stellen würden. Unter der vorübergehenden Geschäftsführung von Jean Sargueil, dem Eigentümer einer Instrumentenbaufirma, wurde die Abwicklung von LIP einge-
2
Daumas, Jean-Claude: „Fred Lip“, in: Ders. (Hrsg.): Dictionnaire historique des patrons français, S. 441.
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leitet. Am 12. April beschloss der Verwaltungsrat die abermalige Konkursanmeldung. Als 2007 der Film „LIP – l’imagination au pouvoir“ von Christian Rouaud in Frankreich in die Kinos kam, präsentierte Neuschwander darin das Ende von LIP als Komplott zwischen den Unternehmern um Riboud und der im Mai 1974 angetretenen Chirac-Regierung. Unterstützung erhielt er durch die Worte des ehemaligen Industrieministers Jean Charbonnel, der im Film über LIP bestätigte: „Sie haben es hingerichtet (assassiné).“3 Hierbei bezog er sich auf Aussagen Antoine Ribouds, der Charbonnel gegenüber demnach behauptet hatte, vom neuen Premierminister Jacques Chirac mit dem Entzug von Staatsaufträgen bedroht worden zu sein, falls er LIP nicht fallen lasse. Das Beispiel für einen erfolgreichen Arbeitskampf sollte demnach zur Abschreckung vor weiteren Betriebsbesetzungen beendet werden, als die Werksschließungen häufiger wurden. Claude Neuschwanders Bemerkungen im Film dienen dazu, diese These noch stärker plausibel zu machen. Er unterstrich, dass Renault – ein staatlicher Regiebetrieb – seinen Auftrag für Armaturenbretter bei LIP von einem Tag auf den anderen zurückzog. Hiermit deutete er die Beteiligung des Nachfolgers von Charbonnel im Industrieministerium, Michel d’Ornano, an den Plänen zur Abwicklung LIPs an.4 Dieses Ende von LIP bildet den Schluss des Kapitels. Da ich keinen Zugang zu den privaten Archivbeständen von Antoine Riboud (1918-2002) und Jacques Chirac habe, gelingen mir weder der Nachweis noch die Widerlegung solch intimer Absprachen zwischen der Regierung und den Unternehmern.5 Die Interessen der beteiligten Akteure lassen sich jedoch aus den protokollierten Diskussionen im Verwaltungsrat, aus Briefwechseln und Gutachten belegen. Aus diesen ergibt sich zumindest auf der Unternehmensseite ein deutliches Bild jener Interessenkonstellation, die zum Ende von LIP führte. Diese wird im Kapitel zunächst anhand der Konflikte mit der Uhrenbranche geschildert, dann anhand der Auseinandersetzungen innerhalb des Vorstands von LIP und mit seinen Aktionären. Dabei wird auch das jeweilige Selbstverständnis von Kapitalgebern, Mana-
3
Rouaud, Christian: „Les LIP, l’imagination au pouvoir“, 2007, zum Zeitpunkt 1:58h.
4
Vgl. ebenda.
5
Der Politikwissenschaftler Guillaume Gourgues (Université de Franche-Comté) bemüht sich weiterhin um eine Verifizierung dieser „Neuschwander-These“. Ich konnte auf die privaten Archivbestände zugreifen, die er mit seinem Kollegen Laurent Kondratuk gesammelt hat, um sie im Départements-Archiv in den Fonds 45 J einzuarbeiten. Hierzu gehörten auch private Bestände von Claude Neuschwander, unter anderem die Verwaltungsratsprotokolle von 1974-1976, die nirgendwo sonst verfügbar sind.
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gern wie Claude Neuschwander und der alten Unternehmerschaft der Uhrenbranche deutlicher. Konkret werden hier Haltungen zum Verständnis von technischem und sozialen Fortschritt sowie der Rolle der Unternehmerschaft darin deutlich.
2.1 D IE U NTERNEHMENSSTRATEGIE VON É BAUCHES – EINE VON DER S CHWEIZ KONTROLLIERTE EUROPÄISCHE U HRENINDUSTRIE Die Uhrenproduktion von LIP wies Charakteristika auf, die Widersprüche und Konflikte nahelegten. Einerseits war LIP ein Teil der französischen Uhrenindustrie, die ihren Schwerpunkt in der Franche-Comté hatte. In dieser Agglomeration der Uhrenbranche hatte LIP jedoch eine Sonderstellung. Während die vielen kleinen Betriebe mit engen Ein- und Verkaufsbeziehungen untereinander verwoben waren und stark auf ihre Branchenorganisationen für die Forschung und Entwicklung, die Finanzierung, die Ausbildung der Beschäftigten und die Förderung des Vertriebs angewiesen waren, galt dies für LIP in einem geringerem Maß. Der Anspruch von Fred Lip, einen Betrieb zu leiten, der den Großteil der Vorproduktion integrierte und in der Uhrenbranche als „Manufaktur“ bezeichnet wurde, bedingte diese Sonderstellung. Auch in der Forschung und Entwicklung war LIP trotz einer engen Kooperation mit den Branchenorganisationen wesentlich eigenständiger. Als einzige französische Uhrenfabrik hatte LIP hierfür eine eigene Abteilung. Und schließlich wurde LIP seit 1967 zunehmend in die konzerninternen Geschäftsbeziehungen von Ébauches integriert. Für die französische Uhrenbranche war LIP lange Jahre eines der Aushängeschilder und gleichzeitig ein ungeliebter Konkurrent gewesen. Letzteres galt besonders für die Uhrenhersteller im Haut-Doubs, nahe der schweizerischen Grenze, die gegenüber den Herstellern in Besançon und insbesondere gegenüber den drei „Manufaktur“-Betrieben LIP, JAZ und Yéma ein deutliches Misstrauen hegten. Vermittelt über die Branchenorganisationen hatten dennoch seit den 1960er Jahren Versuche stattgefunden, Konzentrationsprozesse in der französischen Uhrenindustrie zu fördern. Über eine seit 1963 durch den Staat eingezogene Steuer – taxe parafiscale – auf Uhren und ihre Bestandteile wurden diese Branchenorganisationen finanziert, dies brachte auch die Präsenz staatlicher Beamter in den so finanzierten Gremien mit sich. Diese brachten hier ihre zeitgenössischen Maßstäbe ein, nach denen es große Unternehmen als Zentren gut ko-
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ordinierter Produktionsketten brauche.6 Das 1945 gegründete Forschungszentrum CETEHOR (Centre technique industriel pour les professions de l’horlogerie, de la bijouterie, de la joaillerie et de l’orfévrie) erhielt ebenso Mittel aus der taxe parafiscale wie das 1963 gegründete Zentrum für die Förderung des Vertriebs.7 Und 1969 wurde schließlich eine brancheneigene Kapitalbeteiligungsgesellschaft gegründet, die SDH (Société pour le développement de l’horlogerie). Einige Branchenstrategen dachten dieser eine Rolle als Holdinggesellschaft zu, die erhebliche Koordinierungsfunktionen für die französische Uhrenindustrie hätte haben sollen. Die Schweiz war diesbezüglich erkennbar das Vorbild. In den 1980er Jahren vermehrte die SDH ihre Minderheitsbeteiligungen an französischen Uhrenfirmen, bis dahin blieb sie blieb sie aufgrund ihres geringen Kapitals weit weniger bedeutend.8 Schließlich wurden auch erste Versuche einer horizontalen Konzentration in der französischen Uhrenbranche unternommen. 1967 wurden mehrere Rohwerkhersteller im neuen Unternehmen France Ébauches zusammengeschlossen.9 LIP wurde angesichts seiner Verluste seit 1970 zum Gegenstand von Bemühungen, diese Konzentration in einzelnen Bereichen der Vorproduktion durch eine vertikale Integration zu ergänzen, die im Bereich der Quarzuhren bei LIP selbst hätte wirksam werden sollen. Auf Einladung Ébauches wurde unter Vermittlung der Chambre française de l’horlogerie und der SDH zunächst eine Kapitalbeteiligung des französischen Elektronikkonzerns Thomson – als möglichem Hersteller der in Quarzuhren benötigten Flüssigkristallanzeigen (LCDs) und integrierter Schaltkreise – am Kapital von LIP angestrebt. Für LIP hätte die Umstrukturierung zu einer deutlich verbesserten Auslastung der Fabrik in Palente führen sollen, die von allen Experten für zu groß in Bezug auf ihre aktuelle Produktionsmenge befunden wurde.10 Die französischen Branchenvertreter ver-
6
Vgl. Ternant, Évelyne: „Le rôle d’une norme nationale d’organisation industrielle dans la trajectoire d’un SPL : l’horlogerie française et le modèle de la ‚grande entreprise‘“, in: Daumas, Jean Claude u.a. (Hrsg.): Les territoires de l’industrie en Europe 1750-2000 – Entreprises, régulations, trajectoires, Besançon 2007, S. 167-190.
7
CPDH: Comité Professionel de Développement de l’Horlogerie.
8
Ternant, Évelyne: La dynamique longue d’un système productif localisé : l’industrie de la montre en Franche-Comté, Doktorarbeit, Grenoble 2004, S. 16-178.
9
Vgl. Ternant: Le rôle d’une norme nationale, S. 175.
10 Eine Studie der Unternehmensberatung SEMA fasste dies prägnant zusammen: „Die zwei Ursachen für die aktuellen Verluste: Unterauslastung im Verhältnis zum Potential der Produktion, übermäßige Verwaltungsstrukturen.“ SEMA: LIP S.A. – approche des problèmes de production, Août-Octobre 1972, S. 2, FGM 1 B 568.
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sprachen sich durch die Umstrukturierung eine größere Unabhängigkeit von der Schweiz und eine bessere Einbindung von LIP in die übrige französische Branche. Die Pläne, in die auch das Institut de Développement Industriel (IDI) einbezogen war, hätten eine französische Aktienmehrheit an LIP bedeutet. Thomson stieg aus den Plänen bereits 1971 wieder aus, da es die Risiken einer Kapitalbeteiligung in der Uhrenbranche vermeiden wollte. Anfang 1972 konnte immerhin das prinzipielle Einverständnis der beiden anderen beteiligten Partner L’Horlogerie de Savoie und France Ébauches gewonnen werden, sich an einer Kapitalerhöhung für LIP zu beteiligen.11 Schließlich sperrte sich Ébauches jedoch gegen den Verlust der Aktienmehrheit.12 Seit April 1972 führte Ébauches deshalb alleine die Verhandlungen mit dem IDI, einer 1969 geschaffenen Beteiligungsgesellschaft für kleine und mittlere Unternehmen.13 Im Juni 1972 beschloss der Verwaltungsrat von LIP, mithilfe des IDI eine Erhöhung des Kapitals von LIP von 15 Mio. FF auf 35 bis 40 Mio. FF durchzuführen, in die sich Ébauches mit einem Schuldenverzicht in Höhe von 10 Mio. FF und einer neuen Beteiligung von 5 Mio. FF einzubringen versprach.14 Diese Kapitalerhöhung tätigte Ébauches jedoch nie, sondern versuchte stattdessen weiter, den eigenen Finanzaufwand in den Verhandlungen mit dem IDI zu minimieren.15 In einem Treffen am 19. März 1973 stellten die Verhandler des IDI endgültig klar, dass dieses sich nicht beteiligen könne, solange die Kapitalerhöhung durch Ébauches nicht vorgenommen werde. Auf das Abtreten der Abteilungen jenseits der Uhrenproduktion sowie die hiermit verbundenen Entlassungen, auf eine Reduktion des Leitungspersonals und das Ende der Produktion eigener Rohwerke bei LIP hatten sich die beiden Seiten hingegen geeinigt. Was waren die Hintergründe für das Handeln von Ébauches? Ein wesentlicher Teil der in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wirksamen Veränderungen war die schrittweise Auflösung des schweizerischen Uhrenkartells, das
11 Ternant: La dynamique longue, S. 637ff. 12 Vgl. ebd.: Das IDI und seine französischen Partner hätten demnach 51 Prozent der Aktien an der Gesellschaft erhalten, deren Kapital von 15 auf 31 Mio. FF erhöht werden sollte. 13 Zur französischen Industriepolitik vgl. Adams, William James: „What’s in a name? French industrial policy 1950-1975“, in: Nützenadel, Alexander und Christian Grabas (Hrsg.): Industrial Policy in Europe after 1945 – Wealth, Power and Economic Development in the Cold War, Basingstoke 2014, S. 67-85. 14 Vgl. Ébauches SA: Industrie horlogère européenne, S. 17, vgl. das Protokoll des Verwaltungsrats vom Juni 1972, AM 5 Z 2. 15 Vgl. Belhoste/Methge: Premières observations, S. 96.
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seit den 1920er Jahren gebildet worden war. Mit dem Uhrmacherstatut von 1934 hielten exklusive Ein- und Verkaufsbeziehungen der schweizerischen Uhrenindutrie Gesetzesrang. Ein- und Ausfuhrbestimmungen für Maschinen, Maschinenteile und Vorprodukte begleiteten die Kartellbildung. Langfristig sicherte diese das Weiterbestehen einer Produktionsstruktur in vielen kleinen Betrieben bei gleichzeitiger Kapitalkonzentration und staatlich geförderten Investitionen in die Rationalisierung der Produktion.16 In den 1960er Jahren, als mehr und mehr schweizerische Firmen im Interesse ihrer Wettbewerbsfähigkeit auch billige Einkäufe aus dem benachbarten Ausland tätigen wollten, wurden die Ein- und Ausfuhrbestimmungen gelockert. Hiermit wollten die Unternehmen den japanischen und US-amerikanischen Uhrenherstellern entgegentreten, die der Schweiz zunächst noch im Bereich der mechanischen Uhren zunehmend Konkurrenz machten. Ab 1971 wurden die Uhrenteile schließlich zum Bestandteil der im GATT verhandelten Zollposten, im Juli 1972 wurden die bestehenden Zölle durch das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EWG noch weit stärker gesenkt.17 Einfuhr- und Ausfuhrkontrollen waren vor allem von den schweizerischen „Manufakturen“ unter Beschuss genommen worden, während Ébauches der Liberalisierung zunächst skeptisch gegenüber gestanden hatte. Auf die neuen Voraussetzungen reagierte die Firma aber schnell. Bereits 1966 hatte Ébauches den deutschen Hersteller Durowe übernommen und wenig später die Firma SEMEA in Annemasse. Bei France Ébauches und Spiraux français kaufte sich Ébauches ebenfalls ein. Indem Ébauches 1971 LIP, welches bereits in deutlichen ökonomischen Schwierigkeiten war, zu einer Beteiligung an France Ébauches nötigte, verschaffte sich der Konzern hier indirekt eine Sperrminorität. Er kontrollierte so etwa 60 Prozent der französischen Rohwerkproduktion.18 Ébauches versuchte also, mit grenzüberschreitenden Konzernstrukturen den Herstellern aus Japan und den USA erfolgreich entgegenzutreten. Mit einer Produktion von 42 Millionen Rohwerken im Jahr 1972 in ihren 19 Tochtergesellschaften und einem Umsatz von 540 Mio. Schweizerfranken erschien dies als durchaus realistisches Ziel.19 Für die Quarzuhrenproduktion hatte Ébauches 1970 in der Schweiz einen eigenen
16 Vgl. ebenda. 17 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22. Juli 1972, EG-Dokument 1972A0722(03). 18 Vgl. de Virieu, François-Henri: 100.000 montres sans patron, Paris 1973, S. 29. 19 Vgl. Ébauches SA: Industrie horlogère européenne, une expérience suisse, Ébauches SA-LIP 1967-1973, Neuchâtel 1973, S. 9, ADD 1378 W 878.
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Betrieb eingerichtet. Zum Zeitpunkt des Arbeitskampfs bei LIP arbeiteten hier bereits 800 Personen.20 Wie wurde LIP in diese Konzernstrukturen eingebunden, und was hatte dies für wirtschaftliche Folgen? Erstens war Ébauches am französischen Vertriebsnetz von LIP interessiert. So verkaufte LIP seit Anfang 1973 auch die schweizerische Marke Certina, die im selben – mittleren – Preissegement wie die LIPUhren angesiedelt war. LIP machte sich also gewissermaßen selbst Konkurrenz, was von den Gewerkschaftern aus dem Betrieb scharf kritisiert wurde.21 Angesichts des kurzen Zeitraums zwischen Anfang und Mitte 1973 lassen sich die Folgen dieser Maßnahme allerdings nicht beziffern. Eine bessere Ausnutzung der Produktionskapazitäten von LIP war vor allem durch die Endmontage von Uhren schweizerischer Marken im Werk geplant, nicht jedoch in den Bereichen der bei LIP hergestellten Vorprodukte. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von LIP wurde durch Ébauches genutzt. Unter anderem erhielt LIP den Auftrag, einen miniaturisierten Schrittmotor für die Produktion von Quarzuhren mit analoger Anzeige (durch umlaufende Uhrzeiger) zu entwickeln. Die fertige Entwicklung wurde dann jedoch im schweizerischen Centre Électronique Horloger in Stückzahlen von mehreren hunderttausend produziert. Die CFDTGewerkschafter warfen Ébauches vor, diese Entwicklungsleistung nicht bezahlt zu haben. Dies hatten sie durchaus, dennoch kam die Arbeit der Abteilung in diesem Fall vor allem dem schweizerischen Mutterkonzern zugute und nicht den Beschäftigten von LIP. Und schließlich wurde LIP zunehmend in die konzerninternen Einkaufsbeziehungen integriert, also dazu gedrängt, sich mit möglichst vielen Vorprodukten aus der Schweiz zu versorgen. Gleichzeitig verkaufte LIP Maschinen an die ASUAG unter Marktpreis.22 Die Gläubigerstruktur von LIP bestätigt das Ausmaß, welches die Einkäufe von Vorprodukten aus der Schweiz bei LIP mittlerweile angenommen hatten.23 Nach der ersten Vorstudie von Syndex hatte LIP allein im Jahr 1972 für 15 Mio. FF Vorprodukte von Ébauches und seinen Tochterfirmen bezogen.24 Waren 1968 noch 76 Prozent der Uhren bei LIP vollständig
20 Vgl. CGT – Fédération de la Métallurgie: Mémoire sur l’entreprise LIP, 21. Juli 1973, Privater Archivbestand Fatima Demougeot. 21 Vgl. ebenda. 22 Vgl. Pressekonferenz der FGM CFDT vom 8. August 1973, FGM 1 B 571. 23 Vgl. Belhoste, Jean-François und Pierre Methge: Premières observations sur la transformation des rapports de propriété – LIP et l’industrie horlogère française, Paris 1978, S. 98, ADD 2032 W 222. 24 Vgl. Pressekonferenz der FGM CFDT vom 8. August 1973, FGM 1 B 571.
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im Betrieb selbst produziert worden, waren dies 1972 nur noch 49 Prozent.25 Das Ende von LIP als „Manufaktur“ und die Integration in eine von der Schweiz dominierte europäische Uhrenindustrie hatte also längst begonnen.26 Ein endgültiger Abschied vom Konzept der integrierten Produktion lag für Ébauches nahe, wie sie in einer Broschüre ehrlich formulierten.27 Prinzipiell mag die Eingliederung von LIP in die Konzernstrukturen von den schweizerischen Verwaltern bei LIP als für beide Seiten gewinnbringendes Unterfangen geplant worden sein. Die tatsächliche Ausgestaltung dieser Geschäftsbeziehungen bis 1973 war für LIP jedoch verlustreich. Ébauches war zum Zeitpunkt der Konkursanmeldung der größte Gläubiger von LIP: Nominell schuldete LIP Ébauches 30 Mio. FF.28 Was die Planungen anging, die Abteilungen jenseits der Uhrenfertigung abzutreten, so entsprangen diese ebenfalls dem Bestreben nach europäischen Konzernstrukturen in der Uhrenindustrie, hatten jedoch nur bedingt mit deren eigenem wirtschaftlichen Zustand zu tun. Die Gewerkschafter, die seit Sommer 1972 im Betriebsausschuss wiederholt Anfragen bezüglich der Auftragslage in der Abteilung für Mechanische Fertigung in Palente gestellt hatten, warfen der Geschäftsleitung deren absichtliche Unterauslastung vor. Nach Aussagen Charles Piagets hatte der Vorstandsvorsitzende Jacques Saintesprit den Beschäftigten dieser Abteilung bereits im November 1971 vorgeschlagen, diese Abteilung als Genossenschaftsbetrieb zu übernehmen.29 Hierdurch hätte er sich bequem der Werkstätten mit der stärksten gewerkschaftlichen Verankerung entledigen können. Seit Herbst 1972 wurde die Unterauslastung der Abteilung akut.30 In der 1969 zugekauften Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans gab es ebenfalls keine erkennbaren Bemühungen um neue Aufträge. Der wichtigste Großkunde war die Schulbehörde, die hier Flach- und Rundschleifmaschinen für Berufsschulen einkaufte. Die Geschäftsführung von LIP hatte dem Betriebsausschuss am 30. November 1972 erklärt, dass ein Auftrag der Schulbehörde wegfallen würde, da die Preise bei LIP viel zu hoch gewesen seien. Die CFDT konnte auf ihrer Presse-
25 Vgl. ebenda, S. 9. 26 Bis dahin war Frankreich eines der wenigen Länder weltweit, in denen einheimische Uhren den Großteil des Marktes ausmachten, Anfang der 1970er Jahre etwa 80 Prozent. Fast überall sonst dominierten schweizerische Uhren. Diese hatten 1946 noch über 60 Prozent des Weltmarkts ausgemacht, Anfang der 1970er Jahre noch etwa 40 Prozent, vgl. Donzé: History of the Swiss Watch Industry, Tabellen im Anhang. 27 Vgl. Ébauches SA: Industrie horlogère européenne, S. 27. 28 Vgl. Syndex: Pré-étude LIP – propositions d’intervention, Annexe II, FGM 1 B 573. 29 Vgl. de Virieu: 100.000 montres sans patron, S. 61. 30 Vgl. Protokoll des Comité d’Entreprise vom 22. Dezember 1972, AM 5Z 220.
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konferenz vom 8. August 1973 dann vorrechnen, dass der damalige Preisunterschied 0,2 Prozent betragen hatte.31 Die Lagerbestände im Betrieb aber summierten sich zur Konkursanmeldung deshalb auf mehr als eine halbe Jahresproduktion.32 Die Rüstungsabteilung war trotz sinkender Umsätze die einzige Abteilung, die auch zum Zeitpunkt der Konkursanmeldung noch Gewinne machte. 1972 waren rückläufige Auftragszahlen darauf zurückzuführen, dass der große Geschütz- und Kanonenhersteller Manurhin die bislang an LIP delegierten Teile der Munitionsfertigung ins eigene Unternehmen integrierte, als die Aufträge der französischen Armee zurückgingen.33 Auch an einer Übernahme der Rüstungsabteilung von LIP, über die Ébauches zwischenzeitlich mit Manurhin verhandelt hatte, war dieses Unternehmen nicht mehr interessiert.34 Ébauches wurde im Frühjahr 1973 also in mehrfacher Hinsicht in seinen Restrukturierungsplänen gehemmt: Glaubwürdige Übernahmekandidaten für die abzutretenden Abteilungen gab es keine, und jede Umstrukturierung wäre ohnehin mit erheblichem Widerstand der Belegschaft verbunden gewesen. Der Einstieg des IDI scheiterte am eigenen Unwillen Ébauches, die geforderte Kapitalerhöhung vorzunehmen. Angesichts der mittlerweile von Ébauches in der Schweiz aufgebauten Entwicklungs- und Produktionskapazitäten im Bereich der Quarzuhren hatte deren Interesse an der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von LIP bereits deutlich abgenommen. So gab Ébauches der Abwicklung LIPs den Vorzug gegenüber anderen, möglichen Entwicklungsperspektiven. Als sich die Beschäftigten von LIP Palente im Frühjahr 1973 gegenseitig über die Konzernstrukturen von Ébauches aufklärten, skizzierte eines der Plakate, die in den Fluren ausgehängt waren, die Unternehmensstruktur von ASUAG und Ébauches unter dem Titel „Die Krake“. In die Mappe der CFDT-Metallgewerkschaft zu ihrer Pressekonferenz vom 8. August 1973 ging eine sehr ähnliche Skizze ein, der Titel verschwand, die Strichführung wurde schematischer. Eine Expertise sollte ausgestellt werden, die nicht mehr nur auf die grundsätzlich falschen Absichten der Geschäftsleitung, sondern auch und vor allem auf vermeidbare Fehler in der Geschäftsführung hinweisen sollte. Der Beweis, dass LIP weiterhin ein gangbares Unternehmen sei, erforderte das Auffinden behebbarer Mängel und eine Nüchternheit in der Außendarstellung. Dabei hatten die Be-
31 Vgl. FGM CFDT: Pressekonferenz vom 8. August 1973, S. 11, FGM 1 B 571. 32 Vgl. Syndex: Pré-étude LIP – propositions d’intervention, S. 20. 33 Vgl. Protokolle der Sitzungen des comité d’entreprise von Herbst 1972 bis Frühjahr 1973, AM 5 Z 220. 34 Vgl. Protokoll des comité d’entreprise vom 30. November 1972, AM 5Z 220.
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schäftigten selbst mit den von ihnen entdeckten Dokumenten erheblich zum Wissen um die Absichten der Geschäftsleitung beigetragen und aufgedeckt, dass diese weit über einfache Fehler hinausgingen. Ihre Empörung hatte sich am Anfang an den Geldsummen entzündet, die Fred Lips Verwandte von Ébauches als Abfindung bezahlt bekamen, an der Kumpanei der Direktion, die die polizeilichen Renseignements Généraux regelmäßig über mögliche Streikaktivitäten im Betrieb auf dem Laufenden hielt – dies war in französischen Industriebetrieben damals gängige Praxis –, und schließlich an der Tatsache, von der Geschäftsleitung über deren Umstrukturierungspläne monatelang belogen worden zu sein. Diese Empörung fand mit den entsprechenden Dokumenten Eingang in das Buch LIP ’73.35 Die CGT profilierte sich gegen die von der CFDT ab August vorgebrachte Politik der Gegenexpertise, indem sie betonte, es handle sich nicht um eine schlechte Unternehmensführung, sondern um eine solche, die bewusst im Interesse der Unternehmer durchgeführt worden sei.36 Ébauches, durch den Konflikt unter Rechtfertigungsdruck geraten, veröffentlichte im Dezember 1973 eine Broschüre, in der die Vertreter des Unternehmens ihre Beteiligung an LIP und die von ihnen vorgenommenen unternehmerischen Schritte begründeten. Hierin spielten sie die Verantwortung für den Umstrukturierungsplan den „objektiven“ Empfehlungen der Experten des IDI zu, deren Empfehlungen zu folgen der einzige Weg gewesen sei, um LIP noch zu retten.37 Hingegen hatte der Vorstandsvorsitzende der ASUAG, Karl Obrecht, bereits am 4. Januar 1973 in einem privat an Fred Lip verfassten Brief resümiert, man werde dringende Umstrukturierungen vornehmen und damit nicht länger als bis zum Frühjahr zögern, „mit oder ohne die Hilfe des IDI“.38
35 Vgl. Maire/Piaget: LIP ’73. 36 Dies wurde besonders in einem von der CGT in Auftrag gegebenen Film herausgestrichen, der nach der Ablehnung des Giraud-Plans die CGT-Position verteidigen sollte: Alain Dhouailly: Lip, réalités de la lutte, 1974 . Auch der Generalsekretär der Union Départementale der CGT, Claude Curty, fasste am 19. November zur Wiedereröffnung der Fabrik in Ornans trocken zusammen: „Lässt sich von schlechter Betriebsführung sprechen? Nein, es handelt sich um eine absichtlich verfolgte Führung der Geschäfte im alleinigen Interesse der Kapitalisten.“, Déclaration de Claude Curty, 19 novembre 1973 à Ornans, private Archivbestände Fatima Demougeot. 37 Vgl. Ébauches SA: Industrie horlogère européenne, S. 11. 38 Brief von Karl Obrecht, persönlich an Fred Lip, vom 4. Januar 1973, FGM 1 B 568, vgl. auch Ébauches SA: Mémorandum relatif à LIP SA, Neuchâtel, 21. Mai 1973, in: Maire/Piaget (Hrsg.): Lip ’73, S. 47.
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Fred LIP versuchte sich ebenfalls in Selbstrechtfertigung. So machte er seinen Nachfolger Jacques Saintesprit für die wirtschaftlichen Probleme des Unternehmens verantwortlich. Er warf ihm einerseits mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Gewerkschaften vor, andererseits bedingungslose Hörigkeit gegenüber Ébauches. Im November 1973 stellte Fred Lip unter dem Titel „Contribution à la démystification de la ‚farce tragique‘“ ein Dossier mit Dokumenten und Kommentaren zusammen, welches er auch dem Industrieministerium übersandte.39 In diesem fügte sich zusammen, was er über die Geschäftsführung von Saintesprit und die Absichten von Ébauches dachte und teilweise bereits öffentlich geäußert hatte. So warf er dem schweizerischen Konzern den schnellen Austausch des Leitungspersonals vor, durch den sich der Konzern der Vertrauten Fred Lips im Unternehmen entledigte, und kritisierte deutlich, dass es keinerlei Bemühungen um Aufträge für die nach wie vor gewinnbringend zu betreibende Mechanik- und Rüstungsabteilung gegeben habe.40 Der im Buch LIP 73 festgestellte „valse des cadres“, schnelle Personalwechsel in den Leitungspositionen des Unternehmens und die Vernachlässigung der Mechanik- und der Rüstungsabteilung, wurden also auch vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden gesehen.41 Einig waren sich Fred Lip, die schweizerischen Unternehmer und die Branchenkollegen in Frankreich hingegen in einem Punkt: dass die Gewerkschafter aus dem Betrieb mit zu hohen Löhnen und mit ihrer Hartnäckigkeit die Krise des Unternehmens verschärft hätten. Nicht nur für die Eigentümer des Betriebs, auch für die Industrie- und Handelskammer und den Arbeitgeberverband der Metallindustrie war der Konflikt bei LIP Anlass, sich Sorgen um ihre Autorität zu machen. In einer Sitzung des erweiterten Büros der Industrie- und Handelskammer des Département Doubs am 12. September 1973 wurde die Veröffentlichung einer Sondernummer ihrer Zeitschrift „commerçants et industriels“ vorbereitet, die schließlich vor Polemik strotzte. Einzelne Teilnehmer der Sitzung schlugen alarmistische Töne an: „Monsieur Cuche fürchtet, dass sich diese Situation auf andere Bereiche ausweitet und dazu beiträgt, die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft zu untergra-
39 Fred Lip: Contribution à la démystification de la „farce tragique“ – autogestion, non; autodestruction, oui – quelques documents et commentaires, November 1973. AN 1984-0668/8. 40 Ebenda. Über sich selbst schreibt Fred Lip im selben Dossier allerdings ganz unbescheiden: „Ich war ein brillanter Geschäftsmann, ein außerordentlicher Händler und Werber und ein genialer Techniker, der es schaffte, eine bemerkenswerte und hingebungsvolle Mannschaft zu formen.“ 41 Vgl. Fred Lip: Contribution à la démystification de la „farce tragique“.
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ben. Das wäre, wenn es sich so verhielte, der Rückzug unserer Zivilisation.“ In der Zeitschrift, die am 15. Oktober erschien, wurde unter dem Titel „Die französische Uhr trug sich nie so gut“ vor allem betont, dass es sich bei der Krise von LIP um dessen hausgemachte Probleme handle, während die Gesamtzahl der französischen Uhrenproduktion aktuell neue Höchststände erreiche. Jegliche strukturelle Verbindung wurde abgestritten. Der Artikel „LIP, machine de guerre“ sollte zeigen, wie sich die Belegschaft von unverantwortlichen und illusionären Agitatoren habe verführen lassen, die nicht „Autogestion“, sondern vor allem „Autosuggestion“ betrieben hätten. Mit ihrer Verweigerung der sozialen Mobilität seien sie die wahren Gegner des Fortschritts, der auf die Veränderungsbereitschaft und Flexibilität der Arbeitskräfte angewiesen sei: „Der Fortschritt besteht nicht darin, einen mittelalterlichen Dirigismus der Beschäftigung und der Ausbildung wieder einzuführen. Er liegt in der Humanisierung und der systematischen Aufwertung der beruflichen Neuorientierung.“42 In der Zeitschrift der Metallarbeitgeber – der Union des Industries Métallurgiques et Minières (UIMM) – unter dem Titel „LIP, la lune“, die ebenfalls im Oktober erschien, wurden zum Teil dieselben Artikel veröffentlicht, der Vorwurf des Konservatismus und der Verweigerung gegenüber der Mobilität an die CFDT wurde darüber hinaus mit der Frage eingeleitet: „LIP – ein reaktionäres Nachhutgefecht?“.43 François Ceyrac, der Vorsitzende des Gesamtarbeitgeberverbandes CNPF (Conseil National des Patrons Français), hatte immerhin auf einer Pressekonferenz einigen Reformbedarf bei Konkursverfahren und in Bezug auf Weiterbildungsmaßnahmen eingestanden und befand sich dabei in Übereinstimmung mit dem französischen Präsidenten Georges Pompidou.44 Die Metallarbeitgeber und die lokale Unternehmerschaft in Besançon hingegen übten sich vor allem in Polemik. Mehreres ist deutlich geworden: Der Mehrheitseigentümer von LIP, die schweizerische Firma Ébauches, war seit den späten 1960er Jahren durch die neue Konkurrenz aus Japan und den USA unter Anpassungsdruck. Diesem stellte sich die Geschäftsleitung, indem sie mit dem Zukauf von Unternehmen und Unternehmensanteilen in Deutschland und Frankreich europäische Konzernstrukturen in der Produktion und im Vertrieb aufzubauen versuchte. LIP war
42 Commerçants et Industriels – organe officiel de la chambre du commerce et de l’industrie du Doubs, Supplément zur Nummer 168 vom 15. Oktober 1973, S. 8, ADD 2032 W 334. 43 LIP la lune, supplément à UIMM actualités, Oktober 1973, ADD 2032 W 334. 44 Vgl. Begleitmaterial zur Pressekonferenz François Ceyracs vom 20. September 1973, CNPF notes et arguments No. 38, Oktober 1973, CFDT 1 F 10.
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Teil dieser Bemühungen. Dass die Rüstungsabteilung sowie die Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans abgestoßen werden sollten, ist als Teil dieser Pläne zu verstehen. Die Integration der Uhrenabteilung von LIP in konzerninterne Produktionsabläufe stellte deren Charakter als „Manufaktur“ in Frage. Diese spezifische Einbindung von LIP erwies sich als verlustreich. So verstärkten die Absichten der Eigentümer jene strukturellen Probleme, die LIP seit den 1960er Jahren hatte: eine Unterauslastung in Bezug auf die Größe und die Einrichtung der Fabrik, eine zu große Anzahl unterschiedlicher Vorprodukte und hohe Kosten für das Leitungspersonal. Schließlich gab Ébauches, als weitgehend allein bestimmende Kraft in der Unternehmensleitung, der Abwicklung LIPs durch ein Handelsgericht den Vorzug gegenüber nötigen, größeren Investitionen. Die Konflikte zwischen LIP, der übrigen französischen Uhrenbranche und den schweizerischen Unternehmern wurden in der Nachbearbeitung des Arbeitskampfs bei LIP offensichtlich. Einig waren diese sich vor allem in einem Punkt: Die Belegschaft habe die Krise verschärft.
2.2 „P ROGRESSIVE “ U NTERNEHMER UND IHRE P LÄNE FÜR LIP: C LAUDE N EUSCHWANDER UND DIE FRANZÖSISCHEN A KTIONÄRE „Die Explosion LIP wurde anfänglich durch einen eindeutigen Sachverhalt ausgelöst, den Fund eines Dokuments, welches zeigte, dass die alte Geschäftsleitung willentlich seit sechs Monaten die Arbeiter und die Gewerkschaften belog. Das war ein fundamentaler Angriff auf ihre Würde.“45 (Claude Neuschwander)
In der Deutung des Arbeitskampfs durch den neuen Geschäftsführer spielten zwar Konkursdrohungen und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle. Im zitierten Interview gewichtete er jedoch die „Würde“ der Beschäftigten als ausschlaggebend für die Entscheidung, den Betrieb zu besetzen. Hierzu gehörte demnach, ehrlich informiert zu werden, nicht belogen zu werden und als arbeitender Mensch mit seinem Wissen einbezogen zu werden. Seit seinem Arbeitsbeginn bei LIP betonte Neuschwander dementsprechend die Wichtigkeit der Transparenz und der Kommunikation auf allen Ebenen. Den Posten als PDG von LIP trat er auch zum Beweis an, dass eine Unternehmenspolitik, die hierauf aufbaute, sowohl menschlicher als auch profitabler sein könne. Weder „autoges-
45 Les nouvelles responsabilités, un débat à l’ESSEC avec M. Claude Neuschwander“, in: „Innovation Sociale“ 1975, ADD 35 J 10.
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tion“ noch „cogestion“ (im Sinne unternehmerischer Mitbestimmung) schwebten ihm dabei vor, sondern eine letztverantwortliche Geschäftsführung, die sich in wesentlichen Belangen des Wissens und der Fähigkeiten der Belegschaft für den erfolgreichen Betrieb zu bedienen wüsste. Ähnlich wie Michel Rocard, mit dem er persönlich bekannt war, schrieb Neuschwander die Ausdauer der Beschäftigten im Arbeitskampf neben der ökonomischen Notwendigkeit außerdem deren spezifischer Verbundenheit mit dem Betrieb und der beruflichen Identifikation der qualifizierten Uhrmacher und Mechaniker zu. Inwiefern besteht ein Zusammenhang zwischen dieser spezifischen Deutung des sozialen Konflikts und der industriellen Strategie Neuschwanders und der neuen Eigentümergruppe um Antoine Riboud? Claude Neuschwander gab im 1975 veröffentlichten Buch „Patron, mais...“, einem langen Interview mit dem Journalisten Bernard Guetta, Einblicke in seine unternehmerischen, publizistischen und politischen Netzwerke. Er führte darin seine Gedanken zu Unternehmertum, Unternehmensberatung und der Rolle des Managements sowie seinem Verständnis des Sozialismus aus.46 Auch in den Teilen des Buches, in denen sein politischer Werdegang in der katholischen Jugend, im linken Flügel der Studentengewerkschaft UNEF (Union Nationale des Étudiants Français) zur Zeit des Algerienkriegs und schließlich seine Mitgliedschaft in der PSU behandelt wird, wird immer deutlich, wie sehr diese politischen Engagements pragmatisch konkrete Ziele in den Blick nahmen. Das Interview zeichnet das Bild eines Mannes mit politischen Zielen, einer katholischchristlichen Motivation und einer gehörigen Portion Pragmatismus. Mit dieser wusste Neuschwander – Ingenieur mit einem Diplom der École Centrale – die politische Aktion, wichtige neue Kontakte und weitere Schritte in der beruflichen Karriere hervorragend zu verbinden. Seine aus der UNEF fortgesetzten Kontakte waren zahlreich. Neuschwander bezeichnete diese als „kleine Freimaurerei“, die sich jederzeit aufgrund des engen persönlichen Vertrauens wiederbeleben ließe. Zu ihr gehörten der PSU-Vorsitzende Michel Rocard, der Verleger Jacques Julliard (Éditions du Seuil) sowie zahlreiche einflussreiche Geschäftsleute und sozialistische Politiker.47 Berufliche Zwischenstationen waren für Neuschwander die Zeitschriften Express und France Observateur, für die er
46 Im Herbst 1975 erschienen, wurde die Buchveröffentlichung von verschiedenen Seiten als ungeschickter Schritt gegenüber der Eigentümergruppe um Riboud wahrgenommen. Neuschwander selbst versichert jedoch, dass Riboud und Gillet das Manuskript gelesen und seine Veröffentlichung gutgeheißen hätten, vgl. Jean Magadieu, Claude Neuschwander: Ils ont tué Lip, 1976, S. I 14, ADD 45 J 108. 47 Neuschwander, Claude: Patron, mais..., S. 48f.
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noch während des Studiums in den 1950er Jahren als freier Mitarbeiter Artikel schrieb. Politisch hatte er sich damals im Club Jean Moulin engagiert, einem 1958 als Reaktion auf den Putsch in Algerien gegründeten republikanischen Zirkel, dem vor allem hohe Staatsbeamte angehörten – unter ihnen Stéphane Hessel, Michel Crozier und Étienne Hirsch.48 In der PSU war er zum Zeitpunkt des LIP-Konflikts bereits nicht mehr Mitglied. Neuschwanders spezifisches Verständnis des „Managers“ sah diesen als Mittler zwischen Eigentümern, Belegschaft und Kunden, und als solchen in der besonderen Verantwortung, die langfristige Stabilität des Unternehmens sicherzustellen. Der Eigentümer habe im Wesentlichen die Aufgabe, Geld bereitzustellen, der Manager habe eine weit größere Verantwortung: „[...] jene einer Gemeinschaft von Menschen und eines Ensembles von Produkten oder Dienstleistungen, die er der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt.“49 Weil „der Manager“ also eine weit anspruchsvollere Aufgabe zu erfüllen habe, als nur Gewinne sicherzustellen, kommt nach Neuschwanders 1975 im Buch zusammengefassten Überzeugungen der Kommunikation eine besondere Rolle zu. Was ihm zufolge Kommunikation sei, beschrieb er so: „Die Kunst, eine Information auf eine Art zu verbreiten, dass diejenigen, an die sie gerichtet ist, reagieren können. Die Kommunikation ist das Gegenteil der autoritären Information, wie wir sie aus der Schule, dem Katechismus, der Armee, vom Fernsehen oder dem Lesen zahlreicher Zeitungen kennen.“50 Insbesondere betonte Neuschwander im weiteren Gespräch, dass er diese Form der Kommunikation sowohl im Betrieb als auch in der Reklame für notwendig erachtete. Als Werbefachmann betonte er, dass Reklame keineswegs zwangsläufig falsche Bedürfnisse produziere. Vielmehr ließen sich einige Methoden aus dem Marketing auch in sozialen und politischen Initiativen gewinnbringend nutzen, so etwa Umfragen, mit denen sich auch politische Auseinandersetzungen auf eine konkretere Basis stellen ließen.51 José Bidegain beschrieb seine Ziele bei Salamander in Romans und bei LIP so: „Also, gegen diese Inseln der Arbeitslosigkeit haben wir [...] angehen wollen, [...] indem wir zeigen, dass die Chefs von Unternehmen nötig für die Gesellschaft sind und, sicherlich, als Chefs die Angestellten benötigen, damit ihre Un-
48 Vgl. ebenda. 49 Neuschwander: Patron, mais..., S. 16. 50 Ebd., S. 61. 51 Ebd., S. 90f.
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ternehmen laufen.“52 Neben der sozialen Notwendigkeit der Rettung von Arbeitsplätzen ging es ihm also um nicht weniger als die Legitimität der Unternehmerschaft. Dieses Projekt prägte auch die Arbeit von Antoine Riboud und der Unternehmergruppe Entreprise et Progrès, zu deren Gründern beide gehörten. Seit der Rede Antoine Ribouds in Marseille 1972 fand eine vorsichtige Wiederannäherung von Entreprise et Progrès und der Mehrheit im CNPF statt. Bereits in der Bearbeitung des ersten LIP-Konflikts 1973/74 zeichnete sich ein gemeinsamer Nenner in der Forderung nach einer höheren Mobilität der Arbeitskräfte ab. Auch François Ceyrac, der CNPF-Vorsitzende, betonte auf seiner Pressekonferenz Ende September 1973 die Notwendigkeit, hierfür die Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung zu verbessern, etwas, wofür LIP mit der schrittweisen Einstellung ab März 1974 und den parallel angebotenen spezifisch auf die Bedürfnisse des Unternehmens zielenden Fortbildungsangeboten zu einem der ersten Beispiele wurde. Stimmten die lokalen Unternehmer und die Metallarbeitgeber polemische Töne in Bezug auf die geforderte Arbeitskraftmobilität an, äußerte Ceyrac sich auch zur Notwendigkeit des Arbeitslosengeldanspruchs im Konkursfall, also zu materiellen Bedingungen, die diese Mobilität erleichtern sollten. José Bidegain verließ 1975 Entreprise et Progrès und arbeitete im CNPF weiter. Wie äußerten sich unterdessen die Ansprüche Claude Neuschwanders und der Unternehmergruppe um Antoine Riboud konkret? Und wie sahen deren Startbedingungen aus? Unmittelbar nach der im „Accord de Dôle“ festgelegten Einigung mit den Gewerkschaften vom 29. Januar 1974 unterzeichneten die beteiligten Geschäftspartner am 2. Februar 1974 in Genf ein Übereinkommen über die Gründung der Holdinggesellschaft SEHEM (Société Européenne de l’Horlogerie et de la Mécanique). Diese sollte die beiden Gesellschaften in BesançonPalente umfassen, wo der Betrieb unter den Namen CEH (Compagie Européenne de l’horlogerie, Uhren und Mechanische Fertigung) und SPEMELIP (Rüstung) wieder aufgenommen wurde – beide unter der Geschäftsführung von Claude Neuschwander. Die Fabrik in Ornans, wo am 19. November der Betrieb unter neuer Eigentümerschaft (SUPEMEC) aufgenommen worden war, gehörte jetzt nicht mehr zum Unternehmen. 15 Mio. FF langfristiger, staatlich vermittelter Kredite ergänzten die finanzielle Ausstattung der CEH.53
52 Interview mit José Bidegain vom 21. Januar 1975 in: Au micro: José Bidegain/Jean Mattéoli – Les jeunes patrons et le monde du travail, Materialien zum Hörverstehen Bd. 3, München 1977. 53 An der „Gruppe französischer Industrieller“ waren diese persönlich mit den Mindestbeiträgen für Verwaltungsratsmitglieder beteiligt (1.000 FF). Das Risiko ihrer am Ka-
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Eine Folge der Holding-Konstruktion war, dass die Belegschaftsvertreter keine Präsenz im Verwaltungsrat mehr hatten – nach französischem Recht mit Frage- und Rederecht, aber ohne Stimmrecht –, da dieser sich nun auf der Ebene der Holding befand und nicht mehr in den Unternehmen, die für den Betrieb zuständig waren. Von den Gewerkschaften im Betrieb problematisierte dies lediglich die CGT. Diese, bis dahin stärkste Gewerkschaft in der Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans, beurteilte insbesondere den Verlust des Zusammenhangs zwischen Ornans und Besançon als Niederlage für die Beschäftigten. Auch betonten sie, dass nun selbst in Palente kein gemeinsamer Betriebsausschuss für die CEH und SPEMELIP mehr existierte.54 Von den zwei grundsätzlichen Alternativen, die sich für das Unternehmen LIP 1973 geboten hatten, Integration in Konzernstrukturen und Reduktion auf die Montage, oder zumindest teilweise Beibehaltung des „Manufaktur“-Charakters und Expansion, wurde für die neue Gesellschaft der zweite Weg gewählt. Mit einer maßvollen Expansion, vor allem im Export – 1 Mio. verkaufte Uhren waren für das Jahr 1980 vorgesehen –, sollte eine Rentabilisierung der im Betrieb hergestellten Vorprodukte einhergehen, die nun auch einzeln vermarktet werden sollten. Gemeinsam mit dem vollen Einstieg in die Produktion von Quarzuhren war dies die Legitimation für die Beibehaltung der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Die Gestaltung mehrerer Uhrenserien durch vier externe Industriedesigner, „la ligne design“, sollte einerseits neue Käufergruppen erschließen, andererseits die Position der Marke LIP im mittleren Preissegment gegen die mit den Quarzuhren perspektivisch sinkenden Preise stabilisieren. In einer Hinsicht war der auf Wachstum zielende Unternehmensplan dabei durchaus zurückhaltend: Als der Betrieb am 11. März 1974 wieder aufgenommen wurde, geschah dies zunächst nur mit 89 Personen, erst im März 1975 wurden die letzten der nun 830 Beschäftigten der CEH wieder eingestellt. Der Wiederbeginn des Betriebs der CEH geschah also Schritt für Schritt. Hierzu gehörte auch die Wiedergewinnung des alten Vertriebsnetzes und des Vertrauens der Fachhändler, denen durch die Direktverkäufe der Belegschaft zu
pital der SEHEM beteiligten Unternehmen hielt sich durch deren große Zahl in Grenzen: Sommer-Allibert (499.000 FF), die Compagnie des Compteurs (500.000 FF), die Société Picarde de Promotion (992.000 FF) und Rhône-Poulencs Investitionsgesellschaft QUISA (1.499.000 FF) waren einige der größten Geldgeber, vgl. Liste der SEHEM-Aktionäre für das Comité d’Entreprise, AM 5 Z 220 und Gesellschaftsvertrag der SEHEM, ADD 45 J, in Einarbeitung. 54 Vgl. CGT Union Départementale du Doubs: Le trait de l’union No. 41, 15. Februar 1974, private Archivbestände Fatima Demougeot.
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Fabrikpreisen (mit 42 Prozent Rabatt) zumindest in der eigenen Wahrnehmung einige Geschäfte entgangen waren. Im Mai 1974 reiste Claude Neuschwander mit einem eigens zu diesem Zweck gemieteten Ausstellungs-Sonderzug durch Frankreich. Von seiner in diesem Zusammenhang gehaltenen Ansprache gegenüber den Uhrenhändlern auf der Etappe am 29. Mai existiert die Transkription eines Tonmitschnitts. Nachdem Neuschwander einige Hinweise zum aktuellen Stand des Unternehmens gegeben und seine Vorstandskollegen eingeführt hatte – Jean Louis Milan für die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, Alain Tyrode für die technische Leitung – beides Absolventen des Institut de Chronométrie – und François Letrou (McKinsey) für den Vertrieb, wendete er sich den eingeschlagenen Wegen für die Zukunft zu. Wie bisher sollten LIP-Uhren nur dort verkauft werden, wo eine fachkundige Beratung und Reparatur angeboten und die Preise eingehalten würden. Er wollte die Fachhändler in dieser Hinsicht beruhigen, schloss aber gleichzeitig den möglichen Verkauf in Warenhäusern schon für das folgende Jahr nicht aus, wenn diese Bedingungen dort erfüllt wären.“55 Auch die Preisspanne, so erläuterte Neuschwander anschließend, werde im wesentlichen die vorherige sein, mit Verbraucherpreisen der Uhren zwischen 200 und 500 FF.56 Bei allen anvisierten Neuerungen knüpfte die neue Geschäftsführung also am Bekannten an: dem Ruf der „Qualitätsuhren“ von LIP und dem Vertrieb durch Fachhändler, die auch für Beratung und Reparatur kompetent sein sollten. Mit diesen Eigenschaften des Unternehmens identifizierte sich auch Claude Neuschwander, der bereits seit den 1960er Jahren in der großen Werbeagentur Publicis für die LIP-Reklame zuständig gewesen war. Der von einigen Beobachtern der alten Firma angemahnte Einstieg ins Niedrigpreissegment wurde zwar zunächst anvisiert, aber schnell fallen gelassen. In anderen Aspekten folgte die Entwicklung Empfehlungen, die von den verschiedenen Gutachtern geteilt wurden. So wurde die Zahl der Kaliber deutlich reduziert. Die Produktion mechanischer Rohwerke sollte perspektivisch aus dem Unternehmen ausgegliedert werden. Und auf das Problem, dass die Fabrik für ihre bisherige Produktionsmenge als zu groß eingeschätzt wurde, wurde mit dem Versuch reagiert, die Vorprodukte zu rentabilisieren und sich hierbei jeweils auf die profitabelsten zu konzentrieren. Neben der eigenen Erfahrung mit LIP hatte Neuschwander bei der Ausarbeitung des Unternehmensplans mit den Experten der Unternehmensberatung Mc-
55 Redebeitrag Claude Neuschwanders vor den Uhrenfachhändlern am 29. Mai 1974, ADD 45 J, in Einarbeitung. 56 Ebenda.
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Kinsey vor allem auf die Arbeit der CFDT-Expertisegruppe Syndex zurückgegriffen, während er auch eine zunächst im Oktober bei der von Ébauches bemühten Unternehmensberatung Interfinexa in Auftrag gegebene Alternativstudie zu deren Plan aus dem Mai für unzureichend befand.57 Außerdem hatte Neuschwander eine Umfrage beim Meinungsforschungsinstitut IFOP (Institut français de l’opinion publique) in Auftrag gegeben, die die Beliebtheit von LIP und die Potentiale der Marke zu beurteilen half.58 Zeigt die Präsentation bei den Uhrenhändlern einerseits Kontinuitäten und den Willen des neuen Geschäftsführers auf, an die Qualitäten des alten Unternehmens LIP anzuknüpfen, so deutet sie bereits an, dass die von zeitgenössischen Beobachtern häufig als „Période Neuschwander“ bezeichnete Entwicklung bei LIP zwischen 1974 und 1976 ebenso gut als „Période Riboud-McKinseyÉbauches“ bezeichnet werden könnte. Claude Neuschwander stand zwar im Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit, musste jedoch von Anfang an widerstreitende Interessen der verschiedenen Aktionäre miteinander vereinbaren und dabei nicht zuletzt die sozialen Ziele der Vereinbarung von Dôle erfüllen. Der neue Vorstand bestand aus sechs Personen, zwei von ihnen kamen von McKinsey. Die Integration externer Unternehmensberater in die Vorstandsebene war bis dahin in Frankreich unüblich, die Gruppe um Antoine Riboud kann diesbezüglich durchaus als Vorreiter betrachtet werden.59 Diese Personen standen darüber hinaus in besonderer Verbindung zu Riboud. Welch große Rolle der Unternehmergruppe um Antoine Riboud gemessen an ihrem verhältnismäßig geringen Kapitalaufwand in der medialen Darstellung, aber auch in der tatsächlichen Ausgestaltung der Unternehmensleitung spielte, ist auffällig. Vor allem Antoine Riboud selbst spielte im Verwaltungsrat eine wichtige Rolle, der nun mindestens vierteljährlich tagte, ab dem September 1975 angesichts der zunehmenden Probleme des Unternehmens fast monatlich. Außerhalb dieser formalisierten Kontakte gab es enge Absprachen zwischen Claude Neuschwander vor allem mit Antoine Riboud. Diese engen Kontakte wurden auch deshalb etabliert, weil die be-
57 Syndex erstellte auch nach 1974 noch Gutachten über die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebs in Palente für das Comité d’Entreprise in einem „Rapport sur les comptes de 1974“, BDIC F Δ rés. 702/20/3, einem „Rapport sur les comptes de 1975“, AM 5 Z 220, einem Gutachten zum Konkurs von 1976/77, BDIC F Δ rés. 702/20/3. 58 Vgl. IFOP, sondage sur la marque LIP, BDIC F Δ rés. 702/20/3. 59 Vgl. für Deutschland Marx, Christian: „Die Manager und McKinsey – Der Aufstieg externer Beratung und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff“, in: Reitmayer, Morten (Hrsg.): Die Anfänge der Gegenwart – Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, Zeitgeschichte im Gespräch, München 2013, S. 65-78.
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teiligten Geldgeber und der Vorstand um die Fragilität ihres Entwicklungsplans wussten. Dieser auf Wachstum angelegte Plan war voraussetzungsvoll, was die Wiederherstellung des Vertriebsnetzes, die Fortschritte bei der Quarzuhrenproduktion und die vorgesehenen Verkaufszahlen anging. Von Beginn an belasteten die nicht eingeplante Übernahme von 7 Mio. FF Altschulden von LIP die CEH – mit diesen sollten Zulieferbetriebe entlastet werden –, ebenso wie die 5 Mio. FF teure Einrichtung einer neuen Werkstatt für Uhrengehäuse, die zwar eingeplant war, deren Einrichtung aber länger dauerte als geplant.60 Die Werkstatt für Uhrengehäuse wurde schließlich am 10. März 1975 feierlich eröffnet. Die Entscheidung für diese Werkstatt hatte mit der neuen „Design“-Linie zusammen gehangen, die sich hierdurch nicht nur als gestalterische, sondern auch als betrieblich relevante Entscheidung erwies. Für die Produktion der benötigten Gehäuse hatten sich aus technischen und politischen Gründen keine Lieferanten gefunden, wie die Gewerkschafter aus dem Betrieb und Claude Neuschwander übereinstimmend vermuteten.61 Neben Stahlgehäusen konnten hier auch Aluminium- und Kunststoffgehäuse produziert werden, die auch auf Bestellung produziert werden konnten und ins Ausland exportiert werden sollten. Die Eröffnung einer Handelsvertretung in den USA unter der Firma LIP Time Inc. sollte vor allem Aufträge im Bereich der Uhrengehäuse erzielen.62 1974 wurden 110.000 LIP-Uhren in Frankreich verkauft, was knapp unter den ursprünglich eingeplanten Zahlen lag.63 Die Verluste blieben mit 13 Mio. FF für 1974 trotzdem unter den 15 Mio. FF, die für das erste Geschäftsjahr vorgesehen waren. SPEMELIP machte bereits 1974 nur noch einen leichten Verlust. Während die Aufträge von Manurhin weiterhin ausblieben, bearbeitete SPEMELIP nun Aufträge von Luchaire, Brandt und der Technischen Direktion des französischen Heeres (DTAT). Erst im Laufe des Jahres 1975 machte sich in der Uhrenbranche ein Einbruch der Verkaufszahlen bemerkbar, der auch LIP traf.
60 Die Altschulden wurden sofort beglichen, um Vertrauen zurückzugewinnen. Die CEH war hierzu nicht verpflichtet, vgl. Syndex: Rapport sur les comptes de 1974, S. 43. 61 Vgl. „Les travailleurs de LIP“: LIP 76, une industrie, une région en danger, 39 Seiten, 1976, ADD 45 J 106. 62 Vgl. die Eröffnungsrede Claude Neuschwanders für die neue Werkstatt, ADD 45 J in Einarbeitung. Auf der Betriebsausschuss-Sitzung vom 8. November 1974 bestätigte Neuschwander, „dass wir nicht hoffen müssen, dort Uhren zu verkaufen; allerdings scheint der Verkauf der Bewegungen R53 und der Uhrengehäuse die Amerikaner zu interessieren.“, zit. nach Syndex: Rapport sur les comptes de 1974, S. 37. 63 Vgl. Syndex: Rapport sur les comptes de 1974, S. 35.
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Auf eine organisatorische Umgestaltung des Betriebs in Palente verzichtete Claude Neuschwander zunächst. Die internen Hierarchien und Zuständigkeiten blieben also auf dem Stand vom Frühjahr 1973. Dennoch hielten seine Überzeugungen in Bezug auf Information, Transparenz und „Kommunikation“ auf gewisse Weise Einzug in den Unternehmensalltag. So wurden bald jede Woche im Wechsel Werkstattsitzungen einberufen, bei denen neben den Arbeiterinnen selbst auch die Werkstattleiter sowie ein Vertreter des Vorstands zugegen waren. Diese fanden in jeder der 35 Werkstätten mindestens einmal im halben Jahr statt. In ihnen wurden die alltäglichen Probleme besprochen, die zum Teil besonders mit dem Wiederbeginn der Arbeit zusammenhingen, etwa wenn Einzelteile fehlten oder Maschinen nicht richtig eingestellt waren. Neuschwanders Schilderung dieser Sitzungen ist von einer deutlich erkennbaren Pädagogik geprägt: „Das Ziel ist, dass sie wissen, was sie herstellen, dass sie verstehen, wozu sie beitragen, und dass sie über die einfache Information hinaus reagieren und sich ausdrücken können, indem sie ihre Kritiken und ihre ästhetischen wie technischen Vorschläge vorbringen können.“64 In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass der Uhrenkatalog 1975 zum ersten Mal noch in der Entwurfsfassung für Anmerkungen der Belegschaft im Betrieb ausgehängt wurde. Der Betriebsausschuss und die Personaldelegierten tagten den gesetzlichen Vorschriften entsprechend jeweils einmal im Monat. Auch dies betonte Claude Neuschwander im Interview jedoch, um es als Teil seiner besonderen Bemühungen darzustellen. Und nach jeweils 100 Wiedereingestellten, also im ersten Betriebsjahr etwa jeden Monat, wurde eine kurze Belegschaftsversammlung abgehalten.65 Claude Neuschwander bemühte sich, seine Anstrengungen für den Kommunikationsfluss im Betrieb in der Außendarstellung stark herauszustreichen. Diese entsprachen weitgehend den Vorstellungen, wie sie Antoine Riboud in seiner Rede von Marseille ausgeführt hatte: Kommunikationsprozesse, die in erster Linie von der Unternehmensleitung angeregt und koordiniert wurden, um die Beschäftigten aktiv in betriebliche Prozesse zur Verbesserung des unternehmerischen Erfolgs einzubeziehen. Mit dem konkreten Kampf um Informationsrechte, dem im Arbeitskampf schon seit dem Frühjahr 1973 entscheidende Bedeutung zugekommen war, hatte dies nur bedingt zu tun. Die Löhne im Unternehmen waren zunächst diejenigen des alten Unternehmens LIP auf dem Stand von Juli 1973. Es hatte also eine mehrmonatige Pause in der Inflationsanpassung gegeben. Diese wurde mit der Vereinbarung von Dôle jedoch wieder eingeführt und orientierte sich an den Indizes des nationalen Sta-
64 Neuschwander: Patron, mais..., S. 138. 65 Vgl. ebenda, S. 140f.
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tistikamtes. Für den November 1974 sah die Vereinbarung von Dôle vor, die bisherigen Lohnskalen neu zu verhandeln.66 Nach entsprechenden Verhandlungen wurde auf den Druck der Gewerkschaften hin die niedrigste OS-Lohngruppe aufgelöst und nur noch nach den beiden höheren bezahlt. Die Spanne innerhalb der jeweiligen Lohngruppen sollte nun schrittweise reduziert werden. Die Stücklohnkomponente – Leistungsprämie genannt – wurde abgeschafft.67 Im Bereich der Arbeitsorganisation gab es vorsichtige Veränderungen. So wurde zunächst auf jede Form individueller Leistungskontrolle verzichtet. In einer der Werkstätten von LIP wurde auf den Druck der Personaldelegierten versuchsweise auf das Ausstempeln am Nachmittag verzichtet. Grundsätzlich blieben die Stechuhren aber erhalten. Die Vorstandsmitglieder reflektierten auch über Möglichkeiten von Gruppenarbeit. Sie gaben bei einem der Weiterbildungsträger eine Sozialstudie in Auftrag, die für spätere Umgestaltungsversuche der Arbeitsorganisation als Grundlage dienen sollte.68 Deren Ergebnisse kamen aber nicht mehr zur Umsetzung. Auch in diesem Bereich war die Außendarstellung der neuen Miteigentümer von LIP den tatsächlichen Veränderungen also voraus. Wie der Arbeitsalltag zwischen 1974 und 1976 auch von den Beschäftigten selbst erlebt und diskutiert wurde, wird in Kapitel 3 dieser Arbeit behandelt.
2.3 LIP
UND DIE U HRENBRANCHE – VON P ARTNERN ZU K ONKURRENTEN
Bereits vor 1973 befanden sich LIP und die übrige französische Branche in einem Spannungsverhältnis. Für manch anderen Unternehmer ein ungeliebter Konkurrent, wurde LIP gleichzeitig zum Gegenstand von Überlegungen der Branchenvertreter, das Unternehmen zum Zentrum einer vertikalen Konzentration im Bereich der Quarzuhren zu machen. Die Kooperation in der Branche war seit der Nachkriegszeit immer weiter vorangetrieben worden. Waren die Betriebe der Uhrenbranche zwar auch vorher bereits stark lokal konzentriert gewesen, so erhielt diese Agglomeration doch innerhalb einer kurzen Zeit zwischen den 1950er und 1960er Jahren durch die Schaffung effektiver Branchenorganisationen die Charakteristika eines Clusters, das sich durch enge Kooperationsbezie-
66 Vgl. Accord de Dôle, S. 3, AM 5Z 224. 67 Vgl. Protokolle der Délégués du Personnel mit Lohntabellen, ADD 45 J 85. 68 Vgl. CESI (Centre d’études supérieures industrielles): Plan d’intervention pour le changement et le développement de la C.E.H., Enquête Diagnostic Janvier 1975-Mai 1975, BDIC F Δ rés. 702/20/1.
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hungen und eine gegenseitige Abstimmung der Produktion auszeichnete.69 Die Wirtschaftshistorikerin Évelyne Ternant verwendet hierfür wie einige ihrer französischen Kollegen den Begriff des Système Productif Localisé (SPL); über italienische Forschungen zu industriellen Disktrikten (Beccatini u.a.) gelangte die Thematik der regionalen Konzentration von Unternehmen nach Frankreich und wurde dort mit dem Begriff des SPL adaptiert.70 Schon seit den 1960er Jahren wurden über die Vertreter der Staatsbürokratie Vorstellungen von großen, integrierten Betrieben als Leitunternehmen einer Produktionskette in die Branchenorganisationen hinein getragen. Bei den jeweiligen Uhrenherstellern stießen diese nicht immer auf Akzeptanz. Dennoch hatten sich auch die kleinen französischen Hersteller von der Anfang der 1970er Jahre geplanten Umstrukturierung bei LIP etwas erhoffen können: Nach dem Willen der französischen Branchenvertreter hatten diese im April 1972 gescheiterten Pläne auf die Reduzierung des schweizerischen Einflusses durch eine französische Aktienmehrheit an LIP gezielt und außerdem der Branche eine gewisse Kontrolle über den Konkurrenten LIP verschafft. Nach 1973 war Ébauches zwar nicht mehr Mehrheitsaktionär bei LIP. Die Geschäftsbeziehungen von LIP blieben zunächst jedoch wesentlich die gleichen, beinhalteten also eine enge Verbindung mit den schweizerischen Konzernstrukturen und weniger mit der Umgebung aus Kleinbetrieben in der Franche-Comté.
69 Vgl. Ternant: La dynamique longue, S. 12ff., zu Clustern vgl. Richter, Ralf: „Netzwerke und ihre Innovationskraft im internationalen Vergleich. Die Cluster der Werkzeugmaschinenbau-Industrie in Chemnitz (Deutschland) und Cincinatti (USA), 18701930“, in: Boch, Rudolf u.a. (Hrsg.): Unternehmensgeschichte heute. Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends, Leipzig 2005, S. 119-132. Seit den 1980er Jahren hat in der Wirtschaftsgeschichte die Begeisterung für die Innovationskraft solcher regionaler Netzwerke zugenommen, zuerst Sabel, Charles u. Michael Piore: Das Ende der Massenproduktion, Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1989; dann Scranton, Philipp: Endless Novelty - Specialty Production and American Industrialization 1865-1925, Princeton 1997. 70 Heute ist das SPL die Minimaldefinition einer Agglomeration von Unternehmen einer gleichen Branche, die enge Kooperationsbeziehungen pflegen. Als solche hat sie mittlerweile Einzug in die nationale Raumordnungspolitik in Frankreich gefunden, vgl. Daumas, Jean Claude: Dans la ‚boîte noire‘ des districts industriels, in Ders. u.a. (Hrsg.): Les territoires de l’industrie en Europe (1750-2000), Besançon 2007, S. 9-34. Zu den italienischen Vorbildern vgl. Beccatini, Giacomo: Dal distretto industriale allo sviluppo locale, Turin 2000.
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Außerdem waren branchenfremde Großunternehmer als Aktionäre eingestiegen. Diese hatten einen Geschäftsführer ernannt, der ebenfalls nicht aus der Uhrenbranche kam, und einen Unternehmensplan vorgelegt, der auf Expansion setzte. All dies barg neues Konfliktpotential mit den Branchenkollegen. Dieses Konfliktpotential wurde durch die Verhandlungen über einen Quarzuhrenplan unter staatlicher Vermittlung deutlich verstärkt. Seit 1971 war LIP an einem Gemeinschaftsunternehmen der Uhrenbranche mit dem Namen Montrélec beteiligt gewesen, welches für die gemeinsame Entwicklung von Quarzuhren ins Leben gerufen worden war. Dessen Entwicklung schritt jedoch nur langsam voran. Zunächst sollte dieses Unternehmen nicht selbst produzieren, sondern die Arbeit der beteiligten Uhrenproduzenten koordinieren. Die Société pour le développement de l’horlogerie (SDH) hielt knapp ein Drittel von deren Aktien, Thomson ein Fünftel und verschiedene Unternehmen der Uhrenindustrie die übrigen. Erste Prototypen waren 1973 auf der Basler Uhrenmesse vorgestellt werden. Für eine Vorserie von 100 Stück produzierte LIP 1973 und 1974 die Rohwerke. Évelyne Ternant bewertet das Engagement der verschiedenen Beteiligten als höchst unterschiedlich. Einige, so France Ébauches, hätten sich wohl auch aufgrund einer zurückhaltenderen Einschätzung der zukünftigen Bedeutung der Quarzuhren gleichgültig gezeigt. Fabrikanten wie Yéma, die zunächst eine treibende Rolle gespielt hatten, hätten schließlich das Stadium der Markteinführung verzögert, weil sie fürchteten, das Gemeinschaftsunternehmen werde ihrem eigenen Betrieb Konkurrenz machen, statt ihm zu nutzen. Ternant betont, dass mit der Wahl des Unternehmenssitzes in Morteau auch die Prioritäten der beteiligten Unternehmen zum Ausdruck gekommen seien. Diese standen im Haut-Doubs weitgehend hinter dem Projekt und in Besançon weniger.71 Thomson kontaktierte die neue Geschäftsleitung von LIP 1974 jedenfalls aufgrund der geringen Effektivität Montrélecs, um in einem neuerlichen Versuch der Branchenkoordination, aber mit einer größeren Rolle von LIP darin, die Markteinführung der Quarzuhren zu beschleunigen. In diesem Sinn nahm Claude Neuschwander im Januar 1975 Verhandlungen mit den Branchenvertretern auf. Bisher hatte LIP einen eigenen Schrittmotor für die analoge Anzeige von Quarzuhren und eine eigene mit 16 Khz schwingende Quarz-Stimmgabel für die Verwendung der im Frühjahr 1973 erstmals öffentlich präsentierten Damenarmbanduhren mit Quarz und analoger Anzeige entwickelt. Ende 1975 produzierte LIP etwa 100 analoge Quarzuhren täglich, um eine erste Serie von 10.000 Stück fertigzustellen. Sowohl der Quarz als auch der Motor hätten zu günstigen Preisen in großen Serien gefertigt werden können, was nach dem neuen Vorhaben
71 Vgl. Ternant: Le milieu horloger, S. 38f.
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die Grundlage für eine Firmengründung zur Entwicklung und schließlich Produktion hätte werden sollen.72 Neben den Quarzuhren mit analoger Anzeige sollte auch die Entwicklung von Digitaluhren vorangetrieben werden, für die schließlich eine eigene Produktionsstraße vorgesehen wurde.73 In einem zähen Verhandlungsprozess zwischen der Chambre française de l’horlogerie, den kleineren Uhrmachern und LIP konnte jedoch bis zum Sommer kein gangbarer Kompromiss erzielt werden. Die Ängste der kleineren Uhrenfabrikanten, einseitig von LIP und Thomson abhängig zu werden, waren groß. Auch die politische Abneigung gegen einen sozialistischen Unternehmer bekam Neuschwander in den Verhandlungen zu spüren, ebenso wie die ererbte Rivalität zwischen Fred Lip und der übrigen Branche, der dieser gelegentlich mit Herablassung begegnet war.74 Als die übrigen Uhrenunternehmer darauf drängten, LIP nur noch über ihren gemeinsamen Aktien-Pool am Projekt zu beteiligen, lehnte Claude Neuschwander ab.75 Ihm erschien LIP als einzig sinnvoller zentraler Pol einer gemeinsamen Quarzuhrenentwicklung, während bei den Branchenkollegen im Haut-Doubs die Vorstellung eher horizontaler Beziehungen vorherrschend waren. Ihre Präferenzen waren offensichtlich weit von dem in der Staatsbürokratie, bei LIP und Thomson favorisierten Leitunternehmen LIP entfernt. Unter Vermittlung der Abteilung für die Metall- und Elektroindustrie im Industrieministerium (DIMME) wurde schließlich bis zum Oktober 1975 ein Minimalkompromiss gefunden. Dieser sah vor, dass Montrélec und die unter Leitung von Thomson und LIP zu gründende Gesellschaft nicht in einer Firma münden, aber ihre Zuständigkeiten absprechen würden: Das Projekt von LIP und Thomson, nun unter dem Namen Quartzélec, sollte sich der Entwicklung und Produktion von Quarzuhren mit Digitalanzeige widmen. Montrélec würde sich der Entwicklung von Quarzuhren mit analoger Anzeige widmen, obwohl für diese bei LIP sämtliche wichtigen Vorarbeiten bereits geleistet waren und diese sogar schon produziert wurden. Zwar waren beide Unternehmen, Montrélec und Quartzélec, nun Teil eines „plan électronique horloger“ unter staatlicher Vermittlung, als Bewer-
72 Der bei LIP entwickelte Motor wurde von Ébauches bereits unter Lizenz in hohen Stückzahlen produziert, vgl. „Les travailleurs LIP“: LIP ’76 – une industrie, une région en danger, AM 5 Z 224. 73 Vgl. Quartzélec – Synthese des Projekts vom November 1975, AN 19840668/7. 74 Beispielhaft für Fred Lips Umgangston gegenüber der übrigen Branche kann dieser Abschnitt stehen: „Wenn die französischen Uhrenhändler und -Produzenten ihre Vertriebsabteilungen disziplinieren würden anstatt unsere zu beneiden, würden sie Fortschritte machen [...], Bilanzbroschüre für das Jahr 1967, S. 9, AN 19840668/8. 75 Vgl. Interview des Verfassers mit Claude Neuschwander vom 24. Juni 2014.
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ber um die entsprechenden Fördergelder begegneten sie sich jetzt jedoch als Konkurrenten. Als die erneuten finanziellen Schwierigkeiten von LIP zu Beginn des Jahres 1976 akut wurden, hatte Claude Neuschwander alle Mühe, seine Aktionäre zu einem ernsthaften finanziellen Engagement zu bewegen, um diesen Schwierigkeiten erfolgreich begegnen zu können. Zwischenzeitlich schien ihm dies mithilfe der staatlichen Experten im Industrieministerium und im CIASI (Comité interministeriel de l’aménagement des structures industrielles) zu gelingen.76 Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing hatte am 31. Januar öffentlich erklärt, LIP habe das selbe Recht, staatliche Hilfen bei den zuständigen Stellen zu beantragen, wie andere Unternehmen auch. Die Konkurrenten der Branche nahmen jedoch jegliche weitere Unterstützung für LIP als Wettbewerbsverzerrung wahr. So war der öffentlich sichtbare Höhepunkt dieser Konkurrenz nur zum Teil auf die Mittel aus dem Quarzuhrenplan zurückzuführen. Auch die staatlichen Hilfen des CIASI erregten den Protest von Unternehmern am 3. Februar 1976. Über 200 Uhrmacherbetriebe, v.a. im Haut-Doubs, wurden für diesen Tag von ihren Eigentümern geschlossen und die Beschäftigten ausgesperrt. In Reisebussen begab sich eine Delegation der Unternehmer in Begleitung Edgar Faures nach Paris, um beim seit 1974 regierenden Premierminister Jacques Chirac vorzusprechen. Edgar Faure, Bürgermeister von Pontarlier (1971-1977) und seit 1967 gaullistischer Abgeordneter des Doubs in der Nationalversammlung, hatte 1973 auch die LIP-Sekretärin Monique Piton in seinem Pariser Büro empfangen.77 Nun ergriff er klar die Partei der Unternehmer seiner Region im engeren Sinne, ein Ministerialbeamter bezeichnete ihn später in einer leicht gereizten Notiz als „inbrünstigen Fürsprecher von Montrélec“.78 In ihrem Telegramm an den Präsidenten der Republik schrieben die drei wichtigsten Repräsentanten der Uhrenbranche: „Im Namen Uhrenindustrie protestieren energisch gegen neue Hilfe öffentliche Hand an LIP dessen schweizerische und französische Verwalter je-
76 Vgl. Lagadieu/Neuschwander: Ils ont tué Lip, S. III 39f. Das CIASI war 1974 als Fördermechanismus eingerichtet worden, der industrielle Strukturen – einzelne Betriebe, aber auch von ihnen geteilte Infrastruktur – präventiv stärken sollte. Zu den bei LIP zwischen 1973 und 1987 eingesetzten staatlichen Fördermechanismen vgl. Tabellen im Anhang. 77 Zu Edgar Faure vgl. Bellon, Christophe: „Faure, Edgar (1908-1988)“, La France de la Cinquième République, Paris 2008, S. 149-151. Zu Pitons Besuch bei Faure vgl. Libération, 3. November 1973, S. 1. 78 Notiz für den Kabinettsdirektor vom 15. Dezember 1976 bzgl. eines Briefes von Edgar Faure vom 30. November 1976, AN 19840668/7.
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doch über erhebliche finanzielle Mittel verfügen – diese erneute Staatshilfe verfälscht zu unserem Nachteil die Regeln des Wettbewerbs.“79 Auch in der Öffentlichkeit wurden die Aussperrungen sofort als Reaktion auf die Finanznöte von LIP wahrgenommen. In einem längeren Dossier erläuterte ein „Comité de Défense des Intérêts Économiques du Haut-Doubs“ die Motivation für die Aktion: „Im Gegensatz zu manchen Versionen ist die zusätzliche staatliche Hilfe für LIP nicht der Grund der Unzufriedenheit, sondern ihr Katalysator.“80 Der HautDoubs wurde in dem Dossier als Region beschrieben, die dringend Hilfe benötige. Als Forderungen wurden Erleichterungen bei den Lohnnebenkosten für die Exportproduktion und eine Einstufung des Haut-Doubs als förderungsbedürftige Grenzregion gefordert.81 Als LIP nach dem Rücktritt Claude Neuschwanders auf die neuerliche Konkursanmeldung zusteuerte, versuchten die Branchenvertreter, LIP und dessen Probleme grundsätzlich von denen der Branche getrennt zu behandeln. Der Generalsekretär der Chambre française de l’horlogerie, Michel Dalin, ließ sich am 8. April 1976 im Est Républicain zitieren: „LIP ist nicht lebensfähig, aber der französischen Uhrenindustrie insgesamt geht es gut.“82 Und in einem Positionspapier vom 22. April 1976 präzisierte die CFH: „Die Chambre française de l’horlogerie wird keinerlei Initiative ergreifen, um eine vollständige oder teilweise Lösung für das Problem LIP zu finden.“83 Während die Branchenvertreter einerseits pressewirksam um höhere Fördergelder für eine „région menacée de mort“ warben, behaupteten sie andererseits, ihrer Industrie gehe es gut.84 Die Weigerung, LIP als Teil einer möglichen weiteren Branchenentwicklung zu begreifen, zielte auf den unliebsamen Konkurrenten. LIP war isoliert.
79 Telegramm von André Auge (CFH), Guy Leibundgut (Syndicat français des Fabricants des Montres) und Raymond Dodane (Fédération de la Montre) an Valéry Giscard d’Estaing vom 3. Februar 1976, AN 19840668/7. 80 Comité de Défense des Intérêts Économiques du Haut-Doubs: La crise économique dans le Haut-Doubs, 19 Seiten, AN 19840668/7. 81 Fred Lip in einem persönlichen Brief an Claude Neuschwander vom 17. Februar 1976 über die Uhrenfabrikanten: „Aber wenn die Fabrikanten des Haut-Doubs, unterstützt von einigen miserablen Monteuren und Uhrenverkäufern aus Besançon, tendenziös sind [...], dann muss man das betonen!“, ADD 45 J in Einarbeitung. 82 Est Républicain vom 8. April 1976. 83 Positionspapier der CFH vom 22. April 1976, ADD 35 J 10. 84 Der Conseil Général bezeichnete die Situation der Branche dagegen im Oktober als „nicht katastrophal, aber ernst“, vgl. Conseil Général du Doubs: Unterlagen der nichtöffentlichen Plenarsitzung vom 18. Oktober 1976, ADD 35 J 10.
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2.4 „S IE HABEN L IP HINGERICHTET “? D AS E NDE FÜR LIP 1975/76 Im Jahr 2007 drehte der Filmemacher Christian Rouaud einen Film über die Geschichte des Arbeitskampfs bei LIP. Darin äußerte Claude Neuschwander öffentlich und erstmals medienwirksam, LIP sei im Zusammenspiel seiner Aktionäre – v.a. der Gruppe um Antoine Riboud – und der seit 1974 unter der Präsidentschaft Giscards amtierenden Regierung von Jacques Chirac absichtsvoll ein Ende bereitet worden. Jean Charbonnel, der als Industrieminister bereits im März 1974 aufgrund seiner Konflikte mit Premierminister Pierre Messmer aus der Vorgängerregierung entlassen worden war, bestätigte dies.85 Die verdeckte Konspiration zwischen neuen „Liberalen“ um Chirac mit den „progressiven Unternehmern“ um Antoine Riboud war nun mit so großer persönlicher Autorität behauptet worden, dass auch Michel Rocard sich bei ihm entschuldigte. Bis dahin hatte dieser das Ende von LIP gemäß den öffentlichen Verlautbarungen seiner damaligen Aktionäre vor allem dem ungeschickten Agieren Neuschwanders angelastet. Mittlerweile hat Claude Neuschwander dem Départements-Archiv Besançon zahlreiche Unterlagen vermacht, die seine These über das Ende von LIP stützen sollen. Aus diesen Materialien lässt sich keine Konspiration belegen oder widerlegen. Es ergibt sich jedoch ein relativ detailliertes Bild des Interessengeflechts, das zum Ende von LIP beigetragen hat. Dieses wird aus Briefwechseln, den verschiedenen Dossiers zum Quartzélec-Plan, Verwaltungsratsprotokollen und Budgetentwürfen für die Compagnie Européenne d’Horlogerie sowie dem unveröffentlichten Typoskript für ein von Neuschwander 1976 geplantes zweites Buch offenbar. Die zunehmend feindlich gesinnte Unternehmerschaft aus der Uhrenbranche, Einbrüche der Verkaufszahlen im Sommer und Herbst 1975, die die ganze Branche, aber besonders die CEH trafen, sowie ein zusätzlicher Investitionsbedarf trafen mit Auseinandersetzungen innerhalb des Vorstands zusammen und schließlich mit Aktionären, die eine weitere Entwicklung der CEH und der Marke LIP nicht finanzieren wollten. Die französische Aktionärsgruppe von LIP meldete sich am 21. April 1976 mit einem Pressedossier zu Wort, in dem sie die Verantwortung für die abermaligen Schwierigkeiten des Unternehmens allein Claude Neuschwander anlasteten. Diesem warfen sie in verschiedenen Fällen eigenmächtiges Handeln vor. So sei die teure Entscheidung für die Werkstatt im Bereich der Uhrengehäuse im April 1974 auf sein Betreiben gefällt und der Verzicht auf die Produktion von „montres bon marché“ auf sein Betreiben beschlossen worden. Die Verkaufszah-
85 Rouaud, Christian: „Les LIP, l’imagination au pouvoir“, 2007, zum Zeitpunkt 1:58h.
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len der Uhrengehäuse seien jedoch unter den Erwartungen geblieben. Vor allem aber habe er es trotz mehrfacher eindringlicher Aufforderung versäumt, die Verkaufsprognosen und Produktionsziele für das Jahr 1976 den veränderten Bedingungen anzupassen.86 Die Protokolle der Verwaltungsratssitzungen belegen aber, dass diese Schritte im Gegenteil durchaus mit dem Verwaltungsrat abgesprochen waren. Sowohl die verschiedenen Stadien der Verhandlungen über den Quarzuhrenplan wurden hier behandelt, als auch die Eröffnung der „extrem kostspieligen Filialen“ in Belgien und den USA; diese kosteten zusammen eine Million FF und sind angesichts der in Amerika erwarteten Geschäfte keineswegs als teuer zu bezeichnen. Der Verzicht auf die Produktion billigerer Uhren war im gemeinsamen Interesse mit Ébauches SA und wurde von den schweizerischen Aktionären auch im Oktober 1975 noch als wichtiger Aspekt der zukünftigen Entwicklung der Marke LIP benannt.87 Allerdings sprachen die Aktionäre in ihrem Dossier auch Konflikte an, die bereits länger innerhalb des Vorstands und zwischen Neuschwander und der Aktionärsgruppe um Antoine Riboud schwelten. Zunächst entspannen sich diese im Laufe des Jahres 1975 zwischen Neuschwander und seinem Verkaufsleiter François Letrou (McKinsey). Während dieser seit dem Frühjahr anmahnte, dass die starke Konzentration auf die Design- und Quarzuhrenproduktion in der Öffentlichkeitsarbeit ein Fehler sei, betonte Neuschwander wiederholt, dass diese neben den neuen Uhrengehäusen im Prinzip die einzigen Uhren seien, die auch exportiert wurden. Verschärft wurden diese Konflikte, als die Verkäufe im Laufe des Sommers und Herbstes deutlich hinter den Erwartungen zurückblieben. Dieser Einbruch traf auch die übrige Branche, die CEH und ihre Marke LIP jedoch in einer besonders sensiblen Phase der Unternehmensentwicklung.88 In der Schweiz trafen die Verkaufseinbrüche die Branche ebenfalls hart und unerwartet.89 In der Franche-Comté sanken 1975 vor allem die Verkaufszahlen
86 Vgl. Groupe des Industriels français Actionnaires de LIP: „Pourquoi les promoteurs de la relance se voient-ils contraints de renoncer à leur tentative de sauvetage de LIP?“, 10 Seiten; ADD 45 J in Einarbeitung. 87 Vgl. den vom Verwaltungsrat genehmigten Budgetplan für 1976, 16. Januar 1976, ADD 45 J in Einarbeitung. 88 Die konkreten Verkaufszahlen sind aus den Verwaltungsratsprotokollen ersichtlich und aus Syndex: Rapport sur les comptes de 1975, S. 9. 89 Vgl. Allocution Présidentielle de M. Karl Obrecht à l’assemblée générale de l’ASUAG du 26 novembre 1975; ADD 45 J, in Einarbeitung.
140 | S ELBSTVERWALTUNG ZWISCHEN M ANAGEMENT UND »C OMMUNAUTÉ «
der großen Uhrenfabrikanten beträchtlich, während die der kleineren Hersteller noch relativ stabil blieben.90 Bei Ébauches in der Schweiz wurde auf die sinkenden Verkaufszahlen mit der Aufnahme von Krediten und einem Anpassungsplan reagiert, der für die Zukunft wieder steigende Verkäufe zum Ziel hatte. Bei LIP hingegen begannen ab diesem Zeitpunkt die Verhandlungen darüber, wie die Produktion zu bremsen und den weiter nach unten zu korrigierenden Verkaufsprognosen anzupassen sei. In den Verwaltungsratssitzungen verschärfte sich zunehmend der Ton. Finanzprobleme ergaben sich erstmals, als die bereits seit dem Juni angesichts der niedrigen Verkäufe anvisierte Aufnahme eines kurzfristigen Kredits bei Crédit Lyonnais am 13. Oktober abgelehnt wurde. Um diesen hatten Riboud und Letrou sich bemüht, letzterer war im September zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden ernannt worden. Für die Ablehnung waren Berechnungsfehler ausschlaggebend, die sich Letrou und Neuschwander nun gegenseitig anlasteten. Schließlich erreichte Neuschwander, dass Letrou am 24. November von seinem Posten als stellvertretender Vorstandsvorsitzender zurücktrat.91 Bereits seit Oktober war Claude Peyrot, ein weiterer Consultant von McKinsey und enger Vertrauter Antoine Ribouds mit einer internen Neubewertung der Vorräte und der Berechnungen über den Gesamtzustand des Betriebs beauftragt. Von einem Treffen mit ihm und Riboud im späten Oktober berichtet Neuschwander noch als herzlich und produktiv. Er sei mit Ribouds persönlichem Flugzeug in Dôle abgeholt und nach Nizza geflogen worden, wo alle drei am 22. und 23. Oktober die ersten Zwischenergebnisse von Peyrots Analyse diskutierten.92 Die Nachberechnungen führten jedoch dazu, dass Neuschwander noch mehrfach seine Umsatzprognosen für die Budgetplanung 1976 nach unten korrigieren musste. Der Budgetentwurf, den er in der Verwaltungsratssitzung am 12. Dezember 1975 präsentierte, sah einen Umsatz von 101 Mio. FF vor, sowie längerfristige neue Kredite und eine höhere Beteiligung der Aktionäre, insgesamt einen Kapitalbedarf von 14 Mio. FF. Nach heftigen Interventionen von Riboud und Renaud Gillet und äußerst skeptischen Stellungnahmen des Vertreters von Ébauches wurde dieser Entwurf abgelehnt. Auf die Frage von Riboud nach einer Lösung, die ohne weiteres Geld auskomme, antwortete Neuschwander, dass ein Alternativbudget mit
90 Vgl. die Zahlen der Chambre française de l’horlogerie, in Conseil Général du Doubs vom 18.10.1976: „Evolution du secteur industriel dans le Doubs“, Annexe 12, ADD 35 J 10. 91 Vgl. Protokoll der Verwaltungsratssitzung der SEHEM vom 12. Dezember 1975, ADD 45 J in Einarbeitung. 92 Lagadieu/Neuschwander: Ils ont tué Lip., S. III-7.
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91 Mio. FF Umsatz und einer Wochenarbeitszeit von 35 h berechnet worden sei, bei dem sich Verluste von 5 Mio. FF ergeben würden, gegenüber dem angestrebten ausgeglichenen Resultat in seinem Vorschlag mit 101 Mio. FF Umsatz, welchen er demnach weiterhin für den einzig vernünftigen hielt.93 Die Beteiligung mit neuem Kapital stieß bei sämtlichen Aktionären auf Unwillen: „Monsieur Renggli (Ébauches, J.B.) weist darauf hin, dass ein gegebener finanzieller Rahmen existiert und dass es in diesem Rahmen zu arbeiten gilt.“94 Eine vierköpfige interne Expertenkommission arbeitete einen Budgetplan aus, der nur noch einen Umsatz von 80 Mio. FF und Verluste von 2,7 Mio. FF vorsah, außerdem die Entlassung von 40 Personen in den Vorruhestand und die vollständige Entlassung von 120 weiteren Personen, was für Claude Neuschwander nicht akzeptabel gewesen wäre. Der Kompromissplan, der schließlich am 16. Januar vom Verwaltungsrat genehmigt wurde und keine Entlassungen beinhaltete, sah neues Kapital in Höhe von 9 Mio. FF vor. Die Entlassungen in den Vorruhestand sollten jedoch möglichst schnell durchgeführt werden und die durchschnittliche Wochenarbeitszeit über das Jahr hinweg bei 38h anstelle der bisherigen 42,5h liegen – mit dem entsprechenden Lohnverlust für die Beschäftigten.95 Die Banken von LIP lehnten Ende Januar die Beteiligung an den vorgesehenen 9 Mio. FF ab. Nachdem Staatspräsident Giscard am 31. Januar erklärte, LIP habe ebenso wie andere Unternehmen Zugang zu staatlichen Hilfen, gelang es Claude Neuschwander allerdings in Gegenwart seiner Aktionäre, mit dem Kabinettsdirektor des Premierministers und Beamten des CIASI (Comité interministeriel de l’aménagement des structures industrielles) eine Einigung über staatliche Hilfen zu erzielen und die Kapitalerhöhung zu vergrößern, worauf die CIASI-Beamten drängten. Die Aktionäre sollten sich demnach mit 5 Mio. FF anstelle der von ihnen vorgesehenen 2 Mio. beteiligen. Die Bereitstellung von 6 Mio. FF an Zuschüssen durch das CIASI sollte durch 7 Millionen FF an staatlichen Krediten ergänzt werden. Außerdem wurde die CEH auf ein ernstzunehmendes Engagement im Bereich des Quarzuhrenplans verpflichtet.96 Die Verkäufe, die in den beiden ersten Januarwochen noch etwa ein Viertel über den Erwartungen gelegen hatten, blieben nun dahinter zurück. Seitdem durch die Äußerungen des französischen Präsidenten und die anschließenden Verhandlungen die finanziel-
93 Vgl. Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 12. Dezember 1975, S. 1, ADD 45 J, in Einarbeitung. 94 Ebenda, S. 4. 95 Vgl. Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 16. Januar 1976 sowie Syndex: Rapport au comité d’entreprise de la CEH sur les comptes de 1975, S. 33. 96 Vgl. Lagadieu/Neuschwander: Ils ont tué Lip, S. III 39f.
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len Probleme von LIP öffentlich geworden waren, sank das Vertrauen der Fachhändler. In der siebten und achten Kalenderwoche, im Anschluss an Claude Neuschwanders Entlassung, blieben die Verkäufe sogar um 40 Prozent bzw. um mehr als die Hälfte hinter der Planung zurück.97 Die Entlassung des bisherigen Geschäftsführers vervollständigte offenbar den Vertrauensverlust. Am 11. Februar, noch bevor der am 8. Februar schriftlich zwischen Claude Neuschwander und Antoine Riboud vereinbarte Rücktritt Neuschwanders vom Verwaltungsrat bekannt gegeben werden konnte, erschien in Le Monde und Figaro eine Stellenanzeige, „Der Verwaltungsrat von LIP sucht einen Generaldirektor“98 Dieser wurde bald im Eigentümer einer Instrumentenbaufirma, Jean Sargeuil, gefunden, der für die drei Gesellschaften CEH, SPEMELIP und SEHEM im April 1976 Konkurs anmeldete. Bis dahin steigerten sich die Verluste im Uhrengeschäft. Die Gesamtverluste der CEH in den ersten vier Monaten 1976 betrugen 10 Mio. FF, und jede weitere Entwicklungsperspektive wurde gekappt. So beschloss der Verwaltungsrat im März auch, aus dem Projekt Quartzélec auszusteigen, für das bereits Staatshilfen beantragt worden waren.99 Claude Neuschwander, der wenige Tage vor seinem Rücktritt einen Vertrag mit DUGENA in Deutschland abgeschlossen hatte, der die Abnahme von 200.000 LIP-Uhren zusicherte, betonte den konjunkturellen Charakter der Probleme von LIP und die vorhandenen Perspektiven für die Zukunft.100 Die neue Geschäftsleitung aber widmete sich der Abwicklung. Am 5. April teilte Sargueil in einer außerordentlichen Sitzung des Betriebsausschusses mit, dass die Eigentümer den Betrieb einstellen wollten, am 8. April wiederholte er dies im Radio. Offiziell beschlossen wurde die Konkursanmeldung jedoch erst in der Verwaltungsratssitzung vom 12. April 1976. Jacques Chirac erklärte noch am selben Tag, dass LIP Hilfen erhalten habe, die weit über die für den Rest der Branche hinausgegangen seien, und schloss jede weitere Staatshilfe aus. Das Ende für LIP war besiegelt.101 Es lässt sich also schließen: Mit der Uhrenindustrie hatte sich eine solide Gegnerschaft entwickelt, Konflikte im Vorstand wurden schnell von solchen mit
97
Vgl. Syndex: rapport sur les comptes de 1975, S. 35.
98
Vgl. die Stellenanzeige in FGM 1 B 577. Vgl. Vereinbarung zwischen Antoine Ri-
99
Vgl. Syndex: rapport sur les comptes de 1975, S. 41.
boud und Claude Neuschwander vom 8. Februar 1976, ADD 45 J in Einarbeitung. 100 Vgl. Interview des Verfassers mit Claude Neuschwander vom 24. Juni 2014, 3.14min. 101 Pressekonferenz von Jacques Chirac am 12. April 1976, zit. nach der von Michel Jeanningros produzierten Zeitleiste „LIP 76 en express ou la deuxième affaire Lip“, BDIC F Δ rés. 702/1.
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den Aktionären gefolgt, und diese beschlossen, über ihre bisherigen finanziellen Verpflichtungen nicht hinausgehen zu wollen. Die Aktionäre weigerten sich, den konjunkturellen Schwierigkeiten mit entsprechenden Geldmitteln und Entwicklungsperspektiven zu begegnen. Die konjunkturellen Probleme in ihren „eigenen“ Betrieben Ébauches und BSN Danone dürften zu dieser Entscheidung beigetragen haben. Die vorübergehenden Verkaufsprobleme bei LIP wurden durch die Aktionäre noch befeuert, die mit der Entlassung Neuschwanders die Gerüchteküche anheizten und schließlich vorschnell die Konkursanmeldung bekanntgaben. Auch auf ein späteres Angebot der Konkursverwalter, mit verhältnismäßig geringem Kapitalaufwand den Weiterbetrieb bis Ende des Jahres mit reduzierter Personenzahl zu garantieren, lehnten diese ab. Wie ein Vertreter des Handelsgerichts gegenüber der Belegschaft zusammenfasste: „Diese Aktionäre haben erklärt, die Investition neuen Kapitals in die drei von ihnen kontrollierten Firmen schlicht und einfach auszuschlagen.“102 Zu diesem brüsken Unwillen der Aktionäre gesellte sich eine staatliche Komplizenschaft zumindest insofern, als nach den Vereinbarungen mit dem CIASI vom Februar 1976 keine erkennbaren Bemühungen sichtbar wurden, die Aktionäre an ihre dem Staat gegenüber eingegangenen Verpflichtungen zu erinnern. Nicht nur hatte LIP im Februar 1976 neue Gelder durch das CIASI und im Rahmen des Quarzuhrenplans zugesichert bekommen. Auch hatte es bis dahin bereits eine Unterstützung durch langfristige Kredite in Höhe von 15 Mio. FF erhalten.103 LIP fallen zu lassen, bedeutete auch, diese Gelder verfallen zu lassen. Es ist also durchaus richtig, in Bezug auf LIP wie Claude Neuschwander von einer „mise à mort“ zu sprechen, unabhängig davon, welche intimen Absprachen es diesbezüglich gegeben haben mag.
2.5 F AZIT Das Ende von LIP war politisch gemacht. Zu unterschiedlich waren die Interessen der beteiligten Unternehmer. Zu gleichgültig, zum Schluss feindlich, waren sie gegenüber einer langfristigen Weiterentwicklung des von ihnen kontrollierten Unternehmens eingestellt. Darüber hinaus jedoch sind grundsätzliche Vorstellungen über die Zukunft der Uhrenbranche deutlich geworden, bei denen die Trennlinien manchmal quer zu den vordergründig geteilten oder nicht geteilten Interessen lagen. Besonders der Einzug der Quarztechnologie in die Uhrenher-
102 Protokoll des Betriebsausschusses der CEH vom 10. Mai 1976, zit. nach Syndex: Rapport sur les comptes de 1975, S. 37. 103 Der Fonds National de l’Emploi war 1963 gegründet worden.
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stellung fungierte als Katalysator unterschiedlicher Vorstellungen über die Zukunft der Branche. Neuschwander, der die Unternehmer des Haut-Doubs im Interview als rückständig beschrieb, konnte schlecht deren Bedürfnis verstehen, als Eigentümer verhältnismäßig kleiner Betriebe an deren jeweiliger Spezialisierung im Bereich mechanischer Uhren festzuhalten. Für sie dagegen war die Einführung der Quarzuhren vor allem eine Frage der Machtverhältnisse in einer Branche, die sie ungern von den großen Uhrenherstellern und mit ihnen verbündeten Elektronikkonzernen dominiert sehen wollten. Wie sich die Beschäfigten hierzu verhielten, wird in Kapitel 4 untersucht werden. Die Expertise schließlich, derer sich Neuschwander und die Unternehmergruppe um Antoine Riboud einerseits sowie die CFDT andererseits bedienten, wies einige Schnittmengen auf. Im Arbeitskampf hatten die Beschäftigten selbst ganz wesentlich zur Offenlegung der ökonomischen Situation bei LIP beigetragen. Die anfängliche Skandalisierung wurde in der Darstellung der CFDT durch eine größere Nüchternheit und durch prognostische Expertise gespeist, die ihre Beratungsfirma Syndex beispielsweise aus Zahlen über den „weltweiten“ Uhrenmarkt, so ihre Wortwahl, generierte. Dasselbe taten auf ihre Art die von Riboud hinzugezogenen Berater von McKinsey, die schließlich im Unternehmensvorstand der CEH präsent waren – ein Grund, warum die CGT gegenüber der von der CFDT vorangetriebenen Gegenexpertise skeptisch war. Und sowohl für die Geschäftsführung als auch für die Eigentümer wurde unter dem Schlagwort der „Information“ vor allem die Wichtigkeit zusammengefasst, das Wissen der Beschäftigten selbst für den erfolgreichen Betrieb zu mobilisieren. Dass für Neuschwander hierbei gelegentlich der soziale Aspekt im Vordergrund stand, brachte ihn in Konflikt mit der Aktionärsgruppe um Antoine Riboud. Im späteren Verlauf der Arbeit wird zu diskutieren sein, wie sich die verschiedenen Formen der Expertise weiterentwickelten und welche Rolle sie schließlich in den Genossenschaftsgründungen spielten.
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Abbildung 3: Ébauches in der Darstellung der CFDT
FGM: L’affaire Lip, Pressedossier vom 8. August 1973, S. 18
Abbildung 4 SEHEM (10 Mio. FF) Ébauches SA (3,4 Mio. FF)
„Groupe des Industriels français“ (5 Mio. FF)
Banken: (1,6 Mio. FF) BNP, Société Générale, Crédit Lyonnais
Ébauches SA 10,2 Mio. FF (34 %)
Arbel 19,8 Mio. FF (66%)
Compagnie Européenne d'Horlogerie (CEH) (30 Mio. FF)
70.000 FF
16.000 FF
SPEMELIP (100.000 FF)
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Abbildung 5: Wiederbeginn der Arbeit in Ornans
Foto: Bernard Faille, Archives Municipales de Besançon
Abbildung 6: Wiederbeginn der Arbeit in Palente
Foto: Privatbestand Neuschwander, ADD in Einarbeitung
3. Arbeiten und Leben, 1974-1976
Im letzten Kapitel ist deutlich geworden, dass die neuen französischen Aktionäre LIP auch als Modellprojekt betrachteten, um über eine veränderte Arbeitsorganisation und eine spezifische Informationspolitik im Betrieb die gesellschaftliche Legitimität der Unternehmerschaft zu erneuern. Diese war im Zuge zahlreicher betrieblicher Auseinandersetzungen seit 1968 geschwächt worden. Zuletzt hatte der Arbeitskampf bei LIP selbst deutlich gemacht, dass Betriebsschließungen zunehmend schwieriger durchzusetzen waren. Ob und wie sich die Absichten der neuen Aktionäre von LIP und der Geschäftsleitung unter Claude Neuschwander in den alltäglichen Arbeits- und Lebensverhältnissen der Arbeiterinnen und Angestellten von LIP bemerkbar machten, ist Gegenstand dieses Kapitels. Die Analyse konzentriert sich in dieser Frage auf den Wiederbeginn der Arbeit 1974. Dieser fand für beinahe sämtliche Beschäftigten der Compagnie Européenne de l’Horlogerie (CEH) nicht am alten Arbeitsplatz statt – auch wenn die meisten diesen später wieder einnahmen –, sondern bei verschiedenen Fortbildungsträgern. Für die Geschäftsleitung sollten die dort angebotenen Kurse die Funktion erfüllen, die Beschäftigten besser auf ihre jeweilige Arbeit – z.B. in der neuen Werkstatt für Uhrengehäuse – vorzubereiten. Sie ermöglichten es, den Betrieb zunächst mit einem kleinen Teil der Belegschaft zu beginnen und entlasteten das Unternehmen um die entsprechenden Lohnkosten. Für die Beschäftigten federten die Kurse den Lohnverlust bis zu ihrer jeweiligen Einstellung ab. Nach Status- und Berufsgruppen im Unternehmen jeweils unterschiedlichen Kursen zugeteilt, wurden diese bei den Teilnehmern zum Anlass für Reflexionen. Die Bildungsbeilage von Le Monde berichtete ausführlich über die Fortbildungsmaßnahmen bei LIP, vor Ort wurden im durch die Vereinbarung von Dôle vorgesehenen Beschäftigungsausschuss Diskussionen über die Gestaltung der Kurse geführt. Das zumindest kurzfristig wieder zusammengetretene Aktionskomitee kritisierte im Juni 1974 die Hierarchisierung der Beschäftigten nach den
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alten Statusgruppen. Diese bezwecke die Zerstörung der im Konflikt gewonnenen Gleichheit und kollektiven Solidarität.1 Dass diese aber fortwirkte, davon zeugen einige der Auswertungssitzungen, die mit den Kursteilnehmern geführt wurden. Diese sprachen auch über ihr verändertes Selbstbewusstsein sowie über ihre Lernerfahrungen im Arbeitskampf. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werden anhand dieser Auswertungen, des Datenmaterials der Arbeitsbehörden und einer Befragungsstudie, die von der Geschäftsleitung in Auftrag gegeben wurde, die Sozialstruktur des Unternehmens und die Erwartungen der Geschäftsleitung an berufliche Entwicklungsperspektiven untersucht. Im zweiten Abschnitt wird untersucht, wie die Gewerkschaften und schließlich die Beschäftigten selbst die Fortbildungen und den Wiederbeginn der Arbeit diskutierten. Im letzten Abschnitt wird dann im Zusammenhang mit der abermaligen Konkursanmeldung von 1976 die Verhandlung der Arbeitslosigkeit durch die verschiedenen Beteiligten analysiert. Die Arbeitslosigkeit war als neues Feld politischer Organisierung eröffnet worden, sie hatte 1973 trotz des Kampfes um den Erhalt von Arbeitsplätzen eine weit weniger prominente Rolle gespielt. Die ansteigende Zahl der Erwerbslosen in Besançon, die beginnenden Probleme der Uhrenbranche und die Zunahme von Betriebsschließungen im ganzen Land wirkten hier zusammen.2 Die Fortbildungskurse hatten die Zeit jenseits des gewöhnlichen Arbeitsplatzes für manche der Beschäftigten auf über anderthalb Jahre ausgedehnt – von Juni 1973 bis März 1975. Ab Mai 1976 schließlich waren die LIP-Beschäftigten erneut arbeitslos. In den Auseinandersetzungen mit den Arbeitsbehörden ab 1976, die aus deren Unterlagen nachvollziehbar sind, wurde immer neu der Widerspruch zwischen kollektiver Konfliktfähigkeit der Beschäftigten und individuellen Vermittlungsbemühungen der Behörden zum Thema. Daraus, wie die Arbeitslosigkeit von den Beteiligten verhandelt wurde, lassen sich Rückschlüsse auf die Normalität im Unternehmen LIP, den Stellenwert der Arbeit im Leben der jeweiligen Person, Karriereerwartungen für sich selbst und die eigenen Kinder ziehen. „Arbeiten und Leben“ ist dieses Kapitel betitelt, um in einem ersten Schritt diese Lebensrealitäten anhand des Wiederbeginns der Arbeit und der Fortbildungen herauszuarbeiten. Der Titel beinhaltet aber auch Anklänge an das Kam-
1
Vgl. Comité d’action: Les paroissiens de Palente hiérarchisés?, 10. Juni 1974, BDIC F Δ rés. 702/5.
2
So übertraf die Zahl der im Département Doubs neu registrierten Arbeitssuchenden die der gemeldeten freien Stellen zwischen Herbst 1974 und Herbst 1976 bei weitem, häufig betrug sie das Doppelte, vgl. die Unterlagen der geschlossenen Plenarsitzung des Conseil Général du Doubs vom 18. Oktober 1976, Anhang 1, ADD 35 J 10.
A RBEITEN UND L EBEN , 1974-1976 | 149
pagnenmotto der CFDT von 1976, dieses firmierte bei LIP besonders prominent. Unter dem Slogan „Vivre et travailler au pays“ kämpfte die CFDT für den Arbeitsplatzerhalt jenseits der großen Ballungsräume. „Vivre et travailler autrement“ war wenig später ein Leitmotiv bei den Genossenschaftsgründungen. Entsprechend wird in einem zweiten Schritt auch die politische Verhandlung der alltäglichen Lebensverhältnisse im Betrieb selbst thematisiert. Hierbei steht die Untersuchung dieses Alltags im Vordergrund, der durch die politischen Diskussionen und ihre schriftlichen Spuren erst sichtbar gemacht wurde. Diese Quellen ermöglichen zugleich Antworten auf die Frage, ob und auf welche Weise Kritik an diesen Verhältnissen nicht nur in politischen Organisationen, sondern im Betrieb selbst und den Fortbildungen geäußert wurde. Wie unterschieden sich die Perspektiven der Beschäftigten von denen ihrer Gewerkschaften? Wer war wie in der Lage, seine spezifische Perspektive hörbar zu machen?
3.1 Z URÜCK
IN DEN
B ETRIEB ,
ZURÜCK IN DIE
S CHULE ?
„Nach der Vereinbarung von Dôle (…) hatte ich wieder eine Arbeit, ja; aber die Freiheit, der Traum verschwanden; die Rückkehr war nicht für alle.“3
Vom Wiederbeginn der Arbeit könnten die Bilder nicht unterschiedlicher sein. Die Pressefotos von Bernard Faille, die dieser für den Est Républicain am 19. November 1973 in Ornans machte, zeigen Männer, unmittelbar nach der Begrüßungsrunde durch den neuen Unternehmer, den Bürgermeister und einen CGTRepräsentanten schon wieder an der Arbeit. Nach dem Einstempeln richten die Männer ihre großen Maschinen ein, wässern, schmieren, drehen an großen Rädern. Alle scheinen in Kürze zur alten Normalität und zu tief eingespielten Arbeitsroutinen zurückgekehrt zu sein. Ganz anders dagegen sind die Bilder aus Palente vom 11. März 1974: Eine Gruppe Arbeiterinnen und Arbeiter wartet in der Kälte der frühen Morgenstunden vor dem Fabriktor, der neue Geschäftsführer Claude Neuschwander erwartet sie am noch geschlossenen Tor, eine Hand in der Tasche der Anzughose, ein Lächeln auf den Lippen. Die Freude ist in den Gesichtern zu erkennen, von Arbeit aber ist auf dem Foto keine Spur.4 Die Grö-
3
„Uhrenverkäuferin, 40 Jahre alt, 20 Jahre bei LIP“, in Bondu, Dominique: De l’usine à la communauté, l’institution du lien social dans le monde de l’usine, unveröffentlichte Doktorarbeit, Paris 1981, S. 482.
4
Zum Wiederbeginn der Arbeit in Ornans gibt es 58 Fotos von Bernard Faille: memoirevive.besancon.fr, Signatur Ph50696-50752, abgerufen am 3. August 2016.
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ße der Gruppe ist überschaubar: 89 Personen wurden im März 1974 wieder eingestellt, die übrigen der 830 Beschäftigten der CEH folgten nach drei-, sechsoder neunmonatigen Fortbildungen bis zum März 1975. Die obenstehenden Worte einer Uhrenverkäuferin verdeutlichen die fortbestehenden Ängste und die Unsicherheit, die hiermit verbunden waren. Was Gaston Bordet in einem Artikel unter Pseudonym – Léon Vinzier – als „die positivste Neuerung“ des ersten LIPKonflikts bezeichnete – ihn mit einer Reihe von Fortbildungsmaßnahmen zu beenden –, beinhaltete für viele neben einem ersten Vorgeschmack auf das, was Arbeitslosigkeit bedeutete, zunächst eine Rückkehr auf die Schulbank.5 Für die Arbeitsbehörden und die verschiedenen Träger war die Organisation dieser Fortbildungen dabei eine Herausforderung logistischer, aber auch pädagogischer Art. Beteiligt waren die staatliche Schulbehörde, die auch Räume in Berufsschulen bereitstellte, die öffentliche Agentur für berufliche Weiterbildung AFPA (Agence pour la formation professionelle des adultes) und das private Institut CESI (Centre d'études supérieures industrielles), dessen Beirat staatliche, Unternehmens- und Gewerkschaftsvertreter angehörten. Dieses noch heute bestehende Institut war 1958 von Renault und vier anderen Industriekonzernen gegründet worden, um gelernte Techniker aus den Betrieben zu Ingenieuren fortzubilden. Auch heute wirbt das CESI mit dem Versprechen sozialen Aufstiegs.6 Viele der beteiligten Lehrerinnen und Ausbilder vor allem in den Berufsschulen hatten keine Erfahrung mit Erwachsenengruppen. Zusätzlich erschwert wurde das Programm dadurch, dass die Teilnehmer nicht aus eigener Motivation an den Kursen teilnahmen, sondern in erster Linie, um Anspruch auf Lohnersatzleistungen zu erhalten. Die Leistungen, in der Höhe der jeweiligen vorherigen Löhne aus dem staatlichen „Fonds National de l’Emploi“ (FNE) bezahlt, stellten einen großen finanziellen Beitrag zur Beilegung des LIP-Konflikts dar. Le Monde de l’éducation hinterfragte die Motivation der „Schüler“: „In einer Anfang des Jahres durchgeführten Umfrage bezeichneten lediglich 69 von 850 ihre Teilnahme als freiwillig. 229 von 562 würden der Teilnahme an psychotechnischen Eignungstests zustimmen, um die Zuordnung der Teilnehmer zu erleichtern. Und wieder einige erklärten gegenüber dem Arbeitsberater alles Mögliche. So hat ein Fahrer darum gebeten Maschineschreiben zu lernen; er wurde beim Wort genommen und in einen Kurs für Sekretärinnen eingeschrieben.“7 Die einzigen, die enthusiastisch bereits seit November 1973 von Fortbildungsmöglichkeiten Ge-
5
Vinzier, Léon: „L’expérience des Lip“, Esprit 10 (1974), S. 470.
6
Vgl. Uhalde, Marc: L’utopie au défi du marché – 50 ans de développement du CESI, Paris 2010.
7
Le Monde de l’Éducation, Januar 1975, S. 3.
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brauch gemacht hatten, waren 86 leitende Angestellte, die an der Universität in Besançon einen Intensivsprachkurs in Englisch besucht hatten.8 Auf Drängen der Gewerkschaften begannen die Fortbildungen auch für die sofort im März Einzustellenden mit einem allgemeinbildenden Kurs über sechs Wochen. 600 Kursteilnehmer zwischen 20 und 60 Jahren nahmen hieran an 15 Stunden in der Woche teil. Diese Kurse waren zusammen mit dem Beschäftigungsausschuss aus Vertretern der Geschäftsleitung und des Betriebsausschusses von LIP vorbereitet worden, die Lehrenden hatten vorher von der Bildungsgewerkschaft der CFDT organisierte Kurzlehrgänge durchlaufen.9 Die CGT zeigte sich grundsätzlich skeptisch gegenüber den Fortbildungen. Dies betraf einerseits deren Zielsetzung, die sich an den unternehmerischen Plänen für das zukünftige Unternehmen orientierte, und andererseits deren Finanzierung. Diese wurde von ihr, aber auch von einzelnen Teilnehmern als Missbrauch öffentlicher Gelder bezeichnet: Die Aufgabe des Unternehmens, für die Fortbildung der eigenen Arbeitskräfte aufzukommen, werde nun vom FNE übernommen.10 Die CGT drängte besonders auf die allgemeinbildenden Aspekte, und die Bildungsgewerkschaft in der CFDT (SGEN – Syndicat Général de l’Éducation Nationale) versuchte von Beginn an, die Kurse auch aktiv mitzugestalten. Folgerichtig beschrieb Gaston Bordet, selber Mitglied der SGEN, die Kurse für ihre Leiter als am meisten Gewinn bringend. In Bezug auf den behördlichen Umgang kritisierte er jedoch, dass sämtliche Lerninhalte jenseits des unmittelbar betrieblich Verwertbaren drastisch zusammengestrichen wurden. Geschichte, Wirtschaftsgeographie, soziologischer, politologischer und staatsbürgerlicher Unterricht wurden auf zwei Stunden in der Woche gekürzt, angewandte Mathematik hingegen auf sechs Stunden ausgeweitet.11 Für die 140 ersten Wiedereinzustellenden folgte auf die allgemeinbildenden Kurse eine Unterrichtung unter dem Titel „Kenntnis der Uhr“. Die Übrigen durchliefen im Frühjahr, Sommer und Herbst berufliche und technische Fortbildungen an verschiedenen Orten in der Stadt. 200 angelernte Arbeiterinnen wurden bei der AFPA in Werkstätten geschult, deren Räume die Stadtverwaltung bereitstellte. Die Schulbehörde übernahm in mehreren Berufsschulen die Wei-
8
Vgl. die Korrespondenz der Arbeitsbehörden in ADD 2032 W 336.
9
Vgl. Vinzier: „L’expérience des Lip“, S. 466.
10 Mergez: „Insgesamt [...] sage ich, dass dies eine Verschwendung von Geldern des FNE war. Mit derselben Summe Geld hätte man viel machen können. Es hat keiner das Recht, Geld zu verschwenden“, Rencontre CESI-LIP, 5 décembre 1974, BDIC F Δ rés. 702/5. 11 Vinzier: „L’expérience des Lip“, S. 467.
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terbildung in mechanischen Berufen. In allen diesen Kursen gab es teilweise Ausbilder aus dem Betrieb LIP selbst und teilweise aus den jeweiligen Bildungseinrichtungen. Und schließlich richtete sich das Angebot des CESI unter dem Titel „perfectionnement encadrement“ an die leitenden Angestellten des Unternehmens. Auf die Bedürfnisse des Unternehmens zugeschnitten, hatten die Kurse für die Unternehmensleitung eine besondere Funktion, die Le Monde de l’éducation anschaulich erfasste, nämlich die Beschäftigten auf neue Formen der Arbeitsorganisation vorzubereiten: „Die Fließarbeit wird einer Überprüfung unterzogen, semi-autonome Arbeitsgruppen gegründet werden, der angelernte Arbeiter wird tatsächlich polyvalent werden und die Meister zu ‚agents de changement‘.“12 Bereits in der Vorbereitungsphase wurde diese Zielsetzung von den Streikführern problematisiert. Charles Piaget unterstrich vor dem Beginn der Maßnahmen, dass diese für den Großteil ihrer Teilnehmer schlicht Wartezeit sein würden. Die Veränderungen in Bezug auf den neuen Betrieb, die sich für einige ergeben würden, würden nicht mit einer größeren Qualifikation einhergehen. Die Vorstellungen der neuen Unternehmer in Bezug auf die Arbeitsorganisation hätten ihre Grenzen. „Möglicherweise gibt man zehn Arbeiterinnen eine bestimmte Menge Arbeit, die sie so erledigen können, wie sie denken. Sicher bedeutet dies, den Arbeitern mehr Verantwortung zu geben, aber das wird schnell unzureichend sein. Denn das, was wir wollen, ist eine andere Art von Arbeit.“13 Deutlichster Ausdruck des Bestrebens, die Fortbildungen möglichst eng auf die Pläne der Unternehmensleitung zuzuschneiden, war das Programmangebot des CESI. Diesem hätten sowohl Claude Neuschwander als auch die CFDT gerne noch mehr Kurse überantwortet, was die staatlichen Stellen jedoch für zu teuer befanden. Die Kurse für die leitenden Angestellten wurden in zwei aufeinander aufbauenden Semestern, im Frühjahr und im Herbst, durchgeführt.14 Über die gemeinsame Auswertung das Herbstsemesters mit den Teilnehmern liegt der Bericht eines der Kursleiter vor. Von den Teilnehmern wurde dieses Semester demnach wesentlich positiver bewertet als das Frühjahrssemester. Allerdings machte sich die Länge des Konfliktes mit größer werdenden Ängsten und dem Gefühl von Überflüssigkeit bemerkbar, als zunehmend größere Teile der übrigen Belegschaft bereits wieder im Unternehmen eingestellt waren. Am 20. September kam es deswegen offenbar zum Versuch einiger Teilnehmer, die Gruppe
12 Le Monde de l’Éducation, Januar 1975, S. 4. 13 Zit. in Libération, 7. Februar 1974. 14 Vgl. Préfol, Michel: „La formation continue à Lip“, Économie et Humanisme 225 (1975).
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zum Boykott des weiteren Kursangebots zu bewegen. Nach der Zusammenfassung seines Leiters wurde der Kurs jedoch durch eine anschließende ausführliche Neudiskussion der Ziele und Inhalte erst zu einer eindrücklichen Lernerfahrung aller Beteiligten. Zitate von Teilnehmern belegen dies: „Mit dem zweiten Semester habe ich mir die Zeit genommen zu leben, zu leben, zu denken, und mich und die anderen kennenzulernen“, sagte einer. Ein anderer äußerte: „Die Fortbildung ist vor allem eine Lehre im Gruppenleben... ein Mittel, das uns erlaubt zu kommunizieren, indem wir die gesamte Schwierigkeit entdecken, die die Menschen haben, untereinander in Kontakt zu kommen, eine Botschaft zu übermitteln und sich gegenüber anderen verständlich zu machen.“15 Im weiteren Verlauf des Auswertungspapiers zeigt sich die Offenheit des CESI für die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Betriebsbesetzung und das Bestreben, mit angepassten Methoden eigene Lernaktivitäten anzuregen. Hierzu gehörten Simulationsspiele sowie Bildungsreisen zum (damals noch fast neuen) Pariser Großmarkt in Rungis und nach Grenoble, wo der Umgang der Stadtverwaltung mit der Erwachsenenbildung besichtigt werden sollte. In einem Gespräch zwischen einigen Belegschaftsmitgliedern von LIP und dem CESI vom 5. Dezember 1974 bestätigt sich dieser Eindruck. Die Reflexion über die Bedeutung der Fortbildungen wurde dabei weit über die Kreise aus CESI und LIP hinausgetragen. Sie spielte auch in den Gewerkschaften eine Rolle, nachdem bereits auf dem Kolloquium zur Beschäftigungsproblematik im Dezember 1973 ein Themenblock hierzu stattgefunden hatte. Zusammen mit der Union Locale der CFDT hatten Belegschaftsvertreter von LIP mit den CFDTDelegierten der Bankenbranche ein Treffen organisiert, auf dem sie von ihren Erfahrungen mit den Weiterbildungen berichteten.16 Zum Abschluss dieses Treffens erläuterte der Kursleiter des CESI die bisher geleistete Arbeit in den Kursen: „Im Arbeitskampf habt ihr gelebt. Aber hier leben wir mit einem Auge auf uns selbst. Wir lernen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, unsere Einstellung zu überdenken, Konflikte gemeinsam zu bearbeiten.“17 In Bezug auf die weiter anstehende Arbeit des CESI in Bezug auf LIP erklärte er, dass die Geschäftsleitung mittelfristig eine Stelle einzurichten gedenke, in der die Beschäftigten ihre individuellen Karrierevorstellungen diskutieren und sich über diesbezügliche Möglichkeiten informieren könnten: „Dies hilft zu vermeiden, dass die Leute 40 Jahre bei derselben Arbeit in eine Sklerose geraten.“18 Ab dem Januar 1975 war
15 Ebenda. 16 Rencontre CESI-LIP 5 décembre 1974, BDIC F Δ rés. 702/5. 17 Ebenda. 18 Ebenda.
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das CESI zunächst mit einer Befragungsstudie beauftragt, die unter anderem für die langfristige Einrichtung semi-autonomer Arbeitsgruppen als Vorarbeit dienen sollte.19 Dem Flexibilitätsimperativ der Arbeitgeberverbände wollten die Fortbilder des CESI und die neue Geschäftsleitung also ein Flexibilitätsangebot gegenüberstellen, das auf sozialen Aufstieg und unternehmensinterne berufliche Entwicklung zielte. Um deren mangelnde Realisierung wusste die Geschäftsleitung. Von der „Sklerose“ waren insbesondere Frauen betroffen, wie die Zahlen der Arbeitsbehörden bestätigen. Von der Gruppe der ersten 250 Personen, die sich im Mai 1976 nach der abermaligen Konkursanmeldung bei der nationalen Arbeitsagentur (ANPE – Agence nationale pour l’emploi) einschrieben, erstellte diese ein Sozialprofil, das für die weitere Bearbeitung als Orientierungshilfe dienen sollte.20 208 Personen aus dieser Gruppe wohnten demnach in der Stadt, 42 außerhalb. Die Gruppe sei, so die Bearbeiter, durchaus als repräsentativ für das gesamte Unternehmen anzusehen, weil sie nach dem Zufallsprinzip zustande gekommen war. Bei der Analyse der wiedergegebenen Tabellen fällt auf, dass vor allem in der Altersgruppe der über 40-Jährigen die OS-Gruppen beinahe ausschließlich aus Frauen bestehen (elf Frauen von 13 OS2, 41 Frauen von 43 OS3), während bei den Jüngeren noch mehr Männer in den AngelerntenLohngruppen zu finden sind (bei den unter 25-Jährigen 7 von 15 OS3, 4 von 13 OS2). Während Frauen, die einmal als OS im Unternehmen eingestellt wurden, dies überwiegend blieben, wurde bei Männern offensichtlich häufiger eine durch ihre Arbeit erworbene Qualifikation anerkannt, die ihnen eine höhere Lohneinstufung ermöglichte. Als „Polyvalenz“ gingen diese Formen der Qualifikation in die Untersuchung des CESI bei LIP ein. Auch eine Liste der ANPE mit den zwischen dem 1. und 15. Oktober 1974 wieder bei LIP angestellten Personen bestätigt den Eindruck und vermittelt überdies einen Einblick in die Wohnortverteilung der LIP-Beschäftigten. Von 52 Personen sind hier die Daten vollständig.21 Im Durchschnitt waren diese Personen 32, die beiden ältesten 44 Jahre alt. 37 der 52 waren Frauen, was damit zusammenhängt, dass mindestens 26 dieser Wiedereinstellungen als „OS“ arbeiteten, einige wurden als Assistentinnen oder Büroangestellte geführt. Ebenfalls 37 der 52 lebten in der Stadt, die Übrigen im
19 CESI: Plan d’intervention pour le changement et le développement de la C.E.H., enquête diagnostic janvier 1975-Mai 1975, BDIC F Δ rés. 702/6. 20 Vgl. das ANPE-Dossier „Licenciements CEH“, Tabellen 1 bis 3 im Anhang, ADD 2032 W 335. 21 Vgl. DRTMO: Reclassement et réembauchage des ex-salariés Lip; Liste des réembauches CEH 1-15 Octobre 1974, ADD 2032 W 339.
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Umland. Eine gewisse Häufung gab es in Besançon um den östlichen Boulevard Léon Blum und die Rue des Cras. Zwölf der 52 wohnten in dieser Gegend, die jedoch über „Palente“ im engeren Sinne bereits hinausreicht. Die meisten der Gebäude dort sind seit den 1950er Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus entstanden.22 25 Personen wohnten im übrigen Stadtgebiet, 15 im Umland. Dies spricht dafür, dass der Stadtteil Palente lediglich für eine – wenn auch nicht kleine – Minderheit der LIP-Angestellten ihr Zuhause war. Palente war mit seiner Grundschule, seiner Kirchengemeinde und seinem Sportplatz sicher auch der Lebensmittelpunkt für viele von ihnen. Die Mehrheit der hier aufgeführten LIPBeschäftigten aber wohnte anderswo in der Stadt oder sogar im Umland. Dies erklärt die Wichtigkeit der Busse, die die Geschäftsleitung für die Anreise der Arbeiterinnen bereitstellte. Die beiden bestehenden Routen zur Fabrik wurden unter Claude Neuschwander wieder eingeführt. Besonders für die Frauen war dies wichtig, die in den 1970er Jahren seltener einen Führerschein und Zugang zu Mofas oder Autos hatten als die Männer.23 Von Januar bis Mai 1975 unternahm das CESI schließlich im Auftrag der Geschäftsführung unter Claude Neuschwander seine Befragungsstudie im Betrieb.24 In der Studie sollten die Lage und Bedürfnisse der Arbeiterinnen, Meister, Angestellten und der Vorstandmitglieder ermittelt und in Bezug auf eine zukünftige Umgestaltung der unternehmensinternen Hierarchien und Arbeitsabläufe nutzbar gemacht werden. Hierzu wurden zunächst Treffen mit der Geschäftsleitung, dem Betriebsausschuss und den Gewerkschaften organisiert. In der Folge wurde in 72 Einzelinterviews und mehreren Gruppengesprächen eine möglichst repräsentative Untersuchung durchgeführt, die sämtliche Abteilungen und Statusgruppen im Betrieb umfassen sollte. Der 112 Seiten starke Bericht über diese Untersuchung fasste die Ergebnisse der geführten Gespräche zusammen. Dabei nahm er die Probleme und Forderungen der Beschäftigten auf und bündelte diese in Kategorien, die mit den Vorgaben der Geschäftsleitung und den eigenen Ansichten des CESI über die mögliche Zukunft des Unternehmens eng einhergingen. Zur besseren Information der Geschäftsleitung endeten die
22 Vgl. zur Bebauungsstruktur des Stadtviertels auch Divo, Jean: L’affaire Lip et les catholiques de Franche-Comté: Besançon 17 Avril 1972 - 29 janvier 1974, Bière (CH) 2003. 23 „Giraud hatte vorgehabt, die Autobusse abzuschaffen. Das hätte den natürlichen Abgang von 150 bis 200 Personen zur Folge gehabt, vor allem von Frauen.“, Piton: Anders Leben, S. 285. 24 Vgl. CESI: Plan d’intervention pour le changement et le développement de la C.E.H., enquête diagnostic janvier 1975-Mai 1975, BDIC F Δ rés. 702/6.
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Abschnitte über die „OS Uhrenfertigung“, „OS andere Bereiche“, „OP“, „Angestellte (employées)“, „Techniker“, „Meister“ und „leitende Angestellte (cadres)“ jeweils mit deren „allgemeinen Forderungen“. Diese wurden ab der Ebene der Meister nicht mehr als Forderungen, sondern als Vorstellungen zur Zukunft des Unternehmens präsentiert. Dies entsprach der vom CESI und der Geschäftsleitung geteilten Absicht, besonders diese Beschäftigtengruppen enger in die Unternehmensentwicklung einzubeziehen. Die Themenbereiche „Organisation“, „Information“ sowie „Hierarchie und Personalführung“ zogen sich als Sammelkategorien durch die Erhebung. In ihnen sollte unter anderem erfasst werden, ob die Beschäftigten mit der neuen Informationspolitik der Geschäftsleitung zufrieden waren und welche hauptsächlichen Verbesserungen im alltäglichen Arbeitsablauf sie sich erhofften. Als Hauptforderungen der OS in der Uhrenfertigung kristallisierte die CESIStudie heraus, dass die Arbeitszeit dringend auf 40 Stunden reduziert werden müsse. Dies entsprach den gewerkschaftlichen Forderungen im Betrieb. Zwar war kein einziger Gewerkschafter unter den Befragten, vermutlich hatten sich diese aber gemeinsam auf die Befragung vorbereitet. Einen Verzicht auf das Ausstempeln am Nachmittag – bereits in einer Werkstatt versuchsweise realisiert – wünschten sich die Beschäftigten, die außerdem die Forderung nach einem Rentenalter von 55 für die Frauen und von 60 Jahren für die Männer vorbrachten. Auf nationaler Ebene wurde diese Forderung von der CGT geteilt, während die CFDT für beide die Rente mit 60 forderte. Die Stücklohnkomponente sowie die Thematik von Einstufung und „Polyvalenz“ waren vom CESI besonders intensiv abgefragt worden und hatten sich als wichtig herausgestellt. Die allermeisten Personen waren mit der Abschaffung des Stücklohns durch die neue Geschäftsführung zufrieden. Ihnen war dieser Schritt wichtig gewesen; sie betonten den psychischen Druck durch den Akkord, die durch ihn befeuerte Konkurrenz zwischen den Arbeiterinnen und die zu hoch bemessenen Stückzahlen. Lediglich eine kleine Minderheit sprach sich – umso deutlicher – für die Wiedereinführung der Prämie aus, Leistungsgerechtigkeit wurde von ihnen ins Feld geführt. Willkürliches Vorgehen bei den Beförderungen wurde vielfach kritisiert, und angemahnt, dass die besonders belastenden Tätigkeiten besser bezahlt werden und bevorzugt den Jüngeren gegeben werden sollten. Die „OP“ verlangten überwiegend eine größere Eigenständigkeit gegenüber ihren Meistern bei der Gestaltung ihrer Arbeit, während die „Cadres“ alles in allem mit der neuen Geschäftsleitung zufrieden schienen. Sie waren die Gruppe, die unter dem Befragungsstichwort „Information“ die größte Zufriedenheit zeigte, weil die neue Unternehmensleitung sie stärker in die Unternehmensentwicklung einzubinden versuchte. An diesen Ergebnissen wird erkennbar, dass sich
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die Unternehmensleitung in ihren Vorstellungen für die Zukunft des Unternehmens an typischen Angestelltenkarrieren orientierte. Auch eine größere Einbeziehung in die Unternehmensentwicklung wurde zunächst allenfalls bei den leitenden Angestellten des Betriebs wirksam, die angestrebte Aufgabenbereicherung (job enrichment) für die Arbeiterinnen und Arbeiter zunächst gar nicht. In Bezug auf die Situation der Frauen im Betrieb kamen die Autoren der Studie zu ambivalenten Ergebnissen. So sei neben einer vor allem von jungen Frauen getragenen Mobilisierung für Forderungen von Frauenbewegung und Gewerkschaften, insbesondere in Bezug auf Lohngleichheit und gleiche Aufstiegschancen für Frauen und Männer, bei vielen älteren Frauen die Perspektive zu hören gewesen, sich lieber auf die Haushaltsarbeit zu konzentrieren. Bei den „OS Uhrenfertigung“, sämtlich Frauen, wurde in der Studie zusammengefasst: „Aber für bestimmte von ihnen (die Mehrheit) findet sich die persönliche Zukunft im Idealfall außerhalb des Unternehmens, zu Hause: ‚Wenn die Männer das Doppelte verdienen könnten, würden wir daheim bleiben‘.“25 In der Gruppe der Angestellten, zwei Sekretärinnen, einer Telefonistin, einer Angestellten in der Buchhaltung, einer im Kundendienst und einer in der Lagerhaltung, äußerten sich alle recht entschieden zu Problemen der Frauen bei der Arbeit und insbesondere in der Zwischenposition zwischen Arbeiterinnen und leitenden Angestellten, „eingeklemmt“ zwischen diesen Gruppen, wie es die Berichterstatter des CESI formulierten. Ihre eigene Lage beschrieben diese Angestellten als schwierig: „Wenn man mich dafür bezahlen würde, zu Hause zu bleiben, würde ich akzeptieren. Wir arbeiten nicht zu unserem Vergnügen, unsere Männer verdienen nicht viel. Und ich bin alleine, man muss sich gut durchschlagen, um die Kinder großzuziehen.“ „Ich habe seit 25 Jahren denselben Koeffizienten, das ist nicht normal.“ „Gleiches Geld für gleiche Arbeit, das gilt hier nicht“.26 Und weil einige aus der Gruppe vorher in der Uhrenmontage gearbeitet hatten, kritisierten sie sogleich die Monotonie der Arbeit in der Fließfertigung. War der Zustand in der Uhrenindustrie also immernoch vergleichbar mit dem, den Viviane IsambertJamati 1955 in einer soziologischen Studie feststellte – eine Mischung aus qualifizierten männlichen Facharbeitern und zahlreichen angelernten Frauen, die in der Montage in Fließfertigung arbeiteten –, so geriet dieser Zustand nun bei einem Teil der weiblichen Beschäftigten deutlich in die Kritik.27 Dies galt beson-
25 CESI: Plan d’intervention pour le changement et le développement de la C.E.H., enquête diagnostic janvier 1975-Mai 1975, S. 35. BDIC F Δ rés. 702/6. 26 Ebenda, S. 42. 27 Vgl. Isambert-Jamati, Viviane: L’industrie horlogère dans la région de Besançon – Étude sociologique, Paris 1955.
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ders für diejenigen unter ihnen, die neben der Montagetätigkeit auch andere Arbeit kennengelernt hatten. Die Autoren der Studie zeigten sich von der Perspektive der meisten älteren Frauen überrascht, die die Hausarbeit der Erwerbsarbeit gerne vorgezogen hätten. Neben der Wirkmächtigkeit des Rollenbilds der Hausfrau kann dies auch als Hinweis auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen verstanden werden; dies entging den CESI-Gutachtern jedoch.28 In welchem Zusammenhang standen diese letzten Ergebnisse mit der Sozialstruktur des Betriebs? Die Liste der LIP-Beschäftigten, die die ANPE im Mai 1976 zur Erstellung eines Sozialprofils von LIP anfertigte, vermittelt ein Bild von typischen Frauen- und Männerberufen der Zeit. Von den 250 Personen bildeten die 45 als „OS minutie“ – annähernd wortgetreu mit Fein- oder Geduldsarbeit zu übersetzen – geführten Personen die größte Gruppe, unter ihnen fanden sich gerade fünf Männer. Unter den 21 OS in der Montage waren zwei Männer. Bei den 24 Uhrmachern in der Herstellung, ein Ausbildungsberuf am Lycée Jules Haag, waren 17 Frauen – hierzu waren vor 1973 die Abendkurse in der LIP-eigenen Ausbildungswerkstatt angeboten worden –, während die sechs Uhrmacher in der Reparatur sämtlich Männer waren. In den klassischen Mechanikerberufen überwog die Zahl der Männer stark; so findet sich bei den 13 Werkzeugmachern, Mechanikern für Schneide- und Stanzwerkzeuge, Fräsern, Drehern und Kleinmechanikern keine einzige Frau. Eine zweite Auswertungstabelle zur ANPE-Liste gibt einen Überblick über die Löhne. Demnach verdienten 18 Personen unter 1800 FF, die meisten OS waren in der Lohnspanne zwischen 1800 und 2300 FF zu finden, während die „qualifizierten Angestellten“ und die „Meister“ überwiegend zwischen 3000 und 4000 FF verdienten, lediglich vier Personen verdienten über 4000 FF. Während also einzelne berufliche Aufstiegsmöglichkeiten – zur Uhrmacherin in der Produktion – bei LIP im Gegensatz zu anderen Betrieben der Branche auch für Frauen existierten, blieben viele von ihnen in den angelernten Tätigkeiten beschäftigt. Bei den verschiedenen OSTätigkeiten waren darüber hinaus diejenigen den Frauen vorbehalten, die eine besondere Konzentration erforderten – „OS minutie“ –, oder sich durch große Monotonie auszeichneten – „OS montage“. Schließlich untersuchten die Autoren der CESI-Studie auch die Beweggründe der Mitglieder der Geschäftsleitung. Sechs der mittlerweile sieben Vorstandsmitglieder – alle zwischen 30 und 40 Jahre jung – wurden hierfür interviewt, nach ihrem „persönlichen Projekt“ im Zusammenhang mit LIP und nach ihren Veränderungswünschen für den Betrieb befragt. „Es stimmt, dass die Arbeit nicht gerade berauschend ist“, fasste einer von ihnen in Bezug auf den
28 Vgl. CESI: Plan d’intervention, S. 42f.
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Großteil der Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen und ergänzte, dass er deshalb die Einrichtung von Arbeitsgruppen, Jobrotation und perspektivisch die Produktion einer ganzen Uhr durch eine Gruppe von vier Personen durchaus für machbar hielt. „Die Aufgaben humanisieren“ firmierte unter seinen Wünschen. Einher gingen diese Vorstellungen mit Erwartungen an die Rentabilität des Unternehmens: „Die Garantie der Beschäftigung und des Gewinns sicherstellen“, so fasste er treffend zusammen. Das gleiche galt für die Beurteilung des Befragungspunkts „Information“ durch die Vorstandsmitglieder, die neben einer für alle angenehmeren Arbeit auch Produktivitätsziele hatte: „Dieser Punkt ist vielfach und stark von mehreren Mitgliedern der Geschäftsleitung unterstrichen worden: Die Information ist ein hervorragendes Mittel, um die Menschen zu motivieren. Und ohne motivierte Arbeiter vegetiert das Unternehmen vor sich hin und stirbt.“29 Nicht zuletzt würde eine gelingende Informationspolitik den Arbeitern auch Einsichten in die realen Nöte des Unternehmens ermöglichen und so zu einem konfliktärmeren Betrieb beitragen. Mehr Eigenständigkeit für sämtliche Beschäftigten wurde angestrebt; einer verwendete hierfür gar das Wort Selbstverwaltung: „Wir müssen den Leuten mehr Verantwortung geben für das, was sie machen, stärker selbstverwaltet in Rahmensetzungen, die teilweise durch sie selbst, teilweise durch uns erarbeitet werden. Zum Beispiel auf den Ebenen der Arbeitsorganisation, des Einstellungsplans, der Vergütung...“ „Aber es ist im Moment schlecht zu erkennen, wie“, schloss er jedoch über die reale Umsetzung im Betrieb, die vorerst in die Zukunft verschoben wurde.30 Das wieder anlaufende Unternehmen LIP – jetzt unter den Namen CEH und SPEMELIP – war für die junge Geschäftsleitung also ein Experimentierfeld gleichermaßen wirtschaftlicher wie sozialer Natur. Die wesentlichen Veränderungen der Arbeitsorganisation, über die in diesem Zusammenhang nachgedacht wurde, blieben jedoch vage Vorstellungen, deren Realisierung bis 1976 nicht mehr stattfand. Die Wiederaufnahme der Produktion und die Rückgewinnung des Vertriebsnetzes hatten für die neue Geschäftsführung eindeutig Priorität. Einige Veränderungen wurden vorgenommen, die auch von den meisten Arbeiterinnen und Arbeitern des Betriebs positiv bewertet wurden, hierzu gehörte die Abschaffung der Stücklohnkomponente. Die bis dahin häufig als willkürlich wahrgenommenen Qualifikationseinstufungen wurden ab 1975 mit den Gewerkschaften neu verhandelt. Bei den Vorstellungen über Weiterqualifizierungen und persönliche Veränderungen dominierte in der Geschäftsführung eine Orientie-
29 CESI: Plan d’intervention pour le changement et le développement de la C.E.H., enquête diagnostic janvier 1975-Mai 1975, S. 107. BDIC F Δ rés. 702/6. 30 Beide ebenda.
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rung an Angestelltenkarrieren. Die leitenden Angestellten waren auch die Einzigen, die von der neuen Informationspolitik im Unternehmen bis 1976 profitierten, weil sie stärker in unternehmerisch relevante Entscheidungen einbezogen wurden. Insgesamt lässt sich schließen, dass die neuen Managementmethoden und die Absichten, eine andere Arbeitsorganisation einzuführen, von der neuen Geschäftsführung stark nach außen kommuniziert wurden.31 Tatsächliche Veränderungen gab es aber nur in vorsichtigen Ansätzen. LIP gehörte in Frankreich zu einer ersten Welle von Betrieben, bei denen die Schlagworte der „Humanisierung“, der „Aufgabenbereicherung“ und der „semi-autonomen Arbeitsgruppen“ von Großunternehmern für die praktische Umsetzung diskutiert wurden. In Bezug auf die Gruppenarbeit wurden von den französischen Arbeitgebern seit 1972 Vorbilder aus Schweden (Volvo), Norwegen (Norsk Hydro) und den Niederlanden (Philips) stärker diskutiert. Für sämtliche im Laufe der 1970er Jahre unternommenen praktischen Versuche gilt jedoch, dass ihre Reichweite deutlich hinter der medialen Darstellung zurückblieb.32
3.2 W EITERARBEITEN , W EITERKÄMPFEN Während die Experten des CESI sowie die neue Geschäftsleitung in ihrem Vokabular von „Perfektionierung“, „Polyvalenz“ und individuellen Aufstiegschancen eine Zukunft für die Beschäftigten des Unternehmens LIP entwarfen, reagierten die von ihnen Befragten darauf mit Forderungen, die im Wesentlichen denen ihrer Gewerkschaften entsprachen. Nicht individuell, ob rebellisch oder resigniert, waren also die Reaktionen, sondern vielmehr wohl organisiert und an erfolgreichen Verhandlungen mit der Geschäftsführung interessiert. Sowohl in der LIP Unité als auch im mit Hilfe der PSU über den zweiten LIP-Konflikt herausgegebenen Buch „LIP ’76 – affaire non classée“ wurde ein optimistisches Bild des Kampfgeists der Beteiligten in der Zeit zwischen 1974 und 1976 gezeichnet. 1974 wurden wöchentlich Vollversammlungen abgehalten – zunächst im Kinosaal der Kirchengemeinde, dann in der der Maison pour tous in Palente.33 Fünf weitere Ausgaben der LIP Unité erschienen zwischen Januar 1974 und
31 Vor allem Claude Neuschwander trat in der Öffentlichkeit und in Talkshows auf, vgl. hierzu sein Buch: Patron, mais..., Paris 1975. 32 Vgl. Vigna, Xavier: L’insubordination des ouvriers dans les années 68 – Essai d’histoire politique des usines, Rennes 2007, S. 311f. 33 Von diesen sind leider weder Protokolle noch Teilnehmerzahlen verfügbar.
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Januar 1975, als diese endlich die Einstellung der letzten Arbeiter nach der Vereinbarung von Dôle verkünden konnte: „Eine vor zwanzig Monaten begonnene Schlacht geht mit einem großen Sieg zu Ende.“34 Über Monate hatte die Geschäftsleitung immer wieder versucht, Einstellungen zu verzögern oder gar durch eine Weitervermittlung außerhalb des Betriebs zu ersetzen.35 Im Buch LIP 76 wurde insbesondere die Fortsetzung der wöchentlichen Vollversammlungen betont, die als Teil des gemeinsamen Kampfes für die tatsächliche Durchsetzung des Versprechens auf Wiedereinstellung aller dienten. In energischer Gewerkschaftersprache unterstrichen die Autoren, wie gut es gelungen sei, über die Zeit der Fortbildungen, der Wiedereinstellungen und des Weiterbetriebs die Kampfkraft und „Wachsamkeit“ der Belegschaft aufrecht zu erhalten. Dem Optimismus der Unternehmensgestalter hielten sie eine klassisch industriell geprägte Arbeitersprache entgegen: „La boîte“, die Bude, und „le boulot“, die Maloche, erscheinen im Buch als das, was den Alltag prägte. Sie waren in ihrer Wortwahl weit näher an metallverarbeitenden Industriebetrieben, wie LIP einer war, als an einer von handwerklichen Uhrmachern geprägten „Manufaktur“, als die LIP nach außen oft erschien. Der Geschäftsleitung und dem Staat, die die Arbeiter stets absichtsvoll „spalten“ wollten, wurde eine Geschlossenheit entgegengehalten, die sich zum Beispiel in der Organisation eines gemeinsamen Aperitifs von jenen, „die drinnen sind“ und „jenen, die draußen sind“, hergestellt wurde. Die als „frauenspezifisch“ bezeichneten Probleme wurden in dem Buch knapp verhandelt, unter der Überschrift „Und die Frauen?“ wurde optimistisch festgehalten: „Jetzt sind Männer und Frauen in Bezug auf den Aktivismus gleich, während 1973 die Frauen genug davon hatten, die untergeordnete Arbeit zu machen. Sie wollten eine Identität entwickeln, anerkannt werden.“36 Einen ähnlich optimistischen Blick auf die anhaltende Konfliktbereitschaft im Betrieb entwarf ein in mehreren Ausgaben von Mitgliedern des Aktionskomitees erarbeiteter Comic – La gazette de Liporum –, der von einem befreundeten Architekten gezeichnet wurde.37 In Anlehnung an Asterix und Obelix waren es hier die LIP-Beschäftigten, die sich mit dem Eigentümer Multinationarum und seinem Verwandten Neusch auseinandersetzen mussten. Die sozialen Verspre-
34 LIP Unité No. 18, Januar 1975, S. 1. 35 Vgl. LIP Unité No. 18, Januar 1975, LIP Unité No. 15, Juli 1974 – Supplément: Le pouvoir et le patronat s’unissent pour violer les accords de Dôle; vgl. Dépêche de la semaine vom 15.-21. März 1974, ADD 45J, in Einarbeitung. 36 Collectif Lip: Affaire non classée, Paris 1976, S. 68. 37 Vgl. Raguenès, Jean: De mai ’68 à Lip: un dominicain au cœur des luttes, Paris 2008, S. 192.
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chen Claude Neuschwanders wurden im Comic den zähen Verhandlungen zwischen ihm und den Personaldelegierten gegenübergestellt. Das stete Beharren auf der Wiedereinstellung sämtlicher 830 Beschäftigter der CEH stieß immer wieder auf Verzögerungen durch die Geschäftsführung. In Verhandlungen über spezielle Pausenregelungen für Schwangere und Behinderte wurden nur mühsam Kompromisse gefunden. Gegen die von den Personaldelegierten vorgebrachte Forderung, das Ausstempeln am Nachmittag in allen Werkstätten abzuschaffen, verwehrte sich Claude Neuschwander.38 Auch dies wurde im Comic zum Gegenstand, der sich eng an der Perspektive der Belegschaftsvertreter orientierte – einige Mitglieder des Aktionskomitees wurden 1975 für die CFDT in die Gremien betrieblicher Interessenvertretung gewählt.39 An anderer Stelle schließlich wurden spontane Ablehnung, Unzufriedenheit und Unsicherheit doch noch in anderer Weise aufgezeichnet: Zwischen Mai 1974 und Dezember 1974 besuchte eine Gruppe von Schulkollektiven (collectifs sur l’école) die LIP-Beschäftigten in ihren Fortbildungskursen. Diese Gruppen aus Lyon, Paris, Lille und Avignon waren aus Schülerinnen, Lehrern und Arbeiterinnen zusammengesetzt, die sich kritisch mit Lern- und Unterrichtsmethoden sowie der Institution Schule generell auseinandersetzten. Ihre „Enquête sur les LIP en stage“ war von dieser Kritik getragen. Sie verstanden diese als Methode verstehenden Eingreifens in soziale Konflikte, mit der sie gleichzeitig die Situation erfassen und die LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter in ihrer kritischen Haltung stärken wollten.40 Die Kurse im Berufsschulzentrum Montjoux, die auch von anderen als am wenigsten gewinnbringend gekennzeichnet wurden, nahmen sie in ihrem Auswertungspapier als erste in den Blick. An anderer Stelle war kritisiert worden, die Mechaniker sollten hier feilen und nochmals feilen, ungefähr nach
38 Vgl. La gazette de Liporum, drei Ausgaben, AM 5Z 226, die zugrunde liegenden Sitzungen der Personaldelegierten in ADD 45 J 85. 39 Vgl. ADD 45 J 85 – relations Neuschwander - Délégués du Personnel. 40 Die „Enquête“ in diesem Sinn erlebte in Frankreich infolge des Mai 1968 eine besondere Konjunktur und wurde zum stehenden Begriff. Zurückgreifen konnten ihre Protagonisten sowohl auf das Vorbild operaistischer Gruppen in Italien, die den Begriff der militanten Untersuchung prägten, als auch auf das geflügelte Wort Maos, demzufolge kein Recht mitzureden habe, wer eine Sache nicht untersucht hat. Die bei LIP 1973 aktiven Cahiers de Mai hatten für sich 1970 die Wichtigkeit der „Enquête“ eng am italienischen Vorbild definiert: „Die Enquête dient dazu, die Arbeitererfahrung auszugraben und dabei neue Ideen hervorzubringen. Sie spielt die politische Rolle der Neuformierung der Arbeiterklasse und wirkt an der Realisierung der Klasseneinheit“, Cahiers de Mai No. 22, 1970.
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dem Muster des ersten Ausbildungsjahrs; vom Besuch im Mai zeichneten die Beobachter auf: „Etwa 20 Personen in einem Klassenzimmer. Die Atmosphäre ist lärmig. Es handelt sich um Männer und Frauen unterschiedlichen Alters zwischen zwanzig und fünfzig. Es findet kein Kurs im traditionellen Sinn statt. Ein Teil der Männer ist in Vierergruppen verteilt: Sie spielen Karten, junge und weniger junge. Die Frauen lesen, stricken. Eine kleine Gruppe (Männer und Frauen) diskutiert mit dem Lehrer, der sich geweigert hat, zu unterrichten.“41 Am zweiten Tag: „Wieder Kartenspiel, wieder Stricken, wieder Lesen.“
In den anderen Kursen gleichen sich die Zusammenfassungen der EnquêteGruppe. Auffällig ist die Schilderung ihres Ankommens in Besançon: Mehrere Tage brauchten die Beobachter demnach, um von den LIP-Beschäftigten in Erfahrung zu bringen, wo genau diese als Kursteilnehmer überhaupt verteilt waren, ein klarer Widerspruch zur Schilderung im Buch „LIP 76 – affaire, non classée“, welches über die Phase der Wiedereinstellung das Bild einer kämpferischen und geschlossenen Belegschaft zeichnet. Bei der Lektüre des Berichts der Schulkollektive erscheinen die LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter wesentlich isolierter. Die Enquête lässt eine eher unterschwellige, oder nur spontan an die Oberfläche drängende Widerständigkeit gegen die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufgezwungene Kursteilnahme durchscheinen, die sich zunächst in einer ähnlichen Stimmung niedergeschlagen habe, wie an weiterführenden Schulen: „Lärm, Rabatz, Kartenspiel, private Lektüre. Geringschätzung oder Gleichgültigkeit von Seiten der Lehrer, die ihre Ware verkaufen wollen, ohne sich für eure Probleme zu interessieren (für die Lips: ihr Kampf, ihre Reintegration in den Betrieb, für die Schüler: Probleme der Jugendlichen, ungewisse Zukunft).“42 Die Momente offener Organisierung waren selten, wurden aber durchaus von den Schulkollektiven zur Kenntnis genommen. So hatten die Sekretärinnen sich ursprünglich die Organisierung von Englischkursen erhofft, welche aus Finanzgründen verweigert wurden. Stattdessen drängten sie nun darauf, etwas anderes zu tun, was ihnen gefiel, und kamen auf die Modeschneiderei. Die Lehrerin und die Sekretariatsleiterin von LIP eigneten sich also gemeinsam mit den Teilnehmerinnen Fähigkeiten in diesem Bereich an und kämpften immer wieder für die Fortsetzung dieser Aktivität, wenn diese – mehrfach – auf Verlangen der Geschäftsleitung von LIP abgebrochen werden sollte.
41 Enquête sur les LIP en stage menées depuis Mai 1974, S. 2, BDIC F Δ rés. 702/5. 42 ebenda, S. 3.
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Auffällig oft wurden die Beschäftigungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Kursen erwähnt. Frauen strickten demnach sehr häufig, während Männer, wenn sie nicht gerade Karten spielten, offenbar eher handwerklichen Tätigkeiten nachgingen; erwähnt wurden die Reparatur eines Radios und verschiedene Bastelarbeiten. Insofern lassen diese Besuche auch vorsichtige Rückschlüsse auf das Verhältnis der Frauen und Männer zu ihren gelernten Berufen und den jeweils im Betrieb gebrauchten Fähigkeiten zu. Während die Männer ein Stück ihrer Mechanikertätigkeit offenbar in die Freizeit übertrugen, suchten die Frauen sich eher Hausarbeitstätigkeiten zur Ablenkung oder Kursbegleitung. Schließlich suchten die Beobachter auch das Gespräch mit den Kursteilnehmern über die Rolle der Fortbildungen und von Ausbildung allgemein. An einzelnen Stellen ist bereits eine Kritik der Bildungsexpansion zu beobachten, die gerade erst begonnen hatte. Der Nouvel Observateur stellte fest, dass die Zahl der Abiturienten aus dem Geburtsjahrgang 1955 im Jahr 1973 bereits 38 Prozent betrug.43 Vom 1985 durch die Linksregierung proklamierten Ziel, 80 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur zu führen, war man also noch etwas entfernt. Die Widersprüche aus höheren Ausbildungsansprüchen und uneingelösten Aufstiegsversprechen, die Stéphane Beaud und Michel Pialoux anhand einer soziologischen Langzeitstudie bei Peugeot Sochaux belegen konnten, machten sich in Ansätzen jedoch bereits bemerkbar.44 So wurde aus dem AFPA-Kurs in Planoise berichtet: „Wir sprechen anschließend über schulische Berufsaussichten. Bei vielen gibt es die Hoffnung, dass ihre Kinder keine OS sein werden. Eine Mutter führt das Beispiel ihrer Tochter an, die nach langen Studien als Kassiererin im Supermarkt arbeitet. In der Berufsbildung bedeutet eine bessere Qualifikation nicht unbedingt eine veränderte Arbeit.“45 Die diskutierten Themen gingen also über die reinen Probleme des Arbeitsplatzerhalts hinaus, sodass die Teilnahme an den Fortbildungskursen, dort wo sie mit solchen Diskussionen einherging, eine Fortsetzung der Lernerfahrungen des Arbeitskonflikts bedeutete. Die Frauengruppe bei LIP überschritt in ihrer Analyse schließlich konsequent die Grenzen des Betriebs. Auch diese Gruppe war ein Teil der Bestandsaufnahme nach dem vorläufigen Ende des Arbeitskampfs von 1973. Bereits Ende 1973 hatte es erste Kontakte zwischen Frauen aus der PSU und einigen Frauen von LIP gegeben. Diese führten schließlich zur Gründung einer Gruppe, die sich zwischen März 1974 und November 1974 wöchentlich traf. Ihre Arbeit
43 Vgl. Nouvel Observateur, 17. September 1973. 44 Vgl. Beaud, Stéphane und Michel Pialoux: Die verlorene Zukunft der Arbeiter – Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard, Konstanz 2004. 45 Enquête sur les LIP en stage menées depuis Mai 1974, S. 4.
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mündete in einer Broschüre, die von Solidaritätsgruppen in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde: „LIP au féminin“.46 Die Arbeit der Frauengruppe bestand unter anderem im Verfassen individueller Erlebnisberichte und deren gemeinsamer Diskussion, beide fanden schließlich Eingang in die gedruckte Broschüre. Frauen, die sich aktiv an der Arbeitsauseinandersetzung beteiligt hatten, kamen darin ebenso zu Wort wie solche, die als Ehefrauen von Gewerkschaftern während des gesamten Konflikts hauptsächlich zu Hause geblieben waren und auf die Kinder aufpassten. Sowohl die Geschlechterverhältnisse im laufenden Betrieb bei LIP als auch der während der Arbeitsauseinandersetzung ausgefochtene Kampf um die Sichtbarmachung frauenspezifischer Probleme und die Reproduktion geschlechtsspezifischer Ungleichheiten im Arbeitskampf wurden in der Broschüre verhandelt. Die Rezeption der Broschüre außerhalb des Betriebs war vor allem in Solidaritätsgruppen und unter feministischen Gewerkschafterinnen enthusiastisch, im Betrieb selbst blieb die Wirkung dagegen beschränkt. Angeblich wurden bei LIP selbst 250 Exemplare der Broschüre verkauft.47 Margaret Maruani vermerkt, dass wohl nur wenige in der Fabrik die Broschüre tatsächlich gelesen haben dürften, während die an der Entstehung beteiligte Fatima Demougeot zumindest meint, bei den Frauen im Betrieb sei die Broschüre positiv aufgenommen worden.48 Im Kapitel „Privatleben, Zutritt verboten“ („Cette vie privée que d’autres ont organisé pour nous“) verhandelten die Frauen das eigene Engagement und das ihrer Männer. Als Reine Jeanningros, LIP-Arbeiterin und mit dem Gewerkschafter Michel Jeanningros aus der Vetriebsabteilung verheiratet, in ihrem Erlebnisbericht lobte, wie Charles Piaget sein Privatleben für die betriebliche Auseinandersetzung „geopfert“ habe, fragte die ebenfalls anwesende Pascale Werner, eine zu Besuch weilende Feministin aus Paris, ob es einer Frau auch möglich gewesen wäre, ihr Familienleben „zu opfern“. Selbstverständlich nicht, antwortete
46 Das französische Original erschien als Supplément No. 16 der PSU-Zeitschrift Combat Socialiste 1974 unter dem Titel „LIP au féminin“. Auf Deutsch erschien die Broschüre zunächst in einer Übersetzung durch die Gruppe Arbeiten und Leben Dietzenbach unter dem Titel: Wir Frauen von Lip – Frauen im Kampf, Hannover 1975. 1981 gab der Packpapier-Verlag die Broschüre unter dem Titel „Frauen bei LIP!“ heraus. 2 DM von jedem zum Preis von 8 DM verkauften Exemplar sollten dem Förderverein der LIP-Arbeiter zugute kommen. 47 Vgl. Collectif: 18 millions de bonnes à tout faire, Paris 1978. 48 Vgl. Maruani, Margaret: Les syndicats à l’épreuve du féminisme, Paris 1978, S. 7f.; vgl. Dehedin, Caroline: À Lip, les femmes ont aussi une histoire, unveröffentlichte Masterarbeit, Nantes 2011, S. 77.
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Annie Piaget, die Frau von Charles. Wenn eine Frau ihr Privatleben dergestalt opfere, stehe sie als unverantwortliche Mutter da. Charles und Annie Piaget hatten sechs gemeinsame Kinder, von denen das jüngste zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Broschüre 18 Monate alt war. Sie teilte die Probleme von Fernande, der Frau von Roland Vittot, die mit diesem fünf Kinder hatte. Als Fernande Vittot während der Auseinandersetzung ihren Mann auf die Notwendigkeit einer Kinderbetreuung auf dem besetzten Betriebsgelände angesprochen habe, habe dieser geantwortet, dafür gebe es nicht genügend Kinder. Schließlich war auf Vorschlag von Monique Piton lediglich für den Tag der Großdemonstration vom 29. September 1973 eine Kinderbetreuung eingerichtet worden. Zuständig war dann wenig überraschend sie selbst, da sie den Vorschlag eingebracht hatte. Die Abwesenheit der gewerkschaftlich aktiven Väter wurde in der Broschüre als Fortsetzung der Abwesenheit arbeitender Väter verhandelt. In der weiteren Diskussion um die Kinderbetreuung fällt auf, dass an keiner Stelle eine Bezugnahme auf deren generellen Zustand in der Stadt oder Region vorgenommen wurde. Nur anhand von allgemeinen Zahlen lässt sich also nachvollziehen, dass die bei LIP arbeitenden Frauen zu Beginn der 1970er Jahre ihre Kinder vermutlich noch wesentlich häufiger bei den Großeltern, Nachbarn oder anderweitig betreuen ließen und das Idealbild der Hausfrau eine starke Wirkung in Bezug auf an Frauen gestellte Erwartungen hatte. Die Zahl der Kindergartenplätze ab drei Jahren stieg in Frankreich in den 1970er Jahren erheblich an. 1970/71 besuchten 61 Prozent der Dreijährigen die Maternelle, 87 Prozent der Vierjährigen und sämtliche Fünfjährigen. 1980/81, zehn Jahre später, besuchten hingegen bereits 89 Prozent der Dreijährigen und sämtliche Vier- und Fünfjährigen eine École Maternelle.49 In diesen zehn Jahren hat also der deutlichste Ausbau der Kindertagesstätten in Frankreich stattgefunden. Neben solch praktischen Problemen diskutierten die an der Broschüre beteiligten Frauen auch die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, unter anderem an alleinerziehende Mütter, denen nur langsam eine größere Akzeptanz entgegengebracht wurde, sowie an arbeitende Frauen allgemein. Monique Piton, die in den Bergen des französischen Jura aufgewachsen war, bündelte diese auch in ihrem Buch: „Ich war zuerst Hausmädchen, hatte keine freie Stunde, allenfalls sonntags. Ich wollte in die Fabrik. Ich arbeitete hart, 12 Stunden am Tag, samstags 8 Stunden. Es blieb der Sonntag. Besser wurde es, als ich Freundinnen und Freunde fand. Aber ein Teil der Familie, die Tanten, haben mich heftig kriti-
49 Vgl. Ministère de l’Éducation Nationale (Hrsg.): Die Geschichte der École Maternelle, http://dialogue.education.fr/D0039/ecole-maternelle-deutsch.pdf, abgerufen am 12.7.2014.
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siert.“50 Neben dem Umgang mit Erwartungshaltungen wie Treue, Verantwortungsbewusstsein und Zurückhaltung thematisierte die Frauengruppe auch Themen wie Verhütung und Abtreibung; 1975 wurde in Frankreich ähnlich wie in Deutschland eine Fristenregelung mit verpflichtender Beratung eingeführt, in den zwei vorangegangenen Jahren hatte es eine feministische Mobilisierung für die Legalisierung gegeben.51 Neben dem unmittelbar sichtbaren Resultat, der Broschüre, ist festzuhalten, dass die Arbeit der Frauengruppe vor allem eine gemeinsame Diskussion hervorbrachte. In deren Zuge wurde auch deutlich, dass die Frauen eben nicht „gleich“ geworden waren im „Aktivismus“. Bei den Personaldelegiertenwahlen 1975 ließen sich nun wesentlich mehr Frauen vor allem in der Liste der CFDT aufstellen, Fatima Demougeot wurde auf Platz 3 der Liste geführt. Jedoch kam die nächste Frau erst wieder auf Listenplatz 14, die Überzahl der Männer in den gewählten Gremien blieb erhalten.52 Außerdem mündete die Arbeit der Frauengruppe in der Gründung eines Frauenausschusses im Betriebsausschuss. Dieser schaffte es, die in der Frauengruppe angestoßenen Probleme in Einklang mit den sich damals bei CGT und CFDT entwickelnden spezifischen Frauenforderungen zu bringen.53 Im März 1975 schließlich konnten konkrete Forderungen an die Geschäftsleitung gestellt werden. Darunter waren auch solche, die die Gewerkschaftsdachverbände in Frankreich auf der politischen Ebene durchsetzen wollten. Zu diesen Forderungen gehörten die Rente mit 55 für Frauen, die Freistellung von der Arbeit für eine einmal jährliche Brustkrebsvorsorgeuntersuchung, Ruhezeiten für Schwangere während der Arbeitszeit, eine Verlängerung des Mutterschutzes und zusätzliche freie Tage für die Frauen, wenn deren Kinder erkrankt waren sowie die Verteilung von Informationsmaterial zu Familienplanung und Verhütung durch die Betriebsleitung.54 Durchgesetzt wurden schließlich gemeinsam mit dem Betriebsausschuss eine Bestandsaufnahme körperlich besonders belastender Tätig-
50 Piton: Anders Leben, S. 157. 51 Vgl. Bard, Christine: Die Frauen in der französischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, Köln 2008, S. 218ff. 52 Vgl. ADD 45 J 85 – relations Neuschwander - Délégués du Personnel. 53 Mit diesen integrierten die Gewerkschaften Problemstellungen, die durch eine lebendige Frauenbewegung in sie hereingetragen wurden und – verspätet – auf die stärkere Frauenerwerbstätigkeit, die sich bereits seit Anfang der 1960er Jahre entwickelte, vgl. Maruani, Margaret: Travail et emploi des femmes, Paris 2006, S. 15. 54 Vgl. „Revendications féminines LIP“, ADD 45 J 85.
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keiten und deren Ausstattung mit einem Lohnzuschlag sowie die Freistellung zur Brustkrebsvorsorge. Konnten also einige Forderungen gebündelt und von den Frauen im Betrieb zumindest zu einem kleinen Teil erfolgreich verhandelt werden, so blieben die alltäglichen Arbeitsbedingungen, die die Frauengruppe in der Broschüre verhandelte, weitgehend wie vor dem Arbeitskampf. Der Lärm an den Stanzen, die Monotonie der Arbeit in den Werkstätten, berufsbedingte Augenprobleme im Bereich der Uhrenmontage und die Auswirkungen des Akkords – Hektik, gegenseitige Konkurrenz und fehlende Kommunikation untereinander – wurden von den Mitgliedern der Gruppe besonders kritisiert. Außerdem sprachen sie über die Macht der Meister und Werkstattleiter, die häufig noch durch Willkür und eine sexistische Komponente ergänzt wurde.55 Da die jeweiligen Personen nach dem Arbeitskampf meist wieder an denselben Posten arbeiteten, waren die hauptsächlichen Veränderungen, die in der Broschüre geschildert wurden, solche, die auf das gestiegene Selbstbewusstsein der beteiligten Frauen zurückzuführen waren.56 Die Zahl der „OS“ in der CEH stieg 1975 sogar noch an, weil zusätzlich zu den Wiedereinstellungen auch weitere Arbeitskräfte für die Montage eingestellt wurden.57 Und während die LIP Unité im Januar 1975 schloss, die Wiedereinstellung sei nun für alle Personen ohne jegliche Dequalifizierung durchgesetzt worden, so wurden im Einzelfall durchaus Versetzungen an niedriger qualifizierte Arbeitsplätze vorgenommen.58 Lediglich der Lohn blieb dann der alte.59 Ob mit der Abschaffung der Leistungsprämie eine tatsächliche Verringerung des Arbeitsdrucks einherging, bleibt fraglich. Persönliche Stellungnahmen hierzu fehlen. Eine von der Kommunistischen Partei in Besançon herausgegebene Broschüre berichtete davon, dass die Arbeiterinnen einer Montagereihe für Uhren im Sommer 1975 eigenständig das vorgegebene Arbeitstempo reduziert hätten, da ihnen der Takt dort abermals unerträglich geworden sei.60
55 Vgl. LIP-Frauengruppe (Hrsg.): Wir Frauen von Lip, S. 14ff. 56 Vgl. ebenda. 57 Vgl. Poulain, Jean-Claude: L’expérience récente de Besançon – se débarasser dans les entreprises des idées d’un autre âge, Économie et politique, revue marxiste d’économie, hrsg. von der PCF Besançon, 1975, S. 5. 58 Vgl. LIP Unité No. 18, Januar 1975. 59 Fatima Demougeot, 1973 in der Endkontrolle der Uhren beschäftigt, erhielt 1974 einen Montageplatz in der Werkstatt für Armaturenbretter zugewiesen, vgl. Interview des Verfassers mit Fatima Demougeot, 2. Juli 2014. 60 Vgl. Poulain, Jean-Claude: L’expérience récente de Besançon – se débarasser dans les entreprises des idées d’un autre âge, S. 8, ADD 35 J 10.
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Offenbar, so zeigt dieses letzte Beispiel, wirkte sich das im Arbeitskampf gewachsene Selbstbewusstsein an manchen Stellen im Betrieb aus, auch wenn die Arbeitsbedingungen in vielen Aspekten unverändert blieben. Charles Piaget hatte bereits vor Beginn der Fortbildungsmaßnahmen über denkbare Neuerungen in der Arbeitsorganisation geäußert, diese würden „schnell unzureichend“ sein. Während die CFDT die anvisierten Veränderungen der Arbeitsorganisation entsprechend kritisch begleitete, indem sie diesbezüglich weitergehende Forderungen wie die nach dem Ende des Ausstempelns am Nachmittag vortrug, verhielt sich die CGT in diesen Fragen zurückhaltend. Stärker noch als die CFDT beurteilte die CGT im Betrieb auch die neue Informationspolitik als Versuch, durch individuelle Kommunikationsprozesse die kollektive Organisierung der Beschäftigten zu unterlaufen.61 Der Optimismus und Kampfgeist schließlich, den die Gewerkschafter in der öffentlichen Darstellung nach außen trugen, wurde nicht von allen im Betrieb geteilt. Die für einige Personen lange Zeit bis zur Wiedereinstellung – erst im März 1975 stießen die letzten LIP-Beschäftigten wieder zur arbeitenden Belegschaft hinzu –, war mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Die vom Aktionskomitee kritisierte Hierarchisierung der Beschäftigten in der Fortbildung nach betrieblichen Statusgruppen wirkte sich in den Kursen tatsächlich aus, wo Unlust und das Gefühl von Überflüssigkeit vor allem in den Arbeitergruppen deutlich geäußert wurden. Insgesamt war die Fortbildungsphase für viele ein Vorgeschmack auf die Arbeitslosigkeit, während die Lernerfahrungen stark vom jeweiligen Kurs – also der Beschäftigtengruppe – und vom Engagement abhingen, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst im Sinne einer veränderten Kursgestaltung zeigten.
3.3 D ER G EGNER ZEIGT SEIN G ESICHT : D IE A RBEITSLOSIGKEIT Bereits 1973 hatte der Kampf der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter sich gegen ihre Entlassung gerichtet, die ihnen im August 1973 auch schriftlich zugestellt wurde. Jedoch hatte einer ihrer Coups in der Auseinandersetzung darin bestanden, sich nicht als arbeitslos zu begreifen, sondern als Teil eines Betriebs, für den es eine Gesamtlösung geben müsse. Die damaligen Gegner waren für die Beschäftigten nicht immer einfach zu identifizieren gewesen: Ébauches, die
61 Vgl. ebenda; vgl. „L’heure LIP“ No. 31, 30. Januar 1974, Zeitung der PCF-Betriebsgruppe, ADD 45 J, in Einarbeitung.
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Konkursverwalter, das Handelsgericht, das Industrieministerium; mitunter war es für sie nicht leicht, festzustellen, wer genau für was verantwortlich war. Zusammenfassen ließen sich diese Akteure jedoch in den zahlreichen Flugblättern und Broschüren meist unter „les pouvoirs publics“ und „les patrons“. Die Aufforderung der Regionaldirektion der Arbeitsverwaltung, die Ende August 1973 per Pressemitteilung an die LIP-Beschäftigten erging, sich arbeitslos zu melden, verhallte klanglos.62 Kollektiv weigerten diese sich bis in den November 1973, sich arbeitslos zu melden. Spätestens im Zuge der schleppenden Wiedereinstellung 1974/75 erhielten sie einen Vorgeschmack auf einen kaum zu fassenden Gegner, der von 1976 an sein Gesicht endgültig zeigte: die Arbeitslosigkeit. In den Unterlagen der Arbeitsbehörden spiegeln sich ab 1976 die Länge der Auseinandersetzung, die Probleme einer regionalen Industrie, sowie der stete Gegensatz zwischen individuellen Vermittlungsbemühungen durch die Behörden und kollektiver Organisierung der Beschäftigten. In Bezug auf die Qualifikationen der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter betonten die mit der Sondierung des Arbeitsmarktes betrauten Abteilungen der ANPE Mitte Juni 1976 noch die Fähigkeiten des Personals. Von den 790 LIP-Beschäftigten, die sich im Mai arbeitslos gemeldet hatten (399 Männer, 391 Frauen), waren immerhin 139 „Spezialisten in Kleinmechanik und Uhrmacherei“, 107 „Spezialisten in allgemeiner Mechanik“, 169 „Spezialisten in Feinmechanik und Uhrmacherei“, davon 22 mit speziellen Kenntnissen in thermischer und chemischer Oberflächenbehandlung. Für die 282 OS hingegen schätzten die Behörden von Beginn an die Arbeitsplatzaussichten als schwierig ein, zumal ihre Löhne zwischen 1800 FF und 2300 FF über dem lokalen Durchschnitt von 1660 FF lagen. Neben den vielen Frauen fanden sich hier in den Listen der ANPE auch die meisten arabischen, portugiesischen und spanischen Namen, gelegentlich arbeiteten drei oder vier Familienmitglieder bei LIP.63 Auch für die Uhrmacher, die Verwaltungsangestellten und die Spezialisten in der Mikromechanik schlossen die ANPE-Mitarbeiter trotz der höheren Qualifikation, dass sich ernsthafte Probleme bei der Vermittlung stellen würden.64 Der selbstbewusst ausgefüllte Erfassungsbogen eines „contremaître“
62 Vgl. Pressemitteilung der Direction régionale du travail et de la main d’œuvre vom 16. August 1973, ADD 2032 W 336. 63 Vgl. Liste von 1974 in ADD 2032 W 336: A. Bernaoui, S. Doualed, J. Almarcha und zwei Personen gleichen Nachnamens, M. Bentahar, J. Murcia und mehrere weitere Murcias sind einige der aufgeführten OS. 64 Vgl. Dossier der ANPE-Abteilungen DIT (Direction des opérations) und der Direction Projets spécifiques et des opérations (ROME), am 15. Juni 1976 an den Regionaldirektor der ANPE, Chaille, übersandt, ADD 2032 W 339.
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von LIP zum Bezug von Leistungen aus der Kasse der ASSEDIC vom Herbst 1976 belegt, wie eindeutig sich für die Beschäftigten selbst die Arbeitsmarktsituation in der Stadt darstellte. Auf die Frage: „Warum haben Sie, Ihrer Ansicht nach, keine Arbeit gefunden?“ antwortete er: „Aufgrund der Beschäftigungssituation in Besançon, wo die Zahl industrieller Arbeitsplätze ohne Unterlass sinkt und aufgrund des Einstellungsstopps in der Mehrzahl der Betriebe in Besançon.“65 Dies blieb verbunden mit dem eindeutigen Wunsch, weiter bei LIP zu arbeiten. Die Frage: „Welche Art von Arbeit erlaubt Ihnen ihr Gesundheitszustand, ihrer Ansicht nach, auszuüben?“ beantwortete er mit: „Meinen Posten bei LIP“. Die Frage: „Würden Sie eine andere Arbeit akzeptieren?“ mit einem einfachen „Nein“. „Würden Sie eine Arbeit in einer anderen Region akzeptieren?“ „Ich will aus familiären Gründen in Besançon bleiben.“66 Die 1973 ausgedrückte enge Bindung an den Ort Besançon wurde also weiter geäußert, diese hatte die Arbeiterin Alice Carpena so zusammengefasst: „Einer meiner Neffen ist Architekt. Man spürte, daß man nicht mehr im selben Boot saß. Er hat mir gesagt, daß man sich als Arbeiter damit abfinden müsse, sich mehrmals im Leben zu verändern – je nach der aktuellen Politik, und daß wir es früher oder später wie die Amerikaner machen müßten. Er sagte, ich müsse mir Arbeit anderswo besorgen! Ich lebe in Besançon. Es gefällt mir gut in meiner Wohnung. Der Ort gefällt mir. Mich zu zwingen, anderswo zu arbeiten, da hört die Freiheit auf! Ich ziehe es vor, hier bei denen zu bleiben, die alles begriffen haben, die den Kampf mitgemacht haben, als mich einfach vertreiben zu lassen.“67
Diese konsequente Weigerung wirkte fort und wurde immer noch von den LIPArbeiterinnen und -Arbeitern kollektiv nach außen getragen. Wie die Worte des „contremaître“ verdeutlichen, hatten sich die Gründe hierfür jedoch verändert. Nicht mehr nur die Bindung an eine besondere Arbeit oder an das Unternehmen,
65 Erfassungsbogen eines „contremaître“ von 1976, ADD 2032 W 338. 66 Ebenda. 67 Werner, Pascale und Annie C.: Gegen die linken Phallokraten – Frauen bei Lip, Berlin 1975, S. 32. In dieser Broschüre druckte der Merve-Verlag zwei Beiträge aus Les Temps Modernes ab, einen von Annie C. über den Streik in einem Kaufhaus in Thionville, und den von Pascale Werner zu LIP. Dieser war in Les Temps Modernes Nr. 336, Juli 1974, unter dem Titel „La question des femmes dans la lutte des classes“ erschienen. Zur freihändigen Übersetzungspraxis des Merve-Verlags an Lizenzvereinbarungen vorbei vgl. Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie – Geschichte einer Revolte (1960-1990), München 2015.
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auch nicht mehr nur die von Alice Carpena angeführten freundschaftlichen und sozialen Bindungen, sondern vor allem die Schwierigkeiten, überhaupt anderswo Arbeit zu finden, machten es nun für eine große Anzahl von Arbeiterinnen und Arbeitern plausibel, abermals eine lange Betriebsbesetzung auf sich zu nehmen, um einen Weiterbetrieb des alten Unternehmens zu erzwingen. Als der Regionaldirektor der ANPE am 17. August 1977 dem Präfekten in einem vertraulichen Brief Mitteilung über die bisher erfolgten Vermittlungsbemühungen machte, waren die Ergebnisse ernüchternd. Seit der Entlassung im Mai 1976 hatten die Bemühungen der ANPE zu 247 Kontaktaufnahmen zwischen Arbeitssuchenden und möglichen Arbeitgebern geführt, genau 28 davon hatten zu Einstellungen geführt. Als Gründe hierfür nannte er gleichermaßen die Weigerung der Arbeitgeber, LIP-Beschäftigte zu übernehmen – es gab eine eindeutig politisch motivierte Blockadehaltung gegenüber den Arbeiterinnen und Arbeitern aus Palente –, wie die fortdauernde Hoffnung der Belegschaft auf eine industrielle Lösung für ihren Betrieb. Die von ihm anschließend formulierten Forderungen nach einer engeren Vernetzung zwischen Arbeitgeberorganisationen und der ANPE zielten auch auf eine Erhöhung des Drucks auf die LIP-Arbeitslosen und auf die lokale ASSEDIC-Kommission, diese Erwerbslosen zur Vermittlung in andere Arbeitsstellen zu bewegen.68 Dass insgesamt die Zahl offener Arbeitsstellen hinter der der Arbeitssuchenden zurückblieb, war jedoch auch ihm bewusst. Die Gewerkschafter aus dem Betrieb belegten dies in der Folge an den von der Industrie- und Handelskammer ausgearbeiteten Listen möglicher Stellen akribisch.69 Die lokale ASSEDIC in Besançon war seit dem Herbst 1976 zu einem der Austragungsorte der Auseinandersetzungen um die Zahlung des Arbeitslosengeldes und dessen Verlängerung geworden. Diese Kassen und ihre zehnköpfigen, paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen besetzten lokalen Kommissionen verwalten in Frankreich seit 1958 die Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung. Hier wurde über die Bewilligung von Zahlungen für die Entlassenen bei LIP entschieden, die anders als 1973 ein Anrecht auf Arbeitslosengeld in Höhe von 90 Prozent des alten Lohns hatten. Die erste Verlängerung musste nach einem halben Jahr beraten werden. Im Juni 1977 liefen die Zahlungen endgültig aus. Nach Demonstrationen der LIP-Beschäftigten, einer Besetzung des lokalen ANPE-Büros und vehementen Diskussionen in der lokalen ASSEDIC-Kommission – im April 1977 war der Sitzungsort der ASSEDIC-
68 Vgl. Brief des Regionaldirektors der ANPE an den Präfekten vom 17. August 1977, 2032 W 339. 69 Vgl. Liste mit kollektiven Besuchen bei möglichen Arbeitgebern, AM 5Z 218.
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Kommission aus Angst vor einer Bürobesetzung einmalig nach Paris verlegt worden – sicherte eine Vereinbarung zwischen dem Konkursverwalter und dem Fonds National de l’Emploi eine schrittweise Absenkung der Zahlungen an die ehemaligen LIP-Beschäftigten zu. Spätestens jedoch ab dem 13. September 1977 erhielten sämtliche als arbeitslos gemeldeten LIP-Beschäftigten maximal 35 Prozent ihres alten Lohnes ausgezahlt.70 In den Behörden verdichteten sich im Sommer 1977 die Auseinandersetzungen darum, wie mit den LIP-Arbeitslosen umzugehen sei, die sich weigerten, andere Stellen anzunehmen. Zwar wurden diese Personen häufig – nach Notizen der Verwaltung alle zwei Wochen – kontrolliert; dies hieß, dass sie sich melden und belegen mussten, bis jetzt keine Arbeit aufgenommen zu haben. Der Druck insgesamt hielt sich aber in Grenzen, die auch die ehemaligen LIP-Beschäftigten selbst durch ihre politische Mobilisierung setzten. Während besonders der Regionaldirektor der Arbeitsverwaltung von Beginn an auf die Aussichtslosigkeit einer Lösung für den Gesamtbetrieb LIP hingewiesen hatte und auf eine schnelle Vermittlung drängte, war dies in der ASSEDIC umstritten. Per Weisung aus dem Arbeitsministerium wurde im August 1977 kurzzeitig die Auszahlung von Weiterbildungsvergütungen aus der ASSEDIC-Kasse an LIP-Beschäftigte blockiert, die in der Stadt einen Englischkurs besuchten. Das Ministerium hatte vermutet, die Belegung dieser Kurse diene nur dem Erhalt der finanziellen Leistungen und verzögere die Vermittlung. Die lokale ASSEDIC verwehrte sich zunächst gegen diese Einmischung in die paritätische Selbstverwaltung, musste schließlich jedoch einlenken. Ihr Vorsitzender hatte betont, selbstverständlich würden nur solche Fortbildungen genehmigt, die einen realen Vorteil für die Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt bedeuteten.71 Ab 1978, als die Verhandlungen über einen industriellen Plan für die neue Genossenschaft „Les Industries de Palente“ begannen, diskutierten die Gewerkschafter mit den Behörden über Frühverrentungen. Gleichzeitig wurde auch die Zahlung von Sozialhilfe zum Problem für die LIPBeschäftigten, die seit Sommer 1977 wieder Zahlungen aus der Solidaritätskasse erhielten. Im Mai 1978 berichteten die Beamten des Staatsschutzes, welche die Auseinandersetzung über die ASSEDIC beobachteten, eine „Mme Bevalot“ habe unter ihrem Mädchennamen wieder angefangen, bei L.I.P. zu arbeiten und gleichzeitig unter ihrem richtigen Namen Sozialhilfe bezogen: „Die Arbeitsverwaltung befürchtet, dass (…) die LIPs nur versuchen, einen Präzedenzfall zu
70 Vgl. hierzu die Mitteilungen des Service Régional des Renseignements Généraux (SRRG), insbesondere vom 5. April 1977 und den zwei folgenden Wochen, ADD 1485 W 240. 71 Vgl. die entsprechenden Brief- und Telexwechsel in ADD 2032 W 338.
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schaffen, oder mindestens die Verwaltung in Schwierigkeiten zu bringen.“72 Der Tonfall, hier durch den Polizeiapparat nochmals verschärft, wurde rauer, die Vorbehalte gegenüber den LIP-Arbeitern wuchsen. Wie erlebten die LIP-Beschäftigten selbst ihre Arbeitslosigkeit? 1977 drehte das Filmkollektiv „Cinéluttes“ bei LIP einen Film unter dem Titel „À pas lentes“, ein Wortspiel mit dem Stadtteil Palente und der Zähigkeit der Auseinandersetzung.73 Mit „langsamen Schritten“ näherte sich jedoch auch die Kamera den beiden Hauptfiguren des Films, den Arbeiterinnen Christiane André und Renée, die sowohl über die Arbeit an den Stanzen berichteten, die sie ausübten – diese wird im Film gezeigt –, als auch über die Situation der Arbeitslosigkeit. Bei einem Besuch in einem Berufsschulzentrum in Belfort erörtern die beiden im Film mit Jugendlichen die Fabrikarbeit und die Situation der Arbeitslosigkeit. Diese wird von Christiane André als Fortsetzung der demütigenden Arbeit beschrieben. „OS sein“ wird von ihr nicht als Tätigkeit, sondern als Zustand beschrieben, der mit gesellschaftlicher Herabwürdigung, mit Unwohlsein bei der Arbeit und mit für die Zukunft dauerhaft verstellten Veränderungsmöglichkeiten einhergehe. Die Arbeitslosigkeit steigere noch diese Herabwürdigung und gesellschaftliche Missachtung. Sowohl Renée als auch Christiane André erklären den Schülerinnen und Schülern: „Die Arbeitslosen sind keine Faulpelze.“ Die Plötzlichkeit, mit der die Arbeitslosigkeit jeden treffen kann, mache aus bisher als fleißig angesehenen Arbeitern plötzlich Arbeitslose. Die Schüler hörten konzentriert zu und diskutierten anschließend noch über Arbeitsunfälle – der Vater eines der Schüler hatte früher in der Uhrenfabrik Japy gearbeitet.74 An einer anderen Stelle im Film berichtet Christiane André davon, wie sie sich einerseits als „Mama Polizei“ fühle, wenn sie monatlich das Notenheft ihrer Tochter kontrolliere, um über deren schulische Leistungen auf dem Laufenden zu sein. Andererseits sei ihr sehr wichtig, dass ihre Tochter sich später in Maßen selbst verwirklichen könne und sie nicht OS werde wie sie selbst. Politisch wurde von den Gewerkschaftern aus dem Betrieb die individualisierende Wirkung der ANPE hervorgehoben, die sich gegen die kollektive Auseinandersetzung der Arbeiter richte. Deshalb hatten die LIP-Beschäftigten sich schon im Mai 1976 für eine gemeinsame Meldeprozedur auf dem Betriebsgelände stark gemacht. Sie konnten zur Unterfütterung ihrer Forderung den Fall eines anderen besetzten Betriebs im Département Nord-Pas-de-Calais – die Textilfa-
72 Mitteilung des SRRG vom 17. Mai 1978, ADD 1485 W 240. 73 Zur Geschichte von Cinéluttes vgl. Grant, Paul Douglas: Cinéma Militant – Political Filmmaking and May ’68, New York 2016, zum Film „À pas lentes“ S. 110-118. 74 Collectif Cinéluttes: À pas lentes, 40 min., schwarz-weiß 1977.
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brik CIP – anführen, wo dies so gehandhabt wurde. Letztlich wurden für die Registrierung jedoch die Räume eines Nachbarschaftsheims im Stadtteil Orchamps in der Nähe des Boulevard Léon Blum bereitgestellt.75 Unter den vielen Arbeitsgruppen, die auch im zweiten Arbeitskonflikt bei LIP eingerichtet wurden, befand sich eine „Gruppe Arbeitslosigkeit“. Diese suchte besonders den engen Kontakt mit anderen Erwerbslosen, beispielsweise dadurch, dass sie zeitweise täglich im Gebäude der ANPE anwesend war, wo ihre Mitglieder Flugblätter verteilten und sich zum Gespräch anboten.76 Die politische Mobilisierung der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter in den Jahren 1976 und 1977 berücksichtigte die Auseinandersetzung mit dem Zustand der Arbeitslosigkeit in besonderem Maße. Auch im Film „À pas lentes“ sind Szenen zu sehen, die vom Gemeinschaftsgefühl und von gegenseitiger Herzlichkeit auf dem besetzten Fabrikgelände zeugen. Ein erheblicher Teil der Aktivitäten auf dem besetzten Gelände diente der gegenseitigen Hilfe im Alltag, die teilweise auch Personen von außerhalb des Betriebs offen stand. Die Unsicherheit über die Zukunft wurde jedoch von den erwerbslosen LIP-Beschäftigten deutlich hervorgehoben. Eine Büroangestellte erklärte im März 1978: „Die Unsicherheit über unsere Zukunft ist größer und stärker; es wird nötig sein, so gut wie möglich von Tag zu Tag zu leben, um lange Widerstand zu leisten und nicht zusammenzubrechen.“77 In Gesprächen betonten die Beteiligten spätestens ab 1978 die zunehmende materielle Unsicherheit, die auch mit Zukunftsängsten einherging. Die Gründung der Genossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) im Herbst 1977 konnte diese nicht ausräumen, da ihre Finanzierung ungesichert war und erst spät absehbar wurde, wie viele von den ehemaligen LIP-Beschäftigten sie überhaupt in der Lage sein würde, einzustellen. Stattdessen nahmen unter den Beteiligten auf dem besetzten Betriebsgelände die Spannungen zu, als die ersten Personen in der Genossenschaft eingestellt wurden, andere, die ihr de facto zuarbeiteten, jedoch weiter aus der Solidaritätskasse bezahlt wurden. Die Dynamik der Betriebsbesetzung wird in Kapitel 5 dieser Arbeit diskutiert, sie war deutlich von den Problemen der Arbeitslosigkeit geprägt. Die Verhandlungen um den industriellen Plan für die Genossenschaft und einen entsprechenden Sozialplan boten jedenfalls keine einfache, kollektive Antwort auf die von den Beteiligten festgestellten Individualisie-
75 Vgl. Telexwechsel zwischen den ANPE-Stellen in Besançon und im Nord-Pas-de-Calais aus dem Mai 1976 und Vorbereitungspapier der ANPE für die Registrierung aus dem Mai 1976, ADD 2032 W 336. 76 Vgl. LIP Unité (deuxième série) No.5, Oktober 1976, S. 7, unter dem Titel „Sortons de l’isolement.“ 77 „Frau, 27 Jahre, Büroangestellte“ in Bondu: De l’usine à la communauté, S. 479.
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rungstendenzen, sondern gingen mit neuen Abgrenzungen und Spaltungen unter den ehemaligen LIP-Beschäftigten einher, deren Ursachen es zu analysieren gilt.
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Abbildung 7: Für die Arbeitsgruppe „Repression“ zwei Seiten einer Medaille – Gewalt durch die Arbeitsbehörden und die Polizei; Auflösung einer Demonstration vor den Räumen der Agence Nationale pour l’Emploi (ANPE)
Foto: Bernard Faille, Archives Municipales de Besançon
4. Technikvisionen und Gegenentwürfe – Produkte einer umkämpften Fabrik
Die Produkte der Fabrik LIP, der beiden Betriebsbesetzungen und der Genossenschaftsbetriebe danach zeugen von konkreten Zukunftsvorstellungen für das Unternehmen und die Branche, von politischen Zielen, gewachsenen und in die Krise geratenen Selbstverständnissen sowie Setzungen von Gerechtigkeit und Angemessenheit. Dies ist die leitende Annahme für die folgende Untersuchung der Produkte bei LIP von 1974 bis in die Gründungsphase der Genossenschaften. Die Uhrenserien, die unter Claude Neuschwander ab 1974 ausdrücklich als „Design-Serien“ beworben wurden, geraten als Träger einer spezifischen Zukunftsvision in den Fokus, die im ersten Teil des Kapitels diskutiert wird. Sie standen unternehmensstrategisch in einem engen Zusammenhang mit der bei LIP beginnenden Produktion von Quarzuhren. Auch in ihrer Symbolik trugen sie Zukunftsbilder fort, die für die Quarzuhren ab den 1970er Jahren typisch wurden. Deshalb werden sie in diesem Zusammenhang verortet. In Besançon entwickelte sich im Zuge der Transformation der Uhrenindustrie eine regionale Anpassungsstrategie im Bereich der Mikrotechnik oder „microtechniques“. Wie sich die LIP-Beschäftigten und ihre Genossenschaftsgründungen hierzu verhielten, wird ab dem zweiten der vier Abschnitte dieses Kapitels untersucht. Nahmen sie die Versprechungen emphatisch auf, die sich an die Integration der Mikroelektronik in die Uhren und die Mechanische Fertigung sowie deren zunehmende Diversifizierung in neue Anwendungsbereiche knüpften? Oder brachten die Beschäftigten Gegenentwürfe zu diesen Entwicklungen ins Spiel, die sich vielleicht enger an ihre jeweils eigenes berufliches Selbstverständnis oder eine neue Politisierung anlehnten? Kam in den Produkten der neuen Genossenschaftsbetriebe auch eine engere Identifikation der Produzenten mit dem hergestellten Produkt zum Ausdruck? Wenn ja, auf welche Beschäftigtengruppen traf dies zu? Zugrunde liegt diesen Fragen erstens die Annahme, dass die Quarztechnologie für die gelernten Uhrmacher eine Entwertung berufsspezifischer Fertig-
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keiten bedeutete, während andere Beschäftigtengruppen – etwa die angelernten Arbeiterinnen – von dieser Tendenz vermutlich weniger betroffen waren.1 Frankreich war bis in die 1970er Jahre das einzige westeuropäische Land außerhalb der Schweiz, in dem der Großteil der verkauften Uhren aus einheimischer Produktion stammte.2 Dass die Einführung von Quarzuhren auch eine kulturelle und symbolische Umwälzung bedeutete, kann für die Region um Besançon in besonderem Maße angenommen werden. Zweitens ist zu vermuten, dass die Politisierung während zweier langer Betriebsbesetzungen auch neue Ansprüche an die Nützlichkeit der Produkte hervorbrachte, die die Beschäftigten möglicherweise mit ihren Unterstützern teilten. Mit welchen Zielen und Ansprüchen wurde während der zweiten Betriebsbesetzung produziert, welche Vorstellungen von der eigenen Auseinandersetzung wurden mit den Produkten transportiert? Der Blick auf die Produkte der Betriebsbesetzung soll es auch ermöglichen, implizite Haltungen zu untersuchen, die möglicherweise nicht im gesprochenen oder geschriebenen Wort geäußert wurden. Auf besondere Weise können sie helfen, Prozesse der Moralisierung wirtschaftlicher Tätigkeit in den Fokus zu rücken. Diese würden der Analyse entgehen, wenn nur die öffentlichen, politschen Äußerungen der Zeit einbezogen würden. Als Bindeglied zwischen Produzenten und Konsumenten ermöglichen die Produkte einen Blick sowohl auf die aus dem Produktionsprozess selbst hervorgehenden Ansprüche – an die eigene Arbeit und darüber hinaus –, als auch auf die sich verändernden Bezugspunkte, die mit den Kunden oder Unterstützerinnen und Unterstützern von außerhalb geteilt wurden. Denn in einem bestimmten Sinn sind nicht nur die als solche vermarkteten Uhren, sondern sämtliche hier untersuchten Gegenstände Produkte von „Design“. Die Historikerin Judy Attfield definiert dieses als „things with attitude – created with a specific end in view – whether to fulfill a particular task, to make a statement, to objectify moral values, or to express individual or group identity, to denote status or demonstrate technological prowess, to exercise social control or to flaunt political power.“3 Nicht immer muss das „end in view“ von den Beteiligten dabei präzise definiert worden sein. Häufig dürfte es sich um eher implizit
1
Für diese Tendenz in der Branche um Besançon insgesamt vgl. Cournarie, Emmanuëlle: Approche socio-anthropologique d’une reconversion industrielle – de l’horlogerie aux microtechniques à Besançon, Doktorarbeit, Besançon 2011.
2
1974 kamen 80 Prozent der in Frankreich verkauften Uhren aus französischer Produktion, vgl. Grimbert, Jean-Marie: L’industrie de la montre en Franche-Comté en 1976, (Zeitschriftenartikel, Veröffentlichung unbekannt), ADD 35 J 10.
3
Attfield, Judy: Wild things – The Material Culture of Everyday Life, Oxford 2000, S. 12.
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vorausgesetzte Annahmen handeln. Umso mehr lohnt es deshalb, die hergestellten Produkte und ihre Entstehung auf solche Vorstellungen hin zu untersuchen und zu fragen, in welchem Zusammenhang diese mit der technischen Entwicklung, der sich verändernden Umwelt, der eigenen Position im Produktionsprozess und den Erfahrungen der Betriebsbesetzung standen.
4.1 Q UARZ
UND
D ESIGN
ALS
Z UKUNFTSVERSPRECHEN
Bei LIP wurden die Quarzuhren und die damals explizit als „Designuhren“ vermarkteten Uhrenserien zwischen 1974 und 1976 zum Kern der unternehmensstrategischen Neuausrichtung; dies ist in Kapitel 2 gezeigt worden. LIP konzentrierte sich zwar auch nach 1973 auf die Herstellung klassischer, mechanischer Uhren im mittleren Preissegment. Es sollte sich aber nach dem Willen seiner neuen Geschäftsleitung mittelfristig auf die Quarzuhrenproduktion stützen können. Wichtige Vorarbeiten hierzu waren geleistet: die abgeschlossene Entwicklung einer analogen Damenarmbanduhr als Quarzuhr, eine eigene Quarzstimmgabel und ein bei LIP entwickelter Schrittmotor, den der ehemalige Mehrheitseigentümer Ébauches bereits in Stückzahlen von mehreren Hunderttausend in der Schweiz hatte nachproduzieren lassen. Um den Einstieg in die Quarzuhrenproduktion mit der Position im mittleren Preissegment vereinbaren zu können, wurde auf die äußerliche Neugestaltung gesetzt sowie auf die weiterhin garantierte Beratung und Reparatur durch die Fachhändler. Für das neue Management war „das Design“ also zunächst Teil einer Marktstrategie, die an hochwertigen Materialien und etablierten Verkaufswegen festhielt. Hiermit wurden die durch die Quarzuhren potentiell sinkenden Preise antizipiert, die so ausgeglichen werden sollten. Um zu verstehen, was für Zukunftsbilder mit dieser industriellen Strategie einhergingen, hilft ein kleiner Exkurs: Was Quarzuhren von mechanischen Uhren auf den ersten Blick unterscheidet, ist das vollständige Verschwinden des mechanischen Uhrwerks. Für den Antrieb mechanischer Uhren dient am häufigsten eine – meist durch Aufziehen – gespannte Spiralfeder. Deren Energie wird auf eine Unruh übertragen, als deren Kernstück ein sich schnell und regelmäßig hin- und herdrehendes Schwungrad dient. Dessen Oszillation, meist zwischen 2,5 und 5 Hz, gibt der Uhr ihren Takt. Sie wird über eine Hemmung aus Ankern oder Stiften als schrittweise Bewegung auf ein Räderwerk übertragen. So auf den Minuten- und Sekundentakt reduziert, dient die Bewegung zur Anzeige der Zeit mit umlaufenden Uhrzeigern. In Quarzuhren verschwinden Unruh, Hemmung und Räderwerk vollständig. Als Energiequelle dient statt der Spiral-
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feder eine Batterie. Über den von ihr erzeugten minimalen Strom wird eine Stimmgabel aus künstlich gezüchtetem Quarzkristall zum Schwingen angeregt. Deren im Vergleich zur klassischen Unruh mehr als tausendfach höhere Schwingungszahl – heute meist 32.768 Hz – ist auch für die größere und konstantere Genauigkeit der Quarzuhr verantwortlich. Dieser Takt wird über einen elektronischen Schaltkreis mit hintereinander geschalteten Frequenzteilern auf den Minuten- und Sekundentakt der Uhr reduziert. Die Uhrzeit kann dann entweder mit einer Digitalanzeige dargestellt werden (Digitaluhr), oder so wie gewohnt mithilfe eines Schrittmotors und umlaufender Uhrzeiger (analoge Quarzuhr). Die wesentlichen Teile einer Quarzuhr sind also nicht mehr Unruh, Hemmung und Räderwerk, sondern Quarzstimmgabel, integrierter Schaltkreis und Schrittmotor. Die Quarzuhr, wie David Landes treffend bemerkt, „still looked like a watch, but was in reality a new product.“4 Noch lange über 1973 hinaus befand sich die Uhrenproduktion in den USA und Westeuropa in einer Phase der Expansion, wobei ab den späten 1970er Jahren vor allem die Quarzuhren hierfür verantwortlich waren. Auch die Produktion in der Franche-Comté wuchs noch, bis sie 1975 das erste Mal stagnierte. In Frankreich wurden 1960 knapp 5 Millionen Uhren Uhren produziert, 1970 mehr als 10 Millionen und 1974 schon über 16 Millionen. Weltweit waren es 1960 knapp 100 Millionen Uhren, 1970 177 Millionen und 1974 235 Millionen.5 Mit dem Anstieg der Verkäufe veränderten sich in Westeuropa die Konsummuster. Der Verkauf günstiger Uhren in Tabakwarengeschäften und Kaufhäusern hatte bereits in den 1960er Jahren stark zugenommen; das wichtigste Produkt waren diesbezüglich die billigeren mechanischen, sogenannten Roskopf-Uhren.6 An deren Verbreitung hatte LIP keinen Anteil, konzentrierte sich die Firma doch weiterhin auf mechanische Armbanduhren des mittleren Preissegments. Kelton hingegen, die 1957 in Besançon angesiedelte Filiale der American Time Corporation, war der Vorreiter dieser Entwicklung. Unter dem Namen Timex produzierte der Konzern seit 1949 in Amerika Roskopf-Uhren, deren Gehäuse vernietet waren und nicht mehr zur Reparatur geöffnet werden konnten. 1962 bereits
4
Landes, David: Revolution in Time – Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge, Massachussets 1983, S. 342.
5 6
Vgl. Landes: Revolution in Time, Tabelle 9, S. 387. In den Roskopf-Uhren wurden die nach ihrem Erfinder Georges-Frédéric Roskopf (1813-1889) bennanten, günstigeren Stiftankerhemmungen verbaut. Die erste Uhr, die Roskopf selbst in den 1860er Jahren nach diesem Prinzip entwickelt hatte, nannte er „Le Prolétaire“, Hauptkunden waren militärische Einheiten, die ihre Mitglieder hiermit ausstatteten.
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war jede dritte in den USA verkaufte Uhr eine Timex.7 Von den insgesamt in Frankreich produzierten Armbanduhren machten die Roskopf-Uhren 1974 etwas weniger als die Hälfte aus, Kelton fertigte in Besançon auch Timex-Uhren.8 Beworben wurden diese Uhren nicht mehr nur zu den saisonalen Schwerpunkten im Frühjahr und zu Weihnachten, sondern ganzjährig. Mit den Quarzuhren verstärkte sich der Trend zum Verkauf jenseits der bislang dominanten Fachgeschäfte. Dass sich mit ihr auch der Trend zur Wegwerfuhr verstärken würde, wurde von Zeitgenossen vermutet. Doch nicht die tatsächlich auf dem Markt befindlichen Quarzuhren, sondern vielmehr die bisherigen, nach dem TimexModell vermarkteten mechanischen Uhren bildeten den Hintergrund ihrer Annahmen.9 Erst als die Stimmgabeln, Schaltkreise und Motoren zum Ende der 1970er Jahre tatsächlich als billige und allgemein verfügbare Massenware produziert wurden, wurden auch die Quarzuhren zur billigen Alternative mit einer entsprechend kürzeren Lebensdauer.10 Während 1975 in den USA bereits jede zweite verkaufte Armbanduhr eine Quarzuhr war, betrug deren Marktanteil in Frankreich noch 4 Prozent. Und die bis dahin einzigen in Frankreich hergestellten Quarzuhren waren die von LIP.11 In den 1970er Jahren verkörperten die Quarzuhren neue Versprechen an die Konsumenten. Diese ersetzten zum Teil die alten, mit der mechanischen Uhr verbundenen Bedeutungen, zum Teil ergänzten sie diese oder trieben sie auf die Spitze. Letzteres gilt insbesondere für das Versprechen der Exaktheit, denn im Gegensatz zu mechanischen Uhren müssen Quarzuhren nicht aufgezogen und nur sehr selten gestellt werden. Ihre durchschnittliche, monatliche Gangabweichung von 30 Sekunden bis zu einer Minute ist drastisch geringer als die von mechanischen Uhren.12 Auch die ersten Quarzarmbanduhren bei LIP wurden als die exaktere und „modernere“ Alternative beworben. Sie waren auch das Resul-
7 8
Vgl. ebenda, S. 340. Produzenten von Roskopf-Uhren waren Kelton (Besançon) und Cattin (Morteau), vgl. Grimbert: L’industrie de la montre, ADD 35 J 10.
9
Vgl. ebenda.
10 In Europa wuchs der Absatz von Uhren nach der Einführung der Quarzuhren rasant weiter. Die Vergleichszahlen verkaufter Uhren pro Jahr in verschiedenen Industrieländern zeigten schon 1974, wohin die Reise ging: So wurden pro 1000 Einwohner und Jahr in den USA 240 Uhren verkauft, in Großbritannien sogar 253, in Frankreich 160 und in Belgien nur 110, vgl. Syndex: Rapport sur les comptes de 1974, S. 13, BDIC F Δ rés. 702/20. 11 Vgl. Grimbert, Jean-Marie: L’industrie de la montre, ADD 35 J 10. 12 Vgl. Landes: Revolution in Time, S. 345f.
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tat eines Wettlaufs um Genauigkeit, den sich Uhrenhersteller vor allem in den USA und der Schweiz seit den 1950er Jahren geliefert hatten. In diesem gewannen alternative Antriebe zum per Sprungfeder angetriebenen Schwungrad an Bedeutung. LIP hatte sich an diesem Wettlauf beteiligt. Fred Lip war 1949 eine Kooperation mit der amerikanischen Elgin Watch Company zur Entwicklung einer elektromechanischen Armbanduhr eingegangen. 1958 konnte diese auf den Markt gebracht und für eine männliche, geschäftsmännische Kundschaft beworben werden.13 Ein durch eine Batterie erzeugter Strom regte darin elektromagnetisch über eine Gabel aus zwei Spulen das Schwungrad an, ab da funktionierte die Uhr wie jede andere.14 Den großen Durchbruch erlebte zur selben Zeit jedoch eine Entwicklung der amerikanisch-schweizerischen Firma Bulova, die Bulova Accutron. Die Stimmgabelform des Taktgebers in der Accutron wurde zum Vorbild für die Miniaturisierung von Quarzstimmgabeln, auf die in den 1960er Jahren schweizerische, amerikanische und japanische Unternehmen erheblichen Aufwand richteten und die auch bei LIP entwickelt wurden.15 Das bestverkaufte Modell aus der Accutronreihe – die Spaceview – ermöglichte den Blick durch die Ziffernscheibe auf die Kontakte und elektromagnetischen Spulen. Die Gestaltung der Uhr stellte also die Technizität des Objekts in besonderem Maße aus; ihr Name weckte Assoziationen mit der Raumfahrt, die damals als Sinnbild des Fortschritts zelebriert wurde. Diese Mythisierung der Technik wurde in der Folge auch für die Quarzuhren typisch, gleich ob diese mit analoger oder digitaler Anzeige funktionierten.16 Damit bewegte sich die Quarzuhr in einer deutlich anderen Symbolwelt als die alte mechanische Uhr. Die Armbanduhr, am Handgelenk getragen und dort leicht exponiert, hat neben der praktischen meist eine repräsentative Funktion, die den Status des Trägers oder der Trägerin unterstreichen soll. Der häufigste Verkaufsort mechanischer Uhren in den 1970er Jahren hatte einen besonderen Bezug zur Schmuckfertigung, die im Französischen wie im Deutschen stets gemeinsam genannten „horlogers-bijoutiers“, die „Uhrmacher- und Juweliergeschäfte“. Dabei ging die Funktion der Armbanduhr deutlich über die Anzeige
13 „LIP Electronic ist für die Zukunft entworfen“, hieß es in der Reklame. „Sie wird Ihre Armbanduhr sein, wenn Sie ein wirklich anspruchsvoller, moderner Mann sind“, Auschitzky-Coustans, Marie-Pia: Lip, des heures à conter, Seyssinet 2000, S. 27. 14 Elgin, Marvin, Nivada und Waltham kauften Kaliber von LIP, vgl. AuschitzkyCoustans: Lip, des heures à conter, S. 30. 15 Vgl. Stephens, Carlene und Maggie Dennis: „Engineering time: Inventing the electronic wristwatch“, British Journal for the History of Science 33 (2000), S. 482f. 16 Vgl. ebenda.
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der Zeit hinaus. Mit der Durchsetzung der Taschen- bzw. Armbanduhren seit dem späten 19. Jahrhundert verbanden sich neue gesellschaftliche Ansprüche an ihre Träger. In ihnen äußerte sich die Selbstkontrolle erwachsener, arbeitender Menschen, die auf die Einhaltung von Terminen angewiesen waren. Damit war die Taschen- bzw. Armbanduhr ein Statusgegenstand, der erst mit dem Bürgertum und dann mit der Angestelltenwelt identifiziert werden konnte. Schon früh im 20. Jahrhundert besaßen dann auch erwachsene Arbeiter in der Regel eine Taschenuhr. Obwohl sie also ein allgemein üblicher Gegenstand des täglichen Gebrauchs war, büßte die Uhr noch lange nicht ihre Funktion als Statussymbol ein.17 Vor allem die Identifikation mit dem Erwachsenenleben machte sie zu einem häufigen Geschenk zur Kommunion oder Firmung, das dann oft ein Leben lang getragen und nicht selten vererbt wurde. So verkörperte die Armbanduhr Stabilität, Strenge, Nüchternheit, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit, zumal bei ihren männlichen Trägern. Ihre Materialien, die Haltbarkeit und lange Dauer zum Ausdruck bringen, unterstreichen dies – Leder, Kupfer, Messing, Stahl, seltener Silber oder Gold. Mit der Vererbung schließlich wurde die Armbanduhr auch zum Symbol einer patriarchalen Gesellschaft.18 Die Tatsache, dass der Preis mechanischer Uhren diese als Anschaffung erscheinen ließ, bedingte, dass Uhren lange in erster Linie ein Geschenk zu Lebensereignissen wie der Kommunion, zu Hochzeiten oder runden Geburtstagen blieben. Mit den RoskopfUhren deutete sich bereits eine Abkehr von diesem Konsummuster an. Anfang der 1970er Jahre stieg dann auch in Frankreich der Anteil von Käufern deutlich, die Armbanduhren für sich selber anstatt zu Geschenkzwecken kauften. Dies galt besonders für Männer, während Frauen Uhren immer noch hauptsächlich verschenkten. Freiberufler und Angestellte hatten auch 1974 im Vergleich zu Arbeitern einen überproportionalen Anteil am Uhrenkonsum.19 Bei LIP wurde 1974 die Kollektion von 1973 weiter produziert. Für die Kollektion 1975 lud Claude Neuschwander dann vier Industriedesigner zur Gestaltung von „Design“-Uhrenserien ein, die explizit als solche vermarktet wurden. Die meisten dieser Modelle waren mechanische Uhren. Lediglich von einigen wenigen Modellen wurden ab September 1975 die ersten quarzgetakteten Ausführungen angeboten. Die Verkaufsversprechen bewegten sich jedoch auch für
17 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: „Der Konsum von Arbeitern und Angestellten“, Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990 – ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2009, S. 145-153. 18 Vgl. hierzu Cournarie: Approche socio-anthropologique, S. 187. 19 Vgl. Branchen-Studie des IFOP über das Jahr 1974, zit. in Syndex: Rapport au comité d’entreprise sur les comptes de 1974, S. 14, BDIC F Δ rés. 702/20.
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die mechanischen Ausführungen eng im Rahmen der neuen Symbolik, wie sie eben für die Quarzuhren als typisch skizziert worden ist. Auch vor 1974 hatte LIP durchaus unkonventionell gestaltete Uhrenmodelle produziert und vertrieben.20 Der Unterschied lag im Gestaltungsprozess: Die als „Designuhren“ vertriebenen Uhren wurden nicht mehr von Uhrmachern und künstlerischen Gestaltern entworfen, sondern von Industriedesignern. Diese verstanden die Unterscheidung als wichtigen Teil ihres Selbstbildes. Zunächst werteten diese in ihren Äußerungen die bisherige Form technischer und gestalterischer Expertise symbolisch ab. Sie beanspruchten eine zukunftsweisende Perspektive für sich, die sie den Künstlern, Uhrmachern und Technikern im Betrieb absprachen. Roger Tallon, der die Uhrenserie Mach 2000 für LIP entwarf, formulierte in offensiver Abgrenzung zur herkömmlichen Uhrengestaltung: „Es gibt zwei Arten, Uhren zu entwerfen. Die eine, traditionelle, besteht darin, bis ins Unendliche die charakteristischsten Formen der Uhrmacher- und Juweliermode auszubuchstabieren. Die andere, die wir praktizieren, lässt uns die kleine Maschine zum Festhalten der Zeit unter einem größeren Blickwinkel betrachten, indem wir all ihre Funktionen – technische, ökonomische und im Gebrauch – im Rahmen der Entwicklung des allgemeinen Systems der Objekte analysieren, welche uns vertraut sind.“21
Zwar wurden von allen in den „Design“-Serien erschienenen Modellen mechanische Ausführungen gefertigt und lediglich einige zusätzlich als elektronische Quarzuhren angeboten. In ihrer Erscheinung und Vermarktung verband sich dennoch all jenes, was auch für die erfolgreichsten Quarzuhren der Zeit typisch war. Die Namen der LIP-Uhrenserien Galaxie und Comète (Rudy Meyer) ließen die Raumfahrt ebenso wie die Nähe der Uhrmacherei zur Astronomie anklingen, die überdies mit Wissenschaftlichkeit und Präzision assoziiert werden konnte. Für die Mach 2000-Serie von Roger Tallon wurden Geschwindigkeitsrekorde im
20 Das beste Beispiel hierfür ist die mechanische LIP de Baschmakoff. Die Zeitanzeige geschieht bei ihr über umlaufende Zahlenscheiben. Die Zeit erscheint dann in Zahlenform in einem kleinen Sichtfenster, vgl. Auschitzky-Coustans: LIP – des heures à conter, S. 153. 21 LIP Magazine 1975, BDIC F Δ rés. 702/20. Hiermit griff Tallon einen Begriff des Medientheoretikers Jean Baudrillard auf. 1968 war die erste Ausgabe von dessen Abhandlung „Le système des objets“ erschienen, auf Deutsch: Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M. 2007.
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Überschallbereich namensgebend.22 Als Material für die Gehäuse der Mach 2000 wurde eine besonders korrosionsbeständige Metall-Legierung gewählt. Noch heute, im Interview, zeichnet Claude Neuschwander mit Begeisterung die asymmetrische Form der Mach 2000 nach und kann deren verschiedene Tragemöglichkeiten mit dem Bleistift skizzieren.23 In Werbeskizzen wurden diese Uhren als Halskette präsentiert, hier verbanden sich Funktion und Schmuck neu, als Stoppuhr, die ebenfalls um den Hals getragen wurde, und an beliebigen Stellen am Oberschenkel, am Gürtel und an der Brust befestigt. Frauen und Männer dienten hier als Modelle.24 Ihre Gestaltung antizipierte also neben den spezifischen Veränderungen im Uhrenkonsum auch ein verändertes Freizeitverhalten. In diesem wurde sportlichen Aktivitäten eine besondere Bedeutung zugemessen. Die Kundschaft für die Mach 2000-Uhren stellte sich Roger Tallon offenbar als jung und berufstätig vor. Die Preise der Serie bewegten sich mit 300 bis 500 FF im oberen Bereich der neuen Designserien. Dies war auch den möglichen Zusatzfunktionen wie Stoppuhr und Kalender geschuldet. Dennoch sollte die Kundschaft mit der Entlehnung trotzkistischen Vokabulars zum Kauf angeregt werden: „Tallon oder die permanente Evolution“ war die Vorstellung der Serie im Prospekt überschrieben. In der Uhrenserie von Marc Held betonten an der Oberseite des Uhrengehäuses sichtbar montierte Schrauben die Technizität des Objekts und dienten gleichzeitig als Schmuckelement. Auf zahlreiche Anzeigeoptionen verzichtete die Serie und beließ es bei der Anzeige der Zeit. Unter dem Titel „Boyer oder die Gabe der Einfachheit“ wurde seine Uhrenserie vorgestellt. Mit Preisen ab 140 FF war diese die günstigste der neuen Uhrenserien. Beide Serien, die von Boyer und die von Held, warben mit ihrer Einfachheit und Funktionalität.25 Die Quarzuhren schließlich, die ab September 1975 endlich verkauft wurden, kosteten ab 800 FF und waren damit noch keineswegs die billigere, sondern vielmehr die neuere und präzisere Alternative. In der Reklame wurde dieses Exaktheitsversprechen geschickt mit dem erfolgreichen Neustart und der
22 Roger Tallon, 1929-2011, war gelernter Ingenieur und gründete 1963 die erste Abteilung für Industriedesign an der École nationale supérieure des arts décoratifs. Später gestaltete er die ersten französischen Hochgeschwindigkeitszüge. 23 Vgl. Interview des Verfassers mit Claude Neuschwander, 24. Juni 2014. 24 Grillet, Thierry: „Le temps redessiné – montres LIP“, in: Roger Tallon, itinéraires d’un designer industriel, Paris 1993, S. 114f. 25 Vgl. LIP Magazine 1975, BDIC 702/6.
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Verlässlichkeit des Unternehmens kurzgeschlossen.26 Der Leiter der Entwicklungsabteilung, Jean-Louis Milan, präsentierte darin die neuen Quarzuhren.27 Mit all diesen Uhrenmodellen erhoben sich die Industriedesigner über die Welt der Uhrmacherei und insbesondere der begleitenden Juwelierkunst, indem sie eine höhere Form von Funktionalität für ihre Produkte beanspruchten. Diese Aura der Funktionalität konnte deshalb erstrebenswert werden, weil Armbanduhren bereits zum massenhaften Alltagsgegenstand geworden geworden waren und sich die Konsumgewohnheiten deutlich verändert hatten. Nicht mehr nur „Chronometer“ für Männer mit Zusatzfunktionen und sportlichen Namen, sondern auch die einfache Damenarmbanduhr wurden nun als funktionaler Gegenstand neu besetzt. Der Demystifizierung der mechanischen Uhr setzten die Designer – auf ihre jeweils spezifische Weise – eine neue Mythisierung der Technizität und Funktionalität entgegen. Die Einbeziehung der Industriedesigner bedeutete eine – zunächst symbolische – Entwertung der berufsspezifischen Fertigkeiten von Uhrmachern und Technikern im Betrieb. Allgemein bedeutete die Quarzuhr im Gegensatz zu ihren Individualitätsversprechen an die Konsumenten eine Ausdehnung der Charakteristika der Massenproduktion: eine drastische Produktstandardisierung, den abermals vermehrten Einsatz von spezialisierten Maschinen und eine Ausweitung der Fließ- und schließlich Bandarbeit. Bei den von LIP produzierten Quarzuhren handelte es sich zunächst ausschließlich um analoge Quarzuhren, die auch weiterhin mit einem für eine lange Lebensdauer angelegten Getriebe für die Anzeige ausgestattet waren. Nachdem seit 1974 eine erste Vorserie von 10.000 Stück produziert worden war, kamen die Quarzuhren im Herbst 1975 regulär in den Verkauf. Auch danach wurden nur wenige tausend Stück produziert. Die Designserien dagegen machten 1975 immerhin 15 Prozent des Umsatzes aus.28 Der Großteil der zwischen 1974 und 1976 produzierten Uhren bei LIP waren nach wie vor mechanische Uhren, weswegen die realen Auswirkungen der neuen Unternehmensstrategie auf die Produktionsstruktur des Unternehmens beschränkt blieben. Die größte diesbezügliche Veränderung war die Eröffnung der neuen Werkstatt für Uhrengehäuse im September 1975. Diese war in erster Linie
26 In der Fernsehwerbung hieß es: „Exakt zum vorgesehenen Datum bringt LIP die Mach 2000 bei den Uhrmachergeschäften heraus.“, http://www.ina.fr/video/PUB2126 09138/lip-mach-2000-gamme-de-montres-video.html, abgerufen am 23. August 2016. 27 Vgl. den Fernsehwerbespot von 1975: http://www.ina.fr/video/PUB3212624094/liplip-electronic-montres-electroniques-video.html, abgerufen am 23. August 2016. 28 Vgl. Claude Neuschwander: Perspectives industrielles et besoins de financement de la nouvelle société LIP, Anhang, Januar 1976, ADD 45 J, in Einarbeitung.
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für die Produktion von Großserien ausgelegt und zielte mit der Integration einer großzügig angelegten Galvanikwerkstatt auf die Produktion qualitativ hochwertiger Uhrengehäuse. Diese sollten auch an andere Uhrenproduzenten verkauft und nicht zuletzt exportiert werden. Während LIP für die Quarzuhren zwischen 1974 und 1976 seine eigenen Stimmgabeln verbauen konnte, fehlten dem Unternehmen für die Produktion der Schrittmotoren die entsprechenden Möglichkeiten. Für die elektronischen Schaltkreise schließlich gab es zum Zeitpunkt des zweiten LIP-Konflikts keinen französischen Produzenten, da Thomson seine Entwicklungstätigkeit wegen der Streitigkeiten in der Uhrenbranche eingestellt hatte. Schaltkreise kaufte LIP also bei Motorola ein.29 Eine Dynamik aus sich verkürzenden Produktionszeiträumen für die jeweiligen Uhrenmodelle war bei LIP bis 1976 noch nicht festzustellen. Die durchschnittliche Produktionsdauer der einzelnen Modelle hatte bei LIP vor 1973 bei drei Jahren gelegen, die am längsten verkauften Modelle der Dauphine-Serie (1957 bis 1972), der Nautic- und der Nautic-Ski-Reihen (in verschiedenen Varianten seit den 1930er Jahren) wurden weitaus länger hergestellt. Trotz der großen Anzahl von Uhrenmodellen im jährlich fürs nächste Frühjahr erscheinenden Katalog (217 im Jahr 1973) und der im Betrieb selbst hergestellten Kaliber, auf denen diese beruhten (zwölf), hatte auch 1973 bereits eine überschaubare Anzahl von Kalibern – Zusammensetzungen aus Rohwerk und Bewegung als Basis einer Uhrenfamilie – dominiert. So waren 1972 175.000 Kaliber T13, 70.000 R50 und 82.000 R184 gefertigt worden.30 Dass Claude Neuschwander beschloss, die Zahl der im Betrieb gefertigten Kaliber von zwölf auf vier zu reduzieren und die Gesamtzahl der Modelle deutlich zu verringern, kann demnach als konsequente Schlussfolgerung aus der bereits begonnenen Entwicklung verstanden werden. Über die Notwendigkeit dieser Maßnahme hatte zwischen den beteiligten Unternehmern ein Konsens bestanden. Sie muss als wichtiger Rationalisierungsschritt verstanden werden. Für die Zukunft wurde mit den Design-Serien und den Quarzuhren noch eine deutlich stärkere Produktstandardisierung vorgesehen. Sämtliche bei LIP hergestellten, analogen Quarzuhren beruhten auf demselben Kaliber R.033. Das „Design“ war ein Mittel, um trotz dieser Standardisierung mit neuer Individualität werben zu können und die Preise stabil zu halten. In der Prospektion für die Zukunft wurde die Rationalisierung weiter getrieben. So sah das Quartzélec-Projekt die Einrichtung von zwei Produktionsstraßen für die Montage von Digitaluhren vor. Eine davon war für die manuelle Montage
29 Vgl. Auschitzky-Coustans, S. 106. 30 Vgl. ebenda, S. 48.
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vorgesehen, die andere sollte als „chaine mécanisée“ teilautomatisiert werden.31 Eine Zunahme der Beschäftigung angelernter Arbeiterinnen und Arbeiter war für die Zukunft also ebenso zu erwarten wie eine wachsende Obsoleszenz der bisherigen beruflichen Fertigkeiten der Uhrmacher. Allerdings deutete die Entwicklung bei LIP nicht auf eine lineare Dequalifizierung aller Beschäftigtengruppen hin. Vielmehr wurde von den mit Kontrollaufgaben betrauten Beschäftigten eine Umorientierung im Bereich der Quarzuhren verlangt. Und die im Bereich der Entwicklung angestellten Ingenieure erfuhren mit den technischen Veränderungen im Gegensatz zu den Uhrmachern einen Bedeutungszuwachs. Besonders die Auslagerung eines großen Teils der Vorproduktion und die Konzentration auf die Montage bedeuteten aber eine Ausweitung der Charakteristika der Massenproduktion. Die bisherigen uhrmacherischen Tätigkeiten im Betrieb erfuhren zunächst eine symbolische Abwertung durch die Einbeziehung von Industriedesignern. Perspektivisch war auch ihre praktische Bedeutung für den Betrieb deutlich in Frage gestellt.
4.2 LIP-I NGENIEURE IM H ERZEN DER REGIONALEN O RIENTIERUNG : M IKRO - UND M EDIZINTECHNIK Mikromechanik bezeichnet als Fachterminus die mechanische Bearbeitung kleinster Bauelemente im Bereich ab der Größe von wenigen hundert Mikrometern. Als Teil der Mikrosystemtechnik ist die Mikromechanik ein fachlich klar umgrenzter Bereich.32 Über diesen geht jedoch die Verwendung in der Region um Besançon weit hinaus. Zusätzlich zur „Mikromechanik“ etablierte sich dort ab den 1960er Jahren, beschleunigt jedoch in der Transformation der Uhrenindustrie ab Mitte der 1970er Jahre, der Terminus der „microtechniques“, also der diversen Anwendungsbereiche der Mikrotechnik. Schon früh wurde dieser zum vagen Sammelbegriff, der zunächst im Bereich der technischen Ausbildung und in der Industrie, sehr bald aber auch in der politischen Sphäre gebraucht wurde. Als erstes war die „Micromécanique“ schon 1961 in den Namen der Ingenieursschule aufgenommen worden: Das Institut de Chronométrie hieß von nun an École Nationale Supérieure de Chronométrie et Micromécanique. 1980 verschwand die Uhrmacherei aus ihrem Namen, von nun an École Nationale
31 Vgl. Synthese Quartzélec, November 1975, S. 6, ADD 45 J, in Einarbeitung. 32 Vgl. Hilleringmann, Ulrich: Mikrosystemtechnik: Prozessschritte, Technologien, Anwendungen, Wiesbaden 2006.
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Supérieure de Mécanique et des Microtechniques (ENSMM).33 1968 wurde die Messe in Besançon auf den Namen „Micronora“ umgewidmet, obwohl dort auch Werkzeugmaschinen und andere Geräte mit gröberen Abmessungen vorgestellt wurden. 1972 wurde an der École Nationale d’Horlogerie erstmals ein Fachabitur mit Spezialisierung in „Microtechniques“ angeboten. Hier bedeutete dies die Integration von anderen als rein mechanischen Anwendungen. In der stärker an Systemen orientierten Ausbildung kam nun auch chemischen, thermischen und elektronischen Verfahren eine größere Bedeutung zu.34 Schon bald jedoch erfuhr der Begriff eine politische Verwendung. Kolloquien zum Thema „Microtechniques“ wurden veranstaltet. Die Sozialistische Partei und der Conseil Régional widmeten sich diesen als möglichem Teil einer regionalen Diversifizierungsstrategie, die an die Potentiale der Uhrenbranche anknüpfen sollte. Der Bürgermeister Robert Schwint (PS, ab 1977) und der sozialistische Abgeordnete Joseph Pinard unterstützten die Diversifizierung im Bereich der Medizintechnik mit öffentlichen Stellungnahmen.35 Vertreter der Uhrenbranche aus der Franche-Comté und der Schweiz veranstalteten zwischen 1978 und 1982 Seminare zur Elektronik in der Uhrenbranche und zur Diversifizierung im Bereich der „Microtechniques“.36 Die zunehmende Verbreitung des Begriffs „Microtechniques“ ging seit Mitte der 1970er Jahre mit der Schließung zahlreicher Betriebe der Uhrenindustrie einher.37 1976 arbeiteten in der Uhrenbranche der Franche-Comté noch 12.000 Personen, die Beschäftigung hatte in den unmittelbar vorangegangenen Jahren sogar leicht zugenommen. Bis 1990 reduzierte sich diese Zahl dann um mehr als die Hälfte.38 Zu den heute 14.000 Arbeitsplätzen im Bereich der „Microtechniques“ in der Franche-Comté zählen zahlreiche, die bereits vorher in metallverarbeitenden Betrieben der Region außerhalb der Uhrenbranche angesiedelt waren. Weniger als 2.000 der insgesamt 3.657 in der französischen Uhrenindustrie verbliebenen Beschäftigten arbeiteten im Jahr 2008 noch in der Franche-
33 Vgl. die Selbstdarstellung der ENSMM: https://www.ens2m.fr/, abgerufen am 23. August 2016. 34 Vgl. Cournarie: Approche socio-anthropologique, S. 254ff. 35 Vgl. die Unterlagen Joseph Pinards zu den Tagungen der Sozialistischen Partei und des Conseil Régional, ADD 35 J 10. 36 Vgl. Ternant: La dynamique longue, S. 594. 37 Die Chambre française de l’Horlogerie gab sich 1977 den Namenszusatz „et des microtechniques“, vgl. ebenda, S. 593f. 38 Vgl. Ternant: La dynamique longue, S. 612.
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Comté.39 Die Entstehung der Rede von den „Microtechniques“ kann also rückblickend als symptomatisch für den Versuch verstanden werden, die drastische Schrumpfung einer Branche zu bemänteln. Schon ab 1984 bildete das Lycée Jules Haag keine Uhrmacher in der Produktion, sondern nur noch Reparateure aus.40 In den späten 1970er Jahren jedoch trug der Begriff der „Microtechniques“ genau wie die Quarztechnologie Versprechen von Innovation in sich, für welche die zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen der Region als flexible Garanten standen. Im gemeinsamen Bemühen um öffentliche Gelder, auch aus europäischen Fördertöpfen, bot die entstehende Diversifizierungsstrategie ihnen Anschlussmöglichkeiten, um diese zu einem Teil ihrer eigenen Neuausrichtung zu machen und sie aktiv mitzugestalten. Eine Strömung der politischen Argumentation der LIP-Beschäftigten und ihrer Gewerkschafter setzte hier an. Das technische Potential der Fabrik und der Erhalt des „outil de travail“ wurden ab 1976 zu Kernbestandteilen der gewerkschaftlichen Argumentation für den Erhalt von LIP (vgl. Kapitel 5). In besonderer Weise schloss auf dem besetzten Betriebsgelände in Palente die Initiative „4M – Micromécanique vers le matériel médical“ an die regionalen Diversifizierungsbemühungen an. Diese gab sich am 26. Oktober 1976 den Status eines eingetragenen, gemeinnützigen Vereins. Als Vereinsziel wurde die Gründung eines spezialisierten Industriebetriebs angegeben, der sich in einen möglichst großen industriellen Zusammenhang auf der Basis der bisherigen Produktion von LIP einfügen sollte.41 Die Tätigkeit des Vereins war also klar mit dem Ziel des Arbeitsplatzerhalts für alle LIP-Beschäftigten verknüpft und fügte sich in die übrigen Aktivitäten der Betriebsbesetzung ein. Daneben verfolgten die Beteiligten das Ziel, zu einer stärker kooperativ geprägten Entwicklungspraxis zu gelangen. „Man muss das Bild des Forschers entsakralisieren“, wurde einer von ihnen in der LIP Unité zitiert.42 Gemeint war damit eine Abkehr vom – auch in der Uhrenentwicklung noch nie realitätsgerechten – Bild des einsamen Forschers, der aufgrund individueller Genialität zu bahnbrechenden Entwicklungen gelangt. An dessen Stelle sollte die kooperative Erarbeitung von Lösungen und Apparaten treten. In diese wurden neben den Ingenieuren aus der Entwicklungsabteilung von LIP sowohl Ärzte und Mediziner
39 Vgl. Observatoire Statistique Transfrontalier de l’Arc Jurassien: L’horlogerie dans l’Arc jurassien: un portrait en chiffres, Besançon 2011. 40 Vgl. Cournarie: Approche socio-anthropologique, S. 257. 41 Vgl. Satzung des Vereins 4M, BDIC F Δ rés. 702/21. 42 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No. 6, November 1976, S. 4.
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als auch Patienten einbezogen. Es wurden also diejenigen stärker berücksichtigt, die die Entwicklungen später nutzen sollten. Im Kontakt mit den Krankenhäusern von Besançon, Montbéliard und Belfort boten die Ingenieure Reparaturleistungen an und versuchten, den konkreten Bedarf an technischen Geräten zu ermitteln. Ziel war es, diese Geräte zu günstigen Preisen anbieten zu können, sie besser auf die konkreten Bedürfnisse abzustimmen und sie mit einer verbesserten Wartung und Instandhaltung im Vergleich zu den überwiegend importierten Geräten in Frankreich anbieten zu können. Versuche wurden noch im Laufe den Jahres mit Herzschrittmachern gemacht, die auf der Quarztechnologie basieren, sowie im Bereich von Dialysegeräten. Außerdem wurde ein Differentialthermometer entwickelt, das für Messungen an der Haut verwendet werden konnte, und ein elektronisches Stethoskop.43 Treibende Kraft hinter der auf dem besetzten LIP-Gelände gegründeten Initiative waren einige junge Ingenieure aus der Entwicklungsabteilung von LIP.44 Sie setzten darin ihre Entwicklungstätigkeit aus dem Bereich der Quarzuhren fort. Ihre beruflichen Kenntnisse kamen ihnen bei der konkreten Tätigkeit zugute. Ihre soziale Stellung erleichterte es ihnen, das entsprechende Startkapital zu mobilisieren. Nach einiger Zeit auf dem besetzten Betriebsgelände von LIP konnten sie deshalb bereits die Gründung eines Unternehmens in Angriff nehmen, mit dem sie leichter Fördermittel einwerben und die reguläre Produktion beginnen wollten. Im Laufe des Jahres 1977 wuchsen diesbezüglich die Spannungen zwischen den Ingenieuren und den übrigen an der Betriebsbesetzung Beteiligten. Auf der jährlichen Mitgliederversammlung des Vereins 4M am 23. September 1977 äußerten sich schließlich auch Ärzte kritisch gegenüber den Ingenieuren von LIP. Jene waren als externe Unterstützer dem Verein beigetreten. Nun warfen sie den Ingenieuren vor, sich nicht mehr an den Zielen der Betriebsbesetzung zu orientieren, „zu einem gewissen Maß die allgemeine Philosophie dieses Experiments verraten zu haben und von der den LIP-Arbeitern und ihrem Kampf entgegengebrachten Solidarität profitiert zu haben.“45 Der von Charles Naly, einem Ingenieur aus der Entwicklungsabteilung und Verteter der Angestelltengewerkschaft CGC (Confédération Générale des Cadres) bei LIP vorgetragene Tätigkeitsbericht des Vereinsvorstands hatte die seit sechs Monaten unternommenen Bemühungen zu einer Unternehmensgründung betont und kriti-
43 Vgl. ebenda. 44 Vgl. Clodic, Denis, Pierre Victor und Jean Raguenès: „LIP 1973-1976“, Les Temps Modernes 367 (1977), S. 1260f. 45 Protokoll der Mitgliederversammlung der 4M vom 23. September 1977, S. 2, BDIC F Δ rés. 702/21.
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siert, dass diese nicht von allen LIP-Beschäftigten gutgeheißen wurde. Die Entscheidung der Ingenieure, das LIP-Gelände zu verlassen, stehe nun fest. Dies sei auch auf die Haltung der übrigen an der Betriebsbesetzung Beteiligten zurückzuführen. Die anderen LIP-Beschäftigten, die auf der Versammlung anwesend waren, betonten dagegen, dass sie monatelang versucht hätten, die Ziele der Ingenieure mit einem Projekt für die Diversifizierung von LIP insgesamt in Übereinstimmung zu bringen. Ein solches Projekt sei aber etwas anderes als die Gründung einer „Miniatur-Forschungszelle“, wie sie nun geplant werde. Der inhaltliche Teil des Tätigkeitsberichts wurde dementsprechend von 109 der 118 Anwesenden abgelehnt, die Übrigen enthielten sich. Der Vereinsvorstand trat unmittelbar danach zurück.46 Auch wenn für den Oktober noch eine weitere Mitgliederversammlung für die Neuwahl des Vorstands vorgesehen wurde, so war das Ende der gemeinsamen Aktivitäten auf dem LIP-Gelände besiegelt. Wenig später gründeten die Ingenieure die Aktiengesellschaft Statice, um die Entwicklungstätigkeit im Bereich der Medizintechnik zu verstetigen. Serge Piranda und Charles Naly, zwei der zurückgetretenen Vorstandsmitglieder von 4M, blieben in dieser Firma in führenden Positionen aktiv. Charles Naly war über das Jahr 2000 hinaus der Geschäftsführer des Unternehmens, das noch heute in Besançon mit etwa 30 Ingenieuren und einer mittlerweile 70-köpfigen Belegschaft in der Produktion die Entwicklung medizintechnischer Geräte betreut.47 Bei seiner Gründung konnte das Unternehmen von der Vorarbeit während der Betriebsbesetzung ebenso profitieren wie von der Vermietung einer Halle durch die Stadtverwaltung.48 Während die Ingenieure also zunächst das Ziel mit den übrigen Beteiligten teilten, die Diversifizierung der Produktion von LIP voranzubringen, waren sie vorerst die einzigen, die dieses konkret für ihre eigene berufliche Entwicklung nutzbar machen konnten. Dabei entfernten sie sich schnell von den übrigen Aktivitäten der Betriebsbesetzung, wofür sie von verschiedenen Seiten harsch kritisiert wurden. Bereits auf dem besetzten Gelände waren die unterschiedlichen beruflichen Voraussetzungen der Beteiligten auch als trennendes Element deutlich geworden.
46 Vgl. ebenda. 47 Vgl. die Selbstdarstellung von „Statice – Anbieter für biomedizinische Mikrotechnik“, www.statice.com/de, abgerufen am 23. August 2016. 48 Vgl. die diesbezügliche Korrespondenz mit der Stadtverwaltung, AM 86 W 41.
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4.3 G EGENENTWÜRFE ? P RODUKTE B ETRIEBSBESETZUNG
DER
Die Ingenieure aus der Entwicklungsabteilung fanden sich sowohl persönlich als auch hinsichtlich ihrer gemeinsamen beruflichen Entwicklung gut in der entstehenden Diversifizierungsstrategie wieder. Für andere Beschäftigtengruppen galt dies vermutlich weniger. Der Erhalt des „outil de travail“ und der Anschluss an die regionale Orientierung im Bereich der „Microtechniques“ wurden zu wichtigen Argumenten für den Erhalt von LIP. Diese Argumente standen jedoch außer im Bereich der Medizintechnik nicht im Zentrum der Produktion auf dem besetzten Gelände. Vielmehr diente diese Produktion verschiedenen Zielen, welche im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Auch wenn diese Produkte nicht als „Design“-Gegenstände entworfen und vermarktet wurden, lassen sie sich im Sinne Judy Attfields als „things with attitude“ verstehen. Deren Entstehungshintergründe erlauben Aufschlüsse über die mit ihnen verbundenen Absichten, die Vorstellungen der Produzenten und der Abnehmer der Produkte.49 Es ist zu fragen, inwiefern auch Kritik an den Arbeitsbedingungen bei LIP, die bereits 1973 geäußert wurde, sowie eher allgemeine politische Diskussionen in diese Produktion Einzug hielten und in welchem Verhältnis diese zu den Erfahrungen der Beteiligten standen. Das am offensichtlichsten mit dem Ziel politischer Moblisierung hergestellte Produkt war das ab Spätsommer 1976 produzierte Brettspiel „Chômageopoly“. Mehr als 12.000 Exemplare wurden von den LIP-Arbeiterinnen und -Arbeitern verkauft.50 Da an der Produktion und am Verkauf noch weitere Belegschaften beteiligt waren, die in Arbeitskämpfen ihre Betriebe besetzt hielten, dürften insgesamt deutlich mehr Exemplare des Spiels abgesetzt worden sein. Der Reklame in der LIP Unité zufolge war das Spiel nicht zu verkaufen, sondern wurde lediglich gegen eine Spende von mindestens 60 Francs abgegeben und für weitere fünf Francs mit der Post versandt.51 Im Aufbau und in seinen Spielregeln orientiert sich das Spiel am bekannten Monopoly, dreht jedoch dessen Spielprinzip
49 „The experience of designing is not confined to professional designers, nor amateur do-it-yourself activities such as home decorating, it is something that most people do everyday [...]“, Attfield: Wild Things, S. 17. 50 Vgl. die Buchhaltungsunterlagen von Bernard Billot, ADD 45J, in Einarbeitung. Die real verkaufte Zahl liegt damit deutlich höher als bisher etwa von Auschitzky-Coustans angegeben – mit 1500 Stück –, vgl.: LIP – des heures à conter, S. 29. 51 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No. 10, September 1977, S. 5.
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um, sodass man es nur gemeinsam und solidarisch gewinnen kann.52 Die Spielfiguren sind mit den Namen der beteiligten Betriebe versehen, neben LIP auch Réhault (Schuhe), SITRAB (Kartonagen) und CIP (Bekleidung). Aus der Arbeitslosigkeit – „chômage“ – befreien sich deren Arbeiter im Spiel entweder als einzelne Belegschaft oder gemeinsam mit anderen in einer „coordination“, deren Vorbild die im Juni 1976 unter anderem bei LIP angestoßene Basiskoordination besetzter Betriebe war (vgl. Kapitel 5). Was verrät das Spiel über das Selbstverständnis der beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter? Die karikaturistischen Darstellungen der Spielverpackung und des Spielbretts können hierüber nur bedingt Auskunft geben. Sie wurden von den Karikaturisten Wiaz und Piotr, die bereits einen Comic über den ersten LIPKonflikt produziert hatten, Daulle, Fourcadell, Kerleroux und Pélou als Geste der Solidarität beigesteuert.53 Das Titelbild wurde von einer Auseinandersetzung zwischen Arbeitern in Miniaturgröße und im Vordergrund riesenhaft erscheinenden Einsatzpolizisten mit Helm, Schild und Tränengasaufsatz auf dem Gewehr dominiert. Diese standen unter der wohlmeinenden Begleitung eines Zigarre rauchenden Kapitalisten und dem Kommando eines napoleonischen Feldherrn. Von den Miniaturarbeitern wurden sie mit Steinen beworfen. Die Konfrontation zwischen solch ungleichen Gegnern, klischeehaft verstärkt, war jedoch nur der Aufmacher. In den Spielfeldkarikaturen wurden durchaus alltäglichere Situationen behandelt. In ihnen wurden nicht nur Polizisten in ihrer Brutalität ausgestellt, sondern auch das Arbeitsamt (ANPE) als Agentur, die gerne ans Militär vermittelte, der Präfekt als Polizeiführer und Weiterbildungsmaßnahmen als Wartezeit, nach der sich die Teilnehmer genauso ratlos begegneten wie vorher.54 In der Spielbeschreibung hieß es: „Ihrem Unternehmen verbunden, bleiben sie (die Arbeiter, J.B.) zusammen, um die Regierung, die ‚Patrons‘ und das System zu zwingen (…), ihnen eine Arbeit zu finden. Aber der Weg ist lang. Die breitere Öffentlichkeit muss überzeugt werden (…) Druck muss auf die Verwal-
52 Darin ist es zahlreichen Brettspielen ähnlich, die als politische Stellungnahme produziert wurden, etwa dem amerikanischen „Class Struggle“, das auch in einer spanischen, italienischen und deutschen Ausgabe existiert. Das Monopoly-Spiel selbst war in den 1930er Jahren dem 1904 als Kritik am Wohnungsmarkt entwickelten „The Landlords’ Game“ nachempfunden, dessen Rechte die Firma Parker Brothers 1935 erwarb, vgl. Pilon, Mary: The Monopolists – Obsession, Fury, and the Scandal Behind the World’s Favorite Board Game, New York 2015. 53 Wiaz et Piotr: Les hors-la-loi de Palente, Paris 1974, im Archiv Soziale Bewegungen in Baden, Freiburg. 54 Vgl. das Spielfeld von „Chômageopoly“, ADD 45 J 113.
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tung ausgeübt werden, [...].“55 Mit dem Ziel des Spiels wird so auch das Ziel des Arbeitskampfs angegeben: Unternehmer und Behörden dazu zu zwingen, entweder für die Wiederaufnahme des Betriebs, oder anderweitig für Arbeitsplätze zu sorgen. Aufgabe der Arbeiterinnen war es der Spielidee zufolge auch 1976 nicht, eine Genossenschaft zu gründen und sich selbst die Arbeitsplätze zu schaffen, sondern den Gegner, im Spiel wie in der Wirklichkeit, hierzu zu bringen. Als Produkt der „Coordination des luttes“ zeugt das Spiel davon, dass während der Betriebsbesetzung weiterhin ein starker Erfahrungsaustausch mit anderen Belegschaften gesucht wurde. Diese waren auch in die Produktion einbezogen, zum Beispiel wurden die Kartons von der Belegschaft der Kartonagenfabrik SITRAB beigesteuert. Darüber hinaus aber transportierte das Spiel weitgehend unhinterfragt die Methoden des ersten LIP-Konflikts. Diese gelangten im Verlauf der zweiten Betriebsbesetzung bald an ihre Grenzen. So zeugt das Spiel auch von einem Selbstverständnis des Arbeitskampfs, das mit der zunehmend längeren Betriebsbesetzung ins Wanken geriet. Hielten auch neue politische Überzeugungen und möglicherweise sich verändernde berufliche Selbstverständnisse Einzug in die Produktion? Mit ihrer Fragestellung hatte die Zeitung Libération 1973 in einer „Debatte über die Krise der Gesellschaft“ nahegelegt, dass Situationen wie eine Betriebsbesetzung dies ermöglichen würden.56 Eingeladen waren Arbeiterinnen von LIP und aus Cerizay (PIL), die gemeinsam mit Journalisten zur Frage einer „Gesellschaft ohne Produktivismus“ diskutierten. Ihre Erfahrungen in den Betriebsbesetzungen wurden in einen allgemeinen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Als Ausgangspunkt diente die Feststellung, dass das aktuell einbrechende Wirtschaftswachstum Chancen biete, neu über eine Gesellschaft nachzudenken, die ohne kapitalistisches Wachstum und ohne die hiermit verbundene Verschwendung (gaspillage) auskomme. Einer der Journalisten benannte eingangs besonders verschwenderische Produkte, die mittlerweile andere verdrängten – Aluminium statt Weißblech, irreparable Haushaltsgeräte anstelle von reparablen.57 Sprach er über Produktion und kapitalisische Konkurrenz, so bezogen die LIP-Arbeiterinnen Georgette und Fatima (Demougeot) die „gaspillage“ vor allem auf ihr persönliches Konsum- und Sozialverhalten, Fatima: „Ich werde persönlich immer weniger materialistisch.“ Anstatt ein teures neues Kleidungsstück oder eine Waschmaschine anzuschaffen, denke sie heute eher darüber nach, für eine Solidaritäts-
55 Ebenda. 56 Vgl. Supplement zur Zeitung Libération vom 7. Februar 1974. 57 Vgl. ebenda.
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sammlung zu spenden.58 Allerdings meinte Fatima Demougeot auch, dass „die Leute“ bei LIP nicht soweit gehen würden, zu sagen: „Ich bin bereit mein Auto zu teilen.“59 Die Arbeiterinnen von LIP berührten in der Diskussion Bereiche des Zusammenlebens sowie des individuellen und gemeinsamen Konsums, die der Arbeitskonflikt unmittelbar aufgeworfen hatte. Vom zeitgenössischen Diskurs um die „Gaspillage“ blieben diese Lebensbereiche damals weitgehend ausgespart. Dieser konzentrierte sich auf die Kritik der Mechanismen kapitalistischer Konkurrenz und die Macht der „Monopole“, die vor allem ein Kernbestandteil der Gesellschaftsanalyse der PCF waren.60 Zwar geriet die Produktion von LIP bei manchen von außerhalb des Betriebs auch 1973 bereits in die Diskussion. Als Monique Piton gefragt wurde, warum die LIP-Arbeiter sich für den Erhalt der Rüstungsproduktion einsetzten, drehte sie den Spieß um: „Wir kämpfen gegen die Entlassungen. Man kann nicht alles auf einmal revolutionieren, aber warum akzeptieren manche, Superluxusprodukte herzustellen, die sich ein Arbeiter nie kaufen kann?“61 Die LIP-Uhren selbst zählten nach Monique Pitons Ansicht, die sie mit anderen aus dem Betrieb teilte, nicht zu den Luxusprodukten. Sie wurden vielmehr als Qualitätsuhren dargestellt und angeboten.62 Trotz solcher Debatten wie jener in der Libération wurde 1973 die Trennung zwischen den verschiedenen Handlungsebenen aufrechterhalten: Auf der einen Seite wurde eine generelle Kritik am Kapitalismus, an der Luxusproduktion und an der Konsumgesellschaft geübt, auf der anderen für die eigenen Arbeitsplätze gekämpft. Wurden diese Ebenen ab 1976 enger miteinander verbunden? Fand die geäußerte Kritik Eingang in die Produktion? Zunächst blieben die vorgetragenen Argumente auch 1976 abstrakt: So kritisierten die Autorinnen und Autoren des Buches „LIP 76“ auf einer allgemeinen Ebene die Mechanismen kapitalistischer Entwicklung. In Bezug auf die Uhrenbranche benannten sie als dominierende Tendenzen „die Dequalifizierung der
58 Viele Französinnen und Franzosen zählten ihr Geld noch bis in die 1980er Jahre hinein in alten Francs. Diese waren 1960 abgeschafft worden, ein neuer Franc entsprach 100 alten. 59 Ebenda. 60 Vgl. hierzu den Artikel „PCF et monopoles“, in: Daumas, Jean-Claude u.a. (Hrsg.): Dictionnaire Historique des Patrons français, Paris 2010, S. 1262ff. 61 Piton, Monique: Anders Leben, Chronik eines Arbeitskampfes, Frankfurt a.M. 1976, S. 176. 62 Vgl. den Fernsehbeitrag des Magazine 52 vom 13. Juli 1973: Du coté de chez Lip, http://www.ina.fr/video/CAF93029588/du-cote-de-chez-lip-video.html, abgerufen am 3. August 2016.
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Arbeit, die Einsetzung einer neuen Technologie, eine neue Arbeitsteilung auf internationalem Niveau.“63 Die Entwicklung der Quarzuhr wurde in den Kontext des verschärften internationalen Wettbewerbs gestellt und angemerkt, dass diese den bereits im Bereich der mechanischen Uhren begonnenen Prozess der Dequalifizierung und einen Trend zur Massenproduktion beschleunige. Sie werde gerade deshalb weiter entwickelt, weil sie die Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer erleichtere. „Es handelt sich (…) um das Wachstum für das Wachstum, den ‚Fortschritt für den Fortschritt‘, die vollständigste kapitalistische Verschwendung (gaspillage).“64 Die Autoren des zusammen mit einem Mitglied der regionalen PSU-Arbeitsgruppe Wirtschaft verfassten Abschnitts übten also harsche Kritik an der Quarzuhr, deren Charakter als „Wegwerfprodukt“ sie mit dem Zusammenspiel von Faktoren der Konkurrenz und des Weltmarkts erklärten. Dennoch betonten sie die Notwendigkeit, für die Region und die französische Branche eine Strategie zu entwerfen. In deren Zentrum sollten nach wie vor LIP und desen Quarzuhrenplan stehen. Wie schon 1973 wurde hierfür, ganz auf Linie der PSU (Parti Socialiste Unifié), die Verstaatlichung von LIP „unter Arbeiterkontrolle“ gefordert.65 Claude Neuschwander, selber vor LIP in der PSU, streitet den Charakter der Quarzuhr als Wegwerfuhr ab.66 Als Maßstab dienen ihm die Mitte der 1970er Jahre bei LIP selbst produzierten Quarzuhren. Von einer Dynamik aus verschärfter Konkurrenz, billigerer Herstellung und relativ dazu verteuerter Reparatur sowie beschleunigtem Konsum abstrahierend, erklärt er auch, dass es hierzu bei LIP selbst damals keine Diskussionen gegeben habe: „Als ich beschlossen habe, dass wir mit den Quarzuhren so schnell wie möglich vorankommen müssen, haben sich alle Arbeiter gefreut.“67 Tatsächlich enthalten die Quellen aus dem Betrieb keine expliziten Diskussionen zu dem Thema. Jedoch lassen einige der vor allem von Arbeiterinnen während der Betriebsbesetzung hergestellten Produkte vermuten, dass diese neben einer Abkehr von ihren bisherigen Arbeitsbedingungen in der industriellen Fertigung auch eine Kritik an den in der Quarzuhr vergegenständlichten Zukunftsbildern transportierten. Insbesondere gilt dies für einige handwerkliche Produkte, die vor allem von Frauen hergestellt wurden. Im Laufe der Betriebsbesetzung organisierten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP in Arbeits-
63 Collectif Lip: LIP 76 – Affaire non classée, Paris 1976, S. 163. 64 Ebenda, S. 165. 65 Vgl. ebenda. 66 Vgl. Interview des Verfassers mit Claude Neuschwander, 24. Juni 2014. 67 Ebenda.
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gruppen, die sie „Kommissionen“ nannten. Neben denjenigen Kommissionen, die beispielsweise Besucher empfingen und betreuten, den Arbeitskampf öffentlich vermittelten oder das Chômageopoly verkauften und vertrieben, gab es einige „Handwerkskommissionen“. Wie beim Chômageopoly-Spiel flossen die Erlöse aus dem Verkauf ihrer Produkte in die Solidaritätskasse, aus der sich die ehemaligen LIP-Beschäftigten nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes bezahlten. In den Handwerksgruppen wurden vor allem Frauen aktiv, die vorher als angelernte Arbeiterinnen tätig waren, entweder in der Montage oder an einzelnen Stanzen und Pressen in der Vorproduktion unter den harten Bedingungen einer repetitiven Tätigkeit mit hoher Lärmbelastung unter dem Druck der vorgegebenen Stückzahlen. Ihre Hinwendung zur Produktion von Seidenmalerei, dem Bemalen von Tellern und schließlich der Bearbeitung von Holz ist auch als starker Kontrast zu und als Abkehr von den vorher von ihnen ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. So bemalten sie in der Kommission „Teller“ Geschirr mit Szenen aus der Gegend und mit Sinnsprüchen, die die Auseinandersetzung bei LIP veranschaulichen sollten: „LIP rends-toi, nenni ma foi“ oder „LIP-Larzac-même combat“. In der LIP Unité wurde die Zielsetzung der Arbeitsgruppe in Gedichtform präsentiert: „Ein Teller kann auch Verbindungen schaffen, am Tisch, beim gemeinsamen Essen, bei LIP, denn um sie zu dekorieren, jeden Tag, treffen sich Menschen, tauschen sich aus, arbeiten an einem gemeinsamen Projekt, versuchen durch ihr Leben von heute zu bezeugen, dass die Gemeinschaft (communauté) möglich ist, dass ein anderer Ausdruck als jener der Produktion sich verwirklicht und dass wie draußen DER KAMPF WEITERGEHT (Großbuchstaben i.O, J.B.).“68
Die Produkte wurden also mit einer eigenen Symbolik versehen. Diese nahm Bezug auf das, was sich die Beteiligten von ihrer Auseinandersetzung und von einem Leben erhofften, in dem sie zunehmenend auf Abstand zum bisherigen Fabrikalltag gingen: „Une expression autre que celle da la Production“ und ein Weg zur „communauté“ – einem Begriff, dem in späteren Verlauf noch größere Bedeutung zukam – zielten auf die Herstellung näherer, menschlicher Beziehungen. Gegenseitiger Austausch und eine größere Nähe untereinander wurden als Ziele präsentiert. Auf den Tellern dominierten Landschaftsbilder sowie die Darstellung alter Handwerkskunst: „Kindliche Unschuld, Liebe zu alten Berufen,
68 LIP Unité deuxième série No. 6, November 1976, S. 6.
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das sind die Themen unserer dekorativen Teller.“69 Dies entsprach auch den Ansprüchen derjenigen Frauen, die sich nun in der Arbeitsgruppe „couture“ der Seidenmalerei sowie der Produktion nützlicher Alltagsgegenstände aus Stoff widmeten: Nähetuis, Halter aus Stoff für Küchengeräte, Zeitungsständer u.a.m. „Diese Kommission ist Ausdruck unserer Beziehungsqualität, Zusammensein ist ihre wesentliche Achse.“70 Monique Piton und drei weitere Personen begannen, Holz mit Brandmalerei zu gestalten. Hier dominierten Muster, aber auch bildliche Darstellungen (etwa Landschaftsbilder). Die Tätigkeit gefiel ihnen, sie füllten sie mit ihrem je eigenen Zeitaufwand und ihrer Fantasie aus. Aus dem Bericht einer deutschen Besucherin von 1980 wird allerdings deutlich, dass auch diese Produkte keineswegs nur zur Selbstverwirklichung produziert wurden. Auch hier flossen Überlegungen über mögliche Käufer und deren Geschmack in die Produk tion ein. Diese Frau aus der Bremer Gruppe Arbeiterpolitik, die sich für vier Wochen bei den LIP-Arbeiterinnen aufhielt, berichtete aus ihren Gesprächen: „Zur Herstellung der kunsthandwerklichen Artikel gab es noch eine andere, interessante Diskussion. Einen Teil der Gegenstände, unter anderem die Teller, die ich mit anmalte, fand ich eher kitschig als schön, und es stellte sich heraus, daß auch manche Kolleginnen vieles, was sie herstellten, selber nicht schön fanden. Einige sagten dazu: Ich mach mir doch nicht noch mehr Mühe und denk mir noch was Neues aus. Ich mach das, was einmal entwickelt worden ist. Ein Kollege aber, der ständig nach neuen Motiven für die Teller suchte, erklärte: das, was wir herstellen, kaufen nicht die Arbeiter, weil es für die zu teuer ist. Denen aber, die sich das leisten können, gefällt sowas. Wenn wir selber aus unseren eigenen Vorstellungen heraus Sachen entwerfen, die uns gefallen, die aus unseren Erfahrungen im Kampf entstanden sind, dann kaufen es nur noch Symphatisanten und Studenten.“71
Offensichtlich nahm die Produktion im Laufe der länger werdenden Betriebsbesetzung geregeltere Formen an und musste verstärkt Rentabilitätsansprüchen genügen – diesen Prozess gilt es im nächsten Kapitel zu analysieren. Ende 1978 arbeiteten in den verschiedenen Handwerkskommissionen auf dem besetzten Gelände insgesamt 50 bis 60 Personen. So waren zehn Personen mit der Seidenmalerei beschäftigt, drei Personen bemalten Teller, sieben Personen machten
69 Katalog Les Commissions Artisanales de Palente (ohne Datum), Archiv Grünes Gedächtnis, Akte Wittenberg/Chiapello. 70 LIP Unité deuxième série No. 6, November 1976, S. 6. 71 Arbeiterpolitik Nr. 1, 1981, S. 15.
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Holzarbeiten.72 Die Holz-Produktion mündete schließlich 1979 mit der Gründung des Genossenschaftsbetriebs CAP (Les Commissions Artisanales de Palente) in der regulären gewerblichen Herstellung von Holzspielzeug, insbesondere Brettspielen zum Stecken (Mühle, Schach und andere) und Geduldsspielen, sowie Holzspielzeugen für Kleinkinder. Die implizit in den Produkten geäußerte Kritik an den bisherigen Arbeitsbedingungen bei LIP fand also auch Eingang in die Genossenschaftsgründungen. Die Veränderungen der dortigen Produktion, der Unternehmensorganisation und der Vertriebswege werden in Kapitel 6 untersucht. Ab dem Sommer 1977 wurden auf dem besetzten LIP-Gelände wieder Uhren hergestellt. Eine Arbeitsgruppe „Neue Produkte“ begann damit Uhrengehäuse zu entwerfen. In diesem Rahmen wurden von vier Personen auch Raketenzündköpfe zu Eieruhren umgestaltet. Nicht nur die Medizintechnikinitiative, sondern auch diese Gruppe griff also die Problematik der Rüstungsproduktion in ihren konkreten Gestaltungstätigkeiten auf. Wie der Gestaltungsprozess im Bereich der Uhren konkret verlief, ist leider nicht zu rekonstruieren. Er resultierte jedoch in einer Reihe neuer Uhren, die seit der Gründung der Genossenschaft L.I.P. im November 1977 mit der in Schreibschrift angebrachten Wortmarke „Les Industries de Palente“ produziert wurden. Uhren aus den Lagerbeständen der Compagnie Européenne d’Horlogerie mit der charakteristischen – und rechtlich geschützten – Marke LIP wurden ab 1977 ebenfalls verkauft. Diese nach wie vor jenseits der Mehrwertsteuer und regulär bezahlter Arbeit stattfindenden Verkäufe sicherten bis in die frühen 1980er Jahre einen guten Teil der Einkünfte der auf dem besetzten Gelände beschäftigten Frauen und Männer. Nachdem die Marke LIP im August 1980 vom Konkursverwalter an die Genossenschaft verkauft worden war, konnten Uhren aus diesen Altbeständen auch offiziell beworben werden. So präsentierte etwa ein 1982 erschienener Zusatzkatalog die Mach 2000 in mechanischer und in Quarzausführung zu ermäßigten Preisen.73 Die als „Design“-Serien unter Claude Neuschwander eingeführten Uhren wurden aufgrund mangelnder technischer Ausstattung nicht weiter produziert (vgl. Kapitel 6).74 Die erste geschlossene Uhrenkollektion der Genossenschaft L.I.P. von 1980 zeugt von einer Retraditionalisierung, in der sich die engere Einbindung der Uhrmacher in den Gestaltungsprozess äußerte. Die von der Soziologin Emma-
72 Vgl. „Réflexion sur les ‚hors plan‘“, 2. Halbjahr 1978, BDIC F Δ rés. 702/6/3. 73 Vgl. Sonderkatalog 1982, Archiv Grünes Gedächtnis, Akte Marcello/Wittenberg. 74 Vgl. zur Bedeutung dieses Verkaufs in der unternehmerischen Entwicklung des Genossenschaftsbetriebs auführlich Kapitel 6 dieser Arbeit.
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nuelle Cournarie interviewten Uhrmacher äußerten sämtlich: „Quarz, das ist keine Uhrmacherei.“75 Diese Ablehnung machte sich bei L.I.P. zunächst in einer Konzentration auf klassische, mechanische Damen- und Herrenarmbanduhren bemerkbar, die in der Mehrzahl auf dem schon vor 1973 bei LIP produzierten Kaliber T13 beruhten. Allerdings waren auch Quarzuhren im Angebot, für die auf vollständige elektronische Module von France Ébauches zurückgegriffen wurde.76 Im Katalog von 1982 finden sich erstmals auch Digitaluhren mit elektronischen Modulen von France Ébauches.77 Sind also die Spuren der berufs spezifischen Kritik der Uhrmacher an den Quarzuhren im Uhrensortiment von L.I.P. durchaus zu erkennen, so prägte diese in den 1980er Jahren nicht das gesamte Sortiment. Auch gab es einen Willen, an das alte Markenimage von LIP anzuknüpfen, auch in der Reparaturabteilung sollte deswegen eine größtmögliche Kontinuität gewährleistet werden. Uhren mit politischen Darstellungen waren Gelegenheitsprodukte, aber weder Teil noch gar Kern des regelmäßigen Angebots der Genossenschaft L.I.P. Nach einer Begegnung mit deutschen Anti-Atom-Aktiven bei einer Demonstration wurde eine Uhr mit Sonnenblumenmotiv mit dem Spruch „Atomkraft, nein danke“ sowohl in einer deutschsprachigen als auch in einer französischsprachigen Variante in größerer Stückzahl produziert.78 Anlässlich des Besuchs einer Gruppe maghrebinischer Gewerkschafter wurde diesen ein Einzelstück mit der arabischsprachigen Aufschrift überreicht: „Une seule nation arabe – Union des Syndicats des travailleurs – Nous avons résisté et nous avons gagné.“79 Im Büro des CFDT-Archivs hängt heute noch ein Einzelstück zur Solidarität mit Solidarnosć-Gewerkschaftern aus Polen.80 Während sich die Leitung der Uhrenproduktion in Palente – nun in der Verantwortung des CFDT-Gewerkschafters Raymond Burgy – um eine Normalisierung der Vertriebswege jenseits von Sammelbestellungen über Betriebsräte und ähnlichen politisch motivierten Aufträgen bemühte, gestaltete der „tuwas-Versand“ in der Bundesrepublik sein Angebot
75 Cournarie: Approche socio-anthropologique, S. 231ff. 76 Vgl. Auschitzky-Coustans: LIP – des heures à conter, S. 98. 77 Vgl. Sonderkatalog 1982, Archiv Grünes Gedächtnis, Akte Marcello/Wittenberg. 78 Die deutschsprachige Auflage wurde unter anderem über den Packpapier-Versandhandel vertrieben, vgl. LIP wird Leben! LIP vivra!, Packpapier Nr. 30, Osnabrück o.D.; Abbildung der französischsprachigen Auflage in Auschitzky-Coustans, S. 64. Zur für die Produktion ausschlaggebenden Begegnung vgl. Interview des Verfassers mit Michel Jeanningros, 7. März 2014. 79 Vgl. Auschitzky-Coustans: LIP – des heures à conter, S. 32. 80 aus eigener Anschauung.
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von LIP-Uhren ganz im Stil der westdeutschen „Alternativen“: teilweise handschriftlich geschriebene Texte, die dann fotokopiert wurden und möglichst viel Bastelarbeit ausstellen sollten. Neben der „Sonnenblumenuhr“ bot der tuwasVersand auch die Wanduhren aus Holz an, die in Zusammenarbeit mit den Commissions Artisanales de Palente gefertigt wurden. Deren Anmutung der Natürlichkeit war für den tuwas-Versandhandel offenbar besonders wichtig, mit lässigem Tonfall unterstrichen sie die Qualitäten der Uhr: „... und diese blumige Wanduhr hängt schon in einigen Bioläden und Freakbetrieben! 1,5 V Batteriebetrieben, die reicht 1 Jahr! Mit Sekundenzeiger. Pl... aus Holz gesägt und farbig angemalt, Durchmesser 25 cm, kostet... 67,-“81 Wie gezeigt hatte die „Natürlichkeit“ dieser Uhr einen realen Bezug zu den Produktionsbedingungen der ehemaligen LIP-Arbeiterinnen. Diese hatten während der Betriebsbesetzung mit Holzprodukten experimentiert und setzten diese Erfahrung in veränderter Form auch im neuen Genossenschaftsbetrieb fort. Das in der Wanduhr verbaute Quarzuhrwerk verweist darauf, dass die Produktionsbedingungen in den Genossenschaften nicht nur den Selbstbestimmungsbemühungen der Beteiligten entsprangen. In diese flossen vielmehr immer noch Rentabilitätsanspüche ein, Bemühungen, an die alte Marke LIP anzuknüpfen, und andere Faktoren mehr. Es ist deutlich geworden, dass die Gegenbilder, die während der Betriebsbesetzung hervorgebracht wurden, stark von der beruflichen und sozialen Position der Beschäftigten abhingen. Während die Ingenieure aus der Quarzuhrenentwicklung begeistert die regionale Diversifizierung vorantrieben, nahmen die angelernten Arbeiterinnen zunächst eine Abkehr von ihrer bisherigen industriellen Arbeit vor. Die gelernten Uhrmacher schlossen mit den mechanischen Modellen bei L.I.P. besonders an die alte Marke LIP und ihr eigenes berufliches Selbstverständnis an. Zeitweise flossen eine allgemeine Politisierung der Beschäftigten sowie die politischen Überzeugungen der Unterstützer der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter in die Produkte ein. Die Prägekraft dieser Formen von Kritik hatte allerdings Grenzen, die im folgenden Abschnitt am Beispiel der Rüstungsproduktion eingehender diskutiert werden.
81 Vgl. Packpapier Versand: LIP wird Leben! LIP vivra!, Packpapier Nr. 30, Osnabrück o.D.; zu „den Alternativen“ vgl. mit LIP als Beispiel Penth, Boris und Walter Hollstein: Alternative Projekte – Besipiele gegen die Resignation, Reinbek 1979, zur Bedeutung von „Natürlichkeit“ im alternativen Milieu vgl. Reichardt, Sven: Authentizität und Gemeinschaft – Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2015.
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4.4 G RENZEN
DER
K RITIK : D IE R ÜSTUNGSPRODUKTION
LIP war nicht nur eine Uhrenfabrik. Vielmehr hatte seit dem Ersten Weltkrieg auch die Produktion von Messinstrumenten, Munition und Zündmechanismen für den militärischen Gebrauch zum Produktionsprofil gehört. Dies war und ist in der Branche durchaus üblich, und LIP wusste sich in diesem Feld gut zu positionieren.82 1938 war in Issoudun eine Filiale unter dem Namen Saprolip eröffnet worden, die auch nach dem Krieg unter dem Namen Sechor bis in die späten 1950er Jahre die Rüstungsproduktion von LIP fortsetzte und dann geschlossen wurde. Während der deutschen Besatzung Besançons befand sich die Fabrik in Issoudun in der Vichy-Zone. Infolge des Waffenstillstandsvertrags vom 22. Juni 1940 musste die Rüstungsproduktion eingestellt werden; bis zum Ende des Krieges wurden hier unter anderem Ventile für Fahrradschläuche hergestellt.83 In den 1950er Jahren arbeiteten mehrere Hundert Personen in der Fabrik in Issoudun, um die Aufträge in Millionenstückzahl abzuarbeiten, die damals in verschiedene NATO-Staaten, aber auch z.B. nach Spanien gingen.84 Die Rüstungssparte in Palente war zum Zeitpunkt des ersten Konflikts die einzige Abteilung des Unternehmens, die weiter Gewinne machte. Ihr Anteil am Gesamtumsatz war von wesentlich niedrigeren Ausgangswerten Anfang der 1970er Jahre auch aufgrund der stagnierenden Uhrenverkäufe wieder angestiegen – auf etwa 13 Prozent 1973 (vgl. Kapitel 2). Zwar waren auch Gyrometer, Höhenmessgeräte und andere Instrumente im Angebot, den wesentlichen Teil der Produktion machte aber die Montage von Zündern für alle mittel- und großkalibrigen Waffen aus. Geliefert wurde zu diesem Zeitpunkt vor allem an die französischen Rüstungsunternehmen Manurhin, Dassault und Thomson-Brandt. Über diese wickelte die französische Armee ihre Aufträge ab. Lediglich ein Fünftel des Auftragsvolumens waren direkte Aufträge der technischen Direktion des französischen Heeres (Direction Technique de l’Armement Terrestre – DTAT). In ihrem Umgang mit dem LIP-Konflikt 1973 zwischen September und November 1973 richtete die französische Regierung, insbesondere Premierminister Pierre Messmer, einige Aufmerksamkeit auf den Erhalt der Rüstungsproduktion. Die Unterstützung der Regierung für den Unternehmer Claude Arbel und sein Unternehmen SPEMELEC für die Übernahme der Rüstungssparte von LIP zielte in erster
82 So ist in Deutschland die Firma Junghans Microtec mit ihren 500 Beschäftigten der größte Produzent von Zündern für Kriegswaffen, vgl. Informationsstelle Militarisierung (IMI): Hochgerüstet – Waffenschmieden im Südwesten, Tübingen 2013. 83 Vgl. Auschitzky-Coustans: LIP – conter des heures, S. 20. 84 Vgl. die entsprechenden Korrespondenzen in BM 5 Z 8, BM 5 Z 9.
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Linie auf den Erhalt der Produktion. Eine zusätzliche, politische Bedeutung erhielt diese Unterstützung nach der Ablehnung des Giraud-Plans durch die LIPBeschäftigen in Palente am 12. Oktober 1973. Sie hätte dazu beitragen können, die Forderungen der Belegschaft nach der Einheit ihres Betriebs zu unterlaufen, nachdem in Ornans die Belegschaft bereits für die Wiederaufnahme des Betriebs gestimmt hatte. Ihrer Ablehnung der Wiederaufnahme der Produktion in einer Halle, die Arbel auf Druck der Regierung von der Stadtverwaltung bereitgestellt wurde, verliehen die LIP-Beschäftigten mit Demonstrationen, Sicherheits- und betrieblichen Argumenten im November und Dezember 1973 erheblichen Nachdruck.85 Als wichtigste materielle Unterstützung der Regierung für den neuen Unternehmer Arbel diente die Direktvergabe eines Auftrags über 400.000 Zünder für 30mm-Geschosse.86 Dieser Auftrag blieb bestehen, als SPEMELIP nach der Unterzeichnung der Vereinbarung von Dôle eine gemeinsame Geschäftsführung mit der Compagnie Européenne d’Horlogerie (CEH) unter der Leitung von Claude Neuschwander erhielt. Dieser bemühte sich in der Folge weiter um die Vermittlung des Ministeriums für den Kontakt mit Dassault und Manurhin. Manurhin hatte die an LIP vergebene Produktion bereits Anfang 1973 weitestgehend ins eigene Unternehmen integriert, einen Auftrag über 120.000 Geschosse vergaben sie an die Uhrenfirma JAZ, einen direkten Konkurrenten von LIP.87 Brieflich bat der Leiter der DTAT die Geschäftsführung von Manurhin deshalb im Februar 1974 auf Anweisung des Ministers, „dieser Gesellschaft (LIP, J.B.) die größtmögliche Menge an Zulieferaufträgen im Bereich von Zündmechanismen zu reservieren.“88 Dies blieb eine Bitte, der auf Seiten von Manurhin keinerlei Handlungen folgten. Als LIP 1976 zum zweiten Mal Konkurs anmeldete, trafen auch die anderen Auftraggeber von SPEMELIP schnell Vorkehrungen, um die Produktion aus Palente zu ersetzen. Im September waren lediglich noch 150.000 Stück der 30-mm-Munition für die Armee offen, eine Stückzahl, die bei voller Auslastung in drei Monaten hätte produziert werden können. Diesen Auftrag ließ die Firma SPEMELEC schließlich bei Kelton fertigen.89 Seitens der
85 Vgl. zahlreiche von den LIP-Beschäftigten herausgegebene „Dépêches Quotidiennes“ aus dem November und Dezember 1973, ADD 45 J, in Einarbeitung. 86 Vgl. die handschriftliche Anweisung des Premierministers an den Verteidigungsminister vom 31. Oktober 1973, SHD Châtellerault 454 2A2 673. 87 Vgl. Brief der Geschäftsführung von JAZ bzgl. der Konkurrenz mit LIP an das Verteidigungsministerium, SHD Châtellerault 454 2A2 673. 88 Vgl. ebenda. 89 Vgl. das Protokoll des Treffens zwischen DIMME, DTAT, Luchaire und Brandt am 15. September 1976, AN 19840668/9.
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Regierung gab es nun auch für die Rüstungsabteilung keinerlei Unterstützung mehr. Von Seiten der Arbeiterinnen und Arbeiter war 1973 keine Kritik an der Rüstungsproduktion geäußert worden. Von den gewerkschaftlich Verantwortlichen im Betrieb wurden verschiedene Ebenen klar abgegrenzt: Auf der Ebene des Betriebs wurde für den Erhalt sämtlicher Arbeitsplätze und die Integrität der Fabrik LIP gestritten. Fragen der Militärrüstung hingegen galten als politische Fragen, auf die es in Parteien, Parlamenten und in der Regierung Antworten geben müsse. Auch vom Großteil der Unterstützer wurde diese Trennung als plausibel verstanden. Die Lebenssituation der Arbeiterinnen und Arbeiter wurde als Ausgangspunkt gesehen, von dem es für jeweils weitergehende Forderungen zu kämpfen gelte.90 Die Bauern aus dem Larzac, die auf einer Vollversammlung bei LIP sprachen, um ihren Dank für die Unterstützung ihres Kampfes gegen eine Ausweitung des dortigen Truppenübungsgebiets auszusprechen, brachten ihre Auseinandersetzung und die der LIP-Arbeiter in keine diesbezügliche Verbindung. Vielmehr betonten sie die Bedeutung der gegenseitigen Besuche als Symbol für sich anbahnende gemeinsame Kämpfe zwischen Bauern und Arbeitern, für die die Industrialisierung der Landwirtschaft und der Verlust bäuerlicher Selbständigkeit die materiellen Voraussetzungen schüfen.91 1973 war es also noch an politisch denkenden Satirikern, den Zusammenhang der globalen politischen Situation aus Wettrüsten im Ost-West-Konflikt und der französischen Atombewaffnung mit den sozialen Auseinandersetzungen vor Ort zusammenzudenken: François Cavanna schrieb im Editorial der Zeitschrift Charlie Hebdo nach einer bitteren Zusammenfassung der Atomrüstungspolitik unter Pompidou: „À propos, Jungs! Dies ist vielleicht der Moment, um die Rüstungsproduktion zu hinterfragen, nicht um Absatzmärkte zu suchen (persönliche Notiz an die CFDT bei LIP).“92 In der Folge jedoch begann eine Minderheit im Betrieb, die Rüstungsproduktion zu kritisieren. Auch die Kontakte ins Larzac wurden von den Beteiligten zunehmend mit einer antimilitaristischen Motivation verbunden. 1975 kaufte die Gewerkschaftssektion der CFDT eine Parzelle im Larzac, um die dortige Auseinandersetzung zu unterstützen. Auf Initiative von Michel Jeanningros führten wenige Einzelpersonen 1975 unverbindliche Gespräche mit Claude Neuschwander über eine mögliche Umstellung der Rüstungsabteilung von LIP auf zivile
90 Auch keine der externen politischen Gruppen thematisierte dies ausführlicher, vgl. die zahlreichen Flugblätter, ADD 45 J, in Einarbeitung, sowie BM 5 Z 180 und 181. 91 Vgl. die Tonbandaufzeichnung des Redebeitrags, ADD 45 J 12 AV 16. 92 Charlie Hebdo No. 145, 1973, Editorial.
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Produkte. Der Geschäftsführer allerdings stellte Überlegungen für vermehrte Aufträge aus dem zivilen Bereich vor allem deshalb an, weil die laufenden militärischen Aufträge ihrem Ende näher kamen. Gleichzeitig bahnte er 1975, weil die französische Regierung die Ausfuhr einer größeren Anzahl von Panzern nach Saudi-Arabien genehmigt hatte, hierfür Verträge an. Die Panzer waren mit den 30mm-Kanonen ausgestattet, für deren Munition LIP als Zulieferer 370.000 Zünder hätte produzieren sollen; bis zur zweiten Konkursanmeldung kam dieser Vertrag aber nicht mehr zustande.93 Im Interview des Verfassers mit Claude Neuschwander 2014 bezog dieser eine Frage zu den Details der Rüstungsproduktion intuitiv auf die hiermit verbundenen moralischen Probleme, die aber gar nicht angesprochen worden waren. Dies dürfte eher der späteren politischen Diskussion geschuldet sein als den Debatten der Zeit.94 In der 1976 schon früh während der Betriebsbesetzung produzierten Broschüre „LIP, une industrie, une région en danger“ problematisierten die Verfasser, die mit „les travailleurs de LIP“ unterzeichneten, folgerichtig im Rüstungsbereich allein die Rolle von LIP als Zulieferbetrieb. Mit größeren Anstrengungen in Forschung und Entwicklung könne eine größere Eigenständigkeit von LIP erreicht werden. Dies sei zum Beispiel im Bereich von Mittelstreckenraketen vielversprechend sowie bei Ausrüstungsgegenständen, die militärisch und zivil genutzt werden könnten.95 Ein Ausbau der militärischen Produktionssparte schien den Autoren demzufolge explizit wünschenswert. Die Verfasser stießen auch zunächst auf keine hörbaren Gegenstimmen. Erst mit der Gründung der Genossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) wurde schließlich über deren zukünftiges Produktionsprofil diskutiert. 1978 kamen an einem Nachmittag 30 Personen zu einer Diskussion über die Rüstungsproduktion zusammen.96 Als im Sommer 1979 von einem privaten Unternehmer das Angebot für die Genossenschaft kam, als Zulieferer im Rüstungsbereich zu arbeiten, nahm die Geschäftsführung der Genossenschaft dieses Angebot dankbar auf, weil der Auftrag im Gegensatz zu anderen die Möglichkeit bot, eine größere Zahl ehemaliger angelernter Arbeiterinnen in die Produktion einzubeziehen. Die Diskussion wurde jedoch zunächst an den Aufsichtsrat und an eine Vollversammlung zurückgegeben. Auf dieser wurden die Wenigen, die sich ge-
93 Vgl. den Briefwechsel, SHD Châtellerault 737 2A1 955. 94 Vgl. Interview des Verfassers mit Claude Neuschwander, 23. Juni 2014. 95 Vgl. „Les travailleurs de Lip“: LIP, un industrie, une région en danger, Annexe 5: Equipements Civils et Militaires, ADD 45 J 106. 96 Vgl. Jeanningros, Michel: „LIP 1973-81, côté armement“, Alternatives Non-Violentes 41 (1981), S. 18-23, BDIC F delta rés. 702/6.
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gen die Rüstungsproduktion aussprachen, von anderen ausgebuht. Der Großteil der Anwesenden stimmte für die Annahme des Auftrags, der für 1980 Arbeit für 60 Personen versprach und schließlich deshalb nicht zustandekam, weil der Unternehmer sein Angebot zurückzog.97 Nach dieser Vollversammlung organisierte der Freundschaftsverein Amis de Lip eine Diskussion hierüber, die auch in der LIP Unité abgedruckt wurde. Michel Jeanningros drückte hierin seine Enttäuschung über die Haltung vieler LIP-Beschäftigter aus, die doch selber in ihren Konflikten auf dem LIP-Gelände die Gewalt der Gendarmerie zu spüren bekommen hätten, „also der Armee“. Er führte seine eigene Geschichte als wehrpflichtiger Soldat im Algerienkrieg an und die Tatsache, dass seine Tante seit anderthalb Jahren in Argentinien vermisst werde, Erfahrungen, die ihn dazu brächten, sich niemals an der Produktion von Kriegswaffen zu beteiligen. „Wenn die Werkstatt eingerichtet ist, werde ich den Status eines Verweigerers beantragen. Ich weigere mich in der Rüstung zu arbeiten. Ich werde alles andere machen, egal was. Und wenn ich Besuchern die Fabrik zeige, werde ich sie die Werkstatt der Scham nennen.“98 Schließlich waren es sechs Personen, die diesen Status für sich reklamierten und zugestanden bekamen.99 Die weiteren an der Diskussion Beteiligten lieferten ihre je eigene Interpretation der Problematik bei LIP, aber keine eindeutige Positionierung: Dominqiue Bondu, der selber für die Annahme des Auftrags gestimmt hatte, unterstellte des LIP-Arbeitern mangelnde moralische Reife. Wenn nun für die Rüstungsproduktion gestimmt worden war, so dürfe es hierfür dennoch keine Rechtfertigung geben.100 Häufig war das Argument vorgebracht worden, dass im Zweifel andere die Produktion von LIP übernehmen würden und diese damit also keineswegs verschwinde – so wie es mit den Zündern bereits geschehen war. Als Ende der Debatte formulierte die LIP Unité mit den resignativen Worten Michel Jeanningros einen vagen Kompromiss: „die Rüstungsaufträge so bald wie möglich (zu) ersetzen.“101 Vor allem aber durchzog das Gespräch die Feststellung eines wachsenden Missverständnisses zwischen den Unterstützerinnen und Unterstützern von LIP und den Arbeiterinnen und Arbeitern im Betrieb selbst. Öffentlich wurden LIP und das Larzac häufig in einem Atemzug genannt. „Die Meisten der Amis de Lip sind gewaltfrei oder Atomkraftgegner“, wie Charles Piaget anmerkte. Einige der Unzufriedenen bei LIP lieferten Beiträge für die Zeitschrift „La gueule ouverte“,
97
Vgl. ebenda.
98
LIP Unité, deuxième série No. 16/17, Juli/August 1979, S. 6.
99
Vgl. Interview des Verfassers mit Michel Jeanningros, 7. März 2014.
100 Vgl. LIP Unité, deuxième série No. 16/17, Juli/August 1979, S. 6. 101 Ebenda.
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eine antimilitaristisch und ökologisch orientierte Zeitschrift. Der „gewaltfreie Marsch“ zur großen Anti-Atom-Demonstration in Malville im Sommer 1977 hatte auf seinem Fußweg auch bei LIP Halt gemacht. Und ein vager Antimilitarismus gehörte zum Selbstbild eines großen Teils der Unterstützer. Die Reaktionen aus dem Leserkreis der LIP Unité fielen gemischt aus. Während die einen in Briefen ihrer tiefen Enttäuschung Luft machten, betonten andere, die Lösung solch komplexer Fragen ausgerechnet einzelnen für ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensunterhalt kämpfenden Arbeitern zuzuschieben, sei unangemessen; ein Briefeschreiber erinnerte daran, dass dies 1973 noch allen Beteiligten klar gewesen sei.102 Nach außen konnten die Medizintechnik-Initiative und die Produktion von Eieruhren aus Raketenköpfen durch eine kleine Gruppe im Betrieb dazu dienen, die eigentlich guten Absichten der LIP-Belegschaft zu demonstrieren. Diese hatten gleichwohl nie gemeinsam über den konkreten Kontext und die konkreten Absatzmärkte und Funktionen der produzierten Waffensysteme diskutiert. In einem Interview der Arbeiterselbsthilfe Frankfurt (ASH) mit einem Arbeiter von LIP antwortete dieser 1980 auf die überraschte Nachfrage zur Entscheidung, auch die Rüstungsproduktion prinzipiell im Programm zu behalten: ASH: „Ihr habt jetzt sechs Jahre gekämpft...“ Lip: „Einverstanden. Und wir haben die ganze Zeit über nach anderen Produkten gesucht: wir haben aus Rüstungsteilen Wecker produziert, unsere Versuche im medizinischen Bereich, wir haben im Auftrag die Atomkraft-nein-danke-Uhren produziert, aber leider entscheiden nicht wir über unsere Produktion, sondern die Regierung.“103 Hintergrund dieser Feststellung waren die Verhandlungen über einen Entwicklungsplan für die Genossenschaft L.I.P. und hiermit verbundene Mittel aus der staatlichen Wirtschaftsförderung (vgl. hierzu Kapitel 5). Der erste bei L.I.P. entwickelte Plan hatte noch keine Rüstungsproduktion enthalten, weil zum gegebenen Zeitpunkt die bisherigen Aufträge nachhaltig weggebrochen waren. Im späteren Verlauf drängten die Experten aus der staatlichen Wirtschaftsförderung darauf, diese wieder aufzunehmen. Während sie bei der bereits genannten Minderheit von LIP-Beschäftigten dabei auf Widerwillen stießen, stellte dies für die ebenfalls an den Verhandlungen beteiligten Vertreter der CFDT-Metallgewerkschaft keinerlei Problem dar.104 Und für den größten Teil der ehemamaligen LIP-Arbeiter hatte die Frage der Arbeitsplätze die allergrößte Priorität.
102 Vgl. mehrere Leserbriefe an die LIP Unité in BDIC F Δ rés. 702/13. 103 „Waffen produzieren bei LIP“, Interview der Arbeiterselbsthilfe Frankfurt mit LIPArbeitern, in: LIP wird Leben! LIP vivra!, Packpapier Nr. 30, Osnabrück o.D. 104 Vgl. die Dokumentation der Verhandlungen in FGM 1 B 577.
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Die Annahme von Rüstungsverträgen war aus dieser Sicht konsequent.105 Für die Sommer-Ausgabe 1981 der Zeitschrift Alternatives Non-Violentes fasste Michel Jeanningros – „Michel Larzac“, wie er sich in einem anderen Artikel nannte – seine Erfahrungen mit der Rüstungsfrage bei LIP noch einmal zusammen. Sein Beitrag erschien neben einem Artikel über Lucas Aerospace und verschiedenen Aufsätzen, die Arbeitsplatzerhalt und Rüstungskonversion in Frankreich diskutierten.106 Retrospektiv lässt sich feststellen, dass L.I.P. keine größeren Rüstungsaufträge mehr erhielt. Leicht lässt sich deshalb die Geschichte einer antimilitaristischen Belegschaft spinnen. Michel Jeanningros berichtet retsrospektiv, es sei pures Glück gewesen, dass er im Algerienkrieg nicht schießen musste, und spricht offen über die Widersprüche in der Rüstungsdiskussion bei LIP.107 Roland Vittots Worte von 1973 jedoch legen eine geschlossene Geschichte nahe. Vittot sprach davon, dass er ein „non-violent“ sei und mit „Spinnweben im Gewehrlauf“ aus dem Algerienkrieg zurückgekehrt, in den er ebenfalls als Wehrpflichtiger entsandt worden war.108 Dies sollte nicht als eine Äußerung gelesen werden, die für die Belegschaft annähernd repräsentativ gewesen wäre, sondern vielmehr als oberflächlicher Einblick in eine biografisch nur teilweise verarbeitete Lebensgeschichte.109 1982, nach Antritt der Linksregierung, bewarb sich der Vorstand der Genossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) um Aufträge als Lieferant von feinmechanischen Fertigungen – Stößel, Widerlager, Anschläge u.a. – für das staat-
105 In der Debatte fasste Bruno Parmentier dies am treffendsten zusammen, der neu zu den LIP-Arbeitern hinzu gestoßen war: „Ich empfinde eine Kluft zwischen dem, wofür ich zu Lip gekommen bin und einer Reihe von Orientierungen, die ich heute wahrnehme. (…) Es gibt hier 380 Personen, die das Recht auf eine Arbeit haben. Dieses Recht ist hier der stärkste Wert. Stärker als die Pflicht zur Solidarität mit anderen. (…) Rüstungsgüter herzustellen aber erscheint den Freunden von außerhalb schwerwiegender, als die Frage der Vollbeschäftigung bei Lip. Mir auch, ebenda. 106 Michel Jeanningros: LIP 1973-81 côté armement, in: Alternatives Non-Violentes No. 41, Sommer 1981, S. 18-23. BDIC F Δ rés. 702/6. 107 Vgl. Interview des Verfassers mit Michel Jeannigros, 7. März 2014. 108 Piaget, Charles (Hrsg.): Charles Piaget et les Lip racontent, Paris 1973, S. 128. 109 Die Erfahrung, als Wehrpflichtiger im Algerienkrieg eingesetzt worden zu sein und später in einem Rüstungsbetrieb gearbeitet zu haben, teilte Vittot mit einigen anderen bei LIP. Claude Neuschwander war als Ausbilder an einer Radarstation nahe der tunesischen Grenze eingesetzt, vgl. Neuschwander, Claude: Patron, mais..., Paris 1975, S. 55. Und Raymond Burgy war 30 Monate in einer Kampfeinheit in Algerien gewesen, vgl. Piaget: Charles Piaget et les Lip racontent, S. 134.
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liche Rüstungsversuchszentrum in Bourges. Der „Délégué Général de l’Armement“ formulierte allerdings für den Minister persönlich ein Ablehnungsschreiben, da die angebotenen Preise erheblich höher waren als die der Konkurrenz. Im Brief wurde auch der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass das folgende Angebot für einen Uhrenmechanismus günstiger sein werde.110 Die prinzipielle Kooperationsbereitschaft der neuen Regierung – bis auf die Ministerebene – konnte also gewonnen werden, mögliche Aufträge aus diesem Bereich scheiterten im Einzelnen jedoch an der mangelnden Konkurrenzfähigkeit von L.I.P.
4.5 F AZIT Im letzten Abschnitt sind die „Grenzen der Kritik“ deutlich geworden. Die Genossenschaften waren auf ihre Auftraggeber ebenso angewiesen wie auf die Unterstützung durch die CFDT, die antimilitaristische Experimente ablehnte. Widerstreitende Ziele bündelten sich aber generell in den seit 1977 gegründeten Genossenschaften und bereits auf dem besetzten Betriebsgelände seit 1976. So stand das Ziel des Arbeitsplatzerhalts, insbesondere für diejenigen Berufsgruppen mit schlechten Weitervermittlungsaussichten, in einem Spannungsverhältnis zu anderen Zielen wie etwa einer Konversion der Rüstungsproduktion. Diese Ziele wurden teilweise nur von einer Minderheit der Beteiligten vorgebracht. Die Betriebsbesetzung hatte genau hierfür aber den Raum eröffnet. In diesem entfalteten sich zunächst auf unterschiedlichste Weise Zukunftsvorstellungen und Hoffnungen für die konkrete Gegenwart am Arbeitsplatz. In ihnen drückten sich verbindende und trennende Elemente zwischen den verschiedenen Belegschaftsgruppen aus. Während die Ingenieure aus der Entwicklungsabteilung den mit der Quarzuhr verbundenen Technikoptimismus weitgehend teilten, so verbanden sie diesen doch mit anderen, sozialen Zielen, die sie, ihrem Status entsprechend, schnell auch auf unternehmerischem Weg erfüllen wollten. Die gelernten Uhrmacher im Betrieb hingegen orientierten sich in ihrer Gestaltungstätigkeit nach der Gründung von Les Industries de Palente am alten Image der Marke LIP und an den bisherigen, mechanischen Uhren. Vor allem die angelernten Frauen im Betrieb übertrugen die Kritik ihrer bisherigen Arbeitsbedingungen in den konkreten Alltag der Betriebsbesetzung, wo sie in den kunsthandwerklichen Arbeitsgruppen besonders aktiv waren. Auch deren Tätigkeit orientierte sich mit der Zeit stärker an den prognostizierten Erwartungen der Kundinnen und Kunden. Wie genau diese Prozesse vonstatten gingen, wird in Kapitel 5 und
110 Vgl. Briefwechsel aus dem Oktober 1982, SHD Châtellerault 737 2A1 955.
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6 deutlich werden. Zunächst aber bleibt bemerkenswert, dass abstrakte Diskurse wie der um die „gaspillage“ oder allgemeine Probleme wie die der Arbeitslosigkeit in der Produktion auf dem besetzten LIP-Gelände eine Konkretisierung erfuhren. Bei dieser konnten die Beteiligten an eigene Erfahrungen anknüpfen, die bis dahin ungehört blieben waren. Zumindest zeitweise hielten diese nun Einzug in die Produktion.
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Abbildung 8: Chômageopoly-Spielbrett
Eigenes Foto
5. Vom besetzten Gelände zur Gründung von Genossenschaften
1973 ragte die Auseinandersetzung bei LIP nicht nur durch ihre enorme Popularität und den Einfallsreichtum ihrer Protagonisten, sondern auch durch die lange Dauer aus der Masse der damaligen Arbeitskämpfe heraus. Die zweite Betriebsbesetzung bei LIP dauerte sogar mehrere Jahre: bis März 1981. Sie fügte sich aber in eine neue Konjunktur der zahlreich gewordenen „conflits longs“ ein, die als solche in den Gewerkschaften diskutiert wurden. Mit der Besetzung ab Mai 1976 folgte die Auseinandersetzung zunächst ähnlichen Mustern wie drei Jahre zuvor. Nicht Uhren, sondern diverse Gegenstände wurden bald produziert, um Geld für die Auseinandersetzung zu erhalten, um die Arbeitslosigkeit mit Aktivität zu füllen, Solidaritätsnetzwerke zu stärken und um gegenüber potentiellen Investoren die Möglichkeiten des Betriebs zu unterstreichen. Denn auf den Einstieg neuer Unternehmer und eine abermalige Unterstützung des Staates zielte auch die zweite Betriebsbesetzung. Erst als eine Gesamtlösung für das Unternehmen immer unwahrscheinlicher wurde, bereiteten die Beteiligten mit der Unterstützung der CFDT die Gründung eines genossenschaftlichen Industriebetriebs vor. Dieser wurde im November 1977 auf einer Vollversammlung von 480 ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeitern beschlossen: Les Industries de Palente (L.I.P.). Bereits im Sommer 1977 war auch die Produktion von Uhren wieder aufgenommen worden. Anders als 1973 hatte den Entlassenen bis dahin, überwiegend für die Dauer von zwölf Monaten, ein Arbeitslosengeld in Höhe von 90 Prozent des alten Lohns zugestanden. Dieses verbesserte zwar die materielle Ausgangsbasis für einen langen Kampf um Arbeitsplätze, erschwerte es aber zusammen mit den fehlenden Perspektiven für das Unternehmen, eine große Zahl von Personen für die aktive Beteiligung auf dem besetzten Gelände zu begeistern. Der Arbeitslosigkeit und den mit ihr verbundenen Ängsten und Unsicherheiten kam außerdem ein sehr viel größeres Gewicht zu als 1973.
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In der Gründung der Genossenschaften – 1979 wurden auch die Commissions Artisanales de Palente (CAP) als Produktionsgenossenschaft gegründet – kam der Expertise von außen eine wichtige Rolle zu. Diese betraf die Definition von Unternehmenszielen, Beschäftigtenzahlen und Entscheidungsstrukturen. Nicht nur die CFDT, sondern auch die Geldgeber der Genossenschaften, die zuständigen Stellen des Staates, mit denen um öffentliche Gelder gerungen wurde, und der Dachverband der französischen Produktionsgenossenschaften, die Confédération Générale des SCOP (Sociétés Coopératives Ouvrières de Production), gehörten neben den Arbeiterinnen und Arbeitern zu den Kräften, die über den in Palente einzuschlagenden Weg mitentschieden. Die Dynamik der Unternehmensgründung überlagerte zunehmend jene der Betriebsbesetzung. Für die hieraus erwachsenden Konflikte entwickelten die Protagonisten ihre eigene Begrifflichkeit, die auch über ihre Verständnisse sozialer Beziehungen in den neuen Betrieben und auf dem Gelände in Palente Aufschluss geben kann. Zur Verbesserung ihrer internen Kommunikationsstrukturen griffen sie auch auf Hilfe von außen zurück. Die Beobachtungen, die in diesem Rahmen von einer Gruppe um den Organisationssoziologen Renaud Sainsaulieu gemacht wurden, sind aufschlussreich für die in diesem Kapitel vorgenommene Untersuchung der Entscheidungsstrukturen während des Gründungsprozesses der Genossenschaften. Diese werden anhand von drei Problemfeldern untersucht: zunächst an der Dynamik der Betriebsbesetzung, dann an den Auseinandersetzungen mit der CFDT um eine Basiskoordination betrieblicher Kämpfe um Arbeitsplätze und schließlich am Prozess der Genossenschaftsgründungen, insbesondere an den Entwicklungsplänen für Les Industries de Palente. Diese Untersuchung soll zu beurteilen helfen, in welchem Verhältnis die Erfahrungen zweier langer Betriebsbesetzungen zu den Arbeitserfahrungen der Beteiligten im Industriebetrieb LIP und zur politischen Einbettung des Arbeitskampfs standen. Welche Vorstellungen von Selbstverwaltung erwuchsen hieraus? Welche Formen der Demokratie entwickelten sich im Konflikt und welche Bedeutung kam dabei der Selbstverwaltung zu? In welchem Verhältnis standen der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Ausgestaltung des Betriebsalltags, die Vernetzung mit anderen sozialen Auseinandersetzungen und mögliche andere Ziele zueinander? Wie kam die Entscheidung zur Genossenschaftsgründung zustande, von wem wurde sie getragen und wie gestalteten sich die Entscheidungsstrukturen in der schwierigen Gründungsphase?
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5.1 D IE D YNAMIK
EINER
B ETRIEBSBESETZUNG
Seit dem ersten Arbeitskampf bei LIP 1973 hatte sich zwischen der CFDT in Palente, der Metallgewerkschaft der CFDT und der CFDT-Beratungsfirma Syndex eine kontinuierliche Zusammenarbeit entwickelt. So konnten bereits vor Beginn des zweiten Arbeitskampfs stetig Erkenntnisse über die betrieblichen und unternehmerischen Probleme vorgelegt werden. Um diese Form von Wissen hatten die Beschäftigten 1973 noch mühsam ringen müssen. Am 12. Januar 1976 legte Syndex das zweite Jahr in Folge einen Bericht über die Unternehmensentwicklung vor. Dieser lieferte Argumente dafür, dass LIP auch im Rahmen des Neuschwander-Plans weiterhin profitabel gestaltet werden könnte.1 In mehreren Flugblättern aus dem Februar und März 1976 wurden die Ergebnisse dieses Gutachtens aufgegriffen. Die CFDT-Betriebssektion forderte den Verwaltungsrat am 25. März 1976 in einem offenen Brief dringend auf, sich um die Rettung des Entwicklungsplans für die Digitaluhren zu bemühen, der von der Unternehmensleitung fallen gelassen wurde. Und am 29. März forderte die CFDT-Sektion Informationen darüber ein, warum offensichtlich keine der sonst zu dieser Jahreszeit üblichen Vorbereitungen für eine Herbstkollektion 1976 getroffen wurden.2 Die Abwicklung des Unternehmens stand den Gewerkschaftern also bereits vor Augen. Von Beginn an wurde die Auseinandersetzung mit dem Handelsgericht auf juristischer Ebene von der Rechtsabteilung der CFDT geführt. In Bezug auf die unternehmerische Orientierung führten die Gewerkschafter auf verschiedenen Ebenen ökonomische Argumente ins Feld.3 Anders als 1973 waren die hierfür nötigen Formen der Expertise gut eingeführt. Der Beschluss, das Betriebsgelände abermals zu besetzen, wurde entsprechend schnell gefällt. Nach der Konkursanmeldung am 12. April und dem zügigen Handelsgerichtsbeschluss zur Unternehmensliquidation der Nachfolgegesellschaften von LIP in Palente am 3. Mai fanden bereits am Wochenende des 8. und 9. Mai 1976 die ersten Tage der offenen Tür auf dem Gelände statt. Mehr als 17.000 Besuchern, die nun überwiegend aus der Region kamen, konnten die
1
Vgl. Syndex: Rapport sur les comptes de 1975, AM 5 Z 220.
2
Vgl. Communiqué de la FGM CFDT vom 2. Februar 1976, vgl. CFDT LIP: Information sur la situation LIP, 13. Januar 1976, offener Brief der CFDT-Sektion an den Verwaltungsrat vom 25.3. und Flugblatt vom 29.3., alle BDIC F Δ rés. 702/6.
3
Zur juristischen Auseinandersetzung vgl. v.a. das Gutachten von Syndex: Observations sur le jugement du Tribunal de Commerce de Paris ayant prononcé la liquidation des biens des trois sociétés SEHEM, CEH et SPEMELIP, BDIC F Δ rés. 702/20, den Karton FGM 1 B 577 und Semaine Sociale Lamy – Supplement 1631.
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LIP-Arbeiter dort auch die Aktivitäten der von ihnen unmittelbar eingerichteten Arbeitsgruppen – „commissions“ – präsentieren.4 Die erste Ausgabe einer neuen Serie der LIP Unité erschien bereits im April, nun allerdings als Zeitung der CFDT-Sektion im Betrieb. Die CGT spielte in der Gestaltung der Betriebsbesetzung von vornherein eine deutlich geringere Rolle als 1973. In den Wahlen für die Gremien betrieblicher Interessenvertretung war die CFDT 1975 eindeutig als stärkste Kraft hervorgegangen, während die CGT deutlich geschwächt wurde. Und der CFDT gelang es in der Zwischenzeit auch, ihre Interpretation des ersten Arbeitskampfs bei LIP bei den Beschäftigten weitgehend zu verallgemeinern.5 In den zahlreichen Arbeitsgruppen kamen mit der Zeit Ansprüche an die Betriebsbesetzung und an deren Ziele zum Ausdruck, die mit der Mobilisierung entlang ökonomischer und wirtschaftspolitischer Argumente in Konflikt gerieten. Teilweise ist dies bereits in Kapitel 4 anhand der Produkte gezeigt worden. Um dieses Spannungsverhältnis differenzierter beurteilen zu können, wird nun zunächst skizziert, mit welchen Argumenten sich die Beschäftigten von LIP 1976 für den Erhalt des Unternehmens stark machten. Die leitenden Angestellten und Techniker von LIP wandten sich am 16. Juni 1976 mit einem Dossier an das Industrieministerium und an den Präfekten.6 Drei Grundrichtungen galt es ihnen zufolge für ein mögliches Nachfolgeunternehmen von LIP einzuschlagen, von denen die ersten beiden allerdings eine Fortsetzung der Neuschwander-Strategie bedeutet hätten: „Die Marke LIP entwickeln“ war der erste dieser Punkte. Hier müsse das Unternehmen an den Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre anknüpfen. Zweitens sollte die Quarzuhrenproduktion weiter ausgebaut werden, neue Versuche zur Integration von LIP in den staatlich vermittelten „Plan Horloger“ und dessen ausreichende Finanzierung wurden hierfür gefordert. Und drittens sollte eine Strategie der horizontalen Diversifizierung verfolgt werden. Ausgehend von den technischen Möglichkeiten des Betriebs sollten sämtliche Anwendungsbereiche feinmechanischer und mikromechanischer Bearbeitung, auch in den Bereichen Plastik und Elektronik, in Betracht gezogen werden. Für
4
Vgl. LIP Unité deuxième série, No. 2, S. 1, BDIC F Δ rés. 702/1. Das Liquidationsurteil bezog sich sowohl auf die Holdinggesellschaft SEHEM als auch auf die beiden für den Betrieb zuständigen Unternehmen CEH und SPEMELIP, vgl. Syndex: Observations sur le jugement du tribunal de commerce de Paris ayant prononcé la liquidation des biens des trois sociétés SEHEM, CEH et SPEMELIP, Paris 1976, BDIC F Δ rés. 702/20.
5
Vgl. die Wahlergebnisse für den Betriebsausschuss und die Personaldelegierten vom September 1975, ADD 45 J 85.
6
Vgl. das „Dossier Industriel CEH - LIP vom 16. Juni 1976, AN 19840668/9.
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die allgemeine Öffentlichkeit bereiteten sie diese Positionen in einer Broschüre auf: „LIP, une industrie, une région en danger“. Darin ordneten die Autoren die Probleme von LIP in die Krise der regionalen Uhrenindustrie ein. Für die Branche als ganze forderten sie eine Diversifizierungsstrategie. Denn selbst wenn die französische Uhrenindustrie ihre Stellung auf dem Markt hätte halten können, wäre durch die Quarzuhren technologisch bedingt mit weiteren Entlassungen zu rechnen gewesen. Staatliche Aufträge in den Bereichen der Telekommunikation oder der informationstechnischen Infrastruktur wurden als Teil der Lösung gefordert: „Dank seines technischen und menschlichen Potentials kann LIP helfen, für die Gesamtheit dieser wichtigen regionalen Ziele Durchbrüche zu erreichen.“7 Nicht nur in der technischen und politischen Analyse der „Cadres“, sondern auch in der Mobilisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter spielte die Betonung des „technischen Potentials“ von LIP eine wichtige Rolle. Im gewerkschaftlichen Diskurs diente dieses bald als wichtigstes Argument für den nötigen Erhalt von LIP. So vermerkte die LIP Unité von den Tagen der offenen Tür die Entgeisterung, mit der die Besucher die Zerstörung eines solchen Potentials erkannt hätten: „Dann folgte der Rundgang vom Quarz zu den Vorführungsposten in der Uhrenfertigung, zur Kollektion von LIP, in die Galavanikwerkstatt, in die Mechanik, zur Fotoausstellung. An jedem dieser Punkte gaben die Arbeiter sicher sehr überzeugende Argumente, denn alle Besucher waren von den getätigten Investitionen und dem erreichten Stand in der Elektronik beeindruckt. Beim Gehen waren sie aufgebracht von den Maßnahmen, die gegen ein Unternehmen mit einem dermaßenen technischen Potetial ergriffen worden sind.“8
Außerhalb der Gewerkschaften war die institutionelle Unterstützung für einen Erhalt des Unternehmens LIP von Beginn an gering und beschränkte sich weitgehend auf die Region. Anlässlich der Konkursanmeldung hatte die Chambre Française de l’Horlogerie erklärt, keinerlei Beitrag zur teilweisen oder vollständigen Rettung von LIP leisten zu wollen.9 Und die Regierung von Premierminister Jacques Chirac (seit 1974) hatte betont, dass LIP ausschließlich so behandelt würde, wie jedes andere Konkursunternehmen; eine politische Lösung auf natio-
7
„Les travailleurs de LIP“: LIP 76 – une industrie, une région en danger, S. 18.
8
LIP Unité, deuxième série, No. 2, Mai 1976, S. 1.
9
Vgl. Positionspapier der CFH vom 22. April 1976, ADD 35 J 10.
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naler Ebene wurde ausgeschlossen.10 Der Conseil Régional der Franche-Comté immerhin beauftragte sechzehn unabhängige Gutachter mit branchenspezifischen Fachkenntnissen. Diese beurteilten die einzelnen Abteilungen. Zwar schwärmten einige von ihnen in märchenhaftem Tonfall vom technischen Zustand der Fabrik.11 Im Hinblick auf die mögliche Marktposition des Unternehmens jedoch wurden die Chancen allgemein als schlecht bewertet. So stellte ein Gutachter fest, die Galvanisierungsanlagen seien vollkommen überdimensioniert und kaum rentabel zu betreiben, dasselbe gelte für die Uhrenfabrikation als ganze. Ein anderer hielt fest, dass die neue Abteilung für Uhrengehäuse im Rahmen starrer Großserien und deutlich gesteigerter Produktionszahlen effizient zu betreiben, aber für kleinere Serien vollkommen ungeeignet sei. Um die in der Uhrenabteilung für eine sinnvolle Auslastung nötige Kundschaft zu gewinnen, werde es Jahre brauchen, fasste der Abschlussbericht der Mission zusammen. Und in Bezug auf die Rüstungsabteilung wurde geurteilt, diese müsse sehr schnell aus dem Unternehmen herausgelöst werden und wieder produzieren, falls sie ihre Auftraggeber nicht verlieren wolle.12 Als die zuständige Direktion des Industrieministeriums im September die bislang größten Kunden der Rüstungsabteilung von LIP zusammenrief, hatten diese jedoch bereits Vorkehrungen getroffen, um die Produktion entweder ins eigene Unternehmen zu integrieren oder an ein anderes Unternehmen zu vergeben.13 Eine Zukunft für die Fabrik in Palente ohne nennenswerte Veränderungen der Produktionsstruktur und des Kundenstamms war also auszuschließen. Dementsprechend lief die wirtschaftspolitische Argumentation im Laufe der Zeit zunehmend ins Leere. Sie hatte dennoch erhebliche Rückwirkungen auf die interne Organisation der Betriebsbesetzung. Einige der Methoden in der Auseinandersetzung, die am ehesten denen von 1973 glichen, hatten sich in ihrer Stoß-
10 Vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit, außerdem Jacques Chirac in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage in der Nationalversammlung, Journal Officiel Assemblée Nationale No. 37, Sp. 3084ff. 11 So beschrieb der in Besançon lehrende Professor für angewandte Mechanik, Raymond Chaleat, das technische Potential: „Eine Fabrik im Dornröschenschlaf, die auf den Zauberstab wartet, außergewöhnliche und bemerkenswert gut instandgehaltene Einrichtungen, [...] Produktionsreihen, die ein Hauch zum Leben erwecken würde“, AN 19840668/8. 12 Vgl. die einzelnen Gutachten, AN 19840668/8. Vgl. Abschlussbericht der Mission Régionale, ADD 2032 W 334. 13 Vgl. das Protokoll des Treffens zwischen DIMME, DTAT, Luchaire und Brandt am 15. September 1976, AN 19840668/9.
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richtung verändert. So brachten die ehemaligen LIP-Beschäftigten im Juli 1976 abermals die Uhrenvorräte an sichere Orte. 1973 hatte dies darin gemündet, die Uhrenvorräte offensiv zu verkaufen und so eine große Öffentlichkeit herzustellen. Jetzt aber zielte diese Maßnahme darauf, einen Verkauf der Marke LIP durch den Konkursverwalter zu verhindern, um weiter für die Produktion von LIP-Uhren in Palente eintreten zu können. Sie trug also wesentlich defensivere Züge. Hintergrund war, dass der Konkursverwalter mit dem ehemaligen Mehrheitseigentümer von LIP, Ébauches, über einen Verkauf der Marke verhandelte. An der Fabrik hatte der Konzern kein Interesse mehr, wohl aber am günstigen Erhalt der Markenrechte. Nur für den Fall dieses Verkaufs behalte sich die Belegschaft vor, den Markt mit LIP-Uhren aus dem Lagerbestand zu fluten, um die Preise zu senken und die Marke so zu entwerten, wie Charles Piaget gegenüber der Presse erklärte.14 Im Kampf gegen den Verkauf der Marke konnte immerhin die Unterstützung des Conseil Régional gewonnen werden, der sich in seiner Sitzung am 7. Juli 1976 in Gegenwart zahlreicher LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter im Zuschauerraum zu einer Entschließung bereitfand. Das Regionalparlament stellte sich in dieser gegen den Verkauf der Marke und beschloss, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten finanziell an einer eventuellen Wiederaufnahme des Betriebs in Palente zu beteiligen. Hierbei war vor allem an Bürgschaften gedacht. Außerdem wurde ein Sonderausschuss gegründet, der sich mit den Problemen von LIP und der Branche befassen sollte.15 Vom nationalen Ereignis von 1973 war LIP bereits im Sommer 1976 zum regionalen Problem geworden. Dafür hatten sich die Argumente und die Problemwahrnehmung zumindest seitens des Leitungspersonals von LIP und der mit der Wirtschaftspolitik beschäftigten regionalen und kommunalen Stellen – insbesondere deren sozialistischen Repräsentanten – angenähert. Wie gestaltete sich demgegenüber der Alltag auf dem besetzten Betriebsgelände und welche Ansprüche an die Betriebsbesetzung entwickelten die Beteiligten? Die Attraktivität der Betriebsbesetzung von 1973, nach außen und für einen guten Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter, hatte auch eine Kritik der Arbeit in der Fabrik ausgemacht. Diese hatte sich gegen die parzellierte Arbeitsteilung,
14 Vgl. AFP-Meldung vom 27. Juli, FGM 1 B 577. 15 Diesem gehörten Edgar Faure (Präsident des Conseil Régional), die Nationalversammlungsabgeordneten Weinman (UDR, Doubs), Beuclier (CDP, Haute-Saône) und Chevènement (PS, Belfort) sowie der Senator Robert Schwint (ab 1977 Bürgermeister von Besançon) an, vgl. Mitteilung des Präfekten an das Industrieministerium vom 13. Juli 1976, AN 19840668/9.
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gegen willkürliche Beförderungen und gegen unnötige Hierarchien gerichtet. Auch 1976 wurde diese Form der praktischen, im Experimentierfeld einer besetzten Fabrik gelebten Kritik wieder Teil der Auseinandersetzung. Teilweise gehorchten die internen Diskussions- und Entscheidungsprozesse jedoch dem realen oder imaginierten ökonomischen Druck und der fragilen Unterstützung von außen. Ein Aktionskomitee wurde nicht mehr gegründet. Die treibenden Personen des alten Komitees waren in der Zwischenzeit der CFDT beigetreten. Eine neuerliche Gründung schien ihnen nicht mehr notwendig zu sein. Ab dem Mai 1976 begannen die Werktage auf dem besetzten Gelände täglich mit einer Vollversammlung um 8.30h; der alte Arbeitsbeginn war bereits um 7 Uhr gewesen. Die Teilnahme war zunächst freiwillig. An den verschiedenen Aktivitäten auf dem Gelände beteiligten sich auch zur Ferienzeit im Juli 1976 zwischen 80 und 220 Personen.16 Anfang Februar 1977 waren es wieder zwischen 300 und 400 Personen, die die Vollversammlung besuchten; diese hatte meistens informativen Charakter, nur zweimal in der Woche wurde hier debattiert.17 Die intensive Reisetätigkeit wurde wieder aufgenommen. 160 LIPArbeiterinnen und -Arbeiter nahmen zwischen 1976 und 1980 an insgesamt 645 Terminen in Frankreich und im Rest von Europa teil. Teilweise wurde dabei an die Kontakte von 1973 angeschlossen, teilweise wurden gänzlich neue Verbindungen eingegangen: So waren bereits 1973 einzelne LIP-Arbeiter bei der Initiative „Arbeiten und Leben“ in Dietzenbach zu Besuch gewesen. Im März 1979 besuchte Michel Jeanningros diese erneut. Im Februar 1978 waren LIP-Arbeiter in Frankfurt, um dort Filme zu zeigen. Am 30. Mai 1976 waren zehn Personen in München, im Mai 1980 war das „Forum Alternativ Leben“ in Paderborn Reiseziel einiger LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter. Drei Personen nahmen 1978 an der Volksuni Wyhler Wald teil.18 Im Sommer 1977 machte der „marche nonviolente“ nach Malville (Anti-Atom) auf seinem Weg bei LIP halt, auch die Kontakte ins Larzac wurden fortgeführt. Ab September 1976 richtete eine Gruppe von Frauen eine ständige Kinderbetreuung auf dem Gelände ein, bald waren auch Männer in der entsprechenden Arbeitsgruppe Mitglieder. In der LIP Unité vom November wurden diese zu stärkerer Mitarbeit aufgefordert, „damit die in der Kommission ‚Kinderbetreuung‘ eingeschriebenen Männer sich tatsächlich um die Kinder kümmern, diese
16 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No.3, Juli 1976. 17 Vgl. Libération, 7. Februar 1977. 18 Vgl. eine Liste mit Datum der jeweiligen Veranstaltung und Namen der Teilnehmenden von LIP, Privatbestand Michel Jeanningros.
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brauchen die Anwesenheit von Männern.“19 Die Beteiligten besuchten Kurse in Psychologie und standen im Austausch mit Erzieherinnen in der Stadt, vor allem dem Kindergarten des Klinikums, um sich entsprechend ihrer Tätigkeit weiterzubilden. Täglich wurde eine Gruppe von Drei- bis Fünfjährigen betreut, und bald stand die Betreuung Mittwoch nachmittags auch Schulkindern offen. Wie lange diese Form der Kinderbetreuung aufrecht erhalten wurde, konnte nicht ermittelt werden. Spätestens mit dem Wegzug vom LIP-Gelände im März 1981 kam diese an ihr Ende. Im Rahmen einer „Einkaufsgruppe“ wurde von den Erwerbslosen auf dem LIP-Gelände ein gemeinsamer Lebensmitteleinkauf zu Großhandelspreisen organisiert. Auch der Betrieb der Kantine wurde schließlich wieder aufgenommen, die sich ebenso an die ehemaligen Beschäftigten wandte wie an Besucherinnen und Besucher. Zeitweilig wurde ein Friseursalon betrieben und es gab eine Selbsthilfewerkstatt für Kraftfahrzeuge.20 Die gegenseitige Hilfe prägte also als wesentliches Motiv eine gute Zahl der Arbeitsgruppen. Diese wurde angesichts der länger werdenden Arbeitslosigkeit wichtiger. Währenddessen wurde von den Beteiligten in den handwerklichen Arbeitsgruppen auch eine Abkehr von der bisherigen industriellen Arbeit vorgenommen. Die Arbeit in diesen Gruppen fand überwiegend nachmittags statt, nachdem am Morgen die Vollversammlung und eventuelle Gruppendiskussionen stattgefunden hatten. Die Entscheidungen über die Produktion, den Vetrieb und die Organisation fanden autonom in den jeweiligen Gruppen statt. Während in den handwerklichen Arbeitsgruppen vor allem Frauen, in erster Linie angelernte Arbeiterinnen tätig wurden, widmeten sich die Uhrmacher aus dem Betrieb dem Anschluss an die Qualitäten des alten Unternehmens LIP: Bereits im Juni 1976 gründeten sie eine Arbeitsgruppe Reparatur. Diese diente dem Erhalt der Marke LIP durch den Versuch, Kontinuität im „service après vente“ herzustellen. Die Uhrmacher versandten Ersatzteile und führten Reparaturen durch. Bei der Vorstellung der Arbeitsgruppen in der LIP Unité vor dem Tag der offenen Tür am 6. November 1976 wurde diese bereits als Gruppe „für den Erhalt der Marke und der Garantie“ präsentiert. Viele der 1973 erstmals aufgebrachten Themen waren 1976 selbstverständlicher Teil der Auseinandersetzung geworden, traten aber manchmal hinter den vorgeblichen ökonomischen Notwendigkeiten zurück. So planten einige Frauen bei den Tagen der offenen Tür im Mai 1976 einen eigenen Stand. Diesen lehnten die Gewerkschaftsvertreter von LIP jedoch mit Verweis auf die Zielsetzung des
19 LIP Unité, deuxième série, No.3, Juli 1976, S. 3. 20 Vgl. LIP Unité, deuxième série No. 7.
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Konflikts – einen neuen Unternehmer – und die angespannte Situation ab. Die Frauen wollten Exemplare von Monique Pitons Buch und der Frauenbroschüre verkaufen und über eine Kampagne für die Legalisierung von Abtreibungen informieren.21 Jean Raguenès, der diesen Stand ebenfalls ablehnte, wurde in der Libération zitiert: „Die Frauen brauchen keinen gesonderten Ausdruck.“ Außerdem gab er an, die Broschüre – von der PSU organisiert – repräsentiere nur eine Minderheit der Frauen.22 Die Frauen bauten den Stand schließlich vor dem Fabriktor, außerhalb des Betriebsgeländes auf. Monique Piton zog ihr Buch vom Stand zurück, das, wie sie meinte, entweder bei LIP auf dem Gelände verkauft werden solle oder gar nicht. Beim Tag der offenen Tür am 6. November 1976 wurde schließlich ein solcher Stand auf dem Betriebsgelände selbst aufgebaut und dessen Anliegen auch in der LIP Unité widergegeben.23 Es ist deutlich geworden, dass in den Arbeitsgruppen und den übrigen Aktivitäten zahlreiche Ansprüche an die gemeinsame Ausgestaltung des Arbeitskampfs, aber auch Bedürfnisse in Bezug auf den Lebens- und Arbeitsalltag zum Ausdruck kamen. Diese umfassten sebstbestimmte Arbeitsrhythmen, genug Zeit für Familie und Freunde, die Verknüpfung von gestalterischen und ausführenden Aufgaben sowie gegenseitige Hilfe. Manche dieser Aktivitäten bedeuteten für die Beteiligten ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und manche brachten erkennbare Gegenbilder zur bisherigen industriellen Arbeit hervor. Dennoch – oder gerade deswegen – reproduzierte sich in den Arbeitsgruppen, die für die Solidaritätskasse produzierten und verkauften, auch eine geschlechts- und qualifikationsabhängige Arbeitsteilung, die an die beruflichen Tätigkeiten im ehemaligen Unternehmen LIP anknüpfte: Angelernte Arbeiterinnen stellten kunsthandwerkliche Produkte her, was von den männlichen Kollegen gelegentlich als Beschäftigungsmaßnahme abgetan wurde. Die Uhrmacher widmeten sich dem Erhalt der Marke und knüpften dabei an die Qualitäten des alten Unternehmens an. Die Ingenieure aus der Entwicklungsabteilung widmeten sich in der Initiative 4M (Micromécanique et Matériel Médical) dem Anschluss an die entstehende regionale Diversifizierungsstrategie. Allerdings gründeten sie im Herbst 1977 ihr eigenes Unternehmen außerhalb des besetzten Geländes und verließen die Auseinandersetzung.24
21 Zur Geschichte des dort eingeladenen „Mouvement pour la liberté de l’avortement et de la contraception“ vgl. Zancarini-Fournel, Michelle: „Histoire(s) du MLAC (19731975)“, clio. histoire, femmes et sociétés 18 (2003), S. 241-252. 22 Libération, 10. Mai 1976, S. 8. 23 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No.7, November 1976, S. 2. 24 Vgl. Kpaitel 4.
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In der Präsentation der Arbeitsgruppen in der LIP Unité vom November 1976 sind erste Spuren eines Selbstverständnisses zu finden, welches diesen Gruppen wichtige Bedeutung als Träger alternativer Perspektiven für den Betrieb beimaß. Nicht alle teilten die Einschätzung, dass die Produktion auf dem Gelände zielführend sei. Insbesondere die CGT, deutlich weniger stark vertreten als 1973, trug Bedenken vor, die Arbeitsgruppen würden vor allem der individuellen Beschäftigung dienen. Als die CGT ihren Standpunkt Ende September 1976 in einer Vollversammlung deutlich machen wollte und anstelle der „commissions“ eine häufigere Organisation von und intensivere Beteiligung an Demonstrationen – konkret zur Industrie- und Handelskammer und zur Präfektur – anmahnte, wurde ihr Standpunkt offenbar derart rüde abgewisesen, dass sie sich zu einem offenen Brief genötigt sahen. In diesem kritisierten sie die Art und Weise, mit der die CFDT ihre Sichtweise als alleingültig durchzusetzen versuche. Sie schlossen den Brief: „Die Gewerkschaften werden an ihrem Handeln gemessen, nicht an ihren Absichtserklärungen. [...] Die ‚Kommissionen‘ als Aktion zu präsentieren, mal im Ernst, Genossen!“25 Der übrige Inhalt des Briefs zeugt davon, dass die CGT-Gewerkschafter sich mit ihrer Sicht mehr und mehr an den Rand gedrängt fühlten.26 Tatsächlich war die CFDT bereits seit Beginn der Betriebsbesetzung dominant und führte den Arbeitskampf zunehmend nach ihren eigenen Vorstellungen. Auch die CFDT-Gewerkschafter erkannten die mangelnde Unterstützung der Behörden. In einem Flugblatt vom 22. Oktober 1976 stellten sie fest, dass Edgar Faure als Präsident des Conseil Régional dessen Sonderausschuss „am langen Arm verhungern“ lasse.27 Damit der vom Conseil Général du Doubs für den Jahresbeginn 1977 vorgesehenen Arbeitsgruppe für die Wiederbelebung von LIP nicht ein ähnliches Schicksal widerfahre, brauche es den fortgesetzten Druck der langsam demonstrationsmüde werdenden Belegschaft.28 Aus der Sicht der Repräsentanten der CFDT bei LIP standen die Arbeitsgruppen diesem Druck jedoch nicht im Weg. Sie sollten ihn im Gegenteil erst dadurch ermöglichen, dass sie die alltägliche Begegnung unter den Beteiligten aufrechterhielten.
25 Offener Brief der CGT LIP vom 28. September 1976, BDIC F Δ rés. 702/6. 26 Vgl. ebenda. 27 Flugblatt der CFDT LIP: „LIP aujourdhui“ vom 22. Oktober 1976, BDIC F Δ rés. 702/6. Zu den Anfang 1977 vom Conseil Général du Doubs eingerichteten Arbeitsgruppen vgl. die Unterlagen von Joseph Pinard, ADD 35 J 10. 28 Vgl. Flugblatt der CFDT LIP: „LIP aujourdhui“ vom 22. Oktober 1976, BDIC F Δ rés. 702/6.
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Die Gründung des Freundschaftsvereins Les Amis de LIP (AAL) am 6. November 1976 trug entscheidend dazu bei, die „commissions“ und den Zusammenhalt zwischen ihnen auf dem besetzten Betriebsgelände nach außen als wesentlichen Teil der Auseinandersetzung zu vermitteln. Der Freundschaftsverein schaffte es, die Unterstützung von außerhalb zu vergrößern, die LIP Unité hatte 1978 mehr als 10.000 Abonnenten, der Verein mehr als 6.000 Mitglieder, von ihnen etwa 5.000 in Besançon.29 Es gelang seinen Protagonisten, zahlreiche Bürgermeister, Gewerkschaftssektionen und Parteigliederungen als Mitglieder zu gewinnen oder dazu zu bewegen, sich mit einmaligen oder regelmäßigen Zahlungen zu beteiligen.30 Auch stießen durch die Vermittlung des Vereins einige wenige Personen von außerhalb zur Betriebsbesetzung hinzu. Dies führte schließlich zu Konflikten in Bezug auf die Zielsetzung des Arbeitskampfs und auch in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der Zusammenarbeit auf dem besetzten Gelände. So kritisiert etwa der LIP-Arbeiter und CFDT-Gewerkschaftsaktive François Laurent rückblickend, dass der zeitweise wieder etablierte kollektive Redaktionsprozess der LIP Unité beendet wurde, als der Freundschaftsverein AAL dessen Redaktion übernahm. Sie wurde in der Folge vor allem durch Jean Raguenès und den von außen hinzugekommenen Dominique Bondu erledigt. In Laurents Wahrnehmung war dies eine feindliche Übernahme: „[...] Raguenès und die Jungs von der GP (Bondu war vorher in der Gauche Prolétarienne gewesen, JB) waren dabei, sich die LIP Unité unter den Nagel zu reißen. Und Raguenès, der ein sehr geschickter Typ war, weil er Priester war, sie haben einen Freundschaftsverein eingerichtet, der die LIP Unité herausbringen sollte, der das Solidaritätsgeld verwalten sollte.“31 Das Resultat sei gewesen, dass wenige besonders Aktive die wesentlichen Entscheidungsposten besetzten: „Pierre Besançon ist Präsident des Freundschaftsvereins geworden, Bondu beschäftigt sich mit der LIP Unité und dem Ganzen und Parmentier macht andere Sachen, die Uhrmacherei, den Vertrieb. Von da ab habe ich angefangen, wirklich auf Distanz zu gehen.“32 Von außen wurde ab Anfang 1977 der Druck zur Beendigung der Betriebsbesetzung stärker.33 Am 4. Februar ordnete das Handelsgericht in Besançon die Räumung des Geländes an, welche allerdings juristisch angefochten und zu-
29 Vgl. Briefe und Spendenbelege in BDIC F Δ rés. 702/13. 30 Vgl. ebenda. 31 Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014, Min. 21ff. 32 Ebenda. 33 Souletie, Michel und Pierre Saint-Germain: „Le voyage à Palente“, Les Révoltes Logiques 7 (1978), S. 67-80.
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nächst nicht durchgesetzt wurde.34 Die Gewerkschafter von LIP hatten beim Sonderausschuss des Conseil Régional vergeblich darauf gedrängt, das Betriebsgelände durch die Region kaufen zu lassen. Daraufhin beschloss der Stadtrat von Besançon im April 1977, dem Konkursverwalter ein Gebot für den Kauf des Geländes zu unterbreiten. Dieser zeigte sich unmittelbar bereit, das ihm gemachte Angebot über 8 Mio. FF anzunehmen, zog seine Zustimmung wenige Tage später aber wieder zurück, weil die Gläubiger sich mehrheitlich gegen diesen Verkauf gestellt hätten. Am 15. Juni beschloss der Stadtrat die Umwandlung des LIP-Geländes in eine Zone d’Aménagement Différé (ZAD). Diese hätte der Stadt ein Vorkaufsrecht für das Grundstück gesichert und spekulative Bieter insofern abgeschreckt, als eine handwerkliche oder industrielle Nutzung des Grundstücks im Bebauungsplan festgeschrieben worden wäre. Der Präfekt verweigerte allerdings seine nötige Unterschrift unter den geänderten Bebauungsplan. Und obwohl der Stadtrat im Oktober seine Kaufabsichten nochmals bekräftigte und noch mehrfach an den Konkursverwalter herantrat, blieb das Grundstück zunächst in seinen Händen. Erst 1984 konnte das Grundstück schließlich durch eine privat-öffentliche Partnerschaft aus Stadt und lokaler Industrie- und Handelskammer gekauft werden. Auch die Umwandlung in eine ZAD geschah erst in den 1980er Jahren.35 Zwar wurde der Räumungsbeschluss aus dem Februar nicht durchgesetzt. Dennoch machte sich bei den ehemaligen LIP-Beschäftigten die Angst vor einer möglicherweise bevorstehenden Räumung oder der Beschlagnahme von Arbeitsmitteln bemerkbar. Eine Gruppe aus der Belegschaft errichtete Betonsperren und Stacheldraht um das Grundstück, um die Entfernung von Werkzeugen oder Vorräten zu verhindern oder zumindest zu verteuern. Wiederholt wurden durch die Wasserwerke und den staatlichen Stromversorger das Wasser und die Elektrizität abgeklemmt, weil die Rechnungen nicht bezahlt worden waren. Da ein Teil der Uhrenvorräte in einer Kühlkammer lagerte, waren diese durch die Stromabklemmungen akut gefährdet.36 Im Winter und Frühling gefährdete die
34 Vgl. Flugblatt der CFDT LIP: „Au nom du peuple“, FGM 1 B 577. 35 Vgl. die Dokumentation der kommunalen Beschlüsse in AM 86 W 41. Zur Annäherung von Stadt und Industrie- und Handelskammer vgl. Cavatz, Martial: „Lip et après… Quand une municipalité socialiste collabore avec le patronat local autour d’une reprise de terrain“, in: Bertoncello, Brigitte (Hrsg.): Les Acteurs de la composition urbaine, Paris 2014, S. 183-198. 36 Vgl. Korrespondenz Électricité de France-Präfektur, AN 1984668/9 und LIP Actualité Oktober 1977, BDIC F Δ rés. 702/1. All diese Interventionen wurden in der LIP Actualité als Formen der Gewalt verhandelt: „Seit sechzehn Monaten haben wir eine
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fehlende Heizung die Funktionsfähigkeit einiger Maschinen. Das Motiv der „sauve garde de l’outil de travail“ erhielt entsprechend eine besondere Wichtigkeit. Die Fabrik LIP war direkt ans 20.000V-Netz angeschlossen, die Umwandlung geschah über einen Transformator auf dem Betriebsgelände. Dieser wurde zwischenzeitlich von der Polizei beschlagnahmt.37 Als die LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter im Sommer 1977 begannen, über die Einrichtung einer Genossenschaft zu diskutieren, waren diese äußeren Umstände bereits eine wichtige Motivation geworden, um eine Legalisierung ihrer Aktivitäten auf dem Gelände anzustreben. Während die einen immer noch für eine Fortsetzung der Betriebsbesetzung und die Suche nach einem Unternehmer eintraten, erkannten andere in der Genossenschaftsgründung einen wichtigen Beitrag, um bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen. Sowohl über die Notwendigkeit einer Genossenschaftsgründung als auch über deren grundlegenden Charakter gab es weiterhin Uneinigkeit. So war umstritten, welche Rolle zukünftig den handwerklichen Arbeitsgruppen zukommen sollte, ob und wie die übrigen Tätigkeiten der Betriebsbesetzung in Zukunft fortgesetzt werden könnten und welche Entscheidungsstrukturen es dafür brauchte.
5.2 LIP UND
UND CFDT ZWISCHEN E XPERTENPOLITIK
B ASISKOORDINATION
Von Beginn an bemühten sich die Gewerkschafter auf dem besetzten LIPGelände um die Vernetzung mit anderen Arbeitskämpfen in der Branche und der Region, aber auch darüber hinaus. Sie suchten insbesondere den Erfahrungsaustausch mit anderen Belegschaften, die sich in langen Auseinandersetzungen um ihre Arbeitsplätze befanden und hierzu ihre Betriebe besetzt hielten. Dies entsprach dem, was Charles Piaget in einer Rede 1974 als Mittel „anderer Politik“ bezeichnet hatte: die permanente Herstellung eines horizontalen Austauschs als
Reihe von Gewalt erlitten: Arbeitslosigkeit, Wegfall des Gehalts, Vandalismus am Transformator, Sabotage an der Gasinstallation sowie Knüppel und Schläge vonseiten der Polizei. Diese ganze Gewalt, die vom Ausbeuter kommt, ist nicht hinnehmbar. Wir müssen sie bekämpfen. Das ist eine Frage von Leben und Würde“, ebenda, S. 1. 37 Die „commission répression“ behandelte nicht nur die juristische und polizeiliche Verfolgung, sondern auch die Repression durch die Arbeitsbehörden. Die Beschlagnahme des Trafos war auch eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen sich die nationale Ebene der CFDT gegenüber der Presse zu Wort meldete, vgl. Presseerklärung von Jeanette Laot aus dem CFDT-Vorstand, 20. Juli 1977, FGM 1 B 577.
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Mittel gegen Hierarchiebildung und bürokratische Politik.38 So wurden die ersten Tage der offenen Tür am 8. und 9. Mai 1976 auch für das Treffen einer „Coordination des luttes sur l’emploi“ genutzt. Das erste Mal hatte sich diese beim Tag der offenen Tür des kleinen metallverarbeitenden Betriebs Griffet in Marseille am 1. und 2. Mai getroffen, dieser Betrieb war seit 14 Monaten besetzt. Das Treffen bei LIP wurde zu einem Aufruf für eine große, frankreichweite Basiskoordination genutzt, die an zahlreiche seit 1973 etablierte Kontakte anknüpfen konnte.39 Die Ziele dieser Koordination betrachteten die Beteiligten als Ergänzung und nicht als Ersatz zentraler gewerkschaftlicher Koordinierung. Im Laufe des Jahres 1976 trafen sich die Beteiligten mehrere Male bei verschiedenen besetzten Fabriken. Bei einem Treffen in Besançon im September 1976 reflektierten die Delegierten auch über den Begriff der „Coordination“ und dessen Bedeutung im Kontext ihrer konkreten Treffen. Was ihre Zusammenarbeit demnach von jener innerhalb der Branche oder der in der Region, also in den üblichen Formen der Gewerkschaftsstruktur, unterschied, sei der intensivere Erfahrungsaustausch von Arbeiterinnen und Arbeitern gewesen, die sich in einer ähnlichen Situation, nämlich der Arbeitslosigkeit befanden: „Die Arbeiter kommen zusammen, um aus der Isolation herauszutreten und um zu verhindern, dass ihr Konflikt sich totläuft. Alleine ist dieser Kampf verloren, mit 250 haben wir mehr Chancen zu gewinnen.“ „Die Fragen und Probleme sind bei REO, IMRO, GRIFFET, CARON-OZANNE, IDEAL-STANDARD, SCPC, RELLIAC, SUDACIER, LIP etc. dieselben.“40 Bei den Treffen konnte über die Schaffung von Öffentlichkeit, die gewerkschaftliche Einheit im Betrieb und die Möglichkeiten gesprochen werden, der jeweiligen Auseinandersetzung zum Erfolg zu verhelfen, aber auch über die Ängste und Hoffnungen der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst. Die Produktion des Brettspiels „Chômageopoly“ wurde bei dem Treffen wesentlich unter dem Aspekt dieses Erfahrungsaustauschs diskutiert. Über die Produktion von kunsthandwerklichen und anderen Produkten bei LIP sowie die
38 Vgl. Charles Piaget: Être révolutionnaire, qu’est-ce que cela veut dire aujourd’hui?, Artikel von 1974, F Δ rés. 578/52. 39 Vgl. LIP Unité No. 2, deuxième série, S. 2, BDIC F Δ rés. 702/1. Unter anderem hatte, über die PSU-Betriebssektionen angeregt, am 25. und 26. Oktober 1975 ein Treffen von 30 Belegschaften, darunter vier aus Besançon, als „Conférence nationale des Mini-Lip“ stattgefunden, vgl. Castleton, Edward: Lip, une remise à l’heure, de l’action sociale à la gestion de la production (1973-1983), Diplomarbeit, Paris 1996, S. 113; vgl. Politique Hebdo, 30. September 1976. 40 Seconde réunion de travail des entreprises en lutte sur l’emploi et en occupation, tenu à Besançon le 10 et 11 Septembre 1976, S. 5, BDIC F Δ rés. 702/5.
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zahlreichen Aktivitäten in den verschiedenen besetzten Betrieben wurde festgehalten, dass es bereits ein großer Erfolg sei, wenn sie es schaffen würden, der Isolierung der Arbeitslosen ein wenig entgegenwirken zu können. Bei der Gewerkschaftsführung der CFDT auf nationaler Ebene war die „Coordination“ jedoch von Beginn an nicht wohlgelitten. Angesichts der zahlreicher werdenden langen Auseinandersetzungen um Arbeitsplätze wurden dort die Bemühungen verstärkt, auf wirtschaftspolitischer Ebene eine Mitsprache der Gewerkschaftszentrale zu erringen. Die einzelnen betrieblichen Auseinandersetzungen traten in ihren Überlegungen dahinter zurück. Die 1978 offiziell beschlossene Strategie der Recentrage (Rückbesinnung) hatte Pierre Rosanvallon, damals Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung CFDT-Aujourdhui, in ersten Zügen bereits im Nachspiel des ersten LIP-Konflikts formuliert. Er äußerte die Annahme, dass die CFDT sich nur wirksam gegen Entlassungen wehren könne, wenn sie sich in die Verhandlungen über die wirtschaftliche Strategie ganzer Branchen und der Regierung einmische.41 Im Selbstverständnis der Gewerkschaftszentrale bedeutete die Recentrage so eine Rückbesinnung auf die Kernaufgaben gewerkschaftlicher Betätigung und eine Absage an die zwischenzeitliche von einigen Protagonisten so genannte „Überpolitisierung“. Sie reagierte hiermit ganz wesentlich auf die Zahl zunehmend aussichtslos erscheinender langer Abwehrkämpfe gegen Entlassungen und Betriebsschließungen. Im Juli 1977 ermittelte eine Studie der CFDT den Verlauf langer Betriebsbesetzungen und stellte fest, dass diese nur sehr selten erfolgreich waren. Lediglich in zwei der 36 untersuchten Fälle konnten sämtliche Arbeitsplätze erhalten bleiben. In allen anderen Fällen gab es erhebliche Arbeitsplatzverluste, häufig um mehr als die Hälfte und gelegentlich bis zu zwei Dritteln.42 Diese Ergebnisse ließen eine Gewerkschaftspolitik plausibel erscheinen, die sich zunehmend vom Kampf um jeden Arbeitsplatz entfernte und sich stattdessen der Abfederung der Folgen von Entlassungen widmete. Zunächst äußerte sich die wachsende Skepsis gegenüber den Betriebsbesetzungen jedoch als Machtkampf, in dem der gewerkschaftliche Dachverband seine Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den gewerkschaftlichen Einzelgliederungen behauptete. Als am 28. und 29. Mai der 37. Kongress der CFDT in Annecy stattfand, wurden die LIP-Vertreter vom Podium aus als unverantwortliche „Basisten“ denunziert. Ihren Stand mussten sie außerhalb des Kongressgeländes
41 Vgl. Defaud, Nicolas: La CFDT – de l’autogestion au syndicalisme de proposition, Paris 2009, S. 210ff. 42 Vgl. Vigna, Xavier: L’insubordination des ouvriers dans les années 68 – Essai d’histoire politique des usines, Rennes 2007, S. 140f.
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aufbauen.43 Der CFDT-Vorsitzende Edmond Maire sprach vor allem von Gewerkschaftssektionen mit starker trotzkistischer Beteiligung als „Kuckucken, die ihre Eier in unser Nest legen wollen“. Auch außergewerkschaftliche Komitees und Koordinierungen wurden von ihm hart angegangen.44 In den Mitgliederzeitschriften der CFDT wurde diese Position aufgegriffen und pointiert. Die „Coordination“ sei eine „von externen politischen Aktivisten kommende Initiative, die die Situation der Arbeiter im Kampf ausnutzen, (…) wenn sie es schaffen, Streikkomitees gegen die gewerkschaftlichen Organisationen zu gründen.“45 Diesem starken Missverständnis der Ziele, die sich die Mitglieder der Coordination selbst gesetzt und der Aufgaben, die sie für sich formuliert hatten, begegneten die CFDT-Gewerkschafter von LIP mit Unterstützung der lokalen CFDT in offenen Briefen, die jedoch zu keinerlei Korrektur der Behauptungen führten. In den Briefen betonten die Verfasser, dass sie sich klar als CFDT- und CGTGewerkschafter verorteten, keineswegs eine Parallelstruktur aufbauen wollten und in ihren eigenen Delegiertenstrukturen auf klare Repräsentativitätskriterien – auch zwischen den Gewerkschaften – setzten.46 In ihren Stellungnahmen wurde klar, dass sie eine organisatorische Lücke füllen wollten. Auch Gewerkschafter aus Betrieben, die zunächst skeptisch gegenüber der „Coordination“ gewesen waren, kam im späteren Verlauf des Jahres deutlicher Zuspruch. Sie erkannten die Lücke, die sich in der CFDT auftat. So schrieben die CFDT-Gewerkschaftssektion und die Belegschaft der lange besetzten Textilfabrik CIP im Oktober 1976 einen Brief an die LIP-Arbeiterinnen. In diesem drückten sie ihr Bedauern darüber aus, dass keine Teilnehmer von Griffet und von LIP bei ihrer regionalen Konferenz der Lederwaren- und Bekleidungsgewerkschaft (Hacuitex) Nord/Pas-de-Calais eingeladen waren, da sie nicht aus der Branche und nicht aus der Region kamen: „Der Dachverband und die Metallgewerkschaft sind gegen die von den Arbeitern bei LIP und Griffet ins Leben gerufene Koordination. Bei CIP haben wir uns geweigert, an dieser Koordination teilzunehmen, weil sie außerhalb der Organisation unternommen wurde. Aber heute stellen wir die Frage: WELCHE Initiativen ergreifen die Metallgewerkschaft und der Dachverband,
43 Zitiert nach Castleton: Lip, une remise à l’heure, S. 116. 44 Vgl. Defaud: La CFDT – de l’autogestion au syndicalisme de proposition, S. 44. 45 Syndicalisme, 24. Juni 1976, Artikel: „La coordination des luttes – refusons la manipulation“, zit. in Castleton: Lip, une remise à l’heure, S. 118. 46 Vgl. den Brief „Aux fédérations, aux régions, aux UD CFDT“, gezeichnet von Gérard Jussiaux und Louis Martin, den lokalen Gewerkschaftssekretären aus Besançon, FGM 1 B 577, und den Brief von Michel Cugney und Jean Raguenès and die Konföderation, Politique Hebdo, 28. Juli 1976.
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um diese Koordinierung selbst zu realisieren? Unseres Wissens keine!“47 Die LIP Unité aus dem November griff diese Aufforderung an den Dachverband auf und stellte fest, dass selbst 200 Belegschaften zusammen ohne die tatkräftige Unterstützung ihrer Gewerkschaftsorganisation zwangsläufig ein schwacher Versuch bleiben müssten. Deren Unterstützung forderten die Autoren nun zum wiederholten Male ein: „Man kann die Wichtigkeit dieser Koordinierungsarbeit nicht genug betonen. Der CFDT-Dachverband scheint deren Wichtigkeit ebenfalls zu verstehen, denn er spricht davon wiederholt in seinen darauf spezialisierten Zeitschriften. Schade, dass er von der Coordination in Besançon weiter als einer „Pseudo-Coordination“ spricht. Muss man das in dem Sinne verstehen, dass die Arbeiter, die bei ihr mitmachen, „Pseudo-Arbeiter“ im Kampf um Beschäftigung sind?“48 Schließlich reagierte die CFDT-Führung mit der Einladung an Vertreter der CFDT-Chemie-, Metall- sowie Lederwaren- und Bekleidungsgewerkschaften und sieben regionale Gewerkschaftsgliederungen, um über einen besseren Umgang mit diesen langen Arbeitskonflikten zu diskutieren. Abschließend wurden hier zwar die Versuche eines horizontalen Erfahrungsaustauschs gewürdigt. Allerdings äußerte die nationale Gewerkschaftsführung die klare Erwartung, dass sich diese Bemühungen im Rahmen der für Anfang 1977 geplanten Kampagne für Beschäftigung der CFDT bewegen sollten. Von Seiten der Konföderation wurde eine verbesserte juristische Betreuung als Hauptbeitrag zur Verbesserung der Situation versprochen.49 Die Gewerkschaftssekretäre im Büro der lokalen CFDT in Besançon drückten ihren Gesamteindruck der Veränderungen in der CFDT so aus: „Ein bürokratischer Apparat ist dabei, sich in der CFDT mit seinen Eigenheiten und seinem Stil zu verfestigen, (…) In der Organisation wird immer häufiger von einer ‚CFDTAnalyse‘, von einer ‚CFDT-Position‘ gesprochen, die es auf allen Ebenen zu verbreiten gilt. Als ob es darum ginge, um jeden Preis die Organisationsreflexe zu verstärken, die schon jetzt genug Schaden anrichten.“50
Mit dem Druck der Gewerkschaftsführung verschwand auch der Schwung aus der Basisbewegung. Die Hoffnung, LIP als Teil einer sich erneuernden Dynamik aus gewerkschaftlichen Basisauseinandersetzungen etablieren zu können, kam
47 „La section CFDT et les travailleurs de la CIP“ in einem Brief an die CFDT-Sektion von LIP vom 5. Oktober 1976, BDIC F Δ rés. 702/5. 48 LIP Unité No.7, deuxième série, November 1976, S. 2. 49 Vgl. Castleton: Lip, une remise à l’heure, S. 121. 50 Libération: Besançon entre la crise et le souvenir de Lip, 3. März 1977.
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an ihr Ende.51 Die CFDT war auf nationaler Ebene damit beschäftigt, Arbeitskonflikte zu Ende zu bringen und sich auf Verhandlungen zu konzentrieren. Im Vorfeld der Parlamentswahlen von März 1978 beinhalteten diese Bemühungen auch eine Annäherung an die linken Parteien, insbesondere die Parti Socialiste. In Bezug auf LIP erhoffte sich die Leitungsebene der CFDT-Metallgewerkschaft eine kohärente Branchenstrategie und Staatsaufträge in den Bereichen der Mikroelektronik, der Telekommunikation und der Elektrizitätsversorgung. Die Gewerkschafter bei LIP trugen diese Hoffnungen zunächst vorsichtig vor. Die Politiker, die im Laufe ihres Wahlkampfs nach Besançon kamen, machten den Arbeiterinnen und Arbeitern von LIP keinerlei konkrete Angebote. Dennoch knüpfte die Gründung der Genossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) an genau diese Hoffnungen an.52 Von einigen Linken in Besançon wurde im Frühjahr 1977 die enge Orientierung an den Leitlinien der Branchen- und Dachverbände kritisiert. Als am 1. Mai 1977 mehrere tausend Metallgewerkschafter der CFDT in Besançon und bei LIP zu Besuch waren, scheinen sich ihre Diskussionen eng im Rahmen der Kampagne bewegt zu haben, wenn man einer Notiz der lokalen CFDT folgt. Und die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) kritisierte die Strategie der PCF, der PS, der CFDT und der CGT gleich gemeinsam: „nichts zu tun, was die Wahlaussichten für 1978 stören oder gefährden könnte.53 Mit den ambivalenten Folgen der linken Regierungspolitik ab 1981 ging auch die CFDT wieder auf größeren Abstand zur Parteipolitik. Insgesamt wurde ihre Position in den Betrieben durch die Recentrage langfristig geschwächt.54 Bei LIP rückte 1977 auf Druck der Gewerkschaftsführung die Hoffnung auf eine linke Regierung aber zunächst in den Vordergrund.
51 Vgl. die zusammenfassende Auswertung der lokalen CFDT vom 4. Mai 1977, ADD 85 J 55. 52 Vgl. hierzu die Diskussion in der LIP Unité „Qu’attendent les Lip d’une victoire de la Gauche?“, LIP Unité, deuxième série, No.11, Januar/Februar 1978, S. 6f. 53 Flugblatt der LCR vom 4. Mai 1977, ADD 85J55. 54 Vgl. Defaud: La CFDT – de l’autogestion au syndicalisme de proposition, S. 281ff.
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5.3 B ASISDEMOKRATIE MIT NICHTGEWÄHLTEN G REMIEN : E NTSCHEIDUNG ZUR G ENOSSENSCHAFTSGRÜNDUNG „Unser aller Aufgabe ist es, ALLES zu tun, um möglichst schnell die Wiedereröffnung der Fabrik sicherzustellen“. [Hervorhebung i.O.]55
Anfang Januar 1977 gründete sich auf dem besetzten LIP-Grundstück ein von seinen Mitgliedern selbst gewähltes und auf einer Vollversammlung lediglich bestätigtes „beschränktes Kollektiv“. Mit diesem wollten seine Mitglieder eine größere politische Außenwirkung und eine effizientere gemeinsame Entscheidungsfindung erreichen. Bei diesem Gremium handelte es sich um eine in der Personenzahl beschränkte und für die übrigen an der Betriebsbesetzung Beteiligten geschlossene Gruppe. Vorausgegangen waren diesem Schritt einige Sitzungen des bisherigen Kollektivs mit jeweils sehr wenigen Teilnehmern. Vergeblich war zur zahlreichen Beteiligung an den zweimal wöchentlich stattfindenden Treffen aufgerufen worden.56 Die Sitzungen des neuen Gremiums sollten anders als bisher für die übrigen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter geschlossen sein. In seiner Sitzung vom 11. Januar 1977 erweiterte sich die Gruppe einmalig als „vergößertes Kollektiv“ auf 37 Personen. Die eigene Rolle sollte noch einmal reflektiert werden. Über die wesentlichen Zielsetzungen der Betriebsbesetzung wollten die Beteiligten größere Einigkeit erzielen. Der zitierte Satz fasst die wesentliche Schlussfolgerung zusammen. Mit ihr setzte sich das Protokoll dieser Sitzung eindrucksvoll auch über Kritik hinweg, welche dort an der Existenz einer solchen geschlossenen Entscheidungsgruppe generell geübt worden war. Dass „alle“ „alles tun“ müssten, war zunächst eine Folge des gesteigerten Zeitdrucks. Die Diskussionen richteten sich auf das Ende der „90 Prozent“, des Arbeitslosengeldes, das spätestens im Sommer erreicht sein würde. Die Beteiligten diskutierten nun darüber, wie sie über das Ende der Bezüge hinaus Bedingungen schaffen könnten, um weiter gemeinsam für Arbeitsplätze streiten zu können.57
55 Compte-rendu du collectif du 11 janvier 1977, S. 2, BDIC F Δ rés. 702/6. 56 Vgl. Brief des „Collectif“ an alle LIP-Arbeiterinnnen und -Arbeiter vom 7. Dezember 1976, BDIC F Δ rés. 702/6. 57 So drückte Jean Raguenès seine Sorge um die möglicherweise bevorstehende Vereinzelung aus: „An dem Tag [...] wird man sich nicht mehr an schönen Reden festhalten können, und seien sie gewerkschaftlich. Jeder wird seine eigenen Motive finden: Das sind meine Familie, meine Zahlungsfristen, mein Haus, mein Auto, die dafür sorgen werden, dass jeder irgendwie abspringen wird“, Clodic, Denis, Pierre Victor und Jean Raguenès: „LIP 1973-1976“, Les Temps Modernes 367 (1977), S. 1260.
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Das Protokoll hielt fest: „Das einzige Mittel, um das Problem der Arbeitslosigkeit korrekt zu erledigen, ist es ARBEITSPLÄTZE ZU SCHAFFEN.“58 Noch richtete sich diese Forderung an die lokale Unternehmerschaft und an die Behörden. So ermahnten die Kollektivmitglieder sich selbst, beim Sonderausschuss des Conseil Régional verstärkt für den Kauf des Betriebsgeländes durch die öffentliche Hand einzutreten. Die Inaktivität dieses Ausschusses hatten sie allerdings bereits vor Monaten kritisiert.59 Unausgesprochen bedeutete diese Forderung nach dem Kauf des Geländes den möglichen Verzicht auf eine einheitliche Lösung für den gesamten Betrieb. Schließlich konnte ein solcher Kauf auch die Vermietung an verschiedene kleinere und deswegen weniger finanzstarke Unternehmen möglich machen. Diese Perspektive wurde bei LIP noch nicht offen geäußert. Unausgesprochen wurden jedoch Schritte in diese Richtung gemacht. Neben der zunehmenden Eigenständigkeit der Medizintechnikinitiative gewann die von Michel Garcin angestoßene Gruppe „Les études industrielles de Palente“ an Bedeutung, die sich am 24. August 1977 als Unternehmen in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts aus sieben Personen gründete. Michel Garcin war 1975 von Claude Neuschwander als Finanzvorstand bei LIP eingestellt worden, zuvor hatte er in der New Yorker Niederlassung der Paribas-Bank gearbeitet. Als einziger aus der ehemaligen Geschäftsleitung blieb er über die Dauer der Betriebsbesetzung bei den LIPArbeiterinnen und -Arbeitern. Er verfügte als sozialistischer Stadtrat und Mitglied des „Centre Municipal de Promotion et de Développement Économique“ (CMPDE) über zahlreiche Kontakte in der Kommunalpolitik und in unternehmerischen Netzwerken.60 Das CMPDE hatte die Stadtverwaltung 1972 zur Investitions- und Beschäftigungsförderung eingerichtet, hier wurden strategische Positionierungen für die Stadt und die Region diskutiert. „Les études industrielles de Palente“ sollte zunächst die Arbeitslosen bei LIP mit Machbarkeitsstudien und Kontakten für einer neuerliche industrielle Lösung durch ein herkömmliches Unternehmen unterstützen. Über die Arbeit für LIP hinaus jedoch entwickelten sich bald weitere Aktivitäten. So reiste Michel Garcin im April 1977 im Auftrag der Stadtverwaltung nach Brüssel, um bei der EG-Kommission für die Umorientierung der Uhrenindustrie Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds zu beantragen. Der Antrag zielte auf die Umschulung und Weiterbildung von Beschäftigten der Uhrenindustrie im Feld der Mikromechanik. Hierfür sah der Antrag auch
58 Compte-rendu du collectif du 11 janvier 1977, S. 2, BDIC F Δ rés. 702/6. 59 Vgl. Flugblatt der CFDT LIP vom 22. Oktober 1976: „LIP aujourd’hui“, BDIC F Δ rés. 702/6. 60 Vgl. hierzu die Protokolle in AM 86 W 39-42.
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bei LIP Kapazitäten vor. Bereits im Februar 1977 wurde ein Vorentwurf für einen Antrag bei der EG-Kommission im Bereich des Technologietransfers vorgestellt. Teile von LIP sollten demnach dazu genutzt werden, um „Entwicklungsländern“ eine effektive Zusammenarbeit im Bereich der Uhrenindustrie anzubieten. Genannt wurden im Antragsentwurf Algerien, Nigeria und die französischsprachigen Länder des subsaharischen Afrika.61 Im Juni 1977 kam tatsächlich ein Vertrag mit der algerischen Regierung zustande. Hierzu wurden „Les études industrielles de Palente“ mit Vorstudien beauftragt.62 Gemeinsam mit diesen Initiativen und mit Blick auf das Auslaufen der Arbeitslosenbezüge nahm auch die Produktion auf dem LIP-Gelände wieder gewohntere Formen an. Am 25. Mai präsentierte das „beschänkte Kollektiv“ der Vollversammlung den Vorschlag, die Produktion von Uhren wieder aufzunehmen. Diese sollte zusammen mit den Produkten der Handwerkskommissionen dazu dienen, sich ab dem Juli abermals sogenannte „compléments de salaire“ auszahlen zu können, die jeweils die individuelle Lücke zwischen den aktuell vorhandenen Sozialleistungen oder anderen Einnahmen und dem vorherigen Gehalt bei LIP füllen könnten. Der Plan, am 31. Mai mit der Produktion und am 18. Juni mit dem Verkauf zu beginnen, um sich am 13. Juli das erste Mal auszahlen zu können, war in der Beschlussvorlage bereits klar entwickelt. Von den 303 Anwesenden stimmte die große Mehrheit für diesen Plan. Für die Bezahlung einigten sich die ehemaligen LIP-Beschäftigten darauf, das individuelle monatliche Gesamteinkommen auf die Höhe des Arbeitslosengeldes aufzustocken. Es bemaß sich also an den vorherigen bei LIP bezogenen Löhnen. Jedoch wurde die Lohnspreizung gesenkt, indem ein Minimum von 2.000 FF festgelegt wurde, bei Doppelverdienern von 1.800 FF. Die höheren Einkommen wurden um sukzessiv größer werdende Beträge gemindert. Als Höchsteinkommen wurden 3.600 FF definiert.63 Die Gründung zweier Verkaufsgruppen für die Uhren und für die handwerklichen Produkte trennten nun den Verkauf aus den autonomen Arbeitsgruppen heraus und bedeuteten insofern auch eine deutliche organisatorische Veränderung.64 Die Aussichtslosigkeit der Suche nach einem herkömmlichen Unternehmer, die bereits gestiegene Bedeutung der Uhrenproduktion und die auf dem Betriebsgelände mittlerweile gesammelten Erfahrungen im Bereich der Beratung
61 Vgl. „Avant-projet de transfert technologique proposé à la Commission des C.E.E., FGM 1 B 576. 62 Vgl. Vertragskopie in AN 19840668/9. 63 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No.11, Januar/Februar 1977, S. 8. 64 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No.9, Juni 1977, S. 3.
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und Planerstellung verbanden sich also zu einem Bündel praktischer Voraussetzungen für die Genossenschaftsgründung. Diese wurde auf einer Vollversammlung allerdings erst im August das erste Mal diskutiert. Zuerst hatten sich Michel Garcin, Michel Cugney und Jean Raguenès im Juni für ein Wochenende gemeinsam in ein Häuschen auf dem Land zurückgezogen, um im kleinen Kreis über die mögliche Gründung einer Genossenschaft zu beraten. Gewerkschafter wie Charles Piaget, Roland Vittot oder Raymond Burgy hegten gegenüber diesem Weg nach wie vor große Vorbehalte.65 Der von Michel Garcin vertretene, pragmatisch unternehmerische Zugang kann als erste Gründungsströmung für Les Industries de Palente (L.I.P.) verstanden werden. Als zweite Strömung gingen die Vorstellungen einer „communauté“ in die Gründung der Genossenschaft ein, wie sie besonders Jean Raguenès und Dominique Bondu stark machten. In diesen Vorstellungen kam den Aktivitäten auf dem besetzten Gelände jenseits der Uhrenproduktion weiter eine wichtige Rolle zu. Erste Grundzüge dieses Selbstverständnisses waren bereits zur Gründung des Freundschaftsvereins Les Amis de LIP (AAL) im November 1976 deutlich geworden. Im Februar 1977 gab Jean Raguenès dann Denis Clodic und Pierre Victor, zwei Protagonisten der Gauche Prolétarienne (GP), ein langes Interview. Darin führte er seine Interpretation der Betriebsbesetzung und seine Vorstellungen von Selbstverwaltung aus. Raguenès betonte in seiner stark theologisch geprägten Sprache die Bedeutung der „Gesten der Kommunion“, wie sie in der gemeinsamen Auseinandersetzung geübt worden seien. Eine solche sei beispielsweise die Öffnung der Fabrik während der beiden Betriebsbesetzungen gewesen. Zum gegebenen Zeitpunkt beschrieb Raguenès die Auseinandersetzung als „Suche nach der Schöpfung, als Versuch, die Tat, das Zeichen und die Rede hervortreten zu lassen.“66 Dabei waren auch seine Ausgangspunkte die praktischen Probleme der zunehmend aussichtslos erscheinenden Betriebsbesetzung. Diesen wollte er die Dynamik eines gemeinsamen Projekts entgegenhalten, von dem eine Unternehmensgründung nur ein Bestandteil sein könnte: „Wir müssen uns vor der Einstellung hüten: ‚Wir warten auf einen Chef‘, ‚keine selbstverwaltete Insel in einer kapitalistischen Gesellschaft‘, sondern ‚Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle‘. Diese drei Einstellungen und ähnliche mehr gehen auf dieselbe Unbeweglichkeit zurück, auf dasselbe Warten auf den Retter. Ob wir auf einen Chef warten
65 Vgl. Interview Raguenès in Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 1992, Anhang. 66 Clodic/Victor/Raguenès: LIP 1973-1976, S. 1246.
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und das Glück, das er uns bringt, die Verstaatlichung und die Heilserwartung, die sie in uns wachhält, oder ob wir sagen: ‚Die Selbstverwaltung ist im kapitalistischen System nicht möglich‘ [...], es sind derselbe Mechanismus, dieselbe Ohnmacht am Werk. (…) Der unmöglichen Insel der Selbstverwaltung müssen wir das Segelboot der Arbeiter, seinen Antrieb und den Abenteurgeist gegenüberstellen. Dieser allein kann in der Lage sein, uns ins verheißene Land zu führen (selbstverwaltet oder nicht). Dies ist die einzige Art, die Geschichte vom Schicksal zu lösen und sie also zu machen.“67
Raguenès betonte in seinen weiteren Ausführungen die Wichtigkeit der Begegnung mit neuen Personen von außen, die auch den ersten Arbeitskampf bei LIP beflügelt hatte. Den zunehmenden Schwierigkeiten auf dem besetzten Gelände wollte er durch den Austausch mit anderen Initiativen und Personen mit anderen Wissensbeständen begegnen. Er verpackte dies allerdings in einen Abgesang auf die Arbeiterklasse als von ihm so genanntes „messianisches Subjekt“. Diesbezüglich teilte er die Perspektiven seiner Freunde aus der Gauche Prolétarienne.68 Das Gespräch führte Raguenès deutlich erkennbar, um sich Unterstützung für seine Vorstellung der weiteren Entwicklungen bei LIP zu holen. Pierre Victor pflichtete ihm schließlich bei. Die Mauern der Fabrik müssten „zum Einsturz gebracht werden“ und: „LIP, es ist wahr, ist eine sehr christliche Gemeinde (communauté).“69 Die konkrete Bedeutung dieser „communauté“ unterstrichen ihre Verfechter auch in der LIP Unité im Sommer 1977. Es gelte den Fehler zu vermeiden, sich nur noch auf die Produktion zu konzentrieren. Vielmehr erwüchsen aus den zahlreichen kleinen Initiativen auf dem besetzten Betriebsgelände Perspektiven, in denen der gegenseitigen Hilfe im Alltag, der menschlichen Begegnung und dem Lernen voneinander eine größere Bedeutung zukomme. Bereits jetzt richteten sich die deutlich gesenkten Preise in der Kantine und der kollektive Lebensmitteleinkauf zu Großhandelspreisen auch an Arbeitslose aus der Umgebung. Solche Angebote sollten ausgeweitet werden, die „den Gemeinschaftssinn (esprit communautaire) gleichzeitig fordern und verstärken.“ „Selbstverwaltung werden die einen sagen, Kooperation die anderen. Das ist unwichtig. Für uns ist das Wesentliche, in unserem Handeln zur konkreten Verwirklichung einer neuen Art von Leben zu gelangen.“70 Was für viele der Beteiligten nur vorbergehende
67 Ebd. S. 1244f. 68 Raguenès schloss einen langen Monolog: „Ich fühle es körperlich, ich fühle körperlich, dass diese Klasse nicht messianisch ist“, ebenda, S. 1253. 69 Ebenda, S. 1266. 70 LIP Unité No.9, deuxième série, Juni 1977, S. 3.
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Formen der Selbsthilfe gewesen waren, sollte nach Raguenès und Bondus Vorstellungen einen Kern der zukünftigen gemeinsamen Entwicklung ausmachen, die sie als „Projekt“ bezeichneten. Einen Vorläufer, der allerdings nicht explizit genannt wurde, hatten Überlegungen, in denen der Betrieb auch zu einer Art Lebensgemeinschaft wird, in Frankreich in den „communautés de travail“. Diese nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründeten Kollektivunternehmen, die sich zeitweise in einem eigenen Verband, der „entente communautaire“, zusammengeschlossen hatten, folgten gemeinsamen Prinzipien. Zu diesen gehörten ein unteilbares Unternehmenskapital, über das nur gemeinsam verfügt werden konnte, die Organisation der Arbeiterinnen und Arbeiter auch am Wohnort und gemeinsames Lernen.71 Albert Meister, ein französischer Soziologe und Genossenschaftsforscher, welcher der Bewegung der „communautés de travail“ nahestand, war bei LIP 1974 in einen der Fortbildungskurse eingeladen worden.72 Direkte Bezugnahmen auf diese Erfahrungen sind in Raguenès Äußerungen nicht zu finden. Dafür trat sein christlich geprägtes Verständnis der „communauté“, die im Französischen auch die christliche Gemeinde bezeichnet, beständig in den Vordergrund. Die Genossenschaft Les Industries de Palente orientierte sich nicht an den Prinzipien der ehemaligen „communautés de travail“. Sie war vielmehr nach französischem Recht als Produktionsgenossenschaft in der Form einer Aktiengesellschaft verfasst. Bei solchen Produktionsgenossenschaften (SCOP – Sociétés Coopératives Ouvrières de Production) tritt an die Stelle der Aktionärsversammlung die Genossenschafterversammlung, wo jedes Mitglied unabhängig von der Höhe der Kapitaleinlage eine Stimme hat. Das Kapital bleibt prinzipiell teilbar – beim Austritt können Mitglieder ihre Kapitaleinlage mitnehmen. Die übrigen Gremien der SCOPs entsprechen denen ihrer konventionellen privatwirtschaftlichen Pendants, also von GmbHs oder Aktiengesellschaften, als welche SCOPs verfasst sind.73 Am 8. November 1977 stimmten von den 451 Anwesenden 368 für die Gründung einer solchen SCOP Les Industries de Palente (L.I.P.), 73 dagegen und 10 enthielten sich. Auch nach der Gründung der Genossenschaft wa-
71 Zur Geschichte der größten dieser „communautés“, der Uhrengehäusefabrik Boimondau in der Nähe von Valence, vgl. die Mémoiren ihres langjährigen Vorsitzenden: Mermoz, Marcel: L’autogestion, c’est pas de la tarte, Paris 1978. 72 Zu Meisters Rezeption der „communautés de travail“ vgl. Meister, Albert: Les Communautés de travail : Bilan d’une expérience de propriété et de gestion collectives, Paris 1958. 73 Für einen kurzen Überblick über die rechtlichen Grundlagen der SCOPs vgl. Demoustier, Danièle: Les coopératives de production, Paris 1984.
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ren sich die Beteiligten nicht einig über deren primäre Zielsetzung. In der LIP Unité wurde sie als „choix de lutte“ präsentiert, als ein weiteres Mittel, um gemeinsam für Arbeitsplätze kämpfen zu können. Wie dies in erster Linie geschehen sollte, blieb umstritten. Einige setzten zentral auf die politische Mobilisierung. Andere entwickelten eine gewisse Selbstgenügsamkeit in den Aktivitäten auf dem besetzten Gelände. Und wiederum andere drängten auf einen schnellen Aufbau des Industriebetriebs, um ihn mit einer möglichst großen Zahl von Beschäftigten rentabel zu machen. Im Gegensatz zu den Hofffnungen Jean Raguenès gewannen nach der Gründung von L.I.P. die übrigen Aktivitäten der „communauté“ nicht an Bedeutung, sondern traten vielmehr zunehmend hinter dem Betrieb L.I.P. zurück, obwohl dort zunächst niemand offiziell eingestellt wurde. So wurden im März 1978 die Zahl der Arbeitsgruppen auf sieben Produktionsgruppen und die Zahl der Vollversammlungen auf zwei in der Woche reduziert.74 Das Protokoll eines Treffens mit der Metallgewerkschaft der CFDT formulierte deutlich die Priorität der Produktion bei L.I.P. Nur diejenigen Personen, die dort keine unmittelbare Verwendung fanden, sollten zurück in die handwerklichen Arbeitsgruppen.75 Diese Formulierung sprach außerdem an, dass den Beteiligten des „Projekts“, anders als in den bisher autonom organisierten Arbeitsgruppen, wieder Posten zugewiesen wurden, um die Produktion unter schwierigen Bedingungen in Gang zu bringen. Monique Piton kritisiert im Nachhinein genau dies: „Von Anfang an gab es Hemmungen, Blockaden, die Gewerkschaften, die ‚petits chefs‘. Sie haben uns die Arbeit zugeteilt, ohne jemals zu fragen, ob wir Lust hatten, das zu machen.“76 Die Aktivitäten außerhalb der Produktion von L.I.P waren nun vorerst zweitrangig. Zahlreiche Personen arbeiteten seit deren Gründung einer Produktionsgenossenschaft zu, von der unsicher war, ob und wann sie die Personen würde einstellen können. Bezahlt wurden sie nach wie vor mit ihrem „complément de salaire“. Die geschilderten Prozesse hatten erhebliche Rückwirkungen auf die Entscheidungsstrukturen. Theoretisch war bereits im Juni 1977 zur besseren Koordination der Arbeitsgruppen untereinander ein „collectif de gestion“ aus Delegierten der jeweiligen Gruppen gegründet worden, denn „wir haben realisiert, dass die Organisation, wie sie vorher eingerichtet war, uns Stück für Stück voneinander isolierte und zu einer mangelnden Koordination zwischen den Arbeits-
74 Vgl. Terrieux, Gérard: L’expérience Lip, unveröffentlichte Doktorarbeit, Paris 1983, S. 87f. 75 Vgl. Gesprächsmitschrift aus dem Januar 1978, FGM 1 B 577. 76 Interview des Verfassers mit Monique Piton, 6. März 2014.
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gruppen beitrug.“77 Tatsächlich aber blieb die Rolle dieses Koordinationsorgans beschänkt. Der besonders aktive Kern von Aktiven begann sich selbst zunehmend in seinen Reflexionen als „noyau“ (Kern) zu bezeichnen, und die übrigen als „masse“. Deutlich erkennbar wurden die informellen Hierarchien zunehmend wichtiger als die eigentlich geschaffenen repräsentativen Gremien. Mit der Gründung von Les Industries de Palente ging dann die Konkretisierung von Beteiligungspflichten der Einzelnen auf dem besetzten Gelände einher. Bereits mit der Aufnahme der Uhrenproduktion hatte es erste schriftliche Vereinbarungen gegeben. Kurzzeitig gab es erste Konflikte zwischen denjenigen Arbeiterinnen und Arbeitern, die permanent auf dem Gelände gewesen waren, und jenen, die nach Ablaufen des Arbeitslosengeldes wieder zurückkamen, um sich zu beteiligen und um ihre „compléments de salaire“ zu erhalten. Die individuell zu unterzeichenden „feuilles d’engagement“, mit denen ein am 24. November 1977 inkraft getretener Kollektivvertrag einherging, verpflichteten die Unterzeichnenden zur regelmäßigen Teilnahme an den Vollversammlungen sowie zu 25 Stunden wöchentlicher Arbeit in den Arbeitsgruppen, in denen die Beteiligten nun fest eingeschrieben waren: „Wir machen 25 Stunden die Woche, was jede andere Tätigkeit außer KÄMPFEN und AUFBAUEN ausschließt (Kartenspiel, Basteln für den eigenen Bedarf usw.).“78 Arbeitszeiten mussten von nun an durch gruppenweises Einzeichnen am Morgen belegt werden. Bei Krankheit von länger als drei Tagen musste nun eine Krankschreibung beigebracht werden.79 Was genau als „Kämpfen und Aufbauen“ verstanden wurde, definierte der Vertrag nicht. Er sah jedoch Abzüge vom Lohnersatz vor, falls sich jemand nicht an die vereinbarten Pflichten hielt. Die LIP Unité vom Januar 1978 konnte noch vermerken, dass bisher niemand sanktioniert worden sei.80 Bald jedoch traten erste Konflikte in dieser Hinsicht auf. Und schon für Weihnachten 1978 wurden bei unerlaubter Abwesenheit von der Arbeit „dieselben Kriterien“ wie in den Sommerferien angewandt. Ein Rundschreiben definierte die Abzüge mit 1⅓Tagen Abzug für einen Tag Abwesenheit, 2⅔-Tagen für zwei Tage und 4 Tagen weniger für drei Abwesenheitstage.81 Mehrere Austritte zeugen von größer werdenden Spannungen. So war Monique Piton eine von schließlich elf Personen, die verweigerten, sich morgens ein-
77 LIP Unité, deuxième série, No.9, Juni 1977, S. 4. 78 Contrat collectif vom 24. November 1977, BDIC F Δ rés. 702/6. 79 Vgl. ebenda. 80 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No.11, Januar/Februar 1978. 81 Vgl. Rundschreiben vom 12. Dezember 1978, BDIC F Δ rés. 702/6.
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zuschreiben und ihre 25 Wochenstunden nachzuweisen.82 Als eine derjenigen, die am meisten mit Reise- und Verkaufstätigkeit beschäftigt war, erschien ihr diese Form des Nachweises unangemessen. Nachdem sie, spät abends von einer Verkaufsreise zurückgekommen, am nächsten Morgen die Vollversammlung versäumte, wurde sie ermahnt. Schließlich, so berichtet sie, habe sie ganze vier Monate keine Zahlungen aus der Solidaritätskasse mehr erhalten, bevor sie sich Ende 1977 schließlich entschloss, die Auseinandersetzung zu verlassen.83 Die Arbeiterin Christiane André, die mit Monique Piton gemeinsam in der Brandmalerei-Werkstatt tätig war, wurde 1978 angewiesen, ihren alten Posten in der Uhrenproduktion wieder einzunehen. Sie weigerte sich und begab sich in einen zweimonatigen Streik, dessen Beweggründe auch die Funktionsweise des „Projekts“ betrafen. Von der Zeitschrift La Gueule Ouverte interviewt, erklärte sie diese: „Welche Aufgabenrotation? Welche Entscheidungbefugnisse? Die Frage, die sich stellt, ist auch: Werden wir wieder arbeiten wie vorher? Mit derselben Hierarchie? Nach demselben kapitalistischen Schema? Ist das LIP und die neue Hoffnung der letzten LIP Unité? Tatsächlich ist das keine Frage mehr, die bei LIP noch gestellt würde, und deshalb habe ich mich seit einer Woche alleine in den Streik begeben. Ich glaube nicht, auch wenn ich alleine unter 450 Personen bin, die momentan in der Fabrik sind, nicht mehr für dieselbe Sache zu kämpfen. Vielleicht bringt dieser Streik meinen Genossen einen weiteren Denkanstoß über das ‚Anders Leben und Arbeiten‘.“84 „Wir sind gestern Abend darüber einig gewesen: Es gibt keine Gewerkschaft mehr bei LIP. Es gibt eine, aber wenn du eine Forderung hast, zu wem willst du gehen? Du kannst nicht zu Charles Piaget gehen, denn Charles Piaget drückt sich am Mikro aus wie ein Chef. Das ist ein wenig hart, Charles als Chef zu behandeln, aber dennoch...“85
Schließlich wurde Christiane André zu einem klärenden Gespräch ins Kollektiv eingeladen. Dort saß sie zehn Personen gegenüber, die ihr ein vollkommenes Unverständnis entegenbrachten.86 Und schließlich wurde sogar ein Psychologe
82 Vgl. Interview des Verfassers mit Monique Piton, 6. März 2014. 83 Vgl. ebenda. 84 Vgl. La Gueule Ouverte – Combat Non-Violent No. 218, Juni 1978, Sonderausgabe zu LIP, BDIC F Δ rés. 702/5. 85 Ebenda. 86 Vgl. Protokoll des Collectif de Gestion vom 6. Juni 1978, BDIC F Δ rés. 702/6.
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hinzugezogen, um mit Christiane zu sprechen.87 Anstatt ihre Probleme als den von ihr intendierten Denkanstoß zu verstehen, wurde sie also persönlich pathologisiert. Andere Kollegen wiesen in einem Flugblatt auf die Wichtigkeit der von ihr angestoßenen Fragen hin: „Christiane ist seit bald zwei Monaten im Streik, um gegen die Art zu protestieren, wie die Koop im Moment funktioniert. Dieses Flugblatt soll nicht feststellen, ob sie Recht hat oder nicht. Ihr kommt das Verdienst zu, ihr Problem in klarer Weise zu stellen. Man braucht nur La Gueule Ouverte lesen, wo sie sehr deutlich sagt, was andere Arbeiterinnen und Arbeiter tief im Innern denken. (…) Das Probem, das wir öffentlich machen wollen, betrifft die Einstellung der Leitung, von Charles im Besonderen. Einen Versuch, das Probem zu regeln, hat es wohl zwischen Christiane und den Beauftragten des Vorstands gegeben, das ist gut. Der Dialog, die Diskussion, die Selbstkritik müssen stets Vorrang haben.“88
Damit wurde versucht, einen Dialogansatz zu stärken, der keine Fortsetzung mehr fand. Auch Christiane André verließ die Auseinandersetzung 1978. Und zwei ehemalige Mitglieder des Aktionskomitees von 1973 begründeten ihren Weggang 1978 gar damit, dass es überhaupt keine gemeinsame Auseinandersetzung mehr gebe. Jacqueline Buffet und Marcel Wirth schrieben: „Wir verlassen nicht den Kampf, denn den gibt es nicht mehr. Die Genossenschaft ‚moyen de lutte‘ gibt es nicht. (…) Die Demokratie ist zur puren Formalität geworden, vor allem seit der Gründung des „beschränkten Kollektivs“ im Januar 1977, angeblich, um eine höhere Effektivität zu erreichen.“89 Fragen zu stellen sei seitdem nicht mehr gern gesehen. Wichtige Entscheidungen würden im kleinen Kreis vorbereitet und in den Vollversammlungen nur noch bestätigt. Unterstützer, die nicht auf der Linie des CFDT-Vorsitzenden Edmond Maire seien, würden zurückgewiesen, alles auf die Politik der CFDT hin ausgerichtet. „Und jede Opposition drohte, diese Tatsache aufzudecken: dass es Order gibt, die von weiter oben kommt.“90 Anders als die Argumente von Christiane André wurden ihre Gründe so ernst genommen, dass ihnen in der LIP Unité eine gewisse Berechtigung zugesprochen wurde. Dennoch wurden daraus keine konkreten Schlüsse gezogen, sondern stattdessen die äußeren Umstände zur Rechtfertigung ins Feld
87 Vgl. den Artikel von Christiane André in Commune No. 21, Juni 1978, BDIC F Δ rés. 702/5. 88 Flugblatt, anonym, Fonds Billot, ADD 45 J, in Einarbeitung. 89 Offener Brief von Jacqueline Buffet and Marcel Wirth, 1978, ADD 85 J 55. 90 Ebenda.
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geführt und mit der fatalistischen Feststellung geendet: „Sicherlich, die Selbstverwaltung ist schwierig.“91 Die Gemengelage auf dem besetzten LIP-Gelände wirkte sich also in deutlich repressiven Vorgehensweisen aus. Einerseits wurde die Auseinandersetzung zunehmend – in Absprache mit der Metallgewerkschaft der CFDT – auf die ökonomische Betätigung in der Genossenschaft L.I.P. hin ausgerichtet. Andererseits hielten die Mitglieder des „noyau“ an einer Mischung von Gemeinschaftsrhetorik und Pädagogik fest, die ihrem eigenen Anspruch nach weiterhin auf die lebendige Beteiligung aller zielte. Als ihre eigene Aufgabe hatten sie im „erweiterten Kollektiv“ vom Januar 1977 beschrieben, „die interne Dynamik anzuregen“ und sich gefragt, „wie wir [diesbezüglich] die (…) zu entwickelnde Pädagogik konzipieren müssen“.92 Doch Beteiligungspflichten, mit denen nicht alle einverstanden waren, willkürlich erscheinende Entscheidungen und mangelnde Transparenz wurden zunehmend zu einem Problem. Die Engführung auf die Produktionsgenossenschaft führte zusammen mit dieser Art von „Pädagogik“ dazu, dass bestimmte Formen des Engagements zunehmend autoritär eingefordert wurden. Unreflektiert blieben diese Widersprüche dennoch nicht. Bereits im März 1977 hatte sich eine „Reflexionsgruppe“ aus zehn Personen getroffen, um die größer werdende Distanz zwischen „Noyau“ und „Masse“ überbrücken zu helfen. Sie fassten zusammen, was in den Fluren der Fabrik, in kleinen Gruppen, „aber selten in der Vollversammlung“ geredet wurde. Demnach gab es zahlreiche Gerüchte über geheime Verhandlungen für den Weiterbetrieb von LIP. „Manche Arbeiter glauben sogar zu wissen, dass es seit dem Beginn der zweiten Betriebsbesetzung 80 Kontakte mit Industriellen gegeben habe.“ (…) „Viele der Lips kommen zu den Vollversammlungen, um über diese Gerüchte zu hören. Da man davon nicht spricht, gehen sie enttäuscht wieder. Bestimmte Lips glauben (ohne es öffentlich zu sagen), dass ein Neustart möglich ist, aber weder für den Gesamtbetrieb noch für das gesamte Personal.“93
Auch über die Gründe für den zweiten Konkurs und die weiteren Perspektiven für die Branche waren die verschiedensten Varianten im Umlauf. Insgesamt belegt das Protokoll, dass es schon früh einen bemerkenswerten Mangel an Transparenz im Informationsfluss gab. Die Informationen, die in den Vollversamm-
91 LIP Unité, deuxième série, No. 13, September 1978, S. 4f. 92 Vgl. Protokoll des Collectif Élargi vom 11. Januar 1977, BDIC F Δ rés. 702/6. 93 Bericht der „groupe de réflexion“ vom 24. März 1977, BDIC F Δ rés. 702/6.
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lungen bekanntgegeben wurden, wurden demnach von vielen Arbeiterinnen und Arbeitern als wohl ausgewählte Teile der möglichen Gesamtsituation wahrgenommen, die als ganze für sie undurchschaubar blieb. Nach der Gründung der Genossenschaft drängte Michel Garcin wiederholt auf transparentere Entscheidungsstrukturen in deren organisatorischem Rahmen. In einem Brief an die Mitglieder des „beschränkten Kollektivs“ mahnte er wenige Wochen nach dem Gründungsbeschluss eine dringende Diskussion über die Entscheidungsstrukturen an.94 Die Strukturen der Genossenschaft in geregelten Formen zu nutzen, müsse keineswegs bedeuten, die politischen Ziele aufzugeben. Vielmehr könnten diese so mit größerer Effizienz verfolgt werden.95 Michel Garcin mahnte also einen zügigeren Übergang von den bisherigen Strukturen der Betriebsbesetzung – weitgehend autonome Kleingruppen, gruppeninterne Entscheidungen überwiegend im Konsensverfahren – zu den Strukturen einer Produktionsgenossenschaft mit gewählten Gremien an. Diese allgemein sehr sensible Phase bei Belegschaftsübernahmen bezeichnet der Genossenschaftsforscher Rob Paton als Übergang von einer „talking democracy“ zu einer „voting democracy“.96 Auf dem besetzten LIP-Gelände wurde dieser Übergang aber nur unvollständig vollzogen, da die übrigen Aktivitäten von einem entscheidenden Teil der Besetzer als wesentlicher Teil des „Projekts“ begriffen wurden und weil ein großer Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter die Produktionsgenossenschaft nur als eines von mehreren Mitteln in ihrem Kampf um Arbeitsplätze ansah. Die auf dem LIP-Gelände entstehenden Probleme in den Entscheidungsstrukturen sind zum Teil als Resultat dieser Ambivalenz zu bewerten und sind damit für den konkreten Fall spezifisch. Die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP und ihr fortdauernder Kampf um Arbeitsplätze blieben trotz der fehlenden institutionellen Unterstützung ein Referenzpunkt für ähnliche Auseinandersetzungen. Wohl auch deshalb konnten im Sommer 1978 der Organisationssoziologe Renaud Sainsaulieu und eine Gruppe seiner Studenten gewonnen werden, um bei der Verbesserung des „fonctionnement collectif“ zu helfen.97 Dies zeugt außerdem davon, dass die Protagonisten
94
Vgl. Mitteilung von Michel Garcin an Charles Piaget und die Mitglieder der „commission de coordination“, 29. November 1977, BDIC F Δ rés. 702/6.
95
Vgl. ebenda.
96
Vgl. Paton, Rob (Hrsg.): Analysis of the Experiences of and Problems encountered by Worker-Takeovers of Companies in Difficulty or Bankrupt, Studie Nr. 85/4 im Auftrag der Europäischen Kommission, Luxemburg 1987, S. 19.
97
Protokoll eines Treffens Sainsaulieu-LIP vom Juli 1978, BDIC F Δ rés. 702/6. Sainsaulieu hatte am Institut d’études politiques in Paris im Rahmen des Fachbereichs
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bei LIP selbst ihre Probleme in Bezug auf Entscheidungsprozesse ernst nahmen und sich eine gemeinsame Arbeit an diesen Prozessen erhofften. Nach einer kurzen, mehrtägigen Interviewbefragung durch Sainsaulieu selbst und einem ersten Auswertungsgespräch verbrachte schließlich einer seiner Studenten, Jean Pic Berry, im Juli und August 1978 mehrere Wochen bei LIP. Während dieser Zeit führte dieser seine Untersuchung auf der Basis eines Fragebogens mithilfe von Einzelinterviews durch.98 Diese Befragung mündete in eine universitäre Abschlussarbeit, sie sollte gleichwohl auch eine praktische Hilfestellung für die Beteiligten auf dem LIP-Gelände sein. In seiner Arbeit gab Berry zunächst seine unmittelbaren Eindrücke wieder und fasste wesentliche „dysfonctions“ zusammen. Als solche interpretierte er vor allem die mangelnde Kommunikation zwischen einer kleinen „Direktion“ und der Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter: „Es handelt sich [bei der Direktion] um etwa 20 Personen, die sich in den alten Vorstandszimmern treffen und die sich als Motor der Auseinandersetzung begreifen. Alle Entscheidungen kommen aus dieser Gruppe. Die Vollversammlungen dienen dazu, die Beschlüsse festzuklopfen, selten dazu sie abzulehnen, nie dazu sie zu diskutieren.“99 Die Arbeitsweise der Direktion erinnerte ihn an diejenige in normalen Unternehmen mit Chef (entreprise patronale normale): „Einzeichnen am Morgen, Lohnabzüge usw. Der erste Eindruck ist deshalb entmutigend: Man hat erwartet, eine Keimzelle praktizierter Selbstverwaltung vorzufinden, und sieht sich einem repressiven System gegenüber, das fast härter ist als in einem normalen Unternehmen mit Chef.“ (…) „Die wenigen Opponenten – denn es gibt sie – werden harsch bestraft oder zurückgewiesen.“100
Sämtliche Befragten stimmten darin überein, dass die wesentlichen Entscheidungen nur von einem kleinen Personenkreis gefällt wurden. Einige führten dies auf die mangelnde Bereitschaft vieler Beteiligter zurück, selbst Verantwortung zu übernehmen, sodass diese Befragten das Entstehen einer neuen Hierarchie als zwangsläufig beurteilten. Die formalen Entscheidungsstrukturen der Produktionsgenossenschaft L.I.P. hingegen funktionierten (noch) nicht: „Der Vorstand,
Organsiationssoziologie einen Bereich aufgebaut, der sich mit Vereins- und Unternehmensgründungen beschäftigte: MACI (Mode d’Action et de Création Institutionnelle). 98
Berry, Jean Pic: LIP 1978, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 1978, BDIC F Δ
99
Berry: LIP 1978, S. 13.
rés. 702/11. 100 Berry: LIP 1978, S. 13.
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das ‚collectif de gestion‘, der Aufsichtsrat spielen überhaupt keine Rolle.“101 Offensichtlich gab es nicht nur unterschiedliche Vorstellungen über die Formen der Auseinandersetzung auf dem besetzten Gelände, sondern auch Machtkämpfe hierum. Dennoch interpretierten viele der Befragten die Entstehung neuer Hierarchien nicht als Resultat solcher Auseinandersetzungen, sondern brachten sie mit der individuellen Bereitschaft in Zusammenhang, Verantwortung zu übernehmen. Im „Noyau“ selbst – von den Befragten als „les têtes pensantes“, „les directeurs“, oder „le noyau directeur“ bezeichnet – machte Jean Pic Berry deutliche Informationsprobleme aus. Keiner konnte ihm schlüssig erklären, wie die Solidaritätskasse gefüllt und nach welchen Kriterien sie wieder geleert wurde. Während eines ganzen Nachmittags, den er mit zwei Mitgliedern des „noyau“ verbrachte, konnte er nicht abschließend die Funktionsweise des „complément de salaire“ ermitteln. Bei der Herstellung der Entscheidungshierarchien, so Berry, spielte der „discours“ eine wesentliche Rolle. Über die Fähigkeit öffentlich zu sprechen, Sprechweisen durchzusetzen und Themen zu setzen, wurden vor allem in den Vollversammlungen Hierarchien durchgesetzt. Der Betonung der Schwierigkeiten, die es beim Wandel von einem (in der Terminologie des „noyau“) „Kampf gegen“ zu einem „Kampf für“ zu überwinden gelte, kam dabei häufig eine apologetische Funktion zu. Beinahe rituell wurden diese hervorgehoben. Dabei waren diese auch darauf zurückzuführen, dass die vom „noyau“ verfolgten Ziele nicht mit denen der meisten Arbeiterinnen und Arbeiter übereinstimmten. Ein Gemeinschaftsleben jenseits der Fabrikzäune wurde von niemandem auf dem Grundstück angestrebt, während „fast alle Lips den Aufkauf ihrer Fabrik durch einen herkömmlichen ‚Patron‘ akzeptieren oder sogar ersehnen würden, eher als eine Genossenschaftserfahrung“, so Berry.102 Die von Berry vorgenommene, analytische Unterscheidung von vier verschiedenen Gruppen auf dem besetzten Betriebsgelände kann dabei helfen, die
101 Berry: LIP 1978, S. 15. 102 Berry: LIP 1978, S. 17. Der Alltagsgebrauch des Wortes „Patron“ ist mehrdeutig und kann den Kneipenwirt ebenso bedeuten wie einen unmittelbaren Vorgesetzten. Das „Dictionnaire historique des patrons français“ geht für den „Patron“ als Unternehmer von folgender Definition aus: „Ein ‚Patron‘ ist jener, der persönlich über geschäftsführende und repräsentative Kompetenzen verfügt. Er verkörpert selbständig das Unternehmen gegenüber allen beteiligten Parteien – Aktionären, Angestellten, Bankiers, Kunden, Lieferanten usw. Und er ist der rechtlich Verantwortliche, von dem Rechenschaft gefordert wird.“, Daumas u.a. (Hrsg.): Dictionnaire historique des patrons français, Introduction, S. 9.
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zugrunde liegenden Differenzen klarer zu beurteilen. Die Antworten der jeweiligen Gruppen fasste er in jeweils einem prototypischen Antwortblock zusammen. Neben dem „noyau directeur“ identifizierte Berry eine „base optimiste“, eine „base pessimiste“ und schließlich eine Gruppe von „dissidents“. Alle waren von ihm nach der gegenwärtigen Zufriedenheit mit der Situation auf dem besetzten Gelände, nach ihrer aktuellen persönlichen Situation sowie nach ihren persönlichen und kollektiven Zukunftsperspektiven befragt worden. Zum Schluss sollten sie die aktuellen Entscheidungsstrukturen persönlich bewerten. Die „base optimiste“ war im Durchschnitt jünger als die „base pessimiste“. Ihre Angehörigen gaben an, in der Auseinandersetzung gelernt zu haben, zuzuhören, zu debattieren und gemeinsam Entscheidungen zu fällen. Außerdem hätten sie eine Weiterentwicklung ihrer beruflichen Fähigkeiten erfahren. Sie hatten in den Arbeitsgruppen die Verantwortung für die Herstellung, die Kundenbetreuung, den Verkauf und die Rechnungslegung übernommen und dies persönlich als Bereicherung erlebt. Die „base optimiste“ war demnach bereit, weiterhin große Zugeständnisse in Bezug auf Freizeit und Lohn zu machen, um der Genossenschaft zukünftig zum Erfolg zu verhelfen. Die „base pessimiste“ hingegen, mehrheitlich älter, sah sich nach einem längeren Berufsleben nicht mehr in der Lage, anderswo Arbeit zu finden. Diese Gruppe gab an, sich mehr aus Notwendigkeit als aus innerer Motivation noch immer bei LIP zu befinden. Ihre Mitglieder machten sich Sorgen um ihre niedrige Rente, die sich perspektivisch aus der langen Arbeitslosigkeit und den zukünftig niedrigeren Löhnen in der Genossenschaft ergeben würde. Die persönliche Situation, die mit einem finanziellen und einem Statusverlust einherging, erlebten sie als schwierig. Zur täglichen Arbeit hieß es in der prototypischen Antwort: „Ich bin ein alter Meister (contremaître). Jetzt bin ich Delegierter oder Werkstattanleiter (animateur d’atelier), das kommt aufs Selbe heraus. Ich arbeite mit denselben Personen auf dieselbe Art wie vorher. Es gibt nur einen Austausch der Begrifflichkeit, keinen tatsächlichen Unterschied.“103 Für den weiteren Aufbau der Produktionsgenossenschaft forderten diese Personen klarere Regeln gerade in Bezug auf die Produktion: „Wenn die SCOP richtig losgeht, wird es Vorgesetzte brauchen, damit wieder Ordnung herrscht.“104 In Bezug auf die Zukunft der Genossenschaft schätzte diese „base pessimiste“, dass diese nicht viel anders als jedes andere Unternehmen funktionieren werde. Einige aus dieser Gruppe kritisierten aber die zu starke Konzentration auf den ökonomischen Erfolg der SCOP: „Der Inhalt ‚Selbstverwaltung‘ ist abwesend. Das wird nicht mehr hier gelenkt, die Leitung der PSU oder der CFDT wollen eine
103 Berry: LIP 1978, S. 47. 104 Ebenda.
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beispielhafte Erfahrung machen. Alle Suchbewegungen nach einem anderen Leben sind zugunsten des Erfolgs der SCOP aufgegeben worden.“105 Die „dissidents“ schließlich kritisierten vor allem die Perspektiven für die Zukunft. Ein Genossenschaftsplan, der für höchstens die Hälfte der bisher Beschäftigten eine Stelle bietet könne, sei inakzeptabel. „Der Kampf, so wie wir ihn 1973 verstanden haben, ist vorbei.“ Sie kritisierten, dass sich viele in die Familie und das Privatleben zurückzögen. Die Stacheldraht- und Betonsperren auf dem Grundstück sahen sie als symbolisch für den Rückzug in die Mauern der Fabrik.106 Die Entscheidungsstrukturen kritisierten sie als autoritär. Auch die „dissidents“ betonten die Rolle des „discours“ in der Herstellung von Entscheidungsgewalt: „Die Vollversammlungen bestehen normalerweise aus einem ein- oder zweistündigen Monolog von Charles Piaget ganz alleine. (…) Dazu muss man sagen, dass wir bis Ostern zwei Jahre lang jeden Morgen eine Vollversammlung hatten. Das heißt also, dass Piaget gut gehört worden ist.“107 Die Entscheidungsvorbereitung finde vor den Vollversammlungen zunächst in kleinen Gruppen statt, die dann möglichst viel Zustimmung generierten, bevor sie den Vorschlag in die Versammlung trügen. Dort werde er meistens nur noch abgenickt. Als Beispiel wurde die Art und Weise genannt, wie mittlerweile für die Arbeit bei L.I.P. wieder eine 40-Stunden-Woche beschlossen worden war. Den „Dissidenten“ fehlte vor allem eine wirksame Gegenmacht in Form einer Gewerkschaft im Betrieb, weil die wichtigsten alten Gewerkschafter nun im „noyau directeur“ beschäftigt waren. Die Vermischung von offiziellen Regularien und persönlichen Machtpositionen führe dazu, dass das Einzeichnen am Morgen und die Lohnabzüge auch als politisches Mittel gegen unliebige Personen eingesetzt würden. Gegen diese inoffiziellen Machtstrukturen vorzugehen, gestalte sich weitaus schwieriger als innerhalb klar geregelter Strukturen. Ihre persönliche Zukunft sahen die „dissidents“ entsprechend als schwierig und vor allem in einem Engagement, das auch im Konflikt mit dem „noyau“ bestehen würde. Jean Pic Berry zeigte also mit seiner Arbeit eine ganze Reihe von gegenseitigen Missverständnissen auf. Seine Unterscheidung in verschiedene Gruppen verdeutlichte unter anderem die Kluft zwischen jungen und alten Beschäftigten, zwischen solchen, die sich begeistert in eine Auseinandersetzung stürzten, die für sie erkennbar eine willkommene Lernerfahrung war, und solchen, für die die
105 Ebenda, S. 52 106 „Die Anti-CRS-Festungsanlagen, die die Eingänge schützen, mit Eisenstangen in Beton, Reifen, Stacheldraht, erwachsen mehr aus dem Begehr, sich einzuschließen, als aus Realismus, ebenda S. 53. 107 Ebenda, S. 55.
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Arbeitslosigkeit und der Aufbau der Produktionsgenossenschaft eine mühsame Unterbrechung ihrer bisherigen Berufstätigkeit darstellte. Hinter einigen der Missverständnisse steckten allerdings deutlich unterschiedliche Positionen in Bezug auf das gemeinsame Projekt. Manche hofften auf eine möglichst schnelle Rückkehr regulärer Arbeitsmethoden, auch wenn diese jenen im alten Unternehmen LIP ähneln würden. Andere kritisierten das Verschwinden der Aspekte von „Selbstverwaltung“, die sie als „Suchbewegungen nach einem anderen Leben“ definierten und bei denen der Selbstbestimmung der Gruppe vor Ort gegenüber den anderswo getroffenen Entscheidungen eine große Bedeutung zukam. Die intransparenten Entscheidungsstrukturen trugen dazu bei, die zunehmend dominant werdenden Deutungen des Konflikts weiter zu befestigen und gegen Kritik zu immunisieren. Mit Anwesenheitskontrollen und Lohnabzügen erfuhren diese außerdem eine handfeste Absicherung. Diese autoritären Elemente kamen also einer kleinen Gruppe durchaus zugute, die so ihre im Vergleich mit den anderen sehr konkreten Vorstellungen über die Zukunft des Projekts durchsetzen konnte. Eine gründliche Auswertung von Berrys Arbeit seitens der Beteiligten auf dem besetzten LIP-Gelände ist nicht überliefert. Im September folgten jedoch Gespräche zwischen Vertretern von LIP – u.a. Jean Raguenès – und einem Sekretär der Metallgewerkschaft der CFDT, Louis Morice. Auch dieser mahnte klarere Entscheidungsstrukturen an.108 Zur Verbesserung des internen Informationsflusses wurde das Blatt „LIP actualités“ eingerichtet. Dessen Septemberausgabe kündigte an, im Oktober neue Strukturen für die gemeinsame Entscheidungsfindung zu präsentieren.109 Dies geschah jedoch weder im Oktober noch danach. Das Motiv von „noyau“ und „masse“ blieb bis Anfang der 1980er Jahre vor allem in den Reflexionen des „noyau“ selbst ein ständiger Begleiter.110 Es diente vor allem dann zur Selbstlegitimation dieser Gruppe, wenn die eigene Übernahme von Verantwortung und die mangelnde Bereitschaft anderer zu einer solchen Verantwortlichkeit hervorgehoben wurde.
108 Vgl. die Zusammenfassung des Gesprächs, FGM 1 B 577. 109 Vgl. LIP actualité No. 6 und 7, BDIC F Δ rés. 702/1. 110 Ausführlich zum Beispiel in einem Buchentwurf von Jean Raguenès u.a. von 1981. Dieses boten sie den éditions du Seuil zur Veröffentlichung an. In der Ablehnung hieß es allerdings, die Reflexionen seien für Außenstehende unverständlich, vgl. Typoskript und Briefwechsel, ADD 45 J 108.
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5.4 U NTERNEHMENSPLÄNE ALS ENGER WERDENDER R AHMEN Im vorangegangenen Abschnitt ist deutlich geworden, dass den intransparenten Entscheidungsstrukturen auf dem besetzten LIP-Gelände widersprüchliche Vorstellungen über die Zukunft des gemeinsamen Projekts zugrunde lagen. Die Rolle der Produktionsgenossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) innerhalb des Gesamtzusammenhangs war auch nach ihrer Gründung nicht abschließend geklärt. Im Folgenden wird gezeigt, wie diese Unklarheit sich mit dem Einfluss externer Akteure noch verstärkte. Denn um die Genossenschaft nach ihrer Gründung aufzubauen, waren ihre Protagonisten auf Hilfe von außen angewiesen. Wie wirkte sich die Erstellung von Entwicklungsplänen für L.I.P. auf die Betriebsbesetzung und ihre Entscheidungsstrukturen aus? Als L.I.P. im November 1977 gegründet wurde, verfügte das Unternehmen über keinen Kapitalstock, der über das Gründungskapital von 1,1 Mio. FF hinausging.111 Die Genossenschaft hatte weder Beschäftigte, noch verfügte sie legal über Maschinen, Werkzeuge oder Räume. Die Fabrik in Palente und ihre Einrichtung waren rechtlich gesehen weiter in den Händen des Konkursverwalters, ebenso wie die Marke LIP. Offiziell wurde die Genossenschaft von einem dreiköpfigen Vorstand geleitet: Raymond Burgy, Gérard Cugney und Michel Garcin. Die Kontrolle des Vorstands sollte neben der jährlichen Genossenschafterversammlung auch in der Verantwortung eines zwölfköpfigen Aufsichtsrats (conseil de surveillance) liegen, dessen Mitglieder von der Genossenschafterversammlung zur Hälfte aus Personen mit ökonomischem Fachwissen und zur Hälfte aus Personen mit gewerkschaftlicher Erfahrung gewählt wurden.112 Damit entschieden sich die Beteiligten für eine andere als die in französischen Aktiengesellschaften am häufigsten verwendete Struktur. Auch in den meisten als Aktiengesellschaften verfassten SCOPs wurde in den späten 1970er Jahren aus der Genossenschafterversammlung ein Verwaltungsrat gewählt, der dann aus seinem Kreis einen Vorstandsvorsitzenden bestimmte. Häufig war der Verwaltungsrat das wichtigste Entscheidungsgremium, dessen eingeschlagener Weg dann auf der Genossenschafterversammlung nur noch bestätigt wurde. In zahlreichen SCOPs forderten die Beschäftigten seit dem Mai 1968 jedoch eine stärkere Basisbeteiligung innerhalb dieser Strukturen ein.113 Aus der Betriebsbesetzung bei
111 Vgl. Satzung der SCOP L.I.P., BDIC F Δ rés. 702/21. 112 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No.11, Januar/Februar 1978. 113 Vgl. Zaidman, Sylvie: „Des accociation ouvrières aux SCOP de mai“, in: Georgi, Frank (Hrsg.): Autogestion – la dernière utopie?, Paris 2003, S. 333-346.
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LIP erwuchsen einerseits erweiterte Ansprüche an die Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter und andererseits das Bedürfnis, weiterhin einen Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Initiativen auf dem besetzten Betriebsgelände sicherzustellen. Insbesondere letzteres spiegelte sich in der Struktur aus mehrköpfigem Vorstand und Aufsichtsrat bei der Produktionsgenossenschaft Les Industries de Palente. In Abschnitt 5.3 wurde gezeigt, dass die Zuständigkeiten zwischen dem offiziellen Vorstand von L.I.P. und dem informellen „noyau“ der ehemaligen LIPArbeiterinnen und -Arbeiter nicht immer geklärt waren. Eine der klar dem Vorstand zugeordneten Aufgaben war es, Geldgeber für die Genossenschaft L.I.P. zu gewinnen und in Absprache mit diesen einen Entwicklungsplan für das Unternehmen zu entwerfen. In dessen Erarbeitung waren die Genossenschafter von L.I.P. – überwiegend die an der Betriebsbesetzung beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter – nicht einbezogen.114 Bereits früh im Laufe des Jahres 1978 konnte mithilfe der Metallgewerkschaft der CFDT die Unterstützung des Dachverbands für die genossenschaftlichen und mutualistischen Aktivitäten im Bildungssektor gewonnen werden, das Comité de Coordination des Œuvres Mutualistes et Coopératives de l’Éducation Nationale (CCOMCEN). Dessen Mitglieder versprachen, sich am Kapital von L.I.P. zu beteiligen. Größter Geldgeber in diesem Zusammenhang wurde schließlich die MRIFEN (Mutuelle Retraite des Instituteurs et Formateurs de l’Éducation Nationale), eine mutualistische Rentenkasse.115 Die Unterstützung der Confédération Générale des SCOP konnte gewonnen und über diese der Kontakt zu Banken im Genossenschaftssektor hergestellt werden (vgl. Kapitel 6). Als der Vorstand von L.I.P. dann schließlich im Sommer 1978 einen Antrag auf staatliche Wirtschaftsförderung beim CIASI (Comité Interministeriel de
114 Vgl. Terrieux: L’expérience LIP, S. 83ff. 115 Vgl. Briefwechsel zwischen FGM, CCOMCEN und L.I.P., FGM 1 B 577. Gegründet worden war das CCOMCEN 1947 als Zusammenschluss von genossenschaftlichen Rentenkassen, Versicherungsvereinen und Genossenschaftsbanken im Bereich des Bildungswesens. Im Rahmen der Rekonstruktionsphase der Nachkriegszeit gründeten sich auch in anderen Bereichen, etwa der Landwirtschaft und der Sozialen Arbeit, solche Zusammenschlüsse, deren Unabhängigkeit zunächst relativ groß war, deren Abhängigkeit von Zuschüssen und deren Anbindung an staatliche Politik jedoch sukzessive zunahmen, vgl. Demoustier, Danièle: „Économie sociale et politiques publiques – une construction chaotique en France“, in: Chaves, Raphael und Danièle Demoustier (Hrsg.): The emergence of the Social Economy in Public Policy – An international Analysis, Brüssel 2013, S. 221.
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l’Aménagement des Structures Industrielles) einreichte, war dies der Beginn eines zähen Verhandlungspozesses, durch den noch weitere Akteure ins Spiel kamen. Vier weitere Male reichten die Vertreter von L.I.P. überarbeitete Entwicklungspläne vor, die stets neue Einschränkungen mit sich brachten. Diese betrafen sowohl die Zahl der anszustrebenden Einstellungen durch die Genossenschaft L.I.P. als auch deren industrielle Strategie. Scheinbar handelte es sich um technische Verhandlungen. Neben den Experten des interministeriellen Wirtschaftsförderungsgremiums CIASI war vor allem die für die Uhrenindustrie zuständige Direktion des Industrieministeriums am Genehmigungsverfahren für die staatlichen Gelder beteiligt. Tatsächlich fanden jedoch die unterschiedlichsten Interessen Eingang in die Verhandlungen. Der nach den Wahlen von 1978 eingesetzte neue Präfekt fühlte sich bereits übergangen, als der Antrag beim CIASI nicht über die Schreibtische der Präfektur, sondern direkt beim interministeriellen Gremium eingereicht wurde.116 Die Vertreter der Uhrenbranche drängten darauf, die Produktion von Uhrengehäusen nicht wieder in den Plan aufzunehmen, um keine Arbeitsplätze bei Gehäuseherstellern im Haut-Doubs zu gefährden. Die Industrie- und Handelskammer machte sich für einen Wegzug des Unternehmens vom für L.I.P. alleine zu großen Betriebsgelände in Palente stark, da, wie das CIASI deren Vertreter in einem Zwischenbericht sinngemäß zitierte, „kein Industrieller mit dieser Genossenschaft wird benachbart sein wollen“.117 Die Formulierung verdeutlicht abermals die Abneigung der lokalen Unternehmerschaft gegen die ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter. Als die Verhandlungen sich in die Länge zogen, sicherte der Stadtrat von Besançon im Frühjahr 1979 zu, sich mit einer Subvention an der Entwicklung von L.I.P. zu beteiligen, um mit diesem Hebel die anderen beteiligten Stellen von der Gangbarkeit des Plans zu überzeugen und sie überdies unter Zugzwang zu setzen.118 Schon der erste beim CIASI eingereichte Entwicklungsplan sah vor, die Uhrenproduktion nur als ein Standbein des Unternehmens zu betrachten. Von Beginn an wurde auch auf die Diversifizierung im Bereich der Mechanischen Fertigung und vor allem im Bereich der Mikromechanik gesetzt. In dieser Hinsicht
116 Vgl. mehrere Briefe des Präfekten Denieul an das CIASI und ans Industrieministerium, AN 19850508/21. 117 Zwischenbericht des CIASI aus dem Frühjahr 1979, AN 19910541/13. Dieser Bericht folgte auf den Subventionsbeschluss des Stadtrats. In Besançon gab es im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1979 mehrere Treffen zwischen Stadtverwaltung, Industrie- und Handelskammer und LIP-Vertretern, vgl. deren Protokolle in AM 86 W 39. 118 Vgl. ebenda.
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bedeuteten die nachfolgenden Pläne keinen grundlegenden Strategiewechsel mehr. Die vorgesehene Beschäftigtenzahl jedoch wurde von bis zu 650 im ersten Entwurf auf zunächst 170 für den Jahresbeginn 1981 im letzten, schließlich genehmigten Plan reduziert. Und den wesentlichen Einwänden der lokalen und regionalen Unternehmerschaft wurde nachgegeben. So verzichtete L.I.P. nicht nur auf die Herstellung eigener Uhren-Bewegungen – dies war bereits im ersten Entwurf so vorgesehen –, sondern auch auf die Uhrengehäuswerkstatt. Und für das Jahr 1981 wurde schließlich der Wegzug vom bisherigen Betriebsgelände vorgesehen. L.I.P. bezog im März 1981 eine kleinere Produktionshalle in einem Nachbarstadtteil, welche die Stadtverwaltung der Genossenschaft vermietete.119 Neben der Reduktion der Zahl der Beschäftigten hatten die Verhandlungen auch Konsequenzen für die Struktur der Genossenschaft. Als der Konkursverwalter 1979 einwilligte, mit dem Vorstand von L.I.P. über einen Verkauf der Marke zu verhandeln, bestand er darauf, hierfür einen alleinverantwortlichen, „kompetenten“ Ansprechpartner zu bekommen. Der Vorstand musste also mit einem Vorsitzenden ausgestattet werden, der bislang nicht in die Auseinandersetzung bei LIP eingebunden gewesen war. In Libéro Penna wurde dieser schließlich gefunden und im Juli 1979 eingestellt. Penna, 1924 geboren, hatte seine Karriere 1946 als Verantwortlicher für „méthodes et organisation“ und schließlich als Verkaufsleiter in der „communauté de travail“ Boimondau begonnen. Von 1955 bis 1961 hatte er die SCOP Centralor geleitet, wie Boimondau ein Produzent von Uhrengehäusen. Später war er freiberuflich als technischer Berater für regionale Wirtschaftsförderungseinrichtungen in Marseille und Lyon tätig und schließlich Generaldirektor der pharmazeutischen Firma Gattefosse gewesen.120 Bei L.I.P. wurde er aufgrund seiner genossenschaftlichen Erfahrung ausgewählt und zum Gehalt von 20.000 FF im Monat eingestellt. Wie gezeigt, zahlten sich die ehemaligen LIP-Beschäftigten „compléments de salaire“ bis zur Höhe von 3.600 FF. Auch von den ersten, 1980 in der Genossenschaft L.I.P. eingestellten 50 Personen verdiente niemand mehr als 4.000 FF. Der neue Vorstandsvorsitzende erhielt also ein Vielfaches der ansonsten niedrigen und zumindest der Tendenz nach egalitär gestalteten Bezüge der ehemaligen LIP-Arbeiter. Die Verhandlungsergebnisse hatten außerdem gravierende Rückwirkungen auf die weitere Dynamik der Betriebsbesetzung. Die Gleichzeitigkeit von Genossenschaftsgründung und anhaltender Betriebsbesetzung brachte ohnehin eine Konzentration der Entscheidungsgewalt bei einer kleinen Gruppe mit sich. Die
119 Vgl. die Korrespondenz zum Entwicklungsplan, AN 19910541/13. 120 Vgl. den tabellarischen Lebenslauf von Libéro Penna, AN 19850508/21.
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Verhandlungen verstärkten diese Tendenz und die mit ihr einhergehende Intransparenz. Mit den niedriger werdenden Zahlen zukünftiger L.I.P.-Beschäftigter in der Prospektion durch den Vorstand der Genossenschaft wurde außerdem die Frage dringlicher, was mit den übrigen ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeitern geschehen sollte, die sich weiter an der Betriebsbesetzung beteiligten. Schon im März 1978 hatte es eine erste Reflexion über diese Frage gegeben, als die Zahl der Produktionsgruppen reduziert wurde. Unter anderem begannen die Mitglieder des „Collectif de Gestion“ darüber zu diskutieren, wie die übrigen Aktivitäten zunächst im Rahmen der Betriebsbesetzung kostendeckend gestaltet werden könnten. Im Protokoll einer Reflexionssitzung vom Jahresbeginn 1979 hieß es dann schließlich: „Wenn die ‚commissions‘ nach dem Dezember 1979 die Löhne ihrer Mitglieder sicherstellen können, wäre dies ein gutes Ergebnis. Hier ist also noch wichtige Arbeit zu leisten. Aber selbst dann bleiben mehr als hundert Personen ohne Arbeit und ohne Lohn.“121 Dementspechend wurde parallel zum Genossenschaftsplan mit der Präfektur über Frühverrentungen und mit der Stadtverwaltung über mögliche Arbeitsplatzangebote in der Kommune verhandelt. Die Gründung der Genossenschaft Les Commissions Artisanales de Palente (CAP) im Juli 1979 sollte schließlich den Beschäftigten in den Handwerkskommissionen regulär bezahlte Arbeit ermöglichen. 295 Genossenschafterinnen und Genossenschafter gründeten diese am 7. Juli 1979. Ab 1981 beschäftigte CAP 21 Personen (vgl. Kapitel 6). Auch mit diesen Zahlen war jedoch keine Beschäftigung für alle Personen erreicht, die sich an der Betriebsbesetzung beteiligten. Seit Jahresbeginn 1979 wurden deshalb durch das „Collectif de Gestion“ Einstellungslisten erarbeitet. Bei diesen folgten sie zuerst Qualifikations- und dann sozialen Kriterien. In Gruppe A wurden diejenigen eingruppiert, die spätestens zum Jahresbeginn 1981 bei L.I.P. eingestellt werden sollten, in Gruppe B diejenigen, für die bei CAP eine Perspektive gesehen wurde, und in Gruppe C diejenigen, für die es keine Stelle gab.122 Auch für diese Gruppe hielten die Mitglieder des „Noyau“ am Ziel fest, ihnen in den Genossenschaftsbetrieben oder außerhalb des LIPZusammenhangs zukünftig Arbeitsplätze zu schaffen. Als im Oktober 1979 über die Bedingungen des letzten Entwicklungsplans für L.I.P. abgestimmt wurde, waren mit dem Plan auch diese Listen Abstimmungsgegenstand. Auf die Produktion von Uhrengehäusen wurde verzichtet, die Produktion von Rüstungsgütern als Teil des Produktionsprofils beibehalten, der
121 „Réflexion sur les hors-plan“, ohne Datum, BDIC F Δ rés 702/6. 122 Vgl. handschriftliche Listen, AM 5 Z 218. Vgl. Einstellungskriterien aus dem Sommer 1979, BDIC F Δ rés 702/22.
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reduzierten Beschäftigtenzahl und schließlich dem Umzug auf ein anderes Betriebsgelände zugestimmt. Die Abstimmung wurde auf der Basis eines einzigen Abstimmungsvorschlags vorgenommen, der in der CFDT-Sektion vorher stark umstritten gewesen war. Seine Gegner, exakt die Hälfte der insgesamt 66 anwesenden Personen der CFDT-Sektion, hatten argumentiert, dass momentan die Einkünfte aller Betriebsbesetzerinnen und -besetzer gesichert seien und es demzufolge keine Notwendigkeit gebe, einem Unternehmensplan zuzustimmen, der explizit Entlassungen und einen Umzug vorsehe. Sie forderten stattdessen einen weiteren Kampf für Arbeitsplätze auf der Basis der Betriebsbesetzung.123 Auch auf der Vollversammlung am 3. Oktober 1979 machten sie sich für die Ablehnung des Plans stark. Von seinen Befürwortern wurde der Plan dagegen als letzte Chance einer ansonsten aussichtslosen Auseinandersetzung verstanden. In diesem Sinne arbeiteten sie bereits vor dem Abstimmungstermin in der Vollversammlung in kleinen Gruppen auf dessen Annahme hin. Auf der Vollversammlung vom 3. Oktober 1979 stimmten schließlich 197 Personen für und 121 Personen gegen den Vorschlag, der explizit auch die Aufteilung in die Gruppen A, B und C beinhaltete.124 Die innergewerkschaftliche Opposition hatte sich also mittlerweile organisiert. Einer ihrer Protagonisten war Jacky Burtz, der zusammen mit François Laurent gegen die Zustimmung zum Plan mobilisiert hatte. Die Metallgewerkschaft der CFDT schloss Burtz deswegen am 10. Dezember 1979 von den Verhandlungen mit dem CIASI aus. Der zweite Vertreter der Gewerkschaftssektion bei LIP, Roland Vittot, weigerte sich dann aus Solidarität mit seinem Kollegen Burtz, an der Sitzung teilzunehmen. Die endgültigen Details wurden also ohne jede Präsenz der CFDT-Gewerkschaftssektion geklärt.125 Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern dominierte nun das bittere Gefühl, sich gegenseitig selbst entlassen zu haben. Und die Tatsache, dass die Vorbereitung dieser Entscheidung in einer kleinen Gruppe geschehen war, die nach den üblichen Arbeitgeberkriterien über die Einstellungen entschied, machte eine breite
123 Bereits im Juni 1978 hatten einige noch anonym bleibende „enfants terribles de la CFDT descendant des Muezzins de l’abandon de l’esprit“ von zwei Möglichkeiten gesprochen eine Genossenschaft zu gründen, von denen nun eindeutig die zweite gewählt worden sei: Entweder eine Genossenschaft, um weiter politisch für Arbeitsplätze zu kämpfen, oder eine „cooperative intégrée dans le système.“ Flugblatt, BDIC F Δ rés. 702/6. 124 Vgl. Abstimmungsvorlage für den 3. Oktober 1979, BDIC F Δ rés. 702/6. 125 Vgl. Libération vom 19. November 1979; vgl. offener Brief Roland Vittots vom 11. Dezember 1979, ADD 85 J 55.
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Akzeptanz der Entscheidung schwer. Das knappe Abstimmungsergebnis bezeugt die Ablehnung vieler Beteiligter nicht nur gegenüber dem konkreten Ergebnis, sondern auch gegenüber der Art, wie es zustande gekommen war.126 Die Angehörigen des „Noyau“, die nach der Abstimmung weiter an einem gemeinsamen Projekt festhielten, versuchten, die Mitglieder der Gruppe C zur Fortsetzung der Auseinandersetzung auf dem besetzten Gelände zu motivieren. Einigen wenigen Personen aus der Gruppe gaben sie in der LIP Unité dementsprechend Raum, um zu erörtern, warum sich die weitere Beteiligung auch für sie weiterhin lohnen könnte. Im Gegensatz zu dieser Intention belegen ihre Äußerungen allerdings, wie verlassen sich diese Personen von ihren Kollegen fühlten. Die Arbeiterin Rose schrieb knapp und treffend: „On est du groupe C, avec un grand C. On est les Cons, c’est tout.“127 Insbesondere diejenigen, die stets die „communauté“ als Mittel und Zweck der Betriebsbesetzung betont hatten, hielten solche Äußerungen nicht davon ab, sich weiter um eine Anbindung der Gruppe C an die Aktivitäten bei LIP zu bemühen. Zwar konnten sie ihnen kaum konkrete Angebote machen, forderten aber dennoch ihre weitere Beteiligung ein. Am weitesten ging darin Dominique Bondu. Dieser junge Soziologe war von Jean Raguenès Ende 1976 für die Beteiligung an der Betriebsbesetzung gewonnen worden. Von dessen Interpetation der Betriebsbesetzung fühlte Bondu sich besonders angezogen. 1981 reichte er unter dem Titel „De l’usine à la communauté“ auch eine Doktorarbeit über die Probleme von Kollektivunternehmen seit den ersten frühsozialistischen „Phalanstères“ und „Familistères“ ein. Eine religiös inspirierte Entfremdungskritik durchzog darin die Analyse.128 Anfang 1980 entwarf Dominique Bondu einen „Solidaristätsvertrag“, in welchem die Verpflichtungen der Gruppe C gegenüber den anderen Beteiligten überbordende Bedeutung erhielten. Um weiter ein „complément de salaire“ zu erhalten, wurde den Mitgliedern der Gruppe darin auferlegt, sich aktiv um bezahlte Arbeit jenseits des Geländes zu kümmern. Zumutsbarkeitsregeln wurden formuliert: „Jede Person, die Gegenstand eines Arbeitsplatzwechsels wird, hat das Recht eine vorgeschlagene Beschäftigung abzulehnen, die nicht die in geographischer Hinsicht geforderten Bedingungen erfüllt […]. Allerdings soll die Gemeinsschaft die Gründe hierfür prüfen.“129
126 Vgl. zu dieser Erfahrung auch den Film von Thomas Faverjon, Fils de Lip. 127 LIP Unité No. 16/17, S. 13. 128 Bondu, Dominique: De l’usine à la communauté: l’Institution du lien social dans le monde de l’usine, Doktorarbeit, Paris 1981. 129 Contrat de Solidarité, BDIC F Δ rés. 702/21.
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Hierfür sah der Vertrag die Einrichtung eines eigenen Ausschusses vor. Einige Gewerkschafter lehnten den Vertrag in deutlichen Worten ab, sie hielten den geplanten Ausschuss für anmaßend gegenüber den Betroffenen. Diese seien nach ihrem Verständnis entweder aktiv an der Betriebsbesetzung beteiligt und erhielten deswegen ein „complément de salaire“ aus der Solidaritätskasse, oder sie fänden jenseits des Geländes Arbeit. Diese Form der Selbstentlassung aber zur Bedingung für die weitere Zusammenarbeit zu machen, lehnten sie ab.130 Der Vertrag trat schließlich nicht in Kraft. Er belegt aber, wie weit die gegenseitigen Verpflichtungen in den Augen einiger weniger Wortführer hätten gehen sollen. Die „communauté“ und noch ihre Verkleinerung sollten mit Kontrollen abgesichert werden, die in wesentlichen Zügen denen eines Arbeitsamts entsprochen hätten.131 Mit dem Umzug im März 1981 kamen auch die übrigen Aktivitäten der Betriebsbesetzung an ihr Ende. Retrospektiv wurde dieser Umzug von den meisten Beteiligten als Zeichen der nun auch räumlich ausgedrückten Zersplitterung bewertet.132 Die Spaltung der Belegschaft hatte sich bis dahin jedoch bereits in verschiedenen Formen manifestiert. So hatten sich die Ingenieure mit einer eigenen Firma selbständig gemacht; die leitenden Angestellten waren bereits viel früher abgesprungen. Im Zuge der fortschreitenden Betriebsbesetzung waren die Aktivitäten der Genossenschaft L.I.P. gegenüber den übrigen Arbeitsgruppen prioritär geworden. Und mit dem Anspruch, deren Aktivitäten rentabel zu betreiben, wurden schließlich von einer kleinen Gruppe Listen erstellt, mit denen über die zukünftige Wiedereinstellung entschieden werden sollte. Dies war insbesondere für diejenigen eine bittere Erfahrung, die bis dahin geraume Zeit ohne regulären Lohn zu einem „complément de salaire“ bereits der Produktionsgenossenschaft L.I.P. zugearbeitet hatten und nun entlassen wurden.
130 Vgl. offener Brief von einigen CFDT-Mitgliedern von LIP, ADD 85 J 55. 131 Die Frage, was ein guter und was ein schlechter Kooperateur sei, stand auch im Mittelpunkt eines von LIP-Arbeitern unter der Anleitung Bondus verfassten mehrstimmigen Vorworts zu einer Neuausgabe des Romans Travail von Émile Zola, vgl. Zola, Émile: Travail, préface des ouvriers de Lip, Lagrasse: Verdier 1979. 132 Vgl. Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 1992, S. 34f.
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Tabelle 2: Die Vereins- und Unternehmensgründungen der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter Okt. 1976
4 M – Micromécanique et Matériel Médical, eingetragener Verein, später Aktiengesellschaft Statice: Medizintechnik.
Zunächst mindestens 118 Vereinsmitglieder, schließlich bis zu 30 Beschäftigte, bis heute.
Nov. 1976
Les Amis de Lip (AAL), Freundschaftsverein.
mehr als 6.000 Mitglieder.
Nov. 1977
L.I.P. - Les Industries de Palente, SCOP SA: Produktion und Reparatur von Uhren, allgemeine und Mikromechanik.
399 Genossenschafter, im Jahr 1981 154 Beschäftigte, Auflösung nach Konkurs 1987.
Okt. 1977
Verein Les Études Industrielles de Palente, ab Okt. 1980 SCEIP – Service, Conseil, Études Industrielles, Promotion, SCOP SA: Erstellung industrieller Entwicklungspläne, Beratung.
zunächst 7, zwischenzeitlich bis zu 20 Beschäftigte, Auflösung 1991.
Juli 1979 CAP - Les Commissions Artisanales de Palente, SCOP SA: Spielwaren, Dekorationsartikel und Möbelteile aus Holz.
295 Genossenschafter, 21 Beschäftigte im Jahr 1981, Auflösung nach Konkurs 1990.
März 1978
CLEF – Collectif de Liaison, Études et bis zu vier TeilzeitbeFormation, eingetragener Verein: schäftigte, mindestens Angebote des „Sozialen Tourismus“. bis 1992.
Nov. 1981
La Liliputienne, SCOP SARL: Druckerei.
Bis zu 6 Beschäftigte, mindestens bis 1992.
Juni 1982 Au chemin de Palente, SCOP SARL: Kantine.
7 Beschäftigte, Auflösung nach Konkurs 1986.
Sep. 1982
Bis heute etwa 20 Beschäftigte.
LIPEMEC Ornans, SCOP SA: Produktion von Werkzeugmaschinen.
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Abbildung 9: So stellte sich die Krise der Uhrenindustrie für die Angestellten von LIP dar. Überwiegend chaotisch agierende lokale Unternehmer begegnen der schweizerischen Industrie, die mit dem Staubsauger Patente absaugt.
„Les travailleurs de LIP“: LIP 76, une industrie, une région en danger, S. 12, ADD 45 J 106.
6. Die Genossenschaften – Betriebe wie alle anderen?
Seit der Gründung der Produktionsgenossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) im Herbst 1977 existierten deren organisatorische Strukturen, später auch die der Genossenschaft CAP (Les Commissions Artisanales de Palente), parallel zu jenen der Betriebsbesetzung. Die hiermit verbundenen Probleme sind im letzten Kapitel diskutiert worden. Der Umzug der Genossenschaften in neue Werkstätten im März 1981 bereitete diesen Parallelstrukturen ein Ende. Der Verkauf der Uhren über Betriebsräte, Gewerkschaftsgliederungen und einen weiten Unterstützerkreis hielt aber noch an. Der Vorstand von L.I.P. war demgegenüber um die Wiedergewinnung der alten Vertriebsnetze bemüht. Auch in anderer Hinsicht erhoffte er sich offenbar eine Wiederannäherung an herkömmliche, unternehmerische Methoden. Libéro Penna, der Vorstandsvorsitzende von L.I.P., äußerte sich gegenüber der Zeitschrift L’Usine Nouvelle über die Gründe des Umzugs: „Palente ist ein historischer Ort geworden, zu beladen mit Erinnerungen und Emotionen. Es erschien uns unausweichlich, diese Vergangenheit hinter uns zu lassen, einen Ort, der auch zu groß war, der zu viel Zeit schluckte für das, was wir machen wollen. Palente erschien außerdem als eine Bremse für die Entwicklung, für die Verhaltensänderung, zu der jeder sich bereit finden muss. Wenn alles läuft wie vorgesehen, mit dem Einverständnis der Gewerkschaften, zur Besänftigung der Stadt und der Region, dann wird L.I.P. es unternehmen, ein Industriebetrieb wie die anderen zu werden. Alles ist erfüllt, um ihm diese Chance zu geben.“1
1
L’Usine Nouvelle No. 44, 30. Oktober 1980, in AN 19850805/21. Die typische Leserschaft dieser Wirtschaftszeitschrift umfasste auch mögliche Geldgeber, Branchenkollegen und unter Umständen für den Vertrieb wichtige Personen. An sie richtete sich
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Wenn L.I.P. nach den Vorstellungen seines Vorstands also versuchen sollte, eine – im Original – „société industrielle“ wie die anderen zu werden, bleibt zu fragen, was sich dieser darunter vorstellte, ob es ihm und den anderen Beteiligten gelang, den Betrieb diesem Ideal anzugleichen und welche Eigenschaften des alten Unternehmens LIP, aber auch der nun vergangenen Arbeitskämpfe weiter prägend blieben. Konflikte sind in Pennas Verweisen auf die allen abverlangte Verhaltensänderung bereits angedeutet. Sein Umgang mit der jüngsten Vergangenheit zielte im zitierten Interview auch auf die Besänftigung der politischen Gegner in Besançon und der Konkurrenten im Branchenumfeld; Verlässlichkeit sollte demonstriert werden. Zukünftig wurde außerdem offenbar von allen Beteiligten im Unternehmen ein besonderer Einsatz oder zumindest die Wiedereinkehr eines als „normal“ verstandenen Arbeitsverhaltens verlangt. Es ist zu fragen, was die verschiedenen Beteiligten hierunter verstanden. Für die Geschäftsleitung waren in der Tat einige Herausforderungen zu meistern: Der Vertrieb über Solidaritätsnetzwerke musste durch den Vertrieb über Fachhändler oder Kaufhäuser ersetzt oder ergänzt werden, die Produktion musste deutlich vergrößert und eine Strategie für die nächsten Jahre entwickelt werden. Diese musste gleichzeitig den Arbeitsplatzversprechen Rechnung tragen und die Einschränkungen durch den 1980 mit den Behörden ausgehandelten Entwicklungsplan sowie die schwierige wirtschaftliche Ausgangsposition berücksichtigen. Mit dem alten Unternehmen LIP hatte Les Industries de Palente von Beginn an nur noch wenig gemeinsam. Schrittweise geschah auch der Ausstieg aus der Uhrenproduktion, bis im Mai 1986 die letzten LIP-Uhren das Lager von L.I.P. verließen. So kann auch der ökonomische Erfolg der beiden Unternehmen L.I.P. und CAP kaum am alten Unternehmen LIP gemessen werden. Die spezifischen Probleme müssen vielmehr im Kontext einer sich drastisch verkleinernden Uhrenbranche in der Franche-Comté und der jeweiligen Ausgangslage der beiden Unternehmen betrachtet werden. War die Produktion von L.I.P. aus der Struktur des alten Unternehmens LIP hervorgegangen, so hatte CAP die Aktivitäten der Betriebsbesetzung als Basis. Beide Unternehmen waren jedoch schon bald und bis zum Ende ihrer Existenz in erster Linie Zulieferbetriebe, die von wenigen, großen Auftraggebern abhängig waren. Diese beiden Wege in den Zulieferbetrieb werden im ersten der drei Abschnitte des Kapitels geschildert. Besondere Berücksichtigung erfahren dabei die Beziehungen zu Geldgebern und institutionellen Unterstützern. Die CFDT, deren Verständnis von Selbstverwaltung nach dem ersten LIP-Konflikt in der öf-
die Zurschaustellung von Verlässlichkeit in besonderem Maße, diese war aber durchaus für die Unternehmensentwicklung von L.I.P. prägend.
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fentlichen Wahrnehmung prägend wurde, war schließlich die gesamten 1980er Jahre hinweg über ihre Metallgewerkschaft ein wichtiges Bindeglied zu Banken und öffentlichen Geldgebern. Michel Rocard wiederum, der in einem Buch zum ersten LIP-Konflikt noch als PSU-Vorsitzender ein Nachwort beigesteuert hatte, war Anfang der 1980er Jahre als Mitglied der Sozialistischen Partei (PS) Minister für Planung und Raumordnung. Wenn die Genossenschafter der aus LIP hervorgegangenen Betriebe sich in Verhandlungen mit diesen Stellen begaben, welche Vorstellungen von Selbstverwaltung stießen dort nun, zehn und mehr Jahre nach dem ersten LIP-Konflikt, aufeinander? Wie hatten sich diese über die Zeit verändert? Anschließend wird die fortlebende Konflikthaftigkeit in den aus LIP hervorgegangenen Genossenschaftsbetrieben anhand der wiederauflebenden gewerkschaftlichen Aktivitäten bei L.I.P. beleuchtet. Welche Formen gewerkschaftlichen Handelns entwickelten sich hier? Welchen spezifischen Einfluss hatte die Tatsache, dass es sich um einen Genossenschaftsbetrieb handelte, auf das Ausagieren betrieblicher Konflikte, insbesondere in entscheidenden Momenten der Umstrukturierung und der Konkursanmeldung? Beriefen sich die Beteiligten in solchen Konflikten noch auf ihr jeweiliges Verständnis der Selbstverwaltung? Dies wird im dritten Abschnitt des Kapitels auch an den Aktivitäten der Genossenschaft SCEIP (Service, Conseils, Études Industrielles, Promotion) diskutiert. 1977 zunächst als Gesellschaft bürgerlichen Rechts „Les Études Industrielles de Palente“ gegründet, kam ihr bei der Gründung der Genossenschaft L.I.P. eine wichtige Rolle zu. Aus einem Vertrag mit der algerischen Regierung hervorgegangen, entwickelte sich ab dem Oktober 1980 nach der Umwandlung in eine Produktionsgenossenschaft insbesondere die Beratung von Betriebsräten und Unternehmensleitungen zum Arbeitsplatzerhalt in gefährdeten Betrieben zum wichtigsten Geschäftsfeld der Beratungsfirma. 1982 beteiligte sie sich mit dem Entwurf eines Unternehmensplans an der Gründung einer Produktionsgenossenschaft in der bis November 1973 zu LIP gehörenden Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans.
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6.1 Z WEI W EGE IN DEN Z ULIEFERBETRIEB : L.I.P. UND CAP L.I.P. – Les Industries de Palente Die wirtschaftliche Tätigkeit von Les Industries de Palente baute auf zwei Säulen auf: der Uhrenfertigung und -reparatur, aus der heraus auch andere Anwendungsbereiche in der Mikromechanik erschlossen werden sollten, und der Abteilung für Mechanische Fertigung. Mit dieser wurde an die Produktion der Mechanikabteilung des alten Unternehmens LIP angeknüpft; die Abteilung sollte jedoch nicht mehr für die Uhrenproduktion des eigenen, sondern für Unternehmen hauptsächlich anderer Branchen Zulieferaufträge erfüllen. Um den Stellenwert der Uhrenabteilung war in den zwischen 1978 und 1980 verhandelten Unternehmensplänen gestritten worden, und schließlich musste im Entwicklungsplan auch auf die Produktion von Uhrengehäusen verzichtet werden.2 Ein Großteil der benötigten Vorprodukte musste von außerhalb des eigenen Betriebs zugekauft werden. Die Uhren-„Manufaktur“, so illusionär die vollständig integrierte Produktion im eigenen Betrieb auch 1973 bereits gewesen war (vgl. Kapitel 1 und 2), war nun endgültig Geschichte. Der Fähigkeiten zur eigenen Produktentwicklung im Bereich der Quarztechnologie war L.I.P. durch den Weggang sämtlicher Ingenieure sowie durch mangelndes Kapital beraubt. Einen Platz im Rahmen des gemeinsamen Branchenunternehmens für die Quarzuhrenentwicklung – Montrélec – hatte L.I.P. nicht mehr. Das Unternehmen fand auch keine anderweitige Berücksichtigung in der Branche, die sämtliche Kooperationsbemühungen blockierte. Der vereinbarte Entwicklungsplan für das Unternehmen sah vor, sowohl die Uhren- als auch die Mechanikabteilung auszubauen. Nach einem tatsächlichen Umsatz von 6 Mio. FF im Jahr 1979, von dem 3,5 Mio. FF auf die Uhrenmontage entfielen, sollte das Unternehmen dem Plan zufolge im Jahr 1980 14 Mio. FF Umsatz machen (9 Mio. im Bereich der Uhren) und 1981 bereits 25 Mio. FF (15 Mio. FF im Bereich der Uhren und 10 im Bereich der Mechanik).3 Für den Fall von Schwierigkeiten im Bereich der Uhrenfertigung sollte das zwei-
2
Die Direktion für die Metall- und Elektroindustrie im Industrieministerium teilte die Befürchtung der Branchenvertreter, eine solche Abteilung könnte für die als existenzbedroht eingeschätzten Uhrengehäusefabrikanten im Haut-Doubs eine zu große Konkurrenz sein, vgl. Mitteilung über eine CIASI-Sitzung vom 25. Juli 1979, AN 1985 0508/21.
3
Vgl. Interview Libéro Penna in L’Usine Nouvelle No. 44, 30. Oktober 1980, AN 1985 0805/21.
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te Standbein, die allgemeine und Mikromechanik, jedoch stärker ausgebaut werden und in der Lage sein, die ausbleibenden Gewinne der Uhrenabteilung auszugleichen. Als durchschnittliche Beschäftigtenzahl wurde von 170 Personen ausgegangen, ab Anfang 1981 wurde die Belegschaft entsprechend aufgestockt, und Ende März 1981 waren kurz nach dem Umzug tatsächlich 154 Personen bei L.I.P. angestellt, zum überwiegenden Teil ehemalige LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter.4 Sowohl der Vorstand als auch die Amis de Lip erhofften sich jedoch einen möglichen Ausbau auf langfristig bis zu 300 Personen. Neben dem durch die Genossenschafter selbst beigesteuerten Startkapital von 1,1 Mio. FF beruhten die finanziellen Ausgangsbedingungen des Unternehmens beim Umzug 1981 auf den Ergebnissen der Einigung vom Vorjahr unter Vermittlung des CIASI (Comité Interministériel pour l’Aménagement des Structures Industrielles). In diese waren finanziell auch die Confédération Générale des SCOP (CG SCOP) und verschiedene Genossenschaftsbanken einbezogen, sowie der Staat über Kredite des Fonds du Développement Économique et Social (FDES) und die Stadt Besançon über eine kommunale Subvention. Jede neu eingestellte Person sollte in den ersten beiden Jahren der Anstellung fünf Prozent ihres Lohns in das Genossenschaftskapital einfließen lassen. Die juristische Form einer SCOP als Aktiengesellschaft mit variablem Kapital – nach den eigenen, 1981 erneuerten Statuten von L.I.P. jedoch mit mindestens 2 Mio. FF – ermöglichte die Kapitalbeteiligung externer Akteure, deren Stimmrecht auf der Genossenschafterversammlung gleichzeitig durch das Prinzip „Ein Mitglied, eine Stimme“ beschränkt blieb.5 Zum Ende der 1970er Jahre wurde die Förderung von SCOP-Gründungen in Frankreich deutlich gestärkt. Ein 1978 in Kraft getretenes Gesetz erleichterte den Kapitaleinstieg von Beteiligungsgesellschaften und Gebietskörperschaften, um Genossenschaftsgründungen zur Arbeitsplatzsicherung zu fördern. Kommunale Subventionen wurden so ermöglicht.6 Die Verfasstheit der SCOPs in Form einer GmbH (SARL) oder einer Aktiengesellschaft (SA) wurde im Gesetz in Erweiterung des bisherigen Gesetzes zu den SCOPs aus der Nachkriegszeit klar geregelt. Erstere brauchten ein Minimum von zwei Mitgliedern, letztere von sieben Genossenschaftern, die im Unternehmen beschäftigt sein mussten. Externe Mit-
4
Vgl. Bericht des Vorstands an die Stadtverwaltung, April 1981, AM 86 W 39.
5
Das Mindestkapital von 2 Mio. FF wurde 1980 in den veränderten Statuten festgeschrieben, vgl. Information SCOP Les Industries de Palente No. 10, Juni 1980, BDIC F Δ res. 702/22.
6
Vgl. das französische Gesetz Nr. 78-763 über die Produktionsgenossenschaften vom 19. Juli 1978.
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glieder durften in beiden Fällen höchstens 49 Prozent des Kapitals halten und höchstens 35 Prozent der Stimmen auf der Genossenschafterversammlung auf sich vereinen. Das Gesetz war eines der wenigen konkreten Resultate im Anschluss an den 1975 im Auftrag der Regierung vorgelegten Bericht zur Unternehmensreform (Rapport Sudreau), der auch eine unternehmerische Mitbestimmung in Aktiengesellschaften sowie die Einführung von Sozialbilanzen empfahl. Deren jährliche Erstellung wurde 1977 für Unternehmen ab 300 Beschäftigten beschlossen, welche diese Berichte über die soziale Entwicklung im Betrieb ab 1983 jährlich vorlegen mussten.7 Die Zahl der SCOP-Gründungen nahm ab 1978 sprunghaft zu. Zwischen Januar 1978 und Dezember 1982 verdoppelte sich die Zahl der Produktionsgenossenschaften. Im Dezember 1983 waren in 1.300 französischen SCOPs 41.000 Personen angestellt, von denen 24.000 auch Genossenschafter ihrer Unternehmen waren.8 Der Anteil der Gründungen aus Belegschaftsübernahmen an den Neugründungen von Produktionsgenossenschaften insgesamt betrug 1981/1982 32 Prozent.9 Ihnen kam in Bezug auf die Arbeitsplatzsicherung also eine erkennbare Bedeutung zu. Ihr Dachverband, die Confédération Générale des SCOP (CG SCOP), verbesserte in diesem Zuge deutlich ihre Beratungs- und Vernetzungsangebote. Obwohl die CG SCOP sich 1985 in einem Planvertrag mit der Linksregierung sogar auf eine bestimmte Zahl zu schaffender Arbeitsplätze in den SCOPs einigte, nahmen die Belegschaftsübernahmen als SCOP nach 1983 wieder ab. An ihre Stelle traten infolge eines neuen Gesetzes von 1984 häufiger Formen des „Management Buyout“, denen unter dem Titel der „Reprise Employés Salariés“ (RES) Steuererleichterungen verschafft wurden. Die Beteiligungskriterien waren hier wesentlich geringer und häufig nur die leitenden Angestellten die Unternehmensgründer.10 Der Gründungsboom für SCOPs war also kurz. Verschiedene politische Seiten aber erkannten ihnen seit Ende der 1970er Jahre eine Rolle bei der Arbeitsplatzsicherung zu. Sie wurden zu einem häufiger genutzten Mittel der lokalen und regionalen Arbeitsmarktpolitik.11
7
Vgl. Chatriot, Alain: „La réforme de l’entreprise – du contrôle ouvrier à l’échec du
8
Vgl. Demoustier, Danièle: Les coopératives de production, Paris 1984, S. 35.
9
Vgl. ebenda, S. 36.
projet modernisateur“, Vingtième siècle 114 (2012), S. 183-197.
10 Vgl. Schwenkedel, Stefan: Management Buyout: Ein neues Geschäftsfeld für Banken, Wiesbaden 1991, S. 24f. 11 Die Gesamtzahl an SCOPs ist heute dennoch höher als in den 1980er Jahren. Für 2015 gibt die CGSCOP die Zahl von 2.815 Unternehmen mit 51.500 Beschäftigten
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Die Finanzierung von L.I.P. wurde 1980 in wesentlichen Teilen von mutualistischen Rentenkassen getragen, die als Mitglieder des Comité de Coordination des Œuvres Mutualistes et Coopératives de l’Éducation Nationale (CCOMCEN) am Zustandekommen des Unternehmensplans für L.I.P. beteiligt gewesen waren. Dieser Zusammenschluss von Vereinen, Genossenschaften und Förderbanken im Bildungssektor war 1978 von der Metallgewerkschaft der CFDT für die finanzielle Unterstützung gewonnen worden. Da das CCOMCEN dem Bildungsministerium als Aufsichtsbehörde unterstellt war, war diese Beteiligung von der Zustimmung der Fachebene im Ministerium und der Unterschrift des Ministers abhängig gewesen.12 Die Subvention, die der Stadtrat von Besançon am 30. März 1979 beschloss, hatte der Genossenschaft L.I.P. die Verhandlungen mit dem Konkursverwalter über den Kauf der Marke LIP und der nötigen Maschinen erleichtern und den Druck im Sinne einer Einigung erhöhen sollen. Der Präfekt protestierte gegen diese Subvention, weil diese seiner Auffassung nach eine Einmischung in die laufenden Verhandlungen mit dem Industrieministerium und dem CIASI (Comité Interministériel pour l’Aménagement des Structures Industrielles) bedeutete.13 Die in der Aufstellung genannten Beteiligungsdarlehen – „prêts participatifs“ – sind insofern eine Besonderheit, als es sich bei ihnen de facto um langfristige Kredite handelt, die in der Bilanz jedoch als Teil des Eigenkapitals verbucht werden. Das diesbezügliche Gesetz von 1978 wurde von der Linksregierung 1983 noch einmal erneuert, um bei Aktiengesellschaften im Staatssektor und im Genossenschaftsbereich Möglichkeiten der Kapitalbeteiligung zu verbessern, die keine Veränderung der Stimmverhältnisse in den betroffenen Unternehmen bedeuteten.14 Angesichts des geringen Finanzaufwands, den der französische Zen-
an, vgl. http://www.les-scop.coop/sites/fr/les-chiffres-cles/, abgerufen am 20. Oktober 2016. 12 Vgl. Briefwechsel in FGM 1 B 577. Das CCOMCEN war 1947 gegründet worden. In der Rekonstruktionsphase der Nachkriegszeit gründeten sich auch in anderen Bereichen, etwa der Landwirtschaft und der Sozialen Arbeit, solche Zusammenschlüsse. Zunächst relativ unabhängig, nahmen deren Abhängigkeit von Zuschüssen und die Anbindung an staatliche Politik jedoch sukzessive zu, vgl. Demoustier, Danièle: „Économie sociale et politiques publiques – une construction chaotique en France“, in: Chaves, Raphael und Danièle Demoustier (Hrsg.): The emergence of the Social Economy in Public Policy – An international Analysis, Brüssel 2013, S. 221. 13 Vgl. Auszug aus dem Verhandlungsprotokoll des Stadtrats vom 28. Mai 1979, AN 19910541/13. 14 Vgl. das französische Gesetz Nr. 83-1 vom 3. Januar 1983.
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tralstaat über den Fonds du Développement Économique et Social (FDES) in der ersten Finanzierungsstruktur für L.I.P. hatte, wird noch einmal mehr deutlich, wie sehr die politischen Divergenzen die Verhandlungen bestimmt hatten. So hatte insbesondere die Industrie- und Handelskammer auf den Wegzug aus Palente gedrängt.15 Die Stadtverwaltung hoffte in erster Linie auf die Vermietung des Geländes an ein einzelnes, größeres Unternehmen; für sie war der Verbleib der LIP-Genossenschaften und die Vermietung der freiwerdenden Räume an weitere Unternehmen nur eine von mehreren Optionen gewesen. Und der Präfekt hatte in Briefwechseln mit dem Industrieministerium wiederholt sein deutliches Missfallen gegenüber den LIP-Gewerkschaftern ausgedrückt. Gegenüber der Stadtverwaltung versuchte er wiederholt, eine mögliche Einigung in Bezug auf das Grundstück zu verhindern.16 Tabelle 3: Finanzierungsstruktur für L.I.P., Sommer 1980 17 Teil des Kapitals Genossenschafter Expansionsfonds der CG SCOP Beteiligungsdarlehen CCOMCEN Beteiligungsdarlehen Banque Fédérative de Crédit Mutuel Beteiligungsdarlehen Stadt Besançon Kredite Fonds du Développement Économique et Social (FDES) Banken, erst 1982
2 Mio. FF 0,5 Mio. FF 8 Mio. FF 1 Mio. FF 2 Mio. FF 3 Mio. FF 1,5 Mio. FF
Die Industriehalle im Chemin des Montarmots im Stadtteil Orchamps, in die L.I.P. im März 1981 einzog, war etwa drei Kilometer vom Gelände in Palente
15 Vgl. Zwischenbericht des CIASI vom Frühjahr 1979, AN 19910541/13. In Besançon gab es im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1979 mehrere Treffen zwischen Stadtverwaltung, Industrie- und Handelskammer und LIP-Vertretern, vgl. deren Protokolle in AM 86 W 39. 16 Vgl. Mitteilungen von Präfekt Denieul, AN 19910541/13. 17 Vgl. SCOP information Les Industries de Palente No. 12, 9. Juli 1980, BDIC F Δ rés 702/22, und die Aufstellung für die Stadtverwaltung in AM 86 W 39.
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entfernt. Die Räume bekam die Genossenschaft von einer gemeinsamen Gesellschaft der Stadt und der Industrie- und Handelskammer vermietet. Die Stadtverwaltung bemühte sich nach wie vor um den Kauf den LIP-Geländes, für das sie im April 1977 ein erstes Gebot beim Konkursverwalter eingereicht hatte. Wesentlich kleiner als das Gelände des alten Unternehmens, war die Halle im Chemin des Montarmots zwar räumlich geeignet, verfügte aber über keinerlei Anlagen. Sämtliche Maschinen mussten aus Palente mitgebracht und in der Halle einige Anpassungsarbeiten verrichtet werden, was den Umzug verteuerte. Der Kauf der Marke dagegen geschah zu einem günstigen Preis. Sie wurde der Genossenschaft im August 1980 vom Konkursverwalter für 500.000 FF übertragen. Für den Kauf der Maschinen und Anlagen war mit dem Konkursverwalter die Zahlung von 22 Mio. FF vereinbart worden, die gestreckt über die nächsten 15 Jahre abgezahlt werden sollten. Einige dieser Maschinen waren jedoch bald erneuerungsbedürftig, da sie sich weitgehend auf dem Stand von 1973 befanden. Außerdem bedingte die Umstellung auf neue Produkte in der Mechanikabteilung einigen Investitionsbedarf. Mehrere Faktoren belasteten also das junge Unternehmen. Die Uhren- und die Mechanikabteilung hatten darüber hinaus mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, die im Folgenden geschildert werden. Diese wurden auch in den Gremien der jungen Produktionsgenossenschaft diskutiert. Aufgebaut war Les Industries de Palente als SCOP in Form einer Aktiengesellschaft. Anders als in den meisten französischen Aktiengesellschaften und SCOPs hatte sie jedoch nicht einen mit allen geschäftsführerischen Vollmachten ausgestatteten Verwaltungsrat und einen Vorstandsvorsitzenden, der gleichzeitig Präsident des Verwaltungsrats gewesen wäre. Stattdessen wählten die Genossenschafter bei der Gründung die zweite rechtliche Möglichkeit, eine Struktur aus einem mehrköpfigen Vorstand und einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat. Dieser wurde von der Genossenschafterversammlung gewählt und bestand sowohl aus Beschäftigten der Genossenschaft als auch aus Personen des Unterstützer-Umfelds. Hierdurch sollte eine besondere Anbindung an die gemeinsamen Zielsetzungen – „un emploi pour tous à Palente“ – und an das politische Nahumfeld sichergestellt werden. Seit Anfang 1981 waren im Aufsichtsrat von den Geldgebern außerdem die CG SCOP und die MRIFEN (Mutuelle Retraite des Instituteurs et des Fonctionnaires de l’Éducation Nationale), eine mutualistische Rentenkasse im Bildungssektor mit jeweils einem Vertreter zugegen. Diese war als Mitglied des CCOMCEN mit einem Beteiligungsdarlehen über 4 Mio. FF der größte einzelne Geldgeber für L.I.P. Nach der Satzung von L.I.P. war die Hauptaufgabe des Aufsichtsrats „die permanente Kontrolle der Unternehmensführung in der Genossenschaft“. Dies umfasste zunächst die Buchführung und wichtige Unter-
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nehmensentscheidungen, nach dem gemeinsamen Selbstverständnis der Genossenschafter aber auch eine Begleitung der sozialen Verhältnisse im Betrieb. Schließlich sollte der Aufsichtsrat alle vier Jahre den Vorstand wählen, welcher auf Vorschlag des Aufsichtsrats von einer Genossenschafterversammlung abgewählt werden konnte.18 Dem Vorstand gehörten neben dem Vorsitzenden Libéro Penna die Abteilungsleiter Gérard Cugney (Mechanik) und Raymond Burgy (Uhren) an, sowie Michel Garcin als Verantwortlicher für „Organisation, études et développement“. Dieser war an ein bis zwei Tagen in der Woche im Betrieb zugegen.19 Den Vertrieb leitete Bruno Parmentier, der von seiner Anstellung bei Syndex zu L.I.P. gekommen war und vorher in einer Industriekooperative in Mexiko gearbeitet hatte. Als Werkstattleiter arbeiteten in der Mechanikabteilung Charles Piaget (Kleinserien) und André Muller (Großserien). Neben den Werkstattleiterposten waren also auch zwei der vier Plätze in der Geschäftsführung von Gewerkschaftern besetzt. Welche konkreten Probleme gab es in den einzelnen Abteilungen und wie wurde mit diesen umgegangen? In der Uhrenabteilung stellte sich hauptäschlich die Aufgabe, eine kohärente Uhrenkollektion einzuführen und Absatzwege zu finden, die die bislang dominanten Verkäufe über Betriebsräte und Gewerkschaftsgliederungen ergänzen oder ersetzen konnten. Letzteres gestaltete sich besonders schwierig, da das Vertrauen der Uhrenhändler im Laufe der Konkursverfahren und durch die bis zum März 1981 durchgeführten „wilden“ Verkäufe stark eingeschränkt war. Dennoch versuchten die Zuständigen in der Genossenschaft zunächst, über den vormals etablierten Vertriebsweg durch die Fachhändler an das Markenimage von LIP und die bisherigen Käufergruppen anzuschließen. Je weniger aussichtsreich dies mit der Zeit erschien, desto vielfältiger und disparater wurden die Bemühungen, andere Vertriebswege aufzutun. Diese beinhalteten neben Sammelbestellungen durch Betriebsräte auch anderweitige Direktverkäufe sowie den Versuch, die Marke LIP in Kaufhäusern zu etablieren.20 Das Büro der Amis de Lip kritisierte im Juni 1981, dass bis jetzt keine kohärente Vertriebsstrategie entwickelt worden sei und die „brüsken“ Wechsel in den Vertriebswegen diese noch zusätzlich erschwerten. Hiermit schlossen sie sich der Position einiger Mitglieder des Aufsichtsrats an, die deswegen mit dem Vorstand und dessen Vorsitzenden Libéro Penna seit einigen Monaten im Konflikt lagen. Darüber hinaus äußerten sie die Sorge, dass sich zukünftig steigende Absätze nicht entsprechend in Arbeitsplätzen bei L.I.P. niederschlügen. Da ein Großteil
18 Vgl. die Satzung der SCOP L.I.P., BDIC F Δ rés. 702/22. 19 Vgl. das Organigramm von 1980 in BDIC F Δ rés. 702/22. 20 Vgl. SCOP Information Les Industries de Palente No. 1-25, BDIC F Δ rés. 702/22/2.
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der Vorprodukte von außen eigekauft wurde, wäre die zusätzliche Arbeit zum großen Teil dort geleistet worden.21 Im Laufe des Jahres 1981 hatte es mehrere Vertreterwechsel gegeben, auch im Betrieb selbst hatten mehrfach Verkaufsverantwortliche gewechselt, anlässlich von Streitigkeiten zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat 1981 sogar zum ungünstigsten Zeitpunkt kurz vor der Frühlingssaison im Mai und Juni (vgl. 6.2).22 Als zum Mai 1982 ein interimistischer durch einen neu eingestellten Verkaufsleiter ersetzt wurde, arbeiteten für L.I.P. insgesamt zehn Vertreter auf Provisionsbasis. Für die Verkaufssaison im Mai und Juni wurden außerdem fünf Verkäuferinnen mit befristeten Verträgen eingestellt.23 Die bezüglich der Kollektion von der Genossenschafterversammlung vorgegebenen Grundorientierungen waren vage gehalten, richteten sich aber nach dem gewachsenen Bild der Marke LIP: „Fortgesetzte Aufwertung der Marke, die ein starkes Image in den verschiedenen Vertriebsnetzwerken behalten muss, in denen sie aktuell eingeführt ist. Der Stil und die Preise sollen diese Positionierung sicherstellen, indem bevorzugt die rentabelsten Absatzwege gesucht werden.“24 Eine zu Beginn des Jahres 1982 durchgeführte Kundenbefragung stellte die Voraussetzungen fest, unter denen auch weiter die Markenentwicklung betrieben werden sollte: „Für den Konsumenten ist eine LIP-Uhr eine Uhr mit Zeigern, klassischer Erscheinung, gepflegt, von Qualität, langlebig. Sie ist das Produkt einer FRANZÖSISCHEN Marke [Hervorhebung i.O.]. Der Endkunde ist allgemein mittlerer Angestellter, Beamter oder hochqualifizierter Selbständiger, sein Einkommen liegt zwischen 6.000 und 12.000 FF im Monat.“25
21 Brief des Büros der „Amis de Lip“ an den Generalsekretär der CGSCOP, François Espagne, vom 2. Juni 1981, unterzeichnet von Pierre Besançon, Jean-Pierre Rueff, Jean Raguenès und Dominique Bondu, BDIC F Δ rés. 702/22/3. Mit diesem baten die Unterzeichnenden die die CGSCOP um Hilfestellung bei der Beilegung des seit Monaten schwelenden Konflikts zwischen Teilen des Aufsichtsrats (v.a. Roland Vittot und Bruno Parmentier) und dem Vorstandsvorsitzenden Libéro Penna, vgl. Abschnitt 6.2. 22 Vgl. SCOP Information Les Industries de Palente No. 22, 24. September 1981., Protokoll der Genossenschaftervsammlung vom 25. Juni 1982, AM 86 W 43. 23 Vgl. SCOP Information Les Industries de Palente No. 25, 3. Mai 1982. 24 Vgl. ebenda. 25 Präsentation der unternehmerischen Pläne Chaniots vor der CMPDE, AM 81 W 42.
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Diese hergebrachten Kundengruppen blieben auch in der Folge weiter die Zielgruppe. An die unter Claude Neuschwander mit einigem Aufwand betriebenen Bemühungen, jüngere Käuferschichten mit unkonventionellen Modellen anzusprechen, wurde nicht angeknüpft. Als ein älterer Deutscher 1981 an die Firma LIP schrieb, waren seine Worte vielleicht nicht so untypisch für das Verhältnis der „alten“ Kunden zu den LIP-Uhren: „Sehr geehrte Herren! Möchte Ihnen mit diesen Zeilen meine Anerkennung Ihrer Erzeugnisse aussprechen. Seit dem Jahre 1939 bis heute – also über 40 Jahre – trage ich eine LIP Nautic Armbanduhr. In diesen über 40 Jahren ist die Uhr niemals stehengeblieben und bis heute keine Reinigung und auch kein Glas gebraucht (sic). Leider beschädige ich an meinen Hemden alle Manschetten durch die Uhr. Vielleicht freuen Sie sich über diese angenehme Nachricht.“26
Die wichtigste Veränderung in der Vertriebsstrategie war aufgrund der ausbleibenden Erfolge der eigenen Bemühungen der Abschluss eines Vertrags mit der Société Mortuacienne d’Horlogerie (SMH) in Morteau, die neben ihrer eigenen, günstigeren Marke Kiplé nun die LIP-Uhren in die Kaufhäuser bringen sollte. Bis zum Jahresende wurden LIP-Uhren in 500 Kaufhäusern angeboten, 25.000 von 55.000 verkauften LIP-Uhren wurden 1982 auf diesem Weg vertrieben, 25.000 durch Direktverkäufe und 5.000 im Export.27 Dennoch machte die Uhrenabteilung 1982 deutliche Verluste. Fünf Personen montierten dort die Wanduhren aus Holz, die die Genossenschaft CAP vertrieb, und acht Personen arbeiteten Zulieferaufträge für France Ébauches ab.28 Diese beiden letzten Geschäftszweige spielten 1983 nicht mehr die eigenen Lohnkosten ein. Auch die nur langsam vollzogene Diversifizierung trug zu den Verlusten der Abteilung bei. Dies betraf vor allem die Entwicklung und den Vertrieb von miniaturisierten Spulen für Elektronikanwendungen, wo elf Personen beschäftigt waren. Ein diesbezüglicher Vertrag mit IBM, der 1981 abgeschlossen wurde, ging erst im folgenden Jahr in die Produktion. Neben der Arbeit an den Spulen arbeiteten noch acht Personen in der Uhrenreparatur und nur noch elf Personen in der Produktion von Armbanduhren. Insgesamt beschäftigte die Abteilung 1982 49 Personen.29 Die Betätigung im Bereich der Spulen hatte auch größere Investitionen erfordert, so
26 Brief von 1981, ADD 45 J 83. 27 Vgl. Plan de développement 1983, AM 86 W 43. 28 Vgl. Plan de développement 1983, Annexe 11, AM 86 W 43. 29 Vgl. Plan de développement 1983, Annexe 11, AM 86 W 43.
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mussten zwei automatische Spulenwickler zum Preis von je 150.000 FF gekauft werden. Die Mechanikabteilung stand in der ersten Zeit hingegen vor allem vor dem Problem, Aufträge im Bereich der Großserienproduktion einzuwerben. Diese waren besonders wichtig, um für die angelernten Arbeiterinnen und Arbeiter im Betrieb und möglicherweise weitere Einzustellende Beschäftigung zu kreieren. Vor allem aus diesem Grund bemühte sich der Vorstand seit 1980 wiederholt um Rüstungsaufträge, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zustande kamen (vgl. Kapitel 4). Andere Tätigkeitsbereiche, welche L.I.P. in einem 1980 produzierten Katalog für mögliche Auftraggeber präsentierte, existierten nicht mehr: So waren dort noch diverse Galvanisierungsarbeiten als Teil des Produktionsprofils vorgestellt worden, die von der großflächigen Verzinkung bis zur Versilberung und Vergoldung im Miniaturbereich für die Anwendung in der Elektronikindustrie reichten.30 Mit dem Umzug wurde jedoch auf die Uhrengehäuseabteilung und die mit ihr verbundene Galvanikwerkstatt verzichtet. Außerdem waren 1978 und 1979 noch auf dem besetzten Betriebsgelände bereits für namhafte Kunden wie den staatlichen Stromversorger EdF, für CIT Alcatel, Thomson und Alsthom Produkte aus Plastik (Schalter für Fernseher) und Metall sowie für Glasfaserkabel hergestellt worden.31 Die Zulieferaufträge im Bereich der Luftfahrtindustrie – Elemente für Landeklappen – liefen 1982 aus.32 Davon abgesehen hatte die Abteilung permanent mit der Überalterung der Maschinen zu kämpfen. Diese befanden sich im Wesentlichen auf dem technischen Stand, auf dem sie auch 1973 schon gewesen waren. Im November 1980 wurde eine erste elektronisch gesteuerte Fräse zum Preis von 270.000 FF angeschafft, im Mai 1982 eine elektronisch gesteuerte Drehmaschine zum Preis von 470.000 FF.33 Auch die beiden IG-Metall-Kollegen Horst Sackstetter und Bernd Meyerspeer, die L.I.P. 1982 besuchten, waren erstaunt, dass es in einem Betrieb wie L.I.P. nur zwei elektronisch gesteuerte Maschinen gab.34 Durch die hohen Verluste des Jahres 1982 – fast 8 Mio. FF – waren die finanziellen Reserven des Unternehmens für den laufenden Betrieb weitgehend
30 Vgl. Präsentation des Produktionsprofils von L.I.P. 1980, Abschnitt „Traitement des surfaces“, AM 86 W 39. 31 Vgl. ebenda, Abschnitt „références“, AM 86 W 39. 32 Vgl. Plan de développement 1983, AM 86 W 43. 33 Vgl. SCOP Information Les Industries de Palente No. 25, BDIC F Δ rés. 702/22/2. 34 Vgl. Meyerspeer, Bernd und Horst Sackstetter: „Was ist eigentlich aus Lip geworden?“, express – Zeitschrift für sozialistische Gewerkschafts- und Betriebsarbeit 6 (1982), S. 7-10.
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aufgebraucht, weshalb neue Geldmittel eingeworben werden mussten. Seit einiger Zeit bereits schwelte ein Streit um den Vorstandsvorsitzenden. Dieser warf den Aufsichtsratsmitgliedern eine zu starke Einmischung in geschäftsführerische Belange vor und erhielt in seiner Position Unterstützung von der CG SCOP.35 Der Aufsichtsrat warf Libéro Penna im Gegenzug einen Mangel an Strategie vor. Auf Initiative des Vorstands fand in der Präfektur von Dijon ein Krisentreffen zwischen der Geschäftsführung von L.I.P., den Mitgliedern des Aufsichtsrats und einer Delegation der Finanziers von L.I.P. statt. Michel Rocard, mittlerweile Minister für Planung und Raumordnung, hatte ebenfalls eine Delegation zu diesem Treffen geschickt, die von François Soulage geleitet wurde. Dieser bekleidete seit kurzem den Posten des „Délégué Interministeriel pour l’économie sociale“, den Rocard eingerichtet hatte. Mit der Gründung des Institut pour le Développement de l’Économie Sociale (IDES) als Beteiligungsgesellschaft für die „Économie Sociale“ im März 1983 übernahm Soulage dessen Leitung. Die Streitigkeiten zwischen Geschäftsführung und Aufsichtsrat bei L.I.P. waren schließlich ausschlaggebend dafür, dass die Geldgeber die Verhandlungen über einen neuen Finanzierungsplan von der Einsetzung eines allein zuständigen Vorstandsvorsitzenden und Präsidenten eines Verwaltungsrats abhängig machten.36 Zum 1. Januar 1983 wurde Maurice Chaniot als Vorstandsvorsitzender eingestellt. Um die Satzung der Genossenschaft zu ändern und Chaniot auch mit dem Vorsitz eines an die Stelle des Aufsichtsrats tretenden Verwaltungsrats zu betrauen, fand am 4. Februar 1983 eine außergewöhnliche Genossenschafterversammlung statt. Die Satzungsänderung wurde einstimmig beschlossen.37 Chaniot leitete mit dem Verwaltungsrat nun ein Gremium, welches nicht mehr nur Kontrollfunktionen hatte und insofern ein Gegengewicht zur Geschäftsführung darstellte, sondern mit sämtlichen geschäftsführerischen Vollmachten ausgestattet war.38 Dies bedeutete eine deutliche Angleichung an die Strukturen des größten Teils der französischen Aktiengesellschaften und der Mehrheit der SCOPs. Acht der durch die Genossenschafterversammlung gewählten Personen im Verwaltungsrat sollten satzungsgemäß Beschäftigte der Genossenschaft und vier Mitglieder Vertreter der übrigen Geldgeber sein. Der Betriebsausschuss war durch
35 Vgl. Protokoll der außerordentlichen Genossenschafterversammlung vom 4. Februar 1983, BDIC F delta rés 702/22/3. Die Mehrzahl der SCOPs in Frankreich hatte diese Struktur aus Aufsichtsrat und PDG. 36 Vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014. 37 Vgl. Protokoll der Genossenschafterversammlung vom 4. Februar 1983, AM 86 W 42. 38 Vgl. die Satzung der SCOP L.I.P. von 1983, AM 86 W43.
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zwei Vertreter mit Rederecht vertreten, wie in Aktiengesellschaften üblich. Die enge Verbindung mit den übrigen aus LIP hervorgegangenen Genossenschaften sowie den anderen ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeitern verschwand also aus der Struktur der Produktionsgenossenschaft L.I.P., während die externen Geldgeber eine direkte Vertretung im Verwaltungsrat erhielten, einem Gremium mit geschäftsführerischen Vollmachten. In der Folge wurde zunächst vom 1982 als staatliche Wirtschaftsförderungseinrichtung gegründeten Comité Interministeriel pour la Restructuration Industrielle (CIRI) eine Expertise in Auftrag gegeben, die als Grundlage für den neuen Finanzierungsplan diente.39 Dem sozialistischen Industrieminister Jean-Pierre Chevènement und seinem Fachreferenten Bruno Gazeau gelang es außerdem, den Kontakt zur Uhrenbranche wiederzubeleben, sodass sich die Société pour le Développement de l’Horlogerie (SDH) ebenfalls bereiterklärte, an dem Finanzierungsplan mit einer Kapitalbeteiligung mitzuwirken. Hintergrund für diese unerwartete Aufnahme enger Beziehungen zwischen der Branche und L.I.P. waren der Vertrag mit Kiplé und die dortigen Arbeitsplätze sowie die Hoffnung, in der Folge leichter auch in anderen Fragen die Unterstützung der Regierung für die Branche gewinnen zu können.40 In Abstimmung zwischen dem Delégué à l’Économie Sociale, der CG SCOP, der zuständigen Abteilung des Industrieministeriums, dem CIRI und dem Vorstand von L.I.P. – nun allein durch Maurice Chaniot vertreten –, wurde schließlich ein Plan ausgearbeitet.41 Insgesamt konnten 7,6 Mio. FF mobilisiert werden.
39 Vgl. Expertise der Unternehmensberatung Martichoux, FGM 1 B 578. 40 Vgl. Brief von Minister Jean-Pierre Chevènement an Jacques Chérèque vom 9. Februar 1983, FGM 1 B 578. 41 Vgl. Protokoll des Treffens vom 31. März 1983 im Industrieministerium zwischen Chaniot (L.I.P.), Soulage und Hipszmann (Délégation à l’Économie Sociale), Courtoux (CGSCOP), Savoye (Industrieministerium), Dalin und Carton (SDH), AN 1985 0508/21.
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Tabelle 4: Finanzierungsstruktur L.I.P. 1983 42 Kapitalbeteiligungen Institut de Développement de l’Économie Sociale (IDES) MACIF43 MAIF (Mutuelle d’Assurance des Instituteurs de France) SDH Beteiligungsdarlehen FDES Banque Fédératif de Crédit Mutuel Caisse Centrale de Crédit Coopératif Crédit d’Équipements des Petites et Moyennes Entreprises
2 Mio. FF 0,5 Mio. FF 0,5 Mio. FF 0,3 Mio. FF 0,7 Mio. FF 2 Mio. FF 3,3 Mio. FF 0,8 Mio. FF
Die Kredite der Genossenschaftsbanken wurden zum Teil über Bürgschaften der Stadt Besançon in Höhe von 1,25 Mio. FF und zum Teil über über Bürgschaften des IDES und der Region gesichert.44 Die CFDT-Gewerkschafter von LIP hatten mit der Genossenschaftsgründung 1977 auch die Hoffnung verbunden, dass eine mögliche linke Regierung im Anschluss an die Wahlen vom März 1978 mit einem kohärenten Plan für die Uhrenindustrie, mit Staatsaufträgen für L.I.P. und einer engeren Kooperation mit der weiter zu entwickelnden Elektronikindustrie hilfreich zur Seite stehen könnte. Bereits vor der Wahl wurden sie in ihrem diesbezüglichen Elan deutlich gebremst.45 Nun, wenige Jahre später und mit wesentlich geringeren Ambitionen, wurde der Genossenschaft L.I.P. doch noch die Hilfe der 1981 angetretenen Linksregierung zuteil. Einen neuen Plan für die Uhrenbranche hielt diese nicht bereit, und neue Staatsaufträge lockten allenfalls im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen. Die Interventionen Jean-Pierre Chevènements und Michel Ro-
42 Vgl. Briefwechsel zwischen dem Präfekten Jean Amet und Maurice Chaniot, Brief Amets vom 6. Juli 1983, AM 86 W 42. 43 MACIF: Mutuelle d’Assurance des Commerçants et Industriels de France et des Cadres et des Salariés de l’Industrie et du Commerce. 44 Vgl. Stadtratsbeschluss vom 5. September 1983, AM 86 W 43. 45 Vgl. Artikel „Qu’attendent les LIP d’une victoire de la gauche?“, in LIP Unite Série 2, No. 11, Januar-Februar 1978, BDIC F Δ rés. 702/1.
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cards beziehungsweise ihrer maßgeblich mit den technischen Details befassten Fachreferenten Bruno Gazeau und Michel Soulage zeugen von deren ehrlichem Engagement in Bezug auf eine Unterstützung der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter. Der Arbeitskampf von 1973 und seine Symbolik waren ihnen durchaus eine Verpflichtung. Allerdings trug gerade die Hilfe derjenigen, die die Auseinandersetzung von 1973 am öffentlichkeitswirksamsten als „Selbstverwaltungskonflikt“ interpretiert hatten – zu diesen gehörte Michel Rocard –, nun dazu bei, die letzten Strukturen bei L.I.P. abzuschaffen, die diese Genossenschaft auf der unternehmerischen Ebene noch an die übrigen um Arbeitsplätze kämpfenden ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter sowie das geteilte Unterstützerumfeld banden. Mit der Abschaffung des Aufsichtsrats entfiel eine Kontrollinstanz, die den Kontakt zwischen den verschiedenen aus LIP hervorgegangenen Genossenschaften sowie eine weitere Anbindung an das gewerkschaftliche und politische Umfeld hatte sicherstellen sollen. Dass der Vorsitz über den Verwaltungsrat nun beim alleinigen Geschäftsführer lag, bedeutete eine weitere Entmachtung der Beschäftigten von L.I.P. auf der Unternehmensebene. Das Prinzip des „one (wo-)man, one vote“ in der Genossenschafterversammlung war bereits seit der Verhandlung des ersten Unternehmensplans durch die faktische Macht der Geldgeber eingeschränkt. Mit der direkten Präsenz der Geldgeber im Verwaltungsrat war nun vollends klar, dass gegen deren Willen keine Entscheidung auf der Genossenschafterversammlung gefällt werden würde. In diesem Sinne ist wohl auch die Einstimmigkeit bei der Anpassung der Statuten zu verstehen. Umso paradoxer erscheint dies, da die bei L.I.P. zum Tragen kommenden wirtschaftspolitischen Instrumente von der Linksregierung gerade eingeführt wurden, um den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für eine Demokratisierung der Wirtschaft miteinander zu verbinden. Die Politik des sozialistischen Industrieministers Jean-Pierre Chevènement zielte auf eine Stärkung der einheimischen Industrieproduktion in Frankreich entlang möglichst geschlossener und gut koordinerter Produktionsketten.46 Als Nationalversammlungsabgeordneter der PS für das Territoire de Belfort (1973-1986) und Mitglied des Conseil Régional der Franche-Comté (1974-1988) war er mit den Problemen der Region ebenso vertraut wie mit dem Fall LIP.47 1976 war er Mitglied des Sonderausschusses gewesen, den der Conseil Régional anlässslich der Probleme von LIP eingerichtet hatte. Am 17. November 1976 hatte er in der Nationalversammlung
46 Vgl. Smith, Rand W.: The Left’s Dirty Job – The Politics of Industrial Restructuring in France and Spain, Pittsburgh/Toronto 1998, S. 70ff. 47 1981 übernahm Jean-Pierre Chevènement auch den Vorsitz des Conseil Régional.
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die Politik seines Vorgängers d’Ornano in Bezug auf LIP und die Uhrenindustrie im Allgemeinen in deutlichen Worten kritisiert.48 Ein kohärenter Plan für die Uhrenindustrie, den er in diesem Zusammenhang aus dem Industrieministerium gefordert hatte, kam auch unter seiner Ministertätigkeit nicht zustande. Die Ende der 1970er Jahre begonnenen Versuche, die bisher in der Uhrenindustrie nicht präsente Firma Matra zum Leitunternehmen der Branche zu machen, entsprachen den Vorstellungen einheimischer Produktionsketten, wie auch er sie vertrat. Diese scheiterten jedoch am Widerwillen der verschiedenen beteiligten Akteure.49 Allgemein konfligierte die Industriepolitik Chevènements bald mit der 1983 vollzogenen Wende der Regierung zur Austeritätspolitik. Im März 1983 trat Chevènement im Rahmen der hierum geführten Dispute zurück.50 Michel Rocard hingegen gehörte zu den Befürwortern dieser politischen Wende, die auf eine Bekämpfung der Inflation durch Lohnzurückhaltung sowie eine Verringerung der Staatsausgaben zielte und private Investitionen durch Steuererleichterungen für Unternehmen anregen wollte.51 Zum Zeitpunkt des ersten LIP-Konflikts war Rocard noch Vorsitzender der PSU gewesen. 1974 wechselte er in die Sozialistische Partei (PS) und gehörte dort zu jenen Stimmen, die am deutlichsten den Begriff der Selbstverwaltung in die Debatten brachten, gleichzeitig aber dessen unternehmerische Aspekte beständig in den Vordergrund rückten. Früh verbanden sich in der PS-Strömung des Rocardisme Forderungen nach politischer und ökonomischer Dezentralisierung mit der Betonung von Flexibilität und einer grundsätzlichen Akzeptanz von Marktmechanismen.52 Seit den späten 1970er Jahren erfuhr bei Michel Rocard der Begriff der Écono-
48 Vgl. Journal Officiel No. 107 AN, 18. November 1976, S. 8140f. 49 Zu diesen Umstrukturierungsversuchen vgl. Ternant, Évelyne: „L’affaiblissement du SPL horloger Franc-Comtois depuis le milieu des années 70 : mythes et réalités historiques“, in Daumas, Jean-Claude (Hrsg.): Les systèmes productifs de l’Arc jurassien, Besançon 2004, S. 178ff. 50 Vgl. Smith, Rand W.: The Left’s Dirty Job, S. 77f. 51 Vgl. Steinhilber, Jochen: Die „Grande Nation“ und das „Haus Europa“: Frankreichs widersprüchlicher Entwicklungsweg, Hamburg 2000. 52 Vgl. hierzu kritisch den Artikel „Michel Rocard et la crise“ in der Zeitschrift seiner alten Partei, der PSU, Tribune Socialiste No. 635, 22. November 1974, S. 6. Jean Verger bespricht darin Rocards Buch Propositions pour sortir de la crise. Rocards Positionen in Bezug auf den Markt kritisierte Léo Goldberg in Tribune Socialiste No.714, 20. Oktober 1977, S. 4. Besondere Kritik provozierte Rocards These, dass, wenn die Linke die Wahlen gewinne, „der größte Teil der Wirtschaft privat bleiben wird“ und dass „der Markt das Regulationssystem bleiben wird“ (zit. ebenda).
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mie Sociale – Sozialwirtschaft – im Rahmen der Diskussionen um das Regierungsprogramm der Linken eine wichtigere Rolle. In Kontakten mit Trägern von Pflege und Sozialer Arbeit sowie genossenschaftlichen Rentenkassen wurde die Stärkung dieses Sektors vorbereitet.53 Die Économie Sociale bezeichnet demnach jenen Bereich der Wirtschaft, der nicht oder nicht nur profitorientiert ist, sondern sich vorrangig sozialen Zielen verpflichtet. Hierzu gehören Unfall- und Krankenkassen, Hilfsvereine und Genossenschaftsbanken, aber eben auch Produktionsgenossenschaften in der industriellen Fertigung. Rocards Auffassung zufolge sollten diese etwa Ziele des Arbeitsplatzerhalts oder der Demokratisierung der Wirtschaft verfolgen.54 Dass in der Begriffsdefinition keine Trennung zwischen „sozialen“ und „wirtschaftlichen“ Betätigungsfeldern vorgenommen wurde, entsprach jenen Aspekten des Selbstbilds dieses Sektors, welche Rocard stärken wollte. Demnach sollte von diesem Sektor ausgehend ein anderes Verständnis von „Wirtschaft“ denkbar sein, das gegenseitige Hilfe und Solidarität in den Mittelpunkt stellte und sich keinesfalls auf die klassischen Felder sozialer Tätigkeit beschränken müsse.55 In den Vorstellungen Rocards war dieser „Dritte Sektor“ neben dem Privatsektor und dem Staatssektor ein wichtiger Motor bei der Demokratisierung der Wirtschaft ebenso wie bei deren flexibler Anpassung an veränderte Marktbedingungen und die gestiegene Arbeitslosigkeit. Die Einrichtung eines Delégué à l’Economie Sociale sowie des Institut de Développement de l’Économie Sociale (IDES) fügten sich hier ein. Das IDES war eine als Aktiengesellschaft verfasste Beratungs- und Beteiligungsgesellschaft, an der die Akteure der Économie Sociale 70 Prozent der Anteile hielten und der Staat dreißig.56 Mit der begrifflichen und institutionellen Verankerung der Économie Sociale wurde die Autogestion zunehmend aus dem Sprachgebrauch der „Rocardiens“ verdrängt. Zur effektiveren Implementierung der Strategie des „dritten
53 Vgl. Artis, Amélie: La finance solidaire : un système de relations de financement. Économies et Finances, Doktorarbeit, Grenoble 2011. 54 Ausgehend von der französischen Definition der „Économie Sociale“ wurden auch in der Europäischen Gemeinschaft seit Ende der 1980er Jahre Gremien zur Erforschung und Unterstützung der Sozialwirtschaft geschaffen, die dort heute als „Pol der Gemeinnützigkeit“ verstanden wird, Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (Hrsg.): Die Sozialwirtschaft in der Europäischen Union – Bericht des CIRIEC für die Europäische Union, Brüssel 2007, S. 13. 55 Vgl. Demoustier: Économie sociale et politiques publiques, S. 223. 56 Vgl. Kurzvorstellung des IDES und seiner wichtigsten Mitglieder: Crédit Mutuel, Crédit Coopératif, Banque Centrale des Coopératives et des Mutuelles, Genossenschaften des sozialen Wohnungsbaus und Versicherungsvereine, AM 86 W 43.
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Sektors“ wurden die Anschlüsse an bereits etablierte Strukturen gesucht. Die Selbstverwaltung wurde nun als Ergänzung der kapitalistischen Ökonomie verstanden und nicht mehr als Alternative zu ihr. Wo der Begriff der Autogestion weiter verwendet wurde, bezeichnete er häufig Versuche der Dezentralisierung oder schlicht Unternehmen in Belegschaftshand. Maurice Chaniot, der zum monatlichen Gehalt von 30.000 FF als Vostandsvorsitzender von L.I.P. eingestellt worden war, schien ein solches Verständnis von Selbstverwaltung nun auch auf der betrieblichen Ebene zu repräsentieren, wo er eine weitgehende Mitsprache der Beschäftigten mit dem ökonomischen Erfolg des Unternehmens L.I.P. zu verbinden versprach. Politisch war Chaniot als PS-Abgeordneter Mitglied des Conseil Régional. Beruflich hatte er nach dem Abschluss der École Centrale – im selben Jahrgang wie Claude Neuschwander – zunächst als Produktionsleiter und schließlich als Direktor beim Lebensmittelkonzern Bel gearbeitet. Ab 1976 war er als Generaldirektor des Centre d’Études Supérieures Industrielles (CESI) tätig, jenes Erwachsenenbildungsinstituts, welches Claude Neuschwander 1974 mit der Fortbildung der leitenden Angestellten von LIP beauftragt hatte und dem damals auch von der CFDT großes Vertrauen entgegengebracht wurde.57 Nach außen präsentierte Chaniot L.I.P. auch 1986 noch als einen Betrieb, der von der Mitarbeit und Mitbestimmung aller lebte und gerade hieraus seinen ökonomischen Nutzen ziehen könne.58 Und in einem 1986 von ihm in der Zeitschrift „Autogestions“ veröffentlichten Beitrag zur Situation bei L.I.P. verglich er die Herausforderungen der selbstverwalteten Betriebe und der Stadtverwaltungen, bei denen zu dieser Zeit privatwirtschaftliche Instrumente Einzug hielten. Darin gab er an, ähnlich wie die Kollegen in der Stadtverwaltung von einer „administrativen Führung (geringe wirtschaftliche Risiken) zu einer unternehmerischen, das heißt transaktionellen Führung“ (gestion transactionelle) überzugehen und zu versuchen, „sich (…) eine Politik der transaktionellen Selbstverwaltung zu geben.“59 Diese letzte, sperrige Fomulierung schlägt den zumindest sprachlich im Französischen schnell möglichen Bogen zwischen der „autogestion“ – Selbstverwaltung – und der „gestion“ – Unternehmensführung. Ob Chaniot hiermit konkret ein „management by objectives“ mit klaren Zielvereinbarungen der jeweiligen Abteilungen verfolgte, wie es in der Managementli-
57 Vgl. Est Républicain 8.3.1983. 58 Vgl. den Fernsehbeitrag der 20-Uhr-Nachrichten von Antenne 2, 29. Mai 1986: „LIP, 13 ans après“, http://www.ina.fr/video/CAB86012967, abger. am 13. Oktober 2016. 59 Beitrag von Maurice Chaniot für die Zeitschrift Autogestions, Frühjahr 1986, ADD 45 J 90.
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teratur als „transactional leadership“ bekannt ist, und wie er die Abteilungen zu einer größeren Effizienz bewegen wollte, erschließt sich jedoch leider nicht.60 Im Gegensatz zur Behauptung, das Unternehmen gewinne gerade durch die Beteiligung aller, traf der Vorstand aber wesentliche Entscheidungen in der Folge im Alleingang. So nahm dieser im Herbst 1983 Verhandlungen mit den Firmen Kiplé und France Ébauches auf, um eine gemeinsame Vertriebsgesellschaft zu gründen, die es allen beteiligten Firmen ermöglichen würde, LIP-Uhren zu verkaufen.61 Als diese Konstruktion am Widerwillen France Ébauches und Kiplés scheiterte, verhandelte schließlich Raymond Burgy den vollständigen Verkauf der Marke LIP an Kiplé. Die Zahlung für den Kauf sollte in den nächsten Jahren durch eine schrittweise abzusenkende Beteiligung von L.I.P. an den Verkaufserlösen geschehen. L.I.P sollte weiter im Auftrag Kiplés LIP-Uhren herstellen, die Produktion aber nach und nach an Kiplé übergehen.62 Raymond Burgy selbst wechselte mit dem Verkauf der Marke als Einkaufsleiter zur Société Mortuacienne d’Horlogerie (SMH), dem Hersteller von Kiplé. Schon bald, im Herbst 1985, wurde beschlossen, auch die Reparaturabteilung einzustellen. Und Ende Mai 1986 verließ die letzte LIP-Uhr den Betrieb von Les Industries de Palente.63 Im Bereich der Zulieferaufträge sprangen wichtige Kunden 1985 ab: IBM und Dupont Nemours kündigten beide ihre jeweiligen Verträge für die Produktion von miniaturisierten Spulen. Dies vergrößerte die ohnehin bedenklichen Verluste der Uhrenabteilung, deren Diversifizierung in diesem Bereich die schrumpfende Uhrenproduktion ausgleichen sollte.64 Als L.I.P. 1986/87 die Hilfe des Centre d’Intervention Sociale et économique (CISE) in Anspruch nahm, um einen neuerlichen Plan zur Rettung des Unternehmens aufzumachen, konstatierten die Rapporteure: „Trotz der formal existierenden Strukturen – Verwaltungsrat, Comité de Gestion, leitende Angestellte (encadrement), seit Juni 1986 eingerichter Ausschuss – gibt es de facto keine Institution mit sozialer Verantwortung, die die großen Entscheidungen und die Unternehmenspolitik lenkt. Außerdem gibt es in dieser Situation, wo das Organi-
60 Zum „transactional leadership“ als Managementkonzept vgl. Bass, Bernard und Ronald Riggio: Transformational Leadership, New York 2014. 61 Vgl. Treffen Chaniots mit der Stadtverwaltung, Februar 1983, AM 85 W 42. 62 Zu den Details der versprochenen Zahlungen vgl. eine tabellarische Aufstellung, FGM 10 B 86. 63 Vgl. Bericht des Rechenschaftsbericht des Verwaltungsrats über das Jahr 1986, FGM 10 B 86. 64 Brief der CFDT-Sektion von L.I.P. an den Präfekten vom 7. Februar 1986, FGM 10 B 86.
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gramm auf den Président-Directeur-Général konzentriert ist, kein ausreichend starkes Engagement von seiner Seite bei der Durchsetzung der politischen und praktischen Entscheidungen.“65 Entsprechend forderte das CISE eine stärkere Beteiligung der Beschäftigten aus der Produktion im Verwaltungsrat und im Comité de Gestion ein. Die formale Struktur dieses noch während der Betriebsbesetzung eingerichteten Gremiums zur Koordinierung der Produktion bestand also fort, hatte jedoch keine praktische Bedeutung mehr. Die abermals hohen Verluste von 1986 sorgten dafür, dass der Vorstand 1987 auf der Genossenschafterversammlung nicht entlastet wurde. In der Sommerferienzeit meldete Maurice Chaniot schließlich unter Umgehung der Beschäftigten für das Unternehmen Konkurs an (vgl. Abschnitt 6.2). Tabelle 5: Umsatz und Gewinn/Verlust Les Industries de Palente 1981-1986 Umsatz Gesamt
Gewinn/Verlust
1981
17,5 Mio. FF
-4,2 Mio. FF
1982
23,1 Mio. FF
-8 Mio. FF
1984
18,3 Mio. FF
-3,3 Mio. FF
1985
18,8 Mio. FF
-2,3 Mio. FF
1986
17 Mio. FF
-3,2 Mio. FF
Manche der von Joëlle Beurier 1992 interviewten ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter stellten in ihrer Enttäuschung über einige leitende Figuren des Konflikts und der Genossenschaften fest: „Ils ont tiré les marrons du feu“.66 Diese Personen hätten also für sich individuell das Beste herausgeholt und dabei die Anderen vernachlässigt. Der Wechsel Raymond Burgys in die Vertriebsabteilung von Kiplé sowie Maurice Chaniots Gründung eines von ihm eigentümergeführten Unternehmens in der unmittelbaren Folge der Konkursanmeldung für L.I.P. verleihen dieser Behauptung für die genannten Einzelfälle Plausibilität. Die ökonomischen Schwierigkeiten von L.I.P. in den 1980er Jahren hingen auch
65 CISE: Présentation de notre travail le 13 et 14 octobre 1986, S. 4, FGM 10 B 86. 66 So gibt Beurier die wörtliche Formulierung mehrerer LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter wieder, zit. Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, unveröffentlichte Diplomarbeit, Paris 1992, S. 18. Die von ihr zitierten Passagen gehen bis hin zum Verdacht auf Diebstahl; dies zeugt vom persönlichen Klima nach 1976.
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mit dem von Burgy verhandelten Verkauf der Marke und der Unmöglichkeit zusammen, die Uhrenabteilung weiter zu entwickeln. Die Abkehr von der Uhrenproduktion vervollständigte den Weg in den Zulieferbetrieb. Mit dieser Struktur und der Abhängigkeit von wenigen, großen Auftraggebern hingen die ökonomischen Probleme von L.I.P. in erster Linie zusammen. Diese Abhängigkeiten teilte L.I.P. mit zahlreichen anderen kleinen und mittleren Unternehmen. Wie die Genossenschaftsforscher Chris Cornforth und Rob Paton in den 1980er Jahren belegten, waren damals die Unternehmenspleiten von Produktionsgenossenschaften und anderen Betrieben vergleichbarer Größe etwa gleich häufig.67 CAP – Les Commissions Artisanales de Palente Während die Genossenschaft Les Industries de Palente auf dem Produktionsprofil des alten Betriebs LIP aufbaute und sich von diesem schließlich entfernte, entwickelte sich die Tätigkeit der Commissions Artisanales de Palente (CAP) aus den handwerklichen und kunsthandwerklichen Aktivitäten der Betriebsbesetzung ab 1976. Die Produktionsgenossenschaft wurde offiziell im Juli 1979 als SCOP in Form einer Aktiengesellschaft mit einem zweiköpfigen Vorstand und einem Aufsichtsrat analog zur Konstruktion von L.I.P. gegründet. Die für das Unternehmen namensgebenden „commissions“, die Arbeitsgruppen der Betriebsbesetzung, verloren bereits vor der offiziellen Genossenschaftsgründung an Bedeutung. So wurde im März 1978 die Anzahl der Arbeitsgruppen deutlich reduziert und darüber hinaus beschlossen, nur jene weiter am Leben zu halten, die es bis Ende 1979 schaffen würden, ihre eigenen Löhne zu erwirtschaften. Die ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter wurden im Februar 1979 von ihrem Collectif de Gestion in Gruppen eingeteilt. Für diese wurde entweder in der Genossenschaft Les Industries de Palente oder bei CAP die Schaffung von Arbeitsplätzen angestrebt – Gruppen A und B – oder keine Einstellung mehr für möglich gehalten – Gruppe C – (vgl. Kapitel 5). Für die Genossenschaft CAP selbst entwickelte deren Aufsichtsrat im Oktober 1979 die Einstellungskriterien. Priorität erhielten hierbei die ökonomischen, welche auch die Frage beinhalteten, ob für die Anstellung der jeweiligen Person staatliche Fördermittel in Frage kamen. Die sozialen Kriterien – familiäre Situation, Kinder und das übrige, verfügbare Einkommen – wurden diesen untergeordnet.68
67 Vgl. Cornforth, Chris: „Patterns of Cooperative Management: Beyond the Degeneration Thesis“, Economic and Industrial Democracy 16 (1995), S. 487-523. 68 Vgl. Beschluss des Aufsichtsrats von CAP zu den Einstellungskriterien, einstimmig bei einer Enthaltung angenommen, 9. Oktober 1979, BDIC F Δ rés. 702/21.
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1978 hatte der Vorstand von Les Industries de Palente zunächst versucht, die kunsthandwerklichen Aktivitäten in die Verhandlungen über den Entwicklungsplan des Unternehmens einzubeziehen, was jedoch von den zuständigen Ministeriumsstellen verweigert wurde. Die in der Folge gelegentlich als außerhalb des Plans stehend – „hors plan“ – bezeichneten zukünftigen Beschäftigten von CAP hatten also mit anderen Problemen zu kämpfen als ihre Kolleginnen und Kollegen bei L.I.P. Nicht die Abhängigkeit von öffentlichen und privaten Geldgebern, sondern der schlichte Mangel an Kapital war für sie das vorrangige Ausgangsproblem. Außerdem erwuchsen die Erwartungen der Arbeiterinnen und Arbeiter an ihre neuen Tätigkeiten zum Teil aus den Aktivitäten der Betriebsbesetzung. Hatte L.I.P. gelegentlich mit dem „Vorbild“ LIP zu kämpfen, wenn es um die Arbeitsbedingungen ging, so brachte die Gründung der Genossenschaft CAP gleich zu Beginn die Abkehr von der während der Betriebsbesetzung erlebten, selbst gewählten und weitgehend selbstbestimmten Arbeit mit sich.69 Am Ausgangspunkt der Genossenschaftsgründung stand also diese Enttäuschung, mit der die Beteiligten einen produktiven Umgang finden mussten. Neben den Beschäftigten selbst diskutierten auch der Vorstand – Dominique Enfraze als Geschäftsführer und Jean-Claude Piquard als technischer Leiter – und der Aufsichtsrat die hiermit verbundenen Probleme. Letzterem gehörten neben Arbeiterinnen und Arbeitern der Genossenschaft selbst auch Vertreter der Produktionsgenossenschaft L.I.P. (Bruno Parmentier), der Amis de Lip (Jean Raguenès) und der lokalen CFDT an (Pierre Rueff).70 Das Jahr 1980 war das wesentliche Gründungsjahr der Commissions Artisanales de Palente. Zum Oktober 1980 wurden die ersten neun Personen offiziell angestellt, zum 1. April 1981 waren es sechzehn. Zusammen mit vier seit 1981 von außen eingestellten, jungen Schreinern wurde 1982 schließlich die Zahl von 21 Beschäftigten erreicht.71 Die bislang und zukünftig bei CAP eingestellten Personen widmeten sich im Jahr 1980 intensiv der Prospektion möglicher Absatzwege und besuchten andere Betriebe in den Bereichen der Holzbearbeitung, des Drucks und der Produktion kunsthandwerklicher Geschenkartikel, um für die Produktion und den Verkauf zu eigenen Lösungen zu kommen. Diese
69 Vgl. zu den etsprechenden Problemen bei L.I.P. einen Brief von Charles Piaget an Fred Lip aus dem Jahr 1983, ADD 45 J 90. 70 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll der CAP vom 9. Dezember 1980, BDIC F Δ rés. 702/21. 71 Zur Planung vgl. CAP: Perspectives de développement sur trois ans, Oktober 1980, FGM 1 B 578. Zu den tatsächlichen Zahlen vgl. LIP Unité, troisième série, No.2, Dezember 1982, BDIC F Δ rés. 702/1 und ADD 45 J 100.
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sollten nach ihrem Willen einen möglichst kontinuierlichen Absatz mit akzeptablen Handelsspannen und eine Fortsetzung der bisherigen, positiven Erfahrungen in der Produktion ermöglichen. Gemeinsam mit externen Beratern wurde über die Ergebnisse dieser Prospektion reflektiert. Für die Positionierung auf dem Markt berieten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter mit einem Vertreter der regionalen Handwerkskammer. In Bezug auf die organisatorische Ausgestaltung wurde die Hilfe eines fachkundigen Mitglieds der Amis de Lip herangezogen. Der regionale Beauftragte der Confédération Générale des SCOP half bei der Akquise von Geldmitteln.72 Mit der Reisetätigkeit und Besuchen in zahlreichen regional infrage kommenden Geschenkartikel- und Spielzeuggeschäften – 90 davon wurden in der Franche-Comté mindestens brieflich kontaktiert, von denen 30 positiv auf das Angebot der CAP reagierten –, ähnelte diese Aufbauphase zumindest in diesem Punkt den Erfahrungen der Arbeitskämpfe, die durch intensiven persönlichen Austausch und rege Kommunikation geprägt waren. Sämtliche zukünftigen Beschäftigten beteiligten sich an dieser Tätigkeit.73 Die Ergebnisse wurden schließlich vom Vorstand gebündelt und in einen Entwicklungsplan für die nächsten drei Jahre eingebracht. Dieser definierte die auf der Basis der Aktivitäten von 1979 und 1980 entstandenen und weiter zu entwickelnden Organisationsstrukturen sowie die zukünftige Produktions- und Marktstrategie. Er wurde im Oktober 1980 vorgelegt und definierte auch die Leitungsaufgaben im Betrieb. So wurde Michel Cugney als Verantwortlicher für den Vertrieb vorgestellt. Die drei Fertigungsbereiche „Holz“, „Druck und Siebdruck“ sowie „Stoff“ erhielten jeweils eigene Werkstattleiter.74 Die materiellen Voraussetzungen für den Betrieb und dessen finanzielle Mittel waren weitaus bescheidener als bei L.I.P. Eine Werkstatt bekam die Genossenschaft von der Stadtverwaltung vermietet. Deren Räume in der Rue Violet befanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Industries de Palente.75 Von der Banque Fédérative du Crédit Mutuel erhielt die Genossenschaft einen langfristigen Kredit über 660.000 FF. Beim Conseil Régional wurde erfolgreich eine „Aide à la création d’entreprise“ in Höhe von 50.000 FF beantragt. Der Conseil Général im Départment Doubs förderte die Schaffung jedes Arbeitsplatzes in der neu gegründeten Genossenschaft mit jeweils 5.000 FF und gewährte den im Betrieb angestellten Genossenschaftern darüber hinaus einen Zuschuss für Un-
72 Vgl. CAP: Perspectives de développement sur trois ans, Oktober 1980, FGM 1 B 578. 73 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll der CAP, 9. Dezember 1980, BDIC F Δ rés. 702/21. 74 Vgl. CAP: Perspectives de développement sur trois ans, Oktober 1980, FGM 1 B 578. 75 Die Stadt hatte dieses Gebäude zum Preis von 750.000 FF gekauft, vgl. Aufstellung der kommunalen Hilfen in Bezug auf die Genossenschaften in AM 86 W 43.
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ternehmensgründer aus der Arbeitslosigkeit heraus in Höhe von 4.500 FF pro Person.76 Von den geschaffenen Stellen wurden schließlich 14,5 als „Emploi d’Initiative Locale“ (EIL) gefördert, eine als „Emploi d’Utilité Collective“ (EUC).77 Während die Produktionsgenossenschaft Les Industries de Palente also überwiegend auf Mittel aus der allgemeinen Wirtschaftsförderung zurückgreifen konnte, stammten die Gelder der Commissions Artisanales de Palente zu einem nicht geringen Teil aus Mitteln der Beschäftigungspolitik, wie sie seit dem Ende der 1970er Jahre eingeführt worden waren. Die Prioritätensetzung der an der Betriebsbesetzung Beteiligten auf die Aktivitäten der Industries de Palente setzte sich also im Zugang zu Unternehmensbeteiligungen, Krediten und staatlichen Fördermitteln genauso fort wie in der Beschäftigtenstruktur: Kamen bei L.I.P. die gelernten Uhrmacher und Mechaniker unter, wurde CAP überwiegend von den angelernten LIP-Arbeiterinnen getragen. Wie entwickelte sich ab 1980 das Produktspektrum? Und welche Rückwirkungen hatte dies auf die weitere Unternehmensentwicklung? In der Abteilung „Holz“ war seit dem Herbst 1979 aus der Produktion von Gedulds- und Brettspielen eine eigene Serie unter dem Titel „Bons Jours“ entwickelt worden. Diese umfasste verschiedene Geduldsspiele, Steckspiele wie Mühle oder Halma, ein Tangram- und ein Kalaha-Spiel. Mit dem Abschluss der Prospektionsphase war diese Produktserie als Teil der mittleren Preisklasse identifiziert worden, in der die Entwicklung auch weiter betrieben werden sollte; sie hatte sich nach den Kontakten mit den Spielzeughändlern als die vielversprechendste erwiesen. Bei der Ausgestaltung der Serie hatte auch ein Ami de Lip geholfen, der hauptberuflich als Grafiker arbeitete.78 Außerdem wurden in der Holzabteilung die Ziffernblätter für Wanduhren produziert, die bei L.I.P. endmontiert wurden. Noch 1980 ähnelte die Werkzeugausstattung der Abteilung im Wesentlichen der einer herkömmlichen Schreinerei. Auch die im Laufe des Jahres 1980 neu angeschafften Maschinen wichen hiervon nicht ab. Im Oktober 1980 verfügte diese Abteilung über eine Tischkreissäge, eine Oberfräse, einen Bandschleifer, eine Formatkreissäge, eine Bandsäge, eine Tischfräse, einen Nassschleifer, zwei Tischbohrer und eine Hobelmaschine.79 Für die Zukunft jedoch zielte der Vorstand von CAP auf eine stärker arbeitsteilige und serielle Produktion, mit der sich die Gestehungskosten würden senken lassen und mit der nach dem Willen des Vorstands an die industrielle Ar-
76 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll der CAP vom 9. Dezember 1980, BDIC F Δ rés. 702/21. 77 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll der CAP vom 9. Dezemer 1980, BDIC F Δ rés. 702/21. 78 Vgl. LIP Unité, troisième seŕie No. 2, Dezember 1982. 79 Vgl. CAP: Perspectives de développement sur trois ans, Oktober 1980, FGM 1 B 578.
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beitserfahrung aus dem alten Betrieb LIP angeschlossen werden sollte. Auch die Betätigung als Zulieferbetrieb wurde im Plan von 1980 bereits integriert. Eine besondere Rolle war hierbei für die Kooperation mit Manuest vorgesehen, einer Möbelfabrik in einem kleinen Ort in den Vogesen. Diese war nach dem Konkurs und einer längeren Betriebsbesetzung 1975 als Genossenschaftsbetrieb übernommen worden und erhielt damals auch Besuch von Charles Piaget.80 In den ersten Jahren nach der Belegschaftsübernahme führte die dortige Betriebsleitung drastische Rationalisierungsmaßnahmen durch. Die Arbeitsproduktivität pro Kopf konnte so rapide gesteigert werden, die Mitsprache der Belegschaft war jedoch schon deutlich geschrumpft. Für einige der Beteiligten bei L.I.P. und CAP sowie im Freundschaftsverein Les Amis de Lip war daher in Bezug auf die Produktionsbedingungen kein Vorbild.81 Für die Kooperation zwischen den beiden Unternehmen erwarben die Arbeiterinnen und Arbeiter der CAP in kurzen Praktika bei Manuest die notwendigen Kenntnisse. Bei der Produktion der CAP handelte es sich um die Fertigung von Türen für Küchenmöbel in industrieller Schreinerei. Das Gesamtvolumen war groß und überwog schließlich klar. Von den 714.000 FF Gesamtumsatz der CAP zwischen Dezember 1981 und März 1983 entfielen bereits 625.000 FF auf den Bereich der Zuliefertätigkeit und davon ganze 503.000 FF allein auf die Produktion von Türen für Manuest.82 Hierfür wurden neue Maschinen angeschafft und ein Gutteil der Arbeitskraft reserviert. Dennoch blieben die anderen Arbeitsbereiche erhalten. Neben der Holzserie Bons Jours wurde auch die Seidenmalerei fortgesetzt, da deren Produkte in denselben Geschenkartikelläden angeboten werden konnten. Spätestens 1984 allerdings wurden diese nicht mehr hergestellt.83 Die aus drei Personen bestehende Abteilung „Druck und Siebdruck“ blieb zunächst Teil der Produktionsgenossenschaft CAP. Ihre Protagonisten gründeten dann im November 1981 eine eigene Produktionsgenossenschaft unter dem Namen La Liliputienne, welche ihre Räume in der Rue Violet von der CAP untervermietet bekam. Die Arbeit von La Liliputienne baute auf Erfahrungen der beiden Arbeitskämpfe auf. Marc Géhin, bis Oktober 1983 ihr Geschäftsführer, hatte sich 1973 als Anfang Zwanzigjähriger
80 Vgl. Le Carpentier, Sabine: Manuest : À la recherche de l’autogestion, Paris 1980. 81 Vgl. Bondu, Dominique: De l’usine à la communauté : l’Institution du lien social dans le monde de l’usine, unveröffentlichte Doktorarbeit, Paris 1981, S. 414ff. 82 Vgl. Vorstandsbericht über den Zeitraum zwischen dem 1. Dezember 1981 und dem 30. November 1982, BDIC F Δ rés. 702/21. 83 Vgl. CAP: Projet d’implantation et plan de développement sur trois ans, Juli 1984, AM 86 W 112.
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während der Betriebsbesetzung in den Entwurf und die Vervielfältigung von Plakaten und Flugblättern gestürzt. Hierfür konnten einige Geräte aus der Fabrik verwendet werden, darunter ein vollständiges Fotolabor.84 Durch den Kontakt mit politischen Druckereien konnten die Beteiligten sich von deren Arbeitsmethoden inspirieren lassen. Dies betraf die konkreten Druck- und Reproduktionstechniken, besonders aber die Spezifika einer Druckerei, die ihre Auftraggeber nicht nur als Kunden, sondern als Mitgestalter der von ihnen geplanten Publikationen verstand.85 Von den Amis de Lip erhielten die Beteiligten im September und Oktober 1979 68.000 FF zur Anschaffung einer Offset-Druckmaschine und einer in Frankreich unter dem Namen „Composphère“ vertriebenen kleinen, elektronischen Setzmaschine.86 Schon 1980 wollte Marc Géhin bereits eine externe Person für die Arbeit an der Composphère einstellen, was ihm jedoch vom Aufsichtsrat der CAP aus Kostengründen verweigert wurde.87 La Liliputienne bot schließlich neben dem Druck von Briefköpfen, Geschäftspapieren und Broschüren für Geschäftskunden – hierzu gehörte die Stadtverwaltung – eine Betreuung von Gewerkschaftern und Vereinen an, um diese bei ihren Veröffentlichungen zu unterstützen. Auch die LIP Unité wurde hier gedruckt; die letzte Reihe von 1982 und 1983 erschien nicht mehr schwarz-weiß, sondern im Vierfarbdruck. Zunächst arbeiteten bei La Liliputienne drei Beschäftigte. Im Sommer 1982 waren es schließlich sechs Personen (Durchschnittsalter 34 Jahre), von denen nur noch zwei ehemalige LIP-Beschäftigte waren. Alle erhielten denselben Lohn von 3900 FF.88 Als Marc Géhin das bei der Gründung gefasste Prinzip der Lohngleichheit 1983 aufgeben wollte, traten die übrigen Beschäftigten in einen Streik. Marc Géhin wurde im Oktober als Geschäftsführer abgewählt und gründete in der Folge eine neue Druckerei außerhalb des Geländes.89 Zur Gründung ihrer Produktionsgenossenschaft hatten gleichermaßen das Bedürfnis nach egalitären Arbeits- und Lohnstrukturen und der Wille zur Professionalisierung durch die Einstellung externer Neubeschäftigter beigetragen. Auseinandersetzungen um diese Ansprüche führten 1983 zu ihrer Spaltung.
84 Vgl. Fernsehsendung Magazine 52: Du côté de chez LIP, 13. Juli 1973, http://www. ina.fr/video/CAF93029588/du-cote-de-chez-lip-video.html, abgerufen am 3. August 2016. 85 Vgl. LIP Unité, deuxième série, No. 14, Dezember 1978, S. 3, BDIC F Δ rés. 702/1. 86 Vgl. Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben der Amis de Lip vom 16. Februar 1981, BDIC F Δ rés. 702/15. 87 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll der CAP vom 9. Dezember 1980, BDIC F Δ rés. 702/21. 88 Vgl. Terrieux, Gérard: L’expérience Lip, Paris 1983, S. 187f. 89 Vgl. Zeitungsdokumumentation, ADD 45 J 90.
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Bei CAP ihrerseits wurden 1981 und 1982 Diskussionen geführt, wie mit den Auswirkungen der Zuliefertätigkeit auf die Arbeitsbedingungen umgegangen werden sollte. Während Dominique Enfraze und Jean-Claude Piquard offenbar die möglichst zügige Durchsetzung industrieller Arbeitsrhythmen vorantrieben, führten die Arbeitsbedingungen in der Produktion für Manuest bald zu Beschwerden der dort tätigen Arbeiterinnen.90 Der Aufsichtsrat plädierte im Juni 1981 für eine bessere Kommunikation zwischen dem Vorstand und den Arbeiterinnen und drängte auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.91 Im Jahresbericht des Aufsichtsrats von 1982 wies dieser auf erhebliche Konkretisierungen dieser Forderungen hin, die er mittlerweile ausgearbeitet hatte und die weitgehend ignoriert worden seien. Dazu gehörten „einfache, ergonomische Erleichterungen“ und eine Rotation zwischen den verschiedenen Arbeitsposten in der körperlich fordernden Produktion der Türen. In Bezug auf die Partizipation der Beschäftigten und die Kommunikation im Betrieb stellte der Aufsichtsrat „abermals große Schwierigkeiten in den Bereichen der hierarchischen und horizontalen Beziehungen fest.“92 Die Befürchtung des Aufsichtsrats war, dass eine Dynamik der „Macht und Gegenmacht“ an die Stelle einer gemeinsamen Entscheidungsfindung treten könnte.93 Wie bei L.I.P. trug auch bei CAP der Aufsichtsrat am deutlichsten die Vorstellungen einer Selbtsverwaltung in den Betrieb, nach denen alle Beschäftigten möglichst gleichberechtigt und verantwortlich an Entscheidungen beteiligt sein sollten. In diesem Sinne hatten sie auch im Sommer 1981 den Vorstand gebeten, die bis dahin monatlich stattfindenden Betriebsversammlungen über die Anfangsphase in der Rue Violet hinaus fortzusetzen.94 Die beiden Vorstandsmitglieder selbst betonten jeweils in Artikeln in der LIP Unité die Anfangsschwierigkeiten, welche sie dazu nötigten, zügig effiziente Arbeitsläufe einzuführen und gelegentlich autoritär zu entscheiden.95 Für die Zukunft äußerte aber zumindest Jean-Claude Piquard die Hoffnung, wieder gemeinsame soziale Zielsetzungen für den Betrieb zu entwickeln und fragte nach
90 Vgl. die Stellungnahme eines unbekannten, externen Genossenschafters auf der Genossenschafterversammlung der CAP, 21. Mai 1981: „Il est urgent de changer de cap!“, BDIC F Δ rés. 702/21. 91 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll von CAP, 9. Juni 1981, BDIC F Δ rés. 702/21. 92 Bericht des Aufsichtsrats von CAP zum Geschäftsjahr 1982, BDIC F Δ rés. 702/21. 93 Ebenda. 94 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll von CAP, 9. Juni 1981, BDIC F Δ rés. 702/21. 95 Vgl. Interview mit Dominique Enfraze, LIP Unité, troisième série, No. 3, erstes Trimester 1983, S. 8-19, BDIC F Δ rés. 702/1.
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neu zu entwickelnden Perspektiven, deren Inhalt in den Händen aller liege, gleich ob diese nun gemeinschaftlich (communautaire) oder selbstverwaltet (autogestionnaire) zu nennen seien.96 An der stark arbeitsteiligen und seriellen Produktion in der Herstellung der Möbeltüren, wo drei Viertel der Beschäftigten Frauen waren, änderte sich nichts. Diese Arbeit, 3.000 bis 4.000 Türen im Monat zu produzieren, bezeichnete auch Piquard als „nicht nichts“.97 Bis zum Ende der 1980er Jahre zog CAP zweimal um, da die Mietverträge mit der Stadt Besançon jeweils befristet waren. Für die Niederlassung im 41B, Chemin de Valentin argumentierte der Vorstand 1984 auch vor dem Hintergrund, dass die dortige Hallenfläche von 1.700m² sich im Gegensatz zu den vorherigen Räumen auf einer Ebene befinde. Dies erleichtere die Einrichtung einer langen Produktionsreihe für die Möbeltüren, während zwei Laderampen für LKW die Zulieferung und Auslieferung erleichtern sollten. Der Kauf dieser Halle durch die Gesellschaft SICOMI-BATIFRANC und ihre anschließende Vermietung an die CAP für 24.000 FF im Monat sollten eine Expansion ermöglichen, die dem Plan zufolge zum großen Teil auf der Funktion als Zulieferbetrieb beruhen sollte.98 Wurde CAP in dieser Hinsicht ein Zulieferbetrieb wie viele andere, so blieb die Lohnhierarchie gering. Zu Beginn war diese bei einem insgesamt niedrigen Lohnniveau deutlich reduziert worden. 1981 verdienten die Mitglieder der Geschäftsführung (3 Personen) bei CAP 5.900 FF, Gruppenleiter 4.100 FF (4 Personen), Facharbeiter 3.800 FF (4 Personen) und angelernte Arbeiterinnen 3.300 FF (15 Personen).99 Auch an der Zahl der 293 Genossenschafterinnen und Genossenschaftern wurde so lange wie möglich festgehalten, um dem Solidaritätsgedanken, der dieser Beteiligung zugrunde lag, aufrecht zu erhalten. Erst 1986 wurde die Zahl der externen Genossenschafter auf die für SCOPs rechtlich festgeschriebene Zahl reduziert. Danach waren noch 14 der mittlerweile 23 Beschäftigten der CAP Mitinhaber ihres Unternehmens. Acht juristische Personen, unter ihnen die SCOP L.I.P., verblieben im Kreis der Genossenschafter. Die externen
96 Vgl. Jean-Claude Piquard: CAP trois ans après sa création, LIP Unité, troisième série, No. 2, Dezember 1982, S. 6-9. 97 Ebenda. 98 Vgl. CAP: Projet d’implantation et plan de développement sur trois ans, Juli 1984, AM 86 W 112. 99 Vgl. CAP: Perspectives de développement sur trois ans, Oktober 1980, FGM 1 B 578.
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Einzelpersonen rief der Vorstand im Juni 1986 dazu auf, ihre Anteile durch Spende an das Unternehmen abzugeben.100 1984 machte die Genossenschaft bei einem Umsatz von 4,8 Mio. FF einen Gewinn vor Steuern von 176.000 FF, 1985 folgten bei einem Umsatz von 5,3 Mio. FF Verluste von 127.000 FF und 1986 von 123.000 FF (jeweils gerundet).101 Ob diese Verluste mit dem Umzug oder mit wegbrechenden Aufträgen zusammenhingen, kann aus den vorliegenden Quellen nicht rekonstruiert werden. Die Anmeldung der Zahlungsunfähigkeit am 17. Januar 1990 und die folgende Auflösung des Unternehmens CAP gingen nach den Aussagen mehrerer Personen neben der ökonomischen Situation mindestens in gleichem Maße auf persönliche Differenzen zurück. Fatima Demougeot unterstreicht, dass es zwischen Jean Claude Piquard und Dominique Enfraze Streitigkeiten gegeben habe.102 Und auch Jean Raguenès betont in seinen Erinnerungen persönliche Auseinandersetzungen in der Geschäftsführung der Commissions Artisanales de Palente. Er war selbst bei CAP angestellt gewesen, verließ die Genossenschaft jedoch bereits 1983, um sich anschließend in einem Dritte-Welt-Informationszentrum in Straßburg und schließlich bis zu seinem Tod im Jahr 2013 bei der brasilianischen Landlosenbewegung zu engagieren.103 Bereits im März 1989 musste sich der Vorstand von CAP durch das Handelsgericht einen Sanierungsplan genehmigen lassen. Der Richter hielt in seiner Begründung für Liquidationsurteil vom 5. Februar 1990 fest, dass er einen neuerlichen Sanierungsplan durchaus für möglich hielt. Ein solcher wurde aber nicht mehr eingereicht.104
100 Vgl. Brief des Vorstands der CAP an die Genossenschafter, 4. Juni 1986, ADD 45 J 90. 101 Vgl. Vorstandsbericht für die Genossenschafterversammlung der CAP, 27. Juni 1986, ADD 45 J 90. 102 Vgl. Interview des Verfassers mit Fatima Demougeot, 2. Juli 2014. 103 Vgl. Raguenès, Jean: De mai ’68 à Lip: un dominicain au cœur des luttes, Paris 2008, S. 231. 104 Vgl. Liquidationsurteil des Handelsgerichts Besançon vom 5. Februar 1990, AM 86 W 112.
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6.2 G EWERKSCHAFTSARBEIT : G ESCHÄFTSFÜHRUNG O PPOSITION BEI L.I.P.
UND
War die Gründung der Produktionsgenossenschaften zum guten Teil ein Projekt der bei LIP aktiven CFDT-Gewerkschafter gewesen, fielen diesen nun in den Unternehmen betriebliche Leitungsaufgaben und geschäftsführende Tätigkeiten zu. Manche – wie Charles Piaget und Raymond Burgy – waren vorher bereits Werkstattleiter gewesen. In dem verglichen mit LIP wesentlich kleineren Betrieb L.I.P. gingen diese Posten nun mit größerer Verantwortung einher. Gleichzeitig hatte sich bereits im Zuge der Betriebsbesetzung eine gewerkschaftliche Opposition herausgebildet, die das Problem der Arbeitsplätze für alle immer wieder neu auf die Tagesordnung brachte. Und nach wie vor durchzogen unterschiedliche Vorstellungen von Selbstverwaltung die Auseinandersetzungen bei Les Industries de Palente. Welche Rolle bei L.I.P. und in den anderen Betrieben der Gewerkschaftsarbeit zukommen sollte und ob es eine solche überhaupt noch brauche, war Gegenstand von Diskussionen. In der vom „noyau“ vorangetriebenen Erzählung über die gemeinsame Auseinandersetzung wurde die Formulierung des Übergangs von einem „lutte contre“ zu einem „lutte pour“ dominant. Der „lutte pour“ habe demnach von den Beteiligten ein höheres Maß an Kooperation, eine schwierige Übernahme von Verantwortung, eine größere Kompromissfähigkeit untereinander und gelegentlich die Fähigkeit zum Verzicht verlangt. Auch retrospektiv fassen die Beteiligten die facettenreichen Probleme im Zusammenhang der Genossenschaftsgründungen so zusammen.105 Die Träume von einer „Communauté“, wie sie Dominique Bondu und Jean Raguenès vorgeschwebt hatten, als einer über den Betrieb hinausreichenden Lebens- und Wirkensgemeinschaft, hatten sich mit der Gründung und dem Aufbau der Genossenschaftsbetriebe faktisch erledigt.106 Am Anspruch, dass in den Genossenschaften Jede und Jeder ei-
105 Das Motiv durchzieht die LIP Unité-Ausgaben 11-23 zwischen Januar 1978 und Dezember 1980. Die Schwierigkeiten des „lutte pour“ wurden vor allem in einer Diskussion über die „Macht“ in LIP Unité, deuxième série, No. 18/19 und in No. 20/21 besprochen. Heute verwenden Michel Jeanningros und Charles Piaget wörtlich die Formulierung vom „lutte pour“, vgl. Interview des Verfassers mit Michel Jeanningros, 7. März 2014 und Interview des Verfassers mit Charles Piaget, 5. März 2014. 106 An der Verwendung dieses Vokabulars hielten sie auch darüber hinaus fest, vgl. etwa den Artikel „Logique Économique, Logique Communautaire“ in LIP Unité, deuxième série, No. 24, April/Mai 1981.
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ne eigene Stimme haben sollte, hielten die Vertreter des Freundschaftsvereins Les Amis de Lip (AAL) – unter ihnen Jean Raguenès, Dominique Bondu und Bruno Parmentier – genauso fest wie die jungen Gewerkschafter und die Mitglieder des Aufsichtsrats. Sollten die im Betrieb angestellten Genossenschafterinnen und Genossenschafter der Geschäftsleitung als Arbeiterinnen und Arbeiter mit entsprechenden Forderungen entgegentreten oder als gleichberechtigte Mitglieder einer Genossenschaft? In welchen Gremien sollte diese Interessenvertretung stattfinden, und mit welchem Grad an Kooperation und Konfrontation? Diese Fragen waren umstritten. Roland Vittot stellte in einem Interview mit der von den Amis de Lip herausgegebenen LIP Unité 1982 fest, dass es seiner Meinung nach überhaupt keine Gewerkschaftssektion in einem Genossenschaftsbetrieb brauche, vorausgesetzt, dass über die wesentlichen betrieblichen Probleme gemeinsame Entscheidungen gefällt würden.107 Die Verantwortung dafür, dass dies bei L.I.P. nicht geschah, sah er bei der Geschäftsführung. Diese habe die Aufgabe gehabt, die Beteiligung aller aktiv zu fördern. Stattdessen habe sie Informationen zurückgehalten und ein Entscheidungsmonopol über die Löhne und betrieblich wichtige Fragen wie Einstellungen und die Zuweisung von Arbeitsposten beansprucht. Insgesamt hätten sich die Mitglieder des Vorstands in einer „Haltung des Chefs (eingeschlossen), der autoritär entscheidet, was eine klassische gewerkschaftliche Opposition wieder entstehen lässt und den Graben zwischen uns aufmacht.“108 Hintergrund dieser Feststellung von Roland Vittot waren Auseinandersetzungen, welche der Aufsichtsrat 1980 und 1981 mit dem Vorstand von L.I.P., insbesondere dem Vorstandsvorsitzenden Libéro Penna, führte. Als Penna im September 1980 die Löhne der Vorstandsmitglieder Ramond Burgy und Gérard Cugney deutlich anheben wollte, wurde er vom Aufsichtsrat daran gehindert, der im Sinne einer größeren Gleichheit der Beschäftigten auf einer niedrigeren Lohnspreizung bestand. Die Wahl eines Vertreters der Amis de Lip, Jean-Claude Jullien – dieser hatte wesentliche ökonomische Expertise für die Ausarbeitung des Unternehmensplans beigesteuert –, als beratendes Mitglied in den Aufsichtsrat, stieß auf den Widerwillen des Vorstands. Am 30. April und am 22. Mai 1981 wurden zwei Aufsichtsratssitzungen zum Austragungsort heftiger Auseinandersetzungen über die Politik des Vorstands, insbesondere was den Informationsfluss im Betrieb und den Aufbau einer effektiven Teilhabe der Belegschaft an Entscheidungen betraf. Die Aufsichtsratsmitglieder fühlten sich darüber hin-
107 Vgl. Interview mit Roland Vittot in LIP Unité troisième série No.2, Dezember 1982, S. 10-15. 108 Ebenda, S. 13.
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aus von der Geschäftsführung nicht ausreichend über die aktuellen Einnahmen und Ausgaben sowie mögliche zukünftige Aufträge informiert. Insbesondere Bruno Parmentier und Jean-Claude Jullien drängten auf detailliertere Informationen und wurden hierin von Roland Vittot unterstützt. Dieser formulierte auch eine erste Rücktrittsforderung an Libéro Penna. Seit Januar 1981 waren im Aufsichtsrat auch je ein Vertreter der MRIFEN und der CG SCOP vertreten. Diese unterstützten Penna gegen die Forderungen aus dem Aufsichtsrat in seinem Verlangen nach geschäftsführerischer Unabhängigkeit. Am 22. Mai waren neben diesen Vertretern, die sonst häufig nicht bei den Terminen anwesend waren, auch ein Beobachter aus dem CIASI zugegen. Diesen hatte Vittot bereits im November aus Sorge um die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebs kontaktiert. Er nahm in der Sache eine beschwichtigende Rolle ein, indem er die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf die Anfangsprobleme in Palente zurückführte, die jetzt hoffentlich zu überwinden seien. Die Auseinandersetzung endete an dem Tag darin, dass Libéŕo Penna den Rückzug Parmentiers und Julliens aus dem Aufsichtsrat forderte und Parmentier dazu drängte, seine Kündigung bei L.I.P. einzureichen.109 Beide kamen den Forderungen nach, Parmentier fand eine neue Anstellung im Verlag Maspero.110 Roland Vittot erklärte in derselben Sitzung aus Solidarität mit Parmentier und Jullien ebenfalls seinen Rücktritt vom Aufsichtsrat, dessen Vorsitzender er die letzten acht Monate gewesen war. Seine Erklärung auf der Genossenschafterversammlung am 26. Juni 1981 zeugte von bitterer Enttäuschung über die undemokratische Entscheidungsfindung im Betrieb und von großer Skepsis, was dessen wirtschaftliche Aussichten betraf; diese Skepsis entzündete sich vor allem am schleppend anlaufenden Vertrieb von Uhren.111 Die Diskussionen auf der Jahreshauptversammlung waren intensiv. Da diese von 15 bis 20 Uhr dauerte, musste ein zweiter Termin für den 8. Juli angesetzt werden. Die „équipe d’encadrement“, sieben der Geschäftsführung beigeordnete, leitende Angestellte, meldeten sich ihrerseits mit einem Brief zu Wort, in dem sie diese „Zeitverschwendung“ und die angebliche Panikmache durch einige Mitglieder des Aufsichtsrats kritisierten. Sie betonten, dass gerade gegen-
109 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll vom 22. Mai 1981, BDIC F Δ rés. 702/22/3. 110 Am 10. Juli 1981 hörte Parmentier auf, bei L.I.P. zu arbeiten, wünschte aber weiterhin seine Genossenschaftsanteile im Unternehmen zu belassen, vgl. Protokoll der Genossenschafterversammlung vom 26. Juni 1981, S. 2, BDIC F Δ rés. 702/22/3. 111 Vgl. Erklärung R. Vittots zu den Auseinandersetzungen, BDIC F Δ rés. 702/22/3.
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über den Geldgebern auf einer Jahreshauptversammlung Verlässlichkeit demonstriert werden müsse.112 Zwar ging es in den Auseinandersetzungen um die ökonomische Situation der Genossenschaft. Dahinter verbargen sich aber unterschiedliche Vorstellungen über die demokratische Gestaltung des Betriebs. In dieser kam nach dem Willen des Aufsichtsrats sowie der Vertreter des Büros der Amis de Lip unter anderem den Werkstatträten eine wichtige Rolle zu. Sie griffen damit ein Konzept auf, das von der CFDT auf konföderaler Ebene seit Mitte der 1970er Jahre für die direkte Mitsprache am Arbeitsplatz angeregt wurde. Mit dem Gesetz zur Demokratisierung des Öffentlichen Sektors vom 26. Juli 1983 fand diese Form der Arbeitermitsprache als „direkte und kollektive Äußerung zum Inhalt und zur Organisation ihrer Arbeit“ Eingang in verstaatlichte Industrieunternehmen.113 Die Einführung dieser neuen Partizipationsgremien wertete die CFDT als Erfolg ihrer Selbstverwaltungsstrategie, die demnach im Gegensatz zu einer Mitbestimmung von oben vor allem darauf gezielt habe, die direkte individuelle und kollektive Mitsprache am Arbeitsplatz zu stärken.114 Zu Beginn der 1980er Jahre versuchte die CFDT im Sinne eines zukünftigen Gesetzgebungsprozesses in verschiedenen Betrieben erfolgreiche Beispiele für das Funktionieren dieser Werkstatträte zu etablieren.115 Der Genossenschaftsforscherin Danièle Demoustier dienten die Werkstatträte bei L.I.P. als ein Beispiel dafür, wie mittlerweile in französischen Produktionsgenossenschaften Versuche zu einer stärkeren Beteiligung der Beschäftigten unternommen würden, die auf eine größere Arbeitszufriedenheit und geringere Fehlzeiten sowie eine verbesserte Qualitätskontrolle und Koordination konkreter Arbeitsprozesse zielten.116 Bei L.I.P. war in der ersten Jahreshälfte 1980 beschlossen worden, dass sich diese insgesamt vier Räte in der jeweiligen Werkstatt mindestens einmal im Monat regelmäßig treffen sollten. Neben der gegenseitigen Abstimmung in Bezug auf die Arbeit und deren Planung sollten diese auch für die Geschäftsführung beratende Funktionen erfül-
112 Vgl. den offenen Brief der „équipe d’encadrement“ vom 3. Juli 1981 unter dem Titel: „Réponses à certaines interrogations“, BDIC F Δ rés. 702/22/3. 113 So die Formulierung im Gesetz No. 83-675 vom 26. Juli 1983 über die Demokratisierung des Öffentlichen Sektors, Titel III, Kapitel 1. 114 Vgl. Kißler, Leo und Otmar Seul: „Die Lois Auroux und das direkte Partizipationsrecht der Arbeitnehmer im Urteil der französischen Gewerkschaften“, in: Kißler, Leo (Hrsg.): Industrielle Demokratie in Frankreich, Frankfurt a.M. 1985, S. 133f. 115 So z.B. in der verstaatlichten CIT Alcatel in Saintes, vgl. Morder, Robi: 1982 : conseils d’ateliers à la CIT ALCATEL de Saintes, 2012. 116 Vgl. Demoustier: Les coopératives de production, S. 92.
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len. In der zweiten Jahreshälfte 1980 mahnten die Amis de Lip wiederholt deren regelmäßige Zusammenkunft an. Im Frühjahr 1981 waren diesbezüglich jedoch keine Fortschritte zu erkennen.117 Der einzige Werkstattrat, der regelmäßig im vorgesehenen Turnus zusammenkam, war jener in der von Charles Piaget geleiteten Mechanikwerkstatt für die Kleinserienproduktion. Die dort zeitweilig diskutierten Versuche, die morgendliche Aufgabenverteilung in Rotation zu erledigen, wurden bald aufgegeben. Der Sinn eines solchen Werkstattrats wurde von den beteiligten Arbeiterinnen und Arbeitern hinterfragt.118 Während Charles Piaget ihn offenbar als ein Mittel verstanden wissen wollte, die individuelle Verantwortung der Arbeiterinnen für die Arbeitsorganisation zu vergrößern, hatten diese selbst daran kein Interesse. So kann geschlossen werden, dass den Werkstatträten zwar von einigen ihrer Protagonisten eine wichtige Rolle beigemessen wurde, um Eigenveranwortung und alltägliche Diskussionsprozesse zu stärken, sie aber nie effektiv in diesem Sinne funktionierten. Die Personen im Büro der Amis de Lip erkannten noch weitere Defizite in der demokratischen Entscheidungsfindung bei L.I.P. Sie gingen in ihrer Kritik aus dem Frühjahr 1981 so weit, dem Vorstand in dieser Hinsicht völliges Versagen vorzuwerfen: „Im Klartext denken wir, dass der Vorstand, und besonders Herr Penna, eine gewisse Anzahl entscheidender Kurven in der Entwicklung der Genossenschaft verpasst hat; weil er seine Aufgabe verfehlt hat, ist er heute dazu gezwungen, als einzige Methode den blinden Autoritarismus zu verfolgen.“119
Sie betonten, dass es bis jetzt keine kohärente Informationspolitik gebe. Außerhalb der jährlichen Genossenschafterversammlung beschränke sich die Information der Belegschaft auf die monatlich von der Direktion verfassten Briefe SCOP Information. Eine „Unfähigkeit zur Pädagogik und zum Dialog“ der Geschäftsführung habe dazu geführt, dass für die Motivation der Genossenschafterinnen und Arbeiter im Betrieb einzig Drohungen auf der einen und materielle Leistungsanreize auf der anderen Seite übrig geblieben seien. Hiermit kritisierten die
117 Vgl. Quartalsbericht des Aufsichtsrats von L.I.P. vom 31. März 1981, BDIC F Δ rés. 702/22/3. 118 Vgl. Débat sur les pouvoirs, Teil 2, LIP Unité, deuxième série, No. 20/21, April/Mai 1980, S. 5-7. 119 Brief des Büros der Amis de Lip – Pierre Besançon, Pierre Rueff, Jean Raguenès, Dominique Bondu – an den Generalsekretär der CGSCOP, François Espagne, vom 2. Juni 1981, BDIC F Δ rés. 702/22/3.
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Amis de Lip die im Frühjahr 1981 in der Mechanikabteilung wieder eingeführten Leistungsprämien. Die Abrechnungstruktur der Auftraggeber wurde damit ungebrochen auf die Lohnstruktur bei L.I.P. übertragen.120 Nachdem diese Form der Leistungsentlohnung von den Beschäftigten im ersten LIP-Konflikt deutlich kritisiert und schließlich mit der Wiederaufnahme des Betriebs 1974 abgeschafft worden war, führte der Vorstand in der Genossenschaft L.I.P. sie also kurz nach deren Umzug zunächst gruppenweise wieder ein. Aus dem späteren Jahresverlauf sind noch Pläne zur Individualisierung der Prämien dokumentiert.121 Die große Lohnspreizung zwischen der Geschäftsführung und den Arbeiterinnen wurde von den Amis de Lip ebenfalls kritisiert. Roland Vittot monierte, dass ein seit Monaten angekündigter öffentlicher Aushang der Löhne nach wie vor nicht geschehen sei. Gründe, sich entweder für eine Belebung möglicher Selbstverwaltungsorgane oder ein neuerliches gewerkschaftliches Engagement im Betrieb stark zu machen, gab es für die Arbeiterinnen und Arbeiter von L.I.P. also genug. Das Scheitern anderer Wege kollektiver Entscheidungsfindung war es, welches Roland Vittot die Folgerichtigkeit neuerlicher gewerkschaftlicher Opposition bei L.I.P. mit Bedauern zur Kenntnis nehmen ließ. Dominique Enfraze hingegen, der junge Geschäftsführer der CAP (geb. 1953), der im Interview mit der LIP Unité als Ziel gewerkschaftlicher Arbeit formulierte, „den Arbeiter fortschreitend zu einem weiteren Blick auf sein Unternehmen und weiter noch auf das Leben allgemein zu bringen“, missbilligte die Betätigung der neu konstitutierten Sektion der CFDT als nun einziger im Betrieb vertretener Gewerkschaft. Die konkrete Gewerkschaftsarbeit bei L.I.P. basierte seiner Ansicht nach nicht im nötigen Maße auf der ökonomischen Analyse des Gesamtbetriebs und der realen Möglichkeiten und Beschränkungen: „Bei Lip zieht sich die Gewerkschaftssektion auf Forderungen zurück und weigert sich, sich die Hände mit den anderen Problemen des Unternehmens schmutzig zu machen.“122 Die geschäftsführenden Gewerkschafter erwarteten also von den gewerkschaftlich aktiven Belegschafts-
120 Vgl. Meyerspeer/Sackstetter: „Was ist eigentlich aus Lip geworden?“, S. 7-10. 121 Zu den Details der Planung auf dem Stand vom 10. Dezember 1980 vgl. die Mitteilung des Vorstands: „Salaires 1981“, BDIC F Δ rés. 702/22/1. In dieser wird präzisiert, dass der Bezugspunkt für die zukünftigen Löhne andere, etwa gleich große Unternehmen sein werden und nicht mehr das alte Unternehmen LIP. Zu den späteren Plänen für die Ausgestaltung der Leistungsprämien vgl. Tabellen aus dem Herbst 1981, BDIC F Δ rés. 702/22. 122 Interview Dominique Enfraze, LIP Unité, troisième série, No. 3, erstes Quartal 1983, S. 8-17.
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vertretern der CFDT-Sektion eine Verantwortung für das unternehmerische Gedeihen der Genossenschaft. Ihrem Idealbild einer Produktionsgenossenschaft hätte eine Belegschaft entsprochen, in der jede und jeder Einzelne die ihm zugemessene Verantwortung für das Unternehmen getragen hätte und an ökonomisch relevanten Entscheidungen beteiligt worden wäre. Hierauf zielte die von ihnen vorgetragene Pädagogik. Während manche von ihnen das Wiedererstarken gewerkschaftlicher Betätigung im Betrieb bedauerten, aber als unausweichliche Folge der Politik des Vorstands interpretierten, lehnten andere die neuerlichen Gewerkschaftsaktivitäten offen ab. Wie füllten die Gewerkschafter ihre Tätigkeit aus, und warum wurden diese Diskussionen 1982 in der LIP Unité geführt? Bereits seit dem Beschluss zur Genossenschaftsgründung waren einige junge Gewerkschafter entweder als „einige CFDT-Aktive“ oder mit den Namen ihrer wichtigsten Vertreter, Jacques Burtz, genannt Jacky, und François Laurent, aufgetreten. Diese waren damals Mitglieder der alten CFDT-Sektion von LIP, stellten sich aber deren gemeinsamen Vorschlägen immer wieder entgegen, bevor sie 1980 in eine neue CFDT-Sektion für L.I.P. gewählt wurden. Sie hatten anlässlich der ersten Abstimmung über die Bedingungen des Entwicklungsplans am 3. Oktober 1979 dafür plädiert, diesen abzulehnen und stattdessen durch eine Intensivierung der irregulären Verkäufe den Druck für eine Überarbeitung des Entwicklungsplans zu erhöhen. Auch im Juni 1980, als endgültig über die Annahme des Plans für L.I.P. abgestimmt wurde, schlugen sie diesen Weg abermals vor.123 In der Folge erkannten sie als erste die Realität eines Unternehmens L.I.P. an, in dem die Trennung zwischen Geschäftsführung auf der einen, Arbeiterinnen und Arbeitern auf der anderen zunehmend Formen wie in herkömmlichen Aktiengesellschaften annahm und wo es deshalb weiterhin gewerkschaftliche Betätigung brauche. Im Frühjahr 1982 war schließlich der Moment gekommen, wo es bei L.I.P. das erste Mal wieder um Entlassungen ging. Die steigenden Verluste im laufenden Betrieb hatten den Vorstand veranlasst, einen Stellenabbau in Angriff zu nehmen. Ohne die Belegschaft auch nur zu informieren, ließ sich der Vorstand vom Aufsichtsrat die Genehmigung erteilen, 20 Personen betriebsbedingt zu kündigen.124 François Laurent und Jacques Burtz traten daraufhin jedoch sofort mit Michel Garcin, dem ehemaligen Finanzvorstand von Claude Neuschwander und Gründer der Beratungsfirma SCEIP (Service, Conseils, Études Industrielles, Promotion), in Kontakt, um diese Kündigungen zu verhin-
123 Vgl. Flugblatt „Connaître l’ensemble avant toute décision, unité, mobilisation pour les négociations“ vom 27. November 1979, BDIC F Δ rés 702/22. 124 Vgl. Aufsichtsratsprotokoll vom 21. März 1982, BDIC F Δ rés 702/22.
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dern.125 Dieser stellte schließlich den Kontakt zur Stadtverwaltung und zur Präfektur her, um die Entlassungen durch eine andere Lösung zu umgehen. Über zahlreiche Treffen mit diesen Stellen konnte schließlich ein sogenannter „contrat de solidarité“ ausgehandelt werden. Dieser sah die Frühverrentung von 13 Personen vor, die sich freiwillig meldeten. Charles Piaget, dessen Frau kurz zuvor gestorben war, war einer dieser Freiwilligen. Im Gegenzug musste der Betrieb für die nächsten zwei Jahre den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen garantieren.126 „Contrats de solidarité“ waren ein von der Linksregierung 1982 eingeführtes Mittel, um der steigenden Arbeitslosigkeit mit einer Verkürzung der Arbeitszeit und für die Unternehmen verpflichtenden Vereinbarungen entgegenzutreten. In diesen konnten entweder Frühverrentungen oder eine Reduktion der Wochenarbeitszeit über die gesetzliche Absenkung von 40h auf 39h hinaus vereinbart werden.127 Gleichzeitig wurden von der Präfektur mit noch 25 weiteren Unternehmen solche Verträge abgeschlossen.128 Im November 1983 arbeiteten bei L.I.P. noch 149 Personen, 50 davon in der Uhrenabteilung.129 Die Gewerkschafter hatten schnell reagiert und ihre Kontakte zur Stadtverwaltung und zum neuen sozialistischen Präfekten genutzt. Für das Ziel des Arbeitsplatzerhalts mobilisierten sie nun nicht mehr zuerst die Belegschaft, sondern bemühten sich um die Kontakte zu staatlichen Stellen, die dieses Ziel teilten. Da die Stadtverwaltung sich für den Arbeitsplatzerhalt mit einem Beteiligungsdarlehen und mit Bürgschaften am Unternehmen L.I.P. beteiligte, war sie in dieser Hinsicht der erste Ansprechpartner. Auf Stabilität im Unternehmen bedacht, halfen sie auch bei der Herstellung von Kontakten zu möglichen Geldgebern und zu öffentlichen
125 Vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014. 126 Am 25. März 1982 wurde der „contrat de solidarité“ in der Präfektur gleichzeitig mit 25 anderen Unternehmen unterzeichnet, vgl. SCOP Information Les Industries de Palente No. 25, Mai 1982, BDIC F Δ rés. 702/22/2. Als 1984 bei LIP wieder Personen gekündigt werden sollten, erhielt die Geschäftsführung von L.I.P. eine Strafandrohung über 1 Mio. FF, der sie sich nur durch gute Kontakte mit dem Präfekten entziehen konnte; vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014. 127 Vgl. Verordnung n° 82-40 vom 16. Januar 1982. Zur konkreten Ausgestaltung und Inanspruchnahme dieser Möglichkeiten vgl. Barbezieux, Philippe: „Le bilan des contrats de solidarité ‚réduction du temps de travail‘ conclus en 1982“, Travail et Emploi 17 (1982), S. 9-21. 128 Vgl. Bericht des CMPDE über „Contrats de Solidarité“, AM 86 W 42. 129 Vgl. Protokoll des Treffens zwischen L.I.P., CMPDE und der Industrie- und Handelskammer, 24. November 1983, AM 86 W 42.
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Stellen. Abermals korrespondierten sie bezüglich der Bürgschaften mit der Stadtverwaltung, der Präfektur und sozialistischen Politikern.130 In Bezug auf den Verkauf der Marke reagierte die Gewerkschaftssektion, seit 1980 auch offiziell von François Laurent vertreten, mit Gegenexpertise. Sie steuerten Berechnungen der zu erwartenden Einkünfte bei und mahnten vergeblich eine Lösung an, die die Marke LIP auch langfristig in den Händen der Genossenschaft halten würde.131 Die Gegenexpertise wurde auch in Bezug auf die übrige ökonomische Situation des Unternehmens von 1984 bis 1986 zum wichtigsten Mittel der gewerkschaftlichen Aktivitäten.132 Diese konnten auch auf persönlichen Kontakten aufbauen. So arbeitete die Lebensgefährtin von François Laurent im selben Büro, welches auch die Bilanzbuchhaltung für L.I.P. durchführte. François Laurent selbst, der als gelernter Lackierer zunächst einen Posten als Putzkraft bei LIP innehatte, war mittlerweile in der Entwicklung und Fertigung von Prototypen tätig, und hatte von dieser Position einen guten Einblick in die Geschäftsentwicklung dieses Bereichs, insbesondere im Geschäft mit den Spulen für Elektronikanwendungen.133 Nach den hohen Verlusten des Jahres 1985 und zu Beginn des Jahres 1986 machte die CFDT-Sektion im Betrieb erhebliche Zugeständnisse. Diese sollten dem besonderen Umstand Rechnung tragen, dass ein guter Teil der Umsätze in der Mechanikabteilung durch das Wegbrechen der Aufträge von IBM und Dupont Nemours ausgeblieben war. So wurde im Januar 1986 eine Kurzarbeitsvereinbarung für 30 Personen unterzeichnet, die Basislöhne wurden 1986 um fünf Prozent gesenkt und die turnusmäßige Anhebung des Lohnzuschlags für die Betriebszugehörigkeit um mehrere Monate ins Jahr 1987 verschoben. Außerdem wurden zahlreiche unbezahlte Überstunden geleistet und ein guter Teil des bezahlten Urlaubs ins Jahr 1987 übertragen. Schließlich stimmte die Gewerkschaftssektion auch einem Antrag des Vorstands auf Förderung aus dem Fonds National de l’Emploi (FNE) für die abermalige Frühverrentung von 13 Personen vor. Als die Vereinbarung in Kraft trat, umfasste diese auch die drei ältesten der letzten verbliebenen acht Personen in der Uhrenabteilung.134 Ein Vertrag zum
130 Vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014. 131 Vgl. Berechnungsbögen der CFDT-Sektion von L.I.P., FGM 10 B 86. 132 Vgl. Briefe von François Laurent (Personaldelegierter der CFDT) und Jacques Burtz (Comité d’Entreprise) an den Vizepräsident des Conseil Régional, Chantelat, vom 15. September 1984 und folgende Korrespondenz, FGM 10 B 86. 133 Vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014. 134 Vgl. Antrag auf Förderung von Frühverrentungen beim FNE vom 10. Februar 1986, FGM 10 B 86.
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„aménagement du temps de travail“ sah zeitweise Arbeit im Zweischichtsystem vor, sowie eine generelle Flexibilisierung der Arbeitszeiten je nach Auftragslage.135 Die Zugeständnisse halfen, 1986 den Konkurs zu vermeiden. Die Verluste 1986 übertrafen mit 3.246.427 FF aber jene aus den beiden Vorjahren noch einmal. Dies veranlasste schließlich die Belegschaft und ihre gewerkschaftlichen Vertreter, die Grenzen ihrer Geduld deutlich zu machen. Als am 9. Juli 1987 die jährliche Genossenschafterversammlung stattfand, hatte Maurice Chaniot vorher bereits überlegt, auf dieser die Konkursanmeldung bekanntzugeben. Mit Vertretern des IDES hatte er Gespräche geführt, wie ein nun als Aktiengesellschaft verfasstes neues Unternehmen mit nochmals deutlich weniger Beschäftigten als bei L.I.P. ein ökonomischer Ausweg sein könnte.136 Den externen Genossenschaftsmitgliedern wurde auf der Versammlung eine Erklärung der Beschäftigten von L.I.P. verlesen.137 Eine anlässlich der Konkursbedrohung einberufene Belegschaftsversammlung hatte vorher eine explizite Einladung an die außerbetrieblichen Genossenschafter verfasst, in der sie auf die schwierige Lage des Betriebs sowie ihre weitgehenden Zugeständnisse in Bezug auf Arbeitszeiten und Löhne hinwiesen. Die Beschäftigten betonten, eine grundlegende Arbeit an den Perspektiven des Betriebs sei nötig, wenn dieser bestehen bleiben solle. Dafür aber brauche es klare Entscheidungen der Geschäftsführung, welche zu treffen diese sich bislang weigere: „Wir können das Laisser-Faire nicht akzeptieren, die Flucht nach vorne, die Betriebsführung von Tag zu Tag ohne Perspektiven.“138 In der Genossenschafterversammlung weigerten sich die anwesenden Beschäftigten entsprechend ihrer Erklärung, den Verwaltungsrat und seinen Präsidenten Chaniot zu entlasten. Im April hatte keine Verwaltungsratssitzung stattgefunden, und angesichts der vagen Perspektiven für das laufende Jahr sei mit einer Verbesserung der Situation so nicht zu rechnen. Die Auseinandersetzung gipfelte in einem Streitgespräch zwischen Maurice Chaniot und François Laurent. Letzterer erklärte, „dass Herr Chaniot ein Randalierer sei und keinerlei Glaubwürdigkeit mehr habe.“139 Insbesondere hatte Laurent kurz zuvor in Gegenwart der Stadtverwaltung noch kritisiert, dass trotz geringerer Umsätze und nur noch etwa 120 Rechnungen im Monat an sechs Angestellten in der
135 Vgl. Jahresbericht des Verwaltungsrats für 1986, AM 86 W 43. 136 Vgl. Protokoll eines Gesprächs zwischen Chaniot und CMPDE vom 7. Juli 1987, AM 86 W 43. 137 Vgl. Protokoll der Genossenschafterversammlung vom 9. Juli 1987, AM 86 W 43. 138 Vgl. Erklärung der Beschäftigten vom 1. Juli 1987, ADD 45 J 90. 139 Protokoll der Genossenschafterversammlung vom 9. Juli 1987, AM 86 W 43.
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Buchhaltung festgehalten worden sei. Eine Personalreduktion war also Konsens. Er hob hervor, dass es unmöglich sei, weiter mit Chaniot zusammenzuarbeiten. Über die CG SCOP sei Laurent bereits in Verhandlungen um einen möglichen Nachfolger eingetreten. Trotz dieser grundlegenden Uneinigkeit wurde am Ende der Sitzung noch über die verschiedenen Pläne zur Personalreduktion debattiert. Während Maurice Chaniot einen weiteren Personalabbau vor allem bei den Arbeiterinnen und Arbeitern vornehmen wollte, drängten das Comité d’Entreprise und die Gewerkschafter auf eine Reduktion in der Verwaltung.140 Alle weiteren Entscheidungen wurden auf eine zweite Genossenschafterversammlung in einigen Wochen vertagt. Maurice Chaniot nutzte jedoch die Zwischenzeit, um ohne Konsultation der Beschäftigten und jenseits der Öffentlichkeit einer Genossenschafterversammlung Konkurs anzumelden. Auch über seine Pläne der Neugründung einer Aktiengesellschaft hatte er gegenüber den Beschäftigten und Genossenschaftern geschwiegen. Bis zuletzt war die Arbeit der „neuen“ Gewerkschaftssektion bei L.I.P. also kompro missorientiert und stärker an der Entwicklung des Gesamtunternehmens orientiert als an abseits davon entwickelten Forderungen. Die diesbezüglichen Vorwürfe der geschäftsführenden Gewerkschafter von 1982 wurden spätestens im Lauf der Folgeereignisse gründlich widerlegt. Die Existenz und die Arbeit sowohl des Comité d’Entreprise als auch einer Gewerkschaftssektion und schließlich eines Personaldelegierten der CFDT bei L.I.P. wurden spätestens seit der Umstrukturierung von 1983 von allen Seiten inklusive der Geschäftsführung als legitim und wichtig angesehen. Mit ihrer Anpassungsbereitschaft in Bezug auf Lohneinbußen, Kurzarbeit, Überstunden und Frühverrentungen betrieb die CFDT-Sektion bei LIP unausgesprochen eine Politik, welche der Recentrage der CFDT auf konföderaler und lokaler Ebene entsprach. Kurze Wege in die Stadtverwaltung und zur Präfektur, Gegenexpertise und Kompromissbereitschaft waren bis zuletzt die Kennzeichen der hauptsächlich von einigen wenigen Personen getragenen Gewerkschaftsarbeit bei L.I.P. Eine Mobilisierung der Belegschaft mit der Einberufung von Belegschaftsversammlungen geschah nur noch, als konkret der Konkurs drohte. Die Vorstellungen von Selbstverwaltung, wie sie Charles Piaget sowie die Amis de Lip mit den Werkstatträten, einer größeren Eigenverantwortung der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie einer veränderten Arbeitsorganisation verbanden, hatten zu Beginn der 1980er Jahre schnell wieder an Bedeutung verloren. Die Spezifika der dementsprechend wiedererstarkten Gewerkschaftsarbeit bei L.I.P. sind dennoch im Zusammenhang mit dem Status als Produktionsgenossenschaft zu verstehen. So erklärt das Ziel des Arbeitsplatz
140 Vgl. Protokoll der Genossenschafterversammlung vom 9. Juli 1987, AM 86 W 43.
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erhalts, den die Genossenschafter auch mit der Stadtverwaltung als Geldgeberin teilten, die Bereitschaft zu weitreichenden Zugeständnissen. Der gezielte Einsatz ökonomischer Expertise verweist nicht nur auf ein gesteigertes gemeinsames Interesse am Erhalt des Betriebs. Die deutlichen Worte der Arbeiterinnen und Arbeiter gegenüber Maurice Chaniot im Zuge der drohenden Konkursanmeldung basieren nicht nur auf gewerkschaftlichem Selbstbewusstsein, sondern auch auf ihrer Rolle als Miteigentümer des Unternehmens.
6.3 U NTERNEHMENSBERATUNG SCEIP UND LIPEMEC
UND
J OBRETTUNG :
Schon die Genossenschaftsgründung von L.I.P. und die Entwicklung der ersten Unternehmenspläne waren maßgeblich von der Expertise des unter Claude Neuschwander 1975 eingestellten Finanzvorstands Michel Garcin und einiger Kollegen getragen worden, die Ende 1977 auf dem besetzten Betriebsgelände von LIP die Beratungsfirma Les Études Industrielles de Palente zunächst als GbR gründeten. Deren pragmatischer, ökonomisch orientierter Zugang war eine der Gründungsströmungen für L.I.P. und CAP gewesen. Die kleine Firma half den LIPArbeiterinnen und -Arbeitern bei Kontakten mit möglichen Geldgebern sowie lokalen und regionalen Behörden (vgl. Kapitel 5). Im Sommer 1977 weitete sich das Betätigungsfeld durch einen ersten Vertrag mit der algerischen Regierung zur Beratung im Bereich der mechanischen und Uhrenindustrie aus. Im Oktober 1980 gründeten die Beteiligten angesichts des bevorstehenden Wegzugs aus Palente und der guten Auftragslage die SCOP SCEIP (Services, Conseils, Études, Promotion). Die Beratungsfirma bezog bald darauf neue Büroräume in der Innenstadt Besançons. Ende 1980 hatte die Firma bereits neun Angestellte und 1982 zeitweise sogar zwanzig, von denen zehn vorher bei LIP gearbeitet hatten.141 Diese konzentrierten sich unter der Geschäftsführung von Michel Garcin bis zur Auflösung der Genossenschaft im Jahr 1991 auf verschiedene Betätigungsfelder: Mit Beratungsverträgen aus Kamerun wurde die in Algerien begonnene Arbeit im Bereich des Technologietransfers fortgesetzt und bald als eigenständige Abteilung „Dritte Welt“ präsentiert. In der Beratung kleiner und mittlerer Unternehmen wurden die Schwerpunkte auf internationale Kontakte und Exportförderung sowie im lokalen und regionalen Zusammenhang auf die Begleitung von betrieblichen Umstrukturierungen und Arbeitsplatzerhalt ge-
141 Vgl. Le Point sur la SCEIP No. 2, November 1980, BDIC F Δ rés. 702/21; vgl. Terrieux, Gérard: L’expérience Lip, Paris 1983., S. 171.
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legt.142 Eine enge Vernetzung fand diesbezüglich mit den regionalen Wirtschaftsförderungsinstanzen statt. Aufträge kamen etwa von den Regionalbehörden der Franche-Comté und des Burgund. Für die Maschinenfabrik Mischler wurde ein Rettungsplan entwickelt, der den Betriebsausschuss und das CIASI einbezog: Mit 330 Arbeitsplätzen konnte hier das Gros der Beschäftigten gehalten werden. Genossenschaftsgründungen waren nicht das vorrangige Ziel bei der Beratung, aber immer wieder wurden solche begleitet, zum Beispiel bei der Firma Wittmer, wo eine SCOP mit 41 Beschäftigten gegründet wurde und bei der Firma Céralis in Seurre im Burgund. In einigen dieser Fälle wurden die Leistungen der SCEIP von der jeweiligen Kommune bezahlt, in einigen vom Conseil Régional. Auch von der CG SCOP kamen Aufträge.143 Mit der Auflösung der Genossenschaft SCEIP im Jahr 1991 waren deren Geschäftstätigkeiten längst nicht erschöpft. Michel Garcin, der in den 1990er Jahren in Paris eine neue Beratungsfirma gründete, blieb noch lange in der Begleitung von Unternehmensumstrukturierungen aktiv.144 Erkennbarer Schwerpunkt der Genossenschaft SCEIP in den frühen 1980er Jahren war der Arbeitsplatzerhalt im regionalen Umfeld. In der Beratungstätigkeit wurden bei anderen metallverarbeitenden Betrieben die technischen Kompetenzen aus dem Betrieb von LIP ebenso nutzbar gemacht wie Erfahrungen mit staatlichen Förderstrukturen, die im Laufe der Auseinandersetzung um Arbeitsplätze bei LIP gesammelt worden waren. Ein gutes Beispiel für die Tätigkeit der SCEIP ist die Gründung einer Produktionsgenossenschaft aus der Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans, die bis November 1973 zu LIP gehört hatte. Im Oktober 1973 hatten ihre Beschäftigten im Gegensatz zur Belegschaft in Palente für eine Annahme des von ihrem damaligen Verhandlungsgegenüber Henry Giraud präsentierten Unternehmensplans gestimmt. Seitdem gehörte ihre Fabrik der Betreiberfirma SUPEMEC. Auch diese geriet Ende der 1970er Jahre in finanzielle Schwierigkeiten. Als SUPEMEC 1981 Konkurs anmeldete, konnten die verbliebenen 95 Arbeiterinnen und Arbeiter in Ornans nur mit ihrer Entlassung rechnen. 20 Beschäftigte gründeten Ende September 1982 für die Fortsetzung der Produktion und den Erhalt ihrer Arbeitsplätze eine Produktionsgenossenschaft. Hierfür erhielten sie die Unterstützung der CGT, die in der Fabrik stets die stärkste Gewerkschaft gewesen war. Zu den Sozialverhältnissen im Genossenschaftsbetrieb und zu dessen ökonomi-
142 Vgl. Le Point sur la SCEIP No. 3, März 1981, BDIC F Δ rés. 702/21. 143 Vgl. Bericht des Präsidenten der CG SCOP an den Verwaltungsrat der SCOP SCEIP vom 6. Juli 1981, BDIC F Δ rés. 702/21. 144 Vgl. den Artikel „Michel Garcin – L’homme qui croit aux réseaux“, in Le Monde, 12. März 1996.
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scher Entwicklung im Laufe der 1980er Jahre fehlen die Quellen. Der Gründungsprozess ist jedoch in zweierlei Hinsicht interessant: Erstens geschah diese Genossenschaftsgründung mit deutlich größerer Routine als noch 1977 bei L.I.P. in Palente. Zweitens konzentrierten sich die Beteiligten pragmatisch auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Die CGT, noch Mitte der 1970er Jahre extrem skeptisch gegenüber Genossenschaftsgründungen, agierte hierbei als treibende Kraft. An die mit LIP geteilte Geschichte wurde angeknüpft, indem SCEIP mit Gutachten und Entwicklungsplänen beauftragt wurde und indem die Genossenschafter für das neue Unternehmen den Namen LIPEMEC wählten. Und zweitens wurde den Gründern der Genossenschaft die direkte Unterstützung des sozialistischen Industrieministers Jean-Pierre Chevènement zuteil. Von einer direkten finanziellen Beteiligung des Staates rieten seine eigenen Experten im CIASI ab, Chevènement sorgte aber dafür, dass die neue Genossenschaft 1,5 Mio. FF an staatlichen Krediten erhalten konnte. Dieses Geld wurde im Rahmen eines staatlichen Plans gewährt, der im Werkzeugmaschinenbau die einheimische Produktion stärken und so helfen sollte, das Außenhandelsdefizit zu reduzieren. Die Unterstützung stand also in direktem Zusammenhang mit der Industriepolitik Chevènements. Am 25. September 1982 kam dieser auch persönlich nach Besançon zur Messe Micronora, wo die Genossenschaftsgründer einen Stand aufgebaut hatten, und erklärte dort seine Motivation in dieser Frage. Schließlich bat Chevènement den Bildungsminister, die Schulbehörde als alten Kunden von LIP und SUPEMEC anzuweisen, bei LIPEMEC für 1,9 Mio. FF P400-Flachschleifmaschinen zum Gebrauch in Berufsschulen zu bestellen.145 Sämtliche Pläne, auch der von SCEIP entwickelte, sahen vor, nur maximal 25 Personen bei LIPEMEC einzustellen. Dass die Initiative einer Minderheit der Beschäftigten dabei die anderen außen vor ließ, stieß bei anderen Belegschaftsmitgliedern auf Empörung. So unterzeichneten vier Arbeiterinnen und Arbeiter am 29. September 1982 einen handschriftlich in wütender Eile verfassten Brief an den Bürgermeister von Ornans und den Industrieminister, um ihrer Empörung darüber Ausdruck zu verleihen, dass sie zum Termin der Genossenschaftsgründung nicht eingeladen worden waren. Lediglich aus der Zeitung hätten sie am selben Tag davon erfahren. „Es durften nur ein kleines Grüppchen anwesend sein, dessen Aktivitäten im Unternehmen seit 17 Monaten uns nicht besonders entscheidend erscheint.“ [Streichung i. O.]146 Die CGT hingegen zeigte sich
145 Vgl. das Dossier zu SUPEMEC-LIPEMEC, AN 19910432/12. 146 Brief von Annette Evezard und drei Kollegen an den Bürgermeister von Ornans, das Mitglied des Conseil Général du Doubs M. Chapelain und Chevènement als Industrieminister, AN 19870344/34.
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grundsätzlich mit der erzielten Lösung zufrieden, zumal sie in ihr eine Stärkung der Regierungspolitik erkannte. In einem Brief der regionalen CGT an das Ministerium schloss diese auch die Arbeiter von SUPEMEC ein, als sie feststellte: „Die CGT, die Arbeiter des Unternehmens haben dankbar Ihre Entscheidung aufgenommen, die sich in die Regierungsbemühungen zur Rückgewinnung des Binnenmarktes einschreibt – denn LIPEMEC (Ex-Supemec) stellt Werkzeugmaschinen her, ein besonders defizitärer Bereich in unserer Außenhandelsbilanz.“147 Während vor Ort bei einigen Unzufriedenen offenbar Vorstellungen eines Kampfes um alle Arbeitsplätze des Betriebs fortlebten, an dem alle ehemaligen Beschäftigten teilnehmen sollten, entwickelte sich zwischen der CGT und der Regierung eine Routine zur Rettung einiger, weniger Arbeitsplätze. Von den diesbezüglichen Verhandlungen war ein guter Teil der Beschäftigten offenbar ausgeschlossen. Gerne war die CGT bereit, dass Ziel des Arbeitsplatzerhalts der Industriepolitik der Regierung unterzuordnen, an der sich auch die der CGT politisch verbundene Kommunistische Partei beteiligte. Und vom 1973 und 1976 bei LIP in Palente offensiv vorgetragenen „emploi pour tous“ hatten sich auch die anderen beteiligten Akteure mittlerweile deutlich entfernt. Noch heute stellt LIPEMEC mit etwa 20 Beschäftigten das damals wichtigste Produkt, die Flachschleifmaschine P400, sowie einige weitere Schleifmaschinen zur Metallbearbeitung her.148 Deren Funktionsweise integrierte im Laufe der 1980er Jahre elektronische Steuerelemente. In der Zeitschrift SCOP Plus wurde dies 1988 als Erfolg herausgehoben. Der ökonomische Erfolg von LIPEMEC wurde darin auch auf die konsensuelle Übernahme des Betriebs – der mit dem Konkurs abgetretene Geschäftsführer traf sich mehrmals mit den SCOPGründern – und die politische Unterstützung zurückgeführt, vor allem aber auf die erfolgreiche Arbeit der Belegschaft. Monatliche Informationsversammlungen wurden in dem Artikel erwähnt, ansonsten aber keine Fragen von Beteiligung und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz thematisiert.149 Von der in Besançon und Ornans 1973 offensiv vorgetragenen Forderung nach dem Erhalt aller Arbeitsplätze war bei LIPEMEC 1982 lediglich noch bei den Beschäftigten vor Ort eine Spur zu finden. Zwischen Regierung und Gewerkschaften entwickelten sich stattdessen Routinen zur Rettung einiger Ar-
147 Brief der CGT Franche-Comté an das Industrieministerium vom 8. November 1982, AN 19870344/34. 148 Vgl. die Präsentation der heutigen Aktivitäten auf der Webseite der Genossenschaft www.lipemec.com, abgerufen am 19. Oktober 2016. 149 Vgl. „Lipemec, le temps de la consolidation“, in SCOP Plus No. 458, April 1988, ADD 45 J 90.
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beitsplätze im Rahmen von Belegschaftsübernahmen, zumal wenn sich diese wie in Ornans in die industriepolitische Orientierung der Regierung einfügten. Auch bei den Unternehmen L.I.P. und CAP ist diese Routinisierung von Unternehmensabwicklungen und Sozialplänen seit Ende der 1970er Jahre deutlich geworden. Die aus LIP hervorgegangenen Produktionsgenossenschaften griffen auf Fördermaßnahmen der Region und des Zentralstaats zurück, welche beispielsweise auf Arbeitsplatzerhalt durch Arbeitszeitverkürzung zielten. Les Industries de Palente schrieb sich darüber hinaus in die Bemühungen des Ministers Michel Rocard ein, ausgehend von der Économie Sociale einen sogenannten „dritten Sektor“ neben dem privatwirtschaftlichen und dem Staatssektor aufzubauen. Interne Streitigkeiten in den Genossenschaften führten gemeinsam mit der Ungeduld der Geldgeber dazu, dass die in diesem Rahmen gewährten Hilfen 1983 an Bedingungen geknüpft wurden, L.I.P. auf der Unternehmensebene organisatorisch dem Großteil der französischen Aktiengesellschaften anzugleichen. Die erweiterten Mitbestimmungs- und Partizipationsansprüche, die sich bei L.I.P. 1980 in Anlehnung an die Selbstverwaltungsstrategie der CFDT in der Einführung von Werkstatträten niederschlugen, wurden von einem Teil der Beschäftigten auch über das baldige Einschlafen dieser Gremien hinaus fortgetragen. In der Druckerei bei CAP äußerten sich gesteigerte Ansprüche an die Lohngleichheit, und zumindest in der Anfangszeit gab es sowohl bei CAP als auch bei L.I.P. von verschiedenen Seiten geteilte Bemühungen, die Lohnspreizung in den Betrieben zu reduzieren. Jedoch entwickelte sich in den Betrieben schnell eine Gegenüberstellung von Vorstand auf der einen und Arbeiterinnen und Arbeitern auf der anderen Seite. Anstatt im Sinne der von den Mitgliedern des „noyau“ vorgetragenen Pädagogik gemeinsam und selbstverantwortlich für das Unternehmen einzustehen, entwickelte sich bei L.I.P. angesichts dieser Situation schnell wieder eine gewerkschaftliche Betätigung. An dieser beteiligten sich vor allem einige wenige Aktive. Die Charakteristika dieser Gewerkschaftsarbeit bei L.I.P. verwiesen wie gezeigt immer noch auf deren Status als Produktionsgenossenschaft und das gemeinsame Ziel des Arbeitsplatzerhalts. Teilten sie auch die ökonomischen Abhängigkeiten mit zahlreichen anderen kleinen und mittelgroßen Unternehmen, so wurden die aus LIP hervorgegangenen Produktionsgenossenschaften also auch bis zu ihrer Konkursanmeldung in mancher Hinsicht keine „Betriebe, wie alle anderen“.
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Abbildung 10: Wiedereröffnung der Kantine als SCOP „Au chemin de Palente“
Foto: Bernard Faille, Archives Municipales de Besançon
Abbildung 11: Präsentation der Industries de Palente nach dem Umzug
Foto: Bernard Faille, Archives Municipales de Besançon
7. Arbeiten und Leben, 1981-1987
In den aus LIP hervorgegangenen Produktionsgenossenschaften dominierte die politische Mobilisierung Mitte der 1980er Jahre nicht mehr die Verhältnisse im Betrieb. Der Verkauf geschah über Fachhändler und Kaufhäuser anstatt in Belegschaftsversammlungen und auf Demonstrationen. Die basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen der Betriebsbesetzung waren definierten Zuständigkeiten gewichen, und die Arbeit in den beiden Zulieferbetrieben Les Industries de Palente (L.I.P.) und Les Commissions Artisanales de Palente (CAP) erschien einigen Beteiligten als Rückfall in die Zeit vor den beiden Arbeitskämpfen von 1973 und 1976. In den Jahren 1981 und 1982 wurden die Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen – wie in Kapitel 6 gezeigt – vor allem in den Aufsichtsräten der beiden Genossenschaftsbetriebe L.I.P. und CAP sowie im Freundschaftsverein Les Amis de Lip diskutiert. Für die Zeit danach müssen andere Quellen herangezogen werden, um zu beurteilen, wie sich die Arbeitsverhältnisse weiter entwickelten, und um zu fragen, ob die seit 1973 geäußerte Kritik in den Produktionsgenossenschaften einen Nachhall fand, die an den damaligen Hierarchien im Betrieb, den besonderen Belastungen der angelernten Arbeiterinnen an den Arbeitsplätzen mit großer Lärm- und Schmutzbelastung und den seriellen und repetitiven Arbeitsabläufen vor allem in der Montage geäußert worden war. Schlugen sich in den Genossenschaften veränderte Ansprüche an die eigene Arbeit und an die Selbtbestimmung am Arbeitsplatz nieder? Im ersten Teil des Kapitels wird diesen Fragen in Bezug auf Lernerfahrungen und berufliche Entwicklungen in den Genossenschaftsbetrieben nachgegangen. Die wichtigsten Zeugnisse persönlicher und kollektiver Lernerfahrungen werden hierbei statistischen Daten zur Belegschaftsstruktur und zu deren Entwicklung gegenübergestellt. Welche Teile der Belegschaft konnten von Betriebsbesetzung und Genossenschaftsgründung profitieren, für wen waren die Genossenschaftsgründungen in Bezug auf die eigenen Arbeitsbedingungen keine Erfolgsgeschichte? Für die Untersuchung der konkreten Arbeitsbedingungen und
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der Lohn- und Sozialstruktur stehen anders als für die Mitte der 1970er Jahre keine eingreifenden Enquêtes, keine Befragungen im Auftrag der Unternehmensleitung, keine soziologischen Studien und keine ausführlichen Diskussionsprotokolle mehr zur Verfügung. Mit deren Hilfe wurde in Kapitel 3 untersucht, wie sich die alltäglichen Arbeits- und Lebensverhältnisse der LIPBeschäftigten zwischen 1974 und 1976 veränderten. Diese Reduktion des vorhandenen Quellenmaterials ist ein Zeugnis der nachlassenden Politisierung der Betriebe. Sie erschwert die Untersuchung und nötigt zum Rückgriff auf das vorhandene, statistische Material, darunter die Sozialbilanzen der Genossenschaft Les Industries de Palente. Im zweiten Abschnitt des Kapitels wird der Verbleib derjenigen Personen untersucht, die entweder keine Anstellung in den Betrieben bekamen oder bald aus diesen ausschieden. Es wird gefragt, wer von ihnen an Erfahrungen aus dem vorherigen Beruf anknüpfen konnte, wer die Erfahrungen der Arbeitskonflikte für eine berufliche Umorientierung nutzbar machte und für wen diese Erfahrungen eher ein Hemmnis auf der Suche nach bezahlter Arbeit darstellten. Eine umfassende quantitative Erfassung dieser Gruppe existiert nicht. Um eine solche zu erstellen, fehlt das Quellenmaterial. Eine Annäherung an diese Gruppe kann dennoch vorgenommen und mit einigen individuellen Lebensläufen verknüpft werden. Hierbei helfen die Unterlagen des städtischen Centre Municipal de Promotion et de Développement Économiques (CMPDE) sowie die vom Verfasser und anderen Forscherinnen und Forschern geführten Interviews.
7.1 L ERNEN UND BERUFLICHE E NTWICKLUNG IM G ENOSSENSCHAFTSBETRIEB Einige der Genossenschafts- und Vereinsgründungen zeugen besonders von den Lernerfahrungen der Betriebsbesetzung und von deren Fortsetzung in den 1980er Jahren. Gleichzeitig werfen diese Erfahrungen die Vermutung auf, dass vor allem kleine Gruppen besonders Aktiver hiervon profitieren konnten. So war die Gründung des Vereins CLEF – Collectif de Liaison, Études et Formation 1978 im Wesentlichen auf die Initiative jener 13 Personen zurückzuführen, die auf Anregung und mit Hilfe von Dominique Bondu in Paris an Ausbildungen zum Conseiller du Travail bzw. einem zweijährigen Studium der Administration Économique et Sociale teilnahmen. Beide Studiengänge waren nach
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einer Aufnahmeprüfung auch ohne Abitur zugänglich.1 An den übrigen Tagen widmeten sich die Mitglieder der nun als Verein eingetragenen Gruppe ihrem Studium, bzw. dem, was Bondu selbst eine „Philosophiewerkstatt“ nannte. Die LIP Unité hielt fest, man könne die Teilnehmenden in der Fabrik sehen, wie sie sich „mit einem Text von Marcel Mauss“ herumschlügen oder „die Probleme des Jakobinismus und des Bonapartismus“ studierten.2 Zwischen dieser Gruppe und den übrigen Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem LIP-Gelände kam es zu Spannungen, als die Produktion auf dem besetzten Gelände zunehmend geregelte Formen annahm. Während die einen in Besançon in der Produktion arbeiteten, lasen die anderen und fuhren jeden Freitagmorgen nach Paris zum Studium, und dies über den Zeitraum von zwei Jahren. Im Gegensatz zu manchen anderen Aktivitäten war dies als Teil jenes „lutter et construire“ anerkannt, welches nach den schriftlichen Übereinkünften der Beteiligten seit 1977 für jeden mindestens 25 Stunden in der Woche einnehmen sollte. Hierfür erhielten die Beteiligten im Gegenzug einen Anspruch auf Zahlungen aus der Solidaritätskasse (vgl. Kapitel 5). Der Verein hatte ursprünglich die Einrichtung eines Begegnungs- und Veranstaltungszentrums auf dem LIP-Gelände zum Ziel. Als 1980 der Umzug aus Palente feststand, orientierte der Verein sich um. Bald wurde ein Haus in den Bergen des französischen Jura gekauft und dessen Umbau zu einem Ferienheim in Angriff genommen. Dort und mit Rundreisen in der Franche-Comté unterbreiteten bald vier (Teilzeit-)Beschäftigte Angebote des „tourisme social“, die sich an Betriebsausschuss- und Belegschaftsgruppen, gemeinnützige Vereine und Rentnergruppen richteten – und theoretisch auch an die ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter. Der Name „CLEF“ war auch symbolisch gemeint, sollten diese Aktivitäten doch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Schlüssel – französisch clef – zu historischem und kulturellem Wissen und zu eigenen kol-
1
Conseillers du Travail sind heute in den betrieblichen Sozialdiensten von etwa 5.000 französischen Unternehmen beschäftigt und werden seit jeher ausschließlich an der École Supérieure du Travail Social ausgebildet. Sie sollen „das Wohlergehen des Arbeiters im Unternehmen und seine Anpassung an die Arbeit“ beaufsichtigen (Art. D 4632-8 und -9 des Code du Travail). Ursprünglich wurde diese Tätigkeit ausschließlich von Frauen ausgefüllt. Die damals noch Surintendantes du Travail genannten Fürsorgerinnen waren im Ersten Weltkrieg, 1917, zur Einhegung betrieblicher Konflikte in der Rüstungsindustrie eingeführt worden, vgl. Abattéa, François: „Surintendantes d’usines – conseiller du travail et conseiller en économie sociale familiale: deux dynamiques professionnelles divergentes“, Revue française des affaires sociales 3 (2004), S. 205-230.
2
LIP Unité, deuxième série No. 14, Dezember 1978, S. 9.
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lektiven Erfahrungen dienen. Die einwöchigen Rundreisen, die CLEF im Winter 1980/81 anbot, umfassten einen Besuch bei den Genossenschaftsbetrieben L.I.P. und CAP, in einer genossenschaftlichen Comté-Käserei, im Courbet-Museum in Ornans sowie in den königlichen Salinen von Arc-et-Senans.3 Hier waren 1973 die Verhandlungen zwischen Henry Giraud und den Gewerkschaftern von LIP gescheitert.4 Im Vorstand des Vereins waren Dominique Bondu und Jean Raguenès.5 Auch Roland Vittot engagierte sich im Ferienheim, nachdem er 1983 bei L.I.P. ausgeschieden war. Im Jahr 2015 resümierte Bondu noch einmal seine Erfahrungen in einem Artikel. Darin berichtete er von der beeindruckenden Erfahrung, seiner Meinung nach mit den LIP-Arbeitern 1973 und schließlich ab 1977 eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben; in Kapitel 5 wurde dagegen gezeigt, dass seine Vorstellungen von einer Communauté nur von wenigen Arbeiterinnen und Arbeitern geteilt wurden. Zwei Erfahrungen waren es schließlich, an denen sich auch Bondu selbst zufolge die „gemeinsame Sprache“ in den 1980er Jahren getrennt hätte: Einmal an einer zunehmenden Engführung auf die wirtschaftliche Entwicklung der Unternehmen, die er interessanterweise in der Person von Charles Piaget repräsentiert sah, und zweitens in den Auseinandersetzungen zwischen Bondu und Roland Vittot als Angestelltem der CLEF, der dort seine gewerkschaftlichen Gewohnheiten reproduziert habe. Trotz der Gegenüberstellung mit dem „Gewerkschafter“ Vittot schrieb sich Bondu selbst in der Rolle des Vereinsvorstands keineswegs eine Engführung auf unternehmerische Probleme zu.6 Diese spärlichen Eindrücke legen nahe, dass auch CLEF trotz des Charakters als Verein zunehmend ein Betrieb wurde, in dem sich die Geschäftsleitung und die Beschäftigten konflikthaft gegenüber standen. Seine Gründung folgte jedoch Impulsen, die sowohl aus Erfahrungen der Betriebsbesetzung als auch aus dem Studium stammten, und vor allem dem Willen, soziale Ziele und berufliche Selbstentfaltung miteinander zu verbinden. Der Verein sollte den Zusammenhalt zwischen den ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeitern verbessern und einigen von ihnen eine sinnvolle Arbeit ermöglichen.
3
Vgl. Katalog des Vereins CLEF 1980/81, BDIC F Δ rés. 702/21.
4
Die architektonische Anlage dieser im späten 18. Jahrhundert gebauten Saline folgte Idealen einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft und ist heute Bestandteil des UNESOWeltkulturerbes.
5
Vgl. Sitzungsprotokolle der CLEF von 1979, BDIC F Δ rés. 702/21.
6
Bondu, Dominique: „L’élaboration d’une langue commune : Lip - la GP“, Les Temps Modernes 3-4 (2015), S. 73. Vgl. zu dessen Erfahrung und der anderer „établis“ Reid, Donald: „Le grand récit des établis (et ses multiples entrées)“, Les Temps Modernes 3-4 (2015), S. 34-53.
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Auch für die Genossenschaft CAP hatte die Gruppe aus Studierenden eine Bedeutung. So zog deren Vorstandsvorsitzender Dominique Enfraze einen guten Teil seines geschäftsführerischen Selbstbewusstseins aus dem Studium in Paris. Mit dem spezifischen Wissen um die Unternehmensplanung versuchte dieser auch, die Arbeit der Holzwerkstatt nach seinen Maßstäben anzuleiten und einzurichten. Die in Kapitel 6 geschilderten Konflikte aus den Jahren 1981 und 1982 waren auch auf diese unterschiedlichen Wissensbestände und den Umgang mit ihnen zurückzuführen. Die neu eingestellten Schreiner sollten theoretisch möglichst viel von ihrem Wissen teilen; dies änderte jedoch nichts an der Arbeitsteilung, in der den angelernten Arbeiterinnen von LIP, Frauen, abermals Plätze in der seriellen Produktion von Möbeltüren zugewiesen wurden. Von ihren konkreten Erfahrungen bei CAP ausgehend fasste Fatima Demougeot Ende 1981 anlässlich eines Treffens Femmes et Travail die ihrer Meinung nach wichtigsten Faktoren zusammen, die die fortbestehende Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in den Genossenschaften bedingten. Neben der Konzentration auf die Kernbereiche industrieller Fertigung in den Verhandlungen um die Unternehmenspläne erkannte sie diese auch in der ererbten Produktionsstruktur und deren geplanter Konversion. Während die Arbeitsplätze bei CAP ohnehin bedrohter seien, erschien ihr bei L.I.P. in erster Linie die absehbare Verkleinerung der Uhrenabteilung bedenklich, welche abermals überproportional die Frauen betreffen werde. Der fortbestehende Drang der Männer, sich mit ihrem beruflichen Wissen und ihren Sprechgewohnheiten in den Vordergrund zu drängen, habe allerdings bereits in den Verhandlungen zu diesen Ergebnissen beigetragen. Demougeot stellte fest, dass eine Frauengruppe im Betrieb hier möglicherweise hätte Abhilfe schaffen können.7 Eine solche hatte es zwischen März und November 1974 gegeben. Sie war damals wichtig für die Reflektion über den Arbeitskampf von 1973. Während der zweiten Betriebsbesetzung war eine solche Gruppe jedoch nicht wiederbelebt worden. Im Rückblick von heute erinnert sich Fatima Demougeot, auch in den 1980er Jahren häufig die einzige gewesen zu sein, welche die speziellen Probleme, mit denen die Frauen des Betriebs konfrontiert waren, als solche artikuliert habe.8 So bleibt festzuhalten, dass die gewerkschaftliche Konzentration auf die industrielle Betätigung der Genossenschaft L.I.P. und der unterschiedliche Zugang zu Fördermitteln die Ausgangsbasis für die Reproduktion der Hierarchien zwischen Männern und Frauen
7
Vgl. Demougeot, Fatima: Femmes de Lip, à l’heure des coopératives, intervention faite pour la rencontre „femmes et travail“, Ende 1981, ADD 45 J 83.
8
Vgl. Interview des Verfassers mit Fatima Demougeot, 2. Juli 2014.
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in der alltäglichen Arbeit bildeten. Der unterschiedliche Zugang zu Wissen und Kontakten verstärkten diese Tendenz. Die Druckerei, die zunächst Teil des Betriebs CAP blieb und sich im November 1981 als eigenständige Genossenschaft unter dem Namen La Liliputienne konstituierte, nahm einige Ansprüche an egalitäre Lohngestaltung und möglichst gleichberechtigte Arbeitsbeziehungen auf. Die wesentlichen Qualifikationen hatten sich ihre Protagonisten im Laufe der beiden Arbeitskonflikte und im Kontakt mit anderen, politischen Initiativen angeeignet. Die Betriebskantine schließlich, die bis zum Wegzug aus Palente im März 1981 von 13 Personen im Rahmen der Betriebsbesetzung zunächst zum „salaire de lutte“ und seit 1980 als Konsumgenossenschaft betrieben worden war, wurde 1982 als Produktionsgenossenschaft neu gegründet.9 Unter dem Namen Au chemin de Palente bezog sie Räume neben der Halle von L.I.P. im Chemin des Montarmots, wo sie sich auch an die Kolleginnen und Kollegen anderer, benachbarter Betriebe richtete. Ein junger, arbeitsloser Koch wurde eingestellt, die sechs übrigen Kolleginnen und Kollegen kamen von LIP, vier von ihnen waren vorher Arbeiterinnen in der Uhrenabteilung gewesen.10 Anfangs ging nur etwa ein Drittel der Beschäftigten von L.I.P. in der Kantine essen, zur besseren Vorberechnung wurden Tickets im Vorverkauf abgegeben.11 In den folgenden zwei Jahren gingen dann in den Nachbarbetrieben von L.I.P. und CAP etwa 150 Arbeitsplätze verloren, sodass der Betrieb im Rahmen eines Konkursverfahrens im Herbst und Winter 1985 zeitweise von einer Kette, der Société Générale de Restauration, übernommen wurde. Im Februar 1986 mündete das Konkursverfahren jedoch in der Liquidation. Zwei der ehemaligen LIP-Beschäftigten der Kantine gingen in Frührente, die übrigen wurden in die Arbeitslosigkeit entlassen.12 Alain Springaux, der Geschäftsführer dieser SCOP, äußerte sich gegenüber Joëlle Beurier darüber, dass in der Kantine das, was für ihn Selbstverwaltung bedeutet hätte, nur in Ansätzen mit Leben gefüllt worden sei: „Wenn wir von Selbstverwaltung sprechen, dann heißt das, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, die Arbeit zu teilen, Verantwortlichkeiten gemeinsam zu übernehmen (…). Wir haben immerhin Versuche gemacht (…). Aber wer zog am Ende die Fäden? Das war ich, mit einem Kollegen.“13 Neben dem Ziel, den ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und
9
Vgl. „Premier diagnostic du restaurant Lip“, BDIC F Δ rés. 702/15.
10 Ebenda. 11 Vgl. Verwaltungsratsprotokoll der SCOP „Au chemin de Palente“ vom 1. Juni 1982, BDIC F Δ rés. 702/15. 12 Vgl. Est Républicain, 22. Februar 1986. 13 Beurier, Joëlle: La mémoire des Lip, S. 32.
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-Arbeitern wieder einen gemeinsamen Ort für das Mittagessen und den gegenseitigen Austausch zu bieten und für einige ehemalige Arbeiterinnen aus der Uhrenabteilung Arbeitsplätze zu schaffen, waren also auch hier Vorstellungen vorhanden, über die gemeinsame Arbeit gemeinsam zu entscheiden. Dass ihr Vorstand seine Hoffnung auf eine größere Verteilung seiner geschäftsführerischen Verantwortung nicht erfüllt sah, muss dabei keineswegs bedeuten, dass es am Arbeitsplatz keine größere Selbstbestimmung gab. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass besonders einige gewerkschaftlich und in den Betriebsbesetzungen aktive Personen schnelle berufliche Entwicklungen und Umorientierungen erlebten, für die sie auch die Erfahrungen aus den beiden Arbeitskämpfen nutzbar machen konnten; dies trifft vor allem für Jüngere zu. So erhielt François Laurent, der ursprünglich als gelernter Lackierer zu LIP gekommen war und 1973 noch als Reinigungskraft mit Ausfegen und Wischen beschäftigt war, bei seiner Wiedereinstellung 1975 eine Fortbildung in der von Charles Piaget geleiteten Mechanikwerkstatt. In der Genossenschaft L.I.P. war er schließlich in der Entwicklung von Prototypen beschäftigt. Jacques Burtz, sein Kollege als oppositioneller Gewerkschafter, wurde später, in den 1990er Jahren, Geschäftsführer des Nachfolgebetriebs der Genossenschaft L.I.P. (Lip Précision SA), als dieser mit seinen etwa 20 Beschäftigten abermals in eine Genossenschaft überführt wurde. Michel Jeanningros hatte während der zweiten Betriebsbesetzung ein zweijähriges Deutsch-Studium gemacht, in welches er auch ein Praktikum beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Köln integrierte.14 Diejenigen also, die bereits vorher einen Zugang zu akademischer Bildung hatten, nutzten diesen, um sich weitere arbeitsmarktrelevante Kenntnisse anzueignen, die sich mit den Zielen der Genossenschaftsgründungen überschnitten. Einige junge Arbeiter erweiterten im Rahmen der Betriebsbesetzungen und der darauf folgenden Arbeit im Genossenschaftsbetrieb ihre beruflichen Fertigkeiten im Rahmen ihrer praktischen Tätigkeit. Die Arbeiterinnen bei CAP hingegen mussten sich zwar ebenfalls zahlreiche neue, praktische Fertigkeiten aneignen. Dennoch waren sie im Anschluss weitgehend mit den ausführenden Arbeiten in der industriellen Produktion betraut. Wie hatten sich die Arbeitsbedingungen für das Gros der Beschäftigten bei Les Industries de Palente entwickelt? In einer Reportage in der Libération im Sommer 1983 wurde der neue Geschäftsführer Maurice Chaniot zitiert. Er zeigte sich erstaunt, wie hartnäckig bei L.I.P. die alte Arbeitsteilung nach dem Muster der Fabrik LIP fortlebte:
14 Vgl. Demougeot, Fatima: Femmes de Lip, à l’heure des coopératives, intervention faite pour la rencontre „femmes et travail“, Ende 1981, ADD 45 J 83.
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„In der Uhrenabteilung arbeiten sie noch wie in der alten LIP-Fabrik, wo sie 800 Uhren am Tag hergestellt haben, während heute nicht mehr als dreißig produziert werden. Die Produkte haben keine Bedeutung für jeden Arbeiter in der Reihe, obwohl sie die Uhr auch von Anfang bis Ende produzieren könnten.“15
In seiner öffentlichen Darstellung schloss er hiermit an die Bemühungen der Geschäftsleitung Claude Neuschwanders von 1974 bis 1976 an, deren Mitglieder für sich als Ziele formuliert hatten, „die Aufgaben zu humanisieren“, und hierfür langfristig die Einrichtung semi-autonomer Arbeitsgruppen anvisierten. Für die damaligen Vorstandsmitglieder bedeutete die „Humanisierung“ offenbar ebenso wie für Chaniot in erster Linie eine veränderte Arbeitsteilung, welche den einzelnen Arbeiterinnen und Arbeitern eine größere Verantwortung für das Endprodukt beigemessen hätte. Zu einer tatsächlichen Veränderung der Arbeitsteilung in diesem Sinne kam es abermals nicht mehr. Vielmehr begann kurz nach dem Antritt Chaniots als Vorstandsvorsitzender die schrittweise Abwicklung der Uhrenabteilung, zunächst durch den Verkauf der Marke, dann durch die Integration der Produktion bei der Société Mortuacienne d’Horlogerie (SMH). Die begonnene Umorientierung eines Teils der Uhrenproduktion und ihrer Beschäftigten auf die Herstellung von miniaturisierten Spulen, die von den Beteiligten einigen Lernaufwand verlangt hatte, kam 1985 mit wegbrechenden Aufträgen an ihr Ende. Die Meister hießen weiterhin wie seit Zeiten der Betriebsbesetzung „animateurs d’atelier“; schon damals hatten ehemalige Meister im Interview jedoch betont, die damit verbundene Arbeit sei im Wesentlichen die alte.16 Dies gilt offenbar auch für die Zeit nach 1983, wie François Laurent im Interview bestätigt.17 Spielte die berufliche Weiterbildung im formalen Sinn eine gesteigerte Rolle in der Genossenschaft? Zwei Prozent der Lohnsumme wurden 1983 für berufliche Weiterbildung verwendet. 36 Personen nahmen in dem Jahr an Maßnahmen beruflicher Weiterbildung teil, lediglich zwei Personen nahmen einen Anspruch auf individuellen Bildungsurlaub wahr.18 Damit bewegte sich die Genossenschaft L.I.P. leicht über den gesetzlichen Verpflichtungen, die Unternehmen seit 1971 dazu anhielten, einen bestimmten Teil der Lohnsumme zur beruflichen
15 Vgl. den Artikel von Sabine Gherardi: „Les Lip contre la montre“, in Libération, 22. Juni 1983. 16 Vgl. Berry, Jean-Pic: LIP 1978. 17 Vgl. Interview des Verfassers mit François Laurent, 7. März 2014. 18 Vgl. Bilan Social Les Industries de Palente 1983, AM 86 W 43.
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Weiterbildung bereitzustellen.19 Praktika bot der Betrieb L.I.P. kontinuierlich an, 1983 kamen die Praktikanten von Berufsschulen ebenso wie von Weiterbildungseinrichtungen. Von 1979 ist ein strukturiertes, zehnwöchiges Praktikumsangebot im Bereich der Elektromechanik dokumentiert. In den Papieren zu dessen Vorbereitung ist der Wille einiger Beteiligter zu erkennen, den LIPZusammenhang auch für die Förderung junger Auszubildender zu nutzen, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt als schlecht eingeschätzt wurden.20 Für den weiteren Verlauf sind jedoch keine über die regelmäßigen Praktika hinausgehenden Bemühungen mehr dokumentiert. Über die Belegschaftsstruktur von L.I.P. geben zwei Sozialbilanzen der Jahre 1983 und 1985 Auskunft. Dokumente wie diese mussten seit 1983 in Betrieben von mehr als 300 Personen der jährlichen Bilanz angehängt werden.21 Die Geschäftsführung von L.I.P. fertigte diese trotz geringerer Beschäftigtenzahl offenbar freiwillig an, möglicherweise gab es eine diesbezügliche Übereinkunft in der CGSOP. Allgemein wurden in den Sozialbilanzen die Lohnstruktur ebenso wie die Altersstruktur der verschiedenen Beschäftigtengruppen festgehalten, der Krankenstand erfasst sowie Zu- und Abgänge in der Belegschaft mit ihren jeweiligen Gründen notiert. Während Ende 1983 noch 146 Personen bei L.I.P arbeiteten, waren dies Ende 1985 nur noch 121 Personen.22 Von diesen waren 47 als angelernte Arbeiterinnen (OS – Ouvrières Specialisées) beschäftigt. 36 dieser angelernten Arbeiterinnen und Arbeiter waren Frauen, elf von ihnen Männer. Frauen machten also fast 77 Prozent der „OS“ aus, ein ähnlicher Wert wie 1973.23 Von 23 Facharbeitern waren 14 Männer und 9 Frauen; auch der Anteil der Frauen an der Facharbeiterschaft war im Vergleich zu 1973 also nahezu gleich geblieben: Damals waren knapp 37 Prozent Frauen gewesen, jetzt 39 Prozent. Es gab vier weibliche Büroangestellte. Die 29 Techniker waren hingegen sämtlich Männer, 13 männli-
19 Vgl. Gesetz No. 71-575 vom 16. Juli 1971. Der Anteil betrug zuletzt 1,6 Prozent der Bruttolohnsumme für Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten. 20 Vgl. Materialien für ein „stage d’électromécanicien“ 1979, BDIC F Δ res. 702/22. 21 Zur Diskussion um die Bilans sociaux vgl. Kißler, Leo (Hrsg.): Industrielle Demokratie in Frankreich – Die neuen Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte in Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1985. 22 Vgl. Bilan Social Les Industries de Palente 1983, AM 86 W 43, und Bilan Social Les Industries de Palente 1985, ADD 45 J 90. 23 Die Frauengruppe gab in ihrer Broschüre für das Jahr 1972 einen Frauenanteil von 77 Prozent der „OS“ an. Aus der Belegschaftsliste des Frühjahrs 1973 ergibt sich ein Wert von leicht über 80 Prozent, vgl. Kapitel 1.
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chen Meistern standen zwei Frauen gegenüber und es gab drei männliche Ingenieure.24 Eine in der Sozialbilanz 1985 enthaltene Tabelle fasst die durchschnittlichen Bruttolöhne der jeweiligen Beschäftigtengruppen zusammen. An ihr lässt sich ablesen, dass es zwischen Männern und Frauen insgesamt sowie innerhalb der jeweiligen Beschäftigtengruppen – besonders den Facharbeitern – nach wie vor ein Lohngefälle gab. Bei den „OS“ wurde dieses mittlerweile durch die Altersstruktur ausgeglichen, viele der Frauen waren schon lange im Betrieb und erhielten entsprechend höhere Löhne: Das Mittel lag hier bei 4.870 FF für die Männer und bei 4.954 FF für die Frauen. Die als Facharbeiterinnen eingestuften Frauen verdienten allerdings nur 4.993 FF, während die Männer als Facharbeiter im Mittel 5.671 FF erhielten. Die vier Frauen im Büro erhielten im Schnitt 4.994 FF, die sämtlich männlichen Techniker 6.869 FF, die männlichen Meister erhielten 7.930 FF, ihre beiden Kolleginnen mit 8.184 FF sogar etwas mehr. Die Ingenieure erhielten 17.185 FF im Monat.25 Auffällig ist, dass das Lohngefälle zwischen männlichen und weiblichen „OP“ zwei Jahre zuvor noch sehr gering ausgefallen war: 4.657 FF zu 4.545 FF.26 Waren 1985 der Grundlohn und die Prämien – Leistungsprämien und Betriebszugehörigkeit – gemeinsam erfasst, ist dies für das Jahr 1983 nicht nachvollziehbar dargestellt. Möglicherweise machten diese Prämien einen guten Teil der Differenz aus. Und möglicherweise verdienten neu eingestellte männliche Facharbeiter mehr als die Altbeschäftigten. Die Sozialbilanzen präsentieren eine Belegschaft, deren Alterung zuletzt vor allem durch die Frühverrentungen gebremst wurde. Vier Techniker waren am Ende des Jahres 1985 die einzigen Personen, die älter waren als 55 Jahre. Fast die Hälfte der Beschäftigten, 57 Personen, hingegen war zwischen 45 und 55 Jahre alt. Noch 61 Prozent der Belegschaft gehörten dem Betrieb länger als fünf Jahre an. Und besonders bei den „OS“ machte sich die schleichende Abwicklung der Uhrenabteilung in der Altersstruktur bemerkbar: 30 der 47 waren über 45 Jahre alt. Die Bemühungen Chaniots, die Belegschaft zu verjüngen, müssen im Ergebnis als durchaus verhalten bewertet werden: Junge Neubeschäftigte gab es über die Jahre hinweg wenige, auch wenn 1985 von 9 Neueinstellungen 7 unter 25 Jahren alt waren. Prozentual machte sich dies im Zusammenspiel mit Ver-
24 Vgl. Bilan Social Les Industries de Palente 1985, ADD 45 J 90. 25 Vgl. ebenda. Diese Zahlen umfassen den Grundlohn und die Zulagen (Leistungsprämien und Betriebszugehörigkeit). 26 Vgl. Bilan Social Les Industries de Palente 1983, S. 3, AM 86 W 43.
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rentungen und Frühverrentungen immerhin bemerkbar; der Anteil der unter 25Jährigen wuchs von 2,5 Prozent 1984 auf 8 Prozent Ende 1985.27 Eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten fand 1985 und 1986 über die in Kapitel 6 diskutierten Betriebsvereinbarungen zu Kurzarbeit, Überstunden und Schichtarbeit statt, sie bezog sich also auf den konkreten Arbeitskrafteinsatz der L.I.P.-Beschäftigten. 22 Personen arbeiteten 1985 gelegentlich – zu Stoßzeiten – im Zweischichtsystem. Die Arbeitsverträge blieben üblicherweise unbefristete Vollzeitarbeitsverträge, aber nun mit 38,5 Wochenarbeitsstunden. Lediglich drei Personen im Vertrieb arbeiteten im Rahmen befristeter Verträge; zwei Frauen waren die einzigen, die in Teilzeit arbeiteten.28 Zwei Jahre zuvor hatte dies noch anders ausgesehen, als von 39 Neueinstellungen 21 im Rahmen befristeter Verträge geschahen.29 Von den 74 Abgängen im selben Jahr waren 35 auf auslaufende befristete Verträge zurückzuführen, 21 auf Kündigung durch die Beschäftigten selbst, und zwölf auf Verrentungen.30 Während es 1983 also eine nicht unwesentliche Erneuerung der Belegschaft gegeben hatte, die zu einem guten Teil über befristete Arbeitsverträge geschah, verließen diese befristet Angestellten in der Folge als erste wieder den Betrieb. Da Befristungen in Frankreich damals grundsätzlich einer besonderen Begründung bedurften und nur in bestimmten Ausnahmefällen zulässig waren, sind die Zahlen durchaus beachtenswert.31 Der Anteil befristeter Arbeitsverträge an den 1982 in Frankreich insgesamt abgeschlossenen Arbeitsverträgen betrug gerade einmal zwei Prozent.32 Die der prekären Unternehmenslage angepasste Flexibilisierung der Arbeitszeiten, insbesondere die Gleichzeitigkeit von Überstunden und Kurzarbeit, ist einerseits typisch für Zulieferbetriebe mit schwacher Auftragslage und kann auch bei wesentlich größeren Betrieben beobachtet werden. Andererseits kann die Kompromissbereitschaft der Belegschaft und ihrer Vertreter bei L.I.P. sowohl der Tatsache zugeschrieben werden, dass der Betrieb verhältnismäßig klein war, als auch der schlechten Arbeitsmarktsituation in der Stadt und der Region. Die Tatsache, dass es sich um einen Genossenschaftsbetrieb handelte, spielte eine Rolle in den Überlegungen der Beschäftigten, wie weit sie in ihren Kompromisssen zu gehen bereit waren. Auf der einen Seite dieser Überlegungen stand
27 Vgl. ebenda. 28 Vgl. Bilan Social Les Industries de Palente 1985, ADD 45 J 90. 29 Vgl. Bilan Social Les Industries de Palente 1983, AM 86 W 43. 30 Vgl. ebenda. 31 Vgl. hierzu das Gesetz Nr. 79/11 vom 3. Januar 1979. 32 Vgl. Sauze, Damien: Le recours aux contrats de travail à durée déterminée en France 1985-2000 – une analyse sur données d’entreprises, Doktorarbeit, Paris 2006, S. 2.
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die enge Verbundenheit mit ihrem aus dem Arbeitskampf heraus gegründeten Unternehmen und ein gesteigertes Interesse an dessen wirtschaftlichem Überleben. Auf der anderen Seite maßen einige der Beteiligten den LIP-Nachfolgebetrieben immer noch eine gewisse Beispielfunktion zu, sodass Lohneinbußen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen nicht unbegrenzt hingenommen werden konnten. Die befristeten Anstellungen bei L.I.P. waren von der Geschäftsführung sicherlich noch nicht als neue Normalität, sondern vielmehr als Reaktion auf die prekäre Unternehmenssituation intendiert gewesen. Ob sie von den Geldgebern als Bestandteil des neuen Entwicklungsplans von 1983 eingefordert oder von Chaniot selbst als bewusste Politik verfolgt wurden, kann nicht rekonstruiert werden. Im Ergebnis waren aber nicht nur die Arbeitsplätze der aus dem Vorgängerunternehmen übernommenen Altbelegschaft – und hier insbesondere der Frauen – zunehmend prekär. Auch die jungen, neuen Beschäftigten mussten stets damit rechnen, dass ihre überdurchschnittlich häufig befristeten Verträge nicht verlängert wurden. In der derartig gespaltenen Belegschaft drückten sich einerseits die Charakteristika eines Betriebs in Abwicklung aus – dies betraf vor allem die Uhrenabteilung von L.I.P. –, und andererseits das Bemühen der Geschäftsführung um einen dynamischen und flexiblen Neuanfang. Mussten sich die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP 1973 und 1976 vor allem gegenüber anderen Belegschaften legitimieren, als einfallsreich und durchhaltestark und mit einer klaren Gegnerbestimmung, so fühlte sich der neue Vorstand von L.I.P. offenbar vor allem den Geldgebern, der Stadtverwaltung und anderen staatlichen Stellen gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet. Ihnen sollte ein ökonomisch lebensfähiges Unternehmen präsentiert werden, dass sich durch eine besondere Anpassungsfähigkeit auszeichnete. Die in Kapitel 6 zitierten Äußerungen von Maurice Chaniot zur „transaktionellen Selbstverwaltung“ erhalten vor diesem Hintergrund stärkere Klarheit: Die neuen Beschäftigten mussten sich ihren Platz im Unternehmen erst erarbeiten, indem sie bewiesen, dass sie effektiv zu dessen wirtschaftlichem Gedeihen beitrugen. Die Geschäftsleitung von L.I.P. bewegte sich damit nahe an einer von Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem Neuen Geist des Kapitalismus festgestellten Entwicklung. Die beiden konstatierten einen „analytischen Sichtwechsel“ von einer „kollektiven Darstellung der Sozialbeziehungen, deren Austarierung eine Frage sozialer Gerechtigkeit ist, hin zu einer individualisierenden Darstellung.“33 In dieser neuen Sichtweise, die zunächst von Unternehmerkreisen wie der Gruppe Entreprise et
33 Boltanski, Luc und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 236.
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progrès vorangetrieben wurde, wurden Fragen von Löhnen und Arbeitsplatzsicherheit zunehmend als Belohnung individueller Beiträge und Leistungen für das Unternehmen verhandelt; in den 1980er Jahren verallgemeinerte sich ihrer Analyse zufolge diese Sichtweise auch bei sozialistischen Vertretern der Staatsbürokratie. In der Stadtverwaltung von Besançon, deren Aufmerksamkeit auch 1973 schon der Frage gegolten hatte, ob der Arbeitskampf bei LIP möglicherweise Investoren abschrecke, hatte sich seit den 1970er Jahren eine zunehmend engere Kooperation mit der Industrie- und Handelskammer entwickelt. In Fragen der Arbeitsplatzsicherung konzentrierte die Stadt sich vor allem auf die Förderung von Unternehmensansiedlungen. Bei ihr stieß Chaniot mit einer solchen Argumentation auf offene Ohren. Den Arbeiterinnen und Arbeitern dagegen, die ihre Gerechtigkeitsvorstellungen aus einer langen Erwerbstätigkeit in der Uhrenbranche und zwei intensiven Arbeitskämpfen zogen, fiel es schwer, sich hierzu zu verhalten. Die Spezifika der neuerlichen Gewerkschaftsarbeit haben dies gezeigt. Individuell fanden vor allem jene den Anschluss an einen solchen neuen Diskurs, welche die eigene berufliche Entwicklung mit den Zielen der aus LIP hervorgegangenen Unternehmen verbinden konnten. Wie gezeigt wurde, galt dies vor allem für diejenigen, die vorher Zugang zu entsprechenden Bildungsressourcen hatten oder sich als junge Arbeiterinnen und Arbeiter im Rahmen der Betriebsbesetzungen aktiv umorientierten.
7.2 U MGANG MIT DER A RBEITSLOSIGKEIT : Z WISCHEN F RÜHVERRENTUNGEN , B ESCHÄFTIGUNGSMAßNAHMEN UND BERUFLICHER N EUORIENTIERUNG Der konkrete Verbleib derjenigen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter, die nicht in den Genossenschaften weiter beschäftigt oder später aus ihnen entlassen wurden, ist nicht vollständig zu rekonstruieren. Die regionalen Arbeitsbehörden, die in den Jahren 1976 bis 1978 ein Dossier zu LIP führten, erfassten die aus LIP hervorgegangenen Erwerbslosen danach nicht mehr gemeinsam. In den 1980er Jahren wurden keine Büros des Arbeitsamtes mehr besetzt und keine Demonstrationen mehr durch die Stadt organisiert. Die Arbeitslosigkeit war kein Skandal mehr, sondern eine vollendete Tatsache, mit der die entsprechenden Stellen der Stadtverwaltung und der Gewerkschaften sowie schließlich auch die Genossenschafter selbst ihren routinierten Umgang fanden. Aufgrund der in diesem Rahmen produzierten Daten kann im Folgenden auch eine Annäherung an die Zahlen der Frühverrentungen und Verrentungen sowie an die Weitervermittlungen in andere Beschäftigungsverhältnisse vorgenommen werden. Anschließend wird
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gefragt, wie die Betroffenen selbst ihre Erwerbslosigkeit, ihre berufliche Neuorientierung oder Verrentung erlebten, was an einzelnen Beispielen diskutiert wird. Zöge man schlicht die Zahl derjenigen, die 1987 noch in den LIPNachfolgebetrieben gearbeitet haben, von denjenigen ab, die 1976 zum Zeitpunkt der Konkursanmeldung in den beiden Betrieben Compagnie Européenne d’Horlogerie (CEH) und SPEMELIP angestellt waren, ergäbe sich eine Zahl von mehr als 700 Personen in der Gruppe, die hier Gegenstand ist. Dies gälte auch dann, wenn man der Einfachheit halber davon ausginge, dass sämtliche Beschäftigten der LIP-Nachfolgebetriebe aus dem Zusammenhang des ehemaligen Unternehmens LIP kamen, was nicht der Fall war. 800 Personen hatten 1976 noch in der CEH gearbeitet, 130 bei SPEMELIP, insgesamt also 930 Personen.34 Bei L.I.P. arbeiteten zum Zeitpunkt der Konkursanmeldung im Sommer 1987 noch etwa 95 Personen, bei CAP noch höchstens 23, bei CLEF 4, bei SCEIP maximal 20, bei der früh ausgegründeten Firma Statice vermutlich etwa 30 Personen, die Kantine hatte bereits 1985 Konkurs angemeldet und ihre sieben Angestellten entlassen. Insgesamt waren dieser Rechnung nach also 172, aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch weniger alte LIP-Beschäftigte in diesen Betrieben angestellt. Die Zahl derjenigen als Referenz zu nehmen, die zum Zeitpunkt der Abstimmung über den Unternehmensplan für L.I.P. im Herbst 1979 noch an der Betriebsbesetzung teilnahmen bzw. von den Gewerkschaftern in ihre Annahmen benötigter Arbeitsplätze einbezogen wurden, wäre insofern ehrlicher, als so nur diejenigen einbezogen würden, die tatsächlich in den Genossenschaften arbeiten wollten. Vernachlässigt würde hingegen, dass viele derjenigen, die bis dahin fortgegangen waren, dies aus ökonomischer Notwendigkeit, manche auch aus Erschöpfung und Frustration über den Verlauf der zähen Betriebsbesetzung getan hatten. Andere, wenige, hatten schnell eine andere Anstellung gefunden. Im Rahmen der kollektiven Meldeprozedur hatten sich im Mai 1976 790 Personen arbeitslos gemeldet. Die leitenden Angestellten, nicht in dieser Zahl enthalten, meldeten sich an ihrem jeweiligen Wohnort individuell. Ihnen kann eine relativ große Mobilität auch innerhalb der Uhrenbranche unterstellt werden. Hiervon zeugt die Tatsache, dass sich abgesehen von extrem wenigen Ausnahmen keiner von ihnen an der Betriebsbesetzung beteiligte. Auch entspricht dies dem Befund, den Emmanuelle Cournarie für die sich verändernde Uhrenbranche in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren insgesamt erhoben hat. Gerade diejenigen, die an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen im Einkauf, Vertrieb oder in der Entwicklung
34 Vgl. Dossier der ANPE „Licenciements Compagnie européenne d’horlogerie“, 1976, ADD 2032 W 335.
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mit anderen Uhrenbetrieben in engerem Kontakt standen, konnten sich auch in den 1980er Jahren aufgrund dieser Kontakte noch zügig eine Weiterbeschäftigung in der Branche sichern.35 So wurde ein leitender Angestellter von LIP schließlich Leiter von Sormel, einer Filiale der Uhrenmarke Yéma.36 451 Personen hatten im November 1977 über die Gründung der Genossenschaft L.I.P. abgestimmt, 368 dafür. 318 Personen nahmen im Oktober 1979 an der Abstimmung über die grundsätzlichen Bedingungen des Unternehmensplans für L.I.P. teil. Hier wurde die Einteilung in drei Gruppen bestätigt, die die Zahl der bei L.I.P. und CAP anzustellenden und die Zahl der nicht in diesen Genossenschaften aufgenommenen Personen definierte (vgl. Kapitel 5). Anschließend begannen noch im Herbst 1979 mit der Präfektur und der Stadtverwaltung Gespräche über den Sozialplan, hier wurde über die Förderung interner und externer Weiterbildungen für den Betrieb des neuen Unternehmens L.I.P. verhandelt, aber auch über mögliche Frühverrentungen und Hilfe bei der Vermittlung in andere Beschäftigungsverhältnisse.37 Fünfzig Frühverrentungen wurden schließlich gefördert. Sechzig Personen, vierzig von ihnen Frauen, sollten am Ende noch in andere Beschäftigungsverhältnisse vermittelt werden. Nur für fünfzehn von ihnen gelang dies bis zur Jahresmitte 1980. Schließlich wurden jedoch von der Stadtverwaltung einige Angebote zur Übernahme in die städtischen Betriebe unterbreitet.38 Als der alte und der neue Vorstandsvorsitzende von L.I.P. – Penna und Chaniot – sich im Januar 1983 mit Vertretern der Stadtverwaltung trafen, ging es noch einmal um die Vermittlung von fünf Beschäftigten an die Stadt, Personen, die im neuen Plan für L.I.P. nicht entsprechend ihren beruflichen Fertigkeiten oder ihrem Gesundheitszustand berücksichtigt wurden. Von der Stadtverwaltung, die prinzipiell noch immer offen für solche Übernahmen war, gab es kein konkretes Angebot mehr. Vielmehr wurde eine Prüfung für mögliche Krankheitsvertretungen in Aussicht gestellt.39 Die kurzen Notizen zu den betroffenen Personen zeugen von den bisherigen Arbeitsbedingungen der Uhrenbranche:
35 Vgl. Cournarie, Emmanuëlle: Approche socio-anthropologique, S. 224ff. 36 Vgl. Ternant, Évelyne: Le rôle d’une norme nationale, S. 178. 37 Vgl. Treffen in der Präfektur vom 18. März 1980. Anwesend waren Louis Morice (FGMM), Der Präfekt Denieul, der Départementsdirektor der Arbeitsverwaltung Vuillerme und Michel Cugney für LIP, AM 86 W 39. 38 Vgl. Mitteilung „La situation à Lip“, Juli 1980, AM 86 W 39. 39 Vgl. Treffen von Libéro Penna und Maurice Chaniot mit dem Beigeordneten des Bürgermeisters, Huot und dem Personaldezernenten, Lonchamp, vom 11. Januar 1983, AM 86 W 42.
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Zu „Jeannine Pierre-Émile, 48 Jahre, Uhrmacherin“, wurde vermerkt, diese leide unter Augenproblemen, und zu „Roger Nevers, 47 Jahre, Uhrmacher“, hieß es, dieser leide unter einem Rheumatismus im rechten Unterarm, in Klammern wurde hinzugefügt: „Uhrmacherkrankheit“.40 Vier der fünf waren in der Altersgruppe, die die Arbeitsbehörden damals als besonders schwer vermittelbar einstuften: Nämlich Personen über 42 Jahren.41 Immerhin war nur eine von ihnen mit dem weiteren Vermittlungshemmnis behaftet, eine Frau zu sein. Die von Fatima Demougeot 1981 geäußerte Befürchtung, eine eventuelle Abwicklung der Uhrenabteilung werde wieder in erster Linie als „OS“ beschäftigte Frauen treffen, bewahrheitete sich mit der schrittweisen Abwicklung ab 1984. Die drei ältesten der acht letzten in der Uhrenabteilung Verbliebenen wurden 1986 frühverrentet, die fünf übrigen entlassen. Anhand dieser zahlenmäßigen Annäherung ist bereits festzustellen, dass die grundsätzlichen Schlussfolgerungen Emmanuelle Cournaries für die Branche auch im Fall LIP und seiner Nachfolgebetriebe zutreffen. Während die (leitenden) Angestellten – cadres – es vor allem aufgrund ihrer zahlreichen Kontakte in der Branche am leichtesten hatten, auch in der Branche selbst eine neue Stelle zu finden, war dies für die in uhrmacherischen und mechanischen Berufen ausgebildeten Personen schon schwieriger. Die „OS“ schließlich, insbesondere die Frauen, hatten es am schwersten, eine neue, bezahlte Anstellung zu finden. In Cournaries Ausführungen sind die unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Ressourcen, die die betroffenen Personen auf dem Arbeitsmarkt für sich nutzbar machen konnten, jedoch nur ein Teil des Arguments. Darüber hinaus führt sie an, dass die unterschiedliche Bindung an das Produkt Uhr und an die spezifische berufliche Tätigkeit unterschiedliche persönliche Strategien bei der beruflichen Umorientierung bedingt habe. Schließlich sei den Mechanikern die Anpassung an das neue Umfeld der Microtechniques am leichtesten gefallen, hätten die angelernten Arbeiterinnen – mit wesentlich schlechteren Arbeitsmarktchancen – sich freimütig in diversen Arbeitsbereichen umgetan, während vor allem die gelernten Uhrmacher eine Krise ihrer beruflichen Identität erlebt hätten, mit der sie auf unterschiedliche Weise umgegangen seien. Eine Umorientierung im Bereich der Quarzuhrenproduktion oder ein Rückzug in Nischen wie die Luxusuhrenfabrikation in der Schweiz wurde demnach vor allem von jüngeren Uhrmachern beschritten, während die älteren eine stärkere Entwertung ihrer beruflichen Fertigkeiten erlebten. An einzelnen Beispielen ist auch dies für LIP und seine Nach-
40 Ebenda. 41 Zu den Kriterien der Arbeitsbehörden vgl. Cournarie: Approche socioanthropologique, S. 218f.
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folgebetriebe nachzuvollziehen. Als deutliches Spezifikum kommen jedoch für all diese Berufsgruppen die Erfahrungen zweier langer Arbeitskämpfe hinzu. Zu den von Cournarie interviewten, gelernten Uhrmachern gehörten auch zwei Uhrmacher von LIP. Der eine von ihnen fand eine Anstellung als Busfahrer, da in Besançon seit 1975 das Stadtbusnetz deutlich vergrößert wurde. Der andere machte sich im Bereich der Garten- und Landschaftspflege selbstständig, nachdem er in verschiedenen Folgeanstellungen als Uhrmacher erlebt hatte, dass seine spezifischen Fertigkeiten an Bedeutung verloren hatten. Gab der Busfahrer an, nun besonders die kommunikativen Aspekte seiner Arbeit zu genießen, die er auch in der Werkstatt – wo sie seltener waren – am meisten gemocht habe, führte der frischgebackene Gartenbauer aus, dass er den Schritt in die Selbstständigkeit wohl ohne die Erfahrungen der Betriebsbesetzung nicht gegangen wäre.42 Eine deutliche Steigerung seiner Motivation, sich in der Arbeit selbst zu verwirklichen, verband sich bei ihm mit einer gesteigerten individuellen Risikobereitschaft, die er selbst auch auf die Erfahrungen in den Arbeitskonflikten bei LIP zurückführte. Für eine Kerngruppe aktiver Gewerkschafter bedeuteten die Arbeitskonflikte nicht nur eine Steigerung ihres Selbstvertrauens, sondern bildeten auch in Bezug auf persönliche Kontakte eine Ressource, die sie nicht nur innerhalb der LIPNachfolgebetriebe nutzbar machen konnten, sondern auch darüber hinaus. So erhielt Gérard Cugney, der L.I.P. mit dem Geschäftsführerwechsel 1983 auf eigenes Bestreben hin verließ, vom Bürgermeister Robert Schwint in einer Besprechung spontan und freigiebig eine zeitweilige Beschäftigung im Bereich der Wirtschaftsförderung angeboten.43 Sein Bruder erhielt aufbauend auf seiner Verkaufsleitertätigkeit bei CAP eine Stelle als Handelsvertreter.44 Diese Personen konnten mit ihren Erfahrungen also deutlich anders umgehen, als jene, für die die Betriebsbesetzung in großer Erschöpfung und Perspektivlosigkeit endete. Thomas Faverjon, ein Filmemacher und Sohn einer LIPArbeiterin und eines LIP-Arbeiters, hat den Widerspruch zwischen der lautstarken öffentlichen Erinnerung an den Arbeitskampf von 1973 und dem Schweigen seiner Eltern, vor allem der Mutter, als Ausgangspunkt für eine intime Suche nach deren persönlicher Erfahrung gewählt, die er in seinem Film Fils de Lip
42 Ebenda. 43 Vgl. Protokoll eines Treffens zwischen Libéro Penna und Gérard Cugney mit Robert Schwint und seinem Beigeordneten Albert Kohler im Büro des Bürgermeisters am 11. Oktober 1982, AM 86 W 42. 44 Vgl. Beurier: La mémoire Lip, S. 143.
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verarbeitet.45 Während seinem Vater im Herbst 1979 einen Platz in der Genossenschaft L.I.P. zugesichert wurde, erfuhr seine Mutter nach langer Beteiligung an der Betriebsbesetzung zu jenem Zeitpunkt von ihrer Entlassung. Bitterkeit und ein langes Schweigen waren die Folge. Damit ist der Film gleichzeitig Zeugnis eines tendenziell beschwiegenen Kapitels der LIP-Konflikte wie auch der vorsichtigen Annäherung eines Sohnes an die eigenen Eltern. François Laurent unterstreicht im Interview, dass viele bereits vor 1980 mit einem Gefühl der Bitterkeit den Zusammenhang LIP verließen.46 Die Geschichten von Christiane Andrée, Monique Piton, Jacqueline Buffet und Marcel Wirth (vgl. Kapitel 5) sind sicher nicht repräsentativ für alle, die gegangen sind. Ihre öffentlich zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit wurde aber von vielen geteilt. Als sich im März 1980 der ehemalige LIP-Arbeiter und CGT-Gewerkschafter Bernard Demange das Leben nahm, der als Mitglied der Gruppe C gerade seine Entlassung erlebt hatte, wurde dies von der Presse schnell in Verbindung mit der Situation bei LIP gebracht. In der LIP Unité wurde dieser Zusammenhang zurückgewiesen und dazu aufgerufen, die Communauté weiter zu festigen.47 Dass auch die ganz spät Gekündigten mitunter überraschende berufliche Veränderungen vornahmen, bei denen ihre persönlichen Erfahrungen eine Rolle spielten, verdeutlicht Fatima Demougeot. Sie wurde 1987 von ihren Kollegen in der Genossenschaft CAP entlassen, ihrer eigenen Aussage zufolge mit juristisch unhaltbarer Begründung.48 Sie nutzte die Gelegenheit, sich von ihrer mittlerweile ungeliebten Arbeit zu verabschieden und arbeitete bis zuletzt im Bereich der beruflichen Bildung. Nebenbei war sie in einer Initiative zur Geschichte der Immigration in der Franche-Comté und in verschiedenen Vereinen im Bereich der Jugendarbeit aktiv.49 Die beruflichen Voraussetzungen und Arbeitsmarktchancen für die ehemaligen Beschäftigten von LIP, L.I.P. und CAP, so lässt sich schließen, waren durchaus vergleichbar mit denen in der übrigen Branche. Ein „Lip“ zu sein, wurde jedoch von den möglichen Arbeitgebern der Region noch eine ganze Weile als Makel betrachtet, die sich um keinen Preis mögliche Unruhestifter in die
45 Faverjon, Thomas: „Fils de Lip“, Dokumentation, 2007. 46 Vgl. die Ausführungen François Laurents im Bonusmaterial zum Film „Fils de Lip“. 47 Vgl. LIP Unité No. 20/21, April-Mai 1980, S. 20; vgl. Castleton, Edward: Lip, une remise à l’heure, S. 151. 48 Vgl. Interview des Verfassers mit Fatima Demougeot, 2. Juli 2014. 49 Vgl. ebenda.
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eigenen Betriebe holen wollten.50 Die ökonomische Situation in der Branche verschlechterte sich im Laufe der 1980er Jahre stetig, bis diese in der FrancheComté 1990 nur noch etwa die Hälfte der 12.000 Arbeitsplätze von 1973 hatte (vgl. Kapitel 4).51 Die Gründung der Genossenschaftsbetriebe federte die Auswirkungen ab, indem für einige der Beteiligten Stellen geschaffen wurden. Ein besonderes Bemühen galt zumindest Anfang der 1980er Jahre noch der Aufgabe, möglichst vielen der ehemaligen Angelernten eine Stelle zu bieten. Dennoch wurden sowohl im Gründungsprozess der Genossenschaften als auch in den Betrieben selbst bestehende Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen reproduziert. Hierzu hatte die Konzentration auf die Industriegenossenschaft L.I.P. in den Verhandlungen ab 1978 beigetragen. Die Rolle von L.I.P. und CAP als Zulieferbetriebe bedingte, dass auch in ihnen die Stellen der Angelernten am stärksten gefährdet waren. In Bezug auf die Verarbeitung der Erfahrungen zweier langer Arbeitskonflikte ist zu schließen, dass besonders einige gewerkschaftlich und geschäftsführerisch in den Genossenschaften tätige Personen von diesen Erfahrungen profitieren konnten. Für sie führte ihr Engagement nicht nur zu einer gesteigerten Motivation, sondern konnte als Ressource auch auf dem Arbeitsmarkt nutzbar gemacht werden. Besonders für die Arbeiterinnen aus dem LIP-Zusammenhang war ihr Weggang mit wesentlich größeren Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche verbunden, Hoffnungslosigkeit war ihr dominierendes Gefühl. Auch bei ihnen gab es jedoch bis zuletzt einige, für die die Arbeitskampferfahrungen eine Inspirationsquelle blieben.
50 Vgl. hierzu die entsprechenden Aussagen der Beteiligten in: Beurier: La mémoire des Lip, S. 17. 51 Vgl. Ternant, Évelyne: La dynamique longue, S. 612.
Fazit
S ELBSTVERWALTUNG In allen Phasen der Auseinandersetzungen bei LIP zwischen 1973 und 1987 kam der Selbstverwaltung eine wichtige Rolle zu, als politische Konjunktur und als konkrete Praxis. Am Anfang der Untersuchung stand die Diskrepanz von 1973: Der öffentlichen Rezeption ihres Arbeitskampfs als „Selbstverwaltungskonflikt“ stellten die Gewerkschafter aus der Belegschaft von LIP die Behauptung entgegen, keineswegs Selbstverwaltung, sondern vielmehr „Selbstverteidigung“ zu betreiben. Und als ihnen vom Industrieministerium die Gründung einer Produktionsgenossenschaft nahegelegt wurde, lehnten sie diese ab. Um die Fabrik LIP erfolgreich weiter zu betreiben, brauchte es die Tilgung zumindest eines Teils der bisherigen Schulden, eine deutliche Erweiterung der Uhrenproduktion und entsprechende Investitionen. Ein Genossenschaftsbetrieb wäre mit diesen Aufgaben finanziell vermutlich schnell überfordert gewesen. Außerdem befürchteten die Gewerkschafter einen Boykott durch den Fachhandel. Die darüber hinausgehende, prinzipielle Skepsis teilten die Gewerkschafter vor Ort mit ihren beiden größten Dachverbänden. Sowohl die CGT (Confédération Générale du Travail) als auch die CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail) standen Genossenschaftsgründungen und insbesondere Belegschaftsübernahmen von Konkursbetrieben Anfang der 1970er Jahre äußerst skeptisch gegenüber. Sie unterstellten diesen eher geringe Überlebenschancen, die zudem mit Einbußen in Bezug auf Entlohnung und Arbeitsbedingungen erkauft werden müssten. Ausschlaggebend für die Interpretation als Selbstverwaltungskonflikt waren also andere Aspekte des Arbeitskampfs. Die Vehemenz, mit der die LIPGewerkschafter die Bezeichnung ablehnten, zeugt bereits von der Wichtigkeit des Selbstverwaltungsdiskurses, der seit 1968 eine rasante Verbreitung gefunden hatte und zum Zeitpunkt des Arbeitskampfs bei LIP seine volle Blüte erreichte. Von den verschiedensten Seiten wurde dieser als „Selbstverwaltungskonflikt“
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interpretiert. Die Protagonisten der Parti Socialiste Unifié (PSU) und der CFDT, welche die Selbstverwaltung programmatisch vorantrieben, betonten dabei einerseits, dass echte Selbstverwaltung nur im Sozialismus möglich sei, also unter den Bedingungen gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und einer demokratischen Planung. Andererseits bezeichnete Michel Rocard, bis 1974 Vorsitzender der PSU, den Arbeitskampf bei LIP als authentische Erfahrung der Selbstverwaltung. Die Beseitigung von Macht und Hierarchie ging in seiner Interpretation eng mit der handwerklichen, „individuellen Verwirklichung“ der Arbeiterinnen und Arbeiter im Produkt einher. Gegenüber dieser Interpretation wurde hier jedoch gezeigt, dass für einen großen Teil der Beschäftigten die Unterbrechung ihrer bisherigen Arbeit, die Etablierung zahlreicher, neuer Kontakte, das Überschreiten bisheriger Status- und Milieugrenzen wesentlich wichtigere Aspekte des Arbeitskampfs waren. Während die Produktion eine enorme, symbolische Wirkung entfaltete, erlebten die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP vor allem die Unterbrechung des bisherigen Fabrikalltags als entscheidendes Moment. Wenn bei ihnen das Wort von der Selbstverwaltung einen positiven Widerhall fand, dann als Bezeichnung für ein gewachsenes Selbstbewusstsein, ein vielstimmiges Wortergreifen und die Erfahrung, die eigenen Belange selbst in die Hand genommen zu haben. Die zwischen dem 18. Juni und dem 14. August 1973 vorgenommene Endmontage von bis zu 30.000 Armbanduhren geschah prinzipiell in derselben Arbeitsteilung wie vorher. Sie war, so wurde gezeigt, ein ambivalentes Mittel für den Erhalt des „outil de travail“ und die Wiederaufnahme des Betriebs. Einerseits kämpften die Arbeiterinnen und Arbeiter für den Erhalt des bisherigen Unternehmens in seiner Gesamtheit, andererseits gewann für einige von ihnen die Kritik ihrer bisherigen Arbeitsbedingungen eine wachsende Bedeutung. Dies galt besonders für die Frauen, die sich zum Ende des Arbeitskampfs in einer Frauengruppe organisierten. Nach außen symbolisierte die Produktion eine berufliche und betriebliche Identifikation der Streikenden, die für sie selbst sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Die jeweilige Stellung im Arbeitsprozess, die unterschiedliche Bindung an die eigene, berufliche Tätigkeit und die Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Diskurse und Netzwerke von außen wurden jedoch im Arbeitskampf von 1973 die meiste Zeit von der großen symbolischen Geschlossenheit der Belegschaft und der ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer überlagert. Die von Teilen der Belegschaft und ihren Unterstützern geäußerte Kritik an der Produktion von Rüstungsgütern und Luxuswaren, an der kapitalistischen Verschwendung – gaspillage – und nicht zuletzt an den eigenen Arbeitsbedingungen blieb von den konkreten Zielen der Auseinandersetzung – einem
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Weiterbetrieb von LIP mit allen bisherigen Arbeitsplätzen und ohne soziale Einbußen – weitgehend getrennt. Als in der zweiten Betriebsbesetzung ab Mai 1976 auch die konkrete Veränderung der Produktion selbst zum Gegenstand der Bemühungen der LIPArbeiterinnen und -Arbeiter wurde, traten diese Unterschiede innerhalb der Belegschaft stärker zutage. So fanden die Ingenieure aus der Entwicklungsabteilung schnell Anschluss an die entstehende regionale Diversifizierungsstrategie im Bereich der Microtechniques, gestalteten diese aktiv mit und verließen im Herbst 1977 das LIP-Gelände. Die gelernten Uhrmacher schlossen mit dem Weiterbetrieb der Reparaturabteilung an die Qualitäten der Uhrenmarke LIP an, mit der sie vor allem langlebige, mechanische Uhren im mittleren Preissegment verbanden. Die angelernten Arbeiterinnen dagegen wandten sich von ihrer bisherigen Fabrikarbeit mit körperlich belastenden Tätigkeiten ab. Einige von ihnen widmeten sich im Rahmen der Betriebsbesetzung der Produktion von Seidenmalerei, dekorativen Tellern und kunsthandwerklichen Gegenständen aus Holz, welche danach einen Teil der Produktion von Les Commissions Artisanales de Palente (CAP) ausmachte. Auch die Unterschiede zwischen jungen und alten Arbeiterinnen und Arbeitern sind deutlich geworden: Während die Älteren die Arbeitslosigkeit als bedrohliche Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit erlebten, wurden die Betriebsbesetzungen vor allem von den Jüngeren als Chance wahrgenommen, eigene Fähigkeiten und Interessen auzuagieren, die im Arbeitsalltag sonst keine Rolle spielten. Bei allen an den Betriebsbesetzungen Beteiligten wuchsen in deren Verlauf jedoch Ansprüche an das eigene Leben und Arbeiten, die manche von ihnen mit dem Begriff der Selbstverwaltung verknüpften. So sprachen einige über die „Selbstverwaltungsaspekte“ der zweiten Betriebsbesetzung als „Suchbewegungen nach einem anderen Leben“. Diese zielten beispielsweise auf selbsbestimmte Arbeitsrhythmen, genug Zeit für Familie und Freunde, gegenseitige Hilfe, eine „größere menschliche Nähe“ sowie die Verknüpfung von gestalterischen und ausführenden Aufgaben in den Arbeitsgruppen. Nicht zuletzt zählte die Autonomie dieser Arbeitsgruppen mit ihren häufig im Konsens gefällten Entscheidungen gegenüber Weisungen und Entscheidungen von außerhalb zu den Aspekten, die das Bild der Beteiligten von ihrer Selbstverwaltung im Arbeitskampf prägten. Diese prinzipiell basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen der Betriebsbesetzung wurden häufig durch die Dynamik der Vollversammlungen konterkariert, auf denen nur Wenige das Wort ergriffen und wo die Deutung eines sich herausbildenden Kerns von Aktiven – noyau – zunehmend dominant wurde. Seit der Gründung der Produktionsgenossenschaft Les Industries de Palente (L.I.P.) im November 1977 überlagerten sich außerdem die Entscheidungsstrukturen der
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Betriebsbesetzung und jene des neuen Unternehmens. Der lang anhaltenden Unklarheit in Bezug auf diese Strukturen lagen verschiedene Interpretationen des Arbeitskampfs und seiner Ziele und Mittel zugrunde. Mehrere Gründungsströmungen für die Genossenschaften wurden identifiziert. Deren Protagonisten nahmen in ihren Interpretationen jeweils unterschiedliche Aspekte der gewachsenen Ansprüche der Beteiligten auf und führten sie ihrer eigenen Deutung zu. So suchte Michel Garcin, der ehemalige Finanzvorstand der Compagnie Européenne d’Horlogerie, wie die Uhrenabteilung von LIP 1974-1976 hieß, den Anschluss an die regionalen Diversifizierungsbemühungen und neue Wege des Arbeitsplatzerhalts. Außerdem versuchte er vor allem das Wissen der ehemaligen Uhrmacher und Techniker aus dem Betrieb für Projekte im Bereich des Technologietransfers nutzbar zu machen. Dieser pragmatisch-unternehmerische Zugang zum Arbeitsplatzerhalt konnte also diese Gruppen aus dem alten Betrieb von LIP besonders berücksichtigen. Jean Raguenès und Dominique Bondu, welche die Gründung des Freundschaftsvereins Les Amis de Lip vorantrieben, betonten im Anschluss an die zahlreichen Arbeitsgruppen der Betriebsbesetzung die Bedeutung der Communauté. Bereits im Januar 1977 hatte Raguenès ausführlich dargelegt, dass für ihn das Entscheidende sei, im konkreten Handeln zur „Verwirklichung einer neuen Art von Leben zu gelangen“. Der Zusammenhalt zwischen den Arbeitsgruppen auf dem besetzten Betriebsgelände sowie wirtschaftliche Aktivitäten, die auf gegenseitige Hilfe, Bildung sowie auf zunächst nicht gewinnorientierte, wirtschaftliche Tätigkeiten zielten, prägten ihr Bild von einer Communauté, deren Bedeutung beide in einer stark theologisch geprägten Sprache unterstrichen. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des von den Protagonisten so genannten Noyau waren sie auch darum bemüht, eine Pädagogik zu entwickeln, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter zu einer möglichst starken Beteiligung am gemeinsamen Projekt sowie zu einer möglichst großen Eigenverantwortung im Rahmen der gemeinsamen Ziele bewegen sollte, um so die „interne Dynamik“ anzuregen. In Kapitel 5 wurde gezeigt, wie diese Mischung aus Pädagogik und Communauté teilweise autoritäre Züge annahm. Beteiligungspflichten wurden definiert, mit denen nicht alle einverstanden waren, und Abzüge vom als Lohnersatz gezahlten „complément de salaire“ für unentschuldigte Fehlzeiten vorgenommen. Arbeitsposten wurden zugewiesen, gegen einzelne Unzufriedene wurde repressiv vorgegangen. Der Druck auf die beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter wuchs jedoch nicht nur aufgrund interner gegenseitiger Verpflichtungen. Vielmehr wirkten sich die gestiegene Arbeitslosigkeit in der Region und in der Branche, die lange Dauer der Betriebsbesetzung und die unsicheren persönlichen Zu-
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kunftsperspektiven der ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter erheblich auf die Dynamik ihres Kampfes um Arbeitsplätze aus. Während der zweiten Betriebsbesetzung ergriffen viele der Beteiligten vorübergehend diejenigen Tätigkeiten, die ihnen am meisten lagen. Bereits bei der Diskussion der Fortbildungsmaßnahmen von 1974 in Kapitel 3 wurde deutlich, dass die Männer hierbei häufiger Aspekte ihres Berufsalltags in die Freizeit übertrugen, während die Frauen sich vom Fabrikalltag eher abwendeten. Dies geschah auch während der Betriebsbesetzung. Und spätestens mit der Überführung der Aktivitäten der Betriebsbesetzung in eine regelmäßige wirtschaftliche Betätigung reproduzierte sich hierauf aufbauend eine qualifikations- und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die auch an das ehemalige Unternehmen LIP anschloss. Die interne Dynamik der Betriebsbesetzung war hierfür ebenso verantwortlich wie der unterschiedliche Zugang zu Fördermitteln und Weiterbildungsangeboten. Während Les Industries de Palente (L.I.P.) auf staatliche Mittel der allgemeinen Wirtschaftsförderung zurückgreifen konnte, blieben für die zweite Genossenschaft, die Commissions Artisanales de Palente (CAP), vor allem Zuschüsse aus der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Die Metallgewerkschaft der CFDT konzentrierte sich gemeinsam mit den Gewerkschaftern vor Ort auf den Entwicklungsplan für die Industriegenossenschaft L.I.P. Die nun geschäftsführend und in der betrieblichen Leitung tätigen Gewerkschafter und der von außen eingestellte Vorstandsvorsitzende erkannten gegenüber den angelernten Arbeiterinnen vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen als ihre Hauptaufgabe, während die Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder eine grundsätzliche Veränderung der Arbeitsteilung von ihnen dahinter zurückgestellt wurden. Deshalb hatte auch die von einer aktiven Minderheit der ehemaligen LIPArbeiterinnen und -Arbeiter geäußerte, grundsätzliche Ablehnung der Rüstungsproduktion in ihrem Betrieb keinen Einfluss mehr auf die Unternehmenspolitik der Produktionsgenossenschaft L.I.P. Deren Entscheidungsträger erhofften sich von der Annahme möglicher Rüstungsaufträge die Schaffung von Arbeitsplätzen für angelernte Arbeiterinnen. Die diesbezüglichen Missverständnisse zwischen den ehemaligen LIP-Arbeiterinnen und -Arbeitern sowie ihren Unterstützern von außerhalb waren seit 1973 jedoch deutlich gewachsen. Dennoch folgten die Genossenschaften keineswegs nur dem Anspruch, Arbeitsplätze zu schaffen. In ihrer Organisationsstruktur aus einem jeweils mehrköpfigen Vorstand und einem unabhängigen Aufsichtsrat spiegelte sich das Bemühen, weiterhin einen Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Betrieben sowie den Beschäftigten und ihren externen Unterstützern herzustellen. Die Lohnspreizung wurde in den Betrieben im Anschluss an die „compléments de
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salaire“ der Betriebsbesetzung zunächst deutlich reduziert. Über die Arbeitsbedingungen wurde zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern sowie in den Aufsichtsräten von L.I.P. und CAP zumindest bis 1982 diskutiert. Bei CAP blieben eine Weile lang monatliche Betriebsversammlungen gängige Praxis, und bei L.I.P. wurden in Anlehnung an ein Konzept der CFDT Werkstatträte zur intensiveren Mitsprache am Arbeitsplatz eingeführt; diese blieben jedoch weitgehend inaktiv. Nicht zuletzt die kleineren Betriebe zeugen von der Intensität der Lernerfahrungen während der Arbeitskämpfe. In der Druckerei La Liliputienne wandten sich die Beteiligten von der Betriebsbesetzung ausgehend beruflichen Tätigkeiten zu, die sie mit neuen Ansprüchen an die Kooperation bei der Arbeit verbanden. Die Kantine Au chemin de Palente sollte nach dem Willen ihrer Gründer gleichermaßen Arbeitsplätze bieten und nach wie vor ein Ort der Begegnung bleiben. Der Verein CLEF bemühte sich um allgemein zugängliche politische und kulturelle Bildung. Bei L.I.P. standen sich die geschäftsführenden Gewerkschafter und die Belegschaftsvertreter der neu gegründeten CFDT-Sektion auch mit unterschiedlichen Vorstellungen über die demokratische Ausgestaltung der Produktionsgenossenschaft gegenüber. Dem Idealbild einer Genossenschaft hätte in den Augen der alten CFDT-Gewerkschafter Charles Piaget, Roland Vittot und einigen anderen ein Unternehmen entsprochen, für das alle gemeinsam Verantwortung getragen hätten und wo sie an ökonomisch relevanten Entscheidungen beteiligt worden wären. Sie verknüpften hiermit erweiterte Ansprüche an die Selbstbestimmung bei der Arbeit. Jedoch wurden diese häufig als Ansprüche an die übrigen Arbeiterinnen und Arbeiter geäußert, die ihnen zugemessene Verantwortung auch tatsächlich zu übernehmen. Auf diesem Umweg hielten Diskurse über eine gesteigerte Verantwortlichkeit der Beschäftigten am Arbeitsplatz Einzug in den betrieblichen Alltag. Demgegenüber erkannten die „neuen“ Gewerkschafter bei L.I.P. bereits früh die Realität eines Unternehmens an, in dem sich auch weiter die Geschäftsführung und die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren jeweiligen Interessen gegenüber standen. Das offene Ausagieren dieser Konflikte war für sie ein wesentlicher Aspekt demokratischer Entwicklung. In ihrer Kompromissbereitschaft zu wesentlichen Momenten der Umstrukukturierung und der Konkursanmeldung verhielten auch sie sich gleichwohl nicht nur als Gewerkschafter, sondern auch als Miteigentümer eines Unternehmens, an dessen Erhalt sie ebenso wie die übrige Belegschaft ein gesteigertes Interesse hatten. Bei Les Industries de Palente führte ausgerechnet die Intervention derjenigen Politiker zu einer Anpassung an die organisatorische Struktur der meisten französischen Aktiengesellschaften, welche den Arbeitskampf von 1973 am laut-
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stärksten als Selbstverwaltungskonflikt rezipiert hatten: Michel Rocard wurde im ersten Kabinett der Linksregierung für die Sozialistische Partei zum Minister für Planung und Raumordnung. Dies verweist darauf, dass sich nicht nur die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern auch die Selbstverwaltungsvorstellungen der institutionellen Unterstützer der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter gewandelt hatten. Die Geldgeber von L.I.P. waren ab 1983 mit vier Stimmen im zwölfköpfigen Verwaltungsrat präsent. Den Vorsitz über dieses Gremium mit unmittelbar geschäftsführerischen Befugnissen hatte ein neuer Vorstandsvorsitzender als Président-Directeur-Général (PDG), Maurice Chaniot. Der Wille der Geldgeber, eine engere Kontrolle auszuüben, war für diese Entscheidung ausschlaggebend. Auch die Confédération Générale des SCOP, der Dachverband der französischen Produktionsgenossenschaften, hatte sich vorher bereits für eine solche organisatorische Struktur ausgesprochen. Auch das aus der Rocard-Strömung erwachsene Verständnis von Selbstverwaltung hatte sich gewandelt. Seit Mitte der 1970er Jahre hatte diese sich einigen wichtigen Organisationen der Sozialwirtschaft – Économie Sociale – angenähert. Anstelle der Selbstverwaltung als Organisationsform einer sozialistischen Gesellschaft traten bei Rocard im Interesse praktischer, politischer Durchsetzungsmöglichkeiten nun Vorstellungen eines dritten Sektors, welcher die kapitalistische Ökonomie nicht ersetzen, sondern ergänzen sollte. Sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Betätigungen, die nicht oder nicht nur auf Gewinnerzielung ausgerichtet waren, zählten nach dieser Auffassung zur Économie Sociale. Mit Zielen wie dem Arbeitsplatzerhalt, dem Ausbau der sozialen Infrastruktur, der Nahversorgung mit Gütern und Dienstleistungen und nicht zuletzt einer Demokratisierung der Wirtschaft gehörten und gehören auch die Produktionsgenossenschaften zu diesem Sektor. Seit dem Gesetz über die SCOPs von 1978 kam diesen als lokales Mittel zum Arbeitsplatzerhalt bereits eine größere Bedeutung zu. Ihre Zahl verdoppelte sich in der Zeit zwischen Januar 1978 und Dezember 1982. Belegschaftsübernahmen machten 1981 und 1982 knapp ein Drittel der SCOP-Neugründungen aus. Dieser Boom wurde in den ersten Jahren der Linksregierung nach 1981 aktiv gefördert. 1984 brach er aber wieder ab, als neue Steuererleichterungen für Management Buyouts (Reprise Employés Salariés) eingeführt wurden und Fördermittel nach der Wende der Regierung zur Austeritätspolitik restriktiver vergeben wurden. Hatte auf der parteipolitischen Ebene eine Abkehr von einer baldigen Umwälzung gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse stattgefunden, so waren die Vorstellungen zur betrieblichen Mitbestimmung und zur Mitsprache der Beschäftigten am Arbeitsplatz in der CFDT und in der Regierung deutlich konkretisiert worden. Die CFDT beurteilte die Einführung von Werkstatträten in den
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verstaatlichten Industrieunternehmen 1983 auch als Erfolg ihrer Selbstverwaltungsstrategie. Diese habe demnach auf die direkte, individuelle und kollektive Partizipation am Arbeitsplatz gezielt, im Gegensatz zu einer betrieblichen oder gar unternehmerischen Mitbestimmung von oben. Jedoch bewegte sich die Argumentation der CFDT in dieser Frage nahe an den Argumenten der Aktionäre von LIP ab 1974 für eine größere Beteiligung der Beschäftigten. Nicht nur die Forderungen der CFDT, sondern auch Vorstellungen, wie sie die Vertreter der Unternehmergruppe Entreprise et Progrès, die neuen französischen Aktionäre von LIP und der neue Geschäftsführer Claude Neuschwander präsentierten, fanden in den Auswirkungen der Auroux-Gesetze einen Nachhall. Die spezifische Informationspolitik der Geschäftsführung von LIP zwischen 1974 und 1976 zielte, wie in Kapitel 2 gezeigt, auf die individuelle Einbindung der Beschäftigten in Kommunikationsprozesse, die in erster Linie von der Unternehmensleitung angeregt und koordiniert werden sollten. Deren Ziel war die aktive Teilnahme der gesamten Belegschaft an der Vergrößerung des unternehmerischen Erfolgs. Dieser sollte demnach möglichst mit der individuellen, beruflichen Entwicklung der Beschäftigten in Einklang gebracht werden. In ihren diesbezüglichen Vorstellungen gingen die Vorstandsmitglieder von LIP von typischen Angestelltenkarrieren aus. Reale Entwicklungsmöglichkeiten für die Arbeiterinnen und Arbeiter im Betrieb erwuchsen hieraus nicht. Die Vorstellungen, die der neue PDG von Les Industries de Palente, Maurice Chaniot, ab 1983 öffentlich präsentierte, schlossen im mehrerer Hinsicht an das Projekt der LIP-Aktionäre von 1974-1976 an. Er strich heraus, dass die Struktur einer Genossenschaft besondere Möglichkeiten biete, die Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter mit dem unternehmerischen Erfolg zu verbinden. Wie die Geschäftsführung zwischen 1974 und 1976 betonte Chaniot in Bezug auf die konkreten Arbeitsverhältnisse besonders eine Umgestaltung der Arbeitsteilung in der Uhrenmontage als wünschenswert. Auch er stellte sich hier die vollständige Montage durch einzelne Arbeiterinnen oder in Kleingruppen vor. Und wie zwischen 1974 und 1976 wurde eine solche Veränderung nicht mehr praktisch realisiert. Hatte Claude Neuschwander stets betont, keineswegs eine Selbstverwaltung im Betrieb einführen zu wollen, so sprachen damals doch einzelne Vorstandsmitglieder vom Bestreben nach „stärker selbstverwalteten“ Arbeitsprozessen. Und Chaniot verband die von ihm geplanten Veränderungen explizit mit dem Begriff der Selbstverwaltung, der in seinen Äußerungen eine deutlich unternehmerische Wendung erfuhr. Auch zu einer stärkeren Beteiligung der Beschäftigten an unternehmerischen Entscheidungen kam es in der Folge jedoch nicht mehr. Die wesentlichen Entscheidungen bis zur Konkursanmeldung im Sommer 1987 traf der Vorstandsvorsitzende im Alleingang.
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Für L.I.P. nach 1983 wurde eine auch ökonomisch gespaltene Belegschaft festgestellt. Während die Altbeschäftigten, zumal die meist weiblichen in der Uhrenabteilung, nahe an der Frühverrentung waren, die mit der Abwicklung ihrer Abteilung näher rückte, so wurden junge Neubeschäftigte überdurchschnittlich häufig mit befristeten Verträgen eingestellt, die nicht verlängert wurden. Die Belegschaftsstruktur ähnelte Mitte der 1980er Jahre – wenn auch deutlich gealtert – grundsätzlich noch immer der von 1973. Frauen machten wie damals mehr als drei Viertel der Angelernten bei L.I.P. aus; das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen, welches zum Teil durch die lange Betriebszugehörigkeit der Arbeiterinnen reduziert wurde, blieb prinzipiell bestehen. Bei den Commissions Artisanales de Palente fanden sich viele Frauen in den besonders belastenden Tätigkeiten der industriellen Schreinerei wieder. Hier drängten besonders die beiden Männer, die den Vorstand bildeten, in der Aufbauphase des Unternehmens darauf, an die „industrielle Erfahrung“ aus dem Betrieb von LIP anzuschließen. Zwar wurde die Produktion von Holzspielzeug bis zur Liquidation von CAP im Jahr 1990 fortgesetzt, den größten Teil des Umsatzes machte jedoch schon früh die Produktion von Möbeltüren als Zulieferbetrieb aus. Dem Enthusiasmus der Geschäftsführer in den Genossenschaften, eine veränderte Arbeitsteilung, flexiblere Arbeitszeiten und eine vergrößerte individuelle Verantwortung der Beschäftigten mit dem unternehmerischen Erfolg zu verbinden, stand die Enttäuschung der Arbeiterinnen und Arbeiter über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen gegenüber. Hieraus speiste sich ihr Unwille zur Übernahme von größerer Verantwortung, an dem die „Pädagogik“ des Noyau in dessen eigenen Augen scheiterte.1 Nach diesen Ausführungen lässt sich festhalten, dass die ehemaligen LIPArbeiterinnen und -Arbeiter keineswegs begeisterte Protagonisten des von Ève Chiapello und Luc Boltanski für die 1980er Jahre festgestellten Flexibilitätskonsenses waren. Auf dem Umweg über ihre Geschäftsführer und institutionelle Unterstützer hielt dieser jedoch Einzug in ihre Auseinandersetzung und in die Betriebe. Für die geschäftsführenden Gewerkschafter hatte sich der Bezugsrahmen drastisch verändert, in dem sie ihre Handlungen legitimieren mussten. 1973 galt die breite Solidarität verschiedenster politischer Gruppen und einer breiten Öffentlichkeit einer Belegschaft, die mit großer Kreativität eine breite Legitimät für ihre illegalen Uhrenverkäufe schuf. Das Durchhaltevermögen der LIP-Arbeiterinnen und -Arbeiter in ihrem langen Arbeitskampf, ihre klar geäußerte Gegnerschaft zum schweizerischen Konzern und dem alten Unternehmer Fred Lip
1
Noch im Jahr 2014 schlussfolgerte Charles Piaget: „Il aurait fallu plus de pédagogie“, Interview des Verfassers mit Charles Piaget, 5. März 2014.
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schufen Ansprüche an sie selbst, die auch von externen Unterstützerinnen und Beobachtern geäußert wurden. In den 1980er Jahren hingegen war einer der direkten Ansprechpartner für die aus LIP hervorgegangenen SCOPs die Stadtverwaltung von Besançon. Diese konzentrierte sich in ihren Bemühungen um Arbeitsplätze vor allem auf die Attraktivität für Unternehmensansiedlungen. Hierzu gehörte eine Liegenschaftspolitik, die Grundstücksspekulation vermeiden und eine gewerbliche Nutzung der vorhandenen Industrieflächen sicherstellen sollte. Die aus LIP hervorgegangenen Genossenschaften wurden von den Sozialisten in der Stadtverwaltung jedoch vor allem als Unternehmen gesehen, die durch ihren ökonomischen Erfolg und ihre Anpassungsfähigkeit an die neue Situation in der Branche zum Arbeitsplatzerhalt in der Stadt beitragen sollten. Die CFDT hatte durch die Beteiligung ihrer Beratungsfirma Syndex bereits 1973 eine neue Form unternehmensbezogener Wissensproduktion zum Arbeitskonflikt beigesteuert, welche auch auf den Informationen der Beschäftigten selbst beruhte: Diese hatten Dokumente aus der Vorstandsschublade eingebracht, aber auch ihre Erfahrungen aus dem Betriebsausschuss und ihre Kontakte in der Branche. 1973 wurde dieses Wissen durch eine starke Basisbewegung eng an die Ziele des Arbeitskampfs gebunden. Zum Ende der 1970er und Beginn der 1980er Jahre hielt diese Form der Expertise Einzug in die sich entwickelnden Routinen zur lokalen Sicherung von Arbeitsplätzen. In diese fügten sich die Gründungen von Produktionsgenossenschaften ein. Sowohl die CFDT als auch die CGT begleiteten nun häufig Belegschaftsübernahmen von Konkursbetrieben. Anhand der Werkzeugmaschinenfabrik in Ornans, seit September 1982 LIPEMEC, wurde gezeigt, wie weit sich die Gewerkschaftsbürokratie dabei vom bei LIP geäußerten Ziel des „Emploi pour tous“ entfernt hatte. Die CGT förderte dort die Einrichtung einer SCOP, welche 20 der bisher 95 Arbeitsplätze sicherte. Während häufigere berufliche Umorientierung, eine größere räumliche Arbeitskräftemobilität und durch betriebliche Vereinbarungen flexibilisierte Arbeitszeiten bei Beratern, den gewerkschaftlichen Dachverbänden, in der sozialistischen Stadtverwaltung und im Vorstand von L.I.P. normale Maßnahmen des Arbeitsplatzerhalts wurden, blieben die Gerechtigkeitsvorstellungen der Arbeiter und der Arbeiterinnen auch in den 1980er Jahren von ihrer teilweise langjährigen Arbeitserfahrung und den beiden Arbeitskämpfen bei LIP geprägt. Hierzu gehörte insbesondere bei den Älteren die Erfahrung einer langen, beruflichen Stabilität, auch wenn diese vor allem für viele Frauen ohne Karrieperspektive blieb. Für viele von ihnen war die Forderung nach einem „emploi pour tous“ noch keineswegs obsolet geworden. Und durch die Betriebsbesetzung waren bei ihnen Ansprüche an gemeinsame Entscheidungsprozesse, die Ausgestaltung ih-
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rer Arbeit und deren Einbindung in das familiäre und soziale Leben gewachsen, die nur zum geringen Teil verwirklicht werden konnten. Dieser Überschuss ist als ein wichtiger Grund dafür zu sehen, warum viele der Beteiligten ab 1978 vom Prozess der Genossenschaftsgründungen so deutlich enttäuscht waren. Er verweist darauf, dass zwischenzeitlich nicht nur eine Politisierung der Produktion im Sinne der Schaffung einer solidarischen Öffentlichkeit, sondern auch eine Moralisierung stattfand, also – im Anschluss die von Karl Polanyi inspirierten Vorschläge Andrew Sayers – eine stärkere Einbettung des wirtschaftlichen Handelns in die Ansprüche an das gute Leben, welche die Beschäftigten selbst entwickelten.2
W IRTSCHAFTLICHE E NTWICKLUNG , A RBEITSLOSIGKEIT UND DIE S TRUKTURBRUCHTHESE Die Auseinandersetzungen um die Selbstverwaltung bei LIP fanden in der schrumpfenden Uhrenbranche der Franche-Comté statt, die nach dem Ende des Untersuchungszeitraums nur noch halb so viele Beschäftigte hatte wie 1973. Dies blieb, wie gezeigt wurde, nicht ohne Folgen, weder für die Dynamik der beiden langen Arbeitskämpfe noch für die wirtschaftliche Entwicklung der Genossenschaftsbetriebe oder die individuellen Arbeitsverhältnisse und Zukunftserwartungen der Beteiligten. 1973 war LIP neben dem gemeinsam von der Branche betriebenen Forschungs- und Entwicklunsgzentrum CETEHOR der zweite Pol technischer Entwicklung im Bereich der Uhren in Frankreich. Sein schweizerischer Mehrheitsaktionär, der Konzern Ébauches, konnte auf wichtige Entwicklungen von LIP zurückgreifen. Zum Zeitpunkt des Arbeitskampfs von 1973 beschränkte sich das Interesse von Ébauches an LIP jedoch bereits weitgehend auf dessen Vertriebsnetz in Frankreich. In der Schweiz, wo ein weit größerer Forschungsaufwand betrieben wurde, standen mittlerweile sämtliche Bestandteile von Quarzarmbanduhren zur Verfügung, Ébauches hatte für deren Produktion eine eigene Fabrik mit 800 Beschäftigten aufgebaut. Die subalterne Einbindung von LIP in die Konzernstrukturen bedingte, dass Ébauches zum Zeitpunkt der Konkursanmeldung der mit Abstand größte Gläubiger von LIP war. Das Konkursverfahren wollte Ébauches dazu nutzen, die eigenen Restrukturierungspläne mit mehreren hundert Entlassungen durchzusetzen.
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Vgl. Sayer, Andrew: „Approaching Moral Economy“, in: Stehr, Nico u.a. (Hrsg.): The Moralization of the Markets, New Brunswick 2006, S.81f.
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Für 1976 konnte das Interessengeflecht herausgearbeitet werden, auf dem das Ende von LIP beruhte. Hierzu gehörte eine Uhrenbranche, in der sich besonders die kleineren Unternehmer des Haut-Doubs stärker horizontale Beziehungen erhofften denn ein starkes Unternehmen LIP als Leitunternehmen der Branche. Auf ein solches zielten jedoch die Bemühungen der Geschäftsführung um Claude Neuschwander und ihre Kooperationsbemühungen mit dem Elektronikkonzern Thomson. Und neben der Branche, die LIP schließlich ablehnend gegenüber stand, hatte die Compagnie Européenne d’Horlogerie (CEH) vor allen Dingen Aktionäre, die über ihre bisherigen finanziellen Verpflichtungen nicht hinausgehen wollten. Am Jahresbeginn 1976 leiteten sie mit dem vereinbarten Rücktritt Neuschwanders die Abwicklung des Unternehmens ein. Eine staatliche Komplizenschaft kann insofern behauptet werden, als nach Neuschwanders Rücktritt weder das Industrieministerium noch andere Regierungsstellen die Unternehmer an ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat erinnerten. Dieser hatte mit langfristigen Krediten, Fördermitteln des CIASI und zuletzt auch neu genehmigten Zuschüssen im Rahmen des Quarzuhrenplans versprochen, den Weiterbetrieb von LIP über das Jahr 1976 hinaus zu fördern. LIP war also kein Opfer der Quarzuhr, wie in der Einleitung dieser Arbeit der zitierte Guide du Routard nahelegte, sondern ein Opfer dieses spezifischen Interessengeflechts, das gleichwohl mit der Rolle von LIP als Produzent von Quarzuhren zusammenhing. Deren Einführung wiederum lag kein schleichender, anonymer „Strukturwandel“ zugrunde, wie ihn auch Beiträge aus der „Strukturbruch“-Diskussion gelegentlich unterstellen, sondern konkrete Konkurrenzkämpfe um die regionale und internationale Restrukturierung des Branchenkapitals.3 Während sich der französische Elektronikkonzern Thomson aus den Querelen der Branche dadurch heraushalten wollte, dass er Kapitalbeteiligungen vermied, wurden Elektronikkonzerne in den USA neben den bisherigen Uhrenherstellern wichtige Akteure auf einem Markt, dessen Absatzzahlen weiter anstiegen.
3
So beschreibt Anselm Doering-Manteuffel den Einzug der Elektronik in die Produktion als „unerbittlichen Druck des technischen Wandels“ und schließt in Bezug auf unternehmerische Neuorientierungen seit den 1970er Jahren: „Den Anstoß gab immer wieder jener Strukturwandel, der wegen seiner umfassenden Geltung und des hohen Tempos als revolutionärer Prozess anzusprechen ist.“, Doering-Manteuffel, Anselm: Die Vielfalt der Strukturbrüche und die Dynamik des Wandels in der Epoche nach dem Boom, in: Reitmayer, Morten und Thomas Schlemmer: Die Anfänge der Gegenwart Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2013, S.139.
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In Frankreich war LIP 1975 aber noch der einzige Produzent von Quarzuhren. Deren Marktanteil betrug dort gerade einmal 4 Prozent; Frankreich war außerhalb der Schweiz das einzige Land Westeuropas, in dem der größte Teil der verkauften Uhren aus dem Inland stammte. Für die Unternehmer im Bereich mechanischer Uhren war es also durchaus plausibel, zunächst ihr bisheriges Produktionsprofil zu schärfen, um auf dem Markt zu bestehen. Die Beobachter der PSU aus dem Département Doubs stellten in ihrer Kritik der Quarzuhren fest, dass deren Durchsetzung vor allem vorangetrieben werde, um die Charakteristika der Massenproduktion auf weitere Teilbereiche der Uhrenfertigung auszudehnen. Tatsächlich wurde eine Delokalisierung der Industrie im Ergebnis durch den stärkeren Rückgriff auf niedriger qualifizierte Arbeitskräfte ermöglicht; gegenüber den kleinen Unternehmern Besançons und des Haut-Doubs wurde die Rolle von Konzernen gestärkt. Bei LIP sah der 1975 vorgestellte QuartzélecPlan die Einrichtung zweier Produktionsstraßen für Digitaluhren vor, von denen eine teilautomatisiert betrieben werden sollte. Die zukünftige Ausgliederung größerer Teile der Vorproduktion und die zunehmende Konzentration auf die Montage bedeuteten im Betrieb selbst eine gesteigerte Rolle der Fließproduktion und einen höheren Anteil angelernter Arbeiterinnen als bislang. Für die Zukunft sah die Geschäftsleitung bei LIP eine zunehmende Rationalisierung unter Rückgriff auf Methoden der Massenproduktion vor. Jedoch bedeutete die zunehmende Durchsetzung der Quarzuhren keine lineare Dequalifizierung sämtlicher Beschäftigtengruppen. Vielmehr wurde die Bedeutung der Ingenieure und Techniker in der Entwicklungsabteilung von LIP zwischen 1974 und 1976 vorübergehend gestärkt, während die gelernten Uhrmacher für die Zukunft vor der Obsoleszenz ihrer beruflichen Fertigkeiten standen. In der Genossenschaft L.I.P. konnte eine starke Orientierung der mit der Gestaltung befassten Uhrmacher am Image der alten Marke LIP festgestellt werden. Die Kataloge konzentrierten sich auf klassische, mechanische Armbanduhren, die auf den bestverkauften Kalibern von LIP beruhten. Im Gegensatz zum Elektronikoptimismus, wie er von den neuen Uhrenserien unter Claude Neuschwander verkörpert wurde, bedeutete dies eine Retraditionalisierung. Diese schloss an das berufliche Selbstverständnis der Uhrmacher an. Bald wurden jedoch auch Quarzuhren und Digitaluhren ins Programm aufgenommen. An das Charakteristikum der „Manufaktur“ LIP, auch einen Großteil der Vorprodukte im eigenen Betrieb herzustellen, konnten die Industries de Palente aufgrund politischer Widerstände und aufgrund ihrer mangelnden Größe nicht anknüpfen. Das Produktionsprofil von L.I.P. legte deshalb eine Belegschaftsstruktur nahe, die ohnehin bestand: Durch den Weggang sämtlicher Ingenieure sowie vieler qualifizierter Uhrmacher und Mechaniker mussten die Genossen-
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schaften vor allem für die angelernten Arbeiterinnen Beschäftigung kreieren. Zwar wurde die Produktionsstruktur der Uhrenabteilung von L.I.P. mit ihrer Konzentration auf die Montage vom Aufsichtsrat noch 1982 kritisiert, es bestand jedoch wenig Aussicht, diese nachhaltig zu verändern. Während tatsächliche, berufliche Weiterqualifizierung im Rahmen der Genossenschaften nur für wenige Personen möglich war, wurden dem Gros der Beschäftigten dennoch erhebliche Anpassungs- und Lernleistungen abverlangt, etwa in der Diversifizierung der Uhrenabteilung von L.I.P., wo bis 1985 miniaturisierte Spulen für die Elektronikindustrie hergestellt wurden. Es konnte festgestellt werden, dass relativ viele von den Personen, die den Arbeitskampf oder die Genossenschaften seit den späten 1970er Jahren verließen, in Frührente gingen und zahlreiche andere vermutlich noch lange zwischen Arbeitslosigkeit und Weiterbildungsmaßnahmen oszillierten. Solche waren 1974 bei LIP in einem der ersten großen Fälle der Wiederaufnahme eines Betriebs zur Anwendung gekommen. Für die leitenden Angestellten und Personen aus dem Vertrieb mit allgemein zahlreichen, beruflichen Kontakten bot die Uhrenbranche noch immer Möglichkeiten, in anderen Betrieben weiterbeschäftigt zu werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hingegen hatten auch mit dem Makel zu kämpfen, bei der regionalen Arbeitgeberschaft als widerspenstige Belegschaft verschrien zu sein. In den Fortbildungsmaßnahmen kritisierten die beteiligten LIPBeschäftigten schon 1974 eine Bildungsexpansion, die zwar höhere Schulabschlüsse, nicht aber zwangsläufig bessere Arbeitsmarktchancen und schon gar keine veränderte Arbeit ermögliche. Zu spüren bekamen sie diese Entwicklung dann ab den späten 1970er Jahren. So hielt für die verschiedenen Beschäftigtengruppen in unterschiedlichem Maß eine neue Unsicherheit Einzug in ihr Leben, die viele von ihnen in den beiden LIP-Konkursen das erste Mal kennengelernt hatten und die verschiedene Autoren als typisch für die Zeit seit dem „Strukturbruch“ in den 1970er Jahren benennen.4 Diese Unsicherheit wurde nur teilweise durch neue Möglichkeiten der Weitervermittlung an die Stadtverwaltung, Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt die „90 Prozent“, das Arbeitslosengeld im Konkursfall, symptomatisch aufgefangen. Dieses war kurz nach dem ersten Arbeitskampf bei LIP eingeführt worden. In der sozialistischen Regierungspolitik setzte sich in den 1980er Jahren durch, nicht mehr so sehr die Arbeitslosigkeit als vielmehr die mit
4
Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm und Lutz Raphael: Nach dem Boom – Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen 2010, S.52ff.
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ihr einhergehende soziale Unsicherheit zu bekämpfen.5 Der Fall LIP erinnert daran, dass auch das Bemühen um die soziale Absicherung erkämpft wurde. Der Beschluss zur gesetzlichen Verpflichtung für Arbeitgeber, Lohnausfallversicherungen abzuschließen, wurde durch den Arbeitskampf bei LIP von 1973 beschleunigt. Der institutionelle Umgang mit der Arbeitslosigkeit zeugt davon, dass der Druck der Arbeiterinnen und Arbeiter sowohl von den Unternehmern als auch von der Parteipolitik aufgenommen und verarbeitet wurde. Die zahlreicher werdenden Wirtschaftsförderungsmechanismen für Unternehmen wurden einerseits stärker an den Erfordernissen der industriellen Restrukturierung ausgerichtet; das 1982 gegründete CIRI (Comité Interministériel pour la Restructuration Industrielle) trug diese sogar im Namen. Andererseits nahmen die seit Ende der 1970er Jahre neu eingeführten Fördermaßnahmen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Impulse zur Schaffung gemeinwohlorientierter Tätigkeiten auf. Sie zielten gleichfalls auf die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Beschäftigten selbst im Rahmen unternehmerischer Tätigkeit. Dies gilt besonders für die Emplois d’Utilité Collective und die Emplois d’Initiative Locale, welche bei den Commissions Artisanales de Palente zum Einsatz kamen. Im Gegensatz zur – zugegebenermaßen etwas beiläufigen – Bemerkung von Lutz Raphael, dass Subventionspolitik gegen den wachsenden Einfluss der neoliberalen Denkschule ab Mitte der 1970er Jahre „ohnehin nicht mehr ohne weiteres“ vertretbar war, konnte in der Arbeit eine Ausdifferenzierung der genannten Förderinstrumente beobachtet werden.6 Dies entspricht Ergebnissen anderer Forscher, die eine Ausweitung, aber auch eine qualitative Veränderung strukturpolitischer Maßnahmen in Westeuropa festgestellt haben. Für Großbritannien etwa konstatierte Martin Chick eine verstärkte Orientierung an der Förderung von Wettbewerb und Arbeitskräftemobilität.7 Rand Smith hat die Gestaltung der industriellen Restrukturierung mithilfe solcher Instrumente in Frankreich in den 1980er Jahren analysiert.8
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Vgl. Robert Castels Anmerkungen zur Einführung des von Michel Rocard vorangetriebenen Revenu Minimum d’Insertion (RMI) 1985 in Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2008.
6
Doering-Manteuffel, Anselm und Lutz Raphael: Nach dem Boom, S.53.
7
Vgl. Chick, Martin (Hrsg.): Governments, Industries and Markets: Aspects of Government-Industry Relations in the UK, Japan, West Germany and the USA since 1945, Cheltenham 1990.
8
Vgl. Smith, Rand W.: The Left’s Dirty Job – The Politics of Industrial Restructuring in France and Spain, Pittsburgh/Toronto 1998.
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Die besondere Förderung von SCOPs wurde Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre auch deshalb vorgenommen, weil ihren Eigentümern, den Beschäftigten selbst, ein gesteigertes Interesse am Erhalt der eigenen Arbeitsplätze unterstellt wurde. Und, so prekär die Unternehmenssituation von L.I.P., CAP und den anderen aus LIP hervorgegangenen Genossenschaften auch war, sie alle hielten länger durch als die neuen Aktionäre von 1974, die ihr eben gekauftes Unternehmen zwei Jahre später wieder fallen ließen. Dies galt sogar für die Kantine, die von 1982 bis 1985 als Produktionsgenossenschaft geführt wurde. Die Zahl der Arbeitsplätze, die geschaffen wurden, lag deutlich niedriger als von allen Beteiligten erhofft. Sie bewegte sich zu dieser Zeit inmitten der Realität vieler Belegschaftsübernahmen, bei denen deutliche Arbeitsplatzverluste der Normalfall waren.9 Einige der genannten Unternehmen haben darüber hinaus ein Nachleben, das bis heute andauert. Die Marke LIP hat nach der Liquidation der Société Mortuacienne d’Horlogerie im Jahr 1990 zweimal den Eigentümer gewechselt.10 Seit einigen Jahren erleben die nun in Lectoure im Département Gers und seit 2015 auch wieder in Besançon zusammengesetzten LIP-Armbanduhren einen guten Absatz.11 Die meisten von ihnen beruhen auf Quarzuhrwerken der ETA, einem ehemaligen Tochterunternehmen von Ébauches (und heute der Swatch Group), das in Europa eine marktbeherrschende Stellung einnimmt. Besonders profitiert der Unternehmer im Gers von der Neuauflage zahlreicher „historischer“ Modelle: Die LIP de Baschmakoff ist ebenso im Angebot wie die Mach 2000 und eine „Atomkraft-Nein, danke“-Uhr.12 Die beiden Unternehmer, die L.I.P. nach 1987 mit deutlich verminderter Beschäftigtenzahl als Aktiengesellschaft Lip Précision weiterführten, gingen wenige Jahre später ebenfalls in Konkurs. In der anschließend gegründeten SCOP Lip Précision wurde der CFDT-Gewerkschafter Jacques Burtz zeitweilig Geschäftsführer. Bis heute hat das Unternehmen etwa 15 bis 20 Beschäftigte. Das LIPGelände in Palente, seit Mitte der 1980er Jahre im Eigentum von Stadtverwal-
9
Vgl. Demoustier, Danièle: Les coopératives de production, Paris 1984; Vgl. Paton, Rob: Analysis of the Experiences of and Problems encountered by Worker-Takeovers of Companies in Difficulty or Bankrupt, Studie Nr. 85/4 im Auftrag der Europäischen Kommission, Luxemburg 1987, S. 22.
10 Der erste Käufer konnte sich in einem Buch sogar noch mit einem Vorwort von Fred Lip schmücken, vgl. Sensemat, Jean-Claude: Comment j’ai sauvé Lip, Paris 2005. 11 So äußerte sich zumindest der Geschäftsführer dem Verfasser gegenüber am Rande einer Tagung zu LIP im Sommer 2013. 12 Vgl. die Webseite der Marke LIP: www.lip.fr (zugegriffen am 2. Dezember 2016).
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tung und Industrie- und Handelskammer, beherbergt eine Anzahl verschiedener Unternehmen. Die SCOP LIPEMEC in Ornans schließlich existiert immer noch und stellt Schleifmaschinen für die Metallbearbeitung her. Die in den Genossenschaftsgründungen bei LIP festgestellten Probleme in den Entscheidungsstrukturen, die stark divergierenden Vorstellungen und Hoffnungen sowie die zahlreichen Enttäuschungen waren auch auf die Länge der Auseinandersetzung zurückzuführen. Die Unentschlossenheit vieler Beteiligter resultierte auch aus der Neuheit des Vorhabens. Die von der Genossenschaftsforscherin Danièle Demoustier hervorgehobenen Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Belegschaftsübernahme konnten so nur in Ansätzen erfüllt werden. Hierzu gehören eine schnelle Sicherung der Arbeitsmittel, ein schneller Zugriff auf die Markenrechte des Vorgängerunternehmens und eine zügige Klärung der Aspekte, die in der Genossenschaft anders werden, und jener, die gleich bleiben sollen.13 Die Genossenschaftsgründungen bei LIP waren von großen, langanhaltenden Erwartungen geprägt, die sich teilweise gegenseitig widersprachen und deren Widerspruch häufig unaufgelöst blieb. Insgesamt aber gelangte vieles, was 1973 noch Skandal war, in den 1980er Jahren zu neuer Selbstverständlichkeit. Sich gegen Entlassungen auf eine Art zu wehren, die den Rückgriff auf illegale Methoden beinhaltete – Beschlagnahme, Produktion und Verkauf der eigenen Produkte, Überbrückung von Stromanschlüssen u.a.m. – war zumindest bis Ende der 1970er Jahre ein häufiger Reflex bei von Entlassung bedrohten Belegschaften. Und auch wenn Arbeitskämpfe mit langen Betriebsbesetzungen im Zuge des Auslaufens der Fabrikpolitisierung der 1968er Jahre wieder seltener wurden, so waren doch manche Formen unternehmerischer Willkür nicht mehr hinnehmbar, welche 1973 bei LIP deutlich beklagt wurden: Dies trifft vor allem auf die Vorenthaltung der durch den Konkurs bedrohten Löhne zu. Die von den Unternehmerverbänden 1973 angemahnte Flexibilität in Bezug auf Entlassungen, Betriebsschließungen und -verlagerungen wurde also erst mithilfe einer begleitenden sozialen Absicherung konsensfähig. Der Fall LIP lässt also Vorsicht geboten erscheinen, wenn die Geschichte der 1970er und 1980er Jahre in Westeuropa nur als Verlustgeschichte erzählt werden soll. Auf viele der damals gemachten Erfahrungen wird heute wieder vermehrt zurückgegriffen. Belegschaften, die ihre Betriebe übernehmen wollen, können sich anders als am Ende der 1970er Jahre auf ein Netz aus regionalen Beratungsstellen der Confédération Générale des SCOP stützen, Gewerkschaften und Kommunen sind gegenüber diesem Mittel des Arbeitsplatzerhalts we-
13 Vgl. Interview mit Danièle Demoustier: „Une démonstration qu’on peut reprendre son travail en main“, Humanité, 7. August 2015.
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sentlich offener geworden. Mit der Einrichtung der zusätzlichen genossenschaftlichen Rechtsform der SCIC (Société Coopérative d’Intérêt Collectif) wurde 2001 erneut der Kapitaleinstieg anderer Akteure als der Belegschaft erleichtert. Explizit soll die SCIC Beschäftigte, Nutzer und Unterstützer gemeinsam in die Entscheidungsstrukturen einbeziehen. Und seit der Krise, die 2008/2009 begann, sind abermals neue Erleichterungen für die Gründung von Produktionsgenossenschaften eingeführt worden. 3.177 SCOPs und SCICs gab es im Jahr 2017, mehr als doppelt so viele wie Mitte der 1980er Jahre.14 In den Belegschaftsübernahmen der letzten Jahre scheint auch bei den Arbeiterinnen und Arbeitern ein größerer Pragmatismus am Werk. So nahmen die Beschäftigten der ehemaligen Lipton-Tee-Fabrik in Géménos nahe Marseille schnell Kontakt zur kommunistischen Stadtverwaltung auf und legten mögliche Finanzierungspläne vor.15 Die lebendige Erinnerung an LIP dauert weitgehend jenseits solcher konkreten Entwicklungen an. Sie bezieht sich auf den Mut und den Einfallsreichtum der Protagonisten von damals. Mit dieser Arbeit sollte deren Handeln in den Kontext der 1970er und 1980er Jahre und seit damals andauernder Entwicklungen eingebettet und so verständlich gemacht werden.
14 Zahlen nach Angaben der CG SCOP, http://www.les-scop.coop/sites/fr/les-chiffrescles/, abgerufen am 10.7.2018. 15 vgl. bspw. das Labournet-Dossier zu Thé Éléphant: http://www.labournet.de/interna tionales/frankreich/arbeitskaempfe-frankreich/fralib/?cat=6968, zugegriffen 2.7.2018.
Dank
Dieses Buch ist aus einer Doktorarbeit im Fach Geschichte entstanden, die ich im Juni 2017 an der Universität Potsdam abgeschlossen habe. Sie entstand am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts mit Dr. Anne Sudrow und mit Christiane Mende, die zur gleichen Zeit über die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth in Immenhausen bei Kassel geschrieben hat. Den Diskussionen mit den beiden Kolleginnen verdankt die vorliegende Studie viel. Finanziell gefördert wurde die Arbeit durch ein Stipendium der Stiftung Bildung und Wissenschaft. Ein Kurzzeitstipendium des Deutschen Historischen Institut Paris ermöglichte mir die ausführlichen Archivrecherchen in Besançon und Paris. Ein vom Centre interdisciplinaire de recherches et d'études sur l'Allemagne (CIERA) organisierter und von Dr. Sibel Vurgun angeleiteter Workshop in der Normandie gab den letzten Anstoß, um mit Freude und gelockerten Gedanken den Schreibprozess zu beginnen und bis zum Ende durchzuhalten. Durch ein Abschluss-Stipendium des ZZF wurde die wichtige, letzte Schreibphase finanziert. Während der gesamten Arbeit konnte ich auch von der Infrastruktur des ZZF Potsdam profitieren. So teilte ich mir ein Büro mit Christiane Mende. Auch die Wege zu den sonstigen Diskussionsforen am Institut waren kurz. André Steiner war als Erstgutachter und Betreuer in einigen Situationen mit schnellem und unkompliziertem Rat zur Seite. Gabriele Metzler stellte sich als interessierte Zweitgutachterin heraus. Anne Sudrows beharrliche Fragen an den Text haben geholfen, die Arbeit an vielen Stellen zu pointieren. Die Veröffentlichung schließlich wurde vom ZZF Potsdam und der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt gefördert. Zunächst sei also diesen Personen und Institutionen herzlich gedankt. Lebendig wurde die Arbeit für mich jedoch besonders durch die Begegnungen in ihrem Verlauf. So gilt ein besonderer Dank Edward Castleton und Ruth Blader, deren Wohnung ich in Besançon hüten durfte. Gaston Bordets Pot-aufeu war ein herzliches Willkommen. Martial Cavatz gab mir eingangs viele tref-
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fende Hinweise über die Lokalpolitik an die Hand. Mit der Hilfe von Guillaume Gourgues und Laurent Kondratuk (Université de Franche-Comté, Besançon) konnte ich private Archivbestände auswerten, welche die beiden für die Einarbeitung im Départementsarchiv gesammelt haben (Projekt PALENTE). Diese befanden sich zum Zeitpunkt meiner Arbeit noch sämtlich in Laurents Büro, wo ich ungehindert blättern durfte. Mit Emmanuëlle Cournarie konnte ich mich über die Spezifika der Uhrenbranche austauschen. Abdellatif Thargaoui – „l’ivre de contes“ – vermittelte mir diesen einen seiner unzählig erscheinenden Kontakte in der Stadt. Am Rande des Kolloquiums „Images de LIP, créations en lutte“ in der Pariser Maison des métallos (Nov. 2013, organisiert u.a. von Catherine Goudé, Universität Paris 8) konnte ich die gegenüber Interviews skeptischen ehemaligen LIP-Beschäftigten Monique Piton, Pierre Laurent und Fatima Demougeot dazu bewegen, mich für längere Gespräche in Besançon zu treffen. Ihnen und den übrigen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern möchte ich für ihre Auskunftsfreude danken und ebenso für die Herzlichkeit, mit der sie mich empfangen haben. Den Lesern von Teilen der Arbeit sei für ihre hilfreichen Anmerkungen gedankt. Die zügige Korrekturarbeit von Johannes in Aachen hat dem Abschluss der Arbeit Schwung verliehen. Lenas Geduld war groß und ist es noch immer. Unsere Kinder Miro und Fanny zeigen mir, dass die Gegenwart mindestens so wichtig ist wie die Vergangenheit. Danke!
Anhang
A BKÜRZUNGEN 4M Micromécanique et Matériel Médical AAL Les Amis de LIP ACO Action Catholique Ouvrière AFPA Agence pour la Formation Permanente d’Adultes ANPE Agence Nationale pour l’Emploi ASH Arbeiterselbsthilfe Frankfurt ASSEDIC Association pour l’Emploi dans l’Industrie et le Commerce ASUAG Allgemeine Schweizerische Uhrenindustrie AG BEP Brevet d’Études Professionelles BNP Banque Nationale de Paris BSN Boussois-Souchon-Neuvesel CAP Les Commissions Artisanales de Palente CAP Certificat d’Aptitude Professionelle CCCC Caisse Centrale du Crédit Coopératif CCI Chambre du Commerce et de l’Industrie CCOMCEN Comité de Coordination des Œuvres Mutualistes et Coopératives de l’Éducation Nationale CEH Compagnie Européenne d’Horlogerie CESI Centre d’Études Supérieures Industrielles CETEHOR Centre Technique Industriel pour les Professions de l’Horlogerie, de la Bijouterie, de la Joaillerie et de l’Orfévrie CFDT Confédération Française Démocratique du Travail CFH Chambre Française de l’Horlogerie CGC Confédération Générale des Cadres CGSCOP Confédération Générale des SCOP CGT Confédération Général du Travail
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CIASI
Comité Interministériel pour l’Aménagement des Structures Industrielles CIM Centre Interprofessionel de la Montre CIRI Comité Interministériel pour la Restructuration Industrielle CIRIEC Centre International de Recherches et d’Information sur l’Économie Sociale CISE Centre d’Intervention Sociale et Économique CLAS Comité de Liaison pour l’Autogestion CLEF Collectif de Liaison, d’Études et de Formation CMPDE Centre Municipal de Promotion et de Développement Économiques CNPF Conseil National des Patrons Français CRS Compagnies Républicaines de Sécurité CS Conseil de Surveillance DEUG Diplôme d’Études Universitaires Générales DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DIMME Direction des Industries Métallurgiques, Mécaniques et Électriques DRTMO Direction Régionale du Travail et de la Main d’Œuvre DTAT Direction Technique de l’Armement Terrestre EdF Électricité de France EIL Emploi d’Initiative Locale EPR Établissement Public Régional EUC Emploi d’Utilité Collective EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FDES Fonds du Développement Économique et Social FF Französischer Franc, gemeint sind die seit 1960 gültigen „neuen“ Francs, jeweils in den zeitgenössischen Beträgen FGMM Fédération Générale des Mines et de la Métallurgie (CFDT) FNE Fonds National de l’Emploi GOP Gauche Ouvrière et Paysanne GP Gauche Prolétarienne IDES Institut de Développement de l’Économie Sociale IDI Institut pour le Développement Industriel IFOP Institut Français de l’Opinion Publique INSEE Institut National de la Statistique et des Études Économiques JEC Jeunesse Étudiante Chrétienne LIP Uhrenunternehmen in Besançon bis 1974, benannt nach der früheren Eigentümerfamilie Lipmann, Uhrenmarke bis heute L.I.P. Les Industries de Palente
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LIPEMEC Produktionsgenossenschaft in Ornans ab Herbst 1982 MAIF Mutuelle d’Assurance des Instituteurs de France MACIF Mutuelle d’Assurance des Commerçants et Industriels de France et des Cadres et des Salariés de l’Industrie et du Commerce MLAC Mouvement pour la Liberté de l’Avortement et de la Contraception MRIFEN Mutuelle Retraite des Instituteurs et Fonctionnaires de l’Éducation Nationale OS Ouvrière Spécialisée OP Ouvrier Professionel PCF Parti Communiste Français PDG Président-Directeur-Général PS Parti Socialiste PSU Parti Socialiste Unifié RES Reprise d’Entreprise par ses Salariés RG Renseignements Généraux RMI Revenu Minimum d’Insertion SA Société Anonyme SARL Société à Responsabilité Limitée SCEIP Service, Conseils, Études Industrielles de Palente SCOP Société Coopérative Ouvrière de Production SDH Société pour le Dévéloppement de l’Horlogerie SEHEM Société Européenne de l’horlogerie et de la Mécanique SFIO Section Française de l’Internationale Ouvrière SGEN Syndicat Général de l’Éducation Nationale SMH Société Mortuacienne d’Horlogerie SMIC Salaire Minimum Interprofessionnel de Croissance, Mindestlohn, ab 1970 SMIG Salaire Minimum Interprofessionel Garantie, bis 1970 SPL Système Productif Localisé SRRG Service Régional des Renseignements Généraux UDR Union pour la Démocratie et la République UJC(ML) Union des Jeunesses Communistes (Marxistes-Léninistes) UNCLA Union Nationale des Comités de Lutte d’Atelier UNEDIC Union Nationale Interprofessionnelle pour l’Emploi dans l’Industrie et le Commerce UNEF Union Nationale des Étudiants Français ZAD Zone d’Aménagement Différé
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T ABELLEN Tabelle 6: Instrumente der Wirtschaftsförderung, die bei LIP und seinen Nachfolgebetrieben eingesetzt wurden CENTREST
Gemeinsame Beteiligungsgesellschaft der Regionen Franche-Comté, Elsass und Burgund
CIASI
Comité Interminstériel pour l’Aménagement des Structures Industrielles: 1974 gegründetes interministerielles Gremium zur krisenpräventiven Förderung industrieller Strukturen mit Krediten und Zuschüssen.
CIRI
Comité Interministériel pour la Restructuration Industrielle: 1982 gegründetes Gremium zur Beratung und Begleitung von Unternehmen bei Umstrukturierungen und akuten Finanzproblemen.
FDES
Fonds du Développement Économique et Social: Seit 1955 agierender Staatsfonds zur Kreditvergabe an Unternehmen.
IDES
Institut de Développement de l’Économie Sociale: 1983 als gemischtwirtschaftliche Beteiligungsgesellschaft zur Förderung der Sozialwirtschaft gegründet. Die Betreuung der Gesellschaft von Regierungsseite liegt beim Délégué à l’Économie Sociale, einem interministeriellen Posten, der zunächst im damals von Michel Rocard geleiteten Ministerium für Planung und Raumordnung lag.
IDI
Institut pour le Développement Industriel: 1969 gegründete teilstaatliche Beteiligungsgesellschaft für kleine und mittelgroße Unternehmen.
SDH
Société pour le Développement de l’Horlogerie: 1969 gegründete, brancheneigene Beteiligungsgesellschaft der französischen Uhrenindustrie.
A NHANG | 353
Tabelle 7: Mindestlohn (SMIC), Inflationsrate und Arbeitslosigkeit in Frankreich nach den Datenreihen des INSEE SMIC brutto pro Stunde, in FF
SMIC brutto, monatlich (jeweils nach der ersten Erhöhung im angegebenen Jahr), in FF
Inflationsrate (in Prozent)
Arbeitslosenquote im Jahresmittel (in Prozent)
1973
7,3
1974
13,7
1975
11,8
3,3
1976
9,6
3,6
1977
9,4
4,1
1978
9,1
4,3
1979
10,8
4,8
1980
13,37
2.317,42
13,6
5,1
1981
15,20
2.634,62
13,4
6,0
1982
18,15
3.145,94
11,8
6,6
1983
21,02
3.552,38
9,6
6,9
1984
22,78
3.849,82
7,4
8,0
1985
24,90
4.208,10
5,8
8,5
1986
26,59
4.493,71
2,7
8,6
1987
27,57
4.659,33
3,1
8,7
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Q UELLEN ADD – Archives Départementales du Doubs, Besançon – 35 J 10
Fonds Joseph Pinard, Dossier zu LIP und zur Uhrenbranche, 1973-1977. – 45 J 1-115 Fonds Michel Jeanningros, 1973-1990. – 85 J 55 CFDT, Union Régionale, Dossier LIP, 1973-1977. – 85 J 64 CFDT, Union Régionale, Dossier „Coordination des luttes“ und „Comité de défense de l’horlogerie“, 1976-1977. – 1378 W 878 Chambre du Commerce et de l’Industrie du Doubs, Dossier zu LIP, 1973-1980. – 2032 W 222-223 Direction régionale du travail et de la main d’œuvre (DRTMO), seit 1985 Direction régionale du travail, de l’emploi et de la formation permanente (DTEFP), Dossier zu Ausbildungs- und Beschäftigungssituation in der Uhrenbranche, 1976-1978. – 2032 W 333-339 DRTMO, Dossier LIP, 1974-1978. – 1485 W 240 Service régional des Renseignements Généraux, Dossier LIP. AM – Archives Municipales, Besançon – 5 Z 1-237 – 10 Z 1
– 86 W 23-24
– 86 W 39-42
– 86 W 112 – Fonds B. Faille
Fonds LIP, Unternehmensarchiv, 1930-1980. Union des industries et métiers de la métallurgie du Doubs: namentliche Personalliste für LIP Palente nach Abteilungen, März 1973. Centre municipal de promotion et de développement économiques (CMPDE), Ausschuss für Beschäftigung, 19761980. Centre municipal de promotion et de développement économiques (CMPDE), Dossiers zum Fabrikgelände in Palente, zur SCOP L.I.P. und zu kommunalen Bürgschaften für die LIP-Nachfolgebetriebe, 1976-1987. CMPDE, Dossier zur SCOP CAP, 1979-1990. Fotografien von Bernard Faille, Est Républicain, 19581983, digitalisiert: memoirevive.besancon.fr.
A NHANG | 355
AN – Archives Nationales, Pierrefitte-sur-Seine – 581 AP 117
Archiv der Parti Socialiste Unifié (PSU), Zeitschrift Tribune Socialiste, 1973-1979. – 581 AP 118 Archiv der Parti Socialiste Unifié (PSU), Dossier zu Solidaritätskampagnen. – 19790738/36 Premierminister, Chargé de mission (service d’information et de diffusion): Dossier LIP, 1973. – 19840668/7 ,/8 , /9 Industrieministerium: Direction des industries métallurgiques, mécaniques et électriques (DIMME), Dossiers LIP und CEH, 1967-1977. – 19850508/21 Industrieministerium: Direction des industries métallurgiques, mécaniques et électriques (DIMME), Dossier L.I.P., 1979-1982. – 19850590/9, /10 Arbeitsministerium: Délégation à l’aménagement du territoire, Dossier SUPEMEC. – 19860581/29 Innenministerium: Bureau de la liberté individuelle, Vorfälle LIP August 1973 und Depeschen von Staatsschutzstellen, August bis Dezember 1973. –19870344/34 Industrieministerium: Papiere des zuständigen Fachreferenten im Ministerialkabinett zu SUPEMEC. – 19880594/4 Arbeitsministerium: Sous-direction de la défense et de la promotion de l’emploi, Dossier L.I.P. – 19910432/12 Industrieministerium: Direction générale de l’industrie, Dossier SUPEMEC, 1979-1984. – 19910541/13 Industrieministerium: CIRI – Comité Interministeriel de Restructuration Industrielle, Dossier L.I.P. – 19940111/4 Innenministerium: Direction Centrale des Compagnies Républicaines de Sécurité, État Major: Fiche Relative à la participation des CRS au maintien de l’ordre à Besançon à l’occasion de l’affaire LIP, 1973-1974. Archives Socialistes, Fondation Jean Jaurès, Paris Kongressunterlagen, Reden François Mitterrands, Zeitschrift Le poing et la rose, online unter www.archives-socialistes.fr, zuletzt abgerufen am 13. Oktober 2016.
356 | S ELBSTVERWALTUNG ZWISCHEN M ANAGEMENT UND »C OMMUNAUTÉ «
Archiv Grünes Gedächtnis, Berlin Fonds Edith Marcello und David Wittenberg, Akte Nr. 7, Materialsammlung Dokumentarfilm über LIP, 1974-1982. Archiv Soziale Bewegungen in Baden, Freiburg Broschüren, Zeitschriften und Infomaterial zu LIP mit Einzelsignaturen.
BDIC – Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine, Nanterre – F Δ rés. 702, 1-22 – F Δ rés. 578/1-102
Fonds LIP, 1973-1983. Fonds Cahiers de Mai, 1968-1974.
CFDT – Conféderation Française Démocratique du Travail, Paris –1F – 1 F 10 – 8 H 161 – 8 H 560 – 8 H 561
– 8 H 562 – 8 H 785
Syndicalisme Hebdo Arbeitgeberzeitschriften Pressemitteilungen der CFDT zu LIP, Sep.-Dez. 1973 Broschüre „Un an de luttes chez LIP“ (Januar 1971), Stellungnahmen der CFDT zu LIP, April-Juni 1973 Reden, Presseerklärungen, Notizen, Vorbereitung der Demonstration vom 29. September 1973 und des „Colloque sur l’emploi“, Dezember 1973. Broschüre „Lip au féminin“, Flugblätter und Notizen zur Vereinbarung von Dôle, 1973-1974, Presseartikel 1976-1982. Reden von Jeannette Laot (Mitglied des CFDT-Exekutivkomitees 1970-1981) zu LIP und anderen Arbeitskämpfen.
FGM – Fédération Générale des Mines et de la Métallurgie, CFDT, Paris – 1 B 568 –1 B 569
Korrespondenz und Geschäftsführungspapiere zum Zustand von LIP, 1964-1973. Gutachten zum Zustand von Fabrik und Anlagen, Gutachten von Syndex, 1972-1973.
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– 1 B 570 – 1 B 571 – 1 B 573 – 1 B 575 – 1 B 577 – 1 B 578 – 3 B 42 – 10 B 86
Flugblätter der CFDT-Sektion bei LIP, Solidaritätserklärungen 1973-1974. Pressemitteilungen der FGM zu LIP, „Dossier d’information“, Cahiers de mai, 1973-1974. Korrespondenz mit Parlamentariern, 1973. Verhandlungen Giraud-Plan, Verhandlungen NeuschwanderPlan, 1973-1974. Dokumentation der Verhandlungen des Unternehmensplans für L.I.P., 1978-1982. Ökonomische und soziale Entwicklung der SCOP L.I.P., Korrespondenz mit den Amis de LIP, 1978-1983. Studie von Margaret Maruani: Les femmes dans le conflit LIP, 33 Seiten, September 1977. Interventionen des Büros für die Uhrenbranche in der FGM, Dokumentation der Situation bei L.I.P. 1985.
MAO – Materialien zur Analyse von Opposition Dossier LIP: Zeitungen von Kommunistischem Bund Westdeutschland (KBW), sozialistischen und anarchistischen Gruppen zu LIP 1973, online unter http://www.mao-projekt.de/INT/EU/F/Frankreich_Besançon_Lip.shtml, zuletzt abgerufen am 23. Oktober 2016. SHD – Service Historique de la Défense Centre Historique des Archives, Vincennes – GD 2007 ZM 1/13393 – GD 2007 ZM 1/31276
Gendarmerie Mobile – Légion de Franche-Comté, Dossier LIP, 1973-1974. Gendarmerie Mobile – Légion du Territoire de Belfort, Escadrons 3/21 Belfort und 2/21 Héricourt, Korrespondenz zur Räumung des LIP-Geländes am 14. August 1973.
Centre des Archives de l’Armement et du Personnel Civil, Châtellerault – SHD-CAA 454 2A2 carton 673 – SHD-CAA 737 2A1 carton 955 – SHD-CAA 992 1B6 carton 617
Dossier LIP, 1972-1974. Dossiers Compagnie Européenne d’Horlogerie und L.I.P., 1975-1982. Dossier Zünder PAD 57, 1974.
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Private Archivbestände von Fatima Demougeot und Michel Jeanningros. Rundfunk- und Fernsehbeiträge Institut National de l’Audiovisuel (INA) – www.ina.fr: Nachrichtensendungen, Reportagen und Talkrunden der staatlichen Rundfunk- und Fernsehprogramme sowie dort ausgestrahlte Werbespots, wie in der jeweiligen Fußnote angegeben. Besonders hervorzuheben, weil hier die Arbeiterinnen und Arbeiter von LIP selbst das Mikrofon und die Kamera in die Hand nahmen: Magazine 52: Du côté de chez LIP, 13. Juli 1973. Filme zu LIP Collectif Cinéluttes: À pas lentes, 1977. Alain Dhouailly: Lip, réalités de la lutte, 1974. Dominique Dubosc: LIP 73, 1973. Thomas Faverjon: Fils de Lip, 2008. Chris Marker: Puisqu’on vous dit que c’est possible, 1973. Christian Rouaud: LIP – l’imagination au pouvoir, 2007. Carole Roussopoulos: Kurzfilme LIP 1-5 , 1973-1976. David Wittenberg/Edith Marcello: Der Kampf der LIP-Arbeiter, 1974. Gesetzestexte in der zum zitierten Zeitpunkt gültigen Fassung, www.legifrance.gouv.fr Journal Officiel Assemblée Nationale: archives.assemblee-nationale.fr Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Le Comtois – ab 1974 Est Républicain, Humanité, Le Figaro, Le Monde, Libération, Neues Deutschland, Politique Hebdo.
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vom Verfasser geführte Interviews Fatima Demougeot, geb. 1949, Arbeiterin bei LIP, dann bei CAP, bei ihr zu Hause in Besançon am 2. Juli 2014. Michel Jeanningros, geb. 1932, Vertriebsangestellter bei LIP, dann bei L.I.P., bei ihm zu Hause in Besançon am 7. März 2014. François Laurent, geb. 1949, Arbeiter bei LIP, dann bei L.I.P., bei ihm zu Hause am 7. März 2014. Claude Neuschwander, geb. 1933,Vorstandsvorsitzender der Compagnie Européenne d’Horlogerie 1974-1976, im Garten von Gaston Bordet am 24. Juni 2014. Charles Piaget, geb. 1928, Werkstattleiter bei LIP, dann bei L.I.P., bei ihm zu Hause in Besançon am 5. März 2014. Monique Piton, geb. 1934, Sekretärin bei LIP, bei ihr zu Hause in Montmahoux am 6. März 2014.
L ITERATUR Abattéa, François: „Surintendante d’usines – conseiller du travail et conseiller en économie sociale familiale: deux dynamiques professionnelles divergentes“, Revue française des affaires sociales 3 (2004), S. 205-230. Adams, William James: „What’s in a name? French industrial policy 19501975“, in: Grabas, Christian und Alexander Nützenadel (Hrsg.): Industrial Policy in Europe after 1945, S. 67-85. Altvater, Elmar und Nicola Sekler: Solidarische Ökonomie, Hamburg 2006. Andresen, Knud, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011. Anselme, Daniel: Adieu Paris, Zürich 2015. ---: La permission, Paris 1957. Artis, Amélie: La finance solidaire: un système de relations de financement, économies et finances, Doktorarbeit, Grenoble 2011, https://halshs.archivesouvertes.fr/tel-00758990/document (zugegriffen am 2.12.2016). Artous, Antoine: „Les longues années 68“, in: Ders. u.a. (Hrsg.): La France des années 68, S. 15-35. Artous, Antoine, Didier Epsztajn und Patrick Silberstein (Hrsg.): La France des années 68, Paris 2008. Artus, Ingrid: „Mitbestimmung versus Rapport de force: Geschichte und Gegenwart betrieblicher Interessenvertretung im deutsch-französischen Vergleich“,
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Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)
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