Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Bd. 7 (1996). Zwischen Kultur und Natur. Neue Konturen medizinischen Denkens [1 ed.] 9783428490080, 9783428090082


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German Pages 291 Year 1997

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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Bd. 7 (1996). Zwischen Kultur und Natur. Neue Konturen medizinischen Denkens [1 ed.]
 9783428490080, 9783428090082

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SELBSTORGANISA TION

Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 7

SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Band 7 1996

Zwischen Kultur und Natur Neue Konturen medizinischen Denkens Herausgegeben von Rainer-M. E. Jacobi

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Selbstorganisation : Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozialund Geisteswissenschaften. - Berlin : Duncker und Humblot Früher Schriftenreihe Bd. 7. Zwischen Kultur und Natur. - 1997 Zwischen Kultur und Natur : neue Konturen medizinischen Denkens / hrsg. von Rainer-M. E. Jacobi. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Selbstorganisation ; Bd. 7) ISBN 3-428-09008-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-09008-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Inhaltsverzeichnis Einführung ..... . ........ . .............................................................

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Aufsätze

Klaus Michael Meyer-Abich: Komplementäre Erfahrung von Ganzheit im Gestaltkreis. Anfänge eines Naturbildes, in dem wir selber vorkommen..........................

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Dietmar Kamper: Teile und Gegenteile - Doppelte Bruchstücke .......................

41

Ernst Peter Fischer: Die Nachtseite der Physik. Wolfgang Paulis Briefwechsel mit earl Gustav Jung ........................................................................

47

Reiner Wiehl: Die Verwirklichung des Unmöglichen. Zum Realitätsproblem in der Pathosophie Viktor von Weizsäckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Yoshikazu Ikeda: Das Zwischen. Eine Besonderheit des japanischen Denkens ..........

89

Rainer-M. E. Jacobi: Leben im Zwischen. Vorüberlegungen zu einem erkenntniskritischen Verständnis der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers ....................

97

Günther Pöltner: Was ist das - ein guter Arzt? Von der Unverzichtbarkeit der Philosophie für die Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Fritz Hartmann: Zur Dialektik von Gesundsein und Kranksein bei Friedrich Nietzsehe 131 Friedhelm Lamprecht und Martin Sack: Was heißt Gesundsein? Salutogenese und Selbstorganisation .................................................................. 145 Sudhir Kakar: Gesundheit und Kultur. Heilung in östlicher und westlicher Perspektive 153 Christa Wolf: Krebs und Gesellschaft........... . . . . . ...... . ........................... 167 Dieter Lenzen: Todesverdrängung und Krankheitsbereitschaft. Konsequenzen eines autopoietischen Lebenslaufkonzeptes für die medizinische Versorgung ............. 183 Heinz Stefan Herzka: Übergänge sind überall .......................................... 197 Hinderk M. Emrich: Die Wahrnehmung des Anderen. Postmoderne Hyperflexibilität und koevolutive Identitätsbildung .................................................. 205

6

Inhaltsverzeichnis

Michael Schmidt-Degenhard: Die psychiatrische Exploration als offenes Feld zwischen Betroffensein und Verstehen ........................................................ 217 Jürgen Hübner: Christlicher Glaube, Naturbild und Medizin. Ein Beitrag zur Grundlegung medizinischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 229

Edition Rainer-M. E. Jacobi: Viktor von Weizsäcker und Goethe. Einführung zur Edition von "Der Umgang mit der Natur" ....................................................... 247 Viktor von Weizsäcker: Der Umgang mit der Natur (1949). Aus dem Nachlaß herausgegeben und kommentiert von Rainer-M. E. Jacobi unter Mitwirkung von Wolfgang Riedei .............................................................................. 262

Buchbesprechungen

Kimura, Bin, Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen Japanischer Subjektivität. Übersetzt und herausgegeben von E1mar Weinmayr (Martin Sack) .................. 281 TeIlenbach, Hubertus, Schwennut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung (Michael Schmidt-Degenhardt) ................................................ 282 Lamprecht, Friedhelm und Johnen, Rolf (Hrsg.), Salutogenese - Ein neues Konzept in der Psychosomatik? (Hinderk M. Emrich) .......................................... 284 Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt "Natur im Kopf' Stuttgart, 21.- 26. Juni 1993, Landeshauptstadt Stuttgart, Kulturamt (Hrsg.) (Ludwig Pohlmann) ................................................................ 285 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 289

Einführung Hinter dem Titel des vorliegenden Bandes Beiträge zu den gegenwärtig kontrovers diskutierten medizinethischen Problemen zu erwarten, mag naheliegen, trifft aber nur sehr bedingt zu. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis enttäuscht denn auch diese Erwartung; weder um In-vitro-Fertilisation oder Embryonenforschung, noch um Hirntod-Kriterium, Organtransplantation oder Sterbehilfe geht es, ja nicht einmal - zumindest auf dem ersten Blick - um ethische Fragen im allgemeinen. Nun vermittelt diese Enttäuschung aber zugleich etwas vom Anliegen des Bandes selbst. Wir unterliegen in der Tat einer Täuschung, sofern wir annehmen zu können glauben, jene hier nur exemplarisch genannten Probleme ließen sich im Horizont eines der wissenschaftlichen Rationalität verpflichteten intellektuellen Diskurses hinreichend ,aufklären', letztlich gar ausräumen. Die dramatische Rhetorik der öffentlichen Debatte ist weithin dieser Täuschung, genauer: ihrer verdrängten Enttäuschung geschuldet. Ebenso kann man die immer aufs neue belebten Befürchtungen vermeintlich tiefgreifender Veränderungen menschlichen Daseins als Zeichen allgemeiner Orientierungslosigkeit deuten. Es genügt, an die assoziationsreiche Metaphorik des "Dammbruchs" bzw. des "Tores, das nicht geöffnet werden dürfe" zu erinnern. Doch wird zumeist übersehen, daß es gerade nicht der vielberufene Wandel ist, der irritiert und ängstigt, sondern weit mehr die überraschende Tatsache, die Grunddimensionen menschlichen Daseins selbst aus dem Blick verloren zu haben. Der Fortschritt der biomedizinischen Forschung bringt, je radikaler dessen Konsequenzen sind, d. h. je stärker das Selbstverständnis und die Selbstdeutung der Betroffenen tangiert werden, jene offenen Fragen zum Vorschein, die bislang hinter den gefeierten Erfolgen dieses Fortschritts verborgen blieben. Mehr noch, es war die Bedingung der Möglichkeit dieser Erfolge, die Fragen nicht zu stellen, deren Beantwortung sich einer wissenschaftlichen Erklärung zu entziehen schien. Insofern überrascht es nicht, wenn eine über alle traditionellen Grenzen hinausreichende wissenschaftlich-technische Kompetenz nun ihrerseits diese unbeantworteten Fragen aufwirft. Dies macht jene buchstäbliche Bodenlosigkeit aus, wie sie im Umfeld moderner Hochleistungsmedizin und Gentechnik allenthalben empfunden wird. Es sind die Folgen des Erfolgs, die zu dessen Ent-täuschung verhelfen. Geblendet von der Leistungskraft wissenschaftlich-technischen Fortschritts, erschien es nur allzu selbstverständlich, daß auch das menschliche Leben sich dem sicheren Zugriff rationalen Wissens erschlösse. Das Gegenteil ist der Fall: all die einstmals der Metaphysik zugewiesenen und mit deren Abschied als erledigt geltenden Fragen bestimmen mit unerwarteter Dringlichkeit und Brisanz die aktuelle Situation

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unserer vermeintlich aufgeklärten Kultur. Der Begriff der Krise scheint hierfür in der Tat zutreffend, verbindet er doch mit dem ent-täuschenden Verlust vermeintlicher Sicherheit die ermutigende Chance eines neuen Anfangs. Daß es aber allein mit anwendungsorientierten ethischen Entwürfen nicht getan ist, diesem neuen Anfang gerecht zu werden, war denn auch eines der Argumente zur jüngst erfolgten Gründung eines "Institutes für Wissenschaft und Ethik". Ludger Honnefelder betonte bei dessen Eröffnung, daß die "Schwierigkeit der modemen medizinischen Ethik ... im Problem der Verständigung auf das (bestünde), was als Grunddimension gelungenen Menschseins betrachtet werden kann." Es ginge also um Fragen, "die der Mensch längst beantwortet" glaubte: "wann menschliches Leben beginnt und wann es endet, wie Elternschaft beschaffen sein soll, als was Krankheit und als was Behinderung zu verstehen ist, was die eigene Identität dem Erbe verdankt und wie der Zufall der Zeugung zu betrachten ist."J

Im Lichte dieser Fragen erweist sich die medizinethische Debatte über weite Strecken als ein sekundärer Diskurs. Bei allem intellektuellen Scharfsinn droht das eigentliche Problem verloren zu gehen: die dramatische Indifferenz und Inkompetenz moderner Medizin angesichts der Konflikt- und Grenzsituationen menschlichen Daseins. Dabei ist von besonderer Brisanz, daß die Prämissen neuzeitlicher Rationalität, denen sich das wissenschaftliche Niveau moderner Medizin erst verdankt, zugleich auch jene Inkompetenz zur Folge haben. Wenn es also die epistemologischen und methodologischen Vorbedingungen experimenteller Erfahrung und technischen Handeins sind, die es gleichsam ausschließen, auch die Grunddimensionen gelingenden Menschseins angemessen in den Blick nehmen zu können, dann gerät das Dilemma moderner Medizin zu dem der Modeme schlechthin. Die häufig ungenaue und pauschale Rede von der "Krise der Modeme" fände hier ihr Paradigma. Medizinische Ethik wird dann in der Tat - um eine Formulierung Otfried Höffes aufzugreifen - zur "Folgelast der Aufklärung". Es gliche aber wohl einem Trugschluß, würde man meinen, in Erweiterung des herkömmlichen ärztlichen Ethos, den durch technische Möglichkeiten und menschliche Begehrlichkeiten entstandenen neuartigen Entscheidungssituationen nunmehr mittels ,medizinischer Ethik' bereits gerecht werden zu können. Entgegen aller Erwartung bleibt solche Ethik dem Dilemma moderner Medizin insoweit verhaftet, als sie auch selbst den Prämissen neuzeitlicher Rationalität zu folgen sucht. So hilfreich die vielerorts vorgetragenen Nachdenklichkeiten und Maßhaltungen sein mögen, auch in Gestalt jener kundigen Erinnerung an die vergessene Tugend der S6phrosyne, mit der Otfried Höffe eine "Kunst des Unterlassens" zu verbinden 1 Ludger Honnefelder, Bioethik im Streit. Zum Problem der Konsensfindung in der biomedizinischen Ethik, in: c.F. Gethmann/L. Honnefelder (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. I, S. 73 - 86, Berlin 1996, S. 84, 74. Es ist zu ergänzen, daß dieser Herausforderung in jüngster Zeit verschiedentlich Aktivitäten, aber auch institutionelle Gründungen galten. Im hier zur Rede stehenden medizinischen Kontext sei insbesondere auf die schon über 10 Jahre bestehende "Akademie für Ethik in der Medizin (AEM)", mit Sitz in Göttingen, verwiesen.

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weiß; die eigentliche Problemlage, der sich das Dilemma moderner Medizin verdankt, kommt dabei selbst noch nicht zur Sprache? Auch scheint die unzureichende philosophische Ernstnahme der Medizin hieran nicht schuldlos zu sein. 3 Solange philosophische Reflexion der Erfolgsgeschichte physikalischen und technischen Denkens verhaftet bleibt oder sich gelegentlich gar als ,Wissenschaftstheorie' mißversteht, geht sie jener kritischen Potenz verlustig, die ihr allererst aus der Frage nach dem Ort des Menschen im Ganzen der Welt zuwächst. Das Dilemma der Medizin gibt mithin Anlaß, die erkenntnisleitenden Prämissen neuzeitlicher Rationalität auf ihre Gültigkeit und Wahrheit für den Menschen hin zu befragen, womit auch die ursprüngliche Nähe der Medizin zur Philosophie wieder in den Blick käme. Unser Interesse gilt daher zunächst und vor allem der - wenn man es so nennen will - ,epistemologischen Grundlage' der Medizin. Anders als neuzeitliche Wissenschaft, gründet genuin ärztliches Denken nicht in dem der Logik der Methode folgenden Experiment und der damit einhergehenden Trennung in Subjekt und Objekt der Erkenntnis, sondern in einer Situation, wie sie der Begegnung zwischen Menschen eigentümlich ist. Deren philosophische, genauer anthropologische Dimensionen bestimmen jene Konturen medizinischen Denkens, von denen im Untertitel des vorliegenden Bandes die Rede ist. Diese sind zwar nicht eigentlich neu, bedürfen angesichts moderner medizinischer Praxis gleichwohl der Erinnerung. Genau dies zu leisten, ist Aufgabe der hier versammelten Beiträge. Gelegentlich, so will es scheinen, erinnern sie an Selbstverständliches; zumeist aber sind es die Selbstverständlichkeiten, die gerade ihrer ,Selbstverständlichkeit' wegen unzureichende Beachtung erfahren und allzu leicht in Vergessenheit geraten. Hat vielleicht die Marginalität der ,ärztlichen Ursituation' im modemen medizintheoretischen Diskurs mit ihrer ,Selbstverständlichkeit' zu tun? Versteht sich das vermeintlich Selbstverständliche in der Tat von selbst, oder bedarf es nicht eines im praktischen Umgang vollzogenen Verstehens? Bevor einige Anmerkungen zur Konzeption des Bandes und den Themen der Beiträge erfolgen, sei versucht, von der ärztlichen Ursituation her eine geistesgeschichtliche Perspektive anzudeuten, die ihrer Radikalität wegen meist außer acht gelassen wird, weithin aber den Hintergrund abgibt, vor dem die Beiträge dieses 2 Otfried Häffe, Wenn die ärztliche Urteilskraft versagt. Ethik in der Medizin: eine Folgelast der Aufklärung, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 233, 7. Oktober 1996, S. 23. 3 Es ist der Erinnerung wert, daß eine der wohl bedeutsamsten Auseinandersetzungen der jüngeren Philosophiegeschichte, nämlich die zwischen Karl Jaspers und Martin Heidegger, ihr Zentrum in der Frage nach dem Menschen hat. Vgl. Reiner Wiehl, Die Frage nach dem Menschen Zur Auseinandersetzung zwischen Jaspers und Heidegger, in: Th. Grethlein/H. Leitner (Hrsg.), Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie (FS Manfred Riedei), S. 335 - 353, Würzburg 1996. Der Jaspersche Begriff der "Grenzsituation" verdiente gerade mit Blick auf den Zusammenhang von philosophischer Reflexion und medizinischem Selbstverständnis größere Beachtung, verleiht er der philosophischen Denkfigur der Antinomie doch erst ihre unhintergehbare existentielle Dimension. Vgl. ders., Grenzsituation und pathische Existenz, in: K.F. WessellW. Förster/R.M.-E. Jacobi (Hrsg.), Herkunft, Krise und Wandlung der modemen Medizin. Kulturgeschichtliche, wissenschaftsphilosophische und anthropologische Aspekte, S. 206 - 220, Bielefeld 1994.

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Bandes gelesen sein wollen. Nun steht diese Ursituation natürlich auch im Zeichen rationalen Erkenntnisinteresses, womit zwangsläufig Objektivierungen einhergehen, zumal ärztliche Handlungen der Vergleichbarkeit und Rechtfertigung bedürfen. Sie darauf aber prinzipiell reduzieren zu wollen, ließe das ihr Eigentümliche und damit ihr Ganzes verloren gehen. Dieses erwächst gleichsam aus der Not eines anderen Menschen, die sodann zur eigenen wird. Im Gegensatz zur Tradition neuzeitlicher Rationalität ist es nicht das Interesse eines erkennenden (transzendentalen) Subjekts, das den Anfang bildet, sondern etwas in jeder Hinsicht anderes: ein vermeintliches ,Objekt', dessen Subjektivität Ausdruck einer leibhaftigen Not ist. Medizinisches Denken entwirft sich also in Strenge nicht von einem wie auch immer vorgestellten ,Ich denke' her, es findet seinen Grund vielmehr in dem, was noch dem ,Ich denke' eines anderen Menschen vorausgeht: nämlich in dessen Not; womit es der klassischen Subjekt-Objekt-Relation eo ipso entzogen ist. Damit aber wird die Problematik offensichtlich, noch in herkömmlicher Weise von Denken zu sprechen. Sich auf genau diese Schwierigkeit mit all ihren Konsequenzen eingelassen zu haben, macht das eigentliche - freilich noch unzureichend gewürdigte - Verdienst des Naturphilosophen, Sinnesphysiologen und Neurologen Viktor von Weizsäcker (1886 - 1957) aus. Sein lebenslanges Bemühen galt dem Versuch einer anthropologischen Grundlegung der Medizin. Diese nahm ihren Ausgang bei den Urphänomenen des Anthropologischen schlechthin: bei der Not und bei der Hilfe, also beim kranken Menschen und beim Arzt. Zur Medizin im Sinne Viktor von Weizsäckers gehören neben den herkömmlichen Disziplinen, wie z. B. Pathologie und Therapie ebenso eine "Lehre von der Not", eine "Lehre vom kranken Menschen" und eine "Lehre vom Arzt". Indem er nun am Leitfaden der ärztlichen Ursituation nach "Art und Weise ärztlichen Wissens" fragt, wird ihm die Ambivalenz philosophischer Aufklärung selbst zum Thema. So scheint ihm die Forderung nach dem unbedingten Primat der Vernunft lediglich die Folge der nichtverstandenen Selbstverborgenheit menschlichen Bewußtseins zu sein, letztlich also Ergebnis einer Selbsttäuschung. Doch nicht, daß er die inzwischen einschlägig kommentierten anthropologischen Defizite neuzeitlicher Rationalität frühzeitig benannt hat, macht seine besondere Leistung aus - zumal er hier an Nietzsche anknüpfen konnte -, von weit größerer Tragweite ist hingegen, daß er in der Subjektivitätsphilosophie als dem geistigen Fundament der Modeme eine kulturelle Krankheit diagnostizieren zu müssen glaubte. Diese Rede von der Krankheit als Metapher verstehen zu wollen, würde dem Anspruch Weizsäckerschen Denkens nicht gerecht. Es ist ihm in der Tat daran gelegen, ein elementares Krisensymptom unserer Kultur zu bestimmen: die Diastase von Denken und Leben. Wie die gedachte und nach Begriffen entworfene Welt nicht die des Lebens ist, erschließt sich die erlebte keinem Denken. 4 Daß es mithin vom Leben keinen Begriff gibt, es nicht eigentlich begriff4 In einem der Grundtexte des Weizsäckerschen Werkes aus den zwanziger Jahren kommt das Problem dieser Diastase im Sinne einer anthropologischen Grundbestimmung zur Sprache. Die spannungsreiche Unsicherheit des Zwischen-Denken-und-Leben-Seins, als die con-

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lich gewußt werden kann, sich also die "idealistischen Vernunftbegriffe" wie auch die "Verstandeskategorien" für den Menschen als ungültig erweisen, mag einer modernen wissensorientierten Kultur Provokation genug sein, gleichwohl reicht Weizsäckers Diagnose noch weiter. Im Gefolge seiner Frage nach "Art und Weise ärztlichen Wissens" wird ihm am Leitfaden der Urphänomene von Not und Hilfe das "Wesensbild des Menschen" zum eigentlichen Problem. Erschließt sich das Wesen des Menschen tatsächlich der substanzontologisch gefärbten Frage nach dem was ist? Ist es nicht vielmehr so, daß der Mensch genau das nicht ist, wovon die zeitvergessene Begrifflichkeit traditioneller Metaphysik handelt, wenn sie das Sein zu denken sich bemüht? Und wie verhält es sich mit den vom Optimismus der Aufklärung imprägnierten Attributen der Identität, der Autonomie und der Willensfreiheit? Für Viktor von Weizsäcker sind all dies "metaphysische Irrtümer", gespeist aus der idealistischen Absolutheit eines transzendentalen Ich, in dessen Perspektive alles Andere zum Objekt des Willens und des Denkens wird. Die Frage nach dem Menschen hingegen, wenn sie den konkreten Menschen auch wirklich meint, erwächst erst eigentlich aus dem lebendigen Geschehen menschlicher Begegnung. Allerdings entzieht sich deren "metaphysischer Ort" der zeitlosen Feststellbarkeit eines Seins, wie er auch weder Subjekt eines Objekts noch Objekt eines Subjekts ist. Zur Beschreibung dieser eigentümlichen ,Verbundenheit', wie sie Vorbedingung authentischen Wissens vom Menschen ist, führt Weizsäcker die Kategorie des "für beide" ein. Sie besagt, "daß wir die Wirklichkeit metaphysisch bereits einschränken, wenn wir sie als Zahl oder addierte Summe von Personen, die Person für sich überhaupt als etwas für sich Existierendes betrachten. Vielmehr ist die Person wesensmäßig und ursprünglich für andere, geistig für andere, physisch für andere, vital für andere, und es ist irrtümlich zu glauben, dieses für andere, diese Bindung sei ein besonderer Akt, der sein kann oder auch nicht sein kann; es ist irrtümlich, die Hinwendung zum anderen als einen Akt der Aufmerksamkeit oder des Willens oder der Sittlichkeit schlechthin zu bezeichnen. Wir können diese Zuwendung und diese Bindung überhaupt nicht erzeugen, sondern nur verändern, umformen. ,,5 Ein solches Wirklichkeitsverständnis, dessen frappierende Nähe zu dem der Quantentheorie hier nur erwähnt werden kann, dürfte für die Medizin ähnlich radikale Konsequenzen hinsichtlich der geltenden Denk- und Handlungsformen zur Folge haben, wie sie in der Physik seit nunmehr 70 Jahren diskutiert werden. In gebotener Kürze sei auf zwei für die Konturen medizinischen Denkens zentrale ditio humana schlechthin, ist geradezu gekennzeichnet von der Sehnsucht nach ihrer Überwindung hin zu venneintlicher Sicherheit. ,Reines Denken' oder ,reines Leben' hingegen gelingen nur um den Preis des Verlustes jenes Zwischen-Seins, worin sich dann auch ihre Unwahrheit oder Krankheit zeigen. Vgl. Viktor von Weizsäcker, Kranker und Arzt (1929), in: P. Achilles/D. Janz/M. Schrenk/C.F. von Weizsäcker (Hrsg.), Gesammelte Schriften (GS), Bd. 5, S. 221 - 244, Frankfurt/M. 1987. 5 Viktor von Weizsäcker, Seelenbehandlung und Seelenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet (1926),in: GS, Bd. 5, S. 67 -141, hier S. 114 f.

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Konsequenzen hingewiesen. Sie markieren das für den medizintheoretischen Diskurs noch zu entdeckende ontologische Problem der Medizin. Es sind gleichsam Antworten auf die Leitfragen einer anthropologischen Grundlegung der Medizin: auf die Frage nach dem ärztlichen Wissen und auf jene nach dem kranken Menschen. Diese Leitfragen sind es auch, die das Gemeinsame der im vorliegenden Band versammelten Beiträge ausmachen. Wenn nun, wie es Viktor von Weizsäcker formuliert, "alle Anthropologie ... nur noch von der ursprünglichen Verbundenheit der Menschen ausgehen" kann, sie also "zuerst eine Ordnungs1ehre der Gemeinschaft" sein muß, weil der "Einzelmensch ... ontologisch nicht real, ... eine pure Abstraktion" ist,6 kommt dem die rationale Wissenskultur der Neuzeit prägenden Wissenstypus der 'Episteme' für "Art und Weise ärztlichen Wissens" nur eingeschränkte Bedeutung zu. Denn es ist die ,ärztliche Ursituation' selbst, die aus der Erfahrung von Not und Schmerz gewachsene Begegnung von Patient und Arzt, die es ausschließt, daß jene Bedingungen erfüllt sind, die ein theoretisches Wissen nach Art der 'Episteme' ermöglichen würden. Insofern gibt es für die Medizin strenggenommen keine epistemologische Grundlage dergestalt, wie es das Experiment für die neuzeitliche Wissenschaft ist. 7 Ohne jetzt der anthropologischen Begründung der ärztlichen Wissensform bei Weizsäcker im Detail folgen zu können, sei nur soviel gesagt, daß seine Lehre vom Gestaltkreis Anleitung sein will für eine bestimmte Weise des ,Umgangs' von Arzt und Patient, aus dessen Vollzug ärztliches Wissen erwächst; es sich also eher um eine ,Bewegung' denn um eine ,Perspektive' handelt. Einmal nennt er diese Art von ,Wissensgewinnung' gar eine "leidenschaftliche Geschichte". Doch noch ein weiteres kommt hinzu. Diese eigentümliche Wissensform, mitunter etwas ungenau als sogenanntes ,Handlungswissen ' bezeichnet, verdankt sich genau der Situation, die die Rede vom ärztlichen Ethos ursprünglich im Auge hat: nämlich nicht einem Sachverhalt gegenüber zu stehen, den man nur feststellt, sondern von dem, was es zu ,erkennen' gilt, unmittelbar betroffen zu sein. Erst in diesem situativen Betroffensein liegen Auftrag und Kompetenz eines Handeins, das den Umständen gerecht wird. Eine anthropologisch grundgelegte Medizin gerät im Horizont der aristotelischen ,Phronesis' - als einem Prototyp ärztlichen Wissens - zum Paradigma "sittlicher Wissenschaft", deren Kennzeichen gerade der Primat des Ethos vor dem Logos ist. 8 Ebd., S. 122. Für Richard Toellner "ist es - gelinde gesagt - verwunderlich, ja eigentlich ein Skandal", daß diese Eigentümlichkeit des ärztlichen Wissens, das kein theoretisches Wissen ist, in der medizintheoretischen Debatte bisher so wenig Beachtung und Bearbeitung gefunden hat. Das Besondere des ärztlichen ,Wissens' ist es ja gerade, daß es als eine ,Erfahrungs- und Handlungsforrn' im Unterschied zu wissenschaftlicher Erkenntnis durch Einmaligkeit, Unumkehrbarkeit und Unwiederholbarkeit gekennzeichnet ist, sich in ihm gleichsam die conditio humana, die immer auch eine "insecuritas humana" (Peter Wust) ist, spiegelt. Vgl. Wolfgang Wieland, Das Begründungsproblem in der Medizin, in: R. Toellner IU. Wiesing (Hrsg.), WissenHandeln - Ethik. Strukturen ärztlichen HandeIns und ihre ethische Relevanz, S. 57 - 75, Stuttgart/Jena/New York 1995, bes. S. 68 f. 6

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Bei allem theoretisch-intellektuellen Anspruch kommt mit der Frage nach dem kranken Menschen die je eigene Lebenswirklichkeit auch selbst in den Blick. Nicht, daß man es - auf welche Weise auch immer - erkennen kann, macht das Wesentliche des Krankseins aus, sondern daß es einem auch selbst widerfahren kann. Schon diese Differenz von Erfahrung der Krankheit des anderen und Widerfahrnis eigenen Krankseins läßt allzu stabile Subjekt-Objekt-Relationen fragwürdig werden. Jenes Wirklichkeits verständnis aber, von dem her alle Rede vom Menschen ihren Ausgang zu nehmen habe, mündet im Lichte der Frage nach dem kranken Menschen letztlich in eine "Erkenntniskritik der Grundlagenbegriffe" neuzeitlicher Denktradition überhaupt. 9 Den Konzepten der Selbstorganisation wächst hier eine weithin noch nicht gesehene Bedeutung zu. Ganz im Gegensatz zu den völlig verfehlten und ethisch höchst problematischen Klassifikationen in ,normal' und ,anormal', in ,natürlich' und ,unnatürlich', in ,leistungsfähig' und ,behindert', geht es bei der Rede von Gesundsein und Kranksein zunächst um die Frage nach deren ontologischem Status. Ist also hier die Rede von etwas, das ist, oder vielmehr von etwas, das durch seine Geschichte und Beziehung zu dem, was es zu sein scheint, erst geworden ist - ja eigentlich sein Sein in diesem Werden zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht hat? Die Absage an eine epistemologische Grundlage medizinischen Den~ens korrespondiert mit dem Verzicht auf jene ontologischen Annahmen, die es sinnvoll erscheinen lassen, von Krankheiten als lokalisierbaren Entitäten zu sprechen. Die Frage nach dem, was eine Krankheit ist, muß ersetzt werden durch Fragen nach dem ,Warum gerade jetzt und hier?' und dem ,Warum 8 Vgl. Viktor von Weizsäcker, Der Begriff sittlicher Wissenschaft (1948), GS, Bd. 7, S. 233 - 254. Von besonderem Interesse ist nun, daß die von Weizsäcker in einem seiner frühen Texte zur anthropologischen Grundlegung der Medizin entworfene Hermeneutik der ärztlichen Situation (Der Arzt und der Kranke, 1926) zugleich eine naturphilosophische Perspektive eröffnet, die von den apotheotischen Selbsttäuschungen neuzeitlicher Subjektivität wegzuführen verspricht. Fand der hermeneutische Ansatz mit Hans-Georg Gadamers "Wahrheit und Methode" und dessen Wiederaufnahme der "hermeneutischen Aktualität des Aristoteles" eine profunde Weiterführung in den Geisteswissenschaften, so läßt eine vergleichbare Wirkung in der aktuellen Naturphilosophie noch auf sich warten, ausgenommen den erst jüngst vorgelegten Entwurf einer "Praktischen Naturphilosophie" von Klaus Michael Meyer-Abich. 9 Daß diese "Erkenntniskritik" sich nicht im herkömmlichen Sinn als ,philosophisch' versteht, sondern im Widerfahrnis erlebter Begegnung gründet, also Kritik der Erkenntnisform selbst ist, macht ihre eigentliche Originalität aus. Dies näher darzustellen, ist hier nicht der Ort, hingewiesen sei lediglich auf eine überraschende Konstellation, die sich im Lichte der Kritik am bewußtseinsphilosophischen Selbstverständnis von Erkenntnis zeigt, und für die geistesgeschichtliche Beurteilung des Weizsäckerschen Werkes von größter Bedeutung sein wird. Die Rede ist von zwei kongenialen Entwürfen, die gleichermaßen den Abschied von der ,metaphysischen Absolutheit des Ich' vollziehen: Ernst Cassirers Lehre von den "Basisphänomenen", die das Ich in den Kontext von Wirkung und Werk, mithin in ein "tätiges Verhältnis" setzt, und Emmanuel Levinas' radikale Infragestellung des Selbst vom Anderen her, in deren pathischem Vollzug sich das Selbst erst eigentlich findet, genauer: als Daseinsweise zeitigt. Vgl. Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. I, Hamburg 1995; Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989.

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gerade so und nicht anders?.Io Das Kranksein als eine Weise des Menschseins ermangelt wie dieses des feststellbaren Grundes, es hat keinen Ort, der sich ontologischer Begrifflichkeit erschlösse. Seine Wirklichkeit ist wie die des Menschen kein nur Seiendes, freilich auch kein Nichtseiendes, eher wohl gleicht sie dem Ereignishaften des ,Pathos', das - wie es Hans-Georg Gadamer formuliert - "den Raum öffnet, in welchem Hermeneutik - ohne Letztbegründung - zum neuen Universale wird."ll Eben dieser hermeneutisch-pathische Kontext klingt an, wenn Viktor von Weizsäcker davon spricht, daß die Krankheit nicht in dem einen oder anderen Organ liege, auch nicht eigentlich im Menschen, sondern "zwischen den Menschen" als eines "ihrer Verhältnisse und Begegnungsarten.'.12 Hier lohnte es sich, der Nähe dieser Einsichten zur naturphilosophischen Debatte um die "Kopenhagener Deutung" der Quantenmechanik nachzugehen. Ein Hinweis auf Weizsäckers Verständnis der Wirklichkeit von Mensch und Natur, möge vorerst genügen. Er gilt dem Umgang als jener bewegten Struktur der Wirklichkeit, in welcher der Mensch sich selbst und der Natur begegnet, so daß ihm sowohl er selbst wie auch die Natur in immer neuer Perspektive erscheinen, ohne sich freilich zu einem widerspruchsfreien Bilde zu ergänzen. Der Versuch, diese als ,Umgang' verstandene Wirklichkeit logisch bestimmen, also fest-stellen zu wollen, "kann eigentlich nur als ein beständiger Mißerfolg beschrieben werden, so wie wenn das immer wiederholte Kartenhaus immer wieder umfällt."l3 Im Sinne dieses Umganges, dessen Unbestimmbarkeiten die eigentlichen Erkenntnisquellen sind, will der Titel des vorliegenden Jahrbuches verstanden werden: Zwischen Kultur und Natur. Nichts scheint besser geeignet, Bestimmungen des Unbestimmtseins des Menschen zwischen Kultur und Natur zu geben, wie die Formen seines Umgangs mit fremdem und eigenem Kranksein, Sterben und Tod. Das Überraschende, manch einen vielleicht auch Irritierende dieses Jahrbuchbandes macht zugleich seinen besonderen Akzent aus. Bei aller Mißverständlich10 Dank des Salutogenesekonzeptes und kulturvergleichend angelegter Lebenslaufforschung, erlangt die im allgemeinen Bewußtsein noch immer weithin unverstandene These Viktor von Weizsäckers die ihr gebührende Anerkennung, daß nämlich der ,Sinn' von Krankheit nicht zuerst und allein ihre Beseitigung ist. Vielmehr kann es sein, daß die Erkrankung eine systemstabilisierende Leistung im Sinne eines Ordnungsparameters ist. Insofern stellt sich vor der Frage nach der Beseitigung - zumindest aber mit ihr - jene nach der Bedeutung. Gerade in der Dialektik von Störung und Ordnung, bzw. im tieferen Verständnis von Ereignishaftigkeit, Geschichtlichkeit und Unvorhersagbarkeit läge die Bedeutung der Konzepte der Selbstorganisation für eine Neubestimmung medizinischen Denkens. 11 Hans-Georg Gadamer, Die Hermeneutik und die Diltheyschule, in: Philos. Rundschau 38(1991), S. 161-177, hier S. 172. 12 Viktor von Weizsäcker, Der Begriff der Allgemeinen Medizin (1947), GS, Bd. 7, S. 135196, hier S. 193. Mit dieser Verständnisweise kommt der Krankheit nicht nur eine allgemein erkenntniskritische, sondern mehr noch eine gesellschafts- und kulturkritische Bedeutung zu; ja sie hat die Absage an einen bloßen "Naturbegriff' der Krankheit zur Folge (vgl. ebd. S. 152 ff.). 13 Ders., Grundfragen Medizinischer Anthropologie (1948), GS, Bd. 7, S. 255 - 282, hier S.263.

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keit sei es dennoch etwas pointiert gesagt: seine Konzeption findet sich weniger in den Inhalten als in den Herkünften und Formen der Texte. Daß Texte ihres Inhaltes wegen zu einer wissenschaftlichen Publikation werden, ist weithin üblich; seltener hingegen wird bedacht, inwieweit die Form oder genauer: die literarische Gattung eines Textes zu dessen Inhalt beiträgt? Allein die Absicht, etwas zur Bestimmung des Unbestimmtseins des Menschen, näherhin der Uneindeutigkeit seines Gesundseins und Krankseins in Textgestalt zu bringen, läßt jene Kategorien der Wissenschaftlichkeit, deren ,inhaltliche Substanz' gemeinhin verbürgt ist, fragwürdig werden noch bevor man zu schreiben begonnen hat. So bot sich die Kategorie des ,Zwischen' gleichsam auch als Leitfaden für die Zusammenstellung des Bandes an. Die Beiträge siedeln nicht nur zwischen den Disziplinen und Darstellungsformen, sondern - was noch wichtiger ist - auch zwischen den Kulturen. Daß sie überdies fast ausnahmslos, wenn auch gelegentlich in verborgener Weise, dem ,Zwischen' selbst auf die Spur zu kommen suchen, überraschte selbst den Herausgeber, denn dies ist nicht eigentlich unser Thema. Es entspricht ihm aber, der literarischen Gattung des Essays breiten Raum zu geben. Dem emphatischen Plädoyer Odo Marquards folgend, ist der Essay und nicht die quellengestützte, nach allen Seiten hin abgesicherte, ewige Gültigkeit insinuierende Abhandlung die dem anthropologischen Bemühen gemäße Form, weil "in Reichweite der Lebenskürze" bleibend, im Eingedenken von Endlichkeit und Unvollkommenheit menschlicher Existenz. Was also läge näher, als mittels des Essays auf neue Konturen medizinischen Denkens aufmerksam zu machen? Das Verbindende der ersten vier Beiträge ist, ohne daß es explizit zur Sprache käme, jenes in der Frage nach der Eigentümlichkeit ärztlichen Wissens immer schon enthaltene, dem medizintheoretischen Diskurs freilich noch weithin fremde ,ontologische Problem der Medizin '. Zusammen- und Gegenspiel der Darstellungsund Denkstile scheint gelungen, wenn es hilft, den Eindruck der Problemlösung zu vermeiden. Vielmehr gilt es, den Erfolg in der Wahrnehmung eines Problems weil zur Sache gehörig -, und nicht in dessen vermeintlicher Lösung sehen zu lernen. Ein solches Problem stellt sich dem Denken des Menschen immer dann, wenn es dem Anderen des denkenden Selbst sich zuwendet, also im Denken der Natur dessen eingedenk zu bleiben versucht, auch selbst eine Weise von Natur zu sein. Ebenso, wie im gelingenden Miteinandersein nicht das Ich ein Du denkt, sondern sich als Ich im Du des anderen allererst findet. Nun sind, wie ein Blick in die Geistesgeschichte zeigen könnte, die aus der klassischen Ontologie gespeisten Selbstverständlichkeiten neuzeitlichen Denkens nicht erst mit der Quantentheorie fragwürdig geworden; für unser Jahrhundert hingegen bildet sie jene große Irritation, die auszuräumen zum Signum aufgeklärten vernünftigen Denkens geworden ist. Klaus Michael Meyer-Abich widersetzt sich dieser vermeintlich aufgeklärten Selbstsicherheit, indem er die Kreativität dieser Irritation fruchtbar zu machen sucht für einen naturphilosophischen Neuansatz, in dessen Horizont medizinisches Denken seine Konturen erst eigentlich zu erlangen vermag. Hiermit knüpft er an die naturphilosophische Radikalität Viktor von Weizsäckers an, die dieser 1942 auf

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die prägnante Formel bringt, "daß wir die Natur nicht denken, sondern im strengsten Wortsinne von ihr gedacht werden." Gegen allen Anschein ist es sicher kein Zufall, wenn Weizsäcker diese radikale These unter Hinweis auf jenen frühen Kritiker ontologischen Denkens zu kommentieren sucht, dessen im letzten Beitrag aufgezeigte anthropologisch-ethische Relevanz für die Konturen medizinischen Denkens den geistigen Bogen dieses Bandes schließen hilft. Dietmar Kampers fast schon zum Apen;u geronnene essayistische Erwägung läßt deutlich werden, daß erst im Sich-Einlassen auf das Andere des Denkens, in der Teil-nahme am unteilbaren Leben also, die tödlichen Gefahren eines auf Teilen und Herrschen hin angelegten Denkens sich bannen lassen. Ein Plädoyer für das Ganze des Fragments, des lebbar Endlichen, gegen jenes leblos Ganze, das aus Teilen bestehend gedacht werden kann. Diesem Anderen des Denkens, als der Nachtseite einer Naturwissenschaft, deren ,Natur' es eigentlich gar nicht gibt, gilt einer der großen Dialoge dieses Jahrhunderts, der zwischen Wolfgang Pauli und earl Gustav Jung, den sein Editor zurecht ein "document humain" nennt. In dessen faszinierender Tiefsinnigkeit spiegeln sich Brisanz und Verführung eines seiner Grenzen gewahr gewordenen Denkens. Ernst Peter Fischer gibt einen ersten Zugang, indem er Zusammenhänge markiert, die für das zur Verhandlung stehende Thema einschlägig sind. 14 Als einer der ersten Versuche überhaupt widmet sich der philosophische Essay Reiner Wiehis jener Denkfigur, mit der das ontologische Problem der Medizin bei Viktor von Weizsäcker exemplarisch zur Sprache kommt: der Verwirklichung des Unmöglichen. Der für medizinisches Denken unhintergehbare Grund erweist sich darin, daß es nicht nur für ärztliches, sondern für menschliches Handeln überhaupt gilt, als "Handlungsrealität" zugleich Realität und Modalität zu sein, mithin ontologische Begrifflichkeit zu transzendieren. Gleichwohl bleibt die Frage, ob Weizsäcker nicht darüberhinaus die Legitimität traditioneller Ontologie auch hinsichtlich der Wirklichkeit im Ganzen in Abrede stellt? Die folgenden drei Beiträge versuchen auf je verschiedene Weise Annäherungen an eine ,Philosophie des Zwischen' zu geben, wobei der essayistische Stil Ausdruck auch dafür ist, daß es der Rede vom Zwischen an einem etablierten Ort innerhalb akademischer Philosophie ermangelt. Nicht frei von Ironie ist es dann, wenn dem ,fest verorteten' Anspruch auf Selbstgewißheit, wie er im "absoluten Ich" des Deutschen Idealismus kulminierte und die Aufklärung zum Opfer ihrer eigenen Täuschung werden ließ, in japanischer Perspektive ein immanenter Wahncharakter zukommt. Dieser an die Wurzeln menschlichen Selbstverständnisses reichende interkulturelle Diskurs, der sich maßgeblich der Begegnung von Hubertus Tellenbach mit Bin Kimura verdankt, gibt Anlaß, der bereits 1929 von Weizsäcker aufgeworfenen Frage nach der Pathologie ,philosophischer' Wahrheiten die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Kann Yoshikazu Ikeda in der Entfaltung seines Verständnisses des Zwischen auf die Lebenswirklichkeit des japanischen 14 Weiterführend hierzu: H. Atmanspacher I H. Primas I E. Wertenschlag-Birkhäuser (Hrsg.), Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft, Berlinl Heidelberg/New York 1995.

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Alltags verweisen - nicht zuletzt dank der Besonderheiten der japanischen Sprache -, so bedarf es im europäischen Kontext der Erinnerung an jene frühen Entwürfe, Leben als Teilhabe zu ,denken', wie sie nur allzu schnell den philosophischen Systematisierungen zum Opfer fielen. Eine prominente, wenngleich nicht unumstrittene Erinnerungsleistung sei Martin Buber gedankt, wenn er darauf insistiert, daß das Zwischen gerade kein gedankliches Konstrukt meint, "sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens" iSt. 15 Womit die ,Zwischenhaftigkeit' des Selbst anklingt, die es ad absurdum führt, das "Menschsein des Menschen" methodisch verfügbar zu machen. Die Weizsäckersche Lehre vom Gestaltkreis wird erst wirklich verstanden sein, wenn klar geworden ist, daß sie im Kern nichts anderes ist, als die radikale Konsequenz dieser Einsicht. Rainer-M.E. Jacobi gibt eine Vorbereitung dieser Deutung, die als solche noch immer aussteht. Übrigens ein weiteres Beispiel für die Unverzichtbarkeit wirklichen philosophischen Bemühens in der Medizin. Es überrascht dann nicht, wenn in Günther Pöltners methodenkritischer Perspektive die eigentümliche Verflochtenheit neuzeitlichen Naturverständnisses mit menschlichem Kranksein in den Blick kommt - ein fraglos problematischer Zusammenhang, der aber immer auch mißlungene ,Zwischenhaftigkeit', oder anders formuliert, gestörtes Mitsein anzeigt. Auch das Verhältnis von Gesundsein und Kranksein, in dem sich der Mensch immer schon vorfindet, ohne je nur eines von beiden ganz zu sein, ließe sich als ,Zwischenhaftigkeit' vorstellen. Wobei es sich in Anlehnung an die Diskussion einer "Ontologie des Zwischen" bei Michael Theunissen anböte, in einem nicht traditionellen, wohl aber buchstäblichen Sinn von einer ,Metaphysik der Schwebe' zu sprechen, um jene Fragilität gelingenden Lebens in ein Bild zu bringen. 16 Den paradigmatischen Versuch, dieser ,Schwebe' auf die Spur zu kommen, leistet wiederum ein Beitrag aus einer nichteuropäischen Kultur, um den herum sich weitere vier Facetten des Nachdenkens und Besinnens gruppieren. Daß sich Gesundsein und Kranksein nicht der technischen Metaphorik von Funktion und Störung erschließen, ist medizingeschichtlich betrachtet keineswegs neu, wenn auch häufig von täuschenden Alltagserfahrungen überlagert - heute freilich noch zusätzlich von einem wissenschaftliche Geltung beanspruchenden medizintheoretischen Modell. Die Verborgenheit des Gesundseins und der Schmerz des Krankseins machen es oft schwer, auf den ersten Blick in beiden Fällen aktive Lebensleistungen zu erkennen. So erfreut sich denn auch die medizinische Separierung in Zustände, die es zu erreichen und um fast jeden Preis zu erhalten gilt, und andere, die - wenn schon nicht vermeidbar - zu vernichten sind, noch immer einer weithin unreflektierten Zustimmung. Indes haben die Konsequenzen Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1982, S. 165. Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 1977; Rainer-M.E. Jacobi, Kranksein und Wissen. Zur geistesgeschichtlichen Bedeutung der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers, Berlin (in Vorbereitung). 15

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2 Selbstorganisation, Bd. 7

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dieses separierenden Vermögens auch jenes Erschrecken zur Folge, dem die modeme Medizin nahezu fassungslos gegenübersteht. Um so erfreulicher ist es, daß sich der Internist Fritz Hartmann, vor dem Hintergrund eines lebenslangen klinischen Wirkens jenem Denker zuwendet, dessen unzeitgemäßen Auffassungen auch nach seinem Tod noch ihrer Zeitgemäßheit harren: Friedrich Nietzsehe. Mit Blick auf das neuere medizinische Konzept der "Salutogenese", wie es von Friedhelm Lamprecht und Martin Sack vorgestellt wird, ist nun allerdings eine Umwertung zu bemerken: nicht die Passivität eines vermeintlichen Normverhaltens macht das Gesundsein aus, sondern die aktive Kreativität und Gestaltungskraft angesichts der Gesetzmäßigkeiten der Pathogenese. Als allzu leichtfertig erweist es sich, Gesundsein einfachhin mit Ordnung und Kranksein mit Unordnung zu assoziieren. Dem in Amerika und Europa ausgebildeten indischen Psychoanalytiker Sudhir Kakar und der Autorin Christa Wolf ist es in besonderer Weise zu danken, aus je sehr verschiedener, doch einer gemeinsamen Intention verpflichteten Perspektive - gleichsam in leidenschaftlichem Umgang -, jenen gleichermaßen leichtfertigen wie tödlichen Mißverständnissen von Gesundheit und Krankheit entgegen zu wirken. Die auch empirisch belegbare ,Zwischenhaftigkeit' nicht nur des Menschen selbst, sondern aller seiner Erscheinungsweisen, läßt es in der Tat geboten erscheinen, die immanente Destruktivität der Autonomiekonzepte der europäischen Aufklärung neu in den Blick zu nehmen. Zumal es diese geistesgeschichtliche Prägung ist, die den Zugang zur Erfahrung des Zwischen-Kultur-und-Natur-Seins nachhaltig erschwert. Erlangt die Abwegigkeit eines von kulturellen Kontexten gereinigten ,natürlichen Krankheitsbegriffs ' in den Krankengeschichten Sudhir Kakars lebensweltliche Plausibilität, so dient sie dem Essay Christa Wolfs als Folie für eine weitreichende Kulturkritik, deren Dringlichkeit und Legitimität allzuoft dem Vorwurf der Kompetenzüberschreitung zum Opfer fällt - auch dies übrigens eine topische Metamorphose der Autonomie. Dieter Lenzen fügt dem eine buchstäblich provokative These zur Dialektik nicht nur von Lebenslauf und Krankheit im allgemeinen, sondern genauer von Transition und Todeserfahrung hinzu. Kern der These bildet das "autopoietische Bewußtsein", dessen Kompensationsleistung angesichts des kulturbedingten Ausfalls von Transitionsereignissen immunsuppressiver Art sei, also zur Bereitschaft, an einer letalen Krankheit zu erkranken verhelfe: Immunbiologie als das ,Zwischen' von Kultur und Natur? Dem stilistischen Muster des Bandes folgend, wendet Heinz Stefan Herzkas Essay diese immunbiologische Provokation in die salutogenetische Aufforderung, Orientierungen gelingender Lebensgestaltung weniger in den Phasen der Leistung und des vermeintlichen Erfolges zu suchen, als in jenen der Irritation, des Neuanfangs oder der Ruhe. Solche Übergänge sind ,Orte' des Unbestimmtseins, es können Strukturelemente des Alltags sein aber auch gefährdende Lebenskrisen, doch immer eignen ihnen Erwartung und Überraschung, Hoffnung und Angst, worin ihre sinnstiftende Potenz zum Ausdruck kommt. Diesem transitorischen Vermögen, dem es wohl allererst zukommt, jene Räume und Zeiten des Zwischen so zu gestalten, daß sie zu Grundlagen lebbaren Lebens werden, wenden sich unter wie-

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derum sehr verschiedener Perspektive die letzten drei Beiträge des Bandes zu. In glücklicher Ergänzung geben zwei gleichermaßen in klinischer Praxis und philosophischer Reflexion beheimatete Ärzte eine profunde Entfaltung der menschliches Dasein fundierenden Kategorie des Zwischen. Markiert Hinderk M. Emrich nochmals die Etappen der Wiederaufnahme des Zwischen bei Martin Buber und Michael Theunissen, um sodann jene lebens stiftende Vorgängigkeit einer "dyadischen Ich-Einheit" zu postulieren, wie sie in Viktor von Weizsäckers Kategorie des "für beide" zum Ausdruck kommt, ihre exemplarische Darstellung aber bereits bei Goethe fand, so setzt Michael Schmidt-Degenhard die vom medizintheoretischen Diskurs völlig ignorierte hermeneutische Denktradition, sehr nachdrücklich in ihr Recht. Es muß befremden, daß selbst erkennbar kritischen Intentionen folgende Untersuchungen, die sich anheischig machen, den "Anatomien medizinischen Wissens" auf die Spur zu kommen, dies unter Ausblendung der gesamten hermeneutischen Tradition, will man sie nun mit Platon oder mit Schleiermacher beginnen lassen, zu leisten vorgeben. I? Ausgehend von der Gründung jedes wirklichen Verstehens des anderen in der Erfahrung des Betroffenwerdens, entwickelt SchmidtDegenhard am Leitfaden der psychiatrischen Exploration einen methodisch erhärteten Ansatz, dessen ethischer Imperativ die Anerkennung der "poietischen Grundtendenz des Seelischen" ist - mithin der sinnstiftenden Imaginationsleistung des Menschen den Primat vor allen Defizienzmodellen etablierter wissenschaftlicher Medizin einräumt. Der Abschluß der Beiträge dieses Bandes führt zurück zu der etwas im Verborgenen gebliebenen Bezugnahme Viktor von Weizsäckers auf jene Korintherbriefpassage des Paulus (1 Kor. 13,12), die im Sinne der unter Vorbehalt geprägten Formel von der ,Metaphysik der Schwebe' Leitbild für eine aus christlicher Tradition gespeiste ,medizinische Ethik' sein könnte. Im Unterschied zum rationalen Selbstverständnis neuzeitlicher Ethikentwürfe hat diese ihren Ort im Vollzug des Lebens selbst. Jürgen Hübner kann zeigen, daß der Extraneität glaubender Existenz vergleichbar, individuelles Leben sich selbst entzogen ist. Es entwirft sich insofern von einem Anderen her, als es als Leben immer schon Beteiligung am Leben impliziert. Ob vom Paulinischen Glaubensverständnis oder vom Platonischen ,Pathos' her, ethische Verantwortung gründet zunächst und vor allem in der Beziehungswirklichkeit des Lebens. Die Edition eines aus dem Nachlaß Viktor von Weizsäckers ausgewählten, für einen Abdruck in der Ausgabe der "Gesammelten Schriften" nicht vorgesehenen Textes, trägt einer geistesgeschichtlichen Quelle Rechnung, deren exemplarischer Wert für das Verständnis des Zwischen - im hier verhandelten Kontext medizinischen Denkens - bislang noch keine Beachtung fand. Es geht um die eigentümliche Goethesche Begriffsbildung des Urphänomens, genauer aber eigentlich um das, was ein enger Mitarbeiter Weizsäckers, Alfred Prinz Auersperg, die "Urphänomenologie der Wahrnehmung" nannte. Es ist nicht ohne Reiz zu sehen, daß es 17

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Comelius Borck (Hrsg.), Anatomien medizinischen Wissens, Frankfurt/M. 1996.

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nunmehr die ontologischen Probleme der Medizin sind, die jene alte, eigentlich erledigt geglaubte Frage nach dem rechten ,Umgang mit der Natur' - wie sie ja Goethe in Streit mit Newton brachte - neu aufleben lassen. Dies wiederum hat zweifellos etwas mit unserer Kultur zu tun; wir befinden uns erneut zwischen Kultur und Natur. Rainer-M. E. Jacobi

Komplementäre Erfahrung von Ganzheit im Gestaltkreis Anfänge eines Naturbildes, in dem wir selber vorkommen

Von Klaus Michael Meyer-Abich, Essen

In der klassischen Physik beschreiben wir die Welt so, als gehörten wir selber nicht dazu. Die Existenzbedingung dieser Wissenschaft nämlich, das Dasein des erkennenden Physikers, kommt im Weltbild der klassischen Physik nicht vor. Dies ändert nichts an der Tatsache, daß der Physiker selbst zu der Natur gehört, deren Erkenntnis die Absicht der Physik ist. Daß es aber eben diesen Teil im Naturbild der klassischen Physik nicht gibt, zeigt, daß diese Wissenschaft noch keine umfassende Wissenschaft von der Natur ist. Nicht nur das Erkenntnishandeln des Physikers, sondern der Mensch überhaupt kommt in der klassischen Naturwissenschaft nicht vor. Dies zeigt sich besonders deutlich dort, wo er doch in den Blick zu kommen scheint, in der naturwissenschaftlichen Medizin. Zwar kann diese Wissenschaft nicht schlicht falsch sein, denn sie läßt viele Krankheiten heilen, aber sie versteht nicht, wer wann welche Krankheit hat und was darin ausgetragen wird. Der Mensch selber, dem ein guter Arzt begegnet, ist in der Medizin nicht wiederzuerkennen. Hier wie in der klassischen Physik ist es so wie auf dem Photo, das ein Vater von seiner kleinen Tochter aufgenommen hatte. Die Tochter sah das Bild und erkannte sich darauf, suchte nun aber auf dem Bild den Vater, der doch mit ihr war und es sogar gemacht hatte. Als sie ihn nicht fand, fragte sie ihn: Aber Papa, wo bist du denn? Was antworten wir auf diese kluge Kinderfrage, wenn es um die Naturwissenschaft geht? Ein erster Schritt zu einem Naturbild, in dem wir selber dabei sind, ist durch Niels Bohrs Entwurf einer komplementären Wissenschaft getan worden. Ich schildere zunächst Bohrs philosophischen Ansatz, so wie er ihn in der Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie entwickelt hat, und ziehe daraus im Hinblick auf das Gestaltkreis-Konzept Viktor von Weizsäckers vorläufige Konsequenzen für die weitere Entwicklung einer Wissenschaft von der Natur, zu der wir selbst gehören. Die Komplementaritätsphilosophie gilt gemeinhin als eine Konsequenz der Quantentheorie. Bohr aber hat keine philosophischen Folgerungen aus physikalischen Entdeckungen gezogen. Charakteristisch ist vielmehr die Anekdote, daß er Ende der 20er Jahre einem alten Freund die Ergebnisse der neuen Physik - der

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Quantentheorie - erklärte, und dieser daraufhin verwundert meinte: Aber das hast du doch vor 20 Jahren schon gesagt. Wieso sind dies die neuesten Ergebnisse der Physik? Tatsächlich hat Bohr sich durch die Quantenmechanik und insbesondere durch die Umbestimrntheitsre1ationen 1 an Überlegungen "erinnert" gefühlt, die ihn wohl seit seinen Schüler- und Studentenjahren, als er zunächst eigentlich Philosophie studieren wollte, begleitet hatten. 2 Welcher Art waren diese Überlegungen? Aus der Psychologie kannte er "die bei der Selbstbeobachtung unvermeidbare Beeinflussung des vom Willensgefühl geprägten psychischen Erlebens,,3. Etwas einfach zu wollen oder sich als jemand zu erleben, der etwas will (warum, wozu?), sind ganz verschiedene Situationen. Bohr zog daraus die philosophische Konsequenz, daß die Welt nicht in einer disjunkten, ein für allemal festgelegten Weise einerseits aus Subjekten, andererseits aus Objekten besteht, da ja jedes Subjekt selbst zum Gegenstand der Beobachtung und somit zum Objekt werden kann. Was Subjekt ist und was Objekt, hängt also von der jeweiligen Erkenntnissituation oder - im wörtlichen Sinn - vom Gesichtspunkt ab. In der Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie nennt man diese Veränderlichkeit die Verschieblichkeit des Schnitts zwischen dem Beobachter und dem beobachteten Gegenstand. Ich wiederhole den Grundgedanken in Bohrs Worten, so wie er 1929 in der Festschrift zu Plancks 50jährigem Doktorjubiläum "vielleicht außerhalb des Rahmens der eigentlichen Physik" auf diese "erkenntnistheoretischen und psychologischen Fragen" eingegangen ist: "Das in Frage stehende Erkenntnisproblem läßt sich wohl kurz dahin kennzeichnen, daß einerseits die Beschreibung unserer Gedankentätigkeit die Gegenüberstellung eines objektiv gegebenen Inhalts und eines betrachtenden Subjekts verlangt, während andererseits - wie schon aus einer solchen Aussage einleuchtet - keine strenge Trennung zwischen Objekt und Subjekt aufrechtzuerhalten ist, da ja auch der letztere Begriff dem Gedankeninhalt angehört. ,,4

Wer sich Komplementarität primär zwischen Wellen und Korpuskeln oder als ein Sowohl-als-Auch von Gegensätzen - wenn nicht gar von Widersprüchen - vorstellt, wird Bohrs scheinbar ganz einfachen Grundgedanken wohl nicht bestreiten wollen, aber zunächst auch nicht wissen, was die erkenntnistheoretische Objektivierung des erkennenden Subjekts mit Komplementarität zu tun hat. Weil es sich 1 Werner Heisenberg, Über quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen, in: Zeitschrift für Physik 33 (1925), S. 879ff.; vgl. hierzu auch den Nobelvortrag Heisenbergs: Die Entwicklung der Quantenmechanik (1933), in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, 11. Aufl., Stuttgart 1980, S. 26-42. 2 Niels Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung. Vier Aufsätze mit einer einleitenden Übersicht, Berlin 1931, S. 10, 14,67. 3 Niels Bohr, Atomtheorie (FN 2), S. 15. 4 Niels Bohr, Wirkungsquantum und Naturbeschreibung (1929), in: ders., Atomtheorie (FN 2), S. 60-66, hier S. 62.

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hier gleichwohl um die Grunderfahrung handelt, ohne die man nicht versteht, was Bohr damit gemeint hat, wiederhole ich sie noch einmal in einer literarischen Fassung, die Bohr gern erzählt hat und die dem Roman "Die Abenteuer eines dänischen Studenten" von Paul Martin Möller entnommen ist. Geschildert wird ein Gespräch zwischen zwei Vettern, deren einer dem andern Vorhaltungen macht, warum er sich immer noch nicht entschieden habe, eine Stellung anzunehmen, die ihm durch Vermittlung seiner Freunde angeboten worden ist. Der so Gescholtene antwortete, er komme mit seinen Überlegungen in dieser schwierigen Angelegenheit leider zu keinem Ende; vor allem gerate er dabei immer ins Nachdenken über sich selbst, warum er sich hier nun schon wieder in endlosen Gedanken verfange, ob er jene Stelle annehmen solle oder nicht. Und damit nicht genug: Denke er so über sein eigenes fruchtloses Denken nach, dann sehe er wiederum sich selber vor sich, wie er sich sein fruchtloses Denken vergegenwärtigt, so daß sich eine unendliche Folge von lehen ergebe, die aufeinander herabblicken. Sowie er bei einem von ihnen haltzumachen versuche, melde sich immer wieder ein weiteres leh, so daß ihm wie vor einem bodenlosen Abgrund ganz schwindlig werde. Der Adressat dieser Klage weiß mit dem geschilderten lehschwindel nicht viel anzufangen und kann nur antworten, er halte es mit dem gesunden Menschenverstand und da kämen seine lche niemals durcheinander. Bohr aber hielt es mit dem andern. Was hat ihn an den vielen lehen so interessiert, daß er noch als alter Mann meinte, es sei "certainly not easy to give a more pertinent account of essential aspects of the situation with which we all are faced" als diese Geschichte?5 Was folgt daraus? Kerngedanke der Komplementaritätsphilosophie ist die Konsequenz, die Bohr daraus gezogen hat, daß - in der zuvor zitierten Formulierung - "keine strenge Trennung zwischen Objekt und Subjekt aufrechtzuerhalten ist, da ja auch der letztere Begriff dem Gedankeninhalt angehört", hier also zum Objekt wird. Sie lautet, an diese Feststellung unmittelbar anschließend: "Aus dieser Sachlage folgt nicht nur die relative von der Willkür in der Wahl des Gesichtspunktes abhängige Bedeutung eines jeden Begriffes, oder besser jeden Wortes, sondern wir müssen im allgemeinen darauf gefaßt sein, daß eine allseitige Beleuchtung eines und desselben Gegenstandes verschiedene Gesichtspunkte verlangen kann, die' eine eindeutige Beschreibung verhindern".6

Mit anderen Worten: (1) Jeder Begriff hat nur eine relative, auf einen Gesichtspunkt bezogene Bedeu-

tung.

5 Niels Bohr, Essays 1958-1962 on Atomic Physics and Human Knowledge, New York/ London 1963, S. 13. 6 Niels Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 62 f.

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(2) Die Begriffe, mit denen etwas beschrieben wird, sind nicht notwendigerweise relativ zum gleichen Gesichtspunkt. (3) Deshalb gibt es nicht nur eindeutige Beschreibungen. Hier klingt die Komplementarität nun schon an. Der Gedanke muß aber erklärt und auf die Grunderfahrung der Selbstvergegenständlichung bezogen werden. I. Die relative Bedeutung eines jeden Begriffs

Was Bohr mit der relativen Bedeutung eines jeden Begriffs meint, ist mir, als ich an meiner Dissertation7 arbeitete, nach langem Nachdenken über den folgenden Satz aus Bohrs Corno-Vortrag von 1927 klar geworden: " ... die Definition des Zustandes eines physikalischen Systems, wie gewöhnlich aufgefaßt, [verlangt] das Ausschließen aller äußeren Beeinflussungen". 8 Wie ist das gemeint? Ist eine Definition nicht nur ein gedanklicher Akt? Wieso gehört dazu die Vorstellung einer empirischen Handlung wie der des Ausschließens äußerer Beeinflussungen? Der Zustand eines physikalischen Systems ist diejenige Charakteristik, deren Veränderung die Bewegungsgleichungen kausal beschreiben, in der klassischen Mechanik also z. B. das Größenpaar Ort/lmpuls. Wieso müssen äußere Beeinflussungen ausgeschlossen sein, damit der Zustand definiert ist? Ist der Zustand nicht schon definiert, wenn ich weiß, welche Größen ihn grundsätzlich bestimmen? Bohrs Antwort ist: Nein, der Zustand ist nur dann definiert, wenn das System wirklich in einem Zustand ist, d. h. Eigenschaften hat, die sich nach den Bewegungsgleichungen kausal verändern. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn die Erhaltungssätze - insbesondere für den Impuls und die Energie - für das betreffende System gelten, also nicht unter äußeren Beeinflussungen, durch welche die Erhaltungsgrößen zu- oder abnehmen können, so daß das System nicht abgeschlossen ist und die Erhaltungssätze nicht anwendbar sind. Insbesondere ist der Zustand nur dann definiert, wenn das System nicht beobachtet wird, denn jede Beobachtung geschieht wegen des Meßprozesses auf Kosten des kausalen Zusammenhangs zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es geht also nicht an, sich für einen Gegenstand in jeder beliebigen Situation irgendwelche Eigenschaften zu denken, so als hätten die Worte, die man dabei gebraucht, jedenfalls einen Sinn. Von einem Gespräch zwischen Bohr und Planck über die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie wird z. B. erzählt, Planck habe gesagt, wenn wir schon nicht die Orte und die Impulse der Teilchen für den gleichen Zeitpunkt wissen könnten, so werde aber doch jedenfalls der liebe Gott sie 7 Klaus Michael Meyer-Abich, Korrespondenz, Individualität und Komplementarität. Eine Studie zur Geistesgeschichte der Quantentheorie in den Beiträgen Niels Bohrs, Wiesbaden 1965. 8 Niels Bohr, Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik (1927), in: ders., Atomtheorie (FN 2), S. 34-59, hier S. 35.

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wissen können. Planck wollte also daran festhalten, daß die Elementarteilchen die Eigenschaften, die wir überhaupt an ihnen beobachten können, ,an sich' haben, so daß die Worte, mit denen wir sie bezeichnen, prinzipiell unter allen Umständen einen Sinn haben, auch wenn wir die Eigenschaften nicht wissen können. Bohr soll darauf geantwortet haben, daß niemand - und wohl nicht einmal der liebe Gott selber - wissen könne, was ein Wort wie ,wissen' in diesem Zusammenhang bedeute. Wegen der relativen Bedeutung "eines jeden Begriffes, oder besser jeden Wortes,,9 "verlieren ja selbst Wörter wie sein und wissen ihren eindeutigen Sinn"lO. Ich verstehe dabei den Zusatz: "oder besser jeden Wortes" so, daß Begriffe sozusagen einen zeitüberbrückenden Sinn haben, in dem sie potentiell von Fall zu Fall etwas bedeuten, Worte aber jeweils in bestimmten Situationen gebraucht werden und je nach Art dieser Situation etwas oder nichts besagen. Wenn jeder Begriff einen begrenzten Anwendungsbereich hat, wird der Fall denkbar, daß die Zuständigkeitsfelder zweier Begriffe sich weder decken noch wenigstens teilweise überlappen, sondern schlechterdings verschieden sind. Ein Beispiel ist, daß der Begriff des stationären Zustands "Seinem Wesen nach ... einen vollständigen Verzicht auf eine Zeitbeschreibung" verlangt. 11 Ein Zustand wäre eben nicht stationär, wenn sich in ihm irgendein Zuvor und Hernach unterscheiden ließe, sondern die Übergangswahrscheinlichkeiten in andere stationäre Zustände sind immer gleich groß. Unter dem Gesichtspunkt der Zeitbestimmung haben diese Zustände keinerlei Unterschiedenheit. In ihnen sind tausend Jahre wie ein Tag, d. h. sie sind zeitlos. Dafür ist ihre Energie eindeutig festgelegt. Der Fall zweier disjunkter Anwendungsbereiche verschiedener Begriffe, für den Bohr das Komplementaritätskonzept zuerst in die Physik eingeführt hat, weil er sich durch die Interpretationsprobleme der Quantentheorie an die geschilderten "allgemeinen Bedingungen der menschlichen Begriffsbildungen" ,erinnert' fühlte,12 ist der des Zustandsbegriffs gegenüber der raumzeitlichen Bestimmung desselben Objekts. Wenn man sich nämlich unter den gegebenen Bedingungen alle äußeren Beeinflussungen als ausgeschlossen vorstellt und der Zustand des Objekts somit definiert ist, ist wegen der bei allen Meßprozessen im atomaren Bereich nicht vernachlässigbaren Wechselwirkung "jede Möglichkeit der Beobachtung ausgeschlossen, und vor allem verlieren die Begriffe Raum und Zeit ihren unmittelbaren Sinn. Lassen wir andererseits, um Beobachtungen zu ermöglichen, eventuelle Wechsel wirkungen mit geeigneten, nicht zum System gehörigen, äußeren Messungsmitteln zu, so ist der Natur der Sache nach eine eindeutige Definition des Zustandes des Systems nicht mehr möglich, und es kann von Kausalität im gewöhnlichen Sinne keine Rede sein. Nach dem Wesen der Quantentheorie müssen wir uns also damit begnügen, die Raum-Zeit-Darstellung und die Forderung der Kausalität, Niels Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 62 f. Niels Bohr, Atomtheorie (FN 2), S. 12. 11 Niels Bohr, Quantenpostulat (FN 8), S. 52. 12 Niels Bohr, Atomtheorie (FN 2), S. 10.

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Klaus Michael Meyer-Abich deren Vereinigung für die klassischen Theorien kennzeichnend ist, als komplementäre, aber einander ausschließende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen, die die Idealisation der Beobachtungs- bzw. Definitionsmöglichkeiten symbolisieren.,,13

Wenn also unter den gegebenen Umständen eine Eigenschaft definiert ist, dann hat das Teilchen diese Eigenschaft, und wenn sie unter den gegebenen Umständen nicht definiert ist, dann hat es sie nicht. Ein Gegenstand hat die Eigenschaften, die er grundsätzlich haben kann und die ihn insoweit charakterisieren, nicht unter allen Umständen. Die Bedingungen, auf denen die Definition einer physikalischen Größe beruht, sind eine jedem Phänomen, dem physikalische Realität zugeschrieben werden kann, innewohnende Bestimmung ("an inherent element of any phenomenon to which the term ,physical reality' can be unambiguously applied,,14). Die relative Bedeutung der Begriffe im Sinn Bohrs hat also nichts mit einer positivistischen Beschränkung des Wirklichen auf das Meßbare zu tun. Im Gegenteil, manche Eigenschaften sind ja gerade nur dann wirklich bzw. ,definiert', wenn nicht gemessen wird. Philosophisch handelt es sich vielmehr um einen sehr grundsätzlichen Pragmatismus in dem Sinn, daß die Dinge immer nur so für uns da sind, wie wir es mit ihnen zu tun haben. Wir beschreiben die Welt hier nicht mehr so, als gehörten wir nicht dazu, sondern wir gehören dazu und der Gegenstand auch. Wir beziehen uns auf ihn in einer bestimmten Weise des Mitseins, nämlich in physikalischen Umgangsformen. Derer aber sind verschiedene, und manche dieser Formen schließen sich nicht nur praktisch, sondern prinzipiell aus, indem z. B. die einen Wechselwirkungen zulassen, die andern nicht. Beides kann man nicht haben. Auf beiderlei Weise kann man es jedenfalls nicht gleichzeitig mit einem Gegenstand zu tun haben,15 und doch widersprechen die jeweiligen Erfahrungen einander nicht, sondern sie sind komplementär, d. h. sie ergänzen einander zu einem Ganzen. Daß die Bedingungen, unter denen wir es mit einem Gegenstand zu tun haben, zu seiner Wirklichkeit gehören und aus ihr nicht wegzudenken sind, fasse ich zusammen in einer 1. These: Die Physik handelt von Tat-Sachen, nicht nur von den Sachen.

Jede Erfahrung erfolgt in einem Handlungszusammenhang, in dem wir es mit etwas zu tun haben, im wörtlichen Sinn von ,prägma', messend oder unter Ausschluß äußerer Beeinflussungen. Wir erkennen die Welt nicht wie unter einer Tarnkappe, so daß wir nur sehen und nicht gesehen werden, oder sozusagen interplanetarisch von oben her, sondern wir sind immer schon selbst dabei, als Zuschauer wie als Mitspieler im Drama des Lebens. Der Handlungszusammenhang, in dem Niels Bohr, Quantenpostulat (FN 8), S. 35 f. Niels Bohr, Quantum mechanics and physical reality (datiert: Kopenhagen 29. Juni 1935), in: Nature, 136, 13. Juli 1935, S. 65. 15 Vgl. Niels Bohr, Atomtheorie (FN 2), S. 6. 13

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wir es mit etwas zu tun haben, kann auch in ein Bild gebracht, d. h. zeitlich bestimmt werden. Jedes solche Bild läßt sich prinzipiell mit einer Zeitangabe (Augenblick oder Intervall) versehen, dadurch unterscheidet es sich von einem Kunstwerk. Wir erkennen uns auf diesem Bild insoweit wieder, als wir sehen: Was zu der Zeit, in der die Verhältnisse so waren, wie das Bild zeigt, Tat-Sache war, war eine Sache unserer Tat. Im Sinn Jakob von Uexkülls ist Bohrs relative Bedeutung eines jeden Begriffs die Verschränkung von "Merkwelt" und "Wirkwe1t". Der Gedanke ist, daß ein Tier nur merkt, worauf es reagieren kann, und nur so verschieden reagieren kann, wie es Unterschiede merkt. "So viele Leistungen ein Tier ausführen kann, so viele Gegenstände vermag es in seiner Umwelt zu unterscheiden".16 Was ein Lebewesen wahrnimmt, paßt zu seinen Aktionsmöglichkeiten wie der Schlüssel ins Schloß. Versteht man Wahrnehmung auch im Handlungssinn - z. B. als das Wahrnehmen einer Gelegenheit oder eines Interesses -, so war Uexkülls Entdeckung, daß jedes Lebewesen seine spezifische Wahrnehmungswelt hat, seine "Umwelt". Bohr fügt hinzu, daß auch im menschlichen Lebensraum jeder Begriff ein Wahrnehmungsbegriff, d. h. auf eine bestimmte Verschränkung von Merk- und Wirkwelt bezogen ist, jedoch so, daß es komplementäre Verschränkungen und Wahrnehmungen gibt. Ein anschauliches Beispiel für komplementäre Wahrnehmungen oder Tat-Sachen, das Bohr gern gebrauchte, ist die Empfindung, "die jeder erlebt hat bei dem Versuch, in einem dunklen Zimmer sich durch Tasten mittels eines Stockes zu orientieren. Während der Stock bei losem Anfassen dem Berührungssinn als Objekt erscheint, verlieren wir bei festem Anfassen die Vorstellung eines Fremdkörpers und die Wahrnehmung der Berührung wird unmittelbar in dem Punkt lokalisiert, wo der Stock an den zu untersuchenden Körper stößt". 17

Im ersten Fall ist der Stock, irgendwo aufliegend oder im Schwerefeld, das Objekt; im zweiten reicht unser Gefühl durch den Stock hindurch, er wird zu einem verlängerten Finger unserer selbst, und das Objekt beginnt jenseits der Spitze. Verglichen mit der Komplementarität von kausaler und raumzeitlicher Beschreibung, entspricht der Stock dem Meßinstrument. Nimmt man ihn lose in die Hand, so wird nicht gemessen, und das Meßinstrument ist selbst Objekt, während der Gegenstand sich kausal entwickelt. Nimmt man ihn fest in die Hand, so ergibt die Messung eine raumzeitliche Beschreibung des Gegenstands, aber der Zustand ist nicht mehr definiert. Dabei bekommen "die Begriffe Raum und Zeit ihrem Wesen nach erst durch die Möglichkeit der Vernachlässigung der Wechselwirkung mit den Meßmittein einen Sinn.,,18

16 Jakob von Uexküll/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten (1934). Hamburg 1956, S. 68. 17 Niels Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 64. 18 Ebd.

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11. Komplementäre Wahrnehmungen desselben Objekts

Mit der relativen Bedeutung eines jeden Begriffs und Worts müßte nicht notwendigerweise einhergehen, "daß eine allseitige Beleuchtung eines und desselben Gegenstandes verschiedene Gesichtspunkte" verlangt (s.o.), die in ihrer Tat-Sächlichkeit unvereinbar sind. Man könnte sich ja auch vorstellen, daß z. B. allen physikalischen Tat-Sachen dieselbe Relativität qua Objektivierung eigen ist. So ist es in der klassischen Physik. Ihre Tat-Sächlichkeit konnte deshalb lange unbemerkt bleiben, so daß man sich daran gewöhnt hatte, alle Eigenschaften als jederzeit definiert den Dingen selbst zuzuschreiben. Daß es im atomaren Bereich nicht so ist, zeigen die Wahrnehmungen einerseits der Zustandsentwicklung (Ausschluß äußerer Beeinflussungen), andererseits der raumzeitlichen Festlegung, wobei es in beiden Fällen um denselben Gegenstand geht und weder auf die Beschreibung der Zustandsentwicklung noch auf Messungen in Raum und Zeit verzichtet werden kann. Komplementäre Verhältnisse dieser Art hat Bohr in der Physik aber wiederum nur deshalb erkannt, weil er sie bereits anderweitig kannte, beispielsweise aus der Psychologie. Hier sah er eine Komplementarität "zwischen dem Gefühl des freien Willens, das das Geistesleben beherrscht, und des scheinbar ununterbrochenen Ursachenzusammenhanges der begleitenden physiologischen Prozesse.'d9 Die subjektive Erfahrung der Willensfreiheit und die objektive der Kausalität seien nämlich "gleich unentbehrlich ... in dem Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, das den Kern des Erkenntnisproblems bildet. ,,20 Daß zwischen Kausalität und Willensfreiheit kein Widerspruch besteht, sondern daß es sich um komplementäre Wahrnehmungen handelt, die jedoch in Begriffen zu beschreiben sind, welche jeweils nur für eine der beiden Tat-Sachen definiert sind, führte Bohr wiederum auf die Tat-Sache der Beobachtung zurück. Die Beobachtung der Gehimvorgänge werde nämlich eine Änderung des Willensgefühls mit sich bringen. Nun hat Bohr die Komplementarität zweier Tat-Sachen oder Phänomene in erster Linie als Zusammengehörigkeit verstanden. Dies zeigte sich schon, als er bei der Einführung des Begriffs von ,komplementären, aber einander ausschließenden Zügen der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung' sprach. 21 Wann aber gehören zweierlei Wahrnehmungen wirklich in dem Sinn zusammen, daß sie beide nötig sind, um den Gegenstand ganz zu erfahren? Gehören etwa auch Goethes und Newtons Wahrnehmungen des Lichts schiedlich-friedlich komplementär zusammen? Hinsichtlich der Komplementarität der Wahrnehmungen von Kausalität und Willensfreiheit sollte jedenfalls bedacht werden, ob eine "allseitige Beleuchtung" des Willensgeschehens in Wahrheit überhaupt beide Gesichtspunkte ,verlangt'. Bohr hat dies gemeint, aber der Komplementaritätsgedanke birgt die Gefahr, am Ende Ebd., S. 65. Niels Bohr, Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung (1929), in: ders., Atomtheorie (FN 2), S. 67-77, hier S. 76. 21 Vgl. Niels Bohr, Quantenpostulat (FN 8), S. 36; vgl. ders., Atomtheorie (FN 2), S. 12 und Wirkungsquantum (FN 4), S. 64; Hervorhebung hinzugefügt. 19

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alles als komplementär gelten lassen und damit rechtfertigen zu wollen, was es an Gegensätzen in der Welt gibt. Man muß also aufpassen, hier nicht in einem allgemeinen Sowohl-als-Auch zu versinken, in dem alles irgendwie gerechtfertigt und nichts wirklich falsch, also auch als Gegensatz nicht akzeptabel ist. Hinsichtlich der Willensfreiheit wäre demnach zu überlegen, wieweit es wirklich zu ihr gehört und die Menschenwürde nicht verletzt, die Gehirnvorgänge verhaltensphysiologisch zu untersuchen. Die Einsicht in die Tat-Sächlichkeit der Wissenschaft, also in die Handlungsförmigkeit des Erkennens, bringt für die Wissenschaft wie für jedes andere Handeln die Frage mit sich, welches Tun zu rechtfertigen ist und welches nicht. Goethe z. B. hat Newton entgegengehalten, man dürfe das Licht nicht so traktieren, wie er es getan hat. Wo immer eine Komplementarität behauptet wird, bleibt also zu prüfen, ob die so zueinander in Beziehung gesetzten Wahrnehmungen zur Erfahrung des Gegenstands wirklich gleichermaßen gehören und somit zusammengehören. Unabhängig von den Beispielen geht es hier nun um die Struktur, an der wahrhaft komplementäre Verhältnisse zu erkennen sind. Diese Struktur zeigt sich nach Bohrs Begründung der relativen Bedeutung eines jeden Begriffs und Worts am klarsten in der Komplementarität von Zuschauer und Mitspieler im Drama des Lebens - einem von ihm gern zitierten chinesischen Gedanken - und in der der Analyse eines Begriffs gegenüber seiner unmittelbaren Anwendung. So wie das Subjekt auch selbst "dem Gedankeninhalt angehört", unterscheiden sich die komplementären Tatsachen in beiden Fällen durch einen Schritt zum Selbstbewußtsein. Als Mitspieler erlebt man Andere und Anderes und richtet das eigene Verhalten auf diese aus. Aus der Sicht des Zuschauers hingegen liegt nicht alles immer nur an der übrigen Welt, auf die man sich bezieht, sondern man wird auch seiner selbst im Mitsein mit Anderen und Anderem ansichtig. Erstaunlicherweise haben wir die Fähigkeit, nicht nur gegenwärtig zu sein, sondern uns diese Gegenwärtigkeit selbst noch einmal vergegenwärtigen zu können. Eben dieser Schritt liegt zwischen der unmittelbaren Anwendung und der Analyse eines Begriffs. Wer mit einem Wort oder Satz etwas sagen will, setzt immer schon voraus, welchen Sinn und welche Bedeutung die ausgesprochenen Worte haben. Man kann an jedem zweifeln, aber nicht an allem auf einmal, sondern jeder Zweifel ist nur dadurch möglich, daß zumindest am Sinn der Worte, die den Zweifel zum Ausdruck bringen, nicht gezweifelt wird. In einer anderen Situation aber kann dann auch wieder über das zuvor Unbezweifelte nachgedacht werden, sofern nun anderes nicht (mehr) bezweifelt wird. Analysieren wir dann, was ein Wort bedeutet und in welchen Verschränkungen von Merkwelt und Wirkwelt es seine relative Bedeutung hat, so kommen wiederum Handlungssituationen in den Blick, in denen wir stehen und mitspielen können. Was haben die jeweils beiden Wahrnehmungsituationen miteinander zu tun? Die Grundbedeutung von Komplementarität ist Zusammengehörigkeit. Worin also liegt die Zusammengehörigkeit des Zuschauens und des Mitspielens? Ist dies nicht ein-

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fach zweierlei, oder hat das eine etwas mit dem andern zu tun? Und wenn Ja, gehören nicht vielleicht auch noch dritte und vierte Wahrnehmungen hinzu? Zuschauer und Mitspieler sein zu können hängt offenbar in der Se1bigkeit der Person und der des Spiels zusammen. Dieselbe Antwort hat Bohr auf die Frage nach der Zusammengehörigkeit von Komplementaritätsverhältnissen verallgemeinert, daß sie nämlich (alle) "mit dem einheitlichen Charakter des Bewußtseins zusammenhängen",z2 In der englischen Fassung heißt es deutlicher, sie beruhten auf der Einheit des Bewußtseins (depend upon the unity of our consciousness).23 Komplementäre Erfahrungen eint also ein Bewußtsein, dies aber natürlich nicht nur so wie alle Gedanken potentiell in einem Kopf beieinander sind, sondern sie sind verbunden durch den Schritt von der einen zur anderen in einem bestimmten Gegenstandsbezug, wie dem vom Mitspieler zum Zuschauer in Bezug auf ein gegebenes Spiel. Damit wird nun auch klar, warum Bohr aufgrund seiner Urerfahrung der Selbstbeobachtung auf die Möglichkeit komplementärer Verhältnisse geschlossen hatte. Ich erinnere an die zuvor zitierten Sätze: "Das in Frage stehende Erkenntnisproblem läßt sich wohl kurz dahin kennzeichnen, daß einerseits die Beschreibung unserer Gedankentätigkeit die Gegenüberstellung eines objektiv gegebenen Inhalts und eines betrachtenden Subjekts verlangt, während andererseits - wie schon aus einer solchen Aussage einleuchtet - keine strenge Trennung zwischen Objekt und Subjekt aufrechtzuerhalten ist, da ja auch der letztere Begriff dem Gedankeninhalt angehört. Aus dieser Sachlage folgt nicht nur die relative von der Willkür in der Wahl des Gesichtspunktes abhängige Bedeutung eines jeden Begriffes, oder besser jeden Wortes, sondern wir müssen im allgemeinen darauf gefaßt sein, daß eine allseitige Beleuchtung eines und desselben Gegenstandes verschiedene Gesichtspunkte verlangen kann, die eine eindeutige Beschreibung verhindern.,,24

Der Schritt zurück vom Mitspieler zum Zuschauer seiner selbst oder der von der unmittelbaren Anwendung eines Begriffs zu seiner Analyse verlegen den Schnitt zwischen dem Objekt und dem Subjekt gleichermaßen so in das letztere hinein, daß seine Weise des Mitseins mit dem Objekt in dessen Objektivität mit einbezogen wird. 2. These: Komplementär ist jeweils die unmittelbare Erfahrung eines Gegenstands zur Miterfahrung der Weise seiner Vergegenständlichung.

Gilt dies auch für die anderen von Bohr angenommenen Komplementaritätsverhältnisse? Im Fall des Stocks ist die unmittelbare Erfahrung das Abtasten des Zimmers mit dem in die Stockspitze verlagerten Sensorium der Hand; die Miterfahrung seiner selbst ist die des - lose in der Hand gehaltenen - Stocks, der zuvor ein 22 Niels Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 64. 23 V gl. Niels Bohr, Atomic Theory and the Description of Nature. Four Essays with an Introductory Survey, Cambridge 1934 (Nachdruck 1961), S. 99. 24 Niels Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 62 f. Hervorhebung hinzugefügt.

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Organon des Subjekts war und nun als solches objektiviert wird. Im Fall von Ort und Impuls bzw. Zeitpunkt und Energie ist die unmittelbare Erfahrung die von Ort und Zeit unter Vernachlässigung der Meßwechselwirkung (sonst hätten die Begriffe Raum und Zeit gar keinen Sinn). Die Miterfahrung des eigenen Dabeiseins ist wiederum die der sozusagen nur noch lose in der Hand gehaltenen Meßinstrumente ohne äußere Beeinflussung des Gegenstands, so daß dieser einen Zustand hat und seiner Bewegungsgleichung folgt. Beide Komplementaritäten entsprechen der von Mitspieler und Zuschauer. Wie steht es mit der Willensfreiheit? Diese selbst ist die unmittelbare Erfahrung. Trägt es zur Analyse meines unmittelbar freien Handeins oder zur Erfahrung meiner selbst als Mitspieler bei, wenn ich meine Gehimströme und die sonstige Verhaltensphysiologie in einer Situation, in der mein Handeln lahmgelegt ist, von andem Leuten experimentell untersuchen lasse? Ich denke, zum Bewußtsein meines Mitseins komme ich nicht so, sondern dadurch, daß ich mir die Bedingungen meines freien, also gegenüber Anderen und Anderem verantwortlichen Handeins als Mitspieler vergegenwärtige, mir also wiederum den Stock oder die sonstigen Organe als Umgangsformen bewußt mache. Der Zuschauer blickt auf den Mitspieler, der Begriffsanalytiker auf den unmittelbaren Gebrauch des betreffenden Begriffs, aber der Gehimphysiologe untersucht kein freies Handeln auf seine Bedingungen hin. Mir scheint also, daß Bohr selbst in diesem Fall eine Komplementarisierung von Gegensätzen unterlaufen ist, die nicht zusammengehören bzw. einander nicht zu einem Ganzen ergänzen. Somit könnten die Wahrnehmungen der Gehirnphysiologen auch nicht als ein auf der Einheit unseres Bewußtseins beruhendes Komplement der Erfahrung von Willensfreiheit gerechtfertigt werden (was andere Rechtfertigungen nicht ausschließt). Demgegenüber entspricht, so viel ich sehe, die von Bohr ebenfalls angenommene Komplementarität von Liebe und Gerechtigkeit wiederum dem zuvor entwickelten Verständnis. Einer oder einem Andern in Liebe zu begegnen, schließt die Anwendung des Gleichheitsprinzips - der Grundlage aller Gerechtigkeit - aus. Ob man in der Liebe ungerecht gegenüber andern wird, ist jedoch eine in der Einheit unseres individuellen und sozialen Bewußtseins gleichermaßen notwendige Wahrnehmung. Hier ist es wieder der Blick auf die liebende Zuwendung selbst, in dem sich zeigt, daß die Gerechtigkeit darin nicht maßgeblich ist. Auf der Einheit unseres Bewußtseins beruhen demnach die folgenden Komplementaritäten: Unmittelbarkeit Mitspieler Anwendung eines Begriffs Mit dem Stock tasten Raum-Zeit -Beschreibung Liebe (Willensfreiheit)

Miterfahrung seiner selbst

Zuschauer Analyse des Begriffs Es mit dem Stock zu tun haben Zustandsentwicklung Gerechtigkeit (Analyse der Bestimmungen verantwortlichen HandeIns )

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Sie alle ergänzen sich in unserem Bewußtsein zu einem jeweiligen Ganzen der Erfahrung. Um die vorangegangenen Überlegungen wiederum thetisch zusammenzufassen, bedarf es noch einer Entscheidung, wie das, was zueinander komplementär ist, generell heißen soll. Bohr spricht von der Komplementarität zwischen Phänomenen, Anwendungen von Begriffen, Bildern (s.u.) oder Gesichtern (features of the description25 ). Ich habe abwechselnd von Tat-Sachen, Erfahrungen, Situationen und Wahrnehmungen gesprochen. Diese Bezeichnungen sollen zum Ausdruck bringen, daß es um Handlungsformen der Erkenntnis geht, in denen sich Merkwelt und Wirkwelt verschränken. Am besten würde dies durch den Ausdruck Wahrnehmung gesagt, wenn er nicht nur im passiven Sinn des Empfangens von Sinneseindrücken, sondern auch in seiner aktiven Bedeutung - eine Aufgabe, eine Gelegenheit oder ein Interesse wahrzunehmen - gemeint würde. Dies ist keine gebräuchliche Redeweise. Worum es geht, wird deshalb meines Erachtens durch das Wortspiel Tat-Sache am besten pointiert, verstanden als Tat-Sache der Wahrnehmung. Ich halte dementsprechend fest: 3. These: Komplementarität besteht zwischen Tat-Sachen der Wahrnehmung, die sich zur Ganzheit des Bewußtseins von einem Gegenstand ergänzen. Grundform der Komplementarität ist die unmittelbare Erfahrung eines Gegenstands im Verhältnis zur Miterfahrung der Weise seiner Vergegenständlichung. Diese Erklärung ergänzt die früher im Historischen Wörterbuch der Philosophie von mir gegebene: Komplementarität ist "die Zusammengehörigkeit verschiedener Möglichkeiten, dasselbe Objekt als verschiedenes zu erfahren. ,,26 Es geht um mögliche Tat-Sachen der Wahrnehmung. Während Bohr davon sprach, daß die Zusammengehörigkeit komplementärer Verhältnisse auf der "Einheit des Bewußtseins" (unity of consciousness) beruht, spreche ich von Ganzheit statt von Einheit. Der Grund dafür ist, daß zumindest das deutsche Wort Einheit die Verhältnisse nicht so in der Schwebe hält, wie ihre Dennoch-Zusammengehörigkeit (trotz des augenscheinlichen Gegensatzes) gemeint ist. Auch Bohr hat später zunehmend von den features ofwholeness gesprochen, derer wir in der Atomphysik ansichtig geworden seien. Wie die "komplementäre Natur der quantentheoretischen Beschreibung"27 sich von der Einheitlichkeit der klassischen Physik unterscheidet, ist im übrigen der Inhalt des Nebensatzes, mit dem das dieser Interpretation zugrundegelegte Zitat schließt und der abschließend zu besprechen bleibt.

Niels Bohr, Atomic Theory (FN 23), S. 54 f. Klaus Michael Meyer-Abich, Komplementarität, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1976, Bd. 4, Sp. 933 f. 27 Niels Bohr, Quantenpostulat (FN 8), S. 47. 25

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III. Komplementarität im Gestaltkreis

Zum genaueren Verständnis der Komplementarität im natürlichen Mitsein ist der Gedanke des Gestaltkreises von Viktor von Weizsäcker hilfreich. Sein Thema war das Verhältnis von Arzt und Patient in der "ursprünglichen wesensmäßigen Verbundenheit der Lebewesen", wobei er im wesentlichen aber nur an die Menschheit gedacht hat. "Wir sind ursprünglich eben gerade nicht ein Individuum und noch ein Individuum und ein drittes usw., sondern wir sind ursprünglich verbundene Personen, nicht Ich ist die metaphysische Absolutheit, sondern Wir. ,,28 An die Stelle dieses Wir aber tritt für den naturwissenschaftlichen Mediziner ein Subjekt-Objekt-Verhältnis. In der wissenschaftlich-technischen Welt gilt die Objektivierung der natürlichen Mitwelt, also die Verleugnung unseres natürlichen Mitseins, als normal, wohingegen das Unbehagen daran, selber im Krankheitsfall genauso objektiviert zu werden, nie ganz zur Ruhe gekommen ist. Viktor von Weizsäcker war der wohl bedeutendste Wegweiser eines im Mitsein mit dem Patienten helfenden Arztes. Hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Objektivierung nahm er an, "daß die exakte und rein verstandesmäßige Haltung das Ergebnis einer Zwangsneurose sei, die aus einer pathogenen Verdrängung des Eros habe hervorgehen müssen.,,29 Den Verlust des Mitseins in seiner Gegenseitigkeit auf eine pathogene Verdrängung des Eros zurückzuführen halte ich für einen im Ansatz überzeugenden Gedanken, weil Eros die ursprüngliche Kraft des Mitseins von Himmel und Erde und so überall in der Natur ist, nicht nur unter Menschen. Weizsäcker spricht nicht vom Mitsein. 3o Das Gestaltkreis-Konzept aber ist der Sache nach ein Gedanke zur Bestimmung und Erfahrung des Mitseins. Der therapeutische Gestaltkreis oder die "im Gestaltkreis verbundene Lebensgemeinschaft" von Arzt und Patient "umschließt den Arzt und den Patienten: er ist ein zweisamer Mensch, ein bipersoneller Mensch. Das ist die ,Ganzheit' der ärztlichen Handlung, das steckt hinter der Phrase vom Behandeln des ,ganzen Menschen', daß ein therapeutischer Gestaltkreis zwischen Arzt und Patient gestaltet werde: nicht daß der ganze Patient Gegenstand werde, sondern daß der Patient durch Umfassung des Arztes integriert werde - wieder: nicht seines Arztes als ganzen Menschen, sondern als ganzen Arztes.,,31 Der Gestaltkreis ist von Weizsäcker so gemeint, daß er im 28 Viktor von Weizsäcker, Seelenbehandlung und Seelenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Peter AchilIes u. a., Bd. V: Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie, bearbeitet von Peter Achilles, Frankfurt/M. 1987, S. 67-141, hier S. 115. 29 Viktor von Weizsäcker, Der Begriff sittlicher Wissenschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Peter AchilIes u. a., Bd. VII: Allgemeine Medizin. Grundfragen medizinischer Anthropologie, bearbeitet von Peter Achilles, Frankfurt/ M. 1987, S. 233 -254, hier S. 238. 30 Zur Philosophie des Mitseins vgl. Klaus Michael Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie - Erinnerung an einen vergessenen Traum, München 1997. 31 Viktor von Weizsäcker, Über medizinische Anthropologie, in: ders., Gesammelte SchriftenBd. V (FN28),S. l77-194,hierS. 189.

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Umgang miteinander als einem Um-Gang durchlaufen werden soll,32 und zwar durch jeden von beiden zum andern und zu sich zurück, so wie auch die Nächstenliebe wieder in das Wie-dich-selbst zurückgeht. Für das Arzt-Patient-Verhältnis verstehe ich dies so, daß der Kranke nicht allein mit seiner Krankheit bleibt, sondern diese von der Gemeinschaft des Arztes mit dem Patienten innerhalb der Gesellschaft und für sie wie von einem erweiterten Ich auf sich genommen wird und nunmehr zwischen beiden im Gemeinsamen ist. "Die Krankheit liegt jetzt zwischen den Menschen, ist eines ihrer Verhältnisse und ihrer Begegnungsarten. Hier beginnt anthropologische Medizin. ,,33 Den Verlust der Gegenseitigkeit, welche die pathogene Verdrängung des Eros mit sich bringt, auch im natürlichen Mitsein durch die Gestaltkreiserfahrung überwinden zu wollen, ist vom Arzt-Patient-Verhältnis her eine denkbare Verallgemeinerung. "Schließlich war ja auch nicht zu bestreiten, daß Pflanzen, Tiere und Menschen (oder zumindest Menschen, wenn man den Tieren und Pflanzen mißtrauen wollte) Objekte sind, die ein Subjekt enthalten, aber auch Subjekte, die ein Objekt enthalten. ,,34 Gemeint ist der Gestaltkreis, daß einerseits die Erfahrung des Objekts durch das Erkenntnishandeln des Subjekts geprägt ist, andererseits dieses sich gleichwohl auf etwas außer sich bezieht. Weizsäckers Gestaltkreis-Gedanke ist dem der Komplementarität, den Niels Bohr im selben Jahr (1927) zur Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie eingeführt hat, erstaunlich ähnlich. Dieser Spur ist auch sein Neffe earl Friedrich von Weizsäcker in dem Aufsatz "Gestaltkreis und Komplementarität" gefolgt. 35 Viktor von Weizsäcker nennt für den UmGang im Gestaltkreis sogar ein dem Bohrschen Stock ganz ähnliches Beispiel, daß man nämlich entweder eine feste Kante wahrnimmt, an der die Hand entlangstreicht, oder diese Bewegung der Hand, jedoch nicht bei des zugleich. In Bohrs Prinzip, daß in der Beschreibung des Erkennens "keine strenge Trennung zwischen Objekt und Subjekt aufrechtzuerhalten ist, da ja auch der letztere Begriff dem Gedankeninhalt angehört", ergänzt die Selbsterfahrung des erkennenden Subjekts die Wahrnehmung des erkannten Objekts. Daß es auch im Gestaltkreis um ein sozusa~en bewegliches Verhältnis von Subjekt und Objekt gehen soll, deutet darauf hin, daß dies der richtige Weg zum Verständnis des Weizsäckerschen Bilds ist. Er selbst scheint seinen Gedanken in Bezug auf die Quantentheorie ebenfalls darin wiedererkannt zu haben, "daß die Grenze zwischen Ich und Umwelt gleichsam verschieblich, beliebig festsetzbar ist. ,,36 Den Gestaltkreis zu durchlau32 V gl. Viktor von Weizsäcker, Grundfragen Medizinischer Anthropologie, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. VII (FN 29), S. 255 - 282, hier S. 264. 33 Viktor von Weizsäcker, Der Begriff der Allgemeinen Medizin, in: Gesammelte Schriften Bd. VII (FN 29), S. 135-196, hier S. 193. 34 Viktor von Weizsäcker, Grundfragen (FN 32), S. 259. 35 earl Friedrich von Weizsäcker, Gestaltkreis und Komplementarität, in: Paul Vogel (Hrsg.), Viktor von Weizsäcker. Arzt im Irrsal der Zeit, Göttingen 1956, S. 21-53. 36 Viktor von Weizsäcker, Grundfragen (FN 32), S. 262.

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fen wäre dann aber ein vielleicht noch umfassenderer Gedanke als der der Komplementarität, nämlich das Mit eines Mitseins im Zwischen zu erfahren, wobei das Erfahren im Sinn von Weizsäckers Um-Gang als Bewegung gemeint ist. Das Mitsein von Zweierlei, eine Beziehung also, wird hier zu einer lebendigen Beziehung in dem Sinn, daß es beider gemeinsames Leben ist, in dem sie sind, was sie sind. Die Seinsbeschreibung des Mitseins verbindet sich hier immer wieder mit der epistemischen Erfahrung dieses Seins, weil Menschen beteiligt sind, zu deren Leben das Erkennen in besonderem Maß gehört. Die Lachse finden ihren Geburtsort, wie Bohr gern sagte, weil sie ihn nicht wissen. Würden sie sich nach einem Wissen orientieren, so wären sie (flußaufwärts) bei jeder Gabelung erneut verunsichert, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie irgendwann einen Fehler machten, wäre zu groß. Wir hingegen sind auf das Wissen angewiesen und bringen es damit nicht zu der (gemeinsamen) Sicherheit der Lachse, haben aber wohl einen Vorteil an Lernfähigkeit. Eine Chance des Wissens ist außerdem die Selbsterkenntnis, so daß wir die pathogene Verdrängung des Eros in der wissenschaftlichen Objektivität gegenüber einem Wissen im Mitsein erkennen können, das nun ein Mit-Wissen heißen könnte. "Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen", lautete der erste Satz in Weizsäckers Einleitung zum "Gestaltkreis".37 Denken wir uns das Leben aus dem Zwischen nun in komplementären Verhältnissen, wie es Bohr und Weizsäcker getan haben, wäre das Mitsein im Gestaltkreis etwa so vorzustellen wie das Leben aus den Grenzbereichen der Elemente. Die Ufer eines Bachs sind belebt, wenn es dort keine starre Grenze zwischen dem Boden und dem Wasser, sondern eine durchlässige, sozusagen schwingende Grenze gibt, wie es natürlicherweise der Fall ist. Ebenso steht es mit der Biosphäre, wo die Erde an ihrer Oberfläche in den Boden des Luftmeers übergeht. Relativ zum Erdradius ist diese Zwischenzone verschwindend dünn, aber sie ist der Raum des Mitseins, in dem das Leben ist. Besonders gut kann man das Zwischen des Mitseins auch vom Tasten her erfahren. Mit dem Tastgefühl eines Gegenstands verbindet sich immer eine Selbstwahrnehmung. Dies ist bei den andern Sinnen nicht der Fall. Wenn ich etwas anderes sehe, höre, rieche oder schmecke, habe ich nicht zugleich eine entsprechende Wahrnehmung meiner selbst. Aber ich kann nicht die Hand auf etwas anderes legen und dieses spüren, ohne in der Begegnung mit dem andern mich selbst zu spüren. "Wie ich berühre, so bin ich berührt.,,38 Da der Tastsinn der stammesgeschichtlich älteste Sinn ist, setzen die andern Sinne die Einheit von Selbst- und Gegenstandswahmehmung im Tastgefühl wahrscheinlich bereits voraus. Dann könnte sogar für alle Sinne gelten, daß die Wahrnehmung des Andern ursprünglich aus 37 Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 5. Aufl., Stuttgart 1986, S. V. 38 Klaus Michael Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur - Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik. München 1984, S. 252.

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dem Zwischen der Berührung, also aus dem eigentlichen Bereich des Mitseins kommt, in dem die Selbsterfahrung sich mit der des Objekts verbindet. Bohr und Weizsäcker haben daran schwerlich gedacht, aber es ist vor diesem Hintergrund vielleicht doch kein Zufall, daß ihre anschaulichsten Erklärungen der Komplementarität und des Gestaltkreises sich auf Tastwahrnehmungen beziehen. IV. Von der Einheit zur Ganzheit

Bohr folgert aus der Grundtatsache der Miterfahrbarkeit des Selbst die relative Bedeutung der Begriffe und daraus wiederum, daß wir auf Komplementaritäten gefaßt sein müssen, "die eine eindeutige Beschreibung verhindern. ,,39 Gemeint ist: ... die eine eindeutige Beschreibung wie die der klassischen Physik verhindern, in der es erstaunlicherweise gelungen ist, "Eindeutigkeit durch Vermeiden jeden Hinweises auf das betrachtende Subjekt zu erreichen. ,,40 Dies ist in der Quantentheorie nicht mehr möglich, denn sie handelt von Tat-Sachen, Taterfahrungen eines Beobachters im Umgang mit dem Gegenstand. Nach den vorangegangenen Überlegungen bedarf dies nun keiner weiteren Erklärung mehr. Erklärungsbedürftig wird aber umgekehrt, wie es möglich sein kann, Eindeutigkeit in der Wissenschaft zustandezubringen, ohne das Dabeisein des Beobachters zu berücksichtigen. In der Atomphysik erfahren wir "die Grenze der Möglichkeit, von selbständigen Erscheinungen zu reden", wohingegen die klassische Physik auf der Annahme "der objektiven Existenz der Erscheinungen unabhängig von unseren Beobachtungen" beruhte. 41 Nun ist die Objektivität der Erscheinungen ein altes philosophisches Thema, und seit Kant ist klar, daß wir nicht annehmen dürfen, unsere Erfahrungen seien durch ihre Unsrigkeit nicht mitgeprägt. Daß wir die Dinge vermutlich nicht so beschreiben, wie sie an sich sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen, hatte jedoch keinerlei praktische Konsequenzen. Der Hauptgrund dafür war, daß die kategorialen Bestimmungen des "Gegenstands überhaupt" jederzeit und überall gleichermaßen anwendbar blieben, so daß alle Dinge ein für alle Mal so veranschaulicht werden konnten, wie es auch in der alltäglichen Erfahrung geschieht. Sehe ich z. B. jemand hinter einer Hausecke verschwinden, so darf ich annehmen, daß er dort weitergeht oder steht - unabhängig davon, ob er gesehen oder nicht gesehen wird. In der klassischen Physik darf für die Kantschen Anschauungsformen also wie im Alltag die Möglichkeit der Trennung von Phänomen und Beobachtungsmitteln angenommen werden. Die Zustände sind auch dann "definiert", wenn Beobachtungen zugelassen sind, da ihre Wirkung entweder zu vernachlässigen oder eliminierbar ist. Erstmalig in der Quantentheorie also mußten die "Wünsche nach Anschau39

Niets Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 63.

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Ebd.

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Niets Boh, Prinzipien (FN 20), S. 75.

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lichkeit, die unserer ganzen Sprache ihr Gepräge gibt" aufgegeben werden, und erst damit fiel "die Vorstellung der objektiven Realität der zur Beobachtung gelangenden Phänomene".42 In einer komplementären Wissenschaft sind nun "verschiedenartige Bilder notwendig ... , um die Erscheinungen allseitig zum Ausdruck zu bringen und eine eindeutige Formulierung der ... Gesetze, welche die Beobachtungsergebnisse regeln, zu gewähren".43 Wir machen uns nicht mehr ein Gesamtbild von unserer natürlichen Mitwelt, auf dem wir selbst nicht vorkommen, und sagen: So ist es, sondern durch die Verschiedenheit der Bilder - und Sprachen fangen wir nun an, in die Erkenntnis der Welt, zu der wir gehören, wenigstens durch die Pluralität der Bilder hineinzuragen. Bohr hat dies einen Schritt der "Befreiung" bzw. "Emanzipation" genannt. 44 Es ist nicht mehr so, als gehörten wir nicht dazu. Wir erfahren die Natur, von der wir ein Teil sind, in dieser Teilhaftigkeit. Komplementäre Erkenntnis ist insoweit Erkenntnis von Ganzheit. Daraus folgt nicht notwendig die Umkehrung, Ganzheiten nur durch eine komplementäre Wissenschaft gerecht werden zu können. Fragen wir uns nun aber nach den Konsequenzen der vorangegangenen Überlegungen, die Bohr auf die Quantentheorie bezogen hat, für die weitere Entwicklung der Wissenschaft, so hat uns die Naturkrise der Industriegesellschaft erneut daran erinnert, daß wir es mit der Natur zu tun haben, von der wir selbst ein Teil sind. Zur Miterfahrung der Weise der Vergegenständlichung der Dinge kommen wir hier, indem wir nicht über das naturwissenschaftliche Erkennen nachdenken, sondern über die Vervielfältigung der experimentellen Produktion der Phänomene in der industriellen Produktion der Waren. Was im Labor isoliert war, wird nun in gesellschaftlich und ökologisch offene Verhältnisse übertragen, und in diesen ergeben sich Folgewirkungen auf die Lebensverhältnisse. Die Kinderfrage: Wo bist du denn?, findet ihre Antwort nicht mehr nur im Wiedererkennen: - Ich bin es, der hier den Ort des Objekts auf Kosten der Definition seines Zustands wissen wollte, sondern weitergehend in den Handlungsfolgen, Z.B.: - Ich bin es, der hier keine Vorkehrungen gegen das Eindringen des Gifts in den Wasserkreislauf getroffen hat, wodurch andere und ich selbst bedroht sind. Wir können uns in der Regel nicht gefallen, wenn wir uns hier als Verursacher von Zerstörungen wiedererkennen. Die entscheidende Einsicht, der wir uns nicht entziehen dürfen, um in Zukunft einmal wieder besser dastehen zu können, ist aber: Die Natur ist nicht das, wozu wir nicht gehören. Wir verändern die Natur, von der wir selbst ein Teil sind. Und dies ist nun schon fast derselbe Satz, auf den Bohr die Komplementarität des Erkennens gegründet hat: Wir erkennen die Natur, von der wir selbst ein Teil sind. 42 43 44

Niels Bohr, Wirkungsquantum (FN 4), S. 64, 63. Ebd., S. 61. Ebd., S. 66; vgl. auch ders., Atomic Theory (FN 23), S. 101.

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Hier erweist sich das industriewirtschaftliehe Handeln als ebenso wissensförmig, wie sich das naturwissenschaftliche Erkennen früher als handlungsförmig gezeigt hatte. Was folgt daraus für den Fortgang der Wissenschaft? Die übliche Reaktion auf die Feststellung unbedachter Folgen ist, daß diese in Zukunft bedacht werden müßten. So naheliegend der Gedanke ist: Richtig sein kann er nur dann, wenn die Wissenschaft an sich auf dem richtigen Weg ist, so daß lediglich Mängel auszugleichen sind, die auf der mangelnden Verschränkung einzelner Wissensgebiete beruhen, vor allem der von Ökologie und Chemie. Ist es aber denkbar, die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaft, die sich bisher alle nur in Grenzen bewährt haben, welche nun überschritten werden, so zu integrieren, daß dabei eine Art Systemtheorie als ein Bild der ganzen Natur herauskommt, in dem die Folgen menschlicher Handlungen im wesentlichen berechenbar werden? Wäre dies nicht doch wieder nur eine Wissenschaft von der Natur als dem, was nicht wir sind, sondern in ein Bild gebracht werden kann, was aber von uns schonender behandelt werden sollte als bisher? Ich kann nicht ausschließen, daß der systemtheoretische Ansatz gelingt, glaube aber nicht daran, weil im Rückblick von der komplementären Wissenschaft die Möglichkeit einer nicht-komplementären Wissenschaft das eigentlich Erstaunliche ist. Im Bewußtsein, daß zur ganzheitlichen Erfahrung eines Gegenstands sowohl seine unmittelbare Erfahrung als auch die Miterfahrung der Weise seiner Vergegenständlichung gehört, kann man sich nur wundem, wie eine Wissenschaft von der Größe der klassischen Naturwissenschaft in ihren Einzelbereichen möglich ist, in der man von der Miterfahrung des eigenen Erkenntnishandelns einfach absehen kann. Wenn dies in vielen Erfahrungsfe1dern tatsächlich möglich ist: Was spricht dafür, daß es eine Universalwissenschaft dieser Art geben könnte? Eine Systemtheorie mit der Ontologie der klassischen Physik ist meines Erachtens nicht denkbar. Die Unangemessenheit dieses Ansatzes zeigt sich bereits in der ökosystem-theoretischen Biologie. 45 Systemtheoretisch zu denken und zu handeln gilt vielfach bereits als ganzheitlich, hat damit aber kaum etwas zu tun. Wir sollten darauf gefaßt sein, daß das Wissen, welches uns aus der jetzigen Naturkrise wieder herausführen könnte, ein komplementäres Wissen sein wird, d. h. eines, in dem wir uns nicht ein Bild von der Welt als dem, das nicht wir sind, machen, sondern viele Bilder, die sich nicht zu einem einzigen verbinden lassen, deren Pluralität aber eine Erfahrung von Ganzheit im Gestaltkreis ist. Dies ist die Antizipation der 4. These: Ganzheiten ist nur durch eine komplementäre Wissenschaft gerecht zu werden. In der Naturkrise der Industriegesellschaft bedürfte es einer Wissenschaft, welche Lösungen für Probleme bietet, die wir ohne die bisherige Wissenschaft nicht 45 Vgl. Kurt lax, Über die Leblosigkeit ökologischer Systeme. Zur Rolle des individuellen Organismus in der Ökologie, in: Hans Wemer Ingensiep/Richard Hoppe-Sailer (Hrsg.), NaturStücke, Ostfildem 1996, S. 209-230.

Komplementäre Erfahrung von Ganzheit im Gestaltkreis

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hätten. Wenn eine komplementäre Wissenschaft dies leisten könnte, brauchten wir einander angesichts der Bilder der Dinge nicht mehr zu fragen: Aber wo bist du denn?, sondern kämen zu einem ganzheitlichen Wissen von der Natur, zu der wir selbst gehören.

Teile und Gegenteile - Doppelte Bruchstücke Von Dietmar Kamper, Berlin

Man kann es als Aufforderung lesen oder als Plural. Im ersten Fall heißt es, zu teilen mit Anderen von dem, was man hat, und umgekehrt alles festzuhalten oder von dem zu geben, was man nicht hat, wie in der Liebe zum Beispiel. Im zweiten Fall sind es die "von einer Sache getrennten Stücke derselben" (wie ein altes Lexikon definiert) und die entgegengesetzten Stücke, die eine Sache wieder ganz machen oder die Anti-Teilchen, das heißt die Schatten, die die Teile auf die Wand einer symmetrisch gedachten anderen Welt werfen. Der erste Teil des Themas ist ziemlich eindeutig, der zweite setzt einen Wirbel in Gang. Mindestens zwei "Oder"-Formulierungen sind möglich, wahrscheinlich mehr. So daß die Anweisung des "Gegen" nicht klar ist, weder als Befehl noch als das Andere einer Mehrzahl von Stücken. - Dies vorausgeschickt, wird sogleich die Warnung deutlich, sich mehr auf dieser Seite des Themas aufzuhalten und die andere Seite womöglich zu meiden. Es sei denn, man ist verwegen und geradezu darauf aus, sich an den Volten und Revolten des Denkens zu beteiligen.

I.

In einer Zeit der Not gilt es zu teilen. Das betrifft aber nur das, was man hat. Denn man soll nach dem Teilen noch etwas übrig haben für sich selbst. Wie der heilige Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte. Der spöttische Kommentar, daß sie nun beide frieren, deutet das Problem an. Wer zu wenig hat, sollte lieber nicht teilen, weil dann das Unternehmen sinnlos wird. Es sei denn, daß das, was man hat, von einer solchen Qualität ist wie die Freude oder das Leid. Denn jeder weiß, dem Sprichwort entsprechend: geteilte Freude verdoppelt sich und geteiltes Leid wird halbiert. Da man hier immer gewinnt, gehören die Freude und das Leid vielleicht zum Gegenteilen. Denn nur auf der anderen Seite kann man etwas geben, was man nicht hat. Das ist zwar anti-logisch, aber deswegen nicht weniger wirklich als das logische Kalkül, demzufolge man - um zu teilen - etwas haben muß. Irdische Dinge und materielle Güter unterliegen jedenfalls der Logik, daß Teilen sie vermindert, wie die Bruchrechnung es vorführt: zwei Stücke vom Ganzen, genau geteilt, ergeben eine Halbierung, drei Stücke eine Drittelung, vier Stükke eine Viertelung usw.

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Dietmar Kamper

Wer übrigens die Viertel, Drittel und Hälften wieder zusammensetzt, kann sein blaues Wunder erleben. Die Summe der Teile ist nicht das Ganze. Oder wie der Gemeinplatz aus der Erfahrung des Teilens (und Gegenteilens) richtig herum heißt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. "Mehr" bedeutet hier nicht quantitativ mehr, so daß man zu der Summe noch etwas hinzurechnen müßte. Beim "Gegenteil" des Teilens kommt es nicht auf Rechnen und Zählen an, sondern auf den Sprung in eine andere Dimension, von dem nicht sicher ist, ob er glückt. Möglicherweise läßt sich etwas, das geteilt wurde, nie wieder restituieren und in den ursprünglichen Zustand zurückführen. Sogar bei den Göttern, die am eigenen Leibe eine solche "restitutio in integrum" erfuhren, bedurfte es eines Krautes, von dem nur die Mütter wußten. Und bei der Zusammenführung des zerstückelten Körpers wurde dann meist noch ein Glied vergessen. Also hat man auf Erden vom Normalfall eines unmöglichen Ganzen auszugehen, wenn der Prozeß der Teilung fortgeschritten ist. Vielleicht spricht man deswegen von Ur-teilen. Ur-Teile sind Teile dann, wenn man sie nicht im Regreß auf ein Ganzes hintergehen kann. Sie bilden gewissermaßen schon den Anfang, ohne daß so etwas wie ein Ganzes vorausginge. Ur-teile sind Teile ohne das, wovon sie Teile sind. Das ist schwer zu denken. Das Denken macht sich nämlich heimlich sein Ganzes, auch wenn es in Wirklichkeit nicht stimmt. So ergeht es auch dem logischen Urteil, das eigentlich ein Schluß ist, Abschluß eines Offenen, das unerträglich ist in seiner Unentschiedenheit. Um die Unentschiedenheit zu beenden, werden Urteile als unumstößliche Stellungnahmen getroffen. Urteile muß man treffen, bevor man sie fällen kann. Getroffene Urteile sind kaum revidierbar. Man bricht einen Stab über einem Sachverhalt, um die Stelle zu bezeichnen, hinter die man nicht mehr zurück kann oder zurück will. Man will den Bruch der Zeit, basta. Im Urteil, das getroffen und gefällt wurde, steckt die gebrochene Zeit. Das Urteil ist die Stelle, von der aus definitiv ein Vorher und ein Nachher festgestellt werden können, die nicht Teile eines Ganzen sind. Der Stab ist so gebrochen, daß er nie mehr ganz gemacht werden kann. 11.

Es ist mutig, die Teile ohne das Ganze zu denken. Dazu ist ein Denken nötig, das gegen den Hang des Denkens zum Ganzen denkt, das sich selbst als gebrochen, als fragmentarisch und fraktal begreift und der Versuchung zu totalisieren erfolgreich Widerstand zu leisten vermag. Wahrscheinlich geht das nur auf der anderen Seite der Gegenteile, der Ur-Gegenteile, insofern diese keinen Zwang auf den Zusammenhang ausüben und das Offene offen sein lassen. Vom Zusammenhang eines Ganzen her oder auf denselben hin ergibt sich fast von selbst jener externe Standpunkt, den das Denken als Übersicht und als Beobachtung braucht, um aufs Ganze zu gehen. Im Labyrinth der Gegenteile kann man sich nur verirren. Dort füllt das Denken bestenfalls die Lücke aus, die es selbst darstellt. Dann zeigt sich eine Spur, die nachträglich, immer nur nachträglich rekonstruiert werden kann. Vielleicht bil-

Teile und Gegenteile - Doppelte Bruchstücke

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det die Spur sogar ein Muster. Darüber hinaus jedoch kommt das Denken nicht. Weil es mimetisch verfährt, unterliegt es seinem Sujet. Das Ur-Gegenteil ist ein Anlaß zum Scheitern. Das Verhältnis von Teil und Gegenteil, von Teilen und Gegenteilen ist nicht symmetrisch. Das mag an einer Devise deutlich werden, deren andere Seite zu erfinden wäre. "Teile und herrsche", sagt man: Divide et impera! Wie könnte die entsprechende andere Devise lauten: "Gegenteile und unterliege"? "Gegenteile und sei gleichgültig"? "Gegenteile und spiele"? Es ist nicht die einfache Umkehrung, sondern eine mehrfache. Das "Teile und herrsche" ist klar und deutlich. Man muß, um herrschen zu können, zerteilen, sezieren, analysieren und die Stücke klein halten, gegeneinander kehren, Unfrieden zwischen ihnen säen. Vom kleinteiligen Stückwerk ist kein Widerstand zu erwarten. Es sei denn, man unterschreitet eine Schwelle. In der Mikrophysik, auf der Ebene der subatomaren Teilchen, greift die Devise, eben noch klar und deutlich, keineswegs mehr. Wer zu sehr teilt, gerät in unbeherrschbare Zonen. Vielleicht ist der Wille zur Herrschaft an der genannten Schwelle auf die andere Seite gelangt, ohne es zunächst zu wissen und zu wollen, so daß das Gegenteil der Übersicht unversehens eingetreten ist. Die Physik der kleinsten Teilchen glaubte zunächst, mit wenigen Bausteinen der Materie auskommen zu können. Dieser Glaube hat sich Schritt für Schritt bei den Entdeckungen aufgelöst. Nicht allein, daß es schon wieder zahllose Teilchen gibt, sie lassen sich auch noch ungern identifizieren. Die Unbestimmtheitsrelation, daß man entweder nur die Ladung bzw. die Energie oder nur den Ort bestimmen kann, war erst der Anfang einer teilweise absurden Entwicklung: Teilchen verwandeln sich unentwegt in andere, bleiben aber als geteilte ungeteilt, sind ihre eigenen Gegenteile und als solche wiederum sie selbst usf. An der aktuellen Front der Forschung sind wegen der unfaßbaren Identität der "Objekte" Zweifel aufgetaucht, ob diese überhaupt noch Teilchen heißen dürfen. Zwar handeln die Forscher nicht von nichts, aber alle herkömmlichen Vorstellungen von Materie und Energie, von Raum und Zeit und den Momenten, aus denen sie bestehen, verfallen einer so radikalen Revision, daß vom anfänglichen Impuls einer Herrschaft über das, was ist, keine Rede mehr sein kann. Die Fortschritte der Wissenschaft haben jeden Imperialismus der Theorie hinfällig gemacht. III.

Es scheint zunächst nicht viel auf sich zu haben mit dem herkömmlichen Widerlager des Fortschreitens, mit dem Unteilbaren, das Atom oder Individuum heißt. (Individuum ist eine lateinische Übersetzung aus dem Griechischen: Atomos.) Wie die Geschichte lehrt, sind die Menschen im Umgang miteinander und mit den Dingen nicht bereit gewesen, das Tabu eines "Ganzen" zu respektieren. Selbst der "ganze Mensch" war keine Grenze für irgendein Denken oder Handeln, obwohl es bald nach dem Tabubruch mächtige Folgen gegeben hat. Die Konsequenzen des

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Dietmar Kamper

Zerteilens, Sezierens, Analysierens liegen inzwischen auf der Hand. Wenn man sie sehen will, kann man sie sehen. Seitdem es Atomspaltung gibt, seitdem gibt es auch die Dividierung des Individuums und eine damit heraufbeschworene Unfähigkeit zu leben. Das überschrittene Gesetz lautet: je individueller, je einmaliger, je komplexer, je unverständlicher. ,Jndividuum est ineffabile" hieß das im Mittelalter; das Individuum ist unbegreiflich, die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Unbegreifliche ist das Unantastbare. Aber man hat begriffen und angetastet und aufgerissen und bis ins Mark verletzt und schließlich getötet. Die Devise "Teile und herrsche" hatte in der Anthropologie letale Wirkungen, zunächst für die Objekte, dann auch für die Subjekte. Zwar "leben" Opfer und Tater irgendwie weiter. Aber über allem Leiden und Tun liegt wie ein Mehltau das Vergessen, das unfreiwillige, lähmende, dumpfe Vergessen, das nicht mehr aufgeklärt werden kann, jedenfalls nicht als Folge einer Ursache. Das Gegenteil hat hier die Form einer schleichenden Neutralisierung. Wer das Leben verstehen will, muß sich am Leben beteiligen. Wer sich nicht am Leben beteiligen kann, tötet - entweder sich selbst oder Andere, meist ohne irgendetwas zu bemerken. So wirkt das Gesetz des toten Vaters, daß sich nicht alles teilen läßt, im Dunkel, nachdem es meist forsch und aufklärerisch - überschritten wurde. Die vorübergehende Unsichtbarkeit ist trügerischer Augenschein. Der Mensch als revoltierender Sohn der Geschichte wird über kurz oder lang zum Schauplatz einer Rückwirkung, die zwischen Strafe und Rache oszilliert. Nichts ist so hart wie die im Gegenteilen verborgene, aus ihm herausbrechende Antwort auf das Teilen des lebendigen Individuums.

IV. Geteilt in zumindest zwei Teile ist der Mensch zunächst im Zweifel. Die Geschichte dieses Zweifels ist auf der anderen Seite verzeichnet worden: Es beginnt der Abstieg in die Hölle. Der Teufel, ein anderer Name für den Zweifel, wird zum ständigen Begleiter. Statt eines "Incipit vita nu ova" das "Lasciate ogni speranza", das über dem Tor zum Inferno steht. Das Leben nimmt wegen der Ruhelosigkeit des Diabolischen (der Diabolos ist der, der entzwei bricht und dann durcheinander bringt) den Charakter eines Kataraktes an. Von Klippe zu Klippe geworfen, gerät der Abstürzende vom Zweifel in die Verzweiflung, in deren Grund er schließlich keine Wahl mehr hat als einzustimmen in ein alternativ loses Leben. Verzweifelt man selbst sein wollen und verzweifelt nicht man selbst sein wollen ist das Selbe. Erst wer den Panzer dieses Selben von innen aufbricht, gerät ins Freie. Wer bis zu Ende verzweifelt, findet den Ewigen Menschen, die sterbliche Menschheit. Erst von dort aus kommt es zu einer neuen Zärtlichkeit für die Dinge und Menschen, nachdem der Traum von der Unsterblichkeit endgültig ausgeträumt ist. Die Wahrheit des Gegenteilens ist zweifach: das Ganze ist nicht für die sterblichen Menschen, aber im Teil können sie an seiner Spur teilnehmen. Pars pro toto: das heißt nicht nur, daß das Individuelle sich stufenweise wiederholt (und etwa die

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Hand für das Gesicht und das Gesicht für den ganzen Körper steht), sondern auch, daß man das Teil statt des Ganzen nehmen muß. Teilnahme im tiefsten Sinn des Wortes ist Parteinahme für den Teil gegen das Ganze. Eine solche Devise, die man erst lernen muß, erspart allen Beteiligten die verheerende Lächerlichkeit der umgedrehten Lebensart, die eigentlich eine Todesart ist, obwohl sie sich zum Non plus ultra der Normalität aufgespielt hat. Daß man als Teil, als Partei, als Fragment das Ganze zu sein beansprucht. Daß man sich, dem Omnipotenz-Wahn und der infantilen Allmacht der Gedanken folgend, an die Stelle des obersten Herrschers setzt und damit den Vernichtungsprozeß gegen das, was ist, auf Touren bringt. Gegenteilen als Teilnahme eröffnet in der Tat die Gegenteile der Herrschaft, die mit dem Teilen einhergeht, also ein anderes Sprach- und Gedankenspiel.

Die Nachtseite der Physik Wolfgang Paulis Briefwechsel mit earl Gustav Jung Von Ernst Peter Fischer, Konstanz "Naturwissenschaftler, Psychologen und Philosophen werden miteinander in ein ernsthaftes Gespräch kommen müssen, um [Wolfgang] Paulis kühne Gedanken über das komplementäre Paar "rational - irrational" angemessen zu würdigen. Nach meiner Meinung enthalten seine unpublizierten Briefe das Interessanteste und Aufregendste, was je zur Komplementarität gesagt wurde" 1. So schreibt der physikalische Chemiker Hans Primas in seinem Aufsatz über die atomare Wirklichkeit, die "Ein Ganzes [ist], das nicht aus Teilen besteht". Mit Komplementarität ist dabei jene immer noch viel zu wenig verstandene Denkfigur gemeint, die sich als erkenntnistheoretische Konsequenz der Atomphysik ergeben hat und den Zugriff zur Idee der Ganzheit eröffnet. Ganz ist nämlich nur, was sich durch komplementäre Beschreibungen erfassen läßt. Während Wolfgang Pauli unter Naturwissenschaftlern höchstes Ansehen genießt und von den Physikern in eine Reihe mit Isaac Newton und Albert Einstein gestellt wird, sind seine Gedanken außerhalb dieser Kultur bislang unbekannt geblieben. Die Publikation seiner Briefe könnte und sollte diese Situation ändern, aber noch muß man Geduld haben. Denn obwohl die wissenschaftliche Korrespondenz Paulis in umfangreichen Bänden seit 1979 erschienen ist2 , lagen von den Briefen, in denen er sich philosophisch äußert und eine Weltanschauung zu erkennen gibt, bis zum Sommer 1992 nur Auszüge aus den Schreiben vor, die Pauli an den Physiker Markus Fierz gerichtet hat, einen seiner ehemaligen Assistenten 3 . Inzwischen hat sich diese Situation gebessert. Im Juli 1992 erschien Paulis Briefwechsel mit dem Psychiater C. G. Jung aus den Jahren 1932 - 1958, und es handelt sich um ein faszinierendes Buch4 . Es gewinnt dadurch an Wert, daß es zusätzlich einige bislang 1 H. Primas, Ein Ganzes, das nicht aus Teilen besteht. Komplementarität in den exakten Naturwissenschaften, in: E. P. Fischer (Hrsg.), Mannheimer Forum 92/93, S. 81-111, München 1993, S. 109. 2 Vgl. A. Hermann/K. von Meyenn/V. F. Weisskopj (Hrsg.), Wolfgang Pauli. Wissenschaftlicher Briefwechsel, Berlin, New York 1979 ff. (4 Bände). 3 Vgl. K. V. Laurikainen, Beyond the Atom. The Philosophical Thought of Wolfgang Pauli, Berlin, New York 1988. 4 C. A. Meier (Hrsg.), Wolfgang Pauli und earl Gustav Jung. Ein Briefwechsel (19321958), Berlin, New York 1992.

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unpublizierte Manuskripte und Notizen Paulis enthält (vor allem die "Hintergrundsphysik"), die einen tiefen Einblick in seine Vorstellungen von Komplementarität im besonderen und der menschlichen Erkenntnisfähigkeit im allgemeinen zulassen. Dieser Aufsatz wird sich vor allem auf diese Quelle, den Briefwechsel Pauli-Jung beziehen, der dem an Physik, Psychologie und Philosophie Interessierten eine unglaubliche Menge an Material liefert und tatsächlich genau das Gespräch in Gang bringen könnte, auf das Hans Primas hofft, wie eingangs erwähnt.

In dem gar nicht besonders umfangreichen Briefwechsel geht es um eine oft verwirrende Vielfalt von Themen mit erstaunlichen Gedankenassoziationen - da ist von den beiden vertretenen Wissenschaften Physik und Psychologie ebenso die Rede wie von der abendländischen Wissenschafts- und Geistesgeschichte (etwa am Beispiel von Plotin und Kepler), da geht es aber auch um Alchemie, Astrologie, Zahlenmystik, Parapsychologie, ESP-Phänomene (außersinnliche Wahrnehmung), und sogar UFOs werden diskutiert. Pauli ist der Ansicht, daß "die Entwicklung [der Jungschen Forschung] auf ein engeres Verschmelzen der Psychologie mit der wissenschaftlichen Erfahrung der Vorgänge in der materiellen Körperwelt tendiert", und er fragt, ob bei dem prinzipiell statistischen Charakter der Naturgesetze "nicht genügend Platz [sein sollte] für allerlei Merkwürdigkeiten, für welche schließlich die Unterscheidung von ,psychisch' und ,physisch' ihren Sinn verliert (so wie etwa heute schon die Unterscheidung von ,physikalisch' und ,chemisch')?"s Es geht um das Wechselspiel zwischen Physik und Psychologie, und in diesem Rahmen um das Konzept, das wir Komplementarität nennen, und dessen Wesen (in Paulis Worten von Juni 1948) darin besteht, "die Vereinbarkeit der sich zunächst scheinbar widersprechenden Aspekte der Wirklichkeit zu erkennen ,,6, wobei die Erkundung der Materie (Physik) und der Psyche (Psychologie) als komplementäre Wege zu dieser Wirklichkeit eingeschätzt werden. Beide Briefschreiber sind sich über die umfassende Bedeutung dieser Gedankenführung völlig einig: "Es scheint mir unerlässlich, komplementär zu denken: zu Stoff gehört Nichtstoff, zu oben unten, zu Kontinuität Diskontinuität etc. Das Eine ist die Bedingung des Anderen", schreibt Jung an Pauli7 , der seinerseits konstatiert: "An die Stelle der alten Idee der polaren Gegensätze, wie z. B. des chinesischen Yang und Yzn, tritt daher beim Modernen die Idee der komplementären Aspekte der Phänomene. Wegen der Analogie zur Mikrophysik scheint es mir eine der wichtigsten Aufgaben des abendländischen Geistes, auch in der Psychologie die alte Idee in die neue Form zu übersetzen ". 8 5 Meier (FN 4), S. 36. Die Zitierung erfolgt gemäß der Originalschreibung in den Briefen, d. h. sowohl unter Verwendung der in der Schweiz üblichen ss-Schreibung für das deutsche ß als auch unter Beibehaltung aller Hervorhebungen. 6 Ebd., S. 188. 7 Ebd., S. 117. 8 Ebd., S. 182.

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Die Klavierstunde

Bevor wir seinen Versuchen dazu folgen, soll auf ein erst kürzlich veröffentlichtes Manuskript hingewiesen werden, das unter dem seltsamen Titel "Die Klavierstunde - Eine aktive Phantasie über das Unbewußte" in der Bibliothek der ETH Zürich einzusehen ist9 . Es enthält als eine Art Exkurs die "Vorlesung an die fremden Leute", auf die Primas schon hingewiesen hat und in der sich Pauli über die neue Art von Naturgesetz äußert, die zur Überwindung der deterministischen bzw. vitalistischen Betrachtungsweise beitragen kann, die Pauli einmal als "zu einander komplementäre Irrtümer" charakterisiert. 10 Pauli hat in seinen Briefen und Schriften häufig darauf hingewiesen, daß die Naturwissenschaft seiner Zeit ergänzt werden müßte, um die biologische Abstammungslehre zu verstehen. Der Fortschritt vom traditionellen Determinismus Newtonscher Prägung zur statistischen Gesetzgebung in der Mikrowelt, die ihre biologische Entsprechung in den statistischen Gesetzen Mendels und den zufälligen Mutationen der Gene in Mikroorganismen gefunden hatte, war nur ein erster Schritt auf dieses Ziel zu. Der zweckfreie Zufall, den die Biologen gewöhnlich zu Hilfe nehmen und neben die Kausalität stellen, reichte und reicht nicht aus, um die Gesetzmäßigkeiten der Evolution und die mit ihr verbundene Fortentwicklung zu verstehen. Zufall und Notwendigkeit treten zwar in den Lehr- und Sachbüchern als populäres (komplementäres) Paar auf, aber sie erfüllen ihren Zweck deshalb noch lange nicht. Pauli schreibt nun dazu in diesem als private Gabe konzipiertem Text aus dem Jahre 1953: "Man hat sonach den Eindruck, daß die äusseren physikalischen Umstände einerseits und ihnen angepasste erbliche Veränderungen der Gene (Mutationen) andrerseits, zwar nicht kausal-reproduzierbar zusammenhängen, aber doch einmal - die ,blinden', zufälligen Mutationen korrigierend - sinnhaft und zweckhaft als unteilbare Ganzheit zusammen mit äusseren Umständen aufgetreten sind. " Diese Verbindung liefert neben den deterministischen Gesetzen der klassischen Physik und den statistischen Gesetzen der Quantenmechanik den von Pauli anvisierten "dritten Typus von Naturgesetzen, der in einer Korrektur der Schwankun9 Wissenschaftshistorische Sammlung der ETH Zürich, Pauli-Nachlaß, Hs 85, "Die Klavierstunde - Eine aktive Phantasie über das Unbewußte"; jetzt in: H. Atmanspacher / H. Primas / E. Wertenschlag-Birkhäuser (Hrsg.), Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft, Berlin / Heidelberg / New York 1995, S. 317-330 .. Dieser Text Paulis ist Marie-Louise von Franz gewidmet, die sich nach einem Studium der Altphilologie als Assistentin von C. G. Jung der Tiefenpsychologie insbesondere mit Blick auf eine "psychophysische Einheitswirklichkeit" zuwandte. Hierzu entstanden einschlägige Publikationen zum Verhältnis von Physik und Psychologie: Der Traum des Descartes. Zeitlose Dokumente der Seele, Zürich 1952; Zahl und Zeit, Stuttgart 1970; Zeit. Strömen und Stille, München 1992. Vgl. Max Schoch, Auf der Suche nach dem großen Einen. Marie-Louise von Franz Porträt einer Psychologin, in: Neue Zürcher Zeitung, 5. Februar 1996, Nr. 29, S. 25. 10 Vgl. Primas (FN 1), S. 104.

4 Selbstorganisation, Bd. 7

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gen des Zufalls durch sinnhafte oder zweckmässige Koinzidenzen nicht kausal verbundener Ereignisse besteht. "

Die moderne Evolutionsforschung scheint sich wenigstens in einigen Bereichen auf diese Richtung (natürlich ohne Kenntnis dieser Idee) einzulassen, indem sie mit Begriffen wie Selbstorganisation und Chaos bzw. Antichaos weiterzukommen versucht und auch inzwischen gefunden hat, daß es zwei Wege zu den Mutationen gibt, von denen einer die äußeren Umstände berücksichtigen kann. Sie fügt der traditionellen Genetik eine Dimension hinzu, ohne in Widerspruch mit alten Erklärungen zu geraten. 11 Das von Pauli ins Auge gefaßte "ganzheitliche Auftreten sinngemässer Koinzidenzen", die Übereinstimmung des Sinnes, werden wir später mit dem von C. G. Jung eingeführten Begriff der Synchronizität bezeichnen. 12 Pauli macht es zum komplementären Gegenstück der Kausalität und entwirft - in den oben zitierten Briefen an Jung und Fierz - mit seiner Hilfe ein quaternäres Weltbild aus zwei komplementären Paaren (Abb. la, b). Er beendet seine brieflichen Ausführungen dabei hin und wieder "mit quaternären Grüßen".13 Da das Wort "Synchronizität" über seine erste Hälfte mehr die problematische und eher sekundäre Zeit betont (was ist und was gilt seit der Relativitätstheorie als gleichzeitig?) und weniger den primären Sinnzusammenhang heraushebt, schlägt Pauli vor, besser von "Sinn-korrespondenz" zu sprechen, womit er sich aber nicht durchsetzt. (Vielleicht hätte er mehr Erfolg mit dem hybriden Begriff "Sinn-chronizität" gehabt.) Energie( erhaltung) Kausalität

Synchronizität

Raum-Zeit Kontinuum Abb. la: Wolfgang Paulis Vorschlag einer Quatemität, vgl. Meier (FN 4), S. 60

Unzerstörbare Energie Konstanter Zusammenhang durch Wirkung (Kausalität)

Inkonstanter Zusammenhang Kontingenz bzw. Ähnlichkeit (Synchronizität)

Raum-Zeit-Kontinuum Abb. 1b: Carl Gustav Jungs Version der Quatemität, vgl. Meier (FN 4), S. 64 11 Vgl. S. Kauffmann, Antichaos und Adaptation, in: Scientific American (August 1991), S. 78 - 84; N. Symonds, A fitter theory of evolution?, in: New Scientist (21. September 1991), S.30-34. 12 Vgl. C. G. Jung, Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge; und W. Pauli, Der Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler, in: C. G. Jung/w. Pauli (Hrsg.), Naturerklärung und Psyche, Zürich 1952. 13 Laurikainen (FN 3), S. 134.

Die Nachtseite der Physik

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Die Quaternität stellt die aus Physik und Psychologie bestehende Ganzheit dar, die wir noch ausführlicher beschreiben werden. Was in diesem Rahmen dazu gesagt wird, kann allerdings nur als kleine Hinführung zu dem Briefwechsel PauliJung gemeint sein, der eine unendliche Fülle von Kenntnissen und Ideen vor dem Leser ausbreitet und Stoff zum Nachdenken und Anregung zum Weiterlesen für viele Jahre bietet. Gewarnt sei nur derjenige, der nach systematischen Abhandlungen Ausschau hält. Paulis Manuskripte bzw. manuskriptartig verfaßte Briefe sind zum Teil in einer Sprache abgefaßt, die viele rationale mit mehr phantastischen Elementen verbindet und den Leser auf diese Weise herausfordert. Den Höhepunkt dieser Mischsprache liefert er mit der erwähnten "Klavierstunde", deren Deutung durch jemanden, der sich sowohl in der Psychologie als auch in der Physik wohlfühlt, man nur mit Spannung entgegensehen kann. 14 Der Physiker Wolfgang Pauli

Der in Wien geborene und später vor allem in Zürich lebende Wolfgang Pauli (1900-1958) gehört zwar zu den ganz Großen der Physik, außerhalb seines Faches ist er aber nicht so bekannt wie etwa seine Kollegen Albert Einstein, Niels Bohr oder Werner Heisenberg. Der Respekt dieser Physiker vor Pauli war aber ungewöhnlich groß, wie etwa die folgende Charakterisierung durch Max Born zeigt. Pauli war "ein Genie ... , nur vergleichbar mit Einstein selbst, ja ... rein wissenschaftlich vielleicht noch größer ... als Einstein, wenn auch ein ganz anderer Menschentyp.,,15 Einstein selbst hat Pauli einmal als seinen "geistigen Nachfolger" bezeichnet. 16 Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß der gerade erst 20jährige Student Pauli die ihm übertragene Aufgabe, einen Artikel über die Relativitätstheorie für die große Enzyklopädie der Mathematik zu schreiben, mit einer derartigen Bravour löste, daß Einstein sich zu der Bemerkung veranlaßt sah, das Wiener Wunderkind verstehe die allgemeine Theorie der Relativität besser als ihr Schöpfer selbst. Paulis Jugendwerk gilt heute noch als vorbildlich und unerreichtY Paulis Name taucht heute am häufigsten in Verbindung mit dem sogenannten Pauli-Prinzip auf, das ein Ausschließungs-Prinzip ist und zum Beispiel konstatiert, daß keine zwei Elektronen in einem Atom im gleichen Zustand sein dürfen (etwas 14 Vgl. H. von Erkelens, Wolfgang Pauli and the spirit of matter, in: P. Lahti/P. Mittelstaedt (Hrsg.), Symposium on the Foundation of Modem Physics 1990, Singapur 1991, S.427-439. 15 Albert Einstein - Max Born. Briefwechsel 1916-1955, kommentiert von M. Born, München 1991, S. 293. 16 Vgl. C. P. Enzl K. von Meyenn (Hrsg.), Wolfgang Pauli - Das Gewissen der Physik, Braunschweig 1988. 17 W Pauli, Relativitätstheorie, in: Encyklopädie der Mathematischen Wissenschaften, Bd.5 (1921), Teil 2, S. 539-775.

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Ernst Peter Fischer

genauer gesagt, daß sie sich durch mindestens eine Quantenzahl unterscheiden müssen).18 Pauli hat dieses Prinzip im Jahre 1925 (also im Alter von 25 Jahren) entdeckt und dafür (20 Jahre später) den Nobelpreis für Physik erhalten. Das PauliPrinzip läßt sich zwar einfach formulieren, es hat aber weitreichende Konsequenzen: Mit seiner Hilfe kann die chemische Bindung zwischen Atomen verstanden werden, und es erlaubt den Blick auf sehr tiefe physikalische Zusammenhänge und Symmetrien, die hier nur durch die Stichworte "Spin und Statistik" angedeutet werden können. In Hinblick auf die bereits erwähnte Vierzahl (Quaternität) scheint der Hinweis nicht ohne Bedeutung, daß das Pauli-Prinzip die Erfindung einer vierten (!) Quantenzahl voraussetzt. Erklärt wurden die Eigenschaften der Atome vor 1925 durch drei Quantenzahlen, die als Haupt-, Drehimpuls- und Magnetquantenzahl bekannt und als Tripel (n, 1, m) benannt waren. 19 Paulis vierte Quantenzahl, die eine Vollständigkeit der physikalischen Charakterisierung erreichte, gibt den sogenannten Spin des Elektrons an. 20 So unanschaulich diese Größe auch ist, so überraschend einfach sind ihre möglichen Werte, von denen es nämlich gerade zwei (!) gibt. Es wird niemanden mehr überraschen, wenn wir in Zusammenhang mit Pau1i noch viel über Zweiteilungen hören werden. Weitere fundamentale Beiträge Paulis zur Physik betreffen seine Neutrino-Hypothese aus dem Jahre 1930 und seine Formulierung des sogenannten CPT-Theorems, die er 1955 vorgelegt hat - also gegen Ende seines Lebens. 21 Mit dem Vorschlag, daß es neben den damals bekannten Elektronen und Protonen noch eine weitere Teilchenart gibt, die Pauli zunächst noch Neutron nannte - sie wurde später als "kleines neutrales Teilchen" - als Neutrino eben - identifiziert und in dieser Form in den Zoo der Elementarteilchen eingegliedert -, konnte Pauli einige der Schwierigkeiten lösen, die im Zusammenhang mit dem Beta-Zerfall radioaktiver Atome aufgetaucht waren und die etwa Niels Bohr so verzweifeln ließen, daß der große Däne bereit war, die Gültigkeit des Energiesatzes in Frage zu stellen (um ihm nur noch eine statistische Relevanz zu belassen). Pauli glaubte allerdings fest an die Erhaltungssätze der Physik, vor allem weil sie auf grundlegende Symmetrien der Natur hinwiesen, und er schlug vor, daß der Beta-Zerfall zu verstehen sei, wenn man annimmt, daß neben dem Elektron noch ein weiteres Teilchen - das Neutrino eben - mit verschwindender Ruhemasse aus dem Kern geschleudert würde. Sein Nachweis gelang noch zu Paulis Lebzeiten (1956) und ist inzwischen viel18 W. Pauli, Über den Zusammenhang des Abschlusses der Elektronengruppen im Atom mit der Komplexstruktur der Spektren, in: Zeitschrift für Physik 31 (1925), S. 765 -783. 19 Vgl. zum Beispiel B. Bröker, dtv-Atlas zur Atomphysik, München 1976. 20 Der Begriff der "Vollständigkeit" wird an späterer Stelle noch eine besondere Rolle spielen. 21 Vgl. Enz/von Meyenn (FN 16), S. 431 ff.; und eh. Sutton, Happy Birthday -little neutral one, in: New Scientist (15. Dezember 1990), S. 34-36; sowie W. Pauli, Exc1usion Principie, Lorentz Group and reflection of space-time and charge, in: W. Pauli (Hrsg.), Niels Bohr and the Development ofPhysics, London 1955, S. 30-51.

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Die Nachtseite der Physik

fach abgesichert, aber viele Fragen wie etwa die nach der Neutrino-Masse bleiben in diesem Zusammenhang noch immer ungeklärt, obwohl sie weitreichende Konsequenzen für Struktur und Entwicklung des Universums haben. Beim Beta-Zerfall - so weiß man inzwischen 22 - zerfällt ein Neutron im Atomkern in ein Proton und ein Elektron, das dann mit dem Neutrino herausgeschleudert wird. Ist es angesichts der quaternären Idee wirklich Zufall, daß Paulis Vorschlag eines neuen Teilchen dem ganzen Prozeß der atomaren Umwandlung ein viertes (1) Element lieferte, mit dem schließlich die Deutung abgeschlossen werden konnte und vollständig wurde? Pauli konnte zunächst nicht wissen, daß seine Idee auf eine Quaternität des Beta-Zerfalls hinauslief. Aber gefreut hat ihn das sicher, obwohl mir keine Äußerung dazu bekannt ist. Hauptquantenzahl Drehimpuls

Spin

Proton Neutron

Magnetquantenzahl

Neutrino

Elektron

Abb. 2: Zweimal die Vierzahl in Paulis Physik

Die erwähnten Symmetrien haben Pauli bis zuletzt beschäftigt, und seine eigene umfassende Formulierung dieser grundlegenden Eigenschaft der physikalischen Natur stammt aus dem Jahre 1955, und sie ist - wie erwähnt - als CPT-Theorem bekannt. Die drei Buchstaben kürzen die englischen Ausdrücke "charge" (Ladung), "parity" (Parität) und "time" (Zeit) ab, und Paulis CPT-Theorem besagt, daß die Gesetze der Physik weiter gelten, wenn man zugleich die Vorzeichen der Ladung vertauscht, rechts und links verwechselt (Spiegelbild) und die Richtung der Zeit umdreht. Aus diesem Satz folgt nicht, daß das Spiegelbild eines natürlichen Vorgangs wieder ein Prozeß ist, den es in der Natur gibt. Und tatsächlich gibt es Vorgänge, die asymmetrisch bezüglich rechts und links sind. Sie wurde noch im selben Jahr entdeckt, was Pauli zu der Bemerkung veranlaßte, daß "Gott doch nur ein Linkshänder" sei?3 (Wer sich in diesem Zusammenhang nach einer Vierzahl umsieht, ist noch nicht fündig geworden.) Eine ungewöhnliche Person . ..

Diese vielleicht zu ausführliche Einführung in die theoretisch-physikalischen Arbeiten Wolfgang Paulis läßt sich mit dem Hinweis begründen, daß er der einzige unter den Genies der Quantenphysik ist, über den noch keine Biographie vorliegt. Der Grund für diesen Mangel scheint auf der Hand zu liegen. Paulis äußeres Leben 22 23

Vgl. Bräker (FN 19). Enz/von Meyenn (FN 16), S. 8.

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wirkt ziemlich langweilig. Geboren in Wien, Studium in München, Habilitation in Hamburg, Lehrstuhlangebot aus Zürich und dann Professor an der ETH bis zu seinem Tode, unterbrochen nur durch Aufenthalte in den USA. Seine Veröffentlichungen befassen sich nur mit äußerst schwieriger Grundlagenphysik, sie sind ausschließlich für Fachleute gedacht und bemerkenswert frei von irgendwe1chen konzeptionellen Spekulationen. Philosophische Schriften gibt es nur verstreut und scheinbar am Rande, und da sie sehr gedrängt gefaßt sind und nicht den Glanz und die Eleganz der Texte etwa von Heisenberg oder Schrödinger ausstrahlen, erreichen sie auch deren Popularität nicht. 24 Wer über die gegebene Kurzbiographie ein wenig nachdenkt, wird aber bemerken, daß hier etwas fehlt. Pauli ist nicht nur der einzige große Physiker der Neuzeit, dessen Biographie uns noch nicht vorliegt, er ist auch der einzige, der sich standhaft und erfolgreich geweigert hat, am amerikanischen Manhattan-Projekt mitzuarbeiten, obwohl er in den 40er Jahren in den USA war und vorübergehend sogar amerikanischer Staatsbürger wurde. Pauli verweigerte seine Mitarbeit vordergründig zwar "aus Gewissensgründen", wie der Herausgeber des Briefwechsels mit C. G. Jung schreibt,25 aber die Lektüre der Briefe selbst legt es nahe, daß Pauli dabei viel weiter gesehen hat, nämlich bis zum theologisch-philosophischen "Problem des Bösen" hin, auf das wir hier nur verweisen können. 26 Pauli erwähnt die Atombombe, übrigens, später (in den fünfziger Jahren) noch in einem merkwürdigen philosophischen Zusammenhang, als er beim Schreiben der Briefe mehrmals auf "etwas mehr phantastische Gedanhngänge" geführt wird, die ihn an "die Grenze des heute Erkennbaren" kommen lassen. Er schreibt 1954 an Markus Fierz: "Es könnte doch sein, dass wir die Materie, z. B. im Sinne des Lebens betrachtet, nicht ,richtig' behandeln, wenn wir sie so beobachten, wie wir es in der Quantenmechanik tun, nämlich vom inneren Zustand des ,Beobachters' dabei ganz absehend. Es kommt mir so vor, wie wenn die nicht beachteten ,Nacheffekte ' der Beobachtung dann doch eintreten würden (als Atombomben, allgemeine Angst, ,Fall Oppenheimer' z. B. etc.), aber in einer unerwünschten Form.'m ... und ihre Spaltungen

So zurückhaltend Paulis äußeres Leben auch wirkt, so spannend muß seine innere Biographie gewesen sein, wie sich aus diesen knappen Hinweisen und einigen Andeutungen wenigstens erahnen läßt, die sich eingestreut in den Briefen finden, die er an C. G. Jung geschrieben hat und auf die an dieser Stelle eingegangen wer24 V gl. W Pauli, Physik und Erkenntnistheorie. Mit einleitenden Bemerkungen von Karl von Meyenn, Braunschweig 1984. 25 Maier (FN 4), S. 83. 26 Vgl. Laurikainen (FN 3), Kap. VIII; Meier (FN 4), S. 77 f., 130. 27 Laurikainen (FN 3), S. 144f.

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den soll. Pauli hat nämlich den Kontakt zu dem Psychologen nicht aufgenommen, weil beide Professoren in Zürich waren, Pauli war vielmehr bei Jung in Behandlung. In seinem Fall scheint der "innere Zustand" des Wissenschaftlers auf keinen Fall vernachlässigbar zu sein. Hier finden sich besondere Aspekte der Person Paulis, die uns ebenso wie die erwähnten biographischen Tupfer zum Thema der Komplementarität hinführen werden. Als Stichworte könnte man die Begriffe Spaltung, Zweiteilung, Verdopplung nennen, und um sie wird es in den folgenden Ausführungen immer wieder gehen. Spaltungen und Zweiteilungen spielen sowohl in Paulis wissenschaftlichem Werdegang - das Ausschließungsprinzip hebt "eine klassisch nicht beschreibbare Zweideutigkeit" der Elektronen auf28 - als auch in seinem persönlichen Leben eine große Rolle, und sie machen sicher auch verständlich, warum es ihn über die Komplementarität hinaus zu ihrer Verdopplung hin drängte, zu der gedanklichen Ganzheit namens Quatemität. Die Quaternität interessierte ihn sicher auch, weil sie über die Vierzahl an die heilige Tetraklys der Pythagoräer erinnert und auf diese Weise der rationalen Art, Wissen zu erwerben, eine dazu komplementäre mythische (irrationale) Weise an die Seite stellt. Pauli sieht diese Chance auch für die Biologie, nachdem die Struktur des Erbmaterials entdeckt worden ist: "Die alten Pythagoräer hätten, die Vierzahl verehrend, eine besondere Freude an der quaternären, auf zwei Gegensatzpaaren aufgebauten chemischen Struktur einer Nukleinsäure" gehabt. 29 Es gibt eine sogenannte "bewegte Periode" in Paulis Biographie, und zwar die Zeit zwischen der Entwicklung der Quantentheorie und der Formulierung der Komplementarität (1925-27) und der Aufstellung der Neutrino-Hypothese (Anfang der dreißiger Jahre), die wissenschaftlich natürlich ungeheuer spannend war. Pauli wechselte damals von Hamburg, wo er sich habilitiert hatte, nach Zürich, wo ihm die ETH ein Ordinariat angeboten hatte, das er - mit Unterbrechungen - bis zum Ende seines Lebens innehaben sollte. In einer knappen Einführung in "Leben und Wirkung" Paulis heißt es zu diesem kritischen Lebensabschnitt, er sei "markiert durch eine Heirat von kurzer Dauer und durch Paulis Begegnung mit dem bekannten Zürcher Psychiater Carl Gustav Jung"?O Name und Herkunft von Paulis erster Frau sind nicht leicht in Erfahrung zu bringen - sie hieß Käthe Depper, war sechs Jahre jünger als Pauli und stammte aus Leipzig 31 - und niemand scheint über sie reden zu wollen. Verhindert hat dies offenbar Paulis erst kürzlich verstorbene zweite Frau Franca, die er 1934 in London geheiratet hat. Warum ist die erste "Heirat von kurzer Dauer" (weniger als 12 Monate) überhaupt wichtig? 28 29

30 31

Pauli (FN 24), S. 131. Ebd., S. 128. Enz/von Meyenn (FN 16), S. 8. Hermann et al. (FN 2), Bd. 2, S. 726.

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Der Twen Pauli, das erwachsen werdende Wunderkind der Physik, verweigerte sich der Bürgerlichkeit. Er scheint in Hamburg viel in Bars herumgekommen und mit Prostituierten und Morphinsüchtigen zusammengetroffen zu sein und auch in diesen Kreisen seine erste Frau gefunden zu haben: Pauli war damals offenbar psychisch krank. Er merkt zu dieser Zeit sehr viel später (1955) und fast schon gegen Ende seines Lebens an: "Damals vor dreissig Jahren war meine Neurose schon deutlich vorgezeichnet in der vollkommenen Spaltung zwischen Tag- und Nachtleben in meiner Beziehung zu Frauen." Bei dem bald erfolgenden Wechsel in die Schweiz fuhr er dann zugleich "meiner neuen Professur und meiner großen Neurose" entgegen. 32 Diese Neurose, die ihn mit C. 1. Jung in Kontakt bringt, sorgt nun für eine andere tiefe Spaltung in Paulis Leben. Mit der Professur in Zürich ändert Pauli nicht nur seinen Wohnort, er ändert vor allem seine Person, das heißt, er versucht es wenigstens, und die Hilfe dazu stammt von C. G. Jung. Als Pauli in der Schweiz eintrifft, hat er sein "seelisches Gleichgewicht" völlig verloren, und er faßt in einem Brief aus dem Jahre 1939 zusammen, woran dies lag: "Ich war in meiner ersten Lebenshälfte zu anderen Menschen ein zynischer, kalter Teufel und ein fanatischer Atheist u. intellektueller 'Aufklärer",?3 Es ist dieser Pauli der ersten Lebenshälfte, den die Physiker und Wissenschaftler meinen, wenn sie vom "fürchterlichen Pauli" sprechen, dem "Monsterrnind", die "Geissei Gottes", der seine Kollegen gnadenlos kritisierte und verhöhnte ("So jung und schon so unbekannt", "Das ist nicht richtig, was Sie sagen, das ist noch nicht einmal falsch"). Er trat als unbeugsames "Gewissen der Physik" auf, das unbarmherzig alle Fehler entlarvte und verurteilte. Pauli war später stolz darauf, daß er - in dieser ersten Lebenshälfte - nie etwas Falsches als richtig bewertet hat - obwohl er später vieles, was richtig, war, zunächst als falsch einschätzte. Jung wies diesen neurotischen kalten Teufel Pauli darauf hin, daß es außer dem Verstand noch etwas anderes gäbe. Man könne vier Grundfunktionen des Bewußtseins unterscheiden, die als zwei Gegensatzpaare darzustellen sind und dabei ein Quaternio bilden: Denken und Fühlen einerseits und Intuition und Empfindung andererseits (Abb. 3). Denken Intuition

Empfindung

Fühlen

Abb. 3: C. G. Jungs vier Funktionen des Bewußtseins, die durch Farben repräsentiert werden können: Denken - Blau, Fühlen - Rot, Empfinden - Grün, Intuition - Gelb

32 33

Meier (FN 4), S. ISO. Ebd., S. 31.

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Eine Person, so Jung, könne nur eine Persönlichkeit sein, wenn sich diese vier Funktionen in relativ harmonischem Gleichgewicht befinden. Der für einen Menschen erstrebenswerte Endzustand sei durch analytische Arbeit zu erreichen, einen Vorgang, den Jung als "Individuation" bezeichnete und an den sich Pauli in seiner nun beginnenden zweiten Lebenshälfte heranwagt. Sein Mut wird belohnt, und 1955 kann er zufrieden feststellen: "In meinen jüngeren Jahren war, so scheint es mir, die Denkfunktion die meistdifferenzierte, entsprechend das Gefühl die minderwertige Funktion. Heute halte ich die Intuition für meine am meisten differenzierte Funktion, mit dem Gefühl scheint es dementsprechend besser zu gehen und die minderwertige Funktion ist die äussere Wahrnehmung ".34

Zweiteilung Insgesamt fühlt sich Pauli zwar nicht mehr so leistungsfähig wie in seinen Wunderkindjahren, aber er wird dafür mit einer stärker ausgeglichenen Gestimmtheit der Seele belohnt, die ihn in der zweiten Hälfte seines Lebens innerlich ruhiger und gelassener sein läßt. (In diesem Abschnitt seiner Biographie, dessen Beginn wir noch genauer bestimmen werden, wirkt der Physiker Pauli übrigens vor allem durch eine umfangreiche wissenschaftliche Korrespondenz, die er von Zürich aus mit aller Welt führt und die eine wunderbare Fundgrube für die Geschichte der modemen Physik ist.) Eine seelische Komplikation scheint sich erst ganz am Ende wieder einzustellen, und sie soll hier erwähnt werden, weil sie mit Zweiteilung zu tun hat und eine seit langem unverständliche Passage der Erinnerungen von Wemer Heisenberg erhellen könnte. Es geht um die Folge der erwähnten Symmetrieabweichung, die 1957 beim Beta-Zerfall beobachtet worden war. Einige Neutrinos kamen nur in der Linksform vor. Möglicherweise - so überlegten Pauli und Heisenberg damals - fehlt den fundamentalen Naturgesetzen ebenfalls diese Rechts-links-Symmetrie, die erst nachträglich - in Form einer mathematischen Verdopplung oder Zweiteilung - in die den Beta-Zerfall erfassenden Gleichungen (Gesetze) hineinkommen. Pauli glaubte sogar, so äußerte er sich Heisenberg gegenüber, "daß alle wirklichen Symmetrien der Natur durch eine Folge von Zweiteilungen zustande gekommen sind,,?5 Heisenberg schreibt: "Mit jedem Schritt, den Wolfgang in dieser Richtung tat [er steuerte den Fe1dgleichungen die fehlende Symmetrien durch Zweiteilung bei, Erg. v. Verf.], geriet er in einen Zustand immer größerer Begeisterung. Ich habe nie vorher und nie nachher im Leben Wolfgang in einer solchen Erregung über Vorgänge in unserer Wissenschaft gesehen." Kurz vor dem Weihnachtsfest 1957 erhält Heisenberg einen Brief von Pauli. Hier heißt es: " ... Zweiteilung und Symmetrieverminderung, das ist des Pudels Kern. Zweiteilung ist ein sehr altes Attribut des 34

35

Ebd., S. 136. W Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1973, S. 271.

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Teufels (das Wort ,Zweifel' soll ursprünglich Zweiteilung bedeutet haben.) ... Darum soll er auch zum Weihnachtsfest nicht fehlen. Die bei den göttlichen Herrn Christus und Teufel - sollen nur merken, daß sie inzwischen viel symmetrischer geworden sind".36 Doch kurz nach Beginn des neuen Jahres 1958 - seinem Todesjahr - wendet sich Pauli brüsk von dieser Konzeption ab, und er teilt Heisenberg mit, daß er erstens anderer Ansicht sei und sich zweitens zu müde fühle, um hier weiterzumachen. Die gemeinsame Hoffnung mußte aufgegeben werden, und die von Pauli anvisierte Zweiteilung ist bis heute noch nicht gelungen. Der Pauli-Effekt

Da sich das Quaternio der Bewußtseinsfunktionen so segensreich für Pauli als Person ausgewirkt hat, versteht man unmittelbar, warum ihn diese Konstruktion einer Ganzheit auch über seine Person hinaus interessierte und er sie quasi zum Weltbild erhob. Damit er dies tun konnte, mußte Pauli die Trinität der Physik seiner Zeit - den Dreiklang aus Energie, Raumzeit und Kausalität - durch die erwähnte Idee der Synchronizität ergänzen, woran ihm auch deshalb so lag, weil er die Existenz dieser Sinn-Korrespondenz ganz persönlich erfahren hat. Als sich Pauli nämlich anhand von Jungs Quaternio der Funktionen darüber klar wurde, daß es in ihm, dem hochwertigen Genie, eine minderwertige Funktion gab, das Gefühl nämlich, ereignete sich die folgende von Pauli erzählte Geschichte: Er saß allein an einem Fenstertisch des Cafe Odeon in Zürich und grübelte über seine minderwertige Funktion Gefühl nach, für die Jung die Farbe des Feuers, Rot, vorgesehen hat. Dabei starrte Pauli unentwegt auf ein vor dem Cafe geparktes leeres Auto, das plötzlich und ohne ersichtlichen Grund zu brennen anfing?? Pauli betrachtete dieses Vorkommen als Beispiel einer Synchronizität, also als Beispiel für zeitlich oder räumlich verbundene Erscheinungen - sein Grübeln und das Entflammen -, deren Koinzidenz zwar nicht kausal zu erfassen ist, die aber auf einen sinnvollen Zusammenhang hinweist. Pauli selbst spricht bei speziellen Synchronizitäten im physikalischen Ambiente ohne Scherz vom "Pauli-Effekt", der zum Beispiel ein Zyklotron abbrennen läßt. 38 Unter Physikern wurde immer davon erzählt, daß die Anwesenheit von Pauli in einem Laboratorium fast unweigerlich dazu führte, daß das gerade durchgeführte Experiment mißlang. Irgendein Gerät funktionierte plötzlich nicht mehr. Einmal konnte sogar nachgewiesen werden, daß eine Apparatur in Göttingen genau in dem Augenblick ausfiel, in dem Pauli, der von Zürich nach Kopenhagen unterwegs war und in Göttingen umsteigen mußte, auf dem Bahnhof stand und seinen Anschluß36 37 38

Heisenberg (FN 35), S. 272 f. Meier (FN 4), S. 230. Enz/von Meyenn (FN 16), S. 115.

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zug erwartete. Was unter Physikern bislang bestenfalls als schrullige Anekdote verhandelt worden ist, gewinnt nun unter dem zur Kausalität komplementären Aspekt der Synchronizität neue Bedeutung. Hier zeigt sich die Möglichkeit einer Wechselwirkung zwischen Psyche und Physis, die Beeinflussung der Materie durch einen geeigneten Geist bzw. dessen Bewußtseinslage, die so sorgfältig erörtert werden muß, wie Jung und Pauli dies tun. Pauli fragt zum Beispiel ganz vorsichtig: "Wenn aber diese Phänomene [im Bereich der Mikrophysik, in der der Beobachter wenigstens einen ,kleinen Herrn der Schöpfung' spielen darf, Erg. v. Verf.] davon abhängen, wie (mit welcher Versuchsanordnung) sie beobachtet werden, gibt es dann nicht vielleicht auch Phänomene (extra corpus), die davon abhängen, wer sie beobachtet (d. h. von der Beschaffenheit der Psyche des Beobachters)?39 Und er weist darauf hin, daß statistische Mittelwertbildungen Synchronizität nicht feststellen können, da sie den (unbewußten) psychischen Zustand etwa eines Astrologen eliminieren. Ein davon "unabhängiges positives Resultat wäre ... mit der uns bekannten Kausalität der Vorgänge im Widerspruch. In Wahrheit", so Pauli 1950, "ist die Natur eben so beschaffen, dass - analog zur Bohr'schen 'Komplementarität' in der Physik - ein Widerspruch zwischen Kausalität und Synchronizität niemals feststellbar ist".4o Träume

Wir haben noch nicht alle Spaltungen in Paulis Leben erwähnt. Pauli hatte zu Beginn seiner Behandlung bei Jung Angst, daß - wie er 1939 als knapp Vierzigjähriger schreibt - "ich in der zweiten Lebenshälfte von einem Extrem ins andere falle" und er etwa vom fanatischen Atheisten zum kriminellen Raufbold wird. Er hofft diesen Absturz auch dadurch zu vermeiden, daß er erneut heiratet, und zwar eine Frau, die "ein ähnliches Gegensatzproblem, aber das umgekehrte wie ich" hat. 41 Das Ergebnis der Ehe mit Franca Bertram bringt zum einen tatsächlich die erhoffte Wirkung, sie bringt zum anderen aber noch eine ganz unerwartete Neuerung in Paulis Leben, ohne die meiner Ansicht nach nicht zu verstehen ist, was er über Komplementarität denkt und schreibt. Es tritt nämlich eine dritte Spaltung in Paulis Leben ein, die oberflächlich wieder mit Tag und Nacht zu tun hat, die darüber hinaus aber die Trennung zwischen Bewußtem und Unbewußten spürbar und wirksam - also zur Wirklichkeit - werden läßt. Pauli beginnt zu träumen: "Bald nachdem ich 1934 geheiratet hatte und meine analytische Behandlung beendet war, begann jene physikalische Traumsymbolik", wie er Jung in einem späteren Brief erinnert. 42 Wichtig ist die Idee des Symbols, mit der er sich ausführlich beschäftigt. (Atome etwa sind für Pauli weder materielle Dinge noch gedankliche 39 40 41

42

Meier (FN 4), S. 36. Ebd., S. 57. Ebd.,S.31. Ebd., S. 122.

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Vorstellungen, sondern Symbole, und die Suche nach der physikalischen Wirklichkeit ist eigentlich die Frage nach der Wirklichkeit der Symbole. Pauli definiert zudem mathematische Begabung durch die Fähigkeit, die Symbolkraft der mathematischen Zeichen erkennen zu können.) Pauli träumt von physikalischen Begriffen, die als Symbole auftreten können, wie zum Beispiel Welle, Atom, Kern oder die Radioaktivität. Nachdem ihm seine Träume anfangs "anstössig, nämlich wie ein Missbrauch wissenschaftlicher Terminologien" erschienen, bemerkte er bald ihren "objektiven, d. h. von der Person weitgehend unabhängigen Charakter", und er erkannte, daß seine Träume ihm "eine Art von ,zweitem Sinn' der verwendeten Begriffe" vermittelten. Er nennt das Auftreten von quantitativen Begriffen der Physik in spontanen Phantasien bald "Hintergrundsphysik" und vermutet - mit Jungs Hilfe -, daß ihm damit die "archetypischen Grundlagen der in der heutigen Physik tatsächlich angewandten Begriffe" enthüllt werden. 43 Pauli beginnt nun, auch die innere Erfahrung eines Forschers zu verarbeiten und bei dem Versuch einzusetzen, sich der Wirklichkeit zu nähern. Archetypus

Damit ist ein weiterer grundlegender Begriff gefallen, der zu erläutern ist, bevor wir näher auf die Träume eingehen können. "Archetypus" als heutiger psychologischer Begriff geht auf C. G. Jung zurück und meint einen (mir immer ein wenig unverständlich bleibenden) unanschaulichen formalen Faktor des Psychischen, so etwas wie die psychische Repräsentanz der Instinkte. Pauli geht mit dem Begriff genauer um. Er spricht von Strukture1ementen des Unbewußten - etwa vom Archetyp der Quaternität - und weist auf dessen frühere Verwendung bei Johannes Kepler hin, der an präexistente innere Bilder der menschlichen Psyche glaubte, die zu Erkenntnissen führen, wenn sie mit äußeren Objekten und ihrem Verhalten zur Deckung kommen. Diese Urbilder nannte Kepler archetypisch. Pauli weist nun auf die Einsicht der Psychologie hin, daß jedes rational formulierbare Verstehen durch Prozesse im Unbewußten eingeleitet wird. Auf dieser archaischen Vorstufe des Wissens gibt es statt klarer Begriffe Bilder mit starkem emotionalem Gehalt, die "gleichsam malend geschaut" werden. Pauli spricht in Übereinstimmung mit Jung von "symbolischen Bildern" und beschreibt nun die Archetypen "als anordnende Operatoren und Bilder in dieser Welt der symbolischen Bilder", die als Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Ideen funktionieren. 44 Die Archetypen als Teil der Psyche weisen übrigens ihre besondere Form der Komplementarität auf, und sie hängen mit der Sinn-Korrespondenz zusammen, die wir Synchronizität genannt haben. In einem langen Brief aus dem Jahre 1953 weist Jung Pauli darauf hin, daß so wie ein Elektron - der Komplementarität wegen - als 43 44

Ebd., S. 176 f. Ebd., S. 200; vgl. auch W Pauli (FN 12).

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Korpuskel und Welle existiert, so besteht der "Archetypus (als Strukturelement des Unbewussten) ... einerseits aus statischer Form, andererseits aus Dynamis". Er schreibt dann weiter: Archetypen sind "einerseits Ideen (im platonischen Sinn), andererseits direkt mit physiologischen Vorgängen verknüpft und in Fällen von Synchronizität erscheinen sie gar als Arrangeure physischer Umstände, so daß man sie auch als eine Eigenschaft des Stoffes (als eine ,Sinnbehaftetheit' desselben) betrachten kann".45 Träume, noch einmal

Mit den Träumen ist Pauli wahrhaft gespalten - in den wachen und schlafenden Menschen und in den öffentlichen Physiker und privaten Traumdeuter, der erst jetzt zugänglich wird. Dabei geht es trotz aller Verdopplungen immer nur um eine Sache, nämlich eine einheitliche Naturbeschreibung, die sowohl die Physis als auch die Psyche umfaßt. Um zu diesem Ziel der Einheit zu gelangen, "scheint zunächst ein Rückgriff auf die archetypischen Hintergründe der naturwissenschaftlichen Begriffe notwendig zu sein", und dabei gerät er als Physiker notwendig in die Psychologie, und er wartet auf den Psychologen, der ihm entgegenkommt, denn "da ich Physik und Psychologie als komplementäre Untersuchungsrichtungen betrachte, bin ich sicher, daß ein völlig gleichberechtigter Weg existiert, der den Psychologen ,von hinten' (nützlich über die Untersuchung von Archetypen) in die Physik führen muss".46 Paulis frühere Träume handeln selbst auch von Spaltungen und Trennungen. Eine von ihm auch subjektiv so betrachtete Autorität auf einem Spezialgebiet der Physik tritt auf und erklärt, "die Zerlegung einer Spektrallinie in ein Dublett oder, in anderen Fällen, die Zerlegung eines chemischen Elementes in zwei Isotope sei von fundamentaler Wichtigkeit" (Abb. 4).47 Wir übergehen viele Details und stellen gemeinsam mit Pauli die Frage nach dem "zweiten Sinn". Um sie beantworten zu können, muß man - nach Pauli - zumindest versuchen, die Aussagen der Träume in eine Sprache zu übersetzen, die hinsichtlich der Unterscheidung von Physikalischem und Psychologischem "neutral" ist. Man muß zudem auch herausfinden, was die zentralen Begriffe und Konzepte sind, die der Traum anspricht. Pauli entscheidet sich für Frequenz (bei der Spektrallinienaufspaltung) und für Masse (bei der Isotopentrennung). Er unternimmt nun (in seiner "Hintergrundsphysik") eine raffiniert gewundene Wanderung durch die Welt des Geistes, um letztlich bei der Vorstellung anzukommen, daß "die Vorstellung ,Frequenz' psychologisch mit dem Gegensatzpaar bewußt - unbewußt in Verbindung gebracht wird, wobei der gewöhnliche Zeitbegriff nicht vorausgesetzt wird". 45

46 47

Ebd., S. 101. Ebd., S. 177. Ebd., S. 179.

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oder auch

Einfachlinie

Dublett (Fall der D-Linie)

Dublett

Abb. 4: Die Aujspaltung einer Spektrallinie. wie Pauli sie in seiner "Hintergrundsphysik" skizziert

Natürlich ist es rational nicht einzusehen, daß Frequenz oder Masse etwas mit dem Niveau des Bewußtseins zu tun haben sollen, und ein direkter Zusammenhang zwischen den physikalischen Daten von Frequenz oder Masse mit Bewußtsein besteht ganz sicher nicht ("ein schneller physikalischer Vorgang verläuft ebenso ohne Bewußtsein wie ein langsamer, und ein schweres Atom hat ebensowenig Bewußtsein wie ein leichtes"). "Aber die hier erläuterte Ideenassoziation zwischen Niveau des Bewußtseins und Frequenz, zwischen Dublettaufspaltungen von Spektrallinien oder Isotopentrennung und Verdopplung eines psychischen Inhaltes bei Bewußtwerdung stellen sich unmittelbar und spontan ein - analog wie in der Physik die Beziehung zwischen Frequenz und Energieniveaus, die rational auch nicht apriori einzusehen war, in der Natur einfach vorgefunden wurde".48 (Historisch war es die für die Physiker zwar schockierende, aufgrund experimenteller Befunde aber zwingende Aufstellung dieser Beziehung durch Max Planck im Jahre 1900, die zu der revolutionären Quantentheorie und allen damit zusammenhängenden Konsequenzen wie etwa der Komplementarität führte. Der Faktor, der dabei zwischen Energie und Frequenz vermittelt, ist das berühmte Quantum der Wirkung, das mit h abgekürzt wird.) Pauli faßt seine Traumdeutung in der "Hintergrundsphysik" von 1948 durch "tiefere archetypische Entsprechung der komplementären Gegensatzpaare" zusammen (Tab. 1). Er notiert dazu abschließend: "Von der Psychologie aus gesehen scheinen die physikalischen Gesetze als ,Projektion' archetypischer Ideenverbindungen, während von Aussen gesehen auch das mikrophysikalische Geschehen als archetypisch aufzufassen wäre, wobei dessen ,Spiegelung' im Psychischen eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Erkennens ist. Zusammenfassend können wir das aufgeführte Material so interpretieren, daß das Unbewusste spontan eine Abbildung des einen komplementären Ge48

Ebd., S. 187.

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gensatzpaares auf das andere vollführt, wobei das Energieniveau oder der Massenwert auf der einen Seite dem Niveau des Bewusstseins auf der anderen Seite symbolisch entspricht" .49

Tab. 1: Die komplementären Gegensatzpaare der "Hintergrundsphysik" von 1948

Physik

Psychologie

Objekt

Unzerstörbare Energie u. Bewegungsgrösse

Zeitloses Objektiv-Psychisches

Subjekt

bestimmter raum-zeitlicher Ablauf

Ich-bewusstsein -

Zeit

Vollständigkeit Mit den Träumen erlebt Pauli das Unbewußte als neue Dimension, und er schreibt in einem langen Brief vom Mai 1953, was sich dadurch in ihm und für ihn ereignet hat: "Seit dieser Zeit [seit dem Einsetzen der Träume] baute mir das Unbewusste, anfangs gegen außerordentlich starke bewusste Widerstände, eine correspondentia zwischen Physik (mit Mathematik) und Psychologie synthetisch auf. Umgekehrt wie die jetzige Physik und komplementär zu ihr opfert der Standpunkt des Unbewussten die genannten traditionellen Voraussetzungen der Objektivität (die es im Gegenteil als störend empfindet) und wählt stattdessen (in Einklang mit der Natur!) die Vollständigkeit.,,5o Pauli weist auf das Gegensatzpaar " Vollständigkeit versus Objektivität" hin, und er meint damit genauer, daß "eine prinzipiell statistische Beschreibungsweise der Natur", wie sie die damals neue Quantenphysik liefert, "komplementär nach einer Erfassung auch des Einzelfalles verlangt".51 (Hinter dieser Forderung steckt - siehe weiter unten - das komplementäre Paar rational- irrational.)

49 50 51

Ebd., S. 187 f. Ebd., S. 122. Ebd., S. 121.

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Der Konflikt zwischen Vollständigkeit und Objektivität erinnert den mit der Physik-Geschichte Vertrauten an die Auseinandersetzung zwischen Bohr und Einstein, die beide versucht haben, Pauli von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Pauli erlebte also auch in dieser tiefreichenden philosophischen Debatte eine Spaltung, und er versucht durch einen raffinierten Ausweg eine vermittelnde Position einzunehmen: "Ich sagte damals zu Herrn Bohr", so schreibt er 1955 an Jung, "Einstein halte für eine Unvollständigkeit der Wellenmechanik innerhalb der Physik, was in Wahrheit eine Unvollständigkeit der Physik innerhalb des Lebens sei. Diese Formulierung hat Herr Bohr sofort akzeptiert. Ich hatte damit allerdings zugegeben, daß irgendwo doch eine Unvollständigkeit vorhanden war, wenn auch ausserhalb der Physik, und Einstein hat seither immer wieder versucht, mich auf seine Seite zu bringen. ,,52. Paulis erster großer Traum handelt dann auch von Einstein, indem ein ihm ähnlich sehender Mann eine Figur auf eine Tafel zeichnet (Abb. 5). Pauli deutet diese Zeichnung so: sie "zeigte mir die Quantenmechanik, und damit die offizielle Physik überhaupt, als eindimensionalen Ausschnitt einer zweidimensionalen sinnvolleren Welt, deren zweite Dimension wohl nur das Unbewusste und die Archetypen sein konnten".53

(schraffierte Fläche

Quantenmechanik

von Kurve

durchz~)

enhang

Abb. 5: Paulis zeichnerische Darstellung des Einstein-Traums, vgl. Meier (FN 4), S. 122

Pauli versteht nun nicht nur Einsteins Suche nach Vollständigkeit besser, er weiß auch, wo sie hätte ansetzen müssen und schreibt an Jung: ~,Es ist das unausweichliche Schicksal der mit statistischen Naturgesetzen operiere~den Physik, nach Vollständigkeit suchen zu müssen. Dabei wird sie aber notwendig auf die Psychologie des Unbewussten stossen müssen, da eben dieses und die Psyche des Beobachters 52 53

Ebd., S. 121. Ebd., S. 122.

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das ihr Fehlende ist", und fährt dann fort: ,,so wie nun die Physik nach Vollständigkeit sucht, so sucht Ihre analytische Psychologie nach Heimat. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß diese wie ein illegitimes Kind des Geistes außerhalb der allgemein anerkannten akademischen Welt ein esoterisches Sonderdasein führt. Hierdurch ist aber der Archetypus der Coniunctio konstelliert. Ob und wann diese Coniunctio sich realisieren wird, weiß ich nicht, aber ich habe keinen Zweifel, dass sie das schönste Schicksal wäre, das der Physik wie der Psychologie widerfahren könnte".54

Die Coniunctio (Gegensatzvereinigung) Offenbar ist Pauli bemüht, eine Beziehung zwischen den vielfach komplementären Bemühungen der Physiker und Psychologen herzustellen, und er unternimmt dazu viele Anstrengungen. Im Zusammenhang mit dem Einstein-Traum von 1934 macht er einen Vorschlag, der wieder die Idee der Quaternität nutzt: "Meine Beziehung zu Physik und Psychologie kann ich versuchsweise durch den Quaternio Einstein Jung

Bohr Pau1i

darstellen, in welchem die Personen für geistige Haltungen stehen und Sie natürlich ihre analytische Psychologie repräsentieren".55 Pauli sieht in Physik - Psychologie ein "Gegensatzpaar, das offenbar nach Überwindung durch eine Coniunctio verlangt',56 und er kennt auch das Vorbild dafür, an dem man sich orientieren kann. Er schreibt Jung im Mai 1952: "Es scheint mir nämlich in der Komplementarität der Physik mit ihrer Überwindung des Gegensatzpaares ,Welle - Teilchen' eine Art Modell oder Vorbild für jene andere, umfassendere Coniunctio vorzuliegen. Die kleinere ,Coniunctio' im Rahmen der Physik, die von Physikern konstruierte Quanten- oder Wellenmechanik, weist nämlich, ganz ohne Absicht ihrer Erfinder, gewisse Merkmale auf, die auch für die Überwindung der anderen ... Gegensatzpaare verwertbar sein dürften".57 Zu den "anderen Gegensatzpaaren" gehören neben Physik und Psychologie noch Mystik und Naturwissenschaft sowie intuitives Fühlen und wissenschaftliches Denken. Pauli stellt dann eine umfassende Tabelle (Tab. 2) zusammen, in der er seine Analogie präzisiert: 54 55 56 57

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

123. 122. 87. 93.

5 Selbstorganisation, Bd. 7

66

Ernst Peter Fischer Tab. 2: Paulis Analogien, vgl. Meier (FN 4), S. 93 f.

Quantenphysik

Psychologie des Individuationsprozesses und des Unbewussten überhaupt.

einander ausschliessende komplementäre Versuchsanordnungen zur Messung des Ortes einerseits, der Bewegungsgrösse anderersei ts.

naturwissenschaftliches Denken - intuitives Fühlen.

Unmöglichkeit, die Versuchsanordnung zu unterteilen, ohne das Phänomen wesentlich zu ändern.

Ganzheitlichkeit des aus Bewusstem und Unbewusstem bestehenden Menschen.

Unberechenbarer Eingriff bei jeder Beobachtung.

Veränderung des Bewusstseins und des Unbewussten bei jeder Bewusstwerdung, speziell beim Vorgang der Coniunctio.

Das Resultat der Beobachtung ist eine irrationale Aktualität des Einmaligen.

Das Resultat der Coniunctio ist das infans solarls, die Individuation.

Die neue Theorie ist die objektive, rationale und eben deshalb symbolische Erfassung der Möglichkeiten des Naturgeschehens, ein genügend weiter Rahmen, um auch die irrationale Aktualität des Einmaligen aufzunehmen.

Die objektive, rationale und eben deshalb symbolische Erfassung der Psychologie des Individuationsprozesses, weit genug, um die irrationale Aktualität des einmaligen Menschen aufzunehmen.

Zu den Hilfsmitteln der Theorie gehört ein abstraktes mathematisches Zeichen 'Ij;, komplexe Zahlen (Funktionen) in Abhängigkeit vom Raum (oder von noch mehr Veränderlichen) und von der Zeit.

Das Hilfsmittel der Theorie ist der Begriff des Unbewussten. Man soll nicht vergessen, dass das "Unbewusste" unser symbolisches Zeichen ist für die Möglichkeit des Geschehens im Bewusstsein, gar nicht so unähnlich jenem 1/;.

Die zur Anwendung kommenden Naturgesetze sind statistische Wahrscheinlichkeitsgesetze. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff enthält wesentlich das Motiv "das Eine und die Vielen".

Es wird eine Verallgemeinerung des Naturgesetzes vorgenommen durch die Idee einer sich selbst reproduzierenden "Gestalt" des psychischen oder psychophysischen Geschehens, auch "Archetypus" genannt. Die hierdurch zu Stande kommende Struktur des Geschehens kann als "Automorphismus" bezeichnet werden. Sie ist psychologisch gesprochen "hinter" dem Zeitbegriff.

Das Atom bestehend aus Kern und Hülle.

Die menschliche Persönlichkeit bestehend aus "Kern" (oder "Selbst") und "Ich".

Sein oder Nichtsein Pauli legt dieses Schema in einer Art Arbeitsrausch vor, der ihn nach einer längeren Reise durch Indien (1952) gepackt hat. Das fernöstliche Land, das "selbst ein Ort extremster Gegensätze" ist, wirkte "durch Belebung aller Gegensätze in

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mir ausserordentlich anregend auf mich", wie er in dem gleichen Brief schreibt. Er zieht hier auch so etwas wie die Summe seines Denkens im Komplementarität und erläutert, was es seiner Sicht nach mit dem Paar "rational - irrational" auf sich hat, mit dem wir diesen Beitrag begonnen haben. Die Quantentheorie kommt - Pauli zufolge - durch die Zulassung von Möglichkeiten, die nicht mehr unabhängig vom Beobachter existieren, mit der alten Ontologie in Konflikt, die a la Einstein einfach sagen konnte, die Physik beschreibt die Wirklichkeit. Es ist nicht mehr möglich, physikalische Eigenschaften durch "seiend" oder "nicht-seiend" zu charakterisieren, da sie nur durch statistische Versuchsreihen unterschiedlicher Anordnung kontrolliert werden können, die sich unter Umständen gegenseitig ausschließen. Genauer gesagt: "Die komplementären Eigenschaften des Elektrons (und der Atome) (Welle und Teilchen) sind in der Tat ,der Möglichkeit nach seiend', aber eine von ihnen ist stets ,der Aktualität nach seiend'. Deshalb kann man wohl sagen, die nicht mehr klassische Naturwissenschaft sei zum ersten Mal eine wahre Theorie des Werdens.,,58 Damit erfährt - nach Pauli - endlich "die in der antiken Philosophie begonnene Auseinandersetzung über ,seiend' und ,nicht seiend' ihre modeme Fortsetzung", und er erläutert Jung, weshalb er dies denkt: "In der Antike bedeutete ,nicht seiend' nicht etwa schlechthin nicht vorhanden, sondern diese Charakterisierung weist stets auf eine Denkschwierigkeit hin. Nicht seiend ist das, worüber nicht gedacht werden kann, was sich der Erfassung durch den denkenden Verstand entzieht, was sich nicht in Begriffen einfangen und bestimmen läßt. In diesem Sinne, will es mir scheinen, war für die antiken Philosophen Sein oder Nichtsein die Frage". Und er fügt als Fußnote hinzu: "In dem Sinne, in welchem die Alten ,nicht seiend' gesagt haben, sagen wir heute zutreffender ,irrational' oder ,dunkel'. ,,59 So verstanden erschienen zum Beispiel das Werden und das Veränderliche - und damit die Materie - als nicht seiend. Erst Aristoteles löste diesen Konflikt, indem er ihm auswich, sich das Konzept "der Möglichkeit nach seiend" ausdachte und auf die "hyle" anwendete (die Cicero mit "materia" übersetzte). Mit der Quantenmechanik war man nun endlich in der Lage, den von Aristoteles - "in noch recht unklarer Weise" (Pauli) - begonnenen Weg fortzusetzen. Sie schuf "die rationale, objektive, symbolische Beschreibung der Möglichkeit des Einmaligen. Die Gegensatzposition hierzu ist die irrationale Aktualität des Einmaligen selbst".60 Irrationalität entsteht durch Beobachtung, und "das die Wirklichkeit gültig und adäquat ausdrückende Symbol muß vielmehr - anders als die klassische Physik den irrationalen Eingriff der Beobachtung als Potentialität bereits mitausdrük58 59 60

5*

Ebd., S. 95. Ebd., S. 94. Ebd., S. 92.

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Ernst Peter Fischer

ken".61 Beobachten können natürlich nur Menschen, und an dieser Stelle versucht Pauli die Verbindung zur Psychologie herzustellen. Er vermutet in einem unpublizierten Manuskript, das er an Fierz schickt: "Vielleicht ist ,Persönlichkeit' eben gerade jener einmalige irrationale Eingriff in die Phänomene, der in der ,objektiven' naturwissenschaftlichen Beschreibung nur als Möglichkeit symbolisch ausgedrückt sein kann." Pauli möchte den aristotelischen Ausweg aus dem Konflikt zwischen ,seiend' und ,nicht seiend' nun auf den Begriff des Unbewußten anwenden, und zwar so, wie er es in dem angegebenen Schema (Tab. 2) getan hat. Das Unbewußte hat viel mit dem Atom gemeinsam. Beide wurden auf rationalem Weg gefunden, obwohl sie nicht direkt sinnlich wahrnehmbar sind. Das Unbewußte ist weder ,nicht seiend', wie vielfach behauptet wird, noch kann man es (ebensowenig wie Archetypen und Ideen überhaupt) an überhimmlischen Orten oder in metaphysischen Räumen finden. Das Unbewußte ist ,,(ebenso wie die Eigenschaften des Elektrons und der Atome) als ,der Möglichkeit nach seiend' aufzufassen: Es ist eine legitime Bezeichnung des Menschen für Möglichkeiten des Geschehens im Bewußtsein und gehört als solche der echten symbolischen Wirklichkeit der ,Dinge an sich' an. Wie alle Ideen ist das Unbewusste zugleich im Menschen und in der Natur". Neben dem Umgang mit dem Unbewussten tritt in der Psychologie noch das Problem auf, sich nicht nur wie die Physik mit unveränderlichen (und also ,seienden') Konzepten und Ideen abgeben zu können, sondern sich "um die begriffliche Erfassung der Möglichkeiten der irrationalen Aktualität des einmaligen (individuellen) Lebewesens" kümmern zu müssen. Dazu muß das Gegensatzpaar Materialismus - Psychismus synthetisch überwunden werden, wobei unter dem zweiten Begriff nicht etwas der Psychologie eigentümliches, sondern so etwas wie der "Idealismus" gemeint ist, der sich bei Kant, Schopenhauer oder in der indischen Philosophie findet. 62 Die Schwierigkeit für diese Überwindung liegt darin, daß "die Materie wohl ebenso tief wie der Geist" geht, und alle von Menschen gemachte Wissenschaften - auch dann, wenn sie Naturwissenschaften sind - werden "immer auch Aussagen über den Menschen" enthalten (was zum Beispiel auch in Tab. 1 ausgedrückt werden soll). Pauli schließt dann: "Das Ziel der Wissenschaft und des Lebens wird ... der Mensch bleiben. [ ... ] In ihm ist das ethische Problem des Gut und Böse, in ihm ist Geist und Materie und seine Ganzheit wird mit dem Symbol der Quaternität bezeichnet. Es ist heute [1952] der Archetypus der Ganzheit des Menschen, von dem die nun quaternär werdende Wissenschaft ihre emotionale Dynamik bezieht. Dem entspricht es, dass dem Wissenschaftler von heute ... das Rationale sowohl gut als auch böse erscheint. Hat doch die Physik ganz neue Ep.ergiequellen von früher ungeahntem Ausmass erschlossen, die sowohl zum Guten wie zum Bösen verwendet werden 61

62

Ebd., S. 91. Ebd., S. 96f.

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können. [ ... ] Diese Ganzheit des Menschen scheint in zwei Aspekte der Wirklichkeit hineingestellt: Die symbolischen ,Dinge an sich', die der Möglichkeit nach seiend sind und die konkreten ,Erscheinungen' , die der Aktualität nach seiend sind. Der erste Aspekt ist der rationale, der zweite der irrationale [ ... ]. Das Zusammenspiel der beiden Aspekte ergibt das Werden. Ist es im Sinne ... der Quaternität, diese Fragmente einer Philosophie ,kritischer Humanismus' zu nennen ?,,63 Wir können hierauf nur mit Ja antworten und versuchen, Pauli und Jung darin nachzueifern.

63

Ebd., S. 97 f.

Die Verwirklichung des Unmöglichen Zum Realitätsproblem in der Pathosophie Viktor von Weizsäckers

Von Reiner Wiehl, Heidelberg Viktor von Weizsäckers Bestimmung der Realität als Realisierung des Unmöglichen scheint eine jener Provokationen darzustellen, durch die er das bestimmende wissenschaftliche Weltbild der naturwissenschaftlichen Medizin, nicht zuletzt aber auch deren philosophischen Grundlagen in Frage stellen wollte. Aber ist diese provokative Formel eine haltbare Bestimmung oder eher nur eine kritisch-rhetorische Floskel? Verbirgt sich hinter dieser eine begründete Revision unseres durchgängigen Wirklichkeitsverständnisses? Jede Revision eines Repertoires von Grundbegriffen setzt ihrerseits gewisse Prämissen voraus: Es gibt keine voraussetzungslose Kritik. Weizsäckers Formel wendet sich offenkundig gegen ein Wirklichkeitsverständnis, das sowohl dem common sense wie auch der großen europäischen Tradition korrespondiert. Demzufolge ist Wirklichkeit: Verwirklichung des Möglichen, also Verwirklichung des Nicht-Unmöglichen. Man kann diesen Wirklichkeitsbegriff, der seine philosophische Ausprägung in der Metaphysik und Physik des Aristoteles gefunden hatte, geradezu als eine logische, bzw. identitätsphilosophische Bestimmung der Realität ansehen. Sie ist eine Variante dessen, was wir die Tradition des Eleatismus nennen. Wenn Aristoteles gegen Parmenides und dessen Leugnung der Bewegung polemisiert hatte, so nicht, weil er dessen Identitätsprinzip verneint hätte, sondern weil er in jener Verneinung der Bewegung einen Fehlschluß aus jenem Prinzip gesehen hatte, das er durch die Bestimmung der Realität als Verwirklichung des Möglichen und der Bewegung als Entelechie zu korrigieren suchte. Insofern stellt Weizsäckers Revision dieses Realitätsprinzips zugleich eine Revision des eleatischen Identitätsprinzips dar, und insofern verbindet sich mit der beschriebenen Revision der Realitätsvorstellung eine Revision der Rationalität. Man möchte meinen, daß die Revision des eleatischen Identitätsprinzips, das in Weizsäckers Denken die genauere Bestimmung einer Anti-Logik erhält, im Grunde nur eine oberflächliche Aneignung der Hegeischen Dialektik darstelle, die ihrerseits eine ausdrückliche Korrektur des Prinzips der Identität enthält, in dem sie an dessen Stelle das Prinzip der Identität des Identischen und Nicht-Identischen setzte, mit dessen Einführung schon Plato den Eleatismus und dessen ontologische Aporien kritisiert hatte. Aber die Weizsäckersche Anti-Logik ist von der HegeIschen Dialektik wesentlich unterschieden. Diese Verschiedenheit tritt hervor, wenn man bedenkt, daß die Dialektik im Grunde auf dem Boden des eleatischen Identi-

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tätsprinzips bleibt, in dem sie lediglich der geforderten Identität den Beweis hinzufügt, daß es sich bei der vom Denken geforderten Identität in der Tat um die wahre und eigentliche Identität handelt; nicht nur um eine formale und inhaltslose Selbstidentität, sondern um die Identität von Denken und Sein und von Begriff und Wirklichkeit. Diesem Beweis diente die Entgegensetzung einer jeweils gesetzten Realität und die damit gegebene Möglichkeit, die scheinbar verlorene Identität auf einer höheren Ebene wiederzufinden. Weizsäckers Anti-Logik ist so gesehen antidialektisch. Seine Logik geht davon aus, daß die Nicht-Identität überall ist: im Verhältnis von Denken und Realität ebenso wie im Verhältnis verschiedener Realitäten. Diese Nicht-Identität bestimmt das Wesen der Erfahrung. Aber diese Erfahrung läßt sich ihrerseits nicht einfach als irrational deklarieren. Sie hat eine ihr eigentümliche Rationalität, deren Eigentümlichkeit sowohl durch das eleatische Identitäsprinzip als auch durch seine beweistheoretische Ausgestaltung in der Hege1schen Dialektik verfehlt wird. Die Konzeption einer antilogischen Rationalität, wie sie Weizsäcker entwickelt, zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit Tb. W. Adornos Negativer Dialektik, die sich ähnlich wie jene als die Rationalitätsstruktur der Erfahrung versteht. Der gemeinsame Nenner der beiden Rationalitätskonzepte ist zunächst negativ umschrieben. Die Realitäten erlauben in ihrer Heterogenität letzten Endes keine absolute Vermittlung. Die Mannigfaltigkeit der Phänomene läßt sich nicht in einem einheitlichen geschlossenen logischen Raum unterbringen. Es genügt nicht, diesen logischen Raum zu erweitern oder gar ins Unendliche zu öffnen, um die auftauchenden Paradoxien und Widersprüche aufzulösen. Diese bleiben, wieweit wir immer die eleatische Kugel ausdehnen und unabhängig davon, ob wir ihre Grenzen über die Grenzen der Welt hinaus erweitern oder nicht.

I.

Die zu Anfang genannte Grundbestimmung der Verwirklichung des Unmöglichen drückt die beschriebene Verneinung der Logik der gesetzten und der bewiesenen Identität, die Absage an den Logizismus der europäischen Philosophie in prägnanter Weise aus. Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Handelt es sich hier um mehr als nur ein neues Paradox, - etwa eine neue Fassung jener Paradoxie, die schon Kierkegaard dem Eleatismus in der Hegeischen Fassung desselben polemisch entgegengestellt hatte. Um die beiden wichtigsten Prämissen der Weizsäckerschen Realitäskonzeption und ihres antilogischen Strukture1ementes zu nennen: Zum einen bewegt sich die Weizsäckersche Medizinische und Philosophische Anthropologie auf dem Boden einer Philosophie der Natur. Durch diese Philosophie bleibt die Naturbestimmtheit des Menschen für die Medizin und die Philosophie gleichermaßen leitend. Aber der hier zugrunde gelegte Naturbegriff ist im Vergleich zu den traditionellen philosophischen Naturbegriffen nur schwer zu fassen. Was ihm fehlt ist eine klare antithetische Beziehung zu entsprechenden Gegenbegriffen in der spekulativ-idealistischen Naturphilosophie, zum Gegenbegriff des Geistes, bzw.

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zur menschlichen Gesellschaft. Weizsäcker begreift die Natur selbst als antilogisch. Das heißt zunächst nicht mehr als in jener formelhaften, paradox klingenden Formel der Realitätsbestimmung als Verwirklichung des Unmöglichen ausgesagt ist. Es hängt damit zusammen, daß die Philosophie der Natur hier überhaupt keinen eigentlichen Gegenbegriff enthält, in dem sie in sich selbst gegenläufig und widerstreitend genug ist, um eines absoluten Gegenbegriffes wie des Geistes zu bedürfen. Aber andererseits wird wegen dieses Fehlens eines eindeutig antithetischen Gegenbegriffes zur Natur, diese auch nirgends rein, als reine bloße Natur gedacht, wie dies in den früh neuzeitlichen und neuzeitlichen Konzepten der Aufklärung der Fall ist, in denen der Naturzustand vom Zustand der bürgerlichen Gesellschaft getrennt bleibt. Weizsäckers Naturbegriff findet sich in einer nahezu selbstverständlichen Assoziation mit dem Begriff der Geschichte. Dabei geht es hier aber im Blick auf die medizinische und philosophische Anthropologie nicht um die Geschichte der Natur, nicht um die sogenannte Evolution. Denn gerade die Evolution wird weitgehend entsprechend der eleatisch-hegelschen Logik als Entwicklung und Entelechie gedacht. Es geht Weizsäcker vielmehr um die selbstverständliche Verknüpfung der Natur und der Lebensgeschichte des Menschen. Indem von der Lebensgeschichte keine spiritualistische, aber auch keine cognitivistische oder mentalistische Deutung gegeben wird, stellt sich eine direkte Bestimmung zwischen Natur und Lebensgeschichte des je einzelnen unverwechselbaren Menschen her, die nach philosophischer Bestimmung verlangt. Hier, wenn irgendwo gewinnt die Vemeinung des Prinzips der Entelechie ihre ausgezeichnete Bedeutung. Weizsäcker ist keineswegs der entschiedene Verfechter der Goetheschen Naturauffassung, als der er gelegentlich genommen wird. Sein Bild der Natur ist weniger harmonisch, vor allem im Blick auf die genannte Beziehung zwischen Natur und menschlicher Lebensgeschichte. Diese ist nicht die Bildungsgeschichte einer Naturanlage, nicht die Verwirklichung natürlicher Möglichkeiten. Vielmehr gilt hier, wenn irgendwo das Prinzip Verwirklichung des Unmöglichen. Die zweite Weizsäckersche Voraussetzung betrifft das Verhältnis von Sein und Sollen, von Theorie und Praxis. Auch die medizinische Anthropologie und in ihrem Gefolge die philosophische Anthropologie kennt diese Unterscheidung. Aber sie zieht die Grenze zwangsläufig anders als dies gewöhnlich in der Philosophie geschieht. Die Praxis ist für die medizinische Anthropologie ihre eigene therapeutische Praxis, die Praxis der ärztlichen Hilfeleistung, die für den Arzt Sache seines beruflichen Ethos ist. Aus der Perspektive dieser Praxis verschiebt sich die Grenze gegenüber der Theorie in Beziehung auf den kranken hilfsbedürftigen Menschen; hier hängt die Beziehung zwischen Theorie und Praxis mit der von Natur und Lebensgeschichte zusammen. So wenig zwischen dieser und jener eindeutig eine Grenze zu ziehen ist, so wenig zwischen jenen beiden Perspektiven. Es erübrigt sich die Feststellung, daß die therapeutische Perspektive des Arztes ein Standpunkt des Immoralismus ist. Man kann diesen Standpunkt zwar in gewisser Weise als den ,jenseits von Gut und Böse" bezeichnen. Nicht von ungefähr hat Nietzsche seine philosophische Perspektive immer wieder mit der des Arztes verglichen.

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Aber zugleich besteht hier eine entscheidende Differenz, die der Philosoph mit dem Hammer um der rhetorischen Wirkung willen durch den metaphorischen Gebrauch der Bestimmungen des Gesunden und Kranken unterschlagen hat. Es ist eine abgrundtiefe Differenz, ob man sich um einer angemessenen Hilfe willen eines Urteils hinsichtlich von Gut und Böse enthält, oder ob man diese Differenz grundsätzlich leugnet. Der Arzt muß diese Differenz nicht leugnen; und er darf es um so weniger, wenn sein Patient diese Differenz ernst nimmt. Seine Urteilsenthaltung gilt im übrigen nicht schlechthin so, wie vielleicht ein Philosoph hier prinzipiell zunächst Urteilsenthaltung übt, um hinter vordergründigen Vorurteilen voreiliger moralischer Wertungen die verborgenen Wertvoraussetzungen zu entdecken. Der Arzt enthält sich seines Urteils vielmehr zunächst nur hinsichtlich der moralischen Wertungen des Patienten. Für ihn gilt es allein, sofern der Kranke solche Wertungen äußert, diese innerhalb der Lebensgeschichte zu verstehen und in ihrer Bedeutung für diese Geschichte zu interpretieren. So spielen in den von Weizsäkker berichteten Krankheitsgeschichten die moralischen Beurteilungen und Selbstbeurteilungen der Patienten eine besonders wichtige Rolle und werden nicht nur in der Anamnese, sondern auch in der Krankheitsdiagnose eingehend gewürdigt. Aber die Anamnese und die Krankheitsdiagnose geben diesen moralischen Bewertungen keinen theoretischen Sonderstatus in der Lebensgeschichte des Patienten. Sie bilden vielmehr mit dem Ganzen und innerhalb des Ganzen der erzählten Geschichte einen durchgängigen Zusammenhang. Sie können als kausaler Faktor des vorliegenden Krankheitsgeschehen nur als partielle mögliche Fakten eines bestimmten krankmachenden Verhaltens in Frage kommen. Sie machen insofern auch nicht allein und ausschließlich den Bereich aus, in welchem der Sinn der Realisierung des Unmöglichen gesucht werden kann.

11. Die ontologische Bestimmung der Realität als Realisierung des Unmöglichen impliziert, daß die Realität ein Geschehen - ein Werden, nicht ein Sein ist, daß diesem Geschehen selbst eine gewisse ontologische Charakteristik eignet. Dabei läßt jene Bestimmung offen, ob dem Vorgang der Realisierung gewisse Instanzen zugrunde liegen, die das Geschehen steuern und in Gang halten, oder ob diese Instanzen direkt im Geschehen anzutreffen sind. Als solche Instanzen des Geschehens der Realisierung lassen sich vor allem Prozesse und Handlungen anführen, durch die ein Nicht-Seiendes ein Seiendes wird, unter welchen Bedingungen auch immer. Eine genauere Bestimmung der Realität als Geschehen der Realisierung eines Unmöglichen, verlangt nun vor allem aber eine Klärung des spezifischen Sinnes der Unmöglichkeit. Von dieser Bestimmung hängt ab, ob jener Begriff allenfalls zur Erzeugung eines erstaunlichen Paradoxons taugt oder aber seinen Sinn durch eine genauere Unterscheidung von unserem gewöhnlichen Realitätsverständnis gewinnen kann. Dabei wird es nicht zuletzt um eine sinnvolle Zuordnung

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zwischen der maßgeblichen Instanz des Wirklichkeits geschehens und der Bestimmung des Unmöglichen gehen, in dessen Realisierung sich Realität als "eigentliche" und maßgebliche Realität auszeichnet. Die modale Bestimmung der Unmöglichkeit spielt in der klassischen Philosophie seit alters her eine ausgezeichnete Rolle, insbesondere aber in der Tradition der Theologie und Ontologie. Hier steht die Unmöglichkeit in einer Beziehung der Negation zur Möglichkeit und Zufälligkeit einerseits und zur Notwendigkeit andererseits: Das Unmögliche ist nicht das Mögliche und das Mögliche nicht das Unmögliche. Ebenso aber ist das Unmögliche nicht das Notwendige, das Notwendige nicht das Unmögliche. Was die letztere Negation zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit betrifft, so kann es durchaus sein, daß das Notwendige "unmöglich" das Unmögliche ist. Aber in einem gewissen Sinne gilt eine solche Unmöglichkeit auch für das Verhältnis von Möglichkeit und Unmöglichkeit. Man kann daraus folgern, daß die Negationen und möglichen Unmöglichkeiten in den beiden Negationsbeziehungen eine unterschiedliche Bedeutung haben müssen. Wie gesagt, gewinnt die Bestimmung des Unmöglichen in der mittelalterlichen Theologie und in der neuzeitlichen Metaphysik eine außerordentliche Bedeutung. Diese entspringt aus der Idee der Allmacht Gottes. Gott wird als das höchste und vollkommenste Wesen aus dieser Idee heraus begriffen, die in gewisser Weise keine andere als die seiner höchsten Vollkommenheit ist. Die Vorstellung der göttlichen Allmacht findet ihren nächstliegenden Ausdruck in der Annahme, daß für Gott nichts unmöglich ist. Aus der zuvor beschriebenen ontologischen Charakteristik der Unmöglichkeit ergeben sich zwangsläufig zwei unterschiedliche Ideen der göttlichen Allmacht, die sich beide in der metaphysischen Tradition der europäischen Theologie wiederfinden. Der einen Idee zufolge ist für Gott alles möglich in eben dem Sinn eines Äquivalentes der Vorstellung, daß ihm nichts unmöglich ist. Der anderen Idee zufolge ist für Gott alles notwendig in Einklang mit der zweiten Negation der Unmöglichkeit. In der neuzeitlichen rationalen Theologie, vor allem in den onto-theologischen Konzepten Spinozas und Leibnizens haben die beiden Allmachtsideen eine dominierende Rolle gespielt. Beide großen Rationalisten waren bemüht, die beiden logischen eindeutig verschiedenen Negationen der Unmöglichkeit in ihrer Verschiedenheit zu bestimmen und in der einen oder anderen Form zur Grundlage ihres onto-theologischen Systems zu machen. Dementsprechend lassen sich vor allem drei Negationen der Unmöglichkeit denken. Im einen Falle halten sich Notwendigkeit und All-Möglichkeit die Waage, im zweiten Fall dominiert die AllNotwendigkeit, während im dritten Fall die All-Möglichkeit die All-Notwendigkeit in sich schließt. Spinozas Theologie ist für die zweite, Leibnizens Theologie für die dritte Form der Verbindung entschieden. Allerdings lassen beide onto-theologischen Konzepte einen gewissen Spielraum für die erste der drei Verknüpfungsformen. In Spinozas Ethik sind alle Dinge in ihren Zusammenhängen unter der einen großen All-Notwendigkeit geordnet. Dies bedeutet im Blick auf Gottes Vollkommenheit, daß diese seine Allmacht eine All-Möglichkeit durch die Schaffung der universalen Gesetzmäßigkeit der Schöpfung bestimmt ist, durch die er sich

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mitsamt seiner Schöpfung selbst dieser All-Notwendigkeit unterwirft. In Leibnizens theologischen System bleibt die geschaffene All-Notwendigkeit des Weltzusammenhangs auf eine übergeordnete Allmacht bezogen, die in ihrer Freiheit die geschaffene Gesetzmäßigkeit als die bestmögliche aller gesetzmäßigen Ordnungen erkennt. In diesem Falle bleibt neben der All-Notwendigkeit eine Fülle von Möglichkeiten bestehen, die Notwendigkeit geworden ist. Die All-Notwendigkeit umgreift hier wie dort die Gesetzmäßigkeiten der Logik, der Mathematik und der Physik. Die Bestimmungen zwischen Natur und Welt korrespondieren den drei genannten Verhältnissen von All-Notwendigkeit (Natur) und All-Möglichkeit (Welt). So gesehen zeigt sich die Verbindung von Natur und Welt hinsichtlich ihrer ursprünglichen Vieldeutigkeit in dem beschriebenen Sinn auf dreifache Weise bestimmbar: Entweder befinden sich Natur und Welt im Gleichgewicht, oder der Naturbegriff ist für den Weltbegriff bestimmend oder dieser für jenen.

III. Für Gott existiert unter dem onto-theologischen Gesichtspunkt der rationalen Metaphysik keine Unmöglichkeit. Insofern wird die Realität des Unmöglichen zu einem Privileg endlicher Wesen. Endlichkeit der Kreatur zeigt sich in der ontotheologischen Perspektive nicht primär in der Sterblichkeit, sondern in der Realität des Unmöglichen. Unmöglichkeit der Unsterblichkeit ist nur eine dieser maßgeblichen Unmöglichkeiten unter anderen. Es ist hier zunächst eine offene Frage, wieweit die Unbestimmtheit in den Verhältnissen der Negationen der Unmöglichkeit Raum läßt für die Begegnung zwischen dem Göttlichen und dem Endlichen, zwischen dem Schöpferischen und dem GeschÖpflichen. Der Ausschluß der Unmöglichkeit von der göttlichen All-Vollkommenheit bezieht sich gleichermaßen auf das Sein wie auf die Wirksamkeit Gottes. Dementsprechend läßt sich die Unmöglichkeit - die privilegierte Bestimmung der Kreatur - analog auf das Sein und die Wirksamkeit derselben beziehen. Die Kreaturen sind in ihrem Sein dadurch bestimmt, daß sie nicht All-Möglichkeiten sind und daß sie in ihrem Wirken nicht befähigt sind, alles zu bewirken. Diese Begrenzung ihrer All-Möglichkeit ist bestimmt durch eine begrenzte Notwendigkeit, die in Verbindung steht mit der AllNotwendigkeit und in gewisser Weise durch diese bestimmt ist. Die Frage nach dem eingangs eingeführten Begriff der Realität, demzufolge Realität Realisierung von Unmöglichkeit ist, erscheint unter dem onto-theologischen Aspekt zunächst undurchsichtig zu sein. Denn man kann von Gott in seiner All-Vollkommenheit offenkundig eben so gut das eine wie das andere sagen: Gott ist die Negation der absoluten Unmöglichkeit in der Weise des Seins und des Wirkens. Auf diese Weise ist er die Realität der absoluten Notwendigkeit und die Realisierung der absoluten Möglichkeit in der Weise der Aufhebung der absoluten Unmöglichkeit. Gott macht das Absolut-Unmögliche möglich und schließt dieses damit von sich und der Schöpfung aus. Es läßt sich aber auch eine ganz andere Folgerung ziehen. Danach

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ist die All-Unmöglickeit von Gottes Sein und Wirken gänzlich ausgeschlossen. Vor seiner Vollkommenheit gibt es überhaupt kein Unmögliches. Diese bei den ontotheologischen Denkmöglichkeiten entsprechen unterschiedlichen Realitätskonzepten: dem einen Konzept zufolge ist das Reich der Notwendigkeit mitsamt seinen All-Möglichkeiten an einen Grund in Gestalt des Unmöglichen gebunden. Im anderen Falle hängen All-Möglichkeit und All-Notwendigkeit auf die eine oder andere der drei unterschiedenen Weisen zusammen. Neu ist hier das Hinzutreten der absoluten Unmöglichkeit zur Vollkommenheit Gottes. Die Entdeckung dieses Realitätskonzepts verdankt die neuzeitliche Philosophie dem Denken Schellings. Hier geht es aber nicht so sehr um die verschiedenen onto-theologischen Begriffe einer göttlichen Realität als vielmehr um die Bestimmung des Kreatürlichen, der Kreatürlichkeit der Natur und der Welt, genauer: der Kreatürlichkeit der Natur und Welt des Menschen. Immerhin lassen sich aus jenen beiden onto-theologischen Realitätsbegriffen entsprechende Begriffe einer menschlichen Realität gewinnen. Dementsprechend läßt sich die menschliche Realität in ihrem Sein und Wirken einmal bestimmen als Realisierung bestimmter Möglichkeiten unter der Bedingung von bestimmten Unmöglichkeiten, die das Sein und Wirken aller Kreatur und so auch der menschlichen ausmachen. Der zweite Sinn der Realität klingt aber interessanter: ihm zufolge ist es das Privileg, die Auszeichnung der menschlichen Realität, daß hier eine Realisierung des Unmöglichen möglich wird. Demzufolge vermag nur der Mensch das Unmögliche möglich zu machen. Diese Seins- und Wirkungsweise des Menschen ist Gott,- ist den Göttern fremd, weil ihnen das Unmögliche fremd ist. Allerdings bedarf diese auszeichnende Bestimmung des Menschen eines Zusatzes: Denn der Mensch steht wie alle Kreatur unter Bedingungen der Unmöglichkeit. Nicht alles vermag der Mensch zu sein und zu wirken. Wenn der Mensch also Unmögliches möglich macht, so tut er dies unter Bedingungen eigener Unmöglichkeiten. Insofern steht hier die Realisierung des Unmöglichen unter der Bedingung der Unmöglichkeit der Realisierung. Auch hier spielen Natur und Welt ineinander, die Natur und die Welt des Menschen. Die Natur repräsentiert in diesem Verhältnis die Grenze der Möglichkeiten, das Reich der Unmöglichkeiten als solcher, die Welt demgegenüber das Reich der Unmöglichkeiten, sofern diese Wirklichkeit werden können und zumindest teil dieser Wirklichkeit werden. Wie läßt sich nun diese Fähigkeit des Menschen begreifen, das Unmögliche möglich zu machen? Wird dem Menschen hier nicht eine supra naturale Fähigkeit zugeschrieben, welche die traditionelle Onto-Theologie, wenn überhaupt, dann Gott vorbehalten wissen wollte? Wird der Mensch dadurch nicht zu einem Wundermann, zu einem Wundertäter gemacht, damit aber zugleich dem Wunderglauben und mit diesem dem Aberglauben und der Widervernunft Tür und Tor geöffnet? Wenn dies um jeden Preis ausgeschlossen bleiben soll, so muß entweder die Formel Verwirklichung des Unmöglichen zumindest für den Bereich der menschlichen Realität entschieden zurückgewiesen oder derselben ein vernünftiger Sinn zuerkannt werden können. Ein erster Schritt in Richtung der zweiten Alternative geht dahin, die verwirklichte Unmöglichkeit als eine bedingte zu erkennen,

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nämlich als bedingt durch ein gegebenes Sein von Unmöglichkeiten. Angesichts dieses bestehenden Seins gewinnt nun die Begriffsbestimmung der Realität als Realisierung von Unmöglichkeiten gerade im Bereich der menschlichen Realitäten einen guten, ja alltäglichen Sinn, dem jeder Zug zum Mysteriösen und Abergläubischen abgeht. Hier lassen sich nun verschiedene Seinsweisen, bzw. verschiedene Modi der Gegebenheit des Unmöglichen unterscheiden, welche Bedingungen der Realisierung des Unmöglichen darstellen. Eine erste solche Gegebenheit des Unmöglichen zeigt sich im Verhältnis von Natur und Technik. Dieses Verhältnis repräsentiert das anfänglich erörterte Verhältnis von Natur und Welt in bestimmter Weise, auch wenn wir in sehr vielen, ja nahezu allen Fällen keine definite Grenze zwischen der ersteren und der letzteren ziehen können. Dies hängt damit zusammen, daß in gewisser Weise auch die Technik Natur ist, in dem sie als solche und in ihrem Gebrauch Natur voraussetzt. Hier geht es zunächst um den Zusammenhang zwischen gegebener bedingender und bedingter realisierter Unmöglichkeit. Das bekannteste Beispiel, das wir der antiken Tradition und ihrer Reflexion durch Aristoteles verdanken, ist das eines Stückes Holz, das nicht von sich aus, nicht durch eine natürliche Eigenentwicklung zu einem Stuhl oder zu einem Bett wird. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß ein solches Stück reiner Natur auf dem Wege eines natürlichen Prozesses zu den fraglichen Kunstprodukten werden könne. In diesen Kunstprodukten ist demnach etwas Unmögliches möglich und dann dank dieser Möglichkeit real geworden. Hier gilt: Was die Natur aus sich selbst heraus unmöglich vermochte, hat die Kunst vermocht. In den Kunstprodukten liegt demnach eine Realität vor, für die die anfänglich eingeführte Formel geradezu selbstverständlich gilt: Hier hat der Mensch etwas Unmögliches realisiert. Den entscheidenden Schritt auf dem Weg dieser Realisierung hat die traditionelle Philosophie mittels der Begriffe Materie, Stoff und Material beschrieben. Indem ein Stück Natur zur Materie, zum Stoff, zum Material wird, hat die Realisierung eines Unmöglichen begonnen. IV. Dieses Geschehen einer "Materialisierung der Natur" stellt in der Regel einen komplexen Vorgang dar, in welchem bereits Natur und Technik zusammenwirken. Deswegen ist es in der Regel so schwierig, innerhalb der menschlichen Welt die reine Natur oder auch ein Stück reiner Materie anzutreffen. Jedenfalls zeigt sich in jedem Stück Materie ebenso wie in jedem technischen Vorgang das anfänglich beschriebene Ineinander und Miteinander von Natur und Welt. Weil es aber so schwer, wenn nicht in den meisten Fällen unmöglich ist, eine exakte Grenze zwischen Natur und Welt, zwischen Natur und Materie zu ziehen, deswegen läßt sich auch kaum angeben, wo der Punkt liegt, an dem das Unmögliche wirklich wird. Gleichwohl geht alles hier sozusagen mit rechten Dingen zu. Über Jahrtausende hinweg hat man die ärztliche Kunst unter dem gleichen Kategoriensystem betrachtet: Die Heilkunst wird unvermeidlich, wo die "kranke Natur" sich nicht selbst hel-

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fen kann, wo also der Fall der Unmöglichkeit einer spontanen Heilung des Kranken durch seine eigene gesunde Natur vorliegt. Hier wird demnach wie im vorherigen Fall ein Unmögliches durch Kunst realisiert. Allerdings ist dieser Fall in mehr als einer Hinsicht von dem vorherigen verschieden. Ein wichtiger Unterschied bezieht sich auf den Charakter der Unmöglichkeit. Im erstgenannten Beispiel scheint der Fall so gelagert, daß die Unmöglichkeit eindeutig ist, daß gewissermaßen eine logische, bzw. notwendige Unmöglichkeit vorliegt. Im zweiten Fall dagegen handelt es sich eher um eine vermutete, eine mehr oder weniger wahrscheinliche Unmöglichkeit, die den Anlaß für den therapeutischen Eingriff bildet. Man kann den ersteren Fall auch in dieser Weise betrachten, also darauf hoffen, daß die Natur selbst am Holz Formbearbeitungen vollzieht, die dieses Stück Natur wie ein Stuhl oder wie ein Bett aussehen, bzw. wie einen entsprechenden durch Kunst erzeugten Gegenstand gebrauchen lassen. In diesen Fällen scheint die Natur selbst im Sinne der Verwirklichung des Unmöglichen zu arbeiten und wo sie in ihren Produkten ein solches phantastisches Aussehen annimmt oder gar sich in Richtung technischer Produkte entwickelt, wie etwa die Hölzer, die allmählich in Öl übergehen, da greift ein Stück Welt in sie hinein in Gestalt der menschlichen Phantasie oder unmittelbar entstehenden Möglichkeiten natürlicher Nutzung. Allerdings bringt es die menschliche Kulturentwicklung durch ständig neue Schaffung von Bedürfnissen mit sich, daß der Mensch nicht oder nur in seltenen Fällen darauf warten kann, daß die Natur in der beschriebenen Weise selbst das Unmögliche möglich macht und ihm unwillkürlich zuarbeitet. Das Verhältnis der Heilkunst unterscheidet sich unter vielen anderen Gesichtspunkten von der Herstellung technischer Produkte. Der wichtigste Unterschied liegt darin, daß die Heilung, bzw. die Behebung von Krankheitssymptomen nur indirekt als ein technisches Produkt angesehen werden kann. Dementsprechend ist der menschliche Leib, bzw. der erkrankte Mensch nur in einem indirekten Sinn der Stoff für die Heilkunst. Selbst wenn wir den Vergleich mit massiven technischen Prozessen der Reparatur heranziehen, bleibt das Unangemessene eines solchen Vergleiches bestehen, auch wenn allgemein für Reparaturen gilt, daß die Natur in vielen Fällen sich nicht selbst reparieren kann. Die Selbstheilungs- und Regenerationsprozesse der Natur stoßen an Grenzen der Realisierbarkeit. Aber die ökologischen Probleme unserer Epoche rücken uns vor Augen, daß die medizinische Kunst eine weniger spezialistische Technik ist als man gewöhnlich annimmt, auch wenn ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen einem kranken Menschen und einem kranken Baum bestehen bleibt. Im Falle des Menschen hat es die medizinische Kunst nicht nur mit einer Krankheit zu tun, sondern auch und mehr noch mit einem Leiden an einer bestimmten Krankheit. Dieses Leiden, das im Falle des Menschen zur Krankheit hinzutritt, läßt sich nur schwer in den herkömmlichen Begriffen von Materie, Stoff, Material etc. betrachten. Das erörterte Beispiel einer kreatürlichen Verwirklichung des Unmöglichen zeigt, daß die so umschriebene Realität sich in ihrem Geschehenscharakter wesentlich unterscheidet von autonomen Vorgängen. Auf diese Weise scheint der angeführte Beispielsbereich darauf hinzudeuten, daß die fragliche Realität wesentlich

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auf Handlungen bezogen ist, - also eine Handlungsrealität bezeichnet. Auf der anderen Seite bleiben Zweifel bestehen, ob der Beispielsbereich bei näherer Analyse nicht eher Zweifel zu wecken geneigt ist, ob überhaupt so etwas wie die Realisierung eines Unmöglichen vorliegt und nicht in Wahrheit auch im Falle technischer Verrichtungen und echter Handlungen im Sinne menschlicher Praxis es um die Verwirklichung eines Möglichen geht. Man steht vor der Frage, ob man im Beispielsfall von Handlungen nicht besser fährt, wenn man auch hier von Verwirklichung des Möglichen spricht, mit dem Zusatz, daß diese Realisierungen sich von natürlichen autonomen Prozessen in vielerlei anderer Hinsicht wesentlich unterscheiden. Vor einer endgültigen Klärung dieser Begriffsfrage sei ein anderer exemplarischer Bereich in die Betrachtung einbezogen. Hier geht es nicht um die Differenz zwischen Natur und Technik, sondern um eine Differenz der Zeiten. Ganz allgemein handelt es sich darum, daß etwas, was zu einer Zeit unmöglich ist, zu einer anderen Zeit durchaus möglich wird oder umgekehrt: daß das, was zu einer bestimmten Zeit möglich war, zu einer anderen Zeit nicht mehr möglich ist. Diese Differenz der Zeiten kann ebenso an verschiedene Handlungssubjekte wie an einund dasselbe Handlungssubjekt geknüpft sein. Daß verschiedenen Leuten etwas teils unmöglich teils möglich ist, ist nicht weiter erstaunlich, so wenig wie dies, daß ein- und demselben Menschen etwas, was jetzt unmöglich war möglich wird und etwas, was möglich war unmöglich wird. Auffällig wird der fragliche Sachverhalt erst dann, wenn es sich um ein- und dasselbe Verhalten handelt und die Zeitpunkt bestehender Möglichkeit und Unmöglichkeit immer näher aneinander rükken, wenn nicht gar ununterscheidbar werden. Wenn jemand etwas unmöglich zu können scheint, zu dem er im nächsten Augenblick imstande ist, sind wir geneigt von einer Realisierung des Unmöglichen zu sprechen. Nehmen wir den bekannten Fall, daß jemand aus Erschöpfung nicht weiter kann und sich weigert, noch einen Schritt weiterzugehen. In einem solchen Fall kann unversehens ein ermutigendes Wort oder ein anderer spezifischer Vorgang wie ein Wunder wirken und das Unmögliche möglich machen. Es gibt Situationen, in denen ein bestimmter Grund für das zu entdecken ist, was wie ein Wunder erscheinen könnte und wegen des entdeckten Grundes kein Wunder mehr ist, auch wenn der ganze Vorgang etwas Eigentümliches und Unerklärliches behält. Oft geschieht ein solcher Umschlag aus der Unmöglichkeit in die Wirklichkeit so direkt und unmittelbar, daß das vorliegende Geschehen als Realisierung eines Unmöglichen erscheint, und zwar als ein solches, dem etwas Rätselhaftes oder Wunderbares anhaftet. Inwiefern aber wird eine Realität, die ein solches Unmögliches realisiert als die eigentliche und wahre Realität aufgefaßt? Bleibt ein solcher Vorgang, in dem ein Unmögliches unversehens in ein Wirkliches umschlägt, nicht eine Ausnahme? Und muß man sich nicht auch in solchen scheinbaren oder offenkundigen Ausnahmefällen fragen, ob nicht etwas unbemerkt geblieben ist, vielleicht nicht gesehen werden konnte: nämlich, daß sich die Situation unbemerkt verändert hatte, daß gar keine Unmöglichkeit mehr vorlag, daß sich vielmehr die Unmöglichkeit, wie schnell auch immer, in eine realisierbare Möglichkeit verwandelt hatte.

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V. Die Frage hinsichtlich der Bestimmungen der Realität als Realisierung des Unmöglichen muß demnach lauten: Beruht eine solche Realität darauf, daß die Bedingungen und Ursachen der Verwandlung eines Unmöglichen in ein Mögliches notwendig, das heißt aus sachlichen Gründen unbemerkt bleiben. Zwei solcher Gründe, die mit dem Zeitverlauf zusammenhängen sind genannt worden: im einen Fall erfolgt der Umschlag des Unmöglichen in das Mögliche und Wirkliche so schnell, daß er der Aufmerksamkeit entgehen muß. Es kann aber auch der entgegengesetzte Fall vorliegen: durch ein bestimmtes, relativ gleichbleibendes Verhalten verändern sich die Gegebenheiten so unmerklich, daß er über dieser Unmerklichkeit auch dies nicht bemerkt wird, daß das, was unmöglich zu sein schien, unversehens möglich geworden ist. Immer kann es auch die entgegengesetzte Entwicklung geben: nämlich, daß ein Möglich und Möglich-Gewesenes unversehens oder ganz allmählich ein Unmögliches wird. Hier angesichts einer solchen Entwicklung scheint die vorgeschlagene Realitätsbestimmung so und so nicht zu greifen. Sieht man die Realisierung des Unmöglichen nicht als extrem unwahrscheinliches Geschehen, nicht als ein Wunder, sondern als einen Vorgang an, in dem etwas Maßgebliches unbemerkt geblieben ist, so hat dies für den versuchsweise vorgebrachten Realitätsbegriff die Konsequenz, daß die Unbemerkbarkeit eines Realitätsmomentes für die Gegebenheit dieser Realität konstitutiv wird. Allerdings ist diese Konsequenz zunächst irritierend. Es klingt paradox, daß die Realisierung des Unmöglichen in Wahrheit die Realisierung eines Möglichen sein soll, welches wie ein Unmögliches aussieht. Sehr viel einleuchtender scheint es, daß in einer Realisierung ein Unmögliches als Mögliches erscheint und auf diese Weise den Handelnden über die Erfolgsaussichten seines Tuns täuscht, in dem dieses wegen der Unmöglichkeit der Verwirklichung desselben scheitern muß. Vor einer Erklärung jener paradoxen Erscheinung der Realität zeigt sich hier aber eine wichtige Eigentümlichkeit derselben. Die Realität ist dem aufgestellten Begriffe zufolge nicht einfach eine gegebene Realität und auch nicht einfach eine Realität gegeben in der Form einer bestimmten Modalität. Vielmehr ist die modale Bestimmung, die der Realität ihrem Begriffe zufolge notwendig anhaftet eine geschätzte oder eine als solche beurteilte Modalität einer gegebenen Wirklichkeit. Dies aber läßt sich wiederum nur verstehen, wenn die so begriffene modal bestimmte Wirklichkeit die gegebene Realität in Beziehung auf eine Handlung uns als so und so geschätzte Realität Realität für eine Handlung ist. Der aufgestellte Begriff der Realität ist demnach der Begriff einer Handlungsrealität in dem Sinne, daß die modal geschätzte und beurteilte Realität die Realität einer Handlung und die Realität in Beziehung auf eine Handlung ist. Realität ist so gesehen immer die Realität eines Handlungsgefüges. Indem die Möglichkeit und Unmöglichkeit und deren jeweilige Verneinung die geschätzte, bzw. beurteilte Modalität einer Realität ist, ist die modal gefärbte Realität eine Gegebenheit mit einem Subjekt (Weizsäcker). Die Realität muß ein Subjekt in sich 6 Selbstorganisation. Bd. 7

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enthalten, wenn ihre Modalität, das ist ihre Notwendigkeit und Möglichkeit, ihre Unmöglichkeit und Wahrscheinlichkeit soll geschätzt werden können. Diese Subjektivität der Realität selbst bedeutet also: nicht ist die Realität lediglich in der Weise eines bestimmten Wie gegeben. Sie ist vielmehr modal gefärbte Realität, und diese modale Färbung nimmt in den uns bekannten Fällen die Form einer subjektiven Einschätzung der vorfindlichen Realität hinsichtlich der Modalität an. Auf diese Weise ist die Handlung, die Handlungsrealität eine theoretischpraktische Realität, sofern die Realisierung eine Einschätzung der Modalität enthält und als eine Handlung auch enthalten muß. Hier zeigt sich nun der Grund der häufigen Verwechslung zwischen einem Entwicklungsgeschehen und einer Handlung. Ein Entwicklungsgeschehen ist die Verwirklichung eines Möglichen; und so weit eine Handlung eine Entwicklung darstellt, gilt für sie eben dies, daß auch sie Verwirklichung eines Möglichen ist. Aber als Handlung ist eine Handlung über das hinaus, daß sie eine Entwicklung ist, jeweils die Einschätzung der gegebenen Realität auf das Wie ihrer Gegebenheit hin, genauer im Blick auf die Modalität ihrer Gegebenheit. Nun ist es aber eine irrtümliche Folgerung, daß eine Handlung immer auch Einschätzung der jeweils gegebenen Realität hinsichtlich einer realisierbaren Möglichkeit sein müsse. Vielmehr gehen in eine Handlung in der Regel verschiedene Einschätzungen der Modalität des Realen ein, über die Einschätzung von Möglichkeiten hinaus auch Einschätzungen von Notwendigkeiten, Unmöglichkeiten und Wirklichkeiten. In diesen Einschätzungen ist die Realität als reale Bezogenheit auf ein Handlungssubjekt gegeben. V. von Weizsäcker hat diesen Subjektbezug der Realität durch das sogenannte "pathische Pentagramm" umschrieben: Das Können, Wollen, Müssen, Sollen und Dürfen mitsamt den entsprechenden Negationen umschreiben das Beziehungsgefüge der Einschätzungen des jeweiligen Handlungssubjektes, dessen Handlung in Frage steht. Die ontologische Grundstruktur von Natur und Welt, von Ansich-Sein und Fürsich-Sein, von Ontischem und Pathischem - diese Grundstruktur des Zwischen findet ihren Niederschlag im Zusammenhang der Realitäten. Insofern ist die Realität keine einfache Gegebenheit, sondern ihrerseits eine Realität des Zwischen, die ein ,,zwischen den Realitäten" ist. So ist die Realität Realität und Modalität. Realität und geschätztes Muster der Modalitäten. Gegebenheit, die in ihrem Modalitätsgefüge beurteilt wird. Die Realität ist in ihrer Realisierung Entwicklung und Handlung. Das Verhältnis zwischen diesen korrespondiert jenem ontologischen Grundverhältnis. Dementsprechend besteht ein ontologischer Zusammenhang zwischen natürlicher Entwicklung und welthaftem Handeln. Es kann sein, daß die Handlung die zugrunde liegende natürliche Entwicklung verdeckt. Es kann aber auch sein, daß eine natürliche Entwicklung eine Handlung entspringen läßt, so wie es umgekehrt geschehen kann, daß eine solche Entwicklung eine Handlung in ihrer Entfaltung verhindert. Mit der erreichten Bestimmung der Realität als Realität zwischen den Realitäten und als Realität zwischen Entwicklung und Handlung ist nun aber jenes Paradox keineswegs zureichend aufgeklärt, demzufolge die Realität Realisierung eines für unmöglich Gehaltenen, bzw. eines Unmöglichen ist. Eine Aufklärung die-

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ses Paradoxes verlangt über jene ontologische Bestimmung hinaus die Einführung zusätzlicher Prinzipien. Die wichtigsten dieser Prinzipien sind die des Widerstandes und der Leidenschaft. Beiden Prinzipien kommt in der philosophisch-medizinischen Anthropologie V. v. Weizsäckers eine besondere Bedeutung zu. Sie sind beide methodisch bewußt aus der theoretischen Engführung in der Freudschen Psychoanalyse herausgenommen und in eine grundlegende naturphilosophische Konzeption eingebunden. Aber diese maturphilosophische Bestimmung hat ihrerseits ihre philosophische Tradition. Eine direkt auszumachende Quelle ist Schellings Naturphilosophie, eine weiter zurückliegende, eher indirekt und durch Schellings Vermittlung wirkende, die der Spinozanischen metaphysischen Ethik.

VI.

Die Prinzipien des Widerstandes und der Leidenschaft sind Prinzipien des Handelns. Sie werden hier als solche hinsichtlich des beschriebenen ontologischen Verhältnisses von Entwicklung und Handlung betrachtet. Eine Entwicklung ist von der Art, daß sich im Verlauf derselben eine Möglichkeit verwirklicht. Die Entwicklung stellt insofern einen Prozeß der Realisierung dar, in dessen Verlauf gewisse Möglichkeiten ausgeschieden und von anderen unterschieden werden, um deren Realisierung es im Verlauf des Prozesses zu tun ist. Eine Entwicklung kann in ihrem Verlauf unterbrochen und gestört werden. Man denke an einen Wasserlauf, der in der Erde verschwindet und an anderer Stelle wieder zum Vorschein kommt. Die Unterbrechung ist hier nur eine solche in Beziehung auf eine bestimmte Sichtbarkeit und als eine solche keine echte Unterbrechung. Entwicklungsstörungen spielen in dem Werden des natürlichen Menschen eine mehr oder minder wichtige Rolle. Natürliche Entwicklungsstörungen müssen nicht unbedingt negativ beurteilt werden. Wenn sich eine solche Störung von selbst behebt, kann die ursprüngliche Entwicklung auf ein Gutes hin sich unter Umständen verstärkt fortsetzen. Die medizinische Therapie läßt sich als Unterbrechung, als Störung einer natürlichen Krankheitsentwicklung auffassen. Eine Entwicklungsstörung bestätigt im Grunde, daß eine Entwicklung stets Realisierung einer mehr oder weniger komplexen Möglichkeit ist. Ein Widerstand ist etwas anderes als eine Störung. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen bleibt bestehen, auch wenn die Störung eines reibungslosen Verlaufes einen Widerstand und ein grundloser Widerstand das Vorliegen einer Störung vennuten läßt. Auch wenn wir im Falle von Geschehnissen und Abläufen gelegentlich von Widerständen reden, bleibt dem Begriffe nach die Vorstellung des Widerstandes an die einer Handlung gebunden. Es sind vorzüglich Handlungen, die mit Widerständen rechnen und die auf deren Beseitigung bedacht sein müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen in der Verwirklichung ihres Zieles. Es macht daher einen guten Sinn, wenn der Unterschied zwischen Störung und Widerstand auf den vorausgesetzten Unterschied zwischen Entwicklung und Handlung zurückgeführt wird. Dabei darf man allerdings nicht aus den Augen ver6*

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lieren, daß Entwicklungen störungsfrei verlaufen können, so wie Handlungen nicht unbedingt und in jedem Falle auf Widerstand stoßen müssen, um zu sein, was sie vermeintlich sind. Immerhin: im Falle einer Handlung muß immer mit Widerständen gerechnet werden. So wie das ontologische Verhältnis von Entwicklung und Handlung dem von Natur und Welt korrespondiert, so auch das Verhältnis von Störung und Widerstand. Dementsprechend läßt sich die Störung als eine Naturbestimmung, der Widerstand als ein Weltbegriff denken. Aber zugleich gehören beide analog zu jenen Grundbegriffen im Zwischenbereich der Realitäten, in denen sich das eine mit dem anderen vermischt und die Grenze zwischen dem einen und dem anderen nicht eindeutig gezogen werden kann. Deswegen kann es immer wieder zur Verwechslung des einen mit dem anderen kommen, etwa dann, wenn ein Geschehen unversehens ein Ende findet. Es hat nun den Anschein als ob die hier gesuchte Erfüllung der Realitätsbestimmung als Realisierung des Unmöglichen gefunden sei in Gestalt der Realität von Handlungen, die einen gegebenen Widerstand überwinden. Denn so lange der Widerstand besteht, muß die Realisierung durch die entsprechende Handlung als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen. Weizsäckers Realitätsbegriff weist hier eine auffällige Affinität zu Jaspers Bestimmung der Existenz in Grenzsituationen auf. Denn diese Existenz ist insofern auf Unmöglichkeiten bezogen, als in Grenzsituationen das Sein des Menschen in Frage steht. Hier wie dort wird der Mensch in Beziehung auf die Unmöglichkeit als ein Leidender gedacht. Für Weizsäcker ist die Bestimmung der pathischen Existenz die Grundkategorie der philosophischmedizinischen Anthropologie, für Jaspers ist das Leiden die Grundbestimmung der menschlichen Existenz in Grenzsituationen, bzw. die ursprünglichste aller Grenzsituationen selbst. Realität wäre demnach Realität im eigentlichen Sinne, wo es um die pathische Existenz des Menschen und um das Sein des Menschen in Grenzsituationen geht. Man kann das Weizsäckersche pathische Pentagramm durchaus als Strukturformel, bzw. als Muster der auf Überwindung von Widerständen angelegten Handlungen betrachten: Der Widerstand ist gegeben in Gestalt der Negation einer oder mehrerer pathischer Kategorien und die Überwindung dieses Widerstandes ist Negation der Negation. So kann es zum Beispiel sein, daß ich zwar kann oder könnte, wenn ich nur wollte, aber nicht will. Zu einer Handlung kommt es hier erst, wenn ich das Unmögliche möglich mache, in dem ich meine bestehende Willensschwäche überwinde und die Stärkung des Willens ganz in den Dienst des Könnens stelle. Oder ich soll etwas tun, aber ich kann und ich will diesem Gebot nicht folgen, weil meine widerstrebenden Neigungen alle meine verfügbaren Kräfte in Anspruch nehmen und so die Erfüllung des Sollens unmöglich machen. Auch in einem solchen Falle kommt es allererst zu einer Handlung, wenn das Unmögliche möglich wird, in dem die widerstrebenden Neigungen und mit diesen das Wollen und Können auf das Sollen und seine Realisierung eingestellt werden. Man sieht hier, daß das von Kant bezeichnete Paradigma einer Handlung, die dem kategorischen Imperativ Genüge tut, nur ein Exempel möglicher Handlungen ist, die auf die Realisierung des Unmöglichen gerichtet sind. Zugleich zeigt sich aber

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auch, daß Handlungen und die ihnen korrespondierenden Realitäten nicht ohne weiteres dem von Hegel überstrapazierten Schema dialektischer Bewegung folgen. Die Dialektik ist vielmehr Logik der Entwicklung. Insofern haben diejenigen Kritiker der spekulativen Philosophie Hegels recht, die in dieser Philosophie einen offenen oder versteckten Naturalismus ausmachen, in dem hier Natur und Geist mittels des Begriffs identifiziert werden. Während jede Entwicklung mit einer Setzung, einer Position beginnt, können Handlungen ihren Ausgang ebenso von einer Position wie von einer Negation nehmen. Deswegen läßt sich nicht jede Handlung, die ein Unmögliches möglich macht als Negation der Negation beschreiben. Zum Beispiel kann eine Handlung eben so gut wie von einem Gebot von einem Verbot, von einem Nicht-Dürfen ausgehen. Hier wird das Unmögliche erst dadurch möglich, daß der entgegenstrebende Wille auf das Verbot eingestellt und in seiner gegebenen Positivität negiert und umgelenkt wird. Handlungen können aus jeder negativen Gestalt einer pathischen Kategorie entspringen. Wenn die gesuchte Realität sich nunmehr als Handlungsrealität erwiesen hat, als Realität einer Handlung, die ein Unmögliches möglich macht, in dem sie einen wesentlichen Widerstand überwindet, so läßt sich demgegenüber ein Einwand nicht abweisen, der einem früheren ontologischen Einwand neue Form gibt. Dieser Einwand läßt sich in Form einer Aporie ausdrücken: Entweder ist der Widerstand, der einer bestimmten Realisierung entgegensteht überwindbar wie dies in den zuvor geschilderten Formen der Fall ist. Dann kann von einer Verwirklichung eines Unmöglichen recht besehen keine Rede sein. Denn indem es möglich war, den Widerstand zu überwinden, war die fragliche Handlung keineswegs unmöglich. Sie war von Anfang an möglich, vorausgesetzt der Widerstand wurde überwunden, bzw. der Widerstand war als solcher überwindbar. In diesem Fall erfüllt die Handlung nicht die an sie gestellte definitorische Bedingung: Oder aber der Widerstand war schlechthin unüberwindbar, dann aber war die fragliche Handlung im Grunde von vornherein zum Scheitern verurteilt. In diesem Falle war die gesuchte Realität nicht die einer gelingenden Handlung, die das Unmögliche möglich macht, sondern die einer scheiternden Handlung, bzw. diejenige eines Etwas an dem eine Handlung scheitert. Nun gibt es zweifellos in jenen theoretischen Ansätzen, die wir mit der Vorstellung der Existenzphilosophie verbinden, - so insbesondere in den philosophischen Ansätzen von Sartre, Jaspers und V. v. Weizsäcker eine Tendenz, dem Scheitern eine positive Wertung angedeihen zu lassen. Daß das Scheitern einer Handlung, ein Umsonst, eine Realität darstellt, wird man gewiß zugestehen. Ein solches Scheitern ist nicht schlechthin nichts. Vielmehr handelt es sich in einem solchen Falle um einen Vorgang, der irgendwelche Spuren hinterläßt, wie schwach diese auch immer ausgeprägt sein mögen. In manchen Fällen wird ein Scheitern unabsehbare Folgen haben. Gleichwohl wird man zögern, dem Scheitern als solchem und im allgemeinen eine eminente Realität zuzugestehen. Ähnlich liegen die Dinge bei den Widerständen, die ein Vorhaben verhindern, bzw. eine Handlung unmöglich machen. Es gibt höchst unterschiedliche Arten von Widerständen, aber auf jeden Fall ist auch ein Widerstand eine Realität, mag es sich um eine

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äußere Weltgegebenheit, eine bestimmte Situation oder um einen inneren Widerstand handeln, um einen Widerstand, der im Handelnden selbst gelegen ist und sich von diesem auf die Handlung oder auf den Handlungszusammenhang überträgt. Auch innere Widerstände sind Realität, so gut wie äußere. Aber sind dies Realitäten in einem ausgezeichneten Sinne, in einem Sinne, an dem sich Realität überhaupt bernißt, - als Realität muß bemessen lassen. Aristoteles hat zwischen einer freien, überlegten Willensentscheidung (Prohairesis) und einem Wollen (Boulesis) unterschieden. Nur im letzteren Falle gibt es eine mögliche Beziehung auf das Unmögliche. Der menschliche Wille kann das Unmögliche Wollen, auch wenn er sich nicht in freier Überlegung für ein Unmögliches entscheiden kann. Als Beispiel für ein Wollen des Unmöglichen nennt Aristoteles das Nicht-Sterbenwollen; ferner das Etwas für einen Anderen wollen. Man kann die Liste eines solchen Wollens des Unmöglichen beliebig verlängern. Ein Mensch will gesund werden, auch wenn er nach menschlichem Ermessen nie mehr gesund werden wird. Ein Mensch will glücklich sein und dies auch dann, wenn ein solches Glück zu erreichen, wie auch immer, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Das Wollen des Unmöglichen ist eine Realität. Es ist dies, wie die Beispiele zeigen, eine eminente menschliche Realität. In seiner Unterscheidung gegenüber der freien und überlegten Willensentscheidung ähnelt ein solches Wollen der Begierde, bzw. dem Trieb. Kant hat in seiner späten Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" den guten Willen des Menschen, anders als in seinen früheren Schriften zur praktischen Philosophie unter die Bedingung eines unausrottbaren Hanges eben dieses Menschen zum Bösen gestellt. Der gute Wille ist angesichts des genannten Hanges, ein Wille, Herr zu werden über diese menschliche Bedingtheit. Der gute Wille will des Bösen Herr werden, und zwar endgültig, wenn er in Wahrheit ein guter Wille sein will. Auch ein solcher guter Wille ist demnach ein Wollen des Unmöglichen, wie bewußt er auch sein mag. Gibt es ein Wollen des Unmöglichen? Man wird einwenden, daß es im Falle eines solchen Wollens im Grunde immer nur um einen Wunsch gehe. Das Unmögliche könne nicht gewollt, sondern nur gewünscht werden. Aber wie unterscheiden wir zwischen Wollen und Wünschen? Bekanntlich ist dem einen der Wille, was dem anderen der Wunsch ist. Wollen und Wünschen sind menschliche Realitäten. Es mag so sein, daß das Wollen des Unmöglichen aus der Sicht eines anderen nur ein frommer Wunsch ist. Vielleicht, weil er eine andere Ontologie, eine andere Vorstellung von dem hat, was real und was Realität ist. Aber das Wollen des Unmöglichen ist eine Realität wie das Wollen des Möglichen. Jenes ist ein pathisches Wollen, keineswegs ein pathologisches Wollen. Das Wollen des Möglichen ist ontisch. Das Wollen des Unmöglichen ist etwas schlechthin anderes als das bloße Wünschen. In gewisser Hinsicht sind Wünsche vernünftiger als das Wollen des Unmöglichen. Weizsäcker hat deswegen im Blick auf die pathische Existenz des Menschen von Leidenschaft gesprochen: von den Leidenschaften des Könnens, des Sollens, des Müssens, des Dürfens und des Wollens. Aber keine der pathischen Existenzweisen, auch nicht die des Wollens, muß Leidenschaft sein. Alle diese Existenzweisen kön-

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nen auch die Gestalt der Vernunft haben, oder auch die einer Verbindung von Vernunft und Leidenschaft. Alle jene pathischen Existenzweisen sind Beweg- und Triebkräfte des Menschen, die diesen in seinen natürlichen und gesellschaftlichen Lebensformen bestimmen. So ist auch der Wille, in seiner Differenz gegenüber dem Wunsch, eine Instanz der Realisierung von etwas, eine Realität der Realisierung von etwas. Was ein solches Wollen des Unmöglichen realisiert, ist eine Realität in einer bestimmten Beziehung zur Realität des Unmöglichen. Wir verfügen über keine bestimmten Kriterien, um eine solche Realität von der Realität einer realisierten Möglichkeit zu unterscheiden. Und wir haben auch kein bestimmtes Maß, um den Abstand zwischen der Realität, die das Wollen des Unmöglichen realisiert, und der Realität des Unmöglichen zu messen. Dieser Mangel an Kriterien und Maßen besagt aber nicht, daß das Wollen des Unmöglichen nicht eine der ausgezeichneten menschlichen Realitäten ist.

Das Zwischen Eine Besonderheit des japanischen Denkens* Von Yoshikazu lkeda, Takayama Es ist für mich eine große Ehre und Freude, über das, womit ich mich seit langem im Denken beschäftige, in unmittelbarem Zusammenhang mit den beiden hier zur Debatte stehenden Begriffen Komplementarität und Dialogik reden zu dürfen. Mir ist aber gleichzeitig sonderbar zumute, in diesem wunderschönen Städtchen gleich vor den Toren meiner zweiten Heimat Berlin an einer internationalen Konferenz teilzunehmen, deren Zweck darin bestehen soll, mitten in unserer gespaltenen und abgespaltenen Welt eine neue Möglichkeit des Denkens zu finden, das uns befähigt, Widersprüche und Gegensätze zu ertragen und sie sogar zu konstruktiven solidarischen Momenten der Koexistenz und der Dialoge zu machen. Mit tiefer Wehmut erinnere ich mich an jene bewegenden und bewegten Tage in den ausgehenden 60er Jahren in Berlin, wo ich mich als junger Student der Philosophie mitten im großen politisch-gesellschaftlichen Tumult befand. Damals habe ich, da ich mich als armer ausländischer Student über Wasser halten mußte, in einem Jugendgästehaus gleich vor der Mauer im Tiergarten gearbeitet. Unter den dort arbeitenden Werkstudenten war es eine schöne Gewohnheit, an jedem Abend zu dritt oder zu viert durch den stillen, menschenleeren Tiergarten spazieren zu gehen, entlang des Landwehrkanals und der unendlichen grauen Mauer. In vielen, oft in das damals sehr übliche Extrem geratenen Gesprächen wurde uns immer klarer bewußt, daß die Stadt Berlin - wir wußten natürlich nicht warum und wozu - einen sehr sonderbaren symbolischen Charakter für das ganze Schicksal der Menschheit im 20. Jahrhundert besitzt, daß Berlin das Geheiß und Geschick unseres Jahrhunderts verkörpert. Deswegen haben wir uns damals mit dem Schick-

* Dieser behutsam redigierte Text geht auf einen Vortrag anläßlich des vom Herausgeber dieses Bandes initiierten DFG-Symposiums "Komplementarität und Dialogik in Wissenschaft und Alltag" in Buckow bei Berlin zurück. Vom Verfasser wird darauf verwiesen, daß alles Gesprochene sein eigenes Leben habe, das wie unser menschliches Leben tief vom Hier und Jetzt durchdrungen sei und gleich diesem eine vergängliche, aber um so lebendigere Einmaligkeit besitze. In Wahrung der zen-buddhistischen Tradition, wonach man sich in jeder Begegnung seinem Partner gegenüber so zu verhalten habe, als sei dies die erste und letzte Begegnung, sollte dieser Text möglichst nicht vom gesprochenen Wort abweichen. Da der Verfasser auf jegliche Quellenangaben verzichten wollte, gibt der Herausgeber im Anschluß an den Text einige weiterführende Hinweise.

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sal der Stadt solidarisiert und uns mutig in ihr Geschick ergeben. Berlin war in dieser Zeit voll von ideologischen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Widersprüchen und Gegensätzen, die frontal miteinander zusammenstießen. Die Mauer war die gräßliche, versteinere Verkörperung der allumfassenden Konfrontation. Gestern im Zug, der mich über die inzwischen unsichtbar gewordene, aber immer noch überall grausame Spuren und Wunden hinterlassende Mauer hinweg über den Ostteil von Berlin nach Buckow führte, erinnerte ich mich an jene historische Trauerrede, die mein verehrter Lehrer, Helmut Gollwitzer, für den beim Berlin-Besuch des persischen Schahs erschossenen Studenten Benno Ohnesorg gehalten hat. Vor dem großen Trauerzug mit zehntausenden von Studenten und Bürgern wies er darauf hin, daß die Trauerkolonne mit dem Sarg als historischer Vorbote einer besseren Zukunft zu sehen ist, da sie zum ersten Mal von der damaligen Regierung der DDR die Erlaubnis bekommen hatte, ohne jegliche Kontrolle auf der Autobahn von Berlin nach West-Deutschland zu fahren. Die Hoffnung liege darin, daß nicht nur die Trauernden hinter dem Sarg, sondern zukünftig alle Menschen aus beiden Teilen des Landes ohne Sorgen frei fahren dürfen. Inzwischen sind schon mehr als 25 Jahre verflossen. Die Mauer, die versteinerten Grenzen, die die Menschen und Gesinnungen in Deutschland und in der Welt so lange Zeit getrennt und abgespalten hatten, sind weggefallen. Gollwitzers Worte haben sich anscheinend bewahrheitet. Aber, so muß man sich heute fragen, sind die Widersprüche und Gegensätze tatsächlich verschwunden, die sich in jenen versteinerten Grenzen so grausam und gräßlich verkörpert hatten? Ist es leider nicht eher so, daß neue und noch schlimmere und gefährlichere Widersprüche und Gegensätze, noch grausamere Spaltungen und Trennungen entstanden sind? Die Welt hat sich geändert, aber keines der wesentlichen Probleme ist gelöst worden. Anstelle der versteinerten Trennungslinien scheinen unsichtbare - und darum um so gefährlichere - Grenzen entstanden zu sein. Eine bloße Wiedervereinigung des Gegensätzlichen und des Widersprüchlichen scheint kein Problem wirklich zu lösen.

I. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben wir unverbittert und mit nahezu jugendlichem Vernichtungswillen versucht, unsere Welt zu verändern. Scheint es daher nicht die höchste Zeit zu sein, nicht nur Systeme und Strukturen der Gesellschaft und der Welt, sondern auch ihre Träger, die Menschen selbst, zu ändern? Nein, das ist falsch. Die anderen Menschen, die anders denken, ändern zu wollen, wird nur erneut zu versteinernden Konfrontationen führen. Es wird uns zu erneuten, noch grausigeren Standpunkt- und Ideologiekämpfen verleiten.

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Es ist darum die höchste Zeit, nicht die anderen Menschen, sondern uns selber auf unsere eigene, nur uns alleine verantwortlichen Weise so zu ändern, daß wir uns selber zu einem Modell der humanen Zukunft machen können. Das wäre der einzig mögliche Weg zu der jeweils inneren und eigenen Veränderung unseres Bewußtseins und unseres Verhältnisses zur Welt und zu den anderen Menschen. Auf diesem Weg unterwegs zu sein, bis zum Grunde dieses Weges zu gehen, an diesem Wege zugrunde gehen, das hieße Opferbereitschaft zu der wirklichen Neuen Welt. Dazu brauchen wir viel Geduld und Selbsterziehung asketischer Natur, weil es sich bei diesem Weg selbstverständlich um einen langen Reifungsprozeß unseres eigenen Geistes handelt. Dieser Weg kann keine plötzliche Herbeiführung einer neuen Gattung Mensch, keine Revolution sein, sondern ein jeweils eigener, einsamer Weg des jeweils einzelnen Menschen-Willens, der entschlossen ist, sich durch einen langen Prozeß des Sich-Änderns zum Vorboten einer friedlichen, gelasseneren, gereifteren Welt zu machen. In diesem inneren, verinnerlichten Reifungsprozeß, der im schärfsten Gegensatz zu jeglicher Idee des hastigen Fortschrittsgedankens steht, benötigt man keine vorausgeschickten Ideen, sondern konkrete Erlebnisse des Sich-Begegnens mit der Welt und den Menschen in den konkreten Szenen und Situationen des Lebens. Solange man von der Idee des Fortschritts besessen bleibt, muß man sich immer hastiger bewegen und immer schneller fortschreiten, weil die Hast und die Schnelle zum Wesen des Fortschritts gehören. Zum Wesen der Reife aber gehören geduldiges Warten und gelassene Hinnahme dessen, was uns in unserem Leben begegnet. Zur Reifung gehört sogar die Vergänglichkeit, die gerade im Verblühen die Früchte des Zukünftigen birgt. Der Prozeß der Reifung ist also ein real-komplementärer Prozeß, in dem Positives gleich Negativem und Negatives gleich Positivem ist, in dem das Leben in sich den Tod und der Tod in sich das Leben verbirgt. Der Prozeß des Fortschritts dagegen muß alles, was ihm im Weg liegt und ein Hindernis zu sein scheint, gewaltsam ausschalten, um sich den reibungslosen Fortgang zu sichern. Er ist seinem Wesen nach verdammt, kein Negatives zu dulden. Zu seinem Wesen gehört die unser technisches Zeitalter seltsam bestimmende Ungeduld gegen alles, was momentan untauglich zu sein scheint. Diese verhängnisvolle Ungeduld, die den Grundcharakter der Modeme ausmacht, muß zunächst und vor allem überwunden werden, um für Menschen und Welt jene tiefe, gelassene Ruhe wiederherzustellen, die mir die unentbehrliche geistige Voraussetzung für das Ertragen jeglicher komplementärer Wirklichkeit zu sein scheint. Zum Wesen des Fortschrittsgedankens gehört auch jene lineare Denkweise, die die klaren, immer klareren Linien zwischen Dingen und Phänomenen zu ziehen trachtet, weil die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten die gerade Linie ist, und schneller Fortschritt eben entlang der zwischen zwei Punkten gezogenen Geraden

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erzielt wird. Unser Denken ist im unruhigen Gang der Moderne immer kürzer und immer schneller geworden. Dies ist das Verhängnis unseres Zeitalters, das wesentlich vom europäisch-rationalistischen Denken geprägt worden ist. Dagegen kennt unsere asiatische Tradition, die nicht linear denkt, einen völlig anderen Weg, auf dem zwischen Dingen und Phänomenen immer ein breites "Zwisehen" gelassen wird. Dieses Denken eines "Zwischen ", das besonders in der japanischen Tradition gepflegt worden ist, kann - so glaube ich fest - gerade heute von großer Bedeutung sein, besonders aber, um ein ernsthaftes Gespräch zwischen Ost und West zustande zu bringen. Unsere asiatische Denktradition ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie keine Lautschrift, sondern eine sehr subtil vorgehende Bildersprache entwickelt hat. So ist für unser Denken selbstverständlich, daß auch auf den höchsten kognitiven Stufen des abstrakten Denkens ein Hauch des konkreten Wirklichkeits-Bildes nicht verloren geht, was jeden gedanklichen Sprung ins Leere - gewissermaßen den Selbstmord des Wortes - verbietet. Dies ist mit ein Grund dafür, daß unser Denken immer als ein ganzheitliches Denken wirklichkeitsnah bleibt. Der Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" ist deshalb für uns kein gedankliches Postulat, sondern eine im Wesen der Bildersprache tief verankerte Selbstverständlichkeit. Dies werde ich zunächst mit einem konkreten Beispiel zu zeigen versuchen, und zwar mit dem im Zentrum meiner Diskussion stehenden Wort "Widerspruch", das japanisch "mujun" heißt und in der Schriftform durch zwei Zeichen dargestellt wird, die Hellebarde und Schild darstellen.

11. Es war einmal ein Waffenhändler, der auf dem Marktplatz einer chinesischen Stadt den versammelten Passanten eine Hellebarde anbot. Er sagte, sie sei eine solch wunderbare Hellebarde, daß gegen sie kein Schild Widerstand leisten könne. Nachdem er seine Wunderhellebarde erfolgreich verkaufen konnte, ging er dazu über, ein ebenso wunderbares Schutzschild anzubieten, das von keiner Hellebarde der Welt zerschlagen werden könne. Da trat einer der Passanten hervor und fragte den Waffenhändler, wie es sein würde, wenn man mit der Wunderhellebarde gegen das Wunderschild schlagen würde. Der Waffenhändler wußte keine Antwort zu geben und lief schnell davon. Diese Geschichte gibt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Widerspruch in unserer Sprache wieder. Obwohl dieser ursprüngliche Wortsinn im Laufe des immer abstrakter werdenden Gebrauchs dem allgemeinen intellektuellen Bewußtsein verloren gegangen ist, bleibt ein gewisser militärischer Beigeschmack dieses Begriffs bestehen, der die Unmöglichkeit der äußersten Konfrontation (Gewalt gegen Gewalt) andeutet.

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Die Moral dieser Geschichte liegt erstens darin, daß der Waffenhändler, der die symbolische Figur des Teufels ist, mit seinen zwei kontradiktorisch fungierenden Waffen - Hellebarde und Schild - letzten Endes in ein logisches Dilemma geraten muß, wenn er jeder der gegenseitig streitenden Parteien jeweils einen perfekten Anspruch zuerkennt. Die zweite Moral besteht darin, daß die Existenz, das SeinKönnen des einen, das Sein-Können des anderen voraussetzt, und daß damit ein gewisser Spielraum, ein Zwischenraum zur Herstellung der friedlichen Koexistenz hergestellt werden muß, wenn man sich nicht in maßloser Eskalation gegenseitig zugrunde richten will. Die direkte Konfrontation der zwei sich gegenseitig widersprechenden und ins äußerste Extrem übertriebenen Positionen muß durch das beiderseitige Bewußtsein eigener Begrenztheit und ewiger Unvollkommenheit vermieden werden. III. Aus dieser wundervollen Geschichte ließe sich aber vielleicht ein dritter, neuer Weg gewinnen, wenn man sich vorstellte, wie es wäre, wenn einer die beiden wunderbaren Waffen, die Wunderhellebarde und das Wunderschild, für sich besäße. Dann bräuchte man die beiden Waffen nicht gegenseitig kämpfen zu lassen. Wer sie in friedlicher Vereinigung erhalten könnte, wäre offenbar der Unbesiegbare, der Sicherste. Dies ist aber - wenn man weiter und genauer nachdenkt - ein verführerischer Irrtum. Sonst hätte doch der Waffenhändler, der die beiden Wunderwaffen zum Verkauf feil bot, der König aller Könige auf Erden sein können. Seine Lüge bestand eben in der Behauptung, daß es vollkommene Waffen geben könne. Die dritte Moral dieser Geschichte besteht also darin, daß man einsehen sollte, daß es auf dieser Erde für uns Sterbliche keine Vollkommenheit geben kann, sei es vollkommene Wahrheit, sei es vollkommene Erkenntnis. Unsere Welt ist voll von Widersprüchen, sie besteht aus lauter Widersprüchlichkeiten. Der Waffenhändler sieht aber, weil sein Geschäft nur in militärisch-kriegerischen Auseinandersetzungen Chancen haben kann, in allen Phänomenen nur Gegensätze an Stelle von Widersprüchen. Seine logische bzw. logistische Strategie nötigt ihn dazu, Widersprüche, in deren Spannungsfeldem sich das ereignet, was man "Wirklichkeit" nennt, immer in Gegensätze umzuwandeln. Bei einem Gegensatz stehen zwei Elemente immer im Streit miteinander, so daß zwischen ihnen höchstens eine Versöhnung erzielt werden kann, vielleicht durch Vennittlung oder durch Aufhebung, wie man es gerade nennen will. Dagegen ist jeder wirkliche Widerspruch ein lebendiges Verhältnis, in dem zwei Gegenüber sich völlig gleichberechtigt zueinander verhalten; das heißt ein Verhältnis, in dem ein Gegenüber nie zu einem einseitigen Gegenstand, zu einem bloßen Objekt degradiert wird. Widerspruch ist demnach ein Spannungsfeld, in dem zwei

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Gegenüber sich durch die wirkende Kraft der Wirklichkeit begegnen, ohne daß das eine durch das andere vernichtet oder einverleibt wird. Solange ein Widerspruch mit einem Gegensatz verwechselt bleibt oder solange er absichtlich in einen Gegensatz umgewandelt wird, gibt es keine wirklich friedliche dynamische Koexistenz der zwei sich widersprechenden und darum gleichzeitig in einer gegenseitigen Dependenz stehenden Gegenüber. Es gibt aber immer Menschen und Parteien, die in den natürlichen Widersprüchen nur gekünstelte Gegensätze und Konflikte, Kämpfe und Auseinandersetzungen sehen wollen. Unsere geistige Aufgabe wäre es dann, Widersprüche von jeglichem militarisierenden Gegensatzdenken zu befreien und sie als fürs Leben unentbehrliche Gegebenheiten gelassen hinzunehmen, so wie sie sind. Unser Leben ist an und für sich ein geheimnisvoller Widerspruch, unsere Welt ist ein widerspruchsvolles Geheimnis. Geheimnis und Widerspruch braucht man nicht zu lösen, man soll vielmehr versuchen, sich in ihnen aufzuhalten oder mit ihnen zu leben.

IV. Bevor zwei Dinge oder zwei Positionen A und B sich gegenüberstehen können, muß es ein "Zwischen" geben, den die totale Identität von A und B wäre ein völliges Verschwinden des Abstandes. Um ein Verhältnis herzustellen, muß immer schon ein Zwischen da sein. Bis hierher habe ich allzu dualistisch gesprochen, um das, was ich denke, auch einem europäischen Publikum verständlich zu machen. Jetzt muß ich einen Schritt zurück zu unserer japanischen Denktradition gehen, in der nicht die dichotomische Gegenüberstellung von A und B, sondern vor allem das ,,Zwischen" gilt, in dem und mit dem erst jede mögliche Gegenüberstellung stattfinden könnte. In unserer Tradition kommt es also immer darauf an, was für ein Zwischen bei A und B gegeben ist. Das Zwischen ist mehr als ein bloßes, wie auch immer verschiedenartiges Verhältnis, das erst durch die Begegnung von A und B hergestellt wird. Das Zwischen ist etwas, was erst das Sein-Können, das Mit-Sein aller Dinge und Phänomene ermöglicht. Im Japanischen wird der Mensch immer als Zwischenmensch bezeichnet, was "Mingen" heißt. Unsere Sprache kennt keinen isolierten Menschen ohne Mitmenschen. Der Mensch ist immer Zwischen-Mensch. Er kann als Mensch nur leben zwischen Menschen. Ohne "Zwischen" ist er also kein Mensch. Beim menschlichen Leben kommt es deshalb immer darauf an, in welch einem Zwischen man sich befindet. Dieses Zwischen, außerhalb dessen der Mensch sich nicht befinden kann, ist selbstverständlich immer mehr als die bloße Summe der Verhältnisse, die er mit seinen Mitmenschen und seiner Mit-Welt schließt. Mit diesem japanischen Sprachgebrauch des Zwischenmenschen korrespondiert unmittelbar ein anderer, nämlich die Bezeichnung von Raum und Zeit. Wir be-

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zeichnen im Japanischen "Raum" immer als Zwischenraum (Kuhan) und "Zeit" immer als Zwischenzeit (Jikan), oder noch genauer gesagt, wir reden von "RaumZwischen" und "Zeit-Zwischen". Raum und Zeit werden demnach aufgefaßt als zwei Seinsmodi eines und desselben Zwischens, in dem alles, was ist (wörtlich verstanden), sich findet und befindet. Der Mensch ist ein Zwischen-Mensch, das heißt, der Mensch ist ein Zwischen. Er findet und befindet sich in Zeit und Raum, weil er ein Zwischen ist und nicht umgekehrt. Wir Zwischen-Menschen sind weltlich und sterblich, weil wir uns immer in Raum und Zeit befinden, die die beschränkten Modi des "Zwischen" sind. Das Zwischen bleibt aber durch unsere Einschränkung in Raum (das heißt Weltlichkeit) und Zeit (das heißt Sterblichkeit) immer verstellt und verborgen. Nur in ekstatischen Augenblicken - zum Beispiel beim friedlichen Beisammensein von Kleinkind und Mutter oder in der entzückten Umarmung der Liebenden - offenbart sich das wahre Zwischen, die uneingeschränkte, unbeschränkte, reine Offenheit, in der die zwei sich Widersprechenden - die schöpfende Mutter und das geschöpfte Kind oder Mann und Frau - trotz ihrer existentiellen Trennung vereinigt sind. UnserMenschenleben ist vielleicht ein Unterwegs-Sein auf der Suche nach diesem Zwischen, wir sind durchdrungen von der tiefen Sehnsucht nach diesem geheimen Zwischen. Wer aber zeit seines Lebens dieses ekstatische Zwischen nie erleben kann und will, der wäre ein für die Ewigkeit verlorenes Erdenkind. Ich frage mich aber, ob das Verschwinden dieses "Zwischen" zwischen Mensch und Welt nicht zum universalen Schicksal der Modeme geworden ist.

v. Das Zwischen Uapanisch: "Ma") ist - bildlich gesehen - vager und unklarer als die gerade Linie. Das Zwischen läßt sich durch keine Abgrenzungen und Teilungen sezieren und analysieren. Es kann nur in der konkreten Begegnung, im konkreten Mit-Sein mit den Mitmenschen und der Welt erlebt werden. Es offenbart sich nur im ganzen lebendigen Erlebnis. Am Ende meines kleinen Beitrags möchte ich ein schönes Haiku-Gedicht von unserem großen japanischen Dichter Basho aus dem 17. Jahrhundert vorstellen, das vielleicht viel bildlicher und konkreter das wahre Wesen des Zwischen darstellen und vorstellen kann: Inochi futatsuno naka ni ikitaru Sakura kana Zwischen den zwei Seelen blüht so lebendig eine Kirsche.

Nach der Überlieferung entstand dieses Haiku, als Basho sich auf seiner ersten großen Wanderschaft nach Westen befand. Sein alter Schüler, Hattori Doko, der

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Yoshikazu Ikeda

Basho 20 Jahre lang nicht gesehen hatte, erfuhr, daß sein verehrter Lehrer in der Nähe seiner Stadt unterwegs war. Er sprang sofort auf sein Pferd, um Basho schon vor seiner Ankunft empfangen zu können. Nach langem Suchen gelang es ihm endlich, Basho in der Stadt Minakuchi am Biwa-See zu finden. Schweigend trat er in das Zimmer der Gaststätte, in dem Basho sich aufhielt und schon auf ihn wartete. Zwischen den beiden findet kein Dialog statt, nur ein Kirschzweig blüht in voller Pracht, vielleicht in einer Vase arrangiert, die die Wirtin der Gaststätte hingestellt hat. Vielleicht sehen die beiden auch vor dem Fenster einen Kirschbaum in voller Blüte. Die Kirsche ist in Japan - wie allgemein bekannt - ein Symbol der Schönheit und Vergänglichkeit. Sie ist schön, weil sie vergänglich ist. llire Blüte ist von so unsagbarer Pracht, aber nur von so kurzer Dauer. Ein starker Wind oder ein heftiger Regen in der Nacht genügen, ihre volle Schönheit zu vernichten. Gedeihen und Verderben, Leben und Tod, Aufgehen und Untergehen sind eines in ihrer Blüte, im ekstatischen Augenblick ihrer vergänglichen Schönheit. Das ist unser Leben. Das braucht man nicht zu erklären oder zu analysieren. Man nimmt einfach hin, wie es ist. Ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln, nehmen Basho und Doko wahr, daß die Kirsche sich in ihrer vollen Blüte befindet. In diesem Augenblick begegnet eine Menschenseele einer anderen Menschenseele wirklich. Jede echte Begegnung dieser Art ist einmalig. Nur die Begegnung, deren Einmaligkeit ekstatisch wahrgenommen wird, öffnet den zwei Seelen das ,,zwischen", das das einmalige Beisammensein-Können von zweierlei Menschen auf dieser Erde überhaupt ermöglicht. Ohne dieses Zwischen kann keine echte Zwiesprache zwischen den zweierlei Menschenseelen stattfinden. Jeder Dialog ist vielleicht ein zwar ehrliches, aber im Grunde genommen doch vergebliches Bemühen unserer Seelen, jenes Zwischen herzustellen, das nur im jeweils einmaligen Begegnen der Widersprüche sich ereignen kann. 1

1 Sowohl mit Blick auf die Rahmenthematik des Bandes als auch auf die geistesgeschichtlichen Implikationen, die sich mit dem Gedankengang des vorliegenden Textes verbinden, sei im folgenden auf einige neuere Beiträge verwiesen. Hubertus TeIlenbach, Das ,,Zwischen" und die Rolle. Zur Konditionsanalyse endogener Psychosen, in: Zschr. für klin. Psychologie und Psychotherapie 26 (1978), S. 142-148; Bin Kimura, Phänomenologie des Zwischen - zum Problem der Grundstörung der Schizophrenie, in: Zschr. für klin. Psychologie und Psychotherapie 28 (1980), S. 34-42; H. TeIlenbach, Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, 4. Aufl., Berlin I Heidelberg/New York 1983; Kah Kyung Cho, Bewußtsein und Natursein. Phänomenologischer West-Ost-Diwan, Freiburg/München 1987; H. TeIlenbach, Phänomenologische Analyse der mitmenschlichen Begegnung im gesunden und im psychotischen Dasein, in: Heidelberger Jahrbücher 34 (1990), S. 95 -103; Bin Kimura, Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität, Darmstadt 1995.

Leben im Zwischen Vorüberlegungen zu einem erkenntniskritischen Verständnis der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers 1

Von Rainer-M. E. Jacobi, Essen

Es ist sicher nicht übertrieben, den von Viktor von Weizsäcker geprägten Begriff des "Gestaltkreises" als den am häufigsten zitierten und am wenigsten verstandenen seines Werkes zu bezeichnen. Gleichwohl steht er für eine Thematik, die Weizsäcker - folgt man seinen Schriften - spätestens seit seiner "Naturphilosophisehen Vorlesung" im Wintersemester 1919 / 20 bis hin zu seinem Spätwerk beschäftigt hat. 2 Mithin finden sich über sein gesamtes Werk verteilt Äußerungen, Andeutungen und Entwürfe zu dem, was hier unter "Gestaltkreislehre" verstanden werden soll. So daß es einem Mißverständnis gleichkäme, sie allein auf jenes vielzitierte Werk mit dem Titel "Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" reduzieren zu wollen. 3 Wie es gleichfalls ein Mißverständnis wäre, wollte man Weizsäckers Werk im Ganzen verstehen, 'ohne die Gestaltkreislehre verstanden zu haben. Daß dies allenthalben der Fall ist, wird man mit der Ge1 Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Rezeption des Weizsäckerschen Werkes, die 1940 unter dem Titel "Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" erschienene Schrift zwar als am weitaus häufigsten zitiert zu finden, zugleich aber feststellen zu müssen, daß dies in den seltensten Fällen mit der Bemühung um ihr Verständnis einhergeht. Eine kritische Würdigung der vorliegenden Deutungsversuche ist hier nun ebensowenig beabsichtigt, wie der Versuch einer Deutung selbst; dies sei einer weiteren Untersuchung vorbehalten. Statt dessen geht es in der Tat nur um Vorüberlegungen, die einen bislang nicht beachteten Verstehenszugang zu eröffnen suchen. Daß diese auch einen Beitrag zur Bestimmung der ,Konturen medizinischen Denkens' leisten, mag dem Ansinnen des vorliegenden Bandes dienlich sein. Anregung und Hilfe in den langjährigen Gesprächen mit Prof. Dr. Dieter Janz entziehen sich üblicher Dankesfonnel. 2 Hier sei auf den Band 2 "Empirie und Philosophie-Herzarbeit I Naturbegriff' der Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers (Hrsg. von Peter Achilles/Dieter Janz/Martin Schrenk/Carl Friedrich von Weizsäcker), Frankfurt1M. 1998 verwiesen, der die frühen naturphilosophischen Texte Weizsäckers enhält, sowie auf den Band 4 "Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" (Frankfurt1M. 1997), der neben dem titelgebenden Haupttext alle weiteren Texte des unmittelbaren thematischen Umfeldes enthält. Unter Spätwerk sei seine Schrift "Pathosophie" verstanden, die als letztes größeres Werk vor seinem Tod erschien (Göttingen 1956). 3 Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart 1940 (6. Auf!. 1996).

7 Selbstorganisation, Bd. 7

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staltkreislehre selbst in Verbindung bringen müssen; so als ob deren Unverständnis gleichsam konstitutiv sei für das Bemühen um ihr Verständnis. Diese eigentümliche Paradoxie macht es nötig, den bislang wenig beachteten geistes geschichtlichen Kontext in den Blick zu nehmen. Einen ersten Beitrag hierzu versuchte Weizsäcker übrigens selbst schon zu leisten, indem er der 1950 erschienenen vierten Auflage des Gestaltkreis-Buches ein ungewöhnlich umfangreiches Vorwort in, wie es scheinen will, kommentierender Absicht voranstellte. 4 Neben einigen Nachdenklichkeiten zur Begriffsbildung "Gestaltkreis" und dem Hinweis auf neuere Arbeiten zur sinnes physiologisch-experimentellen Dimension der Gestaltkreislehre, kommt wie sonst an keiner Stelle in seinem Werk die Intention und Tragweite dieser Konzeption zur Sprache. So erweist sich ihm die Frage, "ob die Anfänge im Laboratorium, in der Klinik oder in der theoretischen Spekulation lagen" als ebenso unbeantwortbar, wie jeglicher Versuch einer Zuordnung der Gestaltkreislehre zu "Biologie, Psychophysik, Naturphilosophie" fehl ginge. 5 Wichtiger ist ihm der Hinweis, daß hier eine neue "Arbeitsweise und Denkweise" in der Medizin grundgelegt werden soll, die er als "medizinische Anthropologie" bezeichnet und in Verbindung mit einer "Veränderung des Wissenschaftsbegriffes" bringt. Wissenschaft gilt ihm hier "nicht als ,objektive Erkenntnis' schlechthin, sondern ... als eine redliche Art des Umganges von Subjekten mit Objekten. Die Begegnung, der Umgang ist also zum Kernbegriff der Wissenschaft erhoben.,,6 Nun ist dieser veränderte Wissenschaftsbegriff selbst die Folge eines Umganges, nämlich desjenigen mit dem kranken Menschen. Liegt genau hier der eigentliche Ausgangspunkt der Bemühungen Weizsäckers, so markiert er zugleich auch den "philosophischen Charakter dieser medizinischen Anthropologie." Denn die "Vertiefung in einen Gegenstand selbst" - hier also der Umgang mit dem kranken Menschen - "nötigt zu jenen Wesens bestimmungen, für welche sich in der Geschichte der Philosophie entdeckte Begriffe zunächst anbieten, dann aber neu probiert, korrigiert, verlassen oder wiederhergestellt werden müssen.,,7 Mit anderen Worten: im Umgang mit der Wirklichkeit, auch und besonders der des kranken Menschen, vollzieht sich ein Begriffswandel, dem dann die Veränderung des Wissenschaftsbegriffes selbst folgt. Weizsäcker kleidet diesen Begriffswandel in das Bild einer Krise, "die darin besteht, daß eine Stufe der klassischen Naturwissenschaften unter Kritik gestellt werden muß und so die Denkweise im Gestaltkreis entsteht. Diese neue Stufe wird also nur erreicht, indem die klassischen Begriffe sich teils ändern, 4 Der verständnisleitende Charakter dieses Vorwortes ist noch kaum zur Kenntnis genommen worden. Soweit dem Verfasser bekannt, gibt es eine Rezension, die anläßlich der 4. Auflage des Gestaltkreis-Buches erschien, und eben diesen Umstand nachdrücklich würdigt. Vgl. Klaus Conrad, Rezension zu Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 4. Auflage, Stuttgart, Georg Thieme 1950, in: Zb!. ges. Neuro!. Psychiat. 42 (1951) 6/7, S. 112 5 Weizsäcker, Gestaltkreis (FN 3), S. XIV. 6 Ebd., S. Xv. 7 Ebd., S. XVIII.

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teils in andere Beleuchtung rücken, teils verlassen werden. An die Stelle jenes naturwissenschaftlichen Weltbildes tritt eben das, was wir Gestaltkreis nennen und die Realität in ihm kann daher eine ,cyklomorphe' genannt werden (ein Terminus, der noch nicht benützt wird)."s Die Tragweite des hier Ausgesagten kann schwerlich überschätzt werden: Weizsäcker betrachtet die "Denkweise im Gestaltkreis" gleichsam als neuen Wissenschaftstypus, der die klassische Naturwissenschaft ablöst und assoziiert damit ein der heutigen Rede vom Paradigmen-Wechsel vergleichbares geistesgeschichtliches Phänomen. Auch kann nicht übersehen werden, daß hiermit, zwar nicht expressis verbis, so doch sinngemäß zum Ausdruck kommt, daß eine sich im herkömmlichen Sinn als ,naturwissenschaftlich' verstehende Medizin die Wirklichkeit des kranken Menschen notwendig verfehlt. Nur folgerichtig ist es dann, wenn der Aufbau der medizinischen Anthropologie - was Weizsäckers "hauptsächliches Bemühen" ausmacht - untrennbar mit einem "Grundbegriff-Wandel" einhergeht. Freilich nicht irgendeines Grundbegriff-Wandels, sondern des Wandels - oder wie er auch formuliert: der Revision - der Grundbegriffe unseres bis in das Alltagsbewußtsein reichenden Weltbildes der klassischen Naturwissenschaft: Zeit, Raum, Zahl, Kraft und Energie; damit auch unserer Vorstellungen von Kausalität, Materie und Geschichte. 9 Mit der "Denkweise im Gestaltkreis" verbindet sich dann nicht nur ein neues Bild vom Menschen und seiner Wirklichkeit, sondern ein neues Bild der Welt im Ganzen, also auch der Weise, wie wir Menschen in dieses Ganze hineingehören. Hier ist nicht der Ort, die Angemessenheit dieses Anspruches kritisch zu befragen, beziehungsweise zu überprüfen, wieweit Weizsäcker selbst diesem Programm Genüge getan hat. Vorrangiges Interesse gilt vielmehr der Frage, inwiefern der genannte Umgang mit der Wirklichkeit des kranken Menschen zu diesen weitreichenden Konsequenzen Anlaß zu geben vermag? Daran erst schlösse sich die Frage nach den Bestimmungsstücken oder Kategorien der "Denkweise im Gestaltkreis" an, was einer Entfaltung der Gestaltkreislehre gleichkäme, die hier nicht zu leisten ist. Mit der ersteren Frage indes wird nicht nur die Genese des GestaltkreisEbd., S. XVIII. Genau besehen bildet die "Erkenntniskritik der Grundlagenbegriffe" die freilich immer im Hintergrund bleibende Intention des Weizsäckerschen Werkes. Zwar stellt er seine eigenen Bemühungen gelegentlich in die Nähe dessen, was in der Physik der zwanziger Jahre geschah, vermutet aber im Rückblick, daß seinem Biologieverständnis die Aufforderung innewohne, "in der Revision der Grundbegriffe der Naturwissenschaft voraussichtlich noch weiter zu gehen als die Physik." (Ders., Funktionswandel und Gestaltkreis (1950), in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 619-631, Frankfurt/M. 1990, hier S. 62\). In seinem Bemühen um ein neues Verständnis von Kausalität, Materie und Geschichte wird immer auch ein genuin naturphilosophisches Interesse spürbar, das übrigens nicht, wie zumeist angenommen, auf seine frühen Schriften beschränkt bleibt, sondern ein konstitutives Element seines Werkes bildet. Hierzu sei auf die in Vorbereitung befindliche Untersuchung des Verf. verwiesen: Kranksein und Wissen. Zur geistesgeschichtlichen Bedeutung der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers. 8

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Entwurfs in den Blick genommen, sondern jener geistes geschichtliche Kontext erschlossen, von dem her ein Grundverständnis der Weizsäckerschen Intention allererst möglich wird. Hierzu muß auf Texte zurückgegangen werden, in denen die "Vertiefung in einen Gegenstand", von der in besagtem Vorwort die Rede war, tatsächlich geleistet worden ist. Es wird zu zeigen sein, daß in der Tiefe der ärztlichen Elementarsituation, des Umgangs mit dem kranken Menschen also, eine Problematik verborgen liegt, die sich dem Bewußtsein unserer herkömmlichen Grundbegriffe entzieht. Insofern hat die "Denkweise im Gestaltkreis" mehr noch als mit dem Wandel der Grundbegriffe, mit den Grenzen des bewußten Denkens selbst zu tun. Die Schwierigkeiten ihres Verständnisses nehmen genau hier ihren Ausgang.

I. Gemeinsam mit Martin Buber und Joseph Wittig begründet Viktor von Weizsäkker, nicht ohne anfangs größte Zurückhaltung gezeigt zu haben, die Zeitschrift "Die Kreatur".10 In deren erstem Jahrgang (1926/27) kommen zwei Texte Weizsäckers zum Druck, die als programmatisch für sein gesamtes weiteres ärztliches und geistiges Wirken gelten dürfen. Der Titel des ersten Textes lautet: "Der Arzt und der Kranke", der des zweiten "Die Schmerzen", beide verbindet der Untertitel "Stücke einer medizinischen Anthropologie". Im späteren Nachdruck vereint dieser Untertitel beide Texte mit einem weiteren Text "Krankengeschichte", der im zweiten Jahrgang (1927/28) der Zeitschrift "Die Kreatur" erschienY Nun gilt unser Interesse eigentlich weniger diesen Texten und ihrem gedanklichen Reichtum, zumal hier bereits die Umrisse einer "neuen Medizin" skizziert werden, die Weizsäcker dann später als eine "anthropologische" bezeichnen wird, als vielmehr dem, 10 Die Bedeutung dieser von Martin Buber angeregten Zeitschrift, die als Vierteljahresschrift von 1926 - 1930 bestand, muß vor dem Hintergrund der geistigen und religiösen Situation Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg beurteilt werden. Sie verstand sich als ein Beitrag zur "Konvergenz des religiösen Bewußtseins", freilich im Sinne einer erneuerten Religion, wie sie an der Haltung der Herausgeber zu ihrer eigenen Konfession ersichtlich wird. In seinem autobiographischen Bericht gibt Weizsäcker eine überaus prägnante Einschätzung der Zeitsituation, worin wohl auch die Bereitschaft zur eigenen Mitarbeit gründete: "Die religiöse Erregung, die ein großer und vor allem ein verlorener Krieg immer zur Folge hat, führte nach dem Weltkriege nicht zu einer Konvergenz des religiösen Bewußtseins, sondern zu einer unübersehbaren Divergenz der Arten, geistig zu existieren. Dies mußte jeder sehen, und diese Zerstreuung, dieser Zweifel darüber, nicht nur was christlich, sondern was überhaupt religiös sei, hat dann folgerecht zu einer ungeheuerlichen Katastrophe in Deutschland geführt." (Ders., Begegnungen und Entscheidungen (1949), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 191399, Frankfurt/M. 1986, hier S. 197). Vgl. auch jüngst Elizabeth Petuchowski, Die Kreatur, an Interdenominational Journal, and Martin Buber's Strange Use of the Term ,Reality' (,Wirklichkeit'), in: Dtsch. Vierteljschr. Litwiss. Geistesgesch. (1995) 4, S. 766 -787. 11 Jetzt eröffnen diese drei Texte den Band 5 der Gesammelten Schriften (im folgenden als GS zitiert) "Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie", Frankfurt/Mo 1987. Der Anhang dieses Bandes gibt noch einige weiterführende Hinweise zur Gründungsgeschichte der Zeitschrift "Die Kreatur" und zur Bibliographie der genannten Texte.

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was diese Texte zu wirklichen Grundtexten macht. So spricht viel dafür, daß die insgesamt mangelhafte Rezeption des Weizsäckerschen Werkes, auch die häufig zu beobachtenden Mißverständnisse, mit dem Unvermögen zu tun haben, die in den frühen Texten formulierte Programmatik überhaupt wahrzunehmen. Erschwerend kommt freilich hinzu, daß es sich bei den genannten und noch einigen wenigen anderen Texten dieser Zeit in der Tat um in vielerlei Hinsicht besondere Texte handelt. Wobei es ihrem paradigmatischen Charakter durchaus entspricht, daß sie nicht eigentlich Fachtexte sind. Weder sind sie in medizinischen Fachorganen erschienen, noch als Vorträge vor medizinischem Fachpublikum gehalten worden, sondern für die einem breiten gebildeten Publikum anempfohlene "Kreatur" geschrieben oder aber vor Theologen und Philosophen vorgetragen wordenY Sie galten nicht zuerst einer Disziplin, sondern zunächst wohl der geistigen Situation der Zeit. Der eigentümliche Stil dieser Texte mag diesem Umstand geschuldet sein. In Anlehnung an eine Collage fließen mitunter - im besten Sinne des Wortes - belletristische Elemente ein, was auf den ersten Blick die intendierte Problematik eher zu verbergen als zu erhellen scheint. Insofern dies nun gerade im Text "Die Schmerzen" arn ausgeprägtesten der Fall ist, es sich aber hier um den Grundtext der Gestaltkreislehre schlechthin handelt, gerät die Frage nach der Angemessenheit des Stils in ein völlig neues Licht: so als ob Textgestalt und Duktus schon ein Teil jener Erkenntniskritik sind, der als verborgenem Thema der Text im Ganzen gilt? Ohne diesen Überlegungen jetzt weiter nachgehen zu können, bleibt als Kennzeichen dieser Texte ihre Ambiguität festzuhalten, gleichsam als Zeugnis jener "Vertiefung in einen Gegenstand", von der schon die Rede war: einerseits also wirklicher Grundtext der medizinischen Anthropologie zu sein, andererseits aber den disziplinären Rahmen dessen, was gemeinhin unter Medizin verstanden wird, zu sprengen. Man wird daher nicht umhin können, in diesem transdisziplinären Gestus ein Kennzeichen der medizinischen Anthropologie selbst zu sehen. Doch nicht die zur plakativen Formel verkommene Rede von Interdisziplinarität ist hier gemeint, sondern eher eine Tiefendimension, deren Ort sich jeglichem disziplinären Denken entzieht. Schon ein Blick auf die Titelformulierungen der genannten Texte zeigt, daß es sich um Grunderfahrungen oder sogenannte "Urszenen" han12 Neben den sog. Kreatur-Texten "Der Arzt und der Kranke" (1926), GS, Bd. 5, S. 9 - 26; "Die Schmerzen" (1926), GS, Bd. 5, S. 27-47; "Krankengeschichte" (1928), GS, Bd. 5, S. 48 - 66; gehören hierzu die Vorlesungen während der Hochschulwochen des Apologetischen Seminars der Universität Göttingen in Helmstedt im Oktober 1925 "Seelenbehandlung und Seelenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet" (1926), GS, Bd. 5, S. 67 - 141, sowie die Vorträge vor der Kölner Kant Gesellschaft im Februar 1927 "Über medizinische Anthropologie" (1927), GS, Bd. 5, S. 177 - 194, und vor der Deutschen Philosophischen Gesellschaft im Oktober 1928 "Kranker und Arzt. Eine Wirklichkeit der Gemeinschaft" (1929), GS, Bd. 5, S. 221- 244. In die Reihe der Grundtexte der medizinischen Anthropologie aus den zwanziger Jahren müßten strenggenommen noch zwei weitere aufgenommen werden, die aber in mehrerlei Hinsicht von den genannten sich unterscheiden, was aber hier nicht näher zu erörtern ist: "Das Antilogische" (1923), GS, Bd. 2, S. 368 - 394; "Einleitung zur Physiologie der Sinne" (1926), GS, Bd. 3, S. 325 - 428.

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delt, deren Wesen ein aus disziplinären Trennungen erwachsendes Denken - also auch interdisziplinäres Denken - notwendig verfehlen muß. Vielmehr liegt es im Wesen dieser Grunderfahrungen und Urszenen, daß sie nicht eigentlich Gegenstand bewußten Denkens werden können. Dies nun markiert genau die Problemstellung, aus der Viktor von Weizsäckers Bemühen um eine neue Grundlegung der Medizin erwuchs: Der Versuch der "Neubildung eines geistigen Systems der Medizin als Grundform.'''3 Die Radikalität und Tragweite dieses Bemühens wird wohl nirgends so exemplarisch vorgeführt wie in einer Passage, mit der er selbst den Kemgedanken seines Textes "Die Schmerzen" nochmals zu verdeutlichen sucht. Ihrer zentralen Bedeutung wegen sei diese Passage im folgenden komplett zitiert. "Es sind dies die großen Ereignisse des menschlichen Erlebens: die Scham, die Angst, der Zorn, die Verzweiflung, aber auch die Schmerzen, die Schwäche, der Schwindel, die Vernichtungs gefühle, die alle zentralste Ereignisse eines jeden Krankheitsgeschehens ausdrücken; sie sind nicht bloße Sekundärfolgen, sondern sie sind selbst Ausdruck desselben Geschehens, welches die pathologische Anatomie und Physiologie aufzeigen und erschließen können. Ein weiteres Nachdenken über diese Phänomene ergibt, es sei nur eine Folge der kulturellen Differenzierung des Menschen, daß er jene Erscheinungen der Not gleichsam in Fakultäten verteilt; daß die Not des Kranken vor die medizinische, die Not des Schuldbewußten und Sterbenden vor die theologische, die des Beleidigten vor die juristische und die des Zweifelnden vor die philosophische Fakultät kommt. Diese Urformen der Not sind gewiß zu scheiden, aber sie hängen auch in den innersten Kreisen der menschlichen Kreatur zusammen, und wenn der Schamane für alle diese Fälle Helfer, Führer und Beschwörer ist, so ist dieser Primitivismus auch ein Hinweis auf eine ursprüngliche Einheit. Auch wenn diskursiv also die krankhaften Prozesse unabhängig von jenen urspünglichen Ereignissen des Menschenherzens darstellbar sind, so sind sie urphänomenal doch in ihnen beschlossen. Jede Not ist nun ein ausgesprochen ich-bezogener Zustand; der Mensch, der im Gleichgewicht seiner störungsfreien Mitte geht, braucht sich nicht wahrzunehmen. Die Not erst zwingt zur Selbstwahrnehmung und steht vielleicht an der Wiege des Selbstbewußtseins. So steckt in jeder Not ein Stück Narzißmus. Aber eben weil die Not die bewußtlose Hingabe ans Außen, an die Welt, das Du, an alles Nicht-Ich unterbricht und eine Selbstbeziehung schmerzlich erzwingt, eben darum kann man auch sagen: dies Urphänomen der Not ist nicht nur eines des Ich-für-sich, sondern ebenso sehr das wesenhaft Zweisame: sie ist ein Getrenntsein vom Anderen, der Welt, dem nächsten Menschen. Ja, wir können weiter sagen, sie ist ein Getrenntsein von dem Nächsten, der mir der nächste scheint, von mir selbst. Sie trennt in mir mich von meinem Ich. Die Not der Schmerzen, wenn ein Glied gewaltsam von mir getrennt wird, die Not des Schwindels, wenn mein Ich von seiner räumlichen Welt getrennt wird, die Not der Schwäche, wenn es von seiner Tätigkeit getrennt wird - sie alle sind Trennungserscheinungen in mir, und sie alle rufen nach dem Anderen - nach Hilfe. So sind sie Wahrnehmungen der Zweisamkeit unserer Existenz. Und insofern kann man sagen, die Notphänomene seien Beziehungstatsachen von Mensch zu Mensch, und die Selbstwahrnehmung sei nur eine Variante des Gesetzes der 13 Viktor von Weizsäcker, Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes (1954), GS, Bd. I, S. 11- 190, Frankfurt/M. 1986, hier S. 118.

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unaufbebbaren Gemeinschaft. Freilich gerade die Variante, welche als Not die zwischenmenschliche Beziehung zugleich in Frage stellt und sie eben dadurch auf einer neuen Ebene aufruft, zeugt.,,14

Wenn Selbstwahrnehmung und Selbstbewußtsein ihre Herkunft im Schmerz erlittener Trennung haben, so muß ihnen ein ,Zusammenhang' vorausgehen, der verlorengeht, noch bevor er gedacht werden kann. Kündet mithin jeder Schmerz und jede Not von etwas Undenkbarem? Also, wie es im vorstehenden Textzitat heißt, von jener "bewußtlosen Hingabe ans Außen, an die Welt, das Du, an alles NichtIch." Doch was meint dieses Undenkbare? Zwar entzieht es sich dem bewußten Denken, hat gleichwohl aber mit dem Leben selbst, mit dessen eigentlicher Wirklichkeit zu tun; gäbe es sonst Not und Schmerz? Im Schmerz zeigt sich gleichsam "die Ordnung des lebendigen Zusammenhanges alles Lebendigen", freilich als ein "dynamischer Schwebezustand", denn "im Schmerz will ein Sein sich spalten in ein Ich und ein Es und will zugleich dies Sein seine Einheit bewahren.,,15 In diesem "Unentschiedensein" gibt der Schmerz gleichermaßen Kunde von der Gefährdung jener Ordnung wie auch von deren je individuellem ,Lebenswert' . 16 Im bewußten Denken hingegen ist jegliches Unentschiedensein aufgehoben, kommt also weder der lebendige Zusammenhang selbst noch dessen Gefährdung in den Blick, setzt es doch die Trennung in ein Ich und ein Es immer schon voraus. 17 Weizsäcker, Kranker und Arzt, GS, Bd. 5, S. 221 - 244, Frankfurt / M. 1987, hier S. 241 f. Weizsäcker, Die Schmerzen, GS, Bd. 5, S. 27 -47, Frankfurt/M. 1987, hier S. 35,32. 16 Ebd., S. 43. 17 Schon diese äußerst knappe Skizze des Gedankenganges, den Weizsäcker in dem Text "Die Schmerzen" breit entfaltet, legt es nahe, hierin einen ,Anschluß' an jenes erst spät entdeckte Fragment Hölderlins zu sehen, das man wohl zugleich als Anfang und Höhepunkt der philosophischen Kritik an der Subjektivitätsphilosophie - insbesondere in Gestalt des Fichteschen "absoluten Ich" - betrachten kann: der von Dieter Henrich auf Anfang April 1795 datierte Text "Urtheil und Seyn". Wird das Ich als "Urtheil", genauer als die "Ur-Theilung" gefaßt, so bildet es einen nur bedingten Akt und entbehrt der Einfachheit und Unbedingtheit, die ihm als einem Absoluten zugesprochen werden müßte. Jedem ,Ich denke' geht vielmehr immer schon ein sich ihm entziehender ,Grund' voraus, der als Unbedingtes und also Ungetrenntes nicht Gegenstand bewußten Denkens werden kann. Dieser ,Grund' klingt bei Weizsäcker in der Rede von den "Urformen der Not" an, zu denen er die im zitierten Text aufgeführten "großen Ereignisse des menschlichen Erlebens" zählt. Die ,Rede' von diesem Grund markiert zugleich auch die Grenze philosophischer Kritik am Postulat des ,Ich denke'. Wenn schon Kritik, dann leistet diese das Leben selbst, genauer die Weise, in der wir Leben erleben - und also immer auch erleiden. Obgleich es sich aufdrängt, Weizsäckers von Schleiermacher aufgenommene Formel der "schlechthinnigen Abhängigkeit", die er als "Grundverhältnis" beschreibt, auf ihre Beziehung zum Hölderlinschen "Grund im Bewußtsein" zu befragen, sei jetzt darauf verzichtet. Indes mag deutlich geworden sein, daß Weizsäckers Denkweg, der eben nicht nur ein Denk-Weg war, beginnend mit dem Text "Die Schmerzen" in einem Entwurf enden mußte, dessen Titel für den Charakter dieses Weges selbst steht: "Pathosophie". Medizinische Anthropologie ist gerade keine philosophische Anthropologie, sondern wenn es eines weiteren Adjektivs bedürfte, eine pathosophische. Weiterführend hierzu die in Vorbereitung befindliche Untersuchung des Verf. "Kranksein und Wissen". Zu Hölderlins Philosophie insbesondere Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794 - 1795), Stuttgart 1992. 14

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Mündet nun die Grunderfahrung des Schmerzes und der Not in die "Urszene", in die Begegnung des Patienten mit dem Arzt, so kommt die eingangs gestellte Frage wieder in den Blick: inwiefern die weitreichenden Konsequenzen der Gestaltkreislehre im Umgang mit dem kranken Menschen ihren Ausgang nehmen können? Wenn der Umgang von Patient und Arzt, was zunächst trivial erscheinen mag, am Leitfaden des Schmerzes und der Not erfolgt, heißt dies ja zugleich, daß er im Zeichen jenes "Unentschiedenseins", jener dynamischen Schwebe steht, die dem Schmerz eignet; also gerade nicht - zumindest nicht ursprünglich - die Folge eines intentionalen Aktes ist. Mit anderen Worten: gelingender Umgang von Patient und Arzt verdankt sich weder der Intentionalität des Patienten oder des Arztes, noch der Reflexivität eines bewußten Ich, sondern allererst der Wahrnehmung eines Schmerzes. Insofern Schmerzen von der "Ordnung des lebendigen Zusammenhanges alles Lebendigen" künden, zeigt sich in deren Wahrnehmung, die selbst Schmerz ist, die unaufhebbare Gemeinschaftlichkeit menschlicher Existenz. In der Weise, wie dieser Verweisungscharakter oder besser: die Relationalität des Schmerzes, einen inneren Zusammenhang erlebbar werden läßt und äußere Zusammenhänge zu stiften vermag, also für die Lebens- und Leidenswirklichkeit des kranken Menschen steht, erhellt er die transzendental-philosophische Denkweise der Intentionalität, die sich vom Apriori des Cogito her entwirft, als abkünftigen und defizitären Erkenntnismodus.

11. Viktor von Weizsäckers Text "Die Schmerzen" darf als Schlüsseltext für den erkenntniskritischen Charakter der medizinischen Anthropologie gelten. Am Paradigma des Schmerzes - einer Grunderfahrung menschlichen Daseins überhaupt wird deutlich, daß die Denkordnung des transzendentalen Ich, wie sie die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie repräsentiert, die Wirklichkeit menschlichen Lebens verfehlt. Die Schmerzerfahrung steht gleichsam für die Hintergehbarkeit des Ich und markiert damit den blinden Fleck bewußten Denkens. Macht dies einerseits die Weigerung etablierter wissenschaftlicher Medizin verständlich, im Kranksein eine "Weise des Menschseins" zu akzeptieren, erlangt andererseits jener eigentümliche ,Erkenntniswert' , wie er schon immer und in allen Kulturen sich mit Leid- und Schmerzerfahrungen verbindet, erst hierdurch seine anthropologische Dignität. 18 Daran knüpft sich für Weizsäcker die Aufgabe, neben und ergänzend zu 18 Zunehmend kommt in den Blick, daß es nicht die segensreiche Erfindung der modernen medizinischen Anästhesie ist, sondern eine sich im Kontext technischer Perfektion einstellende Medikalisierung des Schmerzes schlechthin, die gleichsam zu einer ,kulturgeschichtlichen Anästhesie' zu werden droht, indem sie mit dem Schmerz auch all jenes auslöscht, dessen kulturstiftende und stabilisierende Potenz noch gar nicht hinreichend ,bewußt' geworden ist. So wird die Erkundung der Geschichte des Schmerzes als Teil einer umfassenden Körpergeschichte zur Arbeit am blinden Fleck eines rationalen Kulturverständnisses. Vgl. hierzu Jean Starobinski, Kleine Geschichte des Körpergefühls, Konstanz 1987; David B. Morris, Geschichte des Schmerzes, Frankfurt/M. 1994.

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der von Kant geleisteten Kritik der Vernunft, eine solche des Willens, des Gefühls, der Seele zu versuchen; mithin die Lebenswirklichkeit des Menschen im Ganzen unter Kritik zu stellen. Doch vermag dies, anders als bei Kant, bewußtes Denken nicht zu leisten. So wird ihm der Schmerz zum Leitphänomen einer Kritik der Wirklichkeit des Menschen. Gleichwohl folgt die medizinische Anthropologie dem Vorbild Kants, nicht aber im Sinne einer kritischen Erkenntnistheorie, sondern als Erkenntniskritik in anthropologischer Absicht. Diese Absicht in klarer Weise formuliert zu haben, macht die Programmatik des Textes "Die Schmerzen" aus. Sie verdichtet sich in dem Satz: "So wird die Wahrnehmung des Schmerzes verwandelt in eine Kritik der Wirklichkeit, in ein Instrument der Scheidung von echt und unecht in der Erscheinung des Lebendigen."I9 Die Pointe des Textes indes liegt - wenn auch noch verborgen - in etwas anderem: nämlich in der ontologischen Differenz von Schmerzordnung und Denkordnung, die zugleich eine solche von Lebensordnung und Denkordnung ist. Klingt dies zunächst nur an, wenn von der Schmerzordnung als der "Ordnung des lebendigen Zusammenhanges alles Lebendigen" die Rede ist und Weizsäcker dazu einlädt, "am Ariadnefaden der Schmerzen ... ein Gefüge der Lebensordnungen aufzuspüren, derer nämlich, welche eine fleischgewordene Wahrheit, die Fleischwerdung einer Wahrheit anzeigen, nämlich einer Lebenswirklichkeit",20 so wird er in dem 1928 vor der Deutschen Philosophischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag "Kranker und Arzt" hinsichtlich der damit verbundenen Konsequenzen sehr viel deutlicher. Unter Verweis auf die "große Urfrage ... , welche in den Worten Logos und Pathos als den Gegenspielern eines weltgeschichtlichen, eines geistigen Dramas kristallisiert", kleidet er sein Programm in die apodiktisch anmutende Forderung, daß als "Vorbedingung" eines Bildes vom wirklichen leibhaften Menschen, "der auf der Erde steht", die "Ungültigkeit der idealistischen Vernunftbegriffe für den Menschen zu erweisen" wäre, was "auch die Ungültigkeit der Verstandeskategorien einschlösse. Der Weg zu einer Wirklichkeitslehre des Menschen (nicht: des Geistes) wird erst frei, wenn die Wertordnung von Natur und Geist. . .'umgestürzt' ist.'.2I Dies wird einsichtig, bringt man es in Zusammenhang mit der luziden Methodenkritik, die der zitierten Passage vorausgeht: gleichsam ein Stück des im Schmerzen-Text angelegten erkenntniskritischen Programmes. Die apodiktisch anmutende Forderung erweist sich dann lediglich als Folge der ontologischen Differenz von Lebensordnung und Denkordnung. 22 Weizsäcker, Die Schmerzen (FN 15), S. 35. Ebd. 21 Weizsäcker, Kranker und Arzt (FN 14), S. 229. 22 Da es sich hier um einen zentralen Gedankengang des erkenntniskritischen Programms Weizsäckers handelt, dessen Ergebnis ja die Gestaltkreislehre bildet, sei der erwähnte Textabschnitt vollständig zitiert: "Die Naturwissenschaft ist in der Medizin doch nur ein Mittel, um überhaupt in Kontakt zu kommen mit dem, was wirklich da ist. Wie soll sich der Arzt der Wirklichkeit des Kranken zuwenden, ohne ihn mit den Sinnen, dem Auge, den Fingerspitzen wahrgenommen zu haben, wie an diese Wirklichkeit herankommen, ohne diese Wahmeh19

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III. Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden, daß sich Viktor von Weizsäckers frühe Denkansätze in das Umfeld der später dann von Eugen RosenstockHuessy als "Dialogismus" bezeichneten philosophischen Bewegung einordnen ließen. 23 Mit Blick auf biographische Umstände verwundert es nicht, wenn in diesem Zusammenhang Martin Buber und Franz Rosenzweig genannt werden. In der Tat gibt es vielfältige Hinweise auf enge geistige, im Falle Rosenzweigs auch enge menschliche Verbindungen, nicht zuletzt erkennbar an gegenseitigen gedanklichen Anlehnungen und der Übernahme von Begriffsprägungen. Auch ist es weithin unstrittig, daß die Analyse solcher Beziehungen hilfreiche Aufschlüsse zum genealogischen Verständnis zentraler Denkfiguren oder ganzer Denksysteme zu geben vermag, weniger wird gesehen, daß sie gleichwohl die Originalität von Ansätzen mitunter auch zu verdunkeln hilft. So soll der in der neuzeitlichen Denktradition eher randständige, von Martin Buber aber in das Zentrum seiner philosophischen Überlegungen gestellte Begriff des "Zwischen" als Beispiel für mögliche Mißverständmung logisch kritisiert, in die Tiefe analysiert zu haben. Auch die Physiologie, die Pathologie ist nichts als kritisches System dieses Kontaktes. Aber garantiert dieses System der Erfahrung den Kontakt, die Berührung, so liefert sie darum kein zutreffendes Bild der Wirklichkeit. Ihr ganzes Ethos liegt im Erzeugungsvorgang, eigentlich der Methode der Erkenntnis und nicht in deren Inhalt. An der Wirklichkeit des kranken Menschen gemessen ist die streng naturwissenschaftliche Medizin nur eine Methode der Verbindlichkeiten, nicht ein Bild dessen, was ist. Ihre Geltung ist also eine kritische, aber keine ontische, es gibt keine Krise des kritischen Erkennens als Methode, aber es gibt eine Krise des Darstellungswertes, des Bildwertes der naturwissenschaftlichen Medizin. Wir erkennen jetzt, daß die naturwissenschaftlichen Daten alle richtig sein, d. h. in Berührung mit der Realität gewonnen sein können, und daß das naturwissenschaftliche Bild des Menschen doch falsch ist. Wir erkennen, daß die Vorstellung, der Mensch sei ein Aufbau aus chemischen Elementen, sein Leben sei eine Kette chemischer Reaktionen, eine Kombination von Reflexen, daß alle diese Urteile nicht nur vorläufige Annäherungen, hypothetische Hilfskonstruktionen sind, nein, daß sie samt und sonders falsch sind. So wie alles dieses aussieht, so sieht der Mensch, das Leben, die Krankheit nicht aus; sie ist in Wirklichkeit etwas anderes. (Weizsäcker, Kranker und Arzt, FN 14, S. 228). 23 Interessant ist zunächst, daß sich Weizsäcker selbst in diese kritische Denkbewegung einordnet, und hierzu an exponierter Stelle, nämlich in jenem Vortrag vor der Deutschen Philosophischen Gesellschaft (Kranker und Arzt) auf Hermann Herrigels Buch "Das neue Denken" (Berlin 1928) verweist; sodann überrascht aber, wenn er die Quelle dieser Kritik "im europäischen Roman, vielleicht schon bei Shakespeare, gewiß aber in Werthers Leiden und dann weiter in den Werken Nietzsches (und) Freuds" vermutet, da es sich ja im strengen Sinne um keine philosophische Kritik, sondern um eine solche der Philosophie selbst handele (Ders., FN 14, S. 231). Eine Vielzahl von Arbeiten hat sich mehr oder weniger ausführlich der Nähe Weizsäckers zum Dialogismus und dessen Vertretern gewidmet. Im folgenden sei eine kleine Auswahl getroffen: Bemhard Casper, Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg 1967; Stefan Emondts, Menschwerden in Beziehung. Eine religionsphilosophische Untersuchung der medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers, Stuttgart 1993; Heinz-Jürgen Görtz, Tod und Erfahrung. Rosenzweigs ,erfahrende Philosophie' und Hegels ,Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins', Düsseldorf 1984; Reiner Wiehl, Die Erfahrung im neuen Denken von Franz Rosenzweig, in: Philos. Jahrbuch 89 (1982), S. 269 - 290.

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nisse synoptischen Bemühens gelten. Sowohl der mit ihm verbundene kritische Impetus als auch seine heuristische Potenz - nicht zuletzt die anthropologische Dimension - legen es nahe, ihn gleichsam bruchlos in jene frühe Phase des Entwurfs der medizinischen Anthropologie Weizsäckers, wie er insbesondere in den Kreatur-Texten sich darstellt, einfließen zu lassen. Zumal dieser Begriff von Weizsäcker auch gelegentlich verwendet wird, deutlicher aber die mit ihm verbundene anthropologische Intention; doch nirgends mit der Buberschen Emphase, auch nicht im Sinne eines Grundbegriffs, und - was überraschen mag - nicht in den genannten frühen Texten. Dies freilich besagt wenig, vor allem markiert es keinerlei geistige Differenz, aber es verdient festgehalten zu werden, ja es gibt Anlaß, dem Verhältnis Weizsäckers zu dem, was sich mit dem Begriff des Zwischen bei Buber verbindet, näher nachzugehen. Umsomehr als er für ein zentrales Element der medizinischen Anthropologie steht: für die Gemeinschaftlichkeit und Transzendenz der menschlichen Existenz. Doch kann dies hier nur andeutungsweise geschehen, wiederum unter der Maßgabe, ein erkenntniskritisches Verständnis der Gestaltkreislehre vorzubereiten. Mit Michael Theunissens fulminanter Studie "Der Andere" liegt der wohl kenntnisreichste Versuch einer systematischen Deutung der Buberschen Rede vom Zwischen vor. Indem sie es sich zur Aufgabe macht, im "Nachvollzug des Buberschen Weges", die Konzeption des Zwischen als "Destruktion des transzendentalphilosophischen Modells der Intentionalität" auszuweisen, leistet sie einen überaus hilfreichen Beitrag zur Beurteilung der geistesgeschichtlichen Bedeutung jener Denkbewegung des Dialogismus, in deren Nähe auch Weizsäckers Grundtexte der medizinischen Anthropologie gehören. 24 Ihre von Theunissen nicht verschwiegene Problematik gründet indes darin, daß sie Bubers Zwischen in den Horizont eines philosophischen Entwurfs stellt - eben jenen der Destruktion der Subjektivität -, wohl wissend, daß die eigentliche Quelle der Buberschen Rede vom Zwischen eine Glaubenserfahrung ist. Das hiermit verbundene Dilemma wird schon von Buber selbst in seiner "philosophischen Rechenschaft" klar benannt, wenn er einräumt: "ich mußte aus dem im Ich-Du und als Ich-Du-Erfahrenen ein Es machen.,,25 Was 24 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin / New York 1977 (2. Aufl.), S. 278 ff. 25 Martin Buher, Aus einer philosophischen Rechenschaft, in: Ders., Werke, Bd. I, Schriften zur Philosophie, S. 1111-1122, München 1962, hier S. 1111. An anderer Stelle verdeutlicht Buber die hiermit verbundene Erkenntniskritik: "Eine festhaltbare, bewahrbare, sachlich zu übermittelnde Ich-Du-Erkenntnis gibt es überhaupt nicht. Das, was sich mir jeweils im Ich-Du-Verhältnis auftut, kann nur durch Transmission in die Es-Sphäre zu einer solchen Erkenntnis werden. So sorgsam wir in unserer Einsicht das Ich-Du-Verhältnis und das IchEs-Verhältnis voneinander abheben müssen, so irreführend wäre es, die Alternati vik in die Betrachtung des philosophischen Denkens und seiner Ergebnisse vorzutreiben. Jede wesenhafte Erkenntnis ist in ihrem Ursprung Kontakt mit einem Seienden und in ihrer Vollendung Besitz eines Begriffsbestandes." Und etwas später im gleichen Text: "Aber auch von dem Ich-Du-Verhältnis meine ich keineswegs, daß es adäquate Erkenntnis biete. Es kann uns zu einem echten Kontakt mit dem Sein des Anderen verhelfen, aber nicht zu einer objektiv gül-

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ja nichts anderes heißt, als daß das ,im Ich-Du und als Ich-Du-Erfahrene' der Sphäre des Zwischen zugehört und als solches nicht begrifflich aussagbar ist. Theunissens Bemühung, die in Bubers philosopischem Grundtext "Ich und Du" unter dem "abstoßenden Gewand der pseudopoetischen Sprache" verborgene "implizite Ontologie" gleichsam systematisch zu explizieren, mußte wohl darin münden, sie als eine negative Ontologie des Zwischen vorzustellen, in deren Negativität sich noch der Bann dessen zeigt, zu dem sie der vermeintliche Gegenentwurf sein sollte. 26 Was aber, wenn ein philosophischer Gegenentwurf nicht eigentlich intendiert war, also den Anfang kein Akt der Reflexion bildet, sondern eher eine Wahrnehmung, die dem Menschen unabweisbar widerfährt, ihm zum Anlaß des Denkens wird, ohne sich aber diesem zu erschließen? Kommt hier nicht vielmehr - vergleichbar der "Schmerzordnung" Weizsäckers - ein im Denken des Ich Uneinholbares in den Blick; das gerade weil es aller Intentionalität schon immer vorausgeht, die Wirklichkeit des Menschen erst eigentlich ,bestimmt'. 27 tigen Erkenntnis dieses Seins." (Antwort, in: Paul Arthur Schilpp/Maurice Friedman (Hrsg.), Martin Buber, Stuttgart 1963, S. 592, 601). 26 Theunissen, Der Andere (FN 24), S. 497, aber auch S. 259ff.; ebenso ders., Bubers negative Ontologie des Zwischen, in: Philos. Jahrbuch 71 (1964), S. 319 - 330. 27 In einer höchst beeindruckenden "Nachschrift" zu seiner Studie "Der Andere", bringt es Michael Theunissen selbst auf den Punkt: "Enthüllt sich in dieser Negativität (gemeint ist die der Dialogik) nur das Ungenügen der historisch verwirklichten Philosophie des Dialogs oder nicht vielmehr eine grundsätzliche Grenze der Philosophie überhaupt?" (S. 496) Denn es steht außer Frage, daß es die Intentionalität ist, "die die mittelbare Fremderfahrung der Theorie konform macht", hingegen alles dem Menschen unmittelbar widerfahrende - sei es die Begegnung des Du oder der Schmerz - "eine nicht-intentionale Verfassung hat." Womit unstrittig ist, daß "das Du in der nicht-intentionalen Begegnung anders da ist als das fremde Ich für die theoretische Erkenntnis", was soviel heißt wie: "ich bin seiner ,inne' und kann seiner inne sein, weil es als der unverfügbare Grund meines Seins trotz seines personalen Gegenüberstands - wie Buber sagte - ,mir näher ist als mein Ich"'. Insofern "entzieht sich die unmittelbare Begegnung, als existenzielle Praxis und wegen deren andersartiger Verfassung, dem direkten Zugriff theoretischer Auslegung." (S. 494) In einer Philosophie des Dialogs indes wird zwangsläufig jenes Unmittelbare "in die Sphäre der Intentionalität abgedrängt und dann zwar analysiert, aber mit inadäquaten Begriffen und an unzureichenden Modellen." Dies mache die "Negativität der historisch verwirklichten Philosophie des Dialogs aus." (S. 495) Gleichwohl komme in der "Ohnmacht des dialogischen Denkens" eher als in der "Macht der Transzendentalphilosophie" der eigentliche Charakter des Philosophierens zum Ausdruck: "sich auch auf die Gefahr des Scheiterns hin an das noch Ungedachte wagen." (S. 485) Doch gerade die Unterscheidung eines ,noch Ungedachten' von einem ,Undenkbaren' macht das eigentliche Problem aus. Jochanan Bloch meint denn auch in der von Theunissen versuchten "Aufhellung von ontologischen Strukturen" des dem dialogischen Denken zugrunde liegenden ,wirklichen Phänomens' eine exemplarische Verfehlung nicht der Formen, wohl aber der Intentionen dieses Denkens sehen zu müssen (Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik Martin Bubers, Heidelberg 1977). Er kommt freilich nicht umhin, einzuräumen, daß Buber selbst vielfach bemüht war, die anthropologischen Grundphänomene "ontologisch zu verstehen" (S. 270). Biographisch und literarisch ungedeckt sei es aber, Bubers philosophische Versuche als "Gegenentwurf zur Transzendentalphilosophie" zu rekonstruieren (S. 213, 235 ff.). Hierzu sei eine Passage zitiert, in der Buber zu den diesbezüglichen Mißverständnissen seines Werkes selbst Stellung nimmt: "Aber wenn ich sage, daß aus dem Ich-Du-

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IV. Martin Bubers Rede vom Zwischen galt diesseits aller philosophischen Entwürfe und Gegenentwürfe zunächst und vor allem der Wirklichkeit des "wirklichen Menschen, dir und mir, ... unserem Leben und unserer Welt, nicht ... einem Ich an sich und nicht. .. einem Sein an sich.,,28 Dem menschlichen Denken war damit "eine lebensmäßig neue Aufgabe gestellt ... und zwar eben eine lebensmäßig neue.,,29 Nicht um Subjektivität oder Objektivität sollte ihm zu tun sein, sondern um die "fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz": daß "der Mensch mit dem Menschen" sei. Diese Sphäre, "mit der Existenz des Menschen als Menschen gesetzt, aber begrifflich noch unerfaßt", nannte Buber "die Sphäre des Zwischen"?O Die Schwierigkeit dieser Begriffsbildung ist freilich, daß sie als Begriffsbildung genau das verfehlt, was zum Ausdruck gebracht werden soll. So geht es eben gerade nicht - wie er es nennt - um eine gedankliche "Hilfskonstruktion", sondern das Zwischen ist "wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens.,,31 Michael Theunissen versucht die begriffliche Unbestimmbarkeit des Zwischen in der Formel des "reinen Geschehens" einzufangen, womit ihm eine Verhältnis ein anderes Ich hervortritt als aus dem Ich-Es-Verhältnis, daß hier und hier sich ein verschiedenes Ich aktualisiert, so ist es zwar richtig, dies als ,Selbstverwirklichung des Ich durch sein Innewerden' zu verstehen; aber es ist unzulässig fortzufahren, das Ich sei also ,wegen des in dieser Reflexion verwurzelten inneren Zentrums seiner Existenz auch ein Selbst'. Das hervortretende Ich wird sich seiner selbst bewußt, aber ohne reflektierend sich zum Gegenstand zu werden; die genaue Unterscheidung zwischen dem ersten, ,aufblitzenden' Selbstbewußtsein und dem zweiten, ,erarbeiteten' ist ja grundwichtig. Aber auch das erste Hervortreten des Ich kann ich nicht als Existenz-Zentrum betrachten. Es ist nur die Sphäre um das Zentrum, nicht dieses Selbst. Die Reflexion aber möchte ich mit dem Spiel eines Scheinwerfers vergleichen, der die Sphäre bestrahlt. Ohne sie würde es das uns bekannte Menschenwesen nicht geben; zu seinem Urphänomen gehört sie nicht. Die Behauptung eines ,Schwankens' zwischen dem Primat der Beziehung und dem des Ich hängt mit diesem Mißverständnis zusammen. Natürlich ist das Vorhandensein von Personen nötig, damit eine personale Begegnung sich ereignen könne, aber der Grad der Ausbildung des Ich-Bewußtseins oder gar der Grad von dessen reflexionsmäßiger Ausarbeitung ist für die Personhaftigkeit dieser Personen kein wesentliches Moment. Ich sehe, daß Sokrates reflektiert, ich sehe nicht, daß Franziskus es täte; bei der Beziehungen zu diesem oder jenem Schüler sind echt personhafte." (Antwort, FN 25, S. 594f.). Es will scheinen, als ob die Untersuchungen von Theunissen und Blochohne dies je beabsichtigt zu haben - mehr zur Klärung des geistigen Anspruches der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers geleistet haben, als in den einschlägigen Texten bislang versucht wurde. Indem Weizsäcker selbst davon spricht, daß der Gestaltkreis "eigentlich eine Anweisung zur Erfahrung des Lebendigen" sei, also nicht eine zum ,Denken des Lebendigen', wird - den Vertretern des Dialogismus vergleichbar - wohl eine Absage an transzendentalphilosophische Erklärungsmodi deutlich, aber gerade kein philosophischer Gegenentwurf. 28 Martin Buher, Ich und Du (1923), in: Das dialogische Prinzip, S. 7 - 121, Heidelberg 1984, hier S. 17. 29 Martin Buher, Das Problem des Menschen (1942), Heidelberg 1982 (5., verbesserte Aufl.) S. 158 f. 30 Ebd., S. 164f. 31 Ebd., S. 165.

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Annäherung an die personale Subjektivität Bubers ge1ingt. 32 Diese nämlich "besitzt ihre substanzielle Fülle ... nicht im sei ben Sinne jenseits des Verhältnisses zum Anderen wie das Subjekt seine Vorhandenheit. Ihre Fülle ist vielmehr ganz von der Beziehung umschlossen." Insofern kommt der Person bei Buber "nicht das Sein eines abgesonderten Seienden" zu, sondern ihr Sein ist "die Wirklichkeit des Zwischen".33 Als solche ist sie logisch und ontologisch der transzendentalen Subjektivität, d. h. der Konstitution von Objekten voraus. Ihr Ort ist diesseits der Trennung in Ich und Nicht-Ich, sie kann nicht eigentlich Gegenstand von Erkenntnis werden. Die zentrale Formel des Bubersehen Denkens, eines lebensmäßig neuen Denkens, nimmt von hier ihren Ausgang. Mit ihr eröffnet er sein wohl bekanntestes Werk: "Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. ,,34 Nicht nur kennzeichnet die "zwiefältige Haltung" den Menschen in allen seinen Beziehungen, mehr noch ist sie für Martin Buber "die große Voraussetzung für den Anbeginn des Philosophierens" überhaupt. Denn dieses stehe schon immer im Zeichen der "Dualität der Grundworte", also des Ich-Du und des Ich-Es. Insofern ist ihm weder an der Absage philosophischer Systeme gelegen noch am Entwurf eines eigenen, sondern am Aufweis der Gefahr eines elementaren Defizits des Philosophierens selbst. Dem geziemte, wie er betont, keine Systematik; es ginge lediglich darum, eine "vernachlässigte, verdunkelte Urwirklichkeit ... sichtbar zu machen", die in Gestalt jener Dualität "der Grundverhalt im Leben jedes Menschen mit allem Seienden ist." Nicht also "vom Sein war zu handeln, sondern einzig von dem menschlichen Doppelverhältnis zum Sein. Das Philosophieren mußte wesentlich ein anthropologisches sein; in seiner Mitte mußte ... die Frage stehen, wie der Mensch möglich sei. ,,35 Die Nähe zu Weizsäcker gründet in der Einsicht, daß Philosophie das Sein des Menschen wie das der Welt notwendig verfehlt, sofern es dieses in der Totalität denkt, die dem Begriff eigen ist. War es für Buber die Wirklichkeit der Begegnung, also die Sphäre des Zwischenmenschlichen, so waren es für Weizsäcker jene "großen Ereignisse des menschlichen Erlebens", die - wie am Paradigma des Schmerzes gezeigt - den Trugschluß einer vermeintlich denkbaren Totalität menschlichen Daseins erlebbar werden lassen. Die Erkenntniskritik Weizsäckers - und damit seine Gestaltkreislehre - findet ihr Pendant nicht einfachhin im ,Begriff' des Zwischen, auch nicht in einer "Ontologie des Zwischen", sondern im Gestus eines Denkens, das im Gewinnen von Erkenntnis den Verlust jener Gegenwärtigkeit noch erahnt, die ihm als menschlichem Denken von Anbeginn innewohnt. Eines Denkens also, das im Zeichen der "zwiefältigen Haltung" steht, und daher - wie es Jochanan Bloch überaus treffend formulierte - eines sein muß, "das gegen sich einen entscheidenden Vorbehalt hat. ,,36 32 33 34 35

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Theunissen, Der Andere (FN 24), S. 268 f. Ebd. S. 272. Buber, Ich und Du (FN 28), S. 7. Buber, Antwort (FN 25), S. 592. Bloch, Die Aporie des Du (FN 27), S. 317.

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Dieser Vorbehalt zeigt sich nun am Phänomen der Gegenwart, an der Weise, wie der Mensch in seinem Dasein, in seiner Zeit ist. Auch die Gegenwart selbst ist "zwiefältig", nach der Art der Grundworte. So gibt es jene Gegenwart, die in der logisch-begrifflichen Erkenntnis fest-gestellt, ihrer offenen Zeitlichkeit beraubt, gleichsam zu Vergangenheit, zum zeitlos geltenden Faktum wird. Und es gibt eine Gegenwart, die als "gegenwartende und gegenwährende", erlebt, mehr noch erlitten werden kann; denn ihr ist eine Offenheit und Nicht-Feststellbarkeit eigen, eine Schwebe und Unentschiedenheit, wie auch den Urformen des Lebens selbst: dem Schmerz und der Liebe. Nur letztere Gegenwart, die des Grundwortes Ich-Du, ist lebbar, d. h. ermöglicht Zukunft; freilich eine Zukunft im Modus der Nicht-Vorhersagbarkeit, der Ungewißheit und Überraschung. Theunissen nennt es einen "Topos des Dialogismus", an der Zwiefältigkeit der Gegenwart gezeigt zu haben, daß jene "im weitesten Verstande vorgestellte Zukunft", wie sie erkennendes Denken zu entwerfen vermag, letztlich immer nur "Fortsetzung der Vergangenheit" sei. 37

v. Mit Franz Rosenzweigs 1925 veröffentlichten ,nachträglichen Bemerkungen' zum "Stern der Erlösung" erhält jener Gestus des Denkens, der als eine Weise menschlichen Denkens einen "entscheidenden Vorbehalt" gegen sich hat, seinen Namen: "Das neue Denken".38 Hiermit ist nicht einfachhin ein neues Denken gemeint, sondern vor allem ein anderes. Im Unterschied zum gegenstandskonstituierenden Denken der transzendentalen Subjektivität, dem ein allgemeines Bewußtsein und eine verbindliche Logik der Erkenntnis zugrundeliegen, ist hier von einem erfahrenden Denken die Rede, das die Erfahrung statt durch "Zurückführung auf ,das' Ich" vorgeblich denkend ,begründen' zu wollen, als das nimmt, was sie ist: als Erfahrung. Erfahrung aber "weiß... nichts von Gegenständen; sie erinnert sich, sie erlebt, sie hofft und fürchtet. ,,39 Den Ausgang dieses neuen Denkens bildet nicht ein wie auch immer zu bestimmendes Subjekt, sondern die geschichtliche Wirklichkeit eines je konkreten Menschen, der immer ein "Mensch mit dem Menschen" ist, immer also in der "zwiefältigen Haltung" steht. Dessen Welt aber kann nicht die von Substanzen sein, "die wie der Begriff der Substanz sagt, in sich bestehen und durch sich ohne Bezogenheit auf andere Begriffe erfaßt werden"; insofern ist auch die Welt des neuen Denkens eine "gegenseitiger Beziehungen und lebendigen Geschehens, das nicht Einem allein, sondern immer Einem und einem Andern angehört.,,4o Als Grundwort solchen Denkens gilt nicht mehr das "Ich", 37 Buber, Ich und Du (FN 28), S. 16f.; Theunissen, Der Andere (FN 24), S. 294ff., hier S. 300. Vgl. aber auch Eberhard Grisebach, Gegenwart. Eine kritische Ethik, Halle 1928, S. 126-170. 38 Franz Rosenzweig, Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum "Stern der Erlösung" (1925), in: Ders., Kleinere Schriften, S. 373 - 398, Berlin 1937. 39 Ebd., S. 378, 382. 40 Hermann Herrigel, Das neue Denken, Berlin 1928, S. 229 f.

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auch nicht das "ist", sein Grundwort ist - wie Rosenzweig es fonnuliert - "das Wörtchen Und". Anders als die "Wahrheit der Philosophen, die nur sich selber kennen darf', muß die Wahrheit erfahrenden Denkens immer eine "Wahrheit für jemanden sein".41 Das Programmatische an Weizsäckers Text "Die Schmerzen" kommt nun noch deutlicher in den Blick. Es besteht genau darin, am Leitfaden wirklicher Erfahrung 41 Rosenzweig, Das neue Denken (FN 38), S. 395. Rosenzweig führt an dieser Stelle weiter aus: "Soll sie dann gleichwohl die eine sein, so kann sie es nur für den Einen sein. Und damit wird es zur Notwendigkeit, daß unsre Wahrheit vielfältig wird und daß ,die' Wahrheit sich in unsre Wahrheit wandelt. Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ,ist', und wird das, was als wahr - bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie, die an die Stelle der Widerspruchslosigkeitsund Gegenstandstheorien der alten tritt und an Stelle des statischen Objektivitätsbegriffs jener einen dynamischen einführt; ... Von jenen unwichtigsten Wahrheiten des Schlages ,zwei mal zwei ist vier', ... , führt der Weg über die Wahrheiten, die sich der Mensch etwas kosten läßt, hin zu denen, die er nicht anders bewähren kann als mit dem Opfer seines Lebens, und schließlich zu denen, deren Wahrheit erst der Lebenseinsatz aller Geschlechter bewähren kann." (S. 395 f.) Vergleichbar der Zwiefältigkeit der Gegenwart, die als Erkenntnis zum zeitlosen Faktum gerinnt, als Begegnung aber zum lebendigen Widerfahrnis wird, unterscheidet Rosenzweig die logische Wahrheit, die immer und für jeden gilt, von einer lebendigen Wahrheit, die in einer Zeit für einen Menschen nicht eigentlich ,gilt', vielmehr situativ bewährt werden muß. Hiermit verbinden sich dann drei Topoi, zu denen sich Rosenzweigs Erörterungen zum neuen Denken schließlich verdichten: Die "Methode des Erzählens", das "Bedürfen des Anderen" und das "Ernstnehmen der Zeit". Ohne dies jetzt weiter vertiefen zu wollen, sei lediglich ein Hinweis zur Vorgeschichte des neuen Denkens gegeben. Bekanntermaßen wird Ludwig Feuerbach mit seiner 1843 erschienenen Schrift "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" als Quelle einer dialogischen "Erneuerung des Denkens" genannt, was sicher jenem Kommentar zu schulden ist, den Hans Ehrenberg 1922 seiner Edition der Feuerbachschen Schrift beigab. Auch hier geht es zunächst um die Einführung des "Ich und Du", um die "Entlassung aus den engen vier Wänden des einsamen Ich in die gemeinschaftsbildende Welt der Menschheit", freilich auch "um das gute Gewissen gesunder und echter Leiblichkeit." (Hans Ehrenberg, Kommentar, in: Ludwig Feuerbach, Philosophie der Zukunft, Stuttgart 1922, S. 9, 94). Keine Erwähnung findet hingegen bei Ehrenberg, daß Feuerbachs "neue Philosophie" allererst damit anhebt, daß er die metaphysische Grundfrage nach Sein und Nichtsein aus dem Raum abstrakten Denkens in den der konkreten menschlichen Wirklichkeit verlegt. Der Unterschied zwischen Sein und Nichtsein als vermeintlicher Urtopos des Denkens wird nach Feuerbach im Denken, genauer im ontologischen Denken gerade verfehlt, denn er stehe nicht eigentlich für Ontisches, sondern für genuin Pathisches. Mithin werden der Schmerz und die Liebe gleichsam zu Urformen des Denkens, insofern als der Schmerz vom Nichtsein und die Liebe vom Sein künden (Ebd., § 33, S. 69ff.). Dem schließt sich der "Kategorische Imperativ" Feuerbachs an, wonach nicht als "Denker" zu denken sei, "d. h. in einer aus der Totalität des wirklichen Menschenwesens herausgerissenen und für sich isolierten Fakultät; ... (sondem) als lebendiges, wirkliches Wesen, ... " (§ 51, S. 86). Selbst übrigens für Kant war es fraglos, daß es allererst der Schmerz ist, der uns zu denken gibt. Denn nicht die Lust und das Vergnügen sind die primären Gefühle, sondern "der Schmerz ist immer das erste". So daß es nach Kant irrig sei, den ,,zustand der Gesundheit. . .für ein kontinuierlich gefühltes Wohlbefinden" halten zu wollen (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 171, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Kant Werke, Bd. 10, Darmstatt 1983, S. 551). Vgl. hierzu auch Richard Wisser, Mutmaßungen über Schmerz, Krankheit und Mensch-Sein, in: Zschr. Rel. Geistesgesch. 41 (1989) Heft 1, S. 62 - 82.

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die "zwiefältige Haltung" des Menschen als anthropologisches Urphänomen ausgewiesen zu haben. So wäre es keineswegs unzutreffend, "Die Schmerzen" als den anthropologischen Grundtext des neuen Denkens zu betrachten. Der Schmerz als die den Aufbau des Textes leitende Erfahrung ist im strengen Sinn Rosenzweigs eine im herkömmlichen Denken nicht hintergehbare, d. h. nicht auf ,das' Ich rückführbare. Genau die Weise, in welcher sie dem Betroffenen geschieht, schließt jene Hölderlinsche Ur-Theilung aus, von der her ein Ich erst Aussagen über ein Sein zu machen vermag - sie steht gleichsam für den "Grund im Bewußtsein", dessen Sein aber nicht bewußt werden kann. 42 Weizsäckers Ausführungen kommt hier die Rolle eines Subtextes zu Martin Bubers "Ich und Du" zu, sofern sie dem dort noch weithin im Dunkel bleibenden inneren Zusammenhang der "Grundworte" auf überraschend klare Weise zur Darstellung verhelfen. 43 Zugleich aber wird deutlich, daß die Fragen sowohl nach dem ,Wesen des Schmerzes' wie auch nach dem ,Etwas', von dem her der Schmerz kommen müsse, notwendig fehl gehen. 44 Indem sie die Unhintergehbarkeit der Schmerzerfahrung verkennen, erreichen sie nicht den der Schmerzen hat, d. h. sie scheitern an der ontologischen Differenz von Schmerzordnung und Denkordnung. Dies wiederum bezeichnet aufs Genaueste den Punkt, von dem her sich Weizsäckers medizinische Anthropologie entfaltet: als Versuch einer Antwort auf die Frage nach "Art und Form des ärztlichen Wis42 Vgl. Henrich, Der Grund im Bewußtsein (FN 17). Interessant ist, daß Weizsäckers Bestimmung des "Grundverhältnisses", dem seines Bezuges zu Schleiermacher wegen gern ein religiöser Kontext beigegeben wird, hier seine genuin anthropologische Fundierung erhält: es besagt zunächst nichts anderes als die rationale Unhintergehbarkeit der ,anthropologischen Urphänomene'. Übrigens hat Schleiermacher selbst mit seiner Rede vom "schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl" allererst eine anthropologische Grundbestimmung geben wollen, von der aus dann "alle näheren Bestimmungen ... (zu) entwickeln" seien, auch die Gott betreffenden. (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, 1. Band, § 4, 4, hrsg. von Martin Redeker, Berlin 1960, 7. Aufl., S. 28 f.). Zum "Grundverhältnis" vgl. Viktor von Weizsäcker, Anonyma (1946), GS, Bd. 7, S. 43 - 89, Frankfurt/M. 1987, hier S. 47 f.; ders., Der Begriff der Allgemeinen Medizin (1947), ebd. S. 135 - 196, hier S. 179. 43 Weizsäcker, Die Schmerzen (FN 15), hier besonders S. 32 f. 44 Ebd., S. 39. Man mag es irritierend finden, wenn Weizsäcker dieser zentralen erkenntniskritischen Aussage zunächst einen eher beiläufigen Ton verleiht, als wenn es völlig selbstverständlich wäre, nicht nach der Herkunft des Schmerzes von etwas zu fragen. Es seien daher die nachfolgenden Sätze mitzitiert: "Es ist ein ungeheures Vorurteil, daß ein Schmerz überhaupt von etwas kommt. Wir wissen freilich, daß, wenn ich dort die Haut steche, es weh tut. Aber lange nicht immer. Wenn ich abgelenkt bin, wenn ich in Hypnose bin, tut es nicht weh. Und wenn ich krank bin, kann schon die Berührung weh tun. Es kommt also vieles, sicher der Zustand, vielleicht der Gesamtzustand meiner Person zusammen, um zu entscheiden, ob ,etwas' weh tut oder nicht. Das ,Etwas' ist also ,Nichts', es sei denn in Beziehung auf den Zustand einer Person. Wenn also das Etwas immer dasselbe (z. B. der Nadelstich) ist, dann ist es jedenfalls immer so lange nichts, als die Gesamtperson nicht empfänglich für Schmerz ist. Da die Gesamtperson überdies auch ohne diesen Nadelstich Schmerz haben kann, so ist die Nadel gar nicht obligatorisch. Es ist also keine logische Notwendigkeit aus der Natur der Beobachtungen abzuleiten, daß Schmerzen überhaupt von ,Etwas' kommen. Es könnte so sein, aber man kann es nicht beweisen, ja man kann nicht einmal eine überwiegende Wahrscheinlichkeit beweisen."

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sens".45 Damit steht sie unweigerlich im Zeichen des Dilemmas von Erkenntnis und Heilung; die Spannung der ,,zwiefalt der Grundworte" geht ihr immer schon voraus. Weizsäcker spricht von einem "Dualismus", mit dem die medizinische Anthropologie beginne - wir kommen darauf zurück. Mag man es Martin Buber - ob zutreffend sei dahingestellt - zum Vorwurf machen, dieser Spannung auf philosophische Weise gerecht zu werden versucht zu haben, was ihn freilich nicht hinderte, die religiöse Konnotation seines Grundwortes Ich-Du nicht in Abrede zu stellen; so erhebt Weizsäckers Umgang mit dieser Problematik gerade keinen philosophischen, sondern zunächst und vor allem einen therapeutischen Anspruch. Daß ihm gleichwohl die Frage nach dem Menschen unterliegt, ist offenkundig. Nur, dies ist für Weizsäcker keine philosophische Frage! Sie nimmt Ihren Ausgang nicht vom transzendentalen Apriori des Denkens, sondern vom "menschlichen Apriori" der lebendigen Teilnahme. 46

VI.

Wird mit dem Text "Die Schmerzen" die anthropologische, näherhin metalogische Dimension des ontologischen Problems der Medizin allererst sichtbar, so er45 Viktor von Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke (1926), GS, Bd. 5, S. 9 - 26, Frankfurt / M. 1987, hier S. 14. 46 In einem späteren Text (1948), mit dem er sich nochmals explizit den "Grundfragen medizinischer Anthropologie" zuwendet, kommt Weizsäckers Intention in großer Klarheit zur Sprache: "Die Entstehung (der medizinischen Anthropologie, Erg. v. Verf.) nämlich ist eine empirisch-experimentelle gewesen und nicht der Fundus der Philosophiegeschichte; und das Resultat ist eine Anthropologie, keine Philosophie. Daraus ergibt sich also, daß auch die Wissenschaftlichkeit von anderer Art ist. Autochthon auf dem Boden der Naturwissenschaft entsteht sie, im Umgang mit dem lebenden Menschen wächst sie, auf Menschliches bezieht sie sich .... Man kann aber bemerken, daß die experimentelle und praktische Analyse des als Gegenstand genommenen Menschen zu einer Grundlagenrevision der Begriffe geführt hat und daß damit auch ein bestimmter Begriff des Menschlichen entsteht." (GS, Bd. 7, S. 255282, hier S. 263). Im weiteren Fortgang dieses Textes entwickelt Weizsäcker eine Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage, inwiefern der Umgang mit der Wirklichkeit des kranken Menschen zu jenen weitreichenden Konsequenzen Anlaß geben könne, wie sie in besagtem Vorwort zur 4. Auflage des Gestaltkreis-Buches zur Sprache kamen. Doch dieser Umgang selbst, der zum "Kembegriff der Wissenschaft erhoben", die ,andere Wissenschaft' der medizinischen Anthropologie begründen hilft, macht das Eigentümliche der Gestaltkreislehre aus. Er ersetzt die mittels ,konzentrierter Bewußtseinseinstellung' des transzendentalen Subjekts dargestellte ,objektive Realität' durch die "in dezentrierter Erfahrung begegnende Welt". In diesem Zusammenhang spricht Weizsäcker vom "menschlichen Apriori", gleichsam als Volte gegen eine Philosophie, die "nur Bewußtseins-Philosophie ist." (Pathosophie, Göttingen 1956, S. 36 ff.). Es muß überraschen, wenn Stefan Emondts, dem die bislang gründlichste und zuverlässigste Untersuchung zur Medizinischen Anthropologie Weizsäckers zu danken ist, gerade hier einem gravierenden Mißverständnis unterliegt. Es hieße, das Ceterum censeo der Gestaltkreislehre völlig verkennen, wollte man dem von ihr inaugurierten Umgang als eine Begegnungs- oder Erkenntnisweise verstehen, die "vom Ich her im Schema der Intentionalität" angesetzt sei. Vgl. Stefan Emondts, Menschwerden in Beziehung (FN 23), S. 396

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folgt in dem eingangs genannten weiteren Beitrag Weizsäckers für den ersten Jahrgang der Zeitschrift "Die Kreatur" - in dem Text "Der Arzt und der Kranke" - der Entwurf einer Mäeutik ärztlichen Wissens. Der Begriff Mäeutik sei hier dem der Methode vorgezogen, insofern es um das dialogische Geschehen der Freisetzung eines Wissens vom Anderen geht, das gerade kein vom Ich methodisch vorbestimmtes ist. Das Eigentümliche des Verhältnisses von Arzt und Krankem liegt in eben dieser Spannung zwischen Mäeutik und Methode, gründend in der ontologischen Differenz von Schmerzordnung und Denkordnung. Diese Spannung nicht in der Aporie erstarren zu lassen, sondern ihre konkrete und je individuelle Wirklichkeit als "eine Art von methodischer Urszene" aufzufassen, sie gleichsam zum Paradigma einer ärztlichen Umgangslehre zu erheben, macht die Leistung dieses Textes aus. Er bildet daher auch das Kernstück der medizinischen Anthropologie. 47 Als ein solches umgeben einerseits vom erkenntniskritischen Grundtext "Die Schmerzen", von dem her sich das Paradigmatische der "methodischen Urszene" erst erschließt, sowie von einem weiteren Text, der die praktischen Konsequenzen in Form einer ,Anleitung' zu formulieren sucht. Dieser Text gibt nun, wie kaum anders zu erwarten, eine erste explizite Darstellung der Gestaltkreislehre. 48 Dessen Leitfrage nach dem "Zusammenhang von Wahrheit und Krankheit", der als ein 47 Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke (FN 45), S. 25. Mit diesem Text entwirft Weizsäkker eine "Lehre vorn ärztlichen Verstehen", deren Primat aber nicht einfachhin das Verstehen der Krankheit ist, sondern das Verstehen der "Not der Krankheit" und dessen, "was dem Kranken nottut." Die solchem Verstehen vorausliegende Situation des kranken Menschen, "der eine Not hat, der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft", gilt ihm als das "Urphänomen der medizinischen Anthropologie". (S. 13) Nicht zufällig benutzt Weizsäcker hier den Goetheschen Begriff des Urphänomens, denn das Eigentümliche jener Situation ist ihre Unhintergehbarkeit im bewußten Denken. Sie entzieht sich, weil im Zeichen der "Schmerzordnung" stehend, der üblichen Subjekt-Objekt-Relation; mehr noch: das Subjekt dieses Verstehens "ist das Ich des anderen, nicht meines, und das Objekt ist sein Objekt, nicht meines." Für dieses Verstehen, das im herkömmlichen Sprachgebrauch weder ,subjektiv' noch ,objektiv' genannt werden kann, prägt Weizsäcker den Ausdruck "transjektiv". (S. 20) Indern er es ausdrücklich als ein "Analogon der Liebe" bezeichnet und es mit einern Grundbegriff der Gestaltkreislehre verbindet, nämlich dem der "Gegenseitigkeit", wird man hier den deutlichsten Bezug zum Buberschen Zwischen erkennen dürfen. Doch noch auf einen weiteren Aspekt sei verwiesen. Hans-Georg Gadamer antizipierend, postuliert Weizsäcker in diesem Text den "hermeneutischen Vorrang der Frage". Und zwar der Frage als genau der Weise, in der die offene Gegenwärtigkeit des Ich-Du-Verhältnisses überhaupt erst zur Geltung kommen kann. Damit handelt es sich freilich zunächst um keine Frage als eines intentionalen Aktes von Wissenserwerb, sondern um eine ,responsive Frage', die aus der Situation erwächst, sich also vorn Anderen her gleichsam aufdrängt. In der Nicht-Intentionalität der ,antwortenden Frage' zeigt sich das anthropologische Urphänomen von Not und Hilfe, und mit ihm eine Grundform des ärztlichen Ethos, die Weizsäcker an anderer Stelle in die prägnante Formel kleidet, daß ein Arzt "kein Bewirker, sondern ein Ermöglicher" sei, denn er stehe "nicht über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung." (GS, Bd. 5, S. 192) Es will scheinen, als ob im therapeutischen Verständnis dieser aus dem Ich-Du-Verhältnis der Arzt-Patient-Beziehung erwachsenden Frage erst die eigentliche Nähe Weizsäckers zu Buber gründet? Vgl. hierzu Bloch, Die Aporie des Du (FN 27), S. 295 ff. 48 Viktor von Weizsäcker, Über medizinische Anthropologie (1927), GS, Bd. 5, S. 177194, Frankfurt/M. 1987.

8*

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"ontologisches Verhältnis" auszuweisen ist, bindet ihn indes systematisch an den Text "Die Schmerzen", womit dieser zum eigentlichen Grundtext der Gestaltkreislehre wird. So begründet denn Weizsäcker auch die für die Arzt-Patient-Beziehung typische Dialektik von Distanz und Nähe von jener dezidiert erkenntniskritischen Haltung her, wie sie in der Formel von der "Schmerzordnung" anklingt. Dies spricht nicht zuletzt für seinen unverstellten Blick auf die problematische Wirklichkeit der ärztlichen Situation selbst. "Ein kranker Mensch ist für den Arzt also letzten Endes weder einfühlbar noch verstehbar, und ich muß überhaupt bestreiten, daß man als schmerzfreier den Schmerz, den wirklichen Schmerz des Kranken selbst, die wirkliche Minorität des Neurotikers selbst, die wirkliche Schuld des Melancholikers selbst nachfühlen und verstehen kann. Wer dies behauptet, verfälscht ontologisch die Situation des Arztes zum Kranken. Als Erkenntnisgegenstand betrachtet, befindet sich der Kranke in diesem Sinne in einer Ferne, und zwar in einer radikalen Ferne vom Arzt, und nur die Bejahung dieser ewigen Ferne gehorcht seiner Wahrheit. Als Patient aber andererseits rückt der Kranke in eine bis zur Identifizierung unendliche Nähe zum Arzt, wenn dieser die ärztliche Handlung als eine im Gestaltkreis verbundene Lebensgemeinschaft tut. Dies ist die ewige Nähe des Kranken und seines Arztes. In dieser ewigen Nähe des Gestaltens und jener ewigen

Ferne des Erkennens bewegt sich das ärztliche Tun und der Prozeß von Erkranken und Gesunden, dessen Verlängerung auch gerade das ärztliche Tun ist. ,,49

Im Verbund der hier in einen inneren Zusammenhang gestellten Texte wird sehr viel prägnanter als in anderen einschlägigen Texten Weizsäckers die leitende Intention seines Werkes deutlich, die zugleich auch die der Gestaltkreislehre selbst ist. Vielleicht darf man sie im Sinne Franz Rosenzweigs als Anleitung zur Bewährung der Wahrheit des Lebens verstehen. Wobei wohl die Wahrheit gemeint ist, die gleichsam in jenen "großen Ereignissen des menschlichen Erlebens", also auch in Schmerz und Krankheit verborgen wirksam wird. Zunächst aber liegt die Leistung der Gestaltkreislehre im Versuch einer durchaus praktisch zu verstehenden Annäherung an den "metaphysischen Ort des Arztes".50 Dessen ,Metaphysik' es ausmacht, eine Einheit von Erkennen und Heilen, von Logos und Pathos zu sein, die wohl erlebt und erlitten nicht aber gedacht werden kann; dem bewußten Denken wird sie zum Dilemma. Insofern geht der Gestaltkreislehre wie auch der medizinischen Anthropologie im Ganzen ein "Dualismus" voraus, den zu überwinden sich als Aufgabe gerade nicht eines Programms oder einer Theorie erweist, sondern des Lebens selbst. 51 Hiermit verbinden sich zwei Perspektiven. Einerseits kann die den Ebd., S. 192f. Ebd., S. 192. Dieser "metaphysische Ort des Arztes" meint jene schon erwähnte eigentümliche Verbundenheit, in der der Arzt mit dem Kranken in der Entscheidung steht, sich der "reelle Krankheitsprozeß" gleichsam in den Arzt "existentiell hinein verlängert." (Ebd.) Das Unverständnis dieses "metaphysischen Ortes" seitens des medizinisch-naturwissenschaftlichen Denkens muß nicht überraschen, es ist lediglich die Folge jener ontologischen Differenz von Schmerzordnung und Denkordnung, wie sie Weizsäcker im Text "Die Schmerzen" paradigmatisch entwickelt hat. Vgl. auch Pedro Lain Entralgo, Metaphysik der Krankheit, in: Sudhoffs Archiv 51 (1967), S. 290 - 317. 49

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Leben im Zwischen

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vorstehenden Überlegungen als Titel dienende Fonnel "Leben im Zwischen" als Metapher für ein Dualismus-Bewältigungsprogramm gelesen werden, dessen immanente Widersprüchlichkeit und Unauflösbarkeit im Sinne der Gestaltkreislehre Weizsäckers Bedingungen möglichen Lebens sind. Die Momente in denen die Schwebeexistenz im Zwischen verlorenzugehen droht, sind dann gleichennaßen solche der Erkenntnis und der Gefährdung. Nun ist diese aus Gefährdungen erwachsende und mit ihnen verbundene ,Erkenntnis' eine andere als die des transzendentalen Subjekts: eine ,undenkbare' gleichwohl erlebbare Erkenntnis. Die denkbaren Trennungen in Ich und Nicht-Ich, in Subjekt und Objekt vermitteln hingegen die Erkenntnisse des Lebens, die selbst nicht Leben sind. So klingt in der Fonnel "Leben im Zwischen" zugleich auch jene eigentümliche Dialektik von Leben und Erkenntnis an, für die Weizsäcker den zutreffenderen Terminus der "gegenseitigen Verborgenheit" wählte. 52 Die Gestaltkreislehre erweist sich dann als Versuch, auf die Undenkbarkeit des Lebens hinzuweisen. Sie macht deutlich, daß logisch-begriffliche Exaktheit das Leben ebenso zwingend verfehlt, wie der Lebensvollzug selbst nicht gewußt werden kann. In der Weise, wie sie eine ,Erkennt51 Mit diesem Dualismus beschreibt Weizsäcker zwar zunächst die Ausgangssituation des Arztes im Verhältnis zum Kranken; also einerseits der Versuch, eine Beschreibung dessen geben zu wollen, "was nun eigentlich in einem kranken Menschen vor sich geht", und andererseits dem "innezuwerden, was ihm in der ärztlichen Beziehung zu diesem Kranken eigentlich mit diesem zusammen widerfährt"; letztlich aber meint dieser Dualismus eine Grundbefindlichkeit des Menschen, nämlich genau jene, die Buber das "Doppel verhältnis zum Sein" nannte. Diesem vergleichbar spricht Weizsäcker von einem "Verhalten" welches "auf das Wesen gerichtet ist", und nennt es das ontische, und einem anderen, das überhaupt nicht gerichtet ist, sondern sich selbst leidet, und daher das pathische heiße. "Die ontische und die pathische Seinsweise muß also unterschieden werden: die medizinische Anthropologie beginnt mit einem Dualismus." (Natur und Geist, FN 13, S. 173). Daß man die Gestaltkreislehre letztlich als eine Anleitung zum Umgang mit diesem Dualismus, sei es im therapeutischen Verhältnis, sei es im je individuellen Leben oder aber in und zwischen den Kulturen verstehen sollte, läßt sich mit einer recht knappen aber wie der Kursivsatz vermuten läßt, nachdrücklichen Notiz - gleichfalls in seinen Erinnerungen - erhärten: "Denn die Idee des Gestaltkreises war gar nichts anderes als die theoretische Abstraktion von der Form des Lebensvorganges, die sich mir in der ärztlichen Beziehung zum Kranken dargestellt hatte." (Ebd., S. 170) 52 Die früheste Entfaltung dieses zentralen Topos der Gestaltkreislehre, der auch als das sog. "Drehtür-Prinzip" bekannt ist, erfolgt in unverkennbar erkenntniskritischer Absicht in dem eingangs erwähnten dritten Text für die Zeitschrift "Die Kreatur" mit dem Titel "Krankengeschichte". Der Kernsatz lautet: "In dem Augenblick, wo der urteilende Geist sich entfernt vom Momente der erfahrenden Berührung, wo er den Menschen bloß vorstellt im Raum, als räumliches Gebilde, in der Zeit als ablaufenden Vorgang, ihn bloß denkt als Seele, als Ich oder als Charakter - in diesem Augenblick entsteht eine falsche Lehre vom Menschen." (Weizsäcker, Krankengeschichte, GS, Bd. 5, S. 48-66, Frankfurt/M. 1987, hier S. 64f.). Hier findet sich auch der zutreffendste Beleg für Weizsäckers Verständnis des ,Lebens im Zwischen'. So gilt ihm der Mensch nicht als "ein Wesen in Grenzen des Raumes und der Zeit", sondern "ist vielmehr selbst Grenze .... Wie eine Möwe ist er zwischen den Elementen, bald in die Lüfte steigend, bald ins Wasser tauchend, eigentlich zwischen beiden nur den Spiegel streifend, wie auch sie vielleicht, ist der Mensch Fleisch und Geist, durch beide, in keinem; überall ist eines durch das andere, nie ist eines allein." (S. 65)

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nis', besser wohl eine Erfahrung des Lebens am Leitfaden der "Urformen der Not" zu leisten versucht, ist sie in ihrem anthropologischen Anspruch implizit erkenntniskritisch. Gelingender Erkenntnis im Sinne der "Bewußtseinsphilosophie" geht indes mit ihren methodischen Entscheidungen notwendig jener anthropologische Horizont verlustig, den zu erreichen sie vorgibt.

Was ist das - ein guter Arzt? Von der Unverzichtbarkeit der Philosophie für die Medizin

Von Günther Pöltner, Wien Die Beantwortung der Frage: Was ist das - ein guter Arzt? scheint wenig Schwierigkeiten zu bereiten. Wir würden uns weder von jemandem behandeln lassen, der zwar Sachkompetenz besitzt, diese aber nicht in den Dienst des kranken Menschen stellt. Bei so jemandem wären wir nicht sicher, ob er es mit uns auch zu unserem Besten meint. Wie die Geschichte zeigt, gibt es auch verbrecherische Ärzte. Wir würden uns aber auch nicht von jemandem behandeln lassen, der es zwar mit uns gut meint, aber nicht viel von seinem Fach versteht. Bei so jemandem müßten wir um unser Leben fürchten. Ein guter Arzt ist offenkundig jemand, der Sachwissen mit sittlich-praktischem Wissen (Sinnwissen) zu verbinden weiß und sein Handeln von beidem leiten läßt. Die Vereinigung der beiden Komponenten ist eine selbst noch sittliche Aufgabe ärztlicher Existenz. Das traditionelle ärztliche Berufsethos kennt diese Aufgabe unter dem Titel einer Verpflichtung zur Weiter- und Fortbildung. Das konnte so lange genügen, als dieses Berufsethos dank seiner Einbettung in ein umgreifendes Gesellschaftsethos eine ausreichende Normierung ärztlichen HandeIns bot. Unter den gegenwärtigen Bedingungen eines Wertepluralismus und neuer medizinischer Machbarkeiten ist die Verbindung von Sachwissen und sittlich-praktischem Wissen bzw. Sinnwissen vor neue Probleme gestellt. Es ist die Schwierigkeit dieser Verbindung, welche die Philosophie für die Medizin erneut unverzichtbar macht. I.

Am Problem einer Ethik in der Medizin wird die Unverzichtbarkeit der Philosophie besonders augenfällig. In der Ethik geht es nicht um die Beschreibung und Auflistung faktischen Verhaltens, sondern um die Frage, ob und warum es rechtens ist, so zu handeln. Die Brisanz medizinethischer Probleme ergibt sich u.a. aus der Tatsache, daß die Medizin in die Fragwürdigkeit hineingezogen ist, der gegenwärtig das modeme Wissenschafts- und Wirklichkeits verständnis ganz allgemein ausgesetzt ist. Dazu nur einige Hinweise: Grundannahmen neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses - wie die Wertfreiheit der Wissenschaft oder die Gleichsetzung von wissenschaftlichem Fortschritt mit Fortschritt an Humanität und Freiheit

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- gelten nicht länger ungebrochen. Die Wissenschaft ist keineswegs wertfrei. Sie ist eine Fonn menschlicher Tätigkeit und unterliegt wie alle anderen menschlichen Tätigkeiten auch ethischen Kriterien. Grundlagenforschung und Anwendung lassen sich nicht mehr klar auseinanderhalten im Sinne von ,ethisch neutral' und ,ethisch relevant'. Grundlagenforschung ist in vielen Fällen bereits Anwendung, so daß sich die Frage nach der ethischen Erlaubtheit des Wissensgewinns stellt. Die ethischen Probleme beginnen nicht erst bei der technologischen Anwendung, sondern bereits bei der Art der Wissensgewinnung.' Daraus folgt, daß der Wissenschaftler verantwortlich ist gegenüber den tatsächlich oder potentiell von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Betroffenen und für die überschaubaren Nebenfolgen seiner Handlungen. Daraus folgt jedoch weder eine Alleinverantwortlichkeit des Wissenschaftlers noch die Notwendigkeit einer eigenen Wissenschaftsethik, die von der der übrigen Menschen grundsätzlich unterschieden wäre. Ethisch verwerfliche Handlungen hat ein Wissenschaftler als Mensch zu unterlassen. Als einer, der mehr weiß als andere, hat er sich jedoch intensiver mit ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Hier ist allerdings eine wichtige Unterscheidung zu treffen: Fachwissenschaftliche Kompetenz fällt nicht schon mit ethischer Kompetenz (Ethik verstanden als systematische Reflexion auf das rechte menschliche Handeln) zusammen. Sachwissen vennittelt nicht schon sittlich-praktisches Wissen. Sachprobleme sind Gegenstand, nicht aber Prinzip sittlicher Beurteilung. Einwände gegen die Verwirklichung des machbar Gewordenen können, müssen aber nicht Ausdruck mangelnder Sachinfonnation, sie können auch Ausdruck einer aufgeklärten sittlichpraktischen Vernunft sein. Sachwissen ohne sittlich-praktisches Wissen ist blind, sittlich-praktisches Wissen ohne Sachwissen ist leer. Wie sehr dies insbesondere für den Arzt gilt, liegt auf der Hand. Auf der einen Seite haben sich neue Möglichkeiten medizinischen HandeIns auf dem Gebiet der Diagnostik, der technischen Verfahren und der Therapie eröffnet, und es stehen neue Erkenntnisse betreffend Lebensanfang und Lebensende zur Verfügung. Beides hängt mit dem Anteil der Naturwissenschaften an der medizinischen Grundlagenforschung zusammen. Weiters hat sich die Struktur des medizinischen Handlungsraumes verändert. Man denke an die weitgehende Anonymisierung vieler Bereiche im Spitals wesen, an die Spezialisierung der Ärzte und an die sich daraus ergebende arbeitsteilige Behandlung des Patienten mit der Problemfolge, wer letztendlich die Verantwortung für den Kranken hat. Man denke an den Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses in Richtung eines Vertragsverhältnisses mit der Folge, daß ärztliche Tätigkeit oft primär als Serviceleistung genommen , Ich danke Rainer-M. E. Jacobi für den Hinweis, daß sich Viktor von Weizsäcker bereits in seinen frühen Schriften der Frage nach der Art der Wissensgewinnung insbesondere mit Blick auf eine naturphilosophische Begründung seiner "Medizinischen Anthropologie" ausführlich zugewandt hat, um dies dann in seinen späteren Entwurf einer "sittlichen Wissenschaft" (1948) einfließen zu lassen. Vgl. hierzu die Einführung in diesen Band, aber auch Rainer-M.E. Jacobi, Kranksein und Wissen. Zur geistesgeschichtlichen Bedeutung der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers, in Vorber.

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wird, und man denke an die zunehmende Verrechtlichung ärztlichen HandeIns mit der Folge einer Defensivmedizin, die dazu neigt, an die Stelle des Tuns des Angebrachten die Vermeidung des Falschen zu setzen. Nicht unerwähnt bleiben darf das Problem klinischer Forschung am Menschen und das Humanexperiment. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem Wertepluralismus zu tun, der zwar der Ausbildung hochwertiger Ethosformen keineswegs im Wege steht, gleichzeitig aber als Kehrseite die Last der Orientierung und der Ethoswahl ganz dem Einzelnen auferlegt. Dies ist umso gravierender, als dies unter dem Vorzeichen der für die Neuzeit charakteristischen Einengung der Vernunft auf Zweckrationalität steht. Vernünftigkeit wird gleichgesetzt mit der Fähigkeit, die optimalen Mittel für einen vorgegebenen Zweck ausfindig zu machen. Ethische Kategorien werden durch technische ersetzt. Die Wahl der Zwecke bzw. die Frage, ob die Zwecke auch sinnvoll, d. h. für den Menschen gut sind, muß zur Sache bloß emotionaler bzw. machtpolitischer Dezision werden. Eine Rechtfertigung der Wahl durch Angabe von Vernunftgründen ist unter solchen Bedingungen ausgeschlossen. Unter diesen Umständen mag das Ungenügen einer am bloßen Standesethos (Berufsethos) orientierten Medizinethik einsichtig sein. Weder gibt es angesichts der Multifunktionalität des Arztes und der vielfach aus der Zweierbeziehung Arzt-Patient in ein öffentliches Gesundheitssystem verlagerten ärztlichen Tätigkeit einen geschlossenen Ärztestand, noch gibt es ein umfassendes, weitestgehend anerkanntes gesellschaftliches Ethos, in welches das ärztliche Standesethos eingebunden wäre. Das traditionelle ärztliche Ethos ist gewiß unverzichtbar, doch rebus sic stantibus ergänzungsbedürftig - womit wir wiederum bei der Unverzichtbarkeit der Philosophie angelangt wären. Denn sowohl die Erarbeitung eines adäquaten Selbstverständnisses der Medizin als auch das Problem einer Medizinethik sind philosophischer Natur. Die Aufgabe der Philosophie im Gespräch mit der Medizin besteht in der Hilfestellung, keine für den Menschen als Menschen relevanten Fragen auszulassen. Darin vollbringt sie ihr kritisches Geschäft - kritisch zu allererst im Hinblick auf die immer noch antreffbare Meinung von der Entbehrlichkeit einer philosophischen Reflexion angesichts der ohnehin gelebten Verantwortlichkeit. Die Tatsache gelebter Verantwortlichkeit soll nicht bestritten werden. Eine Ethik ohne Ethos kann es nicht geben, weil keine Reflexion das zu Reflektierende setzt, sondern voraussetzt. Allein die Berufung auf das gelebte Leben bzw. den moralischen common sense ist zu wenig. Was sagt man denn dem, der fundamentale sittliche Überzeugungen in Wort und Tat bestreitet?

11.

Medizin ist nicht einfach eine angewandte Naturwissenschaft, wenngleich sie naturwissenschaftliche Ergebnisse zu Hilfe nimmt. Die Rede von ,Anwendung' charakterisiert die Medizin von einem ihrer Mittel her, nicht von ihrem Ziel - der Heilung bzw. Schmerzlinderung. Gegenstand der Medizin ist "der gesunde, der

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krankgewordene, der zu heilende und der genesende Mensch"? Die Charakterisierung als einer angewandten Naturwissenschaft unterschlägt die praktische Dimension der Medizin. Das medizinische Wissen wird nicht um seiner selbst willen, sondern umwillen einer ganz bestimmten Form des Handeins, des Heilens, erworben. Ein handlungsleitendes Wissen ist nicht ein theoretisches, sondern ein praktisches Wissen. Die genannte Charakterisierung ist unzureichend, weil sie die ethisch-praktische Dimension der Medizin unterschlägt. Die ethische Reflexion ist der Medizin nicht äußerlich, sondern ihr als praktischer Wissenschaft innerlich zugehörig. Ärztliches Handeln steht unter der zweifachen Beurteilungsdifferenz: der pragmatischen hinsichtlich richtig und falsch und der moralischen hinsichtlich sittlich verantwortbar oder verwerflich. Diese Differenz gilt es zu beachten angesichts des Versuchs, Ethik durch Ideologisierung (nachträgliche Sanktionierung faktischer Forschung) loszuwerden. Medizinethik ist eine normative Disziplin und erschöpft sich keineswegs in der Diskussion von Fallbeispielen und ist nicht bloß die Theorie des gesunden Hausverstandes eines erfahrenen Arztes. Sie würde ihre normativ-kritische Aufgabe verraten, würde sie sich opportunistisch an den herrschenden Zeitgeist anpassen. Die These von der Unverzichtbarkeit der Philosophie reicht jedoch weiter und bezieht sich nicht nur auf die Notwendigkeit einer ethischen Reflexion im Rahmen der Medizin. Ein guter Arzt will ja dem Kranken als Mensch helfen. Dies wird er nur dann können, wenn er sich der Frage nach dem Menschsein des Menschen aussetzt und sich um einen thematisch möglichst unverkürzten Begriff von ,gesund' und ,krank' bemüht und sich nicht mit einem vagen, von Ergebnissen einzelwissenschaftlicher Anthropologien durchsetzten Durchschnittsverständnis von Menschsein begnügt. Auf diese Weise ist er nämlich keineswegs philosophieunabhängig, sondern seiner unreflektierten, heimlich mitgeschleppten ,Privatphilosophie' verpflichtet: "Heilungsmethode und Heilungsziel sind in größerem Ausmaße als es die medizinische Wissenschaft wahrhaben will, von der Persönlichkeit des Arztes und damit von dessen ,Privatphilosophie' geprägt"? Es ist ein Irrglaube zu meinen, die Medizin sei philosophieunabhängig. Wer sich weigert, die philosophischen Voraussetzungen seines ärztlichen Tuns (sein Vorverständnis von Menschsein z.B.) zu befragen, entkommt ihnen keineswegs, sondern verfällt ihnen bloß kritiklos. Hier sollte nicht vergessen werden: "Die philosophische Besinnung über das Wesen des Menschen führt nicht nur zu einem vertieften und erweiterten Krankheitsverständnis, sondern auch zu einer besseren Motivierung und Gestaltung ,ärztlichen Handeins ' ". 4 2 Heinrich Schipperges, Motivation und Legitimation ärztlichen HandeIns, in: H. Schipperges/E. Seidler/P. U. Unschuld (Hrsg.), Krankheit, Heilkunst, Heilung, S. 447-489, München 1978, S. 73. 3 Gion Condrau, Philosophisch-wissenschaftliches Menschen-verständnis und ärztliches Handeln in daseins-analytischer Sicht, in: M. Boss/G. Condrau/ A. Hicklin (Hrsg.), Leiben und Leben. Beiträge zur Psychosomatik und Psychotherapie, S. 71-77, Bern 1977, S. 73. 4 Ders. (FN 3), S. 76.

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III.

Die Frage nach dem Menschen als Menschen ist eine philosophische, näherhin eine anthropologisch-ontologische Frage. Sie unterscheidet sich auf eigentümliche Weise von den einzel wissenschaftlichen Fragestellungen, die ebenfalls den Menschen zu ihrem Gegenstand haben. Der Arzt steht in der schwierigen Lage, diesen Unterschied in sich austragen zu müssen: Denn die Naturwissenschaften sind für die modeme Medizin unentbehrlich, rücken ihr aber gleichzeitig aufgrund ihrer Methode den Menschen als Menschen aus dem Blick.

Der genannte Unterschied betrifft nicht den Gegenstandsbereich, sondern die Art der Fragestellung und das erkenntnisleitende Interesse. Die neuzeitliche Naturwissenschaft bewegt sich in einer abstrakt-partiellen Fragehinsicht. Sie konstituiert sich dadurch, daß sie eine Reihe von Wirklichkeitsdimensionen, die unserer lebensweltlichen Erfahrung zugänglich sind, systematisch ausblendet - einer Erfahrung, die aller Wissenschaft uneinholbar voraus- und zugrundeliegt. Sie interessiert sich nicht für die möglichst unverkürzte Gegebenheit einer Sache, sondern schränkt das lebensweltlich Gegebene auf einige seiner Momente ein und erforscht es unter einem Teilaspekt. Dieser methodische Reduktionismus ist sowohl die Ermöglichungs- als auch die Erfolgsbedingung der modemen Naturwissenschaft und steht seinerseits im Zeichen eines eingeschränkten Erkenntnisinteresses: des praktischen Zieles der Naturbeherrschung. Die Naturwissenschaft verfährt nach dem bekannten Motto Galileis, alles messen, was meßbar ist, und versuchen meßbar zu machen, was es noch nicht ist. Gefragt wird nicht, was etwas ist, sondern wie es funktioniert. Wirklichkeit wird von vornherein auf bedeutungsnackte Faktizität eingeschränkt. Das so verstandene Wirkliche ist das Objektive (das factum brutum), für das Reproduzierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Prognostizierbarkeit charakteristisch ist. Die methodische Reduktion des Wirklichen auf das Objektive hat also zur Folge, daß die Dinge ihres gegebenenfalls zu achtenden Eigenwerts entkleidet werden. Unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt wird die Bedeutsamkeit der Dinge zu einem Wert uminterpretiert, der in der Sphäre des Subjekts seinen Sitz hat, von wo aus er in die Dinge projiziert wird. ,Wissenschaftlich' gesehen ist Bedeutsamkeit allemal etwas ,bloß Subjektives'. Mit der Fragehinsicht wird die Gegenständlichkeit des Gegenstandes und damit die Wissenschaftlichkeit des Wissens sowie die Art der Wissensbegründung im vorhinein festgelegt. D.h. es wird vorweg bestimmt, welches Wissen Anspruch erheben kann, als wissenschaftlich zu gelten und welches nicht. Die neuzeitliche Naturwissenschaft bewegt sich von allem Anfang an in einem Gegenstandsentwurf, der die Bedingungen festlegt, unter denen allein etwas zu einem wissenschaftlich relevanten Objekt werden kann. Dieser apriorische Gegenstandsentwurf ist keine falsifizierbare Hypothese, weil er im Bilden wissenschaftlicher Hypothesen bereits wirksam ist und das Erstellen von Hypothesen überhaupt erst ermöglicht. Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist nicht schon deshalb methodisch, weil sie gewisse Regeln der Gewinnung und Prüfung ihrer Ergebnisse befolgt, sondern weil sie von vornherein festlegt, was an

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dem außerwissenschaftlich Gegebenen zum Objekt wird und was nicht. Das Methodische der neuzeitlichen Wissenschaft liegt in der strengen Selbstbindung an das eingeschränkte Erkenntnisziel und an den eingeschränkten Wissensbegriff, der diesem Ziel entspricht. Beide sind vorweg bestimmt. Für die neuzeitliche Wissenschaft ist der Vorrang der Methode vor dem Erfahrungsinhalt charakteristisch. Nicht das Wirkliche bestimmt die Art seines Wissens (gen. obj.), sondern umgekehrt bestimmt ein Wissensbegriff, was als wirklich, d.h. objektiv zu gelten hat und was nicht. So besitzt auch nicht die Erfahrung als Erfahrung, sondern einzig als methodisch herbeigeführtes Experiment wissenschaftliche Relevanz. Der bewußt selegierenden Fragehinsicht entspricht ein thematisch reduzierter Gegenstand. Das Ausgangsphänomen als solches wird infolge des methodischen Reduktionismus zugunsten seiner Bedingungen ausgeklammert. So entschwindet z. B .. die wahrgenommene Farbe in dem Augenblick, wo sie im Zuge eines Meßverfahrens in Schwingungszahlen zerlegt wird. Freilich: Methodische Ausklammerung bedeutet nicht Vernichtung. Was methodisch ausgeklammert wird, bleibt gleichwohl in der Ausklammerung noch wirksam - nur mit dem Unterschied, daß es nicht ausdrücklich reflektiert wird. Das methodisch Ausgeklammerte wird in der partiellen Fragehinsicht unthematisch mit-gewußt als das, was der wissenschaftlichen Vergegenständlichung zugrundeliegt und worauf sich diese letztlich zurückbezieht. Es bildet als unthematisch Mit-Gewußtes eine ihrer Ermöglichungen. Die Fragehinsicht der modemen Naturwissenschaft ist nichts Naturwüchsiges, sondern etwas Geschichtliches. Sie ist weder von der Sache erzwungen, noch ist sie die einzig legitime. Sie ist die Folge eines Willens zu einer ganz bestimmten Art des Wissens, welches die Naturbeherrschung erlaubt (Naturbeherrschung ist nicht mit In-Dienst-Nahme der Natur zu verwechseln.) Die modeme Naturwissenschaft ist entgegen einer weithin anzutreffenden Meinung nicht die lineare Fortsetzung der griechischen Physik, weil die Griechen die Natur im Lichte eines anderen Vorverständnisses von Natur befragt haben. Die methodische Reduktion der Natur auf das an ihr Beherrschbare hat zur Folge, daß alles ,nicht' als ein ,noch nicht' erscheint. Diese heimliche Gleichsetzung bildet den Imperativ weiterer Forschung. Das Nicht-Beherrschbare an der Natur ist allemal das Noch-nicht-Beherrschbare, das zu Beherrschende.

IV. Aus dem Gesagten läßt sich u.a. entnehmen: Was von vornherein methodisch ausgeblendet wird, kann innerhalb der gewählten Fragehinsicht grundsätzlich nicht mehr vorkommen. So kann all das, was den Menschen als Menschen ausmacht, innerhalb naturwissenschaftlicher Forschung nicht vorkommen. Der durch die Methode bedingte Erfolg rechtfertigt noch nicht die Wahl der Methode. Der riesige Erfolg moderner Naturwissenschaft ist keineswegs die Legitimierung ihres leiten-

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den Fragegesichtspunkts. Denn das auf diese Weise erzielte Resultat kann von sich aus nichts darüber aussagen, was von allem Anfang an zum Zweck der Objektivierung hat ausgeblendet werden müssen, und welchen Rang das Ausgeblendete im Hinblick auf die thematisch unverkürzte Sache besitzt. Ob das Beherrschbare und Quantifizierbare an der Natur das ,Eigentliche' der Natur ausmacht, entzieht sich naturwissenschaftlicher Kompetenz. Die fach wissenschaftliche Rationalität ist weder die einzige noch die maßgebliche Form von Vernünftigkeit - dies schon deshalb, weil sie methodisch-reduktiv vorgeht. Sie ist die Folge einer Selbstbeschränkung der Vernunft. Und ebensowenig ist die naturwissenschaftliche Realität die maßgebliche Realität, sondern eben die von der naturwissenschaftlichen Methode zugelassene Realität. Die naturwissenschaftliche Natur ist keineswegs die im eigentlichen Sinn so zu nennende Natur, sondern die auf Beherrschbarkeit hin abgestellte Natur. Ob jedoch die grundlegende Weise menschlichen Naturbezugs die Beherrschung ist oder nicht, ist eine Frage, die mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht einmal gestellt, geschweige denn entschieden werden kann. Und die naturwissenschaftliche Terminologie ist keineswegs die Präzisierung der natürlichen Sprache, weil auch sie der methodischen Ausklammerung menschlicher Erfahrungsdimensionen verpflichtet ist. (Mit der Ersetzung z. B. des der lebensweltlichen Erfahrung zugeordneten Wortes ,Tod' durch den terminologischen Ausdruck ,exitus', ist keineswegs eine Verdeutlichung dessen erreicht, was der Tod uns Menschen zu denken gibt, sondern bloß auf die irreversible Funktionsuntüchtigkeit eines Organismus abgehoben.) Diese hier nur angerissenen Verhältnisbestimmungen sind für das ärztliche Selbstverständnis keineswegs belanglos. Der Arzt weiß aus seiner Erfahrung nur allzu gut um den Unterschied zwischen der natürlichen Natur,5 auf die sein ärztliches Tun angewiesen bleibt, und der vergegenständlichten Natur, auf die sich sein naturwissenschaftliches Wissen bezieht. "Die Natur, die Gegenstand der modemen Naturwissenschaft ist, ist nicht die Natur, in deren großen Rahmen sich das ärztliche Können wie alles künstliche Können der Menschen einfügt".6 Trotz alles medizin-technischen Aufwands gilt nach wie vor: medicus curat, natura sanat. Der alte Name ,Heilkunst' erinnert daran. Das ärztliche Tun ist Kunst, weil ein Geschehen im Menschen seinen Ursprung hat. Im Unterschied zu einem künstlichen Tun wird jedoch nicht ein eigenständiges Werk hergestellt, sondern (im besten Fall) etwas Natürliches - die Gesundheit - wiederhergestellt. Deshalb läßt sich letztlich nie genau ausrechnen, was bei der Genesung der ärztlichen Kunst und was der Regenerationskraft der Natur zuzuschreiben ist. Im Maße, in dem sich die Medizin naturwissenschaftliche Erkenntnisse zunutze macht, arbeitet sie mit einem methodisch verkürzten Begriff von Gesundheit bzw. 5 Darunter ist die ihrer Vergegenständlichung zugrunde- und vorausliegende Natur gemeint. Die Natur erlaubt ihre Vergegenständlichung, erschöpft sich jedoch nicht darin. 6 Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt/M. 1993, S.54.

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Krankheit. Krankheit gilt dann als Funktionsstörung, wobei sich die Abweichung an einer Durchschnittsnorm bemißt. Das ärztlichen Tun gewinnt den Anschein eines technisch-praktischen Vollzugs, die Heilung bzw. Genesung erscheint als erfolgreiche Reparatur. Nun weiß jeder erfahrene Arzt, daß dies eben ein Anschein ist, und "daß das im physiologischen Sinne ganz und gar Normhafte nicht auch dem Gesundsein entspricht" , ja sogar "zum Gesundsein eine gewisse Beimischung von Normwidrigkeit gehört".7 Es gehört mit zur ärztlichen Kunst, den funktionalen Krankheitsbegriff in jenen Erfahrungsbereich zu re-integrieren, dem das ursprüngliche Verständnis von ,gesund' und ,krank' entstammt. Nicht zuletzt am Gelingen dieser Re-Integration besteht die Wirksamkeit ärztlicher Hilfe dem Kranken gegenüber. Die ärztliche Kunst umfaßt so zumindest ein Zweifaches: Einerseits die Fähigkeit, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren. Weil jedoch mit dem Allgemeinwissen nicht schon der konkrete Einzelfall erfaßt ist, ist Urteilskraft vonnöten, die die Verbindung von konkretem Einzelnen und Allgemeinem erschaut und die nicht theoretisch gelernt werden kann, sondern durch Erfahrung eingeübt werden muß. Hier braucht es den rechten Blick und das rechte Gespür, jenes unersetzlich Notwendige, das mit Begabung zu tun hat. Und andererseits gehört zur ärztlichen Kunst die oben genannte Fähigkeit, das methodisch Reduzierte in das dazugehörige Gesamtphänomen zu re-integrieren. Damit ist nicht bloß die im Gespräch mit dem Patienten erforderliche Übersetzung der medizinischen Terminologie in die natürliche Sprache gemeint - die auch dort nötig ist, wo der Patient ärztlicher Kollege ist, wenn anders es darauf ankommt, dem Kranken als Mensch zu helfen. Gemeint ist die In-Blick-nahme der Lebensumstände des Kranken, der konkreten Art, wie er seinen Welt-Bezug und sein Miteinandersein vollbringt.

v. Wir sind dadurch Mensch, daß wir in der Möglichkeit stehen, uns von dem, was uns begegnet in vielfältiger Weise ansprechen zu lassen. Diese Offenheit, die uns zum Vollbringen aufgegeben ist, macht unser Menschsein aus. Wir nehmen weder Schallwellen noch Lichtwellen wahr, sondern wir hören dort drüben jemanden sprechen oder sehen vor uns einen Hund herumspringen. Menschliches Wahrnehmen ist ein unmittelbares Dahaben von diesem da als einem so oder so Bedeutsamen, das uns in einem Beziehungsganzen begegnet. Es handelt sich hier nicht um einen freischwebenden Bezug, sondern allemal um den Selbstvollzug eines Menschen. Es hört nicht das Ohr und es denkt nicht das Gehirn, sondern es hört und denkt dieser namentlich konkrete Mensch - was er freilich nur kann, wenn Ohr und Gehirn funktionstüchtig sind. (Wer sagt denn ,mein Gehirn' bzw. ,mein Ohr'? 7 Hubertus TeIlenbach, Zur Phänomenologie des Gesundseins und deren Konsequenzen für den Arzt, in: Zschr. für klin. Psychologie und Psychotherapie 28 (1980), S. 57-67, hier S.62.

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Diese Selbstzuschreibung nimmt nicht das Ohr und nicht das Gehirn vor!) Und nicht ertönt zuerst etwas, und dann hören wir es, sondern das eine geschieht als das andere. Hier herrscht die Identität eines einzigen Vollzugs: Das Ertönen geschieht als unser Hören. Im Vollzug selbst gibt es kein Davor und Danach. Die Dinge der Welt sprechen uns an, indem wir uns ansprechen lassen, wobei wir immer die zuvor Angesprochenen sind - und das nicht bloß im entwicklungspsychologischen Sinn im Hinblick auf unsere Eltern (oder deren Stellvertreter). Gewiß wachsen wir in unsere Muttersprache hinein, indem andere mit uns zu reden beginnen. 8 Doch darf nicht vergessen werden, daß Sprachlichkeit einen Grundzug der Wirklichkeit insgesamt bildet. Die "Sprache, welche die Dinge führen",9 ist mit ihrem Sein identisch. So besitzt z. B. die Notsituation eines Kranken von sich aus bereits den Charakter eines Rufs, und sprechen wir Menschen einander immer so oder so an, ob wir das wollen oder nicht - der non-verbalen ,Körpersprache' können wir uns nicht entziehen. Nicht nur in der verlautenden Rede, sondern bereits mit der Sprache unseres Leibes geben wir einander immer mehr zu verstehen, als wir reflexiv einholen können. Der Kranke spricht zum Arzt auch dann, wenn er nichts verlauten läßt. Ein guter Arzt weiß auch auf diese Sprache zu hören. Weil die Wirklichkeit selbst sprachlich verfaßt lO ist, und unser Menschsein in der Welt-offenheit liegt, können wir die Dinge unsererseits zur Sprache bringen. Die Dinge geben von ihnen her zu verstehen, indem wir sie zur Sprache bringen. In unserem kulturell differenzierten Sprechen kommen sie zu ihrer Sprache. Auch hier geschieht eines als das andere. Die Sprache, welche die Dinge führen, ist darauf angewiesen, daß wir sie ins Wort bringen. Deshalb ist unser Sprechen in sich ein Hören und also schon Antwort. Menschliches Sprechen besitzt einen ursprünglich dialogischen Charakter. Wir können sprechen, weil wir hören können. Der Satz, das Sprechen ist in sich schon ein Hören, zielt nicht darauf ab, daß jeder Gesunde sich selbst beim Sprechen mithören kann, sondern daß unser Sprechen im Hören-können, d. h. in der Welt-offenheit gründet. Das Sender-Empfänger-Modell der Sprache hat diese Bezüge von vornherein ausgeblendet. Es überspringt von allem Anfang an die Vollzugsidentität und steht infolge dessen vor dem unlösbaren Problem, das zuerst methodisch Auseinandergerissene nachträglich zusammenflicken zu müssen. Sprechen gilt als Übermittlung von Informationsmaterial, das ein Empfänger zu decodieren hat. Der Kranke erscheint dann als Aussender mehr oder weniger verschlüsselter Nachrichten, die auf Entschlüsselung warten, nicht aber als einer, der sich selbst mitteilt und darin Anteil an seiner Welt gewährt. Nicht mehr wird gesehen, daß menschliches Sprechen in erster Linie ein Zur-Sprache-bringen bedeutet, d. h. daß wir im Miteinandersprechen einander Gegenwart einräumen und so Nähe gewähren, vielmehr wird 8 Auf diese Weise kommt es zur Aktuierung unseres Verstehenkönnens, das ja im Angesprochenwerden nicht gesetzt wird, sondern vorausgesetzt bleibt. 9 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 450. 10 In dieser Sprachlichkeit gründet die Erkennbarkeit des Wirklichen. Erkennbarkeit ist nicht mit restloser Begreiflichkeit zu verwechseln.

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Sprechen instrumentalistisch auf ein Bewirken, ein Erzielen von Veränderungen, reduziert. Bedenklich wird es, wenn sich eine Psychosomatik solch einem Sprachverständnis verschreibt. 11 VI.

Welt-offenheit bedeutet für den Menschen, im verstehenden Bezug zum Ganzen des Seins, im All-Bezug zu stehen. Wir können nach allem schlechthin fragen, nichts entzieht sich von vornherein unserem Fragen-können. Dank des All-Bezugs können wir nicht nur das Relative relativieren, sondern auch die uns auferlegten Grenzen als solche erfassen. Das Ganze ist kein Gegenstand. Gegenstände lassen einem die Wahl, sich auf sie zu beziehen oder nicht. Der Welt-Bezug steht jedoch nicht in unserer Disposition. Gegenstände lassen sich intendieren, nicht jedoch die Welt. Diese ist uns in der Weise der Gestimmtheit erschlossen. In der Art und Weise, wie wir uns befinden, sind wir der Welt inne - und dies im Modus des Mitseins mit anderen. Mensch zu sein heißt immer schon, Mitmensch zu sein und zur Mitmenschlichkeit aufgerufen zu sein. Das Mitsein mit anderen ist Vorgabe und Aufgabe zumal. Ihr gegenüber gibt es immer nur ein mehr oder weniger an Entsprechung - was für alle in einer gemeinsamen Situation Verbundene gilt. Die Notsituation der Krankheit z. B. beinhaltet einen Appell an alle, die an ihr teilhaben also nicht nur an den Arzt und das Pflegepersonal, sondern auch an den Patienten. Auch er ist aufgerufen, sich in seiner Krankheit, so gut er eben kann, als Mitmensch zu bewähren. Hilfe und Helfen-lassen sind auch hier aufeinander angewiesen.

Gesundsein und Kranksein sind primär Weisen welt-offenen Existierens, Weisen, wie wir unsere Welt-offenheit vollbringen, uns von dem Begegnenden in Anspruch nehmen lassen, und wie wir die sich uns eröffnenden Möglichkeiten, dem Guten Raum zu geben, ergreifen. "Gesundsein ist Wohlbefinden, Wohl-Sein, ein Zumute-Sein".12 Zu ihm gehört, daß es sich nicht als solches aufdrängt. Gesundheit bleibt für gewöhnlich im unbemerkten Hintergrund: "Sie gehört zu dem Wunder der Selbstvergessenheit".13 Wenn darauf hingewiesen wird, daß gesund derjenige ist, "der seine Existenz seinen ihm gegebenen Möglichkeiten entsprechend austragen kann, dessen In-der-Welt-Sein so gestimmt ist, daß er sachgerecht vernehmen und antworten kann", so schließt das durchaus die Fähigkeit ein, Leid zu 11 So spricht z.B. Wesiack von einer "anthropologisch bedingten Tatsache, daß wir unsere Um- und Mitwelt entweder durch Handlungen oder aber durch Worte verändern können". Die Betonung der untrennbaren Verbindung von ,Hand' und ,Wort' führt sogar zur These, daß "auch Worte letztlich Handlungen sind." (Wolfgang Wesiack, Perspektiven psychosomatischen Denkens für das ärztliche Handeln, in: K.F. Wessel/W. Förster/R.-M.E. Jacobi (Hrsg.), Herkunft, Krise und Wandlung der modernen Medizin, S. 135-142, Bielefeld 1994, S. 139). Vgl. hierzu auch vom Verf., Die anthropologischen Grundlagen ärztlichen Handeins, in: ebd., S. 52-69. 12 Tellenbach (FN 7), S. 59. 13 Gadamer (FN 6), S. 126.

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ertragen und Widrigkeiten des Lebens durchzustehen. 14 "Gesundheit und Freisein gehören damit aufs engste zusammen und beinhalten Freisein für die dem Menschen zugehörigen Verhaltensmöglichkeiten". 15 Frei in diesem Sinne ist, wer weder zwanghaft oder süchtig dem Begegnenden verfällt, noch ihm sich durch Flucht entzieht, sondern das Vertrauen in die tragenden Mächte des Daseins lebt. Krankheit wird demgegenüber primär als Nicht-mehr-Verfügen-können über wesentliche Verhaltensmöglichkeiten und in diesem Sinn als Unfreiheit erfahren. Der Welt-Bezug und damit die Form des Mitseins mit anderen ist beeinträchtigt und gestört. Krankheit bedeutet ein Herausgeworfensein aus gewohnten Lebensbahnen. Wenn es dem behandelnden Arzt gelingt, mit dem Kranken und für ihn neue Möglichkeiten welt-offenen Existierens aufzuspüren, hat er ihm als Mensch geholfen. Und wenn anders unser Menschsein immer so oder so gestimmt ist, dann wird der Sinn ärztlicher Hilfe in diesem Fall darin bestehen, dem Patienten eine Umstimmung zu ermöglichen: "Umstimmung würde heißen, sich andern als den bisherigen Vernehmungsmöglichkeiten zu öffnen, für sie hellhörig zu werden". 16 Zur Welt-offenheit des Menschen gehört nicht nur, daß wir von dem schlechthin Sinnvollen in Atem gehalten sind, sondern auch, daß wir auf eine seltsame Weise um unser eigenes Nicht-Dagewesensein sowie um unser Sterbenmüssen wissen. Als Menschen ist uns auf eine seltsame Weise das Geheimnis unseres Ursprungs und unseres Todes erschlossen - wie verdrängt oder niedergehalten dieses Wissen auch sein mag. Im Kranksein meldet sich der eigene Tod mit seinem rätselhaften Doppelgesicht, Quelle totaler Sinnbedrohung und der Kostbarkeit des sinnerfüllten Augenblicks zu sein. Hier erwächst dem Arzt ersichtlicherweise die schwierigste Aufgabe, der sich viele bewußt oder unbewußt zu entziehen trachten - aus durchaus verständlichen Gründen: ist doch der Rückzug auf bloßes Sachwissen abgeschnitten, weil es um Sinn wissen geht, also um Dimensionen, die seit jeher Themen von Philosophie und Religion sind. Hier ist der Arzt als Mitmensch gefragt, der mit dem Kranken dieselbe menschliche Grundsituation, die Sterblichkeit, teilt. Vermutlich ist es nicht nur der so viel beklagte Zeitmangel (Notwendigkeit der Versorgung auch der anderen Patienten), sondern das Ausweichen vor der geheimnisvollen Erschlossenheit des eigenen Daseinsursprungs und Todes, die so manchen Arzt die Sterbebegleitung lieber dem Pflegepersonal ,anvertrauen' läßt. Dazu mag noch kommen, daß irrigerweise das Ziel ärztlichen HandeIns im Kampf gegen den Tod erblickt und demzufolge das Sterben des Patienten als Niederlage aufgefaßt wird. Doch sollte darob nicht vergessen werden, daß Krankheit noch anderes zu verstehen gibt. In ihr kann einem die Kostbarkeit und das Ungeschuldete des DaseinGion Condrau, Medizinische Psychologie; München 1975, S. 81. Alois Hicklin, Die Therapie einer jungen Frau mit schweren neurotischen und psychosomatischen Störungen, in: M. Boss/G. Condrau/ A. Hicklin (Hrsg.), Leiben und Leben, S. 262-339, Bem 1977, S. 255. 16 Ders. (FN 15), S. 294. 14

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könnens, ja des Dasein-dürfens aufgehen 17. Das gilt nicht nur für den Kranken selbst, sondern für alle, die in seine Notsituation eingebunden sind. So gesehen ist der Kranke eine Hilfe für seine Helfer: Er gibt ihnen zu denken. Und was bedeutet es, daß Menschen immer wieder die Gesundung als Geschenk erfahren, das sie dankbar stimmt?18 Enthüllt sich vielleicht darin der Grundzug menschlichen Existierens überhaupt? Ist es nicht des Nachdenkens wert, daß sich uns immer wieder die Möglichkeiten neu eröffnen, dem Guten - selbst noch in der Ohnmacht der Krankheit und des Sterbens - Raum geben zu können? Dann wäre nicht zuletzt derjenige ein guter Arzt, der nicht nur etwas kann, sondern sein Helfen-können als Gabe versteht, zu der er gewürdigt ist.

17 Dann nämlich, wenn das Mitsein im Zeichen des Einander-verdankens steht. Anderenfalls wird das Dasein nur mehr als Last erfahren - als Last für einen selbst und für die anderen. Wenn einem nicht mehr zu verstehen gegeben wird, es ist gut, daß er ist und nicht vielmehr nicht ist - wie soll so jemandem das Dasein nicht zur unerträglichen Last werden? 18 "Im Genesen empfängt sich der Genesende neu aus eben dem Nichts, das ihm als Krankem auf schmerzlich hinausgezögerte Weise Daseinsmöglichkeiten entriß. Sein Sicherholen hat den Charakter einer ungeschuldeten Gabe. Im Genesen enthüllt sich das Gesundsein als Geschenk. Eben deshalb stimmt uns die Genesung dankbar". (Karl Baier, Gesundheit, Krankheit und Genesung. Thesen und Erläuterungen aus phänomenologischer Sicht, in: Daseinsanalyse 9 (1992), S. 285-306, hier S. 297).

Zur Dialektik von Gesundsein und Kranksein bei Friedrich Nietzsehe Von Fritz Hartmann, Hannover

Die Medizin hat sich mehr für Nietzsches geistige Krankheit interessiert, die 1889 zum Zusammenbruch in Turin und zum Tod in Weimar 1900 führte. Seinem Gesundheitsbegriff ist nur Heinrich Schipperges, Medizinhistoriker in Heidelberg, nachgegangen. 1 Wie uneinheitlich und verwirrend die Begriffe von Gesundheit und Krankheit in der Medizin immer gewesen sind und noch sind, ist an anderer Stelle vielfältig ausgeführt? Es könnte deswegen für den Arzt von heute nützlich sein, einmal dem Philosophen Friedrich Nietzsche zuzuhören, der, in der abendländischen Überlieferung der antiken Medizin denkend, doch sehr eigenwillige und auf unsere gegenwärtige Problemlage vorausweisende Gedanken zu einem anthropologischen Begriff von Gesundheit als Gesundsein gedacht hat. I. Gesundsein und Kranksein als Grund zum Philosophieren oder als Grund des Philosophierens Das Ergebnis meines Nachlesens und Nachdenkens zum Thema ist, daß Friedrich Nietzsche den Begriff Gesundheit in zweierlei Sinn gebraucht, einmal im alltäglichen Sinn von Wohlbefinden, Beschwerdelosigkeit und Abwesenheit von Krankheitszeichen ; dann aber in einem höheren Sinn von Befreitsein - zu neuer größerer und höherer Gesundheit. Diese ist von jener nicht quantitativ unterschieden; sie hat eine andere Bedeutung, einen neuen Wert. Beide haben ihren biographischen Grund in Nietzsches eigener Krankheits-, besser Leidensgeschichte. Die Überschreitung der Krank-heit hin zu Krank-sein und Leiden, mit dem Ziel einer neuen höheren Gesundheit, entwickelt sich in Nietzsches Reflexion über eigene Erfahrungen von einer Physiologie des Körpers zu einer Anthropologie des Leibes. 1 Vgl. Heinrich Schipperges, Kosmos Anthropos. Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, Stuttgart 1981. 2 Vgl. Georges Canguilhem., Das Normale und das Pathologische, München 1974; Karl Eduard Rothschuh, Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung, Darmstadt 1975; ders., Krankheit, in: Histor. Wörterbuch der Philos., Bd. 4, Sp. 1184 - 1190, Basel 1976; Franz Vonessen, Gesund/Gesundheit, in: ebd., Bd. 3, Sp. 559-561, Basel 1974; Fritz Hartmann, Selbstverantwortetes Gesundsein, in: Klaus Jork/Bemd Kauffmann et al. (Hrsg.), Was macht den Menschen krank?, Basel/Boston/Berlin 1991, S. 9 - 30.

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Diese beiden Übergänge möchte ich darstellen; sie hängen zusammen, bedingen einander. Der Übergang ist ein solcher von einem Sachverhalt zu einer Metapher. Wie ein Mensch mit seiner Krankheit umgeht, sie, besonders bei chronischer und unheilbarer Krankheit, erst zu seiner macht, sie zu eigenem Krank-sein umgestaltet, ihm persönlichen Wert und Sinn gibt, das benennt man in der gegenwärtigen Medizin mit dem englischen Verb coping, meist übersetzt mit "Fertigwerden mit" oder "Bewältigung von". Besser wäre "Umgang mit"; denn der Erfolg kann unvollständig sein oder ganz ausbleiben. Gemeint ist also eine Leistung: des Kranken, der Angehörigen und Nahestehenden, der Ärzte und der Solidargemeinschaften. Ziel sollte besonders bei chronischem Krank-sein - wenigstens vorübergehend - "bedingtes Gesundsein" sein. Daß dieses nicht ein Zustand sein kann, sondern ein stetiger Vorgang, ein Bemühen, eine Leistung, würde damit ausgedrückt, daß man sagt: "Gelingendes bedingtes Gesundsein"; geglücktes wäre schon wieder wirklichkeitsfremd. Und die genannten Übersetzungen von coping - Fertigwerden mit, Bewältigung, Bemeisterung - machen jeden Kranken, der das nicht schafft, zum Gescheiterten. Das ist dann keine Hilfe zur Selbsthilfe - sondern Entmutigung und Imstichlassen. 3 Wenn Nietzsches Übersteigen der kleinen Alltagsgesundheit zur höheren Gesundheit, von der kleinen Rationalität zur großen Vernunft, vom Körper zum Leib unter diesem Gesichtspunkt untersucht wird, so spielt seine bestimmte Krankheit, die das letzte Jahrzehnt seines Lebens verwirrte und sein Denken verdunkelte, keine Rolle. Die Zeugnisse der Selbstbefreiung zur "höheren Gesundheit" und zur "Vernunft des Leibes", schließlich zum amor fati finden sich in der Zeit von 1876 - 1889 und werden Werke einer "Genesung" genannt: "Trunkenheit der Genesung" nach "Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete Greisenturn an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmerzes". Ihr Anlaß und Nothelfer waren die Erfahrungen Nietzsches mit eigenen Beschwerden. Diese Erfahrungen - ein vierter Übergang - werden zum Er-leben im wörtlichen Sinne: Einfügung in das eigene Leben, ein Er-leiben, Ein-ver-leiben, als Öffnung zu einer Anthropologie der Leiblichkeit, als Entdeckung und Bejahung einer Vernunft des Leibes. Nietzsche versucht, sich durch Kranksein hindurch zu befreien, zu heilen, nicht mit der Krankheit und den Krankheiten als Instrumenten. Er wollte sein eigener Arzt sein, ein philosophischer: Wir gehen durch ebensoviele Philosophien hindurch wie durch Gesundheiten. So etwa in der Vorrede zur "Fröhlichen Wissenschaft". 4 3 Vgl. Fritz Hartmann, Krank oder bedingt gesund?, in: Medizin, Mensch, Gesellschaft 11 (1986), S. 170 -179; ders., "Wir gronen für und für und haben tausenderlei Gesundheit" - Modelle von Gesundsein und Kranksein, in: K.-D. Hüllemann (Hrsg.), Wohin steuert die Medizin?, Berlin/Heidelberg/New York 1990, S. 118-141. 4 Angesichts der Vielfalt von Ausgaben erfolgt kein gesonderter Nachweis der NietzscheZitate, zumal sie anhand der im Text enthaltenen Hinweise leicht aufzufinden sind. Im übrigen wird hierzu auf die "Kritische Studienausgabe", hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 1988, verwiesen.

Zur Dialektik von Gesund- und Kranksein bei Friedrich Nietzsche

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Mit welchen Krankheiten Nietzsche sich auseinandersetzen, mit ihnen umgehen, sie zu überwinden, zu sublimieren versuchen mußte, mag hier beiseite bleiben. Moebius und Lange-Eichbaum, Jaspers und Kol1e haben sich um die Nosographie und Nosologie der Nietzscheschen Krankheit zum Tode bemüht. 5 Da im Mittelpunkt meiner Erörterung die Zeit zwischen "Menschliches, Allzumenschliches" (1876) und "Also sprach Zarathustra" (1883/84) steht, ist die Frage nebensächlich, ob und wie sich in den Werken dieses Lebensabschnittes Zeichen des zukünftigen Wahnsinns, 1889 plötzlich hereinbrechend, auffinden lassen. Werner Ross bemerkt dazu: "Der Fall Nietzsche hat noch keine sachkundige, medizinische und tiefenpsychologische Darstellung gefunden, die auf der Höhe der heutigen Argumente und Dokumente stünde".6 Daran will ich mich nicht versuchen. Wichtig ist mir, wie Friedrich Nietzsche Beschwerden, die sein ganzes Leben belasteten, durchlitt, deutete, umgestaltete. Für dieses Leiden gibt es zwei Stichworte, zwei gemeinsame Nenner: Schmerzen und Einsamkeit. Sie gehören zusammen. So, wie Nietzsche seine "Anfälle" schildert, handelt es sich um schwere Migräne, zeitweise mit Erbrechen und begleitender oder nachfolgender melancholischer Depression. Selbst epileptische Krampfanfälle und vorübergehende schwere Sehstörungen, sollte es sie in der Jugend schon gegeben haben, wären mit Migräne vereinbar. Sensorische Überempfindlichkeit gegen Licht, Lärm, Gerüche wären sogar typisch. Gerade hier könnte der physiologisch-pathophysiologisch-therapeutische Grund für eine "neue Chemie der Empfindungen liegen" (Menschliches, Allzumenschliches), die auf "das Zeugnis der Sinne" vertraut. Ein Beispiel wäre das Heimkehrkapitel im ,;Zarathustra": ,,0 selige Stille, oh reine Gerüche um mich!" Beide Symptome, Schmerz und Einsamkeit, werden in den Aphorismen und Kurzessays der Werke zwischen 1876 und 1888 zu Sinnbildern, Metaphern, und - im Zarathustra - zu Gleichnissen; ein fünfter Übergang: der einer Vergeistigung zunächst körperlicher Beschwerden, immer überschattet von der Sorge eines frühen Todes - wie dem des mit 36 Jahren verstorbenen Vaters -, aber geprägt von Widerstand und Überwindung, Selbstheilung, Selbsterlösung. Daneben aber auch Hoffnung auf Wunder und Wiederauferstehung, Sieg der Selbstheilungskräfte, die es durch disziplinierte Lebensordnung zu unterstützen gilt, ganz im Sinne des ärztlichen Natur- und Selbstverständnisses der antiken Ärzte. 11. Aktualität der Dialektik von gesund und krank bei Nietzsehe Für die Wahl meines Themas gibt es einen Grund und einen Anlaß - nicht nur der 150. Geburtstag. Wenn ein Arzt den Gedanken nachspürt, die ein Philosoph wie 5 Vgl. Paul Julius Moebius, Über das Pathologische bei Nietzsche, Stuttgart 1902; Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, München 1936 (2. Auf!. 1949); Wilhelm Lange-Eichbaum, Nietzsche. Krankheit und Wirkung, Harnburg 1947; Kurt Kalle, Nietzsche. Krankheit und Werk, in: Aktuelle Fragen der Psychiatrie und Neurologie 11, Bibliotheca Psychiatrica et Neurologica (BasellNew York), 127 (1965). 6 Werner Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1989, S. 76.

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Friedrich Nietzsehe am "Leitfaden des Leibes" im Vertrauen auf eine "Vernunft des Leibes" mit dem Ziel einer "großen" und "höheren" Gesundheit gedacht hat, so leiten ihn Interessen, ungelöste Probleme, unbeantwortete Fragen seines eigenen Alltags. Eben diesen Fragen ist auch Nietzsehe begegnet; und das erzeugte in ihm wachsendes und nachvollziehbares Mißtrauen gegen Ärzte. Er wollte selbst mehr vom Leben wissen, mehr Physiologie kennen, um sich selbst helfen zu können. Rückblickend schreibt er in "Ecce homo": "Warum zum mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschließendes" - an statt klassische Philologie? Der Philosoph als möglicher Wegweiser und Nothelfer für die Bedrängnisse, Vergeblichkeiten und Suchbewegungen des gegenwärtigen Arztes also? Dieses Interesse gilt vorzüglich der Anthropologie Nietzsehe als Hilfe der Überwindung des gerade in der Medizin so hinderlichen cartesianischen Dualismus von Körper und Seele. Im Werk Nietzsches steckt der Kern einer Menschenkunde, einer Lebensund Leiblehre, einer pragmatischen Anthropologie - ganz im Sinne Kants. Diese ist wesentlich vom Leiden bestimmt. Ich sagte, daß die Wahl des Themas auch einen Anlaß hat, einen zeitgeschichtlich-gegenwärtigen. Es handelt sich um die Aktualität zweier Begriffe und Programme, die die Bewegungen um ärztliche Selbstverständnisse und den Diskurs von Medizin und Öffentlichkeit beschreiben: 1. Lebensqualität trotz chronischer oder tödlicher Krankheit; 2. Salutogenese - korrekter wäre Hygieinogenese - als Wissenschaft von der Gesunderhaltung und des Wieder-gesund-Werdens. Nach den enttäuschenden Erfahrungen mit Modebegriffen, wie "Vorsorge- und Ganzheitsmedizin" ist eine die Entwicklung begleitende Skepsis und wo notwendig Kritik angezeigt. Natürlich hat sich die Medizin immer die Fragen gestellt: Wie erhält sich der Körper gesund; und wie kann der Mensch sich gesund erhalten; was leisten beide zur Genesung? Warum aber solche Fragen im Zusammenhang mit Nietzsches Gedanken zu einer Hygieinogenese? Wer diese Gedanken bis zum Fluchtpunkt eines amor fati, einer bewußten aber nicht passiven Annahme chronischen Krankseins nachdenkt, könnte zu einem Optimismus der unbegrenzten Machbarkeit von persönlichem Gesundsein unter der Bedingung von nur hinreichender diätetischer und geistig-asketischer Anstrengung verführt sein. Deswegen gehört es auch zur ärztlichen Haltung als skeptisch-kritischer Zurückhaltung, nach der Utopieförrnigkeit des Nietzscheschen Entwurfs einer "größeren Gesundheit" zu fragen. Gesund-heit und Gesund-sein werden von Nietzsehe eher zufällig synonym, nicht immer unterscheidend gebraucht. Gesund-heit kann man haben als Besitz oder Eigenschaft "gesund"; man kann sie verlieren, nach modischem Verständnis sogar enteignet bekommen und dann einklagen; man kann sie auch selbst aufs Spiel setzen. Was Nietzsehe Gesundheit nennt, ist Gesund-sein als Sein im Sinne von stetigem Werden und Schaffen. Gesundheit / -sein sind dynamische Begriffe. Als solche lassen sie auch eine gesunde Weise krank zu sein zu; "gelingendes bedingtes Gesundsein", trotz chronischer Krank-heit. Aus dieser Haltung kann Nietz-

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sche 1883 bekennen: " ... daß ich mit einem äußerst schmerzhaften Leben doch auf ein Ziel zusteuere, um dessentwillen es sich schon lohnt, hart und schwer zu leben". Eine aufschlußreiche Definition von Gesundheit bietet ein Aphorismus: "Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Tatigkeiten nachzugehen". In dieser Haltung hatte Nietzsehe einen Vorläufer in Johann Peter Hebel, der 1825 an seinen Freund Gustave Fecht geschrieben hatte: "Da ich gewöhnt bin, die halbe Gesundheit, d. h. die erträgliche, für die ganze gelten zu lassen, so habe ich gottlob nichts zu klagen". Carl Gustav Carus hat über seinen Freund Goethe geschrieben, dieser sei "gesunder Krankheiten" fahig gewesen. Diese Haltung hat für den Arzt auch eine moralisch-erzieherische Bedeutung. Der Arzt und Theologe Dietrich Rössler hat das 1989 so angemahnt: "Die ärztliche Ethik verpflichtet heute nachdrücklicher als zuvor zur öffentlichen Aufklärung darüber, daß Gesundheit nicht die Abwesenheit von Störungen ist, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben".7 Solche Zitate bewegen sich ganz im Umfeld von Nietzsches körpernahem Gesundheitsbegriff. Dazu zwei Belege aus "Menschliches, Allzumenschliches" (I, 289): " Werth der Krankheit - Der Mensch, der krank im Bette liegt, kommt mitunter dahinter, daß er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Muße, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt". Und: "Der Wert aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal, aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen". Die Zeugnisse der Briefe und der zahlreichen Kuraufenthalte belegen Nietzsches Suche nach einer solchen Muße, Ruhe, Geduld, Stille, Gelassenheit, Maß. Nicht mit Glück, sondern mit dem Gelingen ist die spätere höhere Gesundheit verbunden. Das noch dem Körper und dem Gesunden, wie dem Kranken nahe Verständnis von GesundheitiGesundsein möchte ich am Aphorismus 120 des dritten Buches von "Fröhliche Wissenschaft" erörtern und erläutern. Überschrieben ist er "Gesundheit der Seele"; aber er beschreibt einen allgemeineren Begriff von Gesundheit: " ... Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich mißraten. Es kommt auf deine Ziele, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit gibt es unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und dem Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der ,Gleichheit der Menschen' verlernt, um so mehr muß auch der Begriff einer Normal-Gesundheit, selbst Normal-Diät, Normal-Verlauf der Erkrankung unseren Medizinern abhanden kommen". Ich un7 Dietrich Rössler, Vorn Sinn der Krankheit, in: J. Rohls/G. Wenz (Hrsg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre (FS für Wolfhart Pannenberg), Göuingen 1989, S. 196-209.

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terbreche hier den Aphorismus zunächst, um ihn fortzuführen, wenn und wo der Weg zu einer höheren und größeren Gesundheit beginnt. Nietzsche beginnt mit vier Aussagen: 1. Eine Absage an die Norm als taugliche Definition für Gesundheit. Wie immer man Norm definiert, sie ist ein statistischer Durchschnitt mit breiter Streuung der Einzelfälle. Sie ist abstrakt. Sie ist zugleich - und darin steckt für die Medizin die große Versuchung und Verführung - eine Reduktion von Komplexität, von Vielfalt und Mannigfaltigkeit, die im Einzelfall wieder auf das Besondere, Einmalige hin entfaltet und bewertet, ausgelegt werden muß. Viktor von Weizsäcker, der Nietzsche gelesen haben muß, weil er sich oft - mitunter auch abwertend - über ihn äußert und ihn in einem Kapitel "Amor fati" nicht einmal nennt, hat diesen Gedanken so wiedergegeben: "Machen wir uns demnach die Einsicht zu eigen: gesund sein heiße nicht, normal sein; sondern es heiße: sich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können". Das ist ganz im Sinne von Nietzsches Gesundheitsbegriff. 8 In "Geburt der Klinik" hat Michel Foucault in medizingeschichtlicher Perspektive ähnlich argumentiert: "Ganz grob gesprochen, kann man sagen, daß sich die Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vielmehr auf die Gesundheit als auf die Normalität bezog. [ ... ] Hingegen orientiert sich die Medizin des 19. Jahrhunderts mehr an der Normalität als an der Gesundheit".9 Das ist ebenfalls Nietzsches Programm - kaum knapper formulierbar: dem Nicht-Meßbaren wird wieder mehr Geltung zu verschaffen gefordert. Für die Haltung und Selbstbeschränkung des Arztes folgert von Weizsäcker daraus: "Führung bedeutet beim Arzt, daß er dem Kranken einen neuen Spielraum für seine Freiheit gibt - nicht mehr"; und "Wir haben nicht Menschen zu bilden, sondern zu ermöglichen"; und "daß der Wert des Lebens eine Qualität und keine Quantität, daß die Normalität nicht ein Zeichen von Lebendigkeit, sondern von Erstarrung sei".l0 Weil Hans-Georg Gadamer von Nietzsches und von Weizsäckers Begriff eines Gesundseins als einem anfälligen, dynamischen Gleichgewicht ausgeht, will ich hier zwei Hinweise aus "Über die Verborgenheit der Gesundheit" anfügen: "Wenn man Gesundheit in Wahrheit nicht messen kann, so eben deswegen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstimmung mit sich selbst ist, die man nicht durch eine andere Kontrolle überbieten kann". Gesundheit also Wohlgefühl angemessener Harmonie und 8 Viktor von Weizsäcker, Ärztliche Fragen. Vorlesungen über Allgemeine Therapie (1933), in: P. Achilles/D. Janz/M. Schrenk/C. F. von Weizsäcker (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 259-342, hier S. 294. Bei dem Kapitel "Amor fati" handelt es sich um eine Passage seines Werkes "Anonyma", ein im Winter 1944 geschriebener, äußerst dichter Text, der als ein Versuch aufzufassen ist, den philosophischen Anspruch seines Denkens zu formulieren (in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M. 1987, S. 41-89, hier S. 67f.). 9 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/Mo 1976, S. 52f. 10 Viktor von Weizsäcker (FN 8), Ärztliche Fragen, S. 309, 302; ders., Kranker und Arzt (1929), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 227.

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Gleichgewichte. Und: "Gesundheit ist ... Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-denMenschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein"." Das ist nicht das gleiche wie die Definition der WHO, die von einem Zustand eines vollkommenen Wohlbefindens spricht, bio-psycho-sozial. Vielmehr entspricht den genannten Beschreibungen Nietzsches, von Weizsäckers und Gadamers der Vorschlag des französischen Chirurgen Rene Leriche: "Gesundheit ist Leben im Schweigen der Organe". Gesundheit, Subjekt, Identität sind nicht zu quantifizierende Qualitäten. 2. Gesundheit hat nur Gültigkeit für einen bestimmten Menschen. Sie ist nicht alleine durch die Rationalität seiner Daseinsentwürfe bestimmt, sondern mehr durch Bedürfnisse, Triebe, Ziele, Leidenschaften, Instinkte - wie Nietzsche oft sagt. In seiner Zivilisations- und Nihilismuskritik nimmt Nietzsche den moderneren anthropologischen Terminus vom Menschen als Instinkt-Reduktionswesen voraus. Ebenso setzt er das Unterbewußte, das "Es" vor Georg Groddek und Sigmund Freud in sein Recht und in seinen Wert ein. Zwar ist der Mensch das "Nicht festgestellte Tier", aber damit noch nicht das Instinktreduktionswesen der späteren Anthropologie. Karl Jaspers, auch ein Nietzsche-Biograph und -Deuter und auch ein lebenslang Kranker, Leidender und duldender homo patiens, schreibt autobiographisch: "Immer ist der Mensch in seiner Lage als ein Einzelner vor die Aufgabe gestellt, mit seiner Krankheit in seiner Welt eine Lebensform zu finden, die nicht allgemein entworfen und nicht identisch wiederholt werden kann". So auch die Gesundheit. Der von Aaron Antonovsky eingeführte Begriff "Salutogenese" beschreibt ein breites Spektrum zwischen dem eindeutig Gesunden und dem unbezweifelbar Kranken. 12 Damit nimmt er eine antike-mittelalterliche ärztliche Denkfigur des status neuter, der neutralis, dem oudeteron, einem status medius, zwischen dem sanissimum und dem aegerrimum auf, in dem jeder Mensch seinen Platz hat. In Nietzsches Aphorismus erscheint diese Figur in ihrer extremen Dialektik; wenn er von Gesundheit sagt: "Welche freilich bei dem einen so aussehen könnte, wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem anderen". Dazu auch wieder V. v. Weizsäcker: "Ganz gesund oder ganz krank ist also niemand, wenn wir diese Schwebe-Existenz einmal erkannt haben". 13 3. Mit den unzähligen Gesundheiten sind nicht nur die interindividuellen Unterschiede gemeint. Darauf wies schon die Bemerkung hin "Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders, als 11 Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt/M. 1993, S. 138, 144. 12 Vgl. Aaron Antonovsky, Health, stress and coping: new perspectives on mental and physical well-being, San Francisco 1979; ders., Unraveling the mystery of health. How People manage stress and stay weil, San Francisco 1987; F. LamprechtiR. lohnen (Hrsg.), Salutogenese. Ein neues Konzept in der Psychosomatik?, Frankfurt/M. 1994. 13 Viktor von Weizsäcker, Kranker und Arzt (1929), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M. 1988, S. 233.

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seinen Zustand jedesmal in die geistigste Fonn und Feme umzusetzen - diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie". Gesundsein ist Durchgang von einer Gesundheit zur anderen, neuen. Das wiederholt einen schönen Aphorismus von Paracelsus: "Wir grünen für und für und haben viel tausenderlei Gesundheit". Karl Jaspers hat die Figur noch weiter ausgeführt: die gleiche Krankheit bleibt nicht dieselbe, wenn sie einen Menschen mehrfach befällt; sie trifft auf einen Menschen mit Vorerfahrung und Vorerleben, z. B. immunologisch wie psychisch. 4. Da dieser Aphorismus 120 in "Fröhliche Wissenschaft" Nietzsches auch den Begriff einer Nonnal-Diät einbezieht, möchte ich auf die Bedeutung einer gesunderhaltenden und der Gesundwerdung dienenden Lebensordnung bei Nietzsehe eingehen. Als Alt-Philologe war er mit der antiken Diätetik gut vertraut, der Lehre von den 6 res non naturales: Licht und Luft - Essen und Trinken - Arbeit und Ruhe - Schlafen und Wachen - Absonderungen und Ausscheidungen - Gleichgewicht der Leidenschaften. Welchen praktischen Wert Nietzsehe diesen regimina sanitatis, diesen "Gärten der Gesundheit" beimaß, das hat Heinrich Schipperges nicht nur mit einschlägigen Zitaten, sondern sehr gründlich auch mit dem praktischen Verhalten Nietzsches belegt, seinen Kuren, seinen Hoffnungen auf und seinem Drang nach frischer Luft, Stille, seiner nicht nur geistigen, sondern auch körperlichen Askese. 14 Die Zeugnisse für die Lebensordnung, die Nietzsehe sich auferlegte, finden sich vorwiegend in Briefen. Sie lassen das Bild eines Hypochonders erkennen, dessen Selbstbeherrschung deutlich zwanghafte Züge hat: Selbstbeobachtung und Selbstmitleid auf der einen, Selbstennächtigung zur Selbstheilung auf der anderen Seite. Eine gewaltige Willensanstrengung der "Bemächtigung" des "Krankseins". Den locus amoenus Theokrits, den er aus seinen philologischen Studien kannte, und Vergils hat er in Sils Maria, Genua, Turin, Nizza, Sorent gesucht, gefunden und gepriesen: "Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einer vollkommenen Umkehr aller meiner Gewohnheiten ... sie beschenkte mich mit der Nötigung zum Stilliegen, zum Müßiggang, zum Warten und Geduldigsein ... Aber das heißt ja denken" (Brief an Jean Bourdeau 1888); oder: " ... und solange die Philosophen nicht den Mut gewinnen, eine ganz veränderte Lebensordnung zu suchen und durch Beispiele aufzuzeigen, ist es nichts mit ihnen" (Vorrede zu "Fröhliche Wissenschaft"). Der Mensch lebt nicht nur in der Natur, die Natur lebt in ihm, dem "Kosmos anthropos". Untersuchen wir am "Leitfaden des Leibes" und seiner Bedürfnisse - und mit dem Wegführer Schipperges die Zeugnisse nach der Ordnung der 6 res non naturales : 1. Licht und Luft. Dazu Nietzsehe: " ... eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft in Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt"; ähnlich in einem Brief an Peter Gast 1888: "An schönen Tagen weht 14

Vgl. Heinrich Schipperges (FN 1).

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hier eine reizende, leichte, leichtfertige Luft, in der die schwerfälligsten Gedanken Flügel bekommen".

2. Essen und Trinken: Nietzsche verordnet sich eine strenge Diät: "Wasser tut's"; " ... wo man überall Gelegenheit hat, aus fließenden Brunnen zu schöpfen"; "Die Menschen durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heißhunger und Kolik zugleich." 3. Bewegung und Ruhe: regelmäßige Spaziergänge, es ist ein "Kunststück der Lebensweisheit", "den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einzuschieben". "Das Sitzfleisch ... die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist". "Einige Stunden bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe". Man erinnere sich daran, daß Nietzsehe auf dem steilen Weg zwischen Nizza und Eze den dritten Teil seines "Zarathustra" entwarf. 4. Schlafen und Wachen: "Viel schlafen, eigentlich und uneigentlich. So wird man auch seinen Morgen wiederhaben". 5. Ausscheidungen und Absonderungen: Regulatoren des Stoffwechsels. Eine "noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmäßiges zu machen". 6. Affectus animi: Mit ihnen und ihrer Beherrschung hatte Nietzsehe die meisten Schwierigkeiten: "Was kann die vernünftigste Lebensweise ausrichten, wenn alle Augenblicke einmal die Vehemenz des Gefühls dazwischen schlägt wie ein Blitz und die Ordnung aller leiblichen Funktionen umstößt". Affekte sind die "Wildwasser der Seele", gegen die es Dämme zu bauen gilt. In einem Brief an die Mutter vom 20. März 1888 hat Nietzsehe sein Programm gesunder Lebensführung zusammengefaßt: "Kein Wein, kein Bier, keine Spirituosen, kein Kaffee: größte Gleichmäßigkeit in der Lebens- und Ernährungsweise". Bewegung: "im scharfen Schritte - Tag für Tag den gleichen Weg"; "Ich will nicht vergessen, daß auch meine Verdauung hier (in Nizza) besser ist als sonstwo". Wer mit Recht hier das Zwanghaft-Gleichmäßige als Zeichen neurotischer Verfassung erkennt, darf nicht vergessen, daß Neurosen auch Formen und Hilfen des Überlebens in bedrängter Lage sind. So heißt es in diesem Brief auch: "vor allem aber, mein Geist fühlt sich hier aufgeweckter und trägt im allgemeinen seine Bürde leichter". Wer "gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes", "gegen die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleidens, Verkehrens", verstößt, sie "nicht zum Objekt des stetigen, unbefangenen und allgemeinen Nachdenkens und Umbildens" macht, "der gerät in eine beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit", ,jene im Grunde überflüssige Abhängigkeit von Ärzten, Lehrern und Seelsorgern".

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III. "Die höhere Vernunft des Leibes" als Leitfaden zu Gesundbleiben und Gesundwerden

Es ist nicht das geringste Verdienst Nietzsches, einen Weg gedacht und gezeigt zu haben, die cartesianische Trennung von Körper und Geist aufzuheben. Für diesen Versuch steht der Begriff Leib. Leib und Gesundsein stehen im Verhältnis gegenseitiger Bedingung und Steigerung zueinander: "höherer Leib" - "größere Gesundheit". Stephan Grätzel hat in "Die philosophische Entdeckung des Leibes" der Leib-Philosophie Nietzsches das größte Kapitel gewidmet. 15 Auch hier versuche ich, eigene Einsichten aus einer Art ärztlicher Froschperspektive, aus der das Philosophische übergroß erscheint, zu gewinnen. Aber den Blick auf diesen Begriff von Leib haben mir Max Scheler, Helmut Plessner, Maurice Merleau-Ponty und Viktor von Weizsäcker geöffnet. Das Ergebnis dieses Nachdenkens möchte ich in folgender Unterscheidung ausdrücken: Der Körper hat Ausdehnung, der Leib hat Sprache. Der Körper hat vermeßbare Oberflächen, der Leib hat Tiefe, die sich verstehbar ausdrückt. Den Körper beschreiben wir anatomisch-analytisch rational. Der Leib erschließt sich unserem Verständnis über seine von uns gefühlten oft uns überraschenden und häufig auch bedrängenden und überwältigenden Regungen und Strebungen: "Alles Bewußte ist nur das Zweit-Wichtigste ... also umlernen! In der Hauptschätzung ! Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten". Eine Absage an eine Philosophie, Psychologie und Anthropologie, die Menschen mit dem Beginnen und Enden von Bewußtsein gleichsetzen. Nietzsche: "Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Leib und Seele zu trennen, wie das Volk es trennt; es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen". Leib wird verstanden als lebender Körper im jeweiligen Zustand, in der Entwicklung und in der Entfaltung seiner allgemein-biologischen, allgemein-anthropologischen und seiner besonderen persönlichen Anlagen und Leistungen. Durch seinen Leib hindurch drückt sich der Mensch gegenüber der Mitwelt aus und wirkt in die Umwelt hinein; durch ihn hindurch erfährt und erlebt er sich sowie Mit- und Umwelt. Der Mensch ist Leib und er hat Leib, weil er sich ein zweites Mal gegeben ist (Plessner). Und Martin Heidegger wiederholt dieses Leibverständnis: Wir "haben" nicht einen Leib, wir "sind" leiblich. "Zum Wesen dieses Seins gehört das Gefühl, als das Sichfühlen. Das Gefühl leistet im Vorhinein den einbehaltenen Einbezug des Leibes in unser Dasein". In diesem Feld von Beziehungen und Spannungen bildet, formt und bestätigt sich Identität, Selbstheit, Eigen-Sinn. Im Nachlaß der 80er Jahre (1885, 36 [35 f.]) finde ich dazu ein Stück "Am Leitfaden des Leibes: Gesetzt, daß die ,Seele' ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben - vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernt, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche

15

Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989.

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Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte ,Seele'. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichen Besitz, unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die ,Seele' oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen". Und: "der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist". "Den Leib als das höhere zu begreifen" ist auch die "Zukunft der Moral": "Moral als Gleichnissprache über eine unbekannte Region der leiblichen Zustände". Nietzsche wirbt um Vertrauen zu dem Leib, dessen höhere, größere Vernunft, für die Rationalität, die kleine Vernunft, nur Hilfswerkzeug, Diener ist: "Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du Geist nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft"; denn "Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er - dein Leib ist er" (Zarathustra I, KSA 4, 39 f.). Die Physiologie des Leibes ist dessen Philosophie. Philosophisch ist das Hören auf die Sprache des Leibes, das sind Mimik, Gestik, Haltung, Stimmbildung, Sprechen also und nicht nur - eher am allerwenigsten - Worte. Philosophie als ständige commemoratio mortis ist dann eine Philosophie der Sterblichkeit des Leibes. Unter diesem Gesichtspunkt der Ausdruckssprache des Leibes wird der Tanz bei Nietzsche dafür ein gemeinsamer Nenner. Das Tanzlied "Ein Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere" im ,,zarathustra" bezeugt es: "Von Grund auf liebe ich nur das Leben - und wahrlich am meisten dann, wenn ich es hasse". Seine "wilde Weisheit" aber belehrte ihn: "Du willst, du begehrst, du liebst, darum allein lobst du das Leben". Und in "Das andere Tanzlied" heißt es: " ... daß alles schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde: und wahrlich das ist mein A und 0". Wieder scheint mir Viktor v. Weizsäcker mit seiner Überhöhung des ontischen "ich bin" und "er, sie, es ist" durch das Pathische: sollen, wollen, müssen, dürfen, können, von Nietzsche inspiriert. Der Pädagoge Nietzsche deutet seinen Begriff der Leiblichkeit sehr anschaulich, wenn er schreibt: "Aber auch heute hört man doch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln". So etwa muß es auch Sigmund Freud gemeint haben, wenn er gesagt hat: Denken sei Probehandeln, d. h. auch Bereitstellungsreaktion möglicher Handlungsfolgen des Gedachten: Muskelspannung, Puls und Blutdruck, Atemtiefe und -rhythmus etc. Nietzsches Leib ist "schaffender Leib", der "sich den Geist als eine Hand seines Willens" schuf. Leben und Leib, Er-leben als Er-leiben, Leidenschaften und Leiden, kosmos anthropos und homo patiens, das sind dialektische Figuren der Nietzscheschen Anthropologie als Leib- und Lebensphilosophie.

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Der Begriff der Physiologie verbindet bei Nietzsche Leib und Gesundsein: "Lust und Schmerz sind ganz seltene und spärliche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine andere Zelle, ein anderes Organ ausübt" (Fragm. 1883/84, 24 [16]). Nietzsche will auf die Autonomie, Selbstbildung und schließlich Selbstvervollkommnung des Leibes hinweisen. Kausales und moralisches Denken sind für ihn nur sekundärer Ausdruck physiologischer meist verborgener Vorgänge: "Der größte Teil unseres Wesens ist uns unbekannt". Der Leib ist nicht, er wird. Der kranke Leib ist der, der sich von der kleinen Vernunft des Bewußtseins und der Ratio entmündigen und leiten läßt. Der "höhere Leib" hat die Qualität einer Tugend: "der geschmeidige, überredende Leib, der Tanzer, dessen Gleichnis und Auszug die selbstlustige Seele ist. Solcher Leiber und Seelen SelbstLust heißt sich selber: ,Tugend"'. Man wird sich erinnern, daß den Griechen Gesundsein als Arete galt. Leib ist also ein Qualitätsbegriff, wie Gesundheit einer ist - nicht quantifizierbar. Wie aber soll ein Ausweg aus der Dialektik von Geist und Leib gefunden werden als Vorbeugung des Krankwerdens Einzelner, wie auch unserer Kultur. Die kleine Vernunft soll Dienerin der großen sein. Andererseits soll die Diätetik eine bewußte, rationale gesundheits-dienliche Lebensführung leisten und gewährleisten. Es geht also um ein angemessenes Kräfteverhältnis von großer und kleiner Vernunft. Auf dieses Problem weist das folgende Fragment (1883/84, 24 [16]) hin: "Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib; er ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf höhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntnis der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. Oder vielmehr: es werden hunderttausende von Experimenten gemacht, die Ernährung, Wohnart, Lebensweise des Leibes zu verändern: das Bewußtsein und die Werthschätzung in ihm, alle Arten von Lust und Unlust sind Anzeichen dieser Veränderungen und Experimente. Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: Er soll überwunden werden ". Dieser Schluß weist bereits auf Nietzsches Lösungs-Konstrukte hin: "Übermensch" als höherer Mensch über den Weg des Leitfadens des Leibes und "Wille zur Macht" als Kraft der Steigerung von Lebendigkeit zur größeren Gesundheit: "Zur Höherbildung des ganzen Leibes und nicht nur des Gehirns". Befriedigend ist diese Lösung nicht. Gesundheitspädagogisch bleibt die Frage offen, ob eine gesunderhaltende und wieder gesundmachende Diätetik, Lebensordnung, Lebensführung "aus dem Bauch" oder "aus dem Kopf' geschehen soll. Wahrscheinlich bleibt es bei der Einzelfall-Lösung: hörend auf die große Vernunft des Leibes, dienend handeln mit den rationalen Mitteln der kleinen Vernunft. Noch eine andere Frage bleibt offen: Kann der Mensch diese Entwicklung des schaffenden Leibes beschleunigen? Ich meine, es wäre ein Mißverständnis, wollte man den schaffenden Leib mit dem sich selbst schaffenden Menschen gleichsetzen, mit einem anthropos autopoieticos. Wenn die kleine Vernunft des Verstandes und das Bewußtsein nur Diener der großen Vernunft des Leibes sein kann, dann ist der Wille zur Macht ein Vertrauen zu diesem Leib, der seinen Entwicklungs- und Vervollkommnungsgesetzen folgt; der Übermensch ist eine feme Verheißung.

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IV. Auf dem Wege zu einer höheren, größeren Gesundheit

Zu der Metaphorik und den Parabeln der "großen Gesundheit" des "Höheren Menschen" hätte der Arzt keinen Zugang und keine sachkundige Aussage, wären nicht Nietzsches Krankheiten und Leiden auch für sie der Wurzelgrund. Das ärztliche Interesse gilt dem Wie eines die körperlich-seelisch-soziale Not überwindenden Umgangs mit dauerndem Kranksein: Meisterschaft, Sinngebung, Gelingen. Da Nietzsche selbst diese Anstrengung und ihren möglichen Erfolg einem "Willen zur Macht" zuschreibt, wäre in seinem Falle coping sogar mit Bemächtigung, SelbstErmächtigung zum Übersteigen von Kranksein und Schicksal angemessen übersetzt, also: amor fati. Der Schritt auf den Weg von der Körper- und personennahen Gesundheit zur "großen Gesundheit" läßt sich mit dem zweiten Teil von Aphorismus 120 aus "Fröhliche Wissenschaft" nachgehen: "Zuletzt bliebe noch die große Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren könnten, selbst zur Entwicklung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntnis und Selbsterkenntnis der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden: kurz ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurteil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei". Vielleicht hat Andre Gide gerade diesen Gedanken aufgenommen, als er in sein Tagebuch schrieb: "Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bißchen beschränkt gewesen wäre, wie solche, die nicht gereist sind." Dieses Thema wird dann im Aphorismus 382 wieder aufgenommen und weitergeführt: "Die große Gesundheit: Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft - wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren, gewitzteren, zäheren, verwegneren, lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren ... die große Gesundheit - eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muß, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muß! ... Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger vielleicht als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu Schaden gekommen, aber wie gesagt gesünder, als man es uns erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund - will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben". Diese Gesundheit ist offenbar eine umfassendere als die körper- und personnahe. Sie ist auf ein Ziel der Mensch-heit gerichtet. Ein "philosophischer Arzt der Kultur" sollte "dem Problem der Gesamt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit" nachgehen; ihm sollte es nicht um Wahrheit gehen, sondern auch "um Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht, Leben" (Vorrede zu "Fröhliche Wissenschaft"). Erst recht ist die große Gesundheit eine Überwindung jener vulgären Gesundheit, von der Nietzsche in "Zarathustras Vorrede" sagt: "Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit". Hervorheben möchte ich noch einmal den Gedanken der Gesund-heit als Gesund-sein, eigentlich als ständiges Gesundwerden, Leben und "Lebendigkeit" als

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dialektischer Prozeß zwischen den biologischen Aggregatzuständen gesund und krank; aber nicht als erlittenes Geschehen, sondern als gestaltete Entwicklung zum "höheren Menschen". Die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" - nicht Desselben ist nicht im Bild des Kreises, sondern in dem der Spirale zu veranschaulichen. Was Nietzsche mit Zähmung und Züchtung meint, ist eine Läuterung, auf der Ebene der "Transfiguration", der Sublimierung nicht durch Krankheit, sondern durch das Stirb und Werde der ständigen Gegenbewegung von Gesundsein und Kranksein im Sinne von immer gleichzeitig Krankwerden und Gesundwerden. "Lebendigkeit" des Menschen als umfassende Eigenschaft seiner Leiblichkeit hat das Ziel des Über-Lebens im doppelten Sinne des einfachen Weiterlebens und des Über-SichHinaus-Lebens. 1800 hat der französische Physiologe und Kliniker Franz Xavier Bichat in einem Klassiker "Über Leben und Tod" Leben definiert als: "L'ensemble des fonctions qui resistent a la mort". - Nietzsche hat Bichat gelesen. So kann Nietzsche in der "Genealogie der Moral" schreiben: "Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, - die Krankmacher scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und Heilande" (I1I, Aph. 9). Daraus erschließt sich auch ein Zugang zum "Übermenschen", wenn man Aphorismus 1013 des Nachlasses (Wille zur Macht) zu Rate zieht: "Gesundheit und Krankheit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes - aber, natürlich, auch wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann - gesundmachen kann. Das, woran die zarteren Menschen zu Grunde gehen würden, gehört zu den Stimulans-Mitteln der großen Gesundheit". Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist der "Übermensch" derjenige zukünftige Mensch, der seine Triebe, Bedürfnisse, Instinkte nicht unterdrückt und verdrängt, sondern ihre vielfachen gegenund wechselseitigen Strebungen nicht nur aushält, sondern auch austrägt, auslebt, ausgestaltet. Er könnte es als das nicht festgestellte, kranke, krankhafteste, grausamste aber auch interessanteste Tier. (Genealogie der Moral, III, Aph. 13 u. 28; Antichrist, Aph. 14; Jenseits von Gut und Böse, Aph. 291; Zarathustra III, "der Genesende" Aph. 11). Mir scheint, daß diesem Menschen zu diesem Ziel kein Arzt helfen kann. In Gedanken folgt dieser dem glücksuchenden Nietzsche auf dem Wege in seine Einsamkeit, in der er die große Gesundheit suchte - als sein eigener Arzt - als Zarathustra, als Dionysos, als der gekreuzigte Christus: "Arzt hilf Dir selber; dann hilfst Du auch noch Deinen Kranken". Der irdische Arzt bleibt, diesem Nietzsche nachdenklich und etwas traurig nachschauend, nachsichtig zurück.

Was heißt Gesundsein? Salutogenese und Selbstorganisation

Von Friedhelm Lamprecht und Martin Sack, Hannover Machen wir uns demnach die Einsicht zu eigen: gesund sein heiße nicht, normal sein; sondern es heiße: sich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können. Viktor von Weizsäcker

Es ist verwunderlich, daß in der Medizin und in der Psychologie so wenig von Gesundheit die Rede ist. Das Stichwort ,Gesundheit' sucht man in medizinischen Lehrbüchern in aller Regel vergebens. In keinem der gängigen psychologischen Wörterbücher findet sich eine Definition von Gesundheit. 1 Dabei gilt Gesundheit doch bisweilen als ,unser höchstes Gut' und unzweifelhaft lassen sich mit dem Versprechen von Gesundheit gute Geschäfte machen. Unsere Medizin ist an Krankheit orientiert, nicht an Gesundheit. Unsere Ärzte sind ausgebildet, die von Patienten vorgebrachten Beschwerden als Zeichen von Krankheiten zu deuten und in ein Defizienzmodell einzuordnen. Gesundheit ist zum Fremdwort geworden, die Medizin hat sie aus dem Blickfeld verloren. Sicher hat das pathogenetische Paradigma, unter dem die Heilkunde mindestens seit Virchows Zellularpathologie steht, zu beeindruckenden Erfolgen in der Bekämpfung von Krankheiten verholfen, und so erfolgreich und hilfreich es ist, so notwendig ist es auch für die Heilkunde, in diesen Kategorien zu objektivieren, zu diagnostizieren und zu handeln. Aber das pathogenetische Paradigma verstellt die Sicht auf Gesundheit. Gesundheit und Gesundsein positiv zu definieren, fällt schwer. Beide lassen sich nicht als bloße Abwesenheit von Krankheit beschreiben. Gesundheit entzieht sich gleichsam der Objektivierung. Wenn wir frei von Beschwerden sind, haben wir zumeist keine besondere Wahrnehmung von unserer Gesundheit. Wenn wir gesund sind, gehen wir so in der Welt auf, daß wir uns, genauer unsere Organe, nicht selbst wahrnehmen. Gesundheit wurde daher schon als ,Schweigen der Organe' bezeichnet. 2 Der Philosoph Hans-Georg Gadamer spricht von der "Verbor1 Vgl. Alexa Franke, Gesundheit in Psychologie und Psychotherapie, in: A1exa Franke/ Michael Broda (Hrsg.), Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vorn Pathogenese-Konzept, Tübingen 1993, S. 169. 2 Dieser Ausspruch wird dem Chirurgen Rene Leriche zugeschrieben.

\0 Selbstorganisation, Bd. 7

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Friedhelm Lamprecht und Martin Sack

genheit der Gesundheit".3 Gesundheit steht immer in einem Horizont von Störung. Gesundheit ist auch nicht ,vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden', sowenig, wie sich das menschliche Leben in ständiger Homöostase befindet. Heterostase, Ungleichgewicht und Leid sind inhärente Bestandteile der menschlichen Existenz. Das eigentliche Rätsel ist, warum einige Menschen weniger leiden als andere und warum sie sich auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum4 in Richtung Gesundheit bewegen. Genau diese Fragestellung ist der Ausgangspunkt der Untersuchungen des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, dessen Konzept der Salutogenese wir etwas genauer vorstellen möchten. Antonovsky wurde bei einer von ihm in Israel durchgeführten Untersuchung über den Gesundheitszustand von Frauen5 eher zufällig darauf aufmerksam, daß etliche Frauen - fast ein Drittel der Untersuchungssgruppe - die in ihrer Kindheit oder Jugend einen Konzentrationslageraufenthalt überlebt hatten, von sich berichteten, bei relativ guter Gesundheit zu sein. Er wunderte sich über diesen Befund. Wie war es diesen Frauen gelungen, trotz extremer Traumatisierung und trotz der widrigen äußeren Umstände durch den erlittenen Verlust von Familienmitgliedern und durch die Emigration nach Israel dennoch gesund zu bleiben? Ausgehend von diesen Gedanken, begann sich Antonovsky verstärkt mit den Bedingungen der Gesundheit zu beschäftigen. So fragte er sich "Wer sind die Personen mit ,Typ A-Verhalten', die keine koronare Herzerkrankung bekommen? Wer sind die Raucher, die keinen Lungenkrebs bekommen?,,6 Diesen Wechsel der Perspektive bezeichnete Antonovsky rückblickend als entscheidenden Wendepunkt in seiner medizinsoziologischen Arbeit. Zunächst versuchte er, in der Tradition der Streß- und Copingforschung Widerstandsressourcen gegenüber krankmachenden Einflüssen zu beschreiben. Diese werden üblicherweise in internale Ressourcen, z.B. Ich-Stärke, Selbstvertrauen und Optimismus, sowie externale Ressourcen, z.B. soziale Integration, Status, Einkommen eingeteilt. Antonovsky erkannte bald, daß es sich bei den Widerstandsressourcen um individuell sehr verschiedene Arten des Umgehens mit potentiell krankmachenden Einflüssen handelt, die schwer einheitlich zu konzeptualisieren sind. In der Folge begann er, ein übergreifendes Konzept der Gesundheitsprotektion zu entwickeln, dem er den Namen Kohärenzgefühl Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt I Main 1993. Daß Gesundheit und Krankheit nicht dichotom geschieden sind, sondern eher ein Kontinuum darstellen, wurde bereits 1952 von Lindemann u. a. fonnuliert. Vgl. ].E. Gordon, E. O'Rouke, F.L. W Richardson, E. Lindemann: The biological and social sciences in an epidemiology of mental disorder, in: American Journal of Medical Sciences 223 (1952), S. 316343, zitiert nach Erich Lindemann, Jenseits der Trauer, Göttingen 1995, S. 71. 5 Aaron Antonovsky/B. Maoz/N. Dowty/H. Wijsenbeek, Twenty-five years later: A limited study of the sequelae of the concentation camp experience, in: Social Psychiatry 6 (1971), S.186-193. 6 Aaron Antonovsky, Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well, San Francisco 1987, S. 11. Übersetzung der englischen Zitate durch Verf., Ergänzung der Hervorhebungen. 3

4

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(sense 0/ coherence) gab und in das die Summe seiner Erfahrungen aus einer ganzen Reihe von Interviews mit gesunden Personen einging. Er definiert das Kohärenzgefühl als ,,( ... ) eine allgemeine Einstellung, die das Ausmaß eines umfassenden, dauerhaften, zugleich aber dynamischen Vertrauens beschreibt, daß die innere und äußere Umwelt vorhersagbar und überschaubar ist, und daß sich die Dinge so gut entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann.,,7 Das Kohärenzgefühl mit seinen drei Komponenten Verstehbarkeit (Comprehensibility), Handhabbarkeit (Manageability) und Sinnhaftigkeit (Meaningfulness) beschreibt eine subjektive Grundeinstellung gegenüber unvorhergesehenen oder belastenden Lebensereignissen. Es geht dabei darum, wie ein Individuum potentiell belastende Umweltreize antizipiert und bewertet, vor dem Hintergrund des Vertrauens in die Möglichkeiten der Bewältigung. Das Kohärenzgefühl ist eine generelle Lebenseinstellung. Es drückt den Glauben an ein verständliches, bedeutungsvolles und beeinflußbares Leben aus. Das Kohärenzgefühl ist keine spezielle Copingstrategie, sondern eine übergreifende Fähigkeit, potentiellen Stressoren so zu begegnen, daß es zu einer neutralen oder salutogenen Entwicklung kommt.

Antonovsky mißt der Sinnhaftigkeit, im Sinne einer motivierenden Kraft, den größten Einfluß auf die Gesunderhaltung zu. 8 Er vermutet, daß ohne die zentrale Kategorie Sinnhaftigkeit starke Ausprägungen der beiden anderen, eher kognitiven Komponenten, Überschaubarkeit und Handhabbarkeit, wahrscheinlich ohne nachhaltigen gesundheitsprotektiven Effekt sein werden. 9 Die Sinnhaftigkeit entspricht mehr einer emotionalen Verfassung als einer kognitiven Einstellung und nimmt daher eine Sonderrolle ein. Ein starkes Kohärenzgefühl zeigt sich besonders in einer hohen Anpassungsfähigkeit, auch hinsichtlich einer Anerkennung der Grenzen, die einer persönlichen Aneignung von Lebensereignissen (z.B. Krieg, Tod, Gewalt) gesetzt sind. Ein der Gesundheit dienliches, starkes Kohärenzgefühl wird also flexibel sein und nicht rigide. 10 Systemtheoretische Überlegungen sind eine Grundlage der Theorie des Kohärenzgefühls. 11 Antonovsky geht davon aus, daß Gesundheit ein labiler Zustand ist, der aktiv erhalten werden muß. Diese Auffassung steht in Gegensatz zu dem konventionellen pathogenetischen Postulat, daß ein gesunder Organismus sich in "normaler" geordneter Homöostase befindet, die durch eine Krankheit aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Antonovsky meint demgegenüber, daß es den Idealzustand der geordneten Homöostase nicht gibt. Es ist auch nicht so, daß Gesundheit der Normalzustand und Krankheit die seltene Abweichung von der Norm ist, sondern Antonovsky (FN 6), Vorwort S. 13 Viktor Erich Frankl drückt dies noch deutlicher aus, indem er der Sinnorientierung eine essentielle Bedeutung für das Überleben eines Menschen zumißt. Vgl. Viktor Erich Frankl, Logotherapie und Existenzanalyse, München 1987, bes. S. 208 f.. 9 Vgl. Antonovsky (FN 6), S. 22 10 Vgl. ders. (FN 6), S. 24 11 Vgl. ders. (FN 6), S. 154 7

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gerade das Gegenteil gilt. ,,zu jedem Zeitpunkt kann mindestens ein Drittel, möglicherweise mehr als die Hälfte der Bevölkerung jeder Industrienation aufgrund des einleuchtenden Parameters eines pathologischen Merkmals als krank bezeichnet werden. Das zeigt, daß Krankheit keine relativ seltene Abweichung von irgendeiner Norm, sondern ein ubiquitäres Phänomen ist.,,12 Der zweite theoretische Ausgangspunkt Antonovskys ist die Auffassung, daß Gesundheit und Krankheit keine dichotom geschiedenen Zustände sind, die sich immer genau voneinander abgrenzen lassen. Gesundheit und Krankheit bezeichnen seiner Ansicht nach vielmehr zwei Endpunkte eines Kontinuums, zwischen denen sich unser relatives Gesundsein oder Kranksein bewegt. Antonovsky illustriert dies, indem er schreibt: "Wir sind alle ,terminale Fälle', aber wir sind auch, solange noch ein bißchen Leben in uns ist, in gewissem Maße gesund."l3 Für die Entwicklung des Kohärenzgefühls sind nach Antonovskys Meinung frühkindliche Erfahrungen entscheidend. Das Kohärenzgefühl konstituiert sich nach seiner Auffassung im wesentlichen innerhalb der ersten 10 Lebensjahre. Spätestens im frühen Erwachsenenalter ist das Kohärenzgefühl so stabil etabliert, daß es in seiner Ausprägung im weiteren Verlauf der Lebensgeschichte weitgehend unverändert bleibt. Antonovsky versteht das Kohärenzgefühl auch als eine Eigenschaft sozialer Gemeinschaften. Er ist der Auffassung, daß das Kohärenzgefühl der Umwelt einen wichtigen Einfluß auf die Gesundheit des Individuums hat: "Die wichtigsten Determinanten des Kohärenzgefühls bestehen in der Art der Gesellschaft, in der jemand in einer bestimmten historischen Periode lebt und den sozialen Rollen, in die er eingebunden ist."l4 Salutogenese beschreibt die aktive Adaptation an eine Welt, die reich an unausweichlichen Stressoren ist. Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet Antonovsky das von ihm beschriebene Konstrukt Kohärenzgefühl als eine der wichtigsten Determinanten für die Positionierung eines Individuums auf dem GesundheitsKrankheits-Kontinuum. Oder einfacher gesagt: Menschen mit einem stark ausgeprägten Kohärenzgefühl zeichnen sich durch eine erhöhte Widerstandskraft gegenüber Erkrankungen aus. Gesundheit muß aktiv aufrechterhalten werden im Sinne einer fortlaufenden Integration und Regulation der physiologischen, psychischen und sozialen Teilvorgänge, in denen und durch die das Individuum lebt. Die Organisation von Gesundheit kann mit systemtheoretischen Begriffen als Vernetzung verschiedener Subsysteme oder Elemente beschrieben werden, die sich auch als Ressourcen fassen lassen. 15 Hier gilt, daß die Art und Weise der Vernetzung indivi12 Ders., Pathways leading to successful coping and health, in: Michael Rosenbaum (Hrsg.), Leamed resourcefulness, New York 1990, S. 31. 13 Ders. (FN 6), S. 3 14 Ders., Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung. in: Alexa Franke / Michael Broda (FN I), S. 4. 15 V gI. Ilona Kickbusch, Plädoyer für ein neues Denken über Gesundheit: Muster-ChaosKontext. Neue Handlungsansätze in der Gesundheitsförderung, in: P. Paulus (Hrsg.), Prävention und Gesundheitsförderung: Perspektiven für die psychosoziale Praxis, Köln 1992.

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duell höchst verschieden sein kann. Gesundheit wäre somit eine optimale Integration in einem Netz von individuellen (biographischen, sozialen, physischen) Ressourcen. Die Aufrechterhaltung von Gesundheit bedarf einer aktiven Integrationsleistung (z.B. auch der Integration von chemischen, physikalischen und symbolischen Informationen I6 ), also einer stetigen Gesundheitsarbeit. Während jetzt mehr von der Salutogenese die Rede war, wollen wir die Brücke schlagen zu dem, was Selbstorganisation in Zusammenhang mit Gesundheit bedeuten kann. Maturana und Varela sind der Auffassung, daß sich Lebewesen andauernd selbst erzeugen und stellen die autopoietische Organisation als Charakteristikum des Lebendigen heraus. 17 Sie übertragen ihre molekularen und zellularen Beobachtungen auf den ganzen Organismus, indem sie von einer zellulären autopoietischen Einheit in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechsel wirkungen ausgehen, die dynamisch miteinander verbunden sind. Diese Betrachtungsweise abstrahiert davon, daß der Organismus in Wechselwirkung mit anderen Organismen und mit seiner Umwelt steht. Gerade in der Medizin hat es sich als notwendig erwiesen, die Organisation des menschlichen Organismus in allen seinen Aspekten, bis hinein in physiologische Abläufe, als abhängig von seiner Umwelt und als in ständiger Interaktion mit ihr zu verstehen. 18 Durch ein Verständnis des Organismus als eines prinzipiell von seiner Umwelt abhängigen Wesens wird das Selbsttätige der autpoietischen Organisationslehre in Frage gestellt. Die Freiheitsgrade des menschlichen Handeins können sowohl durch interne, z.B. im Subjekt liegende 16 Vgl. auch Thure von Uexkülls Ansatz zu einer psychosomatischen Zeichen- und Informationslehre, z. B. Thure von Uexküll/Wolfgang Wesiack, Theorie des therapeutischen Geschehens, in: Rolf Adler u. a. (Hrsg.), Psychosomatische Medizin, 5. Aufl, München 1996, bes. S. 348 f.. 17 Humberto Maturana/ Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bem und München 1987, S. 50 ff. 18 Diese Sichtweise fand ihren Ausdruck in der Forderung nach einer ,psychosozialen Medizin', bzw. in dem Begriff der ,bio-psycho-sozialen Einheit'. Vgl. George Engel, The need for a new medical model. Achallenge for biomedicine, in: Science 196, 1977, S. 129-136. Herrn Rainer-M.E. Jacobi verdanken wir den Hinweis, daß - obgleich weithin unbemerkt bereits seit Beginn der achtziger Jahre in der DDR trotz mancher Bedrängnisse ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur ,Bio-psycho-sozialen Einheit Mensch' unter Federführung von Karl Friedrich WesseI an der Humboldt-Universität zu Berlin eingerichtet wurde. Im Verlauf der in der Folge der politischen Wende in der DDR möglich gewordenen Umstrukturierungen an den ostdeutschen Universitäten gelang die Gründung eines ,Interdisziplinären Institutes für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik' dessen Bemühungen unter anderem der Förderung eines integrativen Denkansatzes in der Medizin gelten. Vgl. Umfrage: Der Mensch als biopsychosoziale Einheit, in: Dtsch. Zschr. f. Phil. 31 (1983), Heft 2, S. 134160, Heft 3, S. 223 -243; Karl Friedrich Wessei, Struktur und Prozeß ontogenetischer Entwicklung des Menschen - Ergebnisse, Aufgaben und Perspektiven, in: Wiss. Zschr. Humboldt-Univ. Berlin, Math.-Nat. Reihe 36 (1988), S. 550-565; ders., Struktur und Prozeß der Ontogenese - Dynamik der biopsychosozialen Einheit Mensch, in: E. Geißler / H. Hörz (Hrsg.), Vom Gen zum Verhalten. Der Mensch als biopsychosoziale Einheit, Berlin 1988, S. 209-216; ders./W Förster/ R.-M.E. Jacobi (Hrsg.), Herkunft, Krise und Wandlung der modemen Medizin, Bielefeld 1994.

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Hemmungen, wie auch durch äußere Beschränkungen eingeengt sein. Diese anthropologische Tatsache zeigt sich auch in dem altbekannten Problem der ambivalenten Stellung des Menschen zwischen Freiheit (Selbstorganisation) und Determination (Abhängigkeit). Erkenntnistheoretisch heißt dies, daß ein System nur sehr unvollständig beschrieben werden kann, von dem man selbst ein Teil ist, da man stets auf systemtranszendente Begriffe angewiesen ist; ein Problem, das durch den Begriff der Autopoiese nur scheinbar umgangen wird. Einen Ausweg aus einem Denken in konkurrierenden Kategorien bieten die Überlegungen Friedrich Cramers, der die Selbstorganisation als eine Grundeigenschaft der Materie herausstellt. Die Selbstorganisation ist seiner Ansicht nach geeignet, den Gegensatz zwischen ,toter' und ,lebender' Materie zu überwinden. "Selbstorganisation ist daher nicht ein bloßes Akzidens von Materie, sondern eine unabtrennbare Eigenschaft und ein Attribut der materiellen Substanz. Selbstorganisation ist das Schöpfungspotential der evolvierenden Materie und das gilt für die gesamte Materie".19 Die Selbstorganisationskonzepte haben in der Nichtgleichgewichts-Thermodynamik von Prigogine, in der Hyperzyklustheorie von Eigen und in der konstruktivistischen Erkenntnistheorie von v. Foerster und Glasersfe1d ihre je verschiedene Ausprägung gefunden. Für unsere Überlegung von Bedeutung sind Impulse, die aus der Chaosforschung kommen und die Dieter Wyss zu der Schlußfolgerung veraniaßt haben, daß indeterminierte Prozesse in der gesamten Natur existieren, daß determinierte in indeterminierte Vorgänge übergehen und umgekehrt und daß drittens eine Gleichzeitigkeit von determinierten und indeterminierten Prozessen besteht. 2o Das heißt, daß man sich daran gewöhnen muß, neben den Kategorien "vorhanden" bzw. "nicht vorhanden" immer auch die Kategorie des "Möglichen" ins Kalkül zu nehmen. Nach Wyss verdanken wir der Chaosforschung den Einblick in die Bedeutung indeterminiert-irrationaler Vorgänge der materiellen Natur. Für die Medizin folgert er: "Gesundheit und Krankheit anbetreffend sollte es ferner für uns von größter Bedeutung sein, daß wir in der Gesundheit einem aperiodisch labilen Organismus begegnen, in der Krankheit dagegen einem zunehmend periodisch stabilen Zustand".21 Schon 1938 schrieb Grote: "Wir können uns kein anderes Ziel einer vernünftigen Behandlung denken als das der Hygiogenese, eine Behandlung, die Gesundheit aus sich selbst entstehen lassen soll,,?2 Daß Hygio- bzw. Hygienogenese die sprachlich korrektere Bezeichnung wäre für das, was hier unter Salutogenese vorgestellt wurde, darauf haben wir an Friedrich eramer, Chaos und Ordnung, Frankfurt/Main 1993, S. 231. Dieter "yss, Die Bedeutung der Chaosforschung für die psychosomatische Medizin, in: Zschr. klinische Psychologie Psychotherapie und Psychopathologie 41 (1993), S. 334-342. Ausführlicher hierzu: ders., Die Philosophie des Chaos oder das Irrationale. Die Bestimmung des Menschen in einer irrationalen Welt, Würzburg 1992; vgl. auch die Rezension von Rainer-M.E. Jacobi, in: Selbstorganisation, Bd 4 (1993), S. 302-305. 21 "yss (FN 20), S. 337 22 L.R. Grote, zitiert nach: G. Hildebrandt, Hygiogenese - Grundlinien einer therapeutischen Physiologie, in: Therapiewoche 27 (1977), S. 5384. 19

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anderer Stelle hingewiesen. 23 Krankheit ist gekennzeichnet durch einen Mangel an adaptivem Potential und Responsivität, durch eine eingeschränkte Regulationslage. Dem mit pathogenetisch orientierten Maßnahmen verbundenen Begriff der von außen bewirkten Kunstheilung wird der mit hygienogenetisch orientierten Maßnahmen verbundene Begriff der Selbstheilung gegenübergestellt. 24 Chronobiologische Untersuchungen konnten ein hygienogenetisches Potential der Circaseptenperiodik beschreiben, die bei verschiedendsten Erkrankungen mit spontaner Heilungstendenz beobachtet wird?S Vieles erinnert hier an das alte "natura sanat, medicus curat". Von psychotherapeutischer Seite wurde immer wieder die Fähigkeit, sich zu ändern, als gesundheitsförderlich beschrieben. Dies ist naheliegend, denn neurotisches Verhalten ist charakterisiert durch Starrheit, durch Repetition, durch Stereotypie und durch Lemunfähigkeit und nähert sich so dem periodisch stabilen Zustand, den Wyss als zur Krankheit hinführend beschrieb. Auch hier wird ein evolutionärer Aspekt deutlich, etwa wenn Lawrence Kubie zu der Überzeugung gelangt, "daß die einzige psychische Änderung, die in der Persönlichkeit oder der Lebensführung eines Menschen eine dauerhafte Wandlung herbeiführen kann, darin besteht, daß er seine Freiheit, sich wieder und wieder wandeln zu können, wiedererhält oder erhöht, um sich weiterentwickeln zu können,,26 und etwas weiter: "Der weitestgehende Indikator dafür, daß sich eine wirkliche seelische Wandlung vollzogen hat, wäre allein die Erhöhung der Fähigkeit zu fortgesetzter Wandlung".27 Diese Fähigkeit zu fortgesetzter Wandlung kennzeichnet den von Wyss beschriebenen aperiodischen labilen Organismus, wie er für Gesundheit steht, während die neurotische Starrheit mit dem periodisch stabilen Zustand korrespondiert. Man könnte ferner sagen, je stärker eingeschränkt die Freiheitsgrade des Handeins sind, desto mehr "ungelebtes Leben" (Viktor von Weizsäckerl8 ist in einem, desto eingeschränkter ist das Evolutionspotential des Individuums und es zeigt sich ein scheinbar funktionierender Organismus, der bei genauer Betrachtung eher als scheintot zu bezeichnen ist. Dieser Zustand ist häufig ein Vorstadium von ernsten 23 Vgl. Friedhelm Lamprecht, Vorwort und Einführung, in: Friedhelm Lamprecht (Hrsg.), Salutogenese ein neues Konzept in der Psychosomatik?, Frankfurt/Main 1994, S. 7. 24 Die Unterscheidung von Kunstheilung (im Sinne von artifizieller Heilung) und Selbstheilung stammt von L.R. Grote. Vgl. Karl Eduard Rothschuh (Hrsg.), Louis R. Grote, Der Arzt im Angesicht von Leben, Krankheit und Tod. Eine Auswahl aus seinem Werk, Stuttgart 1961, S. 161-163. 25 Vgl. G. Hildebrandt, Die Koordination rhythmischer Funktionen beim Menschen, in: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 73 (1967), S. 922-941. 26 Lawrence S. Kubie, Seelische Wandlung und deren Beziehung zur sich wandelnden Kultur, in: Psyche 23 (1969), S. 709. 27 Ebd. 28 Der Begriff "ungelebtes Leben" bildet das Zentrum der "biographischen Methode" Viktor von Weizsäckers und damit einen Grundbegriff seiner "Medizinischen Anthropologie". Vgl. hierzu insbesondere Viktor von Weizsäcker, Pathosophie, Göttingen 1956, S. 241-263.

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Erkrankungen und charakterisiert ein Individiuum, das im Status quo gefangen und von seiner Entwicklungspotenz abgeschnitten ist. Nicht selten kommt durch sogenannte ,Schicksalsschläge' eine Entwicklung wieder in Gang. Gerade diese ,Schicksalsschläge' öffnen einem hinterher die Augen und lassen das vergangene Leben in einem anderen Licht erscheinen, ja führen gleichsam zu einer Neuordnung der Lebensprioritäten. Ob die zweifellos durch diese Ereignisse in Gang kommenden Entwicklungsschritte eine Reifung der Persönlichkeit zur Folge haben oder in eine autodestruktive Bahn gehen, z.B. in Alkoholismus, Selbstverwahrlosung usw., liegt nicht ausschließlich in der Autonomie des Individuums. Deswegen scheuen wir uns, in diesem Zusammenhang von Autopoiese oder Selbstorganisation zu sprechen. Der Begriff der Salutogenese oder besser Hygienogenese scheint hier hilfreicher weil er auch auf Ressourcen Bezug nimmt, die außerhalb des Selbst liegen können - wie dies eingangs mit dem Begriff des Kohärenzsinns dargestellt wurde. Von diesen Ressourcen hängt z.B. ganz entscheidend ab, ob ich mich in Zusammenhang mit einer chronischen Krankheit als chronisch krank oder als bedingt gesund erlebe. 29

29 V gl. Fritz Hartmann, Chronisches Kranksein - bedingtes Gesundsein, in: Medizinische Welt 45 (1994), S. 110-114.

Gesundheit und Kultur Heilung in östlicher und westlicher Perspektive

Von Sudhir Kakar, Neu Delhi

Seit vielen Jahren beschäftigt mich das Studium jener traditionellen Heilverfahren Indiens, die der Wiederherstellung der "seelischen Gesundheit" (wie es im Westen genannt wird) dienen. 1 In meinen Begegnungen mit Patienten und Heilem indischer Traditionen - mit Exorzisten, Schamanen, Gurus, mit mystischen Kulten und Psychiatern der einheimischen Aiurweda-Medizin haben mich vor allem zwei Begebenheiten beeindruckt: Einerseits die Universalität jener menschlichen Anliegen, die psychischer Krankheit zugrunde liegen und andererseits die kontextuelle und kulturelle Relativität psychotherapeutischer Bemühungen, seien sie westlicher oder östlicher Tradition verhaftet. In Europa bzw. im Westen herrscht die Neigung vor, seelische Störungen durch die Brille wissenschaftlicher Abstraktion zu sehen. In Indien werden sie als Beschreibungen der Besessenheit faßbar, in den Bildern der Mythen oder als religiöse Erfahrungen. Die indischen Götter sind, wie bekannt sein dürfte, keine Mathematiker, sondern Poeten. Einstein zum Trotz würfeln sie nicht nur mit der Welt, sondern sie mogeln auch. Es wurde mir mit den Jahren immer deutlicher, wie Psychotherapie jeweils den Schwerpunkten der eigenen Kultur entspricht und in ihren Zielen und Handlungsweisen ein Hauptthema der jeweiligen Kultur zum Ausdruck bringt. Man kann Charakter und Stellenwert einer Psychotherapie nur verstehen, sofern man die zentralen Anliegen einer Kultur erfaßt, von denen sich die Therapie letztlich ableitet. In diesem Sinn muß jede Psychotherapie als Ethno-Psychotherapie verstanden werden. ich möchte dies anhand von Darstellungen indischer Patientinnen und einer der Therapien, durch welche sie hindurchgingen, erörtern. 2 I.

Asha war eine sechsundzwanzigjährige Frau aus einer der unteren Mittelschicht angehörenden Familie in Delhi, die von zwei Geistern besessen war. Sie war eine 1 Einen detaillierten Bericht hierzu in Sudhir Kakar, Schamanen, Heilige und Ärzte, München 1984. 2 Vgl. Kakar (FN 1), S. 227-288.

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schmale, attraktive Frau mit scharf gemeißelten Zügel und schwärzlichem Teint und hatte eine schlanke, mädchenhafte Figur, die sie jünger aussehen ließ, als sie war. Solange sie denken konnte, hatte sie unter regelmäßig wiederkehrenden Kopfschmerzen gelitten; ihre akuten Beschwerden hatten jedoch erst vor zweieinhalb Jahren begonnen, als sich erstmals eine Reihe höchst seltsamer Symptome zeigte. Es traten u. a. heftige Magenkrämpfe auf, bei denen sie sich vor Schmerzen krümmte und die sie schwach und wie ausgelaugt zurückließen. In bestimmten Abständen hatte sie eine Empfindung, als kröchen ihr Ameisen über den Körper; die Empfindung konzentrierte sich nach und nach auf den Kopf und verursachte Asha solches Unbehagen, daß ihr jede Berührung des Kopfes zur unerträglichen Qual wurde. Es gab Anfälle von Heißhunger und auch Wutausbrüche, bei denen sie mit Gegenständen um sich warf und gegen jeden tätlich wurde, der ihr in die Quere kam. Weder eine medikamentöse Behandlung (Ashas Onkel war Arzt) noch die Konsultation eines Exorzisten führten zu einer erkennbaren Besserung ihres Zustandes; was Asha jedoch endgültig bewog, nach dem heilenden Tempel von Balaji zu kommen, wo ich sie traf, war eine plötzliche Verfärbung ihrer Haut ins Schwärzliche, die sich sechs Monate nach dem Tode ihres Vaters zeigte. Sie litt deshalb schreckliche Seelenqualen, nachdem sie immer stolz auf ihren hellen Teint gewesen war. Asha hatte den Eindruck, nun sehr unattraktiv geworden zu sein, und dachte bereits an Selbstmord. Der Balaji-Tempel, den Asha in Begleitung ihrer Mutter und ihres Onkels aufsuchte, liegt 400 km südlich von Delhi. Wie die altgriechischen Asklepiostempel hat der Balaji-Tempel überregionale Bedeutung als Ort der Heilung, besonders für seelische Krankheiten, die auf das Konto böser Geister gehen. Das Vorgehen gegen den Geist, von dem ein Patient besessen ist, vollzieht sich in einer Reihe von Tempelritualen, die an einen Gerichtsprozeß erinnern. Die erste Stufe heißt "Gesuch"; dabei bringt der Patient eine Opfergabe aus Reis und dal im Wert von 1,25 Rupien dar und gibt einem Tempeldiener jeden Morgen und jeden Abend vor Beginn des Gottesdienstes zwei laddoos. Im Verlauf dieser Gottesdienste berührt ein Priester mit den laddoos das Bildnis Balajis und gibt sie dann dem Patienten zurück, der sie essen muß. Man glaubt, daß mit dem Genuß der laddoos die Kraft Balajis - der Herr der Geisterwelt - in den Patienten eingeht und den Geist zum "Erscheinen" vor Gericht zwingt, was der dramatische Höhepunkt der Heilungsrituale ist. Unterdessen dürfen auch die Familienmitglieder nicht untätig bleiben. Viele von ihnen werden vom Priester aufgefordert, bestimmte Mantras zu singen, um die betreffenden Götter im Heilungsprozeß einzubeziehen. Andere findet man in den Tempelhallen, wo sie Mantras singen und dabei mit einem Löffel Wasser von einem Topf in den anderen schöpfen. Die Mantras sollen das Wasser mit göttlicher Energie erfüllen. Später wird es vom Patienten getrunken, vermutlich zum zusätzlichen Verdruß des Geistes, von dem der Patient besessen ist. Es ist durchaus begreiflich, daß es jenem Geist nur in den seltensten Fällen gelingt, dem gemeinsamen Ansturm so vieler "göttlicher Energien" zu widerstehen. In weltliche Sprache übersetzt, wür-

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den wir sagen, daß das Ritual des "Gesuchs" die ehrfurchtheischende Autorität der Götter verkörpert, die vom Patienten fordert, sich in den tranceähnlichen Zustand des Erscheinens zu versetzen. Verstärkend wirken die Erwartungen der Priester und der Familienangehörigen, ermutigend die Beobachtung von anderen Patienten, die ihr Erscheinen im Kreise einer wohlwollenden Gruppe abhalten. Den Beginn eines Erscheinens zeigen wohldefinierte Zeichen an: das rhythmische Vor- und Zurückschwingen des Oberkörpers und das heftige Hin- und Herschleudern des Kopfes sind die sichersten Beweise dafür. Bei vielen Patienten beginnt der Geist mit einer Herausforderung an den Gott. Die den Patienten umgebenden Leute versuchen, den Geist zu provozieren, indem sie Sprüche zum Ruhme des Gottes ausrufen. In seiner Erregung wird der Geist oft zornig und ausfallend, wobei er Obszönitäten gegen den Gott ausstößt und Hohn und Spott über die frommen Zuschauer ergießt. Die Sturzflut von aggressiven Schmähungen, besonders wenn sie aus dem ansonsten versiegelten Munde zartbesaiteter junger Mädchen und Frauen kommt, erlaubt kaum einen Zweifel daran, daß wir es mit einer krampfartigen Entladung von aufgestauten Aggressionen und dem seltenen Fall einer Auflehnung gegen die beengenden Normen und Sitten einer konservativen Hindugesellschaft zu tun haben, deren sichtbarste Repräsentanten ihre Götter sind. Manche Patienten sagen sich sogar zeitweilig von der hinduistischen Glaubensgemeinschaft los: ihr Geist behauptet dann, daß er Muslim sei, der ebenso mächtig wie Balaji sei und niemals eine Niederlage zugeben würde. Die Erregung steigert sich, wenn die um den Patienten versammelten Menschen den aufrührerischen, trotzigen Geist bedrängen. "Du willst auch mit Baba kämpfen, oder?" ruft die Menge. "Baba, besorg' es ihm gründlich! Anders will der Bösewicht nicht hören!" Und wirklich beginnt der Patient in diesem Augenblick, sich selbst mit den Fäusten zu traktieren, was die Protestschreie des Geistes noch lauter werden läßt. Nach einiger Zeit hört der Patient, offenkundig ermüdet, auf, sich selbst zu schlagen, und der Geist gesteht seine Niederlage ein. Die Zuschauer sind sichtlich erleichtert, daß die normale Weltordnung wieder hergestellt ist und der Patient sich zu den alten Werten und alten Autoritäten bekennt. Das Ritual tritt nun in seine nächste Phase ein, die "Aussage". Der Geist bittet um Verzeihung und gibt sich auf Drängen der Menge zu erkennen. Dann verspricht der Geist, den Patienten in Ruhe zu lassen und sich auf Gnade oder Ungnade dem Gott zu ergeben. Manchmal gefällt es dem Gott, dem Patienten einen "bekehrten", wohltätigen Geist - den dura - zu senden, der ihn davor schützen soll, von weiteren bösen Geistern befallen zu werden; das Herannahen des dura kündigt sich durch einen tranceartigen Zustand an, in dem der Patient sich mehrmals vor dem Bildnis des Gottes niederwirft. In Balaji ließ Ashas Erscheinen nicht lange auf sich warten. Sie hatte in Balajis "Hof' kaum die beiden laddoos gegessen, als sie auch schon zu Boden stürzte und bekannte, daß sie von zwei Geistern besessen sei. Der erste Geist, der die Magenkrämpfe verursachte, sagte aus, ihn habe die Frau von Ashas Bruder gesandt. Sein Name sei Masan, sagte er - ein Geist, der Friedhöfe und Begräbnisstätten bewohnt und sich darauf "spezialisiert" hat, ungeborene Kinder im Mutterleib aufzufressen.

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Der andere Geist gab zu, für die Empfindung der kriechenden Ameisen und für Ashas Wutanfälle verantwortlich zu sein und enthüllte, daß ihn der ältere Bruder von Ashas Verlobtem geschickt habe. Nach diesem ersten Geständnis verfielen beide Geister in Schweigen und machten keine weiteren Aussagen. Bei späteren Gelegenheiten verlief Ashas Erscheinen weniger dramatisch: es bestand in einem träumerischen Wiegen des Körpers, das Asha erfrischte und ihr die Überzeugung gab, ihre Haut sei heller geworden. Asha war zwar alles andere als verschlossen und erzählte munter und lebhaft von ihrem Leben und ihren Problemen, doch waren ihre Erzählungen meist verworren und zusammenhanglos. Sie sprang von einem Erlebnis zum anderen, von der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück in die Vergangenheit, und so war es ein schwieriges Geschäft, die einzelnen Stücke ihrer Lebensgeschichte in eine chronologische Ordnung zu bringen. Dramatische Momentaufnahmen und wehmütige Erinnerungen, unterstrichen von affektierten Gebärden und mit theatralischer Stimme vorgetragen, folgten einander in verwirrendem Tempo, so daß es schwer war, Tatsachen von Eindrücken, Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden. Als jüngstes Kind der Familie und einzige Tochter nach fünf Buben war Asha stets der erklärte Liebling ihres Vaters gewesen. In ihren Erinnerungen an die Kindheit tauchten immer wieder Bilder dieser Vater-Tochter-Intimität und des gemeinsamen Entzückens aneinander auf, während die übrigen Familienmitglieder aus dem Zauberkreis ausgeschlossen blieben. Der Vater pflegte, wenn er abends aus dem Büro nach Hause kam, als erstes nach seiner Lieblingstochter zu fragen und mit ihr zu spielen, bis es Zeit zum Abendessen war. Selbst als sie schon zwanzig war, brachte ihr der Vater regelmäßig Süßigkeiten mit, und jeden Abend setzte er sein nun nicht mehr so kleines Mädchen auf die Schultern und ritt mit ihr um das Haus, wobei er oft ausrief: "Ach, meine Lieblingstochter, was mache ich bloß, wenn du einmal heiratest und aus dem Hause bist! Mein Leben wird ganz leer sein !" Zu einigem Mißklang in dieser "idyllischen" Vater-Tochter-Beziehung kam es, als Asha fünfzehn war. Damals verliebte sie sich in einen jungen Collegestudenten, der als ihr Privatlehrer engagiert worden war. Als der Vater von dieser aufkeimenden Romanze erfuhr, war er außer sich vor Wut und verbannte Asha zu ihrer Tante nach Saharanpur. Hier stand sie unter so strenger Aufsicht, daß sie weder Briefe schreiben noch Briefe empfangen konnte. Ein Jahr kümmerte das Mädchen praktisch als Gefangene dahin; nach Delhi kam sie erst zurück, als ihr Vater krank wurde und von niemand anderem als seiner Lieblingstochter gepflegt werden wollte. Asha umsorgte ihn hingebungsvoll, bis er wieder gesund war, und von dem jungen Hauslehrer wurde niemals mehr gesprochen; ja, die Episode schien Vater und Tochter einander sogar noch näher gebracht zu haben. Die Verkettung von Ereignissen, die dazu führten, daß Asha von den beiden Geistern besessen war, scheint die folgende gewesen zu sein: drei Jahre zuvor hatte Ashas Lieblingsbruder geheiratet, und laut Asha war er, beeinflußt von seiner Frau, ziemlich gleichgültig gegen seine Schwester geworden. Asha war sehr unglücklich

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über diesen "Verrat" ihres Bruders, versah aber weiterhin alle schwesterlichen Pflichten. Einmal, als ihre Schwägerin schwanger war, hielt sie sich für kürzere Zeit im Hause ihres Bruders auf und entdeckte dabei zufällig im Schrank der Schwägerin einige ihrer eigenen Kleider - ein Fund, der sie sehr gegen "diese Diebin" aufbrachte. Kurz darauf begannen ihre Magenkrämpfe. In dieser Zeit geschah es nun, daß ein junger Mann aus der Nachbarschaft ein deutliches romantisches Interesse für Asha entwickelte. Jeden Tag erschien der junge Mann in der Klinik, in der Asha ihrem Onkel bei der Arbeit half, und redete stundenlang auf sie ein. Asha war an ihrem glühenden Verehrer nicht interessiert, wie sie behauptete, was den Jüngling jedoch in keiner Weise beeindruckte. Während der langen und häufigen Gespräche gestand er dem Mädchen offen seine Liebe. Als Ashas Vater Wind davon bekam, wie der junge Mann seiner Tochter nachstellte, war er wieder einmal außer sich vor Wut. Von zweien seiner Söhne begleitet, marschierte er in das Haus des jungen Mannes und stellte dessen Familie zur Rede. Seiner Mutter gelang es, Ashas Vater und ihre Brüder zu überreden, daß Asha in ihre Familie einheiraten solle; so beschloß man (wie und von wem das beschlossen wurde, blieb unklar), daß Asha zwar nicht ihren Verehrer, aber statt dessen seinen jüngeren Bruder heiraten solle. Asha war sehr unglücklich über dieses Arrangement, doch da wurde ihr Vater krank, und sie konnte ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen, da dies den Zustand seines Herzens möglicherweise noch verschlimmert hätte. Wiederum umsorgte sie hingebungsvoll den Kranken. Der ältere Bruder ihres Verlobten war inzwischen kühner und gegenüber dem Mädchen noch zudringlicher geworden. Es schien ihn nicht zu kümmern, daß Asha ihn wiederholt bat, er möge sie, wie es einem guten Hindu zukomme, als seine Tochter ansehen, nachdem sie bald die Frau seines jüngeren Bruders werden würde. In dieser Zeit wurde Asha zum erstenmal von dem zweiten Geist befallen. Sie war zu einem Besuch in das Haus ihrer künftigen Schwiegermutter gegangen, mußte aber feststellen, daß das ganze Haus leer war - bis auf ihren schmachtenden Bewunderer. Er hatte sie aufgefordert, mit ihm nach oben in sein Zimmer zu gehen, woraufhin Asha ohnmächtig geworden war. Bald darauf begannen ihre Wutanfälle, die Empfindung der kriechenden Ameisen und ihre Kopfschmerzen.

11. Was sagt nun der Psychoanalytiker hierzu, der für einen Moment versucht, nicht die kulturelle Bedeutung von Ashas Verhalten und Symptomen zu erfassen, sondern die zugrundeliegenden seelischen Prozesse zu verstehen? Sieht man einmal vom indischen Rahmen des Falles Asha und von seiner Einbettung in die PunjabiMittelschicht ab, so scheint mir Asha in jene Gattung der frühen psychoanalytischen Literatur zu gehören, in der es um junge Frauen geht, die bei der Pflege eines älteren Verwandten erkranken. Hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und Liebe zum Vater und ihrem uneingestandenen sexuellen Drang zu einem anderen

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Mann, durchlitt Asha einen Konflikt, den viele Mädchen der bürgerlichen Gesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebten - beispielsweise auch Elisabeth von R., die Patientin Freuds? Bei ihrem Bedürfnis nach enger Nähe zum Vater scheint Asha kaum eine andere Wahl gehabt zu haben, als die feindselige Komponente ihres Gefühls für den Vater zu verleugnen - so, wie sie bei der ersten gescheiterten Liebesaffäre mit dem Hauslehrer ihre Wut verleugnen mußte. Angesichts der gegebenen, belastenden Verhältnisse - die Krankheit ihres Vaters, ihre Verlobung, die Zudringlichkeit des anderen Mannes - genügte es aber nicht mehr, daß Asha ihre aggressiven und sexuellen Wünsche einfach verleugnete. Zur Abwehr dieser Wünsche mußte hinzukommen, daß man sie vom Bewußtsein abspaltete und den Machenschaften eines Geistes zuschrieb. Selbstverständlich ist der Geist von dem schmachtenden Verehrer "geschickt" worden, den Asha unbewußt für die widersprüchlichen Emotionen verantwortlich macht, die das Mädchen ständig zu überwältigen drohen. Ashas anderer Geist - der embryo fressende Masan versinnbildlicht ebenfalls eine ähnliche Symbiose aus destruktiven und sexuellen Wünschen. Ihre Bauchschmerzen sind Ausdruck ihrer unbewußten Schwangerschaftsphantasie, ausgelöst durch eine Identifizierung mit der "glücklichen Rivalin", nämlich der Schwägerin. Der Geist, der ungeborene Kinder tötet, symbolisiert dann den Gedanken: "Nicht ich bin es, die am liebsten das ungeborene Kind meiner Schwägerin töten würde, sondern sie ist es, die mein (phantasiertes) Kind umbringen will." Der Unterschied zwischen Asha und anderen hysterischen Persönlichkeiten Indiens einerseits und ihren europäischen Entsprechungen andererseits liegt im Vorkommen einer reichhaltigen, dramatischen und konkreten Bilderwelt von Geistern; diese Art der visuellen Bilderwe1t ist in den bekannt gewordenen Fällen von grande hysterie im Westen verschwommen, sofern sie überhaupt vorhanden ist. An dieser Stelle kommt die Kultur zum Zuge. Das indische Kind wächst in einer bunten mythologischen Welt auf, die von zahlreichen Göttern, Göttinnen und sonstigen übernatürlichen Wesen bevölkert wird; es macht schon früh die Erfahrung verschiedenartiger Wärter und Wächter, und alles trägt bei zur Bilderwelt von Geistern, die vom Menschen Besitz ergreifen. Der Umstand, daß viele indische Frauen gerade zu dieser besonderen kulturellen Form der Hysterie greifen, spiegelt auch bestimmte Bedingungen der indischen Gesellschaft wider. Anders ausgedrückt: es gibt keine individuelle Angst, die nicht auch latente Sorgen der Gruppe widerspiegelt - eine Tatsache, auf die Erik Erikson zwar schon vor langer Zeit hingewiesen hat, die wir Kliniker aber gerne außer acht lassen, wenn wir nach dem einmalig Individuellen in einer Fallgeschichte forschen. 4 In der Gemeinschaft eines Dorfes, wo von der jungen Frau erwartet wird, daß sie absolut unterwürfig ist und nicht einmal im Geist zornige Gedanken gegen die Familie ihres Mannes oder gar gegen ihren "Herrn und Gebieter" hegt: in einem solchen Dorf scheint die Besessenheit 3

4

Vgl. Sigmund Freud, Studien über Hysterie (1895), Frankfurt/M. 1970, Kap. Ir. Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1957, S. 49.

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von Geistern, die sich anders verhalten, für ein junges Mädchen eine Möglichkeit zu sein, ihr Ressentiment gegen die Ohnmacht ihrer Situation auszudrücken, ohne sie einzugestehen. Die Wut auf ,,höhere" Familienmitglieder scheint besonders schwer auszudrücken zu sein. Selbst den Gedanken "sie haßt mich", wie im Falle Ashas und ihrer Schwägerin, kann man sich nicht leicht eingestehen; muß man doch schrecklich krank und von allen möglichen Geistern besessen sein, um ausdrücken zu können: "Ich hasse ihn (oder sie)."

III.

Betrachten wir einen weiteren Fall, der dieses deutlich veranschaulicht: Urmilla ist eine attraktive Achtzehnjährige aus einem Dorf in Rajasthan, die zusammen mit ihrem Gatten nach Balaji gekommen war. Einige Jahre zuvor, unmittelbar nach ihrer Hochzeit, begann sie, über Schmerzen im Körper sowie Atembeschwerden zu klagen. Bald danach setzten unkontrollierte Wutanfälle ein. Wenn sie einen dieser Wutanfälle bekam, beschimpfte sie jeden, der ihr über den Weg lief, wobei sie die ausgesuchtesten Bezeichnungen für ihren Ehemann aufsparte, den sie oft auch tätlich angriff. ,,sie entwickelt dann solche Kräfte, daß es zwei oder drei starke Männer braucht, um sie zu bändigen", berichtete der Mann mit ingrimmiger Bewunderung. "Außerdem bekommt sie einen Hunger, daß sie das Essen für die ganze Familie aufißt, und wird so durstig, daß sie einen ganzen Eimer Wasser austrinken könnte." "Ja, Doktor Sahib", bestätigte Urmilla. "Vor der Ehe bin ich niemals wütend geworden, nicht ein einziges Mal. Aber wenn der bhuta kommt, weiß ich nicht mehr, was mit mir los ist. Später sagen sie mir, welche unflätigen Schimpfworte ich gegen meinen Mann gebraucht habe, aber ich kann mich an etwas so Schändliches überhaupt nicht erinnern." Urmilla war aber nicht nur von einem bösen bhuta besessen, sondern auch von einem guten Geist - demjenigen ihres verstorbenen Vaters. Er kam immer, um sie zu beschützen, wenn ihre von bhuta ausgelösten Wutanfälle ernsthaften Schaden anzurichten drohten. Der Vater war gestorben, als Urmilla fünf Jahre alt war, und er hatte in dem Ruf gestanden, ein jähzorniger Mann zu sein. Der Geist des Vaters, obgleich ebenfalls aufbrausend, wurde von Urmilla als lenkender und wohltätiger pitri empfunden, und auf seinen Rat hin hatte das Paar die Pilgerreise nach Balaji angetreten. Die beiden waren schon seit einiger Zeit in Balaji, doch obgleich der bhuta sich des öfteren gezeigt hatte, hatte er noch nicht gestanden, woher er kam und was er wollte. Der Mann wurde bereits ungeduldig und wollte nach Hause fahren, doch Urmilla bestand darauf, so lange zu bleiben, bis der Geist ihres Vaters ihr die Heimreise befahl. Als der Mann hartnäckig blieb, wurde Urmilla vom Geist ihres Vaters besessen, der den Mann tüchtig ausschimpfte und drohte, ihm die Beine zu brechen, falls er auch nur daran dächte, seine Tochter allein zurückzulassen. In der Herberge, in der das Paar wohnte, erzählte der Geist außerdem überall herum, der Mann plane vielleicht, eine zweite Frau zu nehmen, und er (Urmillas

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Vater) werde dafür sorgen, daß er dafür seinen gerechten Lohn erhalte. Dann und wann wurde Urmilla auch von einem anderen wohltätigen Geist besessen, nämlich der ihrer toten Schwiegermutter, die sich darüber beklagte, daß die Familie nicht in der schicklichen Weise für das Heil ihrer (der Schwiegermutter) Seele sorge, und befahl, daß man das Versäumte nachhole. In den letzten paar Tagen hatte Urmilla mehr und mehr das Gefühl, daß ihr bhuta dabei sei, sie zu verlassen. Eines Tages verkündete sie, daß sie alle in den drei Kilometer von Balaji entfernten Tempel der Muttergottheit Vaishno Devi gehen wollten. Dort werde die Mutter (d. h. die Göttin) von ihr Besitz ergreifen und ihr sagen, ob der bhuta endgültig fort sei oder ob er Urmilla nur einen der Streiche spiele, für die die bhutas so berüchtigt sind. Am nächsten Morgen zog eine kleine Gruppe, bestehend aus Urmilla, ihrem Mann und einem weiteren Ehepaar aus einem benachbarten Dorf, zu dem Tempel hinauf und wartete in dem kleinen Raum, in dem das Götterbildnis aufbewahrt wird, auf die Muttergöttin. Urmilla fixierte unverwandt das Gesicht der Mutter, während die anderen in den rhythmischen Ruf "Sieg der Mutter!" verfielen. Urmillas Atmung wurde schneller, und auf ihrem Gesicht malten sich in rascher Folge Schmerz und Wut. Plötzlich bemerkten wir eine Verwandlung auf ihrem Gesicht, das ganz still und ausdruckslos geworden war: die Mutter war gekommen. Mit lauter und fester Stimme sprudelte Urmilla Worte hervor. Urmilla: "Was willst du? Rede. Was willst du? Warum hast du mich gerufen?" Urmillas Mann (leise und ehrerbietig): "Bitte sage uns, ob wir Samstag gehen sollen." Urmilla: "Ja, fahr nur fort. Geh weg." Der Mann: "Bitte sage uns auch, ob ihr Leiden vorbei ist. Manchmal geht es ihr gut, und dann fängt sie wieder an, wütend zu werden." Urmilla (in erregtem Ton): "Habe ich dir nicht gesagt, du sollst gehen? Wir werden schon auf das Mädchen achten. Du mußt Vertrauen haben. Wir sind bei ihr." Der Mann: "Eine Bitte noch ... der Name des bhuta -" diesen Satz brachte er nicht zu Ende, denn Urmilla donnerte zornig zurück: "Warum willst du den Namen wissen, du Schuft? Wir sagen die Namen, wenn wir zurückgehen. Die ganze Familie quält dieses arme Mädchen! Wievie1e Namen willst du wissen?" Der Mann war eingeschüchtert und murmelte sein Einverständnis. Urmilla trachtete ihren Triumph zu festigen, indem sie dem Mann befahl, zum Zeichen seiner völligen Unterwerfung seine Nase auf dem Fußboden zu reiben. Der Mann griff mit den Händen nach seinen beiden Ohrläppchen und beugte sich vor dem Götterbild nieder, um seine Nase dreimal auf dem Boden zu reiben. Jetzt wandte sich die andere Frau an Urmilla, die mit gefalteten Händen neben ihr saß: "Mutter, sage mir auch etwas über mich." Urmilla (sehr schnell): "Der Bösewicht frißt kleine Kinder im Mutterleib. Hat diese arme Frau ruiniert. Aber es wird alles gut werden. Sage "Sieg der Mutter". Ich werde mich um den Muselmanen kümmern." Die Frau beugte sich über Urmilla, und nach ein paar Minuten kam diese wieder zu sich. Sie sah erschöpft aus, aber gleichzeitig glänzte ihr Gesicht vor Befriedigung über das, was sie eben erlebt hatte. Während wir zu Urmillas Herberge zu-

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rückwanderten, sagte sie uns, sie alle würden nun am kommenden Samstag Balaji verlassen. Es sei nicht zu befürchten, daß der bhuta zuiiickkehre; denn die Mutter habe beschlossen, mit ihr zu sein, und sie würde Urmilla noch besser schützen als der Geist von Urmillas Vater.

IV. Was läßt sich über diese im Tempel durchgeführte Psychotherapie aussagen? Ich bin als Psychoanalytiker zunächst dazu ausgebildet, ihre individualistischen Elemente wahrzunehmen, nämlich wie die Heilung mit den verschiedenen abgespaltenen Teilen des "Ich's" umgeht. Diesbezüglich folgt die Therapie verschiedenen Linien: Sie versucht die Toleranz des Individuums für seinen bhuta zu stärken, indem man dem Geist seinen Schrecken nimmt. Die Patienten und ihre Familien tauschen in diesem Zusammenhang innerhalb und außerhalb des Tempelbezirkes detaillierte Patientengeschichten aus, und wenn sich zwei Patienten auf der Straße begegnen, ist die Frage "Wie geht es deinem bhuta?" sowohl eine akzeptable Begrüßung als auch eine Form, sich nach dem Befinden des anderen zu erkundigen. Die möglichen Reaktionen auf eine solche Frage - "noch keine Veränderung", "es macht sich" - haben viel Ähnlichkeit mit den sachlichen Bemerkungen zwischen zwei Physikstudenten über den Fortschritt ihrer Experimente. Das Wichtige ist, daß Besessenheitskrankheit und die Anwesenheit von Geistern auf eine direkte, unkomplizierte Weise akzeptiert wird. Wenn die Pilgerherbergen für die Nacht ihre Pforten schließen, setzen sich Patienten und ihre Familien noch spontan zu kleinen Gruppen zusammen und diskutieren über die gegenseitigen Leiden. In solchen therapeutischen Gruppensitzungen werden die intimsten Einzelheiten über das Leiden des Betreffenden enthüllt, Spekulationen über den vermutlichen Ursprung des Geistes angestellt und das mögliche Ergebnis eines bestimmten Heilrituales erörtert. Abgesehen davon, daß sie den letzten Rest von Scham des Patienten über seine Krankheit abbaut, hat diese öffentliche Erörterung über sein Leiden zweifellos auch den Erfolg, daß die bösen Geister ihren privaten Schrecken verlieren. Gefühle der Angst und Furcht, die wir normalerweise im Zusammenhang mit den Geistern erwarten würden, fehlen völlig, während die Patienten beginnen, den Geist, der von ihnen Besitz ergriffen hat, spöttisch mit dem Diminutiv "bhutra" anzureden. Mit nachsichtiger Miene erzählt man den anderen, was der bhutra an einem bestimmten Tag während der Heilrituale im Tempel getan hat - als ob der bhuta ein ungezogenes Kind wäre, dessen Streiche man geduldig ertragen muß. Zusätzlich verweist man auf die potentiell wohltätige Natur des Geistes - dabei wird der bhuta ersetzt durch einen duta, den "Boten" des Gottes -, und es wird betont, daß böse Geister nur unglückliche pitris oder Ahnengeister sind, die Mitleid verdienen, nicht aber angstvolle Reaktionen. Psychoanalytisch ausgedrückt wird der unbewußte Gehalt der Psyche weder als fixiert und unwandelbar noch als bösartig und bedrohlich betrachtet, wie dies der Vorstellung des psychoanalyti11 Selbstorganisation, Bd. 7

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schen Es entspricht, sondern als grundsätzlich einer wohltätigen Verwandlung fähig. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Geister lediglich Angeklagte in Balajis Gericht sind und nicht außerhalb jeglicher Gesellschaft stehen. Die Gottheit ist schließlich ebenso Verteidiger, die die Interessen der Geister wahrnehmen muß, wie sie Richterin ist, die sie zu bestrafen hat. Auf der anderen Linie versucht das Erscheinen-Ritual, den Glauben des Patienten zur Gewißheit zu machen, daß seine bösen Eigenschaften und Regungen nicht in ihm, sondern außerhalb seiner sind; daß sie nicht ihm gehören, sondern dem Geiste. Der Umstand, daß fünfzehn von achtundzwanzig Patienten von einem muslimischen Geist besessen waren, deutet auf die Verbreitung dieser Projektion in dem Sinne hin, daß der Muslim die symbolische Darstellung des Fremden im hinduistischen Unbewußten zu sein scheint. Die Besessenheit von einem muslimischen bhuta spiegelt das verzweifelte Bemühen des Patienten wider, sich selbst und andere davon zu überzeugen, daß sein Hunger nach verbotenen Speisen, ausschweifender Sexualität und unkontrollierbarer Wut dem muslimischen Zerstörer von Tabus angehört und von seinem eigenen "guten" hinduistischen Ich himmelweit entfernt ist. Der Fokus der Therapie ist nicht die jeweilige Aussage, sondern der Kontext, der Zusammenhang mit der Lebenswelt der oder des Kranken. Wenn wir an die vielfältigen Perspektiven denken, unter denen man seelische Krankheit betrachten kann - Krankheit als Ausdruck der Entfremdung vom körperlichen Normalzustand, Krankheit als Entfremdung vom Ich und Krankheit als Entfremdung von der sozialen Ordnung -, so sehen wir aus der obigen Beschreibung, daß das Heilverfahren in Balaji das Gewicht vor allem darauf legt, die Entfremdung des Patienten von seiner sozialen (und kosmischen) Ordnung aufzuheben. Viel von diesen Bemühungen durch Reintegration in die Gemeinschaft findet außerhalb der eigentlichen Heilungsrituale statt. Nach den Regeln des Tempels kann ein Patient nur dann in einer Herberge Unterkunft nehmen, wenn er mindestens eine Begleitperson bei sich hat. In Wirklichkeit sind es oft drei oder vier Familienmitglieder, die den "Kranken" auf seiner Pilgerfahrt begleiten. Viele Rituale, die im Tempel ausgeführt werden müssen, erfordern die aktive Mitwirkung dieser Familienmitglieder. Sie begleiten den Patienten von morgens bis spät abends bei den verschiedenen Heilritualen und leben in einer Umwelt, in der die Besessenheit (mit Fortschritten und Rückschlägen) das zentrale Thema ist, das alle interessiert. So verwischt sich allmählich der Unterschied zwischen einem "kranken" und einem "normalen" Familienmitglied. Es hat viele Fälle gegeben, in denen jemand, der einen besessenen Verwandten nach Balaji begleitet hatte, verhältnismäßig bald feststellte, daß er selbst von einem bhuta heimgesucht wurde und der Heilung bedurfte. Eine andere Brücke zwischen dem "Normalen" und dem "Kranken" bildet die Vorstellung der Geister-Übertragung. Wenn ein en-

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ger Verwandter des Patienten in Balaji betet, das Leiden auf sich zu nehmen, verläßt der bhuta oft den Patienten und ergreift von dem Betenden Besitz. Indem die Familienmitglieder zusammen mit dem Patienten an den Ritualen teilnehmen und mit den gleichen Geistern in Dialog treten, wodurch sie die Besessenheit auf sich selbst übertragen lassen, wird die Familie in die Heilung intensiv einbezogen. Wie jedes andere therapeutische System des Westens oder des Ostens, das vielen, aber nicht allen helfen kann, weiß auch die Tempelheilung Gründe dafür zu nennen, warum sie nicht so universell wirksam ist, wie sie es gern sein würde oder wie ihre Anhänger es vielleicht behaupten. In Fällen, in denen ein Patient erfolgreich den gesamten Ablauf von "Gesuch", "Erscheinung" und "Aussage" absolviert hat und trotzdem viele seiner ursprünglichen Symptome behält, wird gesagt, daß mehr als ein Geist im Spiel ist. In solchen Fällen wird vom Patienten erwartet, daß er das gesamte Ritual noch einmal von vorne durchmacht und es so oft wiederholt, wie er Geister hat, von denen er besessen ist. Den Rekord hält ein Mann, der von einundzwanzig Geistern besessen war! In anderen Fällen, in denen der Patient anscheinend von seinen Symptomen geheilt ist, aber wieder krank wird, sobald er nach Hause kommt, wird der Rückfall auf die tückische Natur des bhuta zurückgeführt, der gemeinerweise das feierliche Versprechen gebrochen hat, das er in Balaji gegeben hat. Bei schwereren Störungen, bei denen trotz aller Bemühungen das Erscheinen sich bestenfalls auf ein Hin- und Herschwenken des Körpers beschränkt, ohne daß es zu den dramatischen Kämpfen zwischen dem Guten und dem Bösen käme und ohne daß der Geist eine "Aussage" macht, besteht die angebotene Lösung darin, den Geist ein Jahr lang im Tempel in "Haft" zu halten. Der Patient kann dann zunächst seinen normalen Geschäften nachgehen, muß aber vor Ablauf des Jahres nach Balaji zurückkehren und die Heilrituale noch einmal wiederholen. Als direkte Suggestion, daß der Patient wenigstens ein Jahr lang gesund bleiben wird, wirkt die bhuta-Haft wie eine letzte verzweifelte Maßnahme und hat dementsprechend wenig Erfolg.

V. Ich möchte darauf verzichten, die Wirksamkeit der Tempelheilung und die der modernen Psychotherapie bei der Behandlung der unterschiedlichen Klassen von seelischen Störungen miteinander zu vergleichen, und mich nur darauf beschränken, die radikal verschiedenen Grundvoraussetzungen der beiden Methoden zu unterstreichen. Die Grundannahmen, die der westlichen Psychotherapie zugrundeliegen, sind zugleich die höchsten Werte des modernen Individualismus. So hat die Psychoanalyse "einen fast grenzenlosen Respekt vor dem Individuum; sie ist überzeugt, daß Verstehen besser ist als Illusionen; sie beharrt darauf, daß unsere Psyche dunklere Geheimnisse birgt, als wir uns eingestehen mögen; sie weigert sich, zu viel zu versprechen; und sie bewahrt sich einen Sinn für die Komplexität, die Tra11*

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gik und die Wunder des menschlichen Lebens. ,,5 Die Werte, die der traditionellen Tempelheilung zugrunde liegen, betonen dagegen, daß der Glaube an und die Unterwerfung unter eine Macht, die größer ist als der Einzelne, besser sind als individuelle Bemühungen und Kämpfe und daß die Quelle der menschlichen Kraft darin liegt, sich harmonisch in die eigene Gruppe zu integrieren, die Werte der eigenen Gemeinschaft und deren gegebene Ordnung zu vertreten, den Göttern der Gemeinschaft zu gehorchen und die Traditionen der Gemeinschaft zu verehren. Ich bin, wie gesagt, von der Korrespondenz zwischen dem Menschenbild einer Kultur und den dazugehörigen Therapievorstellungen sehr beeindruckt. Das der westlichen Psychotherapie zugrunde1iegende Bild des Menschen konzipiert ihn als individuelle (unteilbare) Natur, die sich selbst gleichbleibt, die in sich geschlossen ist und eine homogene innere Struktur hat. Nach indischer Auffassung ist der Mensch jedoch ein "Dividuum", d. h. teilbar. Das hinduistische Dividuum ist offen, mehr oder weniger flüssig und nur zeitweise integriert. Es ist keine Monade, sondern (mindestens) eine Dyade, welche ihre persönliche Natur aus zwischenmenschlichen Beziehungen ableitet. Nach dem Menschenbild der hinduistischen Kultur besteht der Mensch aus Beziehungen. Alle Affekte, Bedürfnisse und Motive sind bezogen, relational, und Leiden des Menschen sind Störungen von Beziehungen, nicht nur der mitmenschlichen, sondern auch der Beziehungen zu den natürlichen und kosmischen Ordnungen. Dieses Bild des Menschen ist in indischen, astrologischen, biologischen, moralischen und psychologischen Texten allgegenwärtig. Beispielsweise wird im indischen Bild vom Körper der innige Zusammenhang zwischen Körper und Kosmos betont. Wie es ein aus dem 19. Jahrhundert stammender bengalischer Text über den Körper ausdrückt: "In diesem Universum gibt es ein großes Rad der verwandelnden Kraft, das sich unablässig dreht. Die kleinen, einzelnen Räder der verwandelnden Kraft in den Körpern von Lebewesen sind mit diesem Rad verbunden. Wenn sich ein großes, dampfgetriebenes Rad als Antriebskraft bewegt, bewegen sich alle Teile der Maschine mit und erfüllen reibungslos ihre Aufgaben. Ähnlich ist es mit den kleinen Rädern der verwandelnden Kraft, die sich, durch die Verbindung zum großen Rad, im Körper der einzelnen Lebewesen bewegen: sie helfen mit bei der Erfüllung von Körperfunktionen wie der Regulierung des Blutkreislaufs, der Verdauung der Nahrung, dem Einatmen und Ausatmen, der Vorwärts- und Rückwärtsbewegung. ,,6 Das indische Körperbild betont einen unablässigen Austausch des Körpers mit der Umwelt, der gleichzeitig mit unablässiger Veränderung innerhalb des Körpers einhergeht. Wie Francis Zimmermann schreibt: "Es gibt keine Landkarte, keine Topographie des Körpers, sondern nur eine Ökonomie, d. h. Ströme, die hereinkommen oder hinausgehen, in einem (Empfänger) verweilen oder durch (Kanäle) fließen.',7 Die 5 Virginia Adamas, Freud's Work Thives as Theory, Not Therapy, in: The New York Times, 14. August 1979. 6 Rasna-dhan Cattopadyaya, The Doctrine of the Body (1878), in: Ralph Nicolas (Hrsg.), Department of Anthropology, University of Chicago (unveröffentlichtes Manuskript, S. 31).

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westliche Vorstellung hingegen ist diejenige eines Körpers, der sich gegen die übrigen Objekte in der Welt deutlich abhebt und von ihnen klar unterscheidet. Diese Betrachtungsweise, bei der der Körper einer uneinnehmbaren Festung gleicht mit einer nur begrenzten Anzahl Zugbrücken, die einen losen Kontakt zur Außenwelt aufrecht erhalten, hat für die Psychotherapie Konsequenzen. Es bedeutet etwas ganz anderes, ob das Selbst (und dessen Prozesse) "innerhalb" des Körpers liegen (wie dies nach westlicher Auffassung der Fall ist), ober ob es sich mit seinen Prozessen außerhalb der Grenzen der eigenen Haut und der eigenen Person befindet, wie in der indischen Sichtweise. Es sind dies zwei grundverschiedene kulturelle Orientierungen. Auch wenn die Mehrzahl der Patienten, die sich in Indien einer Psychotherapie im modemen Sinn unterzieht, aus der gebildeten Bevölkerung der Städte stammt, ist ihre traditionelle Orientierung immer noch die natürlichste Sichtweise für die Betrachtung des Selbst und der Welt. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Familienmitglieder, welche den Patienten zum Erstgespräch begleiten, seine Autonomie als eines der wichtigen Symptome verstehen und darüber klagen. Der Vater und die ältere Schwester eines 28-jährigen Ingenieurs, der unter einer psychotischen Episode litt, beschreiben als Hauptproblem dessen unnatürliche Autonomie: "Er ist sehr stur in seinen Vorhaben, ohne unseren Wünschen Rechnung zu tragen. Er glaubt, sein eigenes Leben und seine Karriere seien wichtiger als die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder." Für den westlichen Psychotherapeuten wäre eine solche Einstellung ein Merkmal psychischer Gesundheit. Mit ihrer Betonung des Individuellen und mit ihren Metaphern der Heilung in der Sprache wissenschaftlicher Experimente und rationaler Aufdeckung ist es verständlich, daß viele Formen westlicher Psychotherapien einen bereits isolierten Patienten im Laufe einer von wissenschaftlichen Theorien geleiteten Behandlung in eine noch isoliertere Lage bringen. Die indische, kulturelle und kontextuelle Betrachtungsweise hingegen verlangt, daß eine Therapie öffentlich ist. Die Therapie erfordert ein polyphones, soziales Drama, das eine rituelle Wiederherstellung des Dialogs, nicht nur mit dem Patienten, sondern auch mit der Familie, der Gemeinschaft und ihren Göttern anstrebt. Ich möchte jedoch hier keine vereinfachte Polarität zwischen der hinduistischen Vorstellung einer dividualen, interpersonalen und transpersonalen Natur des Menschen und der westlichen Vorstellung einer individuellen, autonomen Natur vertreten. Die beiden Auffassungen sind komplementär und finden sich in allen großen Kulturen der Menschheit. Aber eine bestimmte Kultur betont jeweils über einen längeren, geschichtlichen Zeitraum hinweg den einen oder anderen der beiden Schwerpunkte und läßt damit eine bestimmte Auffassung von Therapie in den Vordergrund treten. 8 7 Vgl. Sudhir Kakar, Psychoanalysis and Non-Western Cultures, in: International Review of Psychoanalysis 27 (1989), S. 312 - 324. 8 Weiterführend hierzu Catherine Clement / Sudhir Kakar, Der Heilige und die Verrückte. Religiöse Ekstase und psychische Grenzerfahrung, München 1993.

Krebs und Gesellschaft* Von Christa Wolf, Berlin

Was berechtigt mich, hier zu Ihnen zu diesem Thema zu sprechen?' Kaum mehr, als was beinahe jede und jeden dazu berechtigen würde: Ich kenne oder kannte Menschen, die an Krebs erkrankten und von denen viele starben, nahe Verwandte darunter, Freundinnen, mit denen ich auf ihre Befunde gewartet habe, die ich im Krankenhaus besuchte, mit denen ich manchmal über Monate das Auf und Ab des Krankheitsverlaufs erlebte, die ich kurz vor ihrem Tod sah. Ihre Gesichter tauchten zuerst vor mir auf, als mich die Einladung zu diesem Vortrag erreichte. Ich dachte an meine Beziehungen zu diesen sehr unterschiedlichen Menschen; ob und wie sich diese Beziehungen durch die Krankheit veränderten, ob ich mich dieser Veränderung gewachsen gezeigt hatte. Dann fielen mir Buchtitel ein, ich sah, daß eini-

* Vortrag anläßlich der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft im November 1991 in Bremen. Im Auftrag der Autorin wurde der Text seinerzeit vom Herausgeber dieses Bandes zum Druck in der Jahresschrift für skeptisches Denken "Scheidewege" 22 (1992/ 93) vorbereitet und mit Anmerkungen versehen. Der Autorin und dem Verlag Duncker & Humblot sei sehr herzlich für das Einverständnis zum erneuten Abdruck gedankt. Text und Anmerkungen blieben unverändert. 1 Zur Überraschung oder auch Verwunderung mancher Leser mag dieser Text zur Entdekkung einer leider noch immer wenig wahrgenommenen ,anderen Seite' des reichhaltigen Schaffens von Christa Wolf verhelfen. Von ihr selbst als ein "Nebensproß" ihrer Arbeit bezeichnet, lassen dieser und ähnliche Texte sehr viel deutlicher als manch belletristisches Werk die zwar etwas verborgenen, aber um so authentischeren Intentionen Christa Wolfs erkennen; eben jene Beweggründe und Absichten ihres Schreibens, die weder in der jüngeren Feuilleton-Debatte noch in der früheren DDR-Rezeption eine Rolle spielten. Dies läßt die Vermutung zu, daß es sich hierbei um Dinge handelt, die ihren Ort schon immer jenseits der vordergründigen Ost-West-Trennungen hatten und gerade dadurch den alten wie auch den neuen Ideologen verdächtig, wenn nicht sogar gefährlich erscheinen. In Kürze gesagt, geht es um eine kritische Hinterfragung der Strukturen unserer modernen industriellen Zivilisation. Doch sind hier nicht nur die offenkundig krisenträchtigen ökonomischen und politischen Strukturen gemeint, sondern vielmehr die ihnen vorausgehenden, vielfach übersehenen und verdrängten mentalen Strukturen unserer modernen Kultur- und Lebensformen. Insofern gewinnt die Frage nach dem Verhältnis von Krankheit und Gesellschaft eine über die kritikwürdige Situation der gegenwärtigen Medizin weit hinausgehende anthropologische und kulturphilosophische Bedeutung. So möge dieser Text dazu verhelfen, neben der zweifelsohne auch politischen Dimension im Werk Christa Wolfs jene andere, grundlegendere Dimension zu erkennen, die gleichwohl etwas mit der Frage nach dem Menschen, seinen Verfehlungen, Gefährdungen, aber auch seinen Chancen zu tun hat.

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ge Bücher, in denen die Krankheit "Krebs" eine Bedeutung hatte, mir besonders wichtig gewesen waren. Mit wurde bewußt, daß in einem meiner frühen Bücher die zentrale Figur, Christa T., auch an Krebs erkrankt und stirbt, an "Blutkrebs", an Leukämie, und daß diesem Tod von einem Teil der westdeutschen Kritik damals eine symbolische politische Bedeutung zugemessen worden war. Dann dachte ich an meine über lange Zeit gehende kritische Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft, auch gelegentlich mit der "naturwissenschaftlichen" Medizin, an mein intensives, wenn auch laienhaftes Interesse für ein "neues Denken" nicht nur in der Politik, sondern auch in den Wissenschaften - ein Denken, das sich von verschiedenen Fachdisziplinen her auf ein überraschend, aufregend verändertes Bild von den Wirkungskräften in dieser Welt und von den Beweggründen in unserem eigenen Leben zuzubewegen scheint. 2 Über all das, wünschte ich mir, wollte ich hier sprechen ~ nie meine Inkompetenz vergessend, also hauptsächlich im Frageton. Zum Beispiel: Warum habe ich die Themenstellung dieses Vortrags - "Krebs und Gesellschaft" - überhaupt akzeptiert? Bin ich der Suggestion erlegen, daß zwischen dieser Krankheit und "der Gesellschaft" - uns allen - ein besonderer Zusammenhang existiert? Was aber, müßte ich mich dann fragen, sehe ich als ein ins Auge stechendes Merkmal unserer Gesellschaft an? Mir scheint da ein gewisses Sucht-Verhalten vieler von uns auffällig, ein Zwang zu Tätigkeiten und Unterlassungen, die wir nicht aufgeben oder, im Gegenteil, nicht in Angriff nehmen können, auch wenn wir wissen und täglich lesen, hören und uns zugeben müssen, daß wir auf diese Weise eine Richtung einschlagen, die manche Publizisten und Wissenschaftler mit dem selbstmörderischen Zug der Lemminge vergleichen. Was blockiert den direkten Weg zwischen unseren Einsichten und unseren Handlungen? Was hindert uns zum Beispiel, wenigstens jene Schadstoffe entscheidend zu vermindern, die direkt Krebs erzeugen? Was, Alternativen zum Atomstrom schneller zu entwickeln? - Ich habe mehrmals die enorme Fähigkeit Krebskranker zur Selbsttäuschung gesehen - auch solcher Menschen, die vorher gesagt hatten, sie würden in jedem Fall alles wissen wollen. Seit ich selbst einmal - wie sagt man doch - "an der Schwelle des Todes" war, wenn auch nicht durch Krebs, weiß ich, daß es Schwächezustände gibt, in denen man "die Wahrheit" physisch nicht erträgt. Aber was ist in solchem Fall "die Wahrheit"? Und: sollen, dürfen wir uns der Alltagssprache einfach überlassen, die sich nicht scheut, für unzumutbare Zustände 2 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier einige zumeist essayistische Texte genannt, die jene andere Seite des Werkes von Christa Wolf und deren langjährige Kontinuität dokumentieren: Lesen und Schreiben (1968), Der Schatten eines Traumes. Karoline von Günderrode - ein Entwurf (1978), Von Büchner sprechen - Darmstädter Rede (1980); Krankheit als Liebesentzug. Fragen an die psychosomatische Medizin (1984). Diese Texte sind allesamt in der sowohl bei Aufbau (Berlin, Weimar) als auch bei Luchterhand (Frankfurt a. M.) erschienenen Aufsatzsammlung: "Die Dimension des Autors" enthalten. Des weiteren seien noch die der Erzählung "Kassandra" vorangestellten Frankfurter Poetik-Vorlesungen "Voraussetzungen einer Erzählung" (1981) und der auf die Havarie in Tschernobyl bezugnehmende Text "Störfall. Nachrichten eines Tages" (1987) nebst einer nachgereichten Diskussionsdokumentation "Verblendung. Disput über einen Störfall" (1991) erwähnt.

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in den verschiedensten Bereichen - zum Beispiel Kriminalität in der Gesellschaft und "bösartiges" Zellwachstum - die gleichen Wörter zu benutzen: "entgleisen" etwa. Begeben wir uns auf einen Irrweg, wenn wir solchen Ahnungen von Analogien weiter nachspüren? I.

Lassen Sie mich Ihnen von einem Brief erzählen, der mich gerade heute erreichte. Jemand, den ich nicht näher kenne, schrieb mir von einem krebskranken Jungen, sieben Jahre alt, der nicht mehr lange leben werde und dessen größter Wunsch es sei, in das "Guiness-Book of Records" mit der größten Sammlung von "get-well"-Karten aufgenommen zu werden - ein Wunsch, der leicht zu erfüllen sei, wenn auch ich ihm eine solche Karte schreiben und dazu zehn weitere Personen meiner Wahl auffordern würde, ihm ebenfalls zu schreiben und ihrerseits wiederum, "nach dem Schneeball-Prinzip", zehn weitere Kartenschreiber zu verpflichten. Es mag mit unserem Thema zu tun haben, wenn ich versuche, die widersprüchlichen Empfindungen zu schildern, die der Brief in mir auslöste. Die Grundempfindung: Mitleid mit dem todkranken Jungen und eine mit Zorn untermischte vorgreifende Trauer um ihn, wurde geschnitten von einem durchdringenden Gefühl von Peinlichkeit, das ich aus Situationen kenne, in denen ich oder jemand anders ein ganz und gar unpassendes Verhalten an den Tag legen. Mehr noch: eine Beklemmung registrierte ich, die auch daher zu rühren schien, daß mir ja nichts ferner liegen, daß nichts "unangemessener" sein konnte als eine Kritik an dem vielleicht letzten Wunsch dieses Kindes. Nur: Wie konnte denn ausgerechnet dies sein letzter, glühender Wunsch werden: Rekordhalter zu sein in einer Disziplin, die nicht er, die die Krankheit zum Tode, der Krebs, ihm erfunden hatte; und daß anscheinend nicht die Zuwendung, das Mitgefühl der Menschen, die ihm schreiben, das wichtigste für ihn ist, sondern die Anzahl der Zu sendungen. Auf makabre Weise, dachte oder richtiger: empfand ich, ist dieser englische Junge ein Kind unserer Zeit und ihrer Verkehrtheit. Und ich bin es auch. Meinen gemischten Gefühlen versuchte ich Genüge zu tun durch gespaltenes Verhalten: dem Jungen schrieb ich die erbetene Karte; die zehn weiteren Briefe schrieb ich, strikte Gegnerin von "Schneeball"-Postsendungen, nicht. Hätte ich es doch tun sollen? Mein Unbehagen übergehen, das Rekordstreben des kranken Jungen unbedingt akzeptieren und unterstützen? Ich weiß es bis heute nicht. Ich werde mich hüten, irgendwelche direkten Zusammenhänge anzudeuten zwischen der Unfähigkeit von uns Bewohnern der Industrieländer zum Verzicht, unseren unkontrolliert wuchernden Bedürfnissen also, und der Unfähigkeit der Krebszellen, ihr unkontrolliertes Wachstum einzustellen. Auf dieser Ebene der Bilder, Analogien und Metaphern, für die die Erscheinung "Krebs", schon ihres überaus assoziationsbeladenen Namens wegen, sich anbietet und oft benutzt wird, sehe ich die Herausforderung meines Themas nicht. Das Plädoyer von Susan Sontag gegen

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"Krankheit als Metapher" will ich im Auge behalten, es aber auch befragen. Sprache ist ja gewiß ein gesellschaftliches Verhältnis. Wie reden wir denn eigentlich über Krebs? Reden wir überhaupt darüber?

o ja. Wenn man erst einmal angefangen hat, darauf zu achten, gewinnt man den Eindruck, neben AIDS ist Krebs ein Lieblingsthema der Medien. Diese Krankheit bedient die ganze Breite der Bedürfnisse von uns Konsumenten, die die Medien teils zum Mißbrauch erst schaffen, teils aber auch vorfinden und befriedigen: vom seriösen wissenschaftlichen - oder als "wissenschaftlich" getarnten - Interesse über unseren tiefen Hang zur Sentimentalität bis hin zur schlichten unverhüllten Sensationsgier. Der Wissenschaftler, der Arzt zum Beispiel, spricht im Fernsehen zu mir von den "drei Säulen der Krebsbehandlung", zu denen es keine Alternative gebe, und ich sehe vor mir ein von Marmorsäulen getragenes Tempeldach, unter dem sich die modeme Klinik verbirgt, mit ihren Tempeldienern, ihren Priestern und ihren Göttern in Weiß. Einmal habe ich in Griechenland einen Äskulap-Hain besucht, habe noch nach so vielen Jahrhunderten, in Natur und Stille eine Ahnung zu verspüren geglaubt vom Geist des Ortes, der mit Fasten, Reinigungsritualen, Heilschlaf und Traumstimulierung offenbar einem anderen Verständnis von Krankheit und ihrer Heilung anhing als unser Krankenhaus. Operation, Bestrahlung, Chemotherapie sind die drei "Säulen" der Krebsbehandlung, von denen der Spezialist sprach. Fürchten Sie nicht, daß ich mich im mindesten in diese therapeutische Strategie, wie sie ja oft genannt wird, einmischen werde. Daß die Fülle der alternativen Angebote, die es auch und gerade für Krebspatienten inzwischen gibt und die offenbar, obwohl die Schulmedizin ihre Wirksamkeit bestreitet, auch genutzt werden, ein Ungenügen an dieser Schulmedizin signalisiert, ist wohl nicht zu leugnen. Einer der Kritikpunkte scheint es mir zu sein, diese Medizin könne nur schwer jener Forderung nachkommen, die sie selbst anerkennen muß und die zur populären Binsenweisheit geworden ist: daß nämlich der Arzt nicht einen Blinddarm, eine Galle oder eben einen Krebs zu behandeln habe, sondern den "ganzen Menschen". Die Person, ja sogar: die "Persönlichkeit". "Ganzheitliche Medizin" also, aber was ist das? Was gehört alles dazu? Und beginnt auch sie nicht im Gespräch zwischen Arzt und Patient, also bei der Sprache? 11. Oft wird das Wort "Krebs" ja in diesen ersten Gesprächen vom Arzt nicht verwendet. Ein günstiger Befund wird als "nicht bösartig" bezeichnet, ein ungünstiger wird - oder wurde? - häufig mit der rätselhaften Formel: "auf der Grenze" umschrieben, wonach dann allerdings das ganze Arsenal der Behandlungsmethoden, das zum Einsatz gebracht wird, den Patienten ohne Worte über die Meinung belehren müßte, die sein Arzt von seinem Zustand hat: Das Messer "spricht" anstelle des Wortes; das Wort "Krebs" ist bei aller fortschreitenden Aufgeklärtheit, bei aller Beherztheit, mit der es beim Schopf gepackt und in die Illustrierten gezerrt wird,

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unter Betroffenen ein Tabu geblieben; die nicht geringen Bestände magischen Denkens und Fühlens in uns schrecken vor der alltäglichen Benutzung dieses Wortes zurück, als bedeute, es aussprechen, sich die Krankheit an den Hals zu reden. Wir benutzen Maschinen zur Textverarbeitung, neuerdings auch ich, wenn ich nun aber diesem Text hier einen Code-Namen geben soll, dann meide ich das naheliegende und unverwechselbare Wort "Krebs" und wähle stattdessen das neutrale, wenn auch um so viel weniger charakteristische "Vortrag". Aber ist es nicht wirklich gefährlich? Hat nicht jeder Arzt erlebt, daß dieses Wort einen Menschen umbringen kann? Ist es nicht für viele noch immer ein Synonym für Hoffnungslosigkeit? Und kann Hoffnungslosigkeit nicht töten? Maxie Wander, deren Buch "Leben wär' eine prima Alternative" nach ihrem Tod eine große Wirkung hatte, schreibt, ehe sie ihre Diagnose kennt: "An Krebs zu denken ist, als wäre man in einem dunklen Zimmer mit einem Mörder eingesperrt. Man weiß nicht, wo und wie und ob er angreifen wird." Genauer kann man es wohl nicht ausdrücken. Nach der Operation dann sieht sie sich genötigt, ihre wahren Gefühle zurückzudrängen, um der Wahrheit willen, um die sie kämpft: "Wenn du Theater machst, sagen sie dir nie die Wahrheit. Also Mut vortäuschen, Ausgeglichenheit, Heiterkeit. Und das hab ich durchgehalten." Die Ärztin spricht ihr dann von "Unruheherden", die "sehr verstreut" gewesen seien und "zur Vermehrung" neigten. "Natürlich lügt sie," schreibt Maxi Wander. "Die Aussicht, in die Station V verlegt zu werden, die Geschwulstabteilung (deren Namen nie genannt wird!), alarmiert mich." Und dann ist sie, wo sie "hingehört", "auf der Krebsstation." Neun Jahre von ihrer eigenen Erkrankung war das Buch mit diesem Titel von Alexander Solschenyzin in deutscher Sprache erschienen, auch sie wird es gelesen haben. Jetzt erst sah ich, daß man Sätze aus diesen so unterschiedlichen Büchern gegeneinander austauschen könnte - nicht nur, weil es anscheinend Gesetzmäßigkeiten gibt in der Art und Weise, wie Krebskranke sich mit den verschiedenen Phasen ihrer Krankheit auseinandersetzen; sondern auch, weil die Autoren dieser beiden Bücher miteinander gemeinsam haben, daß sie wahrheits- und wirklichkeitssüchtig sind. Kostoglotow, der Mann, der aus dem Lager und aus der Verbannung kommt, besorgt sich ein Lehrbuch der pathologischen Anatomie, er will Bescheid wissen, "nicht wie Kaninchen den Ärzten Glauben schenken" müssen. Bedrückend, mit anzusehen, wie Patienten einen Teil der Kräfte, die sie brauchen könnten, um mit der Krankheit fertig zu werden, daran wenden müssen, aus dem Halbdämmer, in dem man sie schonend - doch wer wird da geschont - zu halten sucht, in das grelle Licht der Realität zu kommen. Dieses Grübeln über Andeutungen. Maxi Wander: "Was die Ärzte sagen in den nächsten Tagen deutet nicht nur auf Krebs hin, das ist jetzt sowieso eindeutig, sondern daß sie offenbar nicht alles erwischt haben. Ich entnehme es ihren wortkargen Sätzen, die ich ihnen nach und nach entreiße. Warum schauen sie sich die Menschen nicht an? Warum kann man dem Kranken seine Lage nicht besser erklären?" Später dann, da sie weiter rastlos auf der Suche nach ihrer wirklichen Diagnose ist, wird man dazu übergehen, ihr gefälschte Krankenblätter, gefälschte Krankenscheine unterzuschieben, und sie wird hin- und hergeris-

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sen sein wie alle: "Wahrscheinlich ist es doch richtig, wenn die Ärzte ihre Befürchtungen für sich behalten und den wahren Befund verschweigen. Wenn ich wüßte, daß Krebszellen in der Lymphe sind, ich würde allen Lebensmut verlieren."

III. Hängt das weitverbreitete Unvermögen, mit der Wahrheit einer schweren Krankheit umzugehen, mit der eingefleischten (welch ein Wort!) Gewohnheit zusammen, uns über uns selbst, über unsere Rolle, über die Gesellschaft, in der wir leben, zu täuschen und täuschen zu lassen? Und damit, daß wir Krankheit nur als Einschränkung, nicht auch als Anstoß zu tieferer Nachdenklichkeit sehen können? Auf menschliche Weise einer Schwäche, einem Zusammenbruch, einem Sinnverlust, einem Versagen und einer Niederlage zu begegnen, wird uns Konkurrenten nur in Sonntagsreden gelehrt. Die Muster, die automatisch funktionieren, sind nicht: Verständnis, Teilnahme und der Versuch, den anderen in seine Krise hinein zu begleiten, auf die Gefahr hin, sich selbst in Frage stellen zu müssen, sondern: Abwehr, Verleugnen, Verlassen, die Verantwortung den Institutionen zuschieben, sich abschotten, solange es geht. Dies sage ich, um das Verhalten mancher Ärzte als normal zu kennzeichnen, den Normen genügend, gesellschaftskonform. "Der Wahnsinn der Normalität", dieser Titel des in der Schweiz lebenden Psychoanalytikers Amo Gruen geht mir durch den Kopf, während ich dies schreibe. Ein radikaler Titel, ein Buch mit radikalen Thesen, die davon ausgehen, daß bei fast allen Mitgliedern unserer Kultur in frühester Kindheit durch die Koppelung von elterlicher Liebe an das Wohlverhalten des Kindes eine folgenreiche Verkehrung stattfindet: die Pathologie der Anpassung, der Selbstaufgabe gilt weithin als "normales Verhalten" und wird belohnt, wogegen Auflehnung, gar Bestehen auf der Entwicklung autonomer Bedürfnisse als unnormal angesehen und mit Schuldgefühlen bestraft wird. Wir müssen nur in uns hineinblicken, um die frühe Quelle aller unserer Schuldgefühle zu finden; dramatischer aber, tragischer sind jene Leben, die es erst gar nicht zum Konflikt, zur Auflehnung und zur Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen kommen lassen, die sich unter Anpassungsdruck von ihren wahren Bedürfnissen abtrennen, in das Netz einer trügerischen Realität geraten und im eigentlichen Sinn nicht gelebt werden. Wie sollen wir je erfahren, wieviel von dieser Selbstverleugnung und Selbstzerstörung im sozialen und psychischen Bereich jede einzelne Zelle unseres Körpers "weiß", und ob und wie sie sich damit auseinandersetzt? Wie können wir wissen, ob nicht unser Körper der Austragungsort für die Widersprüche ist, in die jeder von uns angesichts unzumutbarer Ansprüche der Gesellschaft im weitesten Sinn gerät, angesichts des drohenden Integritätsverlustes, wenn es der Person nicht gelingt, sich gemäß ihrem Wertesystem mit diesen Widersprüchen auseinanderzusetzen ? Wie können wir hoffen, "Gesundheit" zu erfahren im körperlichen Bereich, wenn wir aufgehört haben, um die Integrität unserer Person zu kämpfen?

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Der Autor des Buches "Mars", Fritz Zorn, behauptet bündig, " ... daß die Schäden, die durch eine falsche Erziehung hervorgerufen worden sind, so groß werden können, daß sie in ihren extremsten Formen (wie das nun bei mir der Fall zu sein scheint), sich auch als neurotisch bedingte Krankheiten, zum Beispiel Krebs, manifestieren können". Seinen Tumor betrachtet er als "verschluckte Tränen": "Das ganze angestaute Leid, das ich jahrelang in mich hineingefressen hatte, ließ sich auf einmal nicht mehr in meinem Innern komprimieren; es explodierte aufgrund seines Überdruckes und zerstörte bei dieser Explosion den Körper. - Diese Erklärung des Krebses scheint schon deshalb einleuchtend zu sein, weil es eigentlich keine andere gibt. Die Ärzte wissen zwar eine Menge über den Krebs, aber was er wirklich ist, wissen sie nicht. Ich glaube, daß der Krebs eine seelische Krankheit ist, die darin besteht, daß ein Mensch, der alles Leid in sich hineinfrißt, nach einer gewissen Zeit von diesem in ihm steckenden Leid selbst aufgefressen wird. Und weil ein solcher Mensch sich selbst zerstört, nützen auch die medizinischen Behandlungsmethoden in den meisten Fällen überhaupt nichts."

IV. Unter den "Krebsbüch1ein", wie Peter Noll, auch ein Schweizer, die inzwischen unübersehbare Literatur von Betroffenen über ihre Erfahrungen mit dieser als verhängnisvoll, unheimlich empfundenen Krankheit nennt (autobiografische Krankengeschichten wie auch sein eigenes Buch: "Diktate über Sterben und Tod"), repräsentieren "Mars" von Fritz Zorn und "Krebsstation" von Alexander Solschenyzin die gesellschaftlichen Extreme. Kann es überhaupt weiter auseinanderklaffende Lebensläufe geben als den des Sohns einer schwerreichen Schweizer BürgerfamiHe und den des besitzlosen Sträflings aus dem Gulag, den des total Rechtlosen, Verbannten? Wo sollen wir einen gemeinsamen Nenner suchen, der, wenn wir das Diktum von Fritz Zorn über die Entstehung von Krebs ernst nehmen wollen, in ihnen ist - aber was heißt das: "in ihnen"? Wo denn? Im Immunsystem? Im Gehirn? In der Seele? - offenbar unabhängig von den äußeren Lebensumständen den Boden bereitet hat dafür, daß die eine Zelle, oder die kleine Gruppe von Zellen, von der Immunabwehr unerkannt ihr verrücktes Wachstum weitertreiben konnten. Ein Wachstum, das nicht Fortschritt ist, an dem unser Maß für Fortschritt versagt. Sind es vielleicht - ich frage das mit aller Vorsicht - die falschen Normen und der übermächtige Druck, sich ihnen anpassen zu sollen, in denen die Extreme sich berühren und die in so unterschiedlichen Männern wie Zorn und Solschenyzin ähnliche oder gleiche Erfahrungsmuster anlegen? Krebs, sagt Adolf Muschg in seiner im Wortsinn treffenden Einleitung zu dem Buch von Fritz Zorn - Krebs sei eine "Krankheit in Anführungsstrichen", die auf verwirrende Weise auch keine sei, sondern ein "asozialer Prozeß der biologischen Norm." Und Asozialität ist ja in unseren Gesellschaften kriminell. Also gehen wir mit einem Arsenal von Kampfmitteln dagegen vor - Gewalt gegen Gewalt -, die

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wir auch nur in der Polizei- und Militärsprache beschreiben können: "Wunderwaffe gegen Krebs am Horizont?" - "Computerbilder entlarven den Tumor". - "Nach drei Monaten verlor M. L. seinen schwersten Kampf." - "Generalangriff auf Tumor mit Laserstrahlen?" - "Flächendeckendes Vorgehen gegen Krebs." - "Geschwulst-Stützpunkt eröffnet die Schlacht gegen den Krebs." - "Kampf mit dem Florett: In der Krebstherapie wird eine neue Front eröffnet: Die Molekularbiologen hoffen auf zielsichere ,Lenkwaffen ' gegen Tumore." Wie auch sonst im Leben gehört zwingend zum martialischen, unpersönlichen Denken und Sprechen, als die andere Seite der Medaille, das gefühlige Gerede in sentimentalen Klischees: "Gino (4) hat Krebs: Staat verweigert Mutter Pflegegeld. " - "Was müssen Eltern noch erdulden? Kampf um krebskrankes Kind mit Behörden." - Little Joes letzter Wunsch: Ein Grab neben Papa Cartwright." Dies ist, wie in jedem anderen Krieg auch, die psychologische Kriegführung, die mit den Emotionen des Gegners ihr Spiel treibt. Nur daß in diesem Krieg die Fronten eigentümlich verwischt sind und der Schlagzeilenproduzent der Boulevardpresse sich immer gegenwärtig halten muß, daß seine Überschriften mit der verhaßten Krankheit auch manchen Leser "schlagen", die Träger dieser Krankheit sind.

V. Zu fragen ist, warum sich der Krebs - trotz der Konkurrenz durch AIDS und neben so vielen anderen Gruselmitteln - so wacker und verläßlich im Instrumentarium zum Hervorkitzeln von Angst behauptet. Warum er, trotz des Einspruchs von Susan Sontag, so überaus geeignet bleibt zum Gebrauch als Metapher, und zwar nicht durch irgendwen. Heinrich Böll zum Beispiel sagt in seinem Vorwort zu Solschenizyns "Krebsstation" von dem bis ins Mark verdorbenen Rusanow, einem engstirnigen Funktionär, der übrigens die Wahrheit über seine Krankheit am schlechtesten von allen erträgt: Dieser Mann sei "eine gesellschaftliche Krebsgeschwulst". Und in den frühen Tagebüchern von Maxi Wander steht der Satz: "Der Krebs der Gesellschaft sind diese miesen Beamtentypen, jede Gesellschaft bringt sie hervor, warum nicht auch unsere." - "Krebsartig", "bösartig", "von Metastasen durchsetzt" hören, lesen, sagen oder schreiben wir beinahe täglich. Nur wie Beispiele aus der Zeitschriften- und Zeitungslektüre, nicht ganz willkürlich ausgewählt: Da fordert ein Autor, "die Dominanz der Steuerung durch das Medium Geld" müsse "vernünftig eingeschränkt werden" und dürfe "nicht weiterhin krebsartig in alle Bereiche des Lebens einsickern." Und der Vorsitzende der Berliner Ärztekammer äußert in einem Interview: "Heute ist die optimierte Abrechnung bereits wichtiger geworden als optimale Patientenbehandlung. Dies ist der Punkt, wo dieses System (der ,Einzelleistungshonorierung des Kassenarztes') mafios zu entarten droht. Die Mehrheit der Ärzte leidet unter diesem bösartigen Zwangssystem." Wie erleben eigentlich Ärzte ihren Wahnsinn der Normalität?

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Mein Eindruck jedenfalls, zusarnmengefaßt: Unsere Strategien, die Angst zu bändigen, führen uns in der Regel nicht näher an uns und die gern verdrängte Realität, in und mit der wir leben, heran, sondern sie führen uns immer weiter von uns weg, in immer neue tote Bereiche der Entfremdung - also, wenn unsere Vermutungen über einen Zusammenhang zwischen unserer Lebensform und unseren Krankheitserscheinungen zutreffen, auch wieder im Zirkelschluß zurück zu unseren Leiden. Auch zum Krebs. Den müssen wir, nachdem wir ihn zur Obsession haben werden lassen, nun wieder durch sensationelle Erfolgsmeldungen domestizieren ("Wachstumsfaktor beim Brustkrebs entdeckt". "Endlich Schwachstelle beim Krebs aufgedeckt"), oder wir müssen ihn mystifizieren ("Das große Rätsel Krebs". "Misteltherapie, heilige Pflanze gegen den Krebs."). Stark scheint zu meiner Überraschung auch der Hang zu sein, den Krebskranken selber die Schuld an ihrer Erkrankung zuzuweisen. "Denn Schuld ist heutzutage das steinerne Herz von neun Zehnteln sämtlicher klinisch diagnostizierter Krebsfälle in Amerika", schreibt die amerikanische Autorin Grace Paley. - Als Beweis dessen Überschriften, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: "An Krebs selber schuld" - 75 Prozent der Krebserkrankungen werde durch falsche Lebensweise verursacht: Die Armut kommt von der Pauvrete; wo aber die Wurzel von beiden ist, fragen wir lieber nicht. Womit wir bei der viel beschriebenen und viel beschrieenen "Krebspersönlichkeit" wären. Wenn man nicht der Einfachheit halber alle Frauen unter die Stigmatisierten rechnet: "Der Krebs, eine weibliche Krankheit" - dann hat man mit Hilfe der Psycho-Onkologen eine stattliche Reihe von Merkmalen zusammengetragen, die die Krebspersönlichkeit charakterisieren sollen: Sie sei "um Anpassung bemüht", zeige eine "Neigung zum Schwernehmen, zu Resignation und Entmutigung, zu Zwanghaftigkeit und Pseudo-Selbstlosigkeit"; bezeichnend für sie seien ein "Nicht-Stehen zu sich, Starrheiten, Verdrängung von Emotionen," ein "NichtEingestehen der eigenen Wünsche, um nach außen gut dazustehen", eine "Diskrepanz zwischen innen und außen, bei der eine positive Fassade negative Inhalte verdecke, wodurch es notwendig" werde, "einen immer dickeren Deckel über die egoistischen Motive und Ziele zu stülpen", so daß der Autor des Artikels, den ich zitiere, nicht umhin kann, sich an die gespaltene Romanfigur des Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnert zu fühlen, "wobei der wohlanständige Bürger nach außen gekehrt und der brutale Verfolger der Nächsten, die Nachtpersönlichkeit, nur in Gedanken oder unbemerkt gelebt wird." Diese beinahe eifernde Aussage finde ich hilfreich, weil sie deutlich macht, daß die sogenannte Krebspersönlichkeit niemand anders ist als der Normalbürger mit seiner Persönlichkeitsspaltung, als der das Doppelwesen des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, das Robert Louis Balfour Stevenson 1886 zu Papier brachte, seither auch immer verstanden wurde. Interessant, daß dieses weithin gültige Psychogramm nur einer gewissen Gruppe zugeteilt wird, als solle sie auf sich nehmen, woran die ganze Gesellschaft krankt, und als kranke dann der übrige, "gesunde" Teil nicht mehr so stark an den Übeln, die die Leistungsgesellschaft uns allen auferlegt. Wir scheinen Grund zu haben, darauf zu achten, daß das in Krisenzeiten übermächtige Be-

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dürfnis großer Teile der Gesellschaft, das sich ja immer gegen die jeweils Schwächeren richtet, sich nun nicht auch noch an der "Krebspersönlichkeit" gütlich tut, indem es die ungeliebten Teile unserer eigenen Persönlichkeit aus dem eigenen Wahrnehmungsfeld und auf jene "anderen" schiebt, die Gott sei Dank nicht wir sind. Und die wir, womöglich, genauso wenig lieben können wie die als schuldhaft erlebten Züge an uns selbst.

VI.

Stellt vielleicht diese Krankheit nicht nur den Kranken vor existentielle Fragen, sondern auch jene, die mit ihm zu tun haben, Angehörige, Ärzte, uns alle und die Zusammenhänge, die Normalität, in der zu leben wir gewöhnt sind? Wäre es denkbar, daß wir uns zugunsten dieses uns unentbehrlich gewordenen Normalverhaltens verleiten lassen, auch mit dem Signal "Krebs" auf eine unangemessene, hilflose Weise umzugehen? Seit Galilei das Losungswort ausgegeben hat: "Die Natur zerschneiden !"; seit die Naturwissenschaftler, unter ihnen die Mediziner, überzeugt, der Realität um so näher zu sein, je winziger die "Bausteine" sind, die sie, isoliert, unter dem Mikroskop vor sich haben, diesem Befehl nachkommen; seitdem kein anderes Urteil sie härter treffen kann als das: "Unwissenschaftlich" - seitdem hat sich für dieses Denken und Tun eine Sprache entwickelt, die für ebenso "normal" gilt wie die Praxis, der sie entstammt und die sie bestärkt und befestigt. Etwa so: "Global könnte praktische Psycho-Onkologie als eine Strategie bezeichnet werden, deren Charakteristikum die Amplifizierung des Erlebens und Handeins auf seiten aller Interaktionsbeteiligten ... ist - unter ausdrücklicher Wahrung ethischer Prinzipien." Meinen Versuch, diesen Satz umzuformen, mußte ich aufgeben, da ich ihn nicht verstehe. Ist Einfachheit von vorneherein verdächtig? Müssen wir mit der Fachsprache die Stille übertönen, die wir brauchen würden, um unserer Körpersprache zu lauschen? Jener Sprache, die Georg Groddeck die "Sprechweise des ES" genannt hat: "Es versteht sich von selbst, daß das ES, wenn es mit einfachen Mitteln seine Ziele nicht erreicht, oder wenn der Ziele zu viele und zu schwierige sind, nicht bei der einfachen Verstopfung oder der einfachen Heiserkeit stehenbleibt, sondern zu Blinddarmvereiterungen, zu Bauchfellentzündungen, zu Darmverschluß, zu Kehlkopfgeschwülsten, zum Krebs greift." Noch einfacher, noch unwissenschaftlicher der Satz von Paracelsus, den ich nun auch noch zitieren will: "Der höchste Grad der Arznei ist die Liebe." Ist es denkbar, daß die allermodernste Medizin sich auf einer großen Zeitschleife, all ihre nützlichen, unentbehrlichen Geräte und Methoden mit sich führend, diesem Satz wieder nähert? Ich habe mir erlaubt, mich auch in Büchern von Ärzten umzusehen, die nicht Onkologen sind, zum Beispiel in ,,Zeit des Erwachens" von Oliver Sacks, den seine Beobachtungen an Patienten, die an dem postenzephalatischen Syndrom litten und spektakuläre Veränderungen nach der Behandlung mit

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dem Medikament L-DOPA zeigten, dazu geführt haben, dem mechanischen, dem nichtbiografischen Behandlungsansatz und damit der "Fließband-Medizin" tief zu mißtrauen. Da heißt es: "Der Dialog über die Befindlichkeit einer Person kann nur in menschlichen, vertrauten Begriffen geführt werden, nur dann, wenn es eine direkte und menschliche Begegnung gibt, d. h. eine ,1ch-Du-Beziehung' zwischen Ärzten und den Patienten." "Es gibt nichts Lebendes, das nicht individuell ist", schreibt er. "Die modeme Medizin jedoch ignoriert unsere Existenz, indem sie uns auf identische Kopien reduziert, die auf feste ,Reize' in starrer Weise reagieren, oder indem sie unsere Krankheiten als ausschließlich fremdbestimmt und schlecht betrachtet, ohne organische Beziehung zur kranken Person." Sacks wünscht sich die Erzählung einer Krankengeschichte als "eine ideale Kombination von Wissenschaft und Kunst". Also geniert er sich gar nicht, Wörter zu gebrauchen, die man sonst eher in der Belletristik suchen würde, Wörter wie "Einfühlung", "Nachdenklichkeit", "Verständnis"; ja: "Ehrfurcht", "Heimsuchung" und "Erschütterung" kommen bei ihm vor, Moral und Gefühl werden aufgerufen, vom "kreativen Impuls" ist die Rede, und ähnlich wie der Künstler scheint dieser Arzt nicht auszukommen ohne jenes unmeßbare Ding, jenes Unding, das wir "Inspiration" nennen.

VII.

Sollten die beiden Zweige am Baum der Erkenntnis, die am weitesten auseinanderstreben, einander wieder näherkommen können? Sollten Wissenschaft und Kunst wieder zu einer gemeinsamen Sprache finden können? Worüber aber, wenn überhaupt, sollten sie sich zuerst verständigen können als über "den Menschen", über jenes weitgehend unbekannte Wesen, das sich den naturwissenschaftlichen Methoden, dem Isolieren, Zerschneiden, Messen und Zählen, das sich seiner Aufhebung als Abstraktum erfolgreich entzogen und sein Refugium in der Kunst gefunden hat? Alles hängt davon ab, was in einer Kultur, der gesellschaftlichen Konvention gemäß, für "real" erklärt, geglaubt und jedem neuen Mitglied dieser Kultur mit seinem ersten Atemzug aufgeprägt wird, so daß es möglichst sein Leben lang unbeirrbar und ohne die Spur eines Zweifels an dieser Realitätsschiene entlanggleitet, allerdings, wie wir es jetzt im zusammengeschlossenen Deutschland erleben, meist aggressiv reagiert, wenn dieses Weltbild ihm zerschlagen wird. Wie aber sollen wir, wie soll auch der Arzt mit der Auflösung aller Gewißheiten leben, die "Realität" betreffend? Was fangen wir mit der Botschaft der Physiker an, daß es buchstäblich keinen festen Boden unter unseren Füßen gibt? Daß die berühmten "kleinsten Teilchen" einmal als Welle, ein anderes mal als Korpuskel erscheinen und daß, wie der Physiker Hans Peter Dürr es ausdrückte, "die Wirklichkeit oder das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, in ihrer Form und Struktur wesentlich von den Methoden und Instrumenten abhängt, mit deren Hilfe wir eben diese Wirklich12 Selbstorganisation, Bd. 7

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keit wahrnehmen". So daß, wenn Schärfe, Eindeutigkeit und Exaktheit der Aussage, also auch der Diagnose, höchstes Ziel sind, ein Vorgang, ein Organ, eine Störung aus ihrem Beziehungsfeld herausgelöst und ohne Bewertung und Emotionen untersucht werden müssen - dabei womöglich in wesentlichen Qualitäten verkannt werden, zum Beispiel in ihrer überraschenden Indeterminiertheit. Dürr meint nämlich, das Verhalten eines jeden Teilchens sei im einzelnen nicht vorhersehbar, wenn auch aus dem Verhalten sehr vieler Teilchen in einer begrenzten Zeit ein statistischer Durchschnitt ermittelbar sei. Die Zukunft aber sei nicht determiniert; sie sei nicht einfach lineare Entfaltung der Gegenwart; sie sei "zukünftige Gegenwart": eine echte Neuschöpfung; allerdings sei der neue Schöpfungsakt nicht unabhängig vom vorhergegangenen: jede Gegenwart baue in Abhängigkeit von ihrer Struktur ein "Erwartungsfeld" für Realisierungsmöglichkeiten in nachfolgenden Gegenwarten auf. Erwartungsfeld - hier halte ich inne. Ein poetisches Wort, das ein ganzes Geflecht lebendiger Assoziationen in mir aufruft, das Saiten zum Schwingen bringt, die unter dem Verdikt von Endgültigkeit nicht bewegt worden wären: Vorher Undenkbares scheint plötzlich, als sei es immer vorhanden, nur versteckt gewesen, als aufregende Möglichkeit auf. Sollte es denn "wahr" sein können, daß das, was wir "Realität" nennen, nur die "geronnene Phase" einer unermeßlichen Potentialität der Wirklichkeit ist? "Materie" gewissermaßen die "erstarrte Schlacke eines lebendigen Geistes"? (Dürr) So sollten wir vielleicht auch unsere Fixierung auf den Krebs als "Granit der materiellen Vorgänge" (Viktor v. Weizsäcker) auflösen und den Versuch einer Umdeutung jenes Syndroms beginnen dürfen, das sich unter dem Fluchtnamen "Krebs", "ins Bewußtsein der meisten als körperliche Negativassoziation Nr. 1 eingegraben" hat?3

3 Nicht ohne Bestürzung muß festgehalten werden, daß die hier referierten Zusammenhänge zwar sehr modem erscheinen, gleichwohl aber bereits seit Beginn des Jahrhunderts innerhalb der Medizin in einer freilich eigentümlich verborgenen, vielleicht auch verdrängten Weise ,bekannt' sind. Viktor von Weizsäcker (1886-1957), dessen Werk dieser ,Verdrängung' weitgehend anheim fiel, erschien es völlig unzureichend, allein nach dem ,Was' der Krankheit zu fragen, vielmehr müsse nach dem ,Warum' der Krankheit gefragt werden, nach dem "Warum gerade jetzt", nach dem "Warum gerade so" und nach dem "Warum nicht anders". Die Biografie des kranken Menschen, seine soziale Einbindung, seine Konflikte gehören untrennbar zum Verstehen seines je einmaligen Krankseins hinzu. Daß sich ein solches Verstehen erst der ,eigentümlichen Erkenntnisform' der zwischenmenschlichen Begegnung erschließt, war für von Weizsäcker evident. Folglich bedeutete für ihn der "Liebesverlust" der objektiven Denkform zugleich auch einen "Wirklichkeitsverlust". Die Krankheit des Menschen galt ihm als "Anerbietung eines Wissens um die Wahrheit" des Menschen und seiner Lebensweise. Der interessierte Leser sei auf die seit 1986 bei Suhrkamp erscheinende Ausgabe der "Gesammelten Schriften" Viktor von Weizsäckers verwiesen. Zu den bemerkenswerten ,Parallelen' zwischen Viktor von Weizsäckers erkenntnistheoretischen Überlegungen und Einsichten und den naturphilosophischen Implikationen der Quantentheorie vgl.: C. F. von Weizsäcker, Gestaltkreis und Komplementarität, in: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart, Hirzel 1976, S.332-366.

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Vielleicht "hat" man Krebs erst, wenn man es weiß? Und kann man es dann vielleicht auch wieder verlernen, "Krebs" zu haben? Woher sonst die seltenen, doch unerklärlichen Spontanheilungen ? Solschenyzin, befragt, wie er seine unheilbare Erkrankung habe überwinden und überleben können, stellte die Gegenfrage: Wer denn die Bücher, die er noch habe schreiben müssen, sonst hätte schreiben sollen? Anders gefragt: Welche Wirkung haben unsere Gedanken, hat unser "Geist" auf unseren Körper? Oder ist schon das wieder zu dualistisch gefragt? Ist die "Natur" - auch die von uns Menschen - und was sie "im Innersten zusammenhält" - etwas ganz anderes als das Substrat, das wir unter dem Mikroskop haben? "Empfindet", wenn "ich" hoffnungsvoll oder verzweifelt bin, jede einzelne meiner Zellen Hoffnung oder Verzweiflung? Die menschlichen Zellen haben, so lese ich, "irgendwie einen Zustand überwältigender Intelligenz erreicht". (Deepak Chophra) Das erste, was im Labor getötet werde, sei dieses "feine Intelligenzgewebe". Meine laienhafte Unbefangenheit ausnützend, bringe ich Dürrs "Erwartungsfeld" in einen Zusammenhang mit diesem "Intelligenzgewebe", und ich kann nicht umhin, auch die Verfahrensweise von Rupert Sheldrake, der auf seiner Suche nach dem Gedächtnis der Natur von "morphisehen Resonanzfeldern" spricht, in diesen Zusammenhang zu stellen, ebenso die Betrachtungsweise von James Love1ock, auf den Sheldrake sich bezieht und der in seinem Gaia-Modell unsere ganze Erde als lebenden, beseelten Organismus sieht. Mit einem gewissen Genuß nenne ich hier Namen von Naturwisenschaftlern, die, so würde ich sagen, ihre jeweilige Disziplin mit einem quasi poetischen Blick umfassen. Physiker, Mediziner, Psychologen, Physiologen, Biologen, Biochemiker, Ökologen bewegen sich, das mechanistische Weltbild hinter sich lassend, aufeinander zu, dabei erscheinen ihnen altbekannte Objekte in unerwarteten Zusammenhängen oder sie offenbaren ihnen bisher verborgene Eigenschaften und Fähigkeiten: Das wäre jenes "Neue Denken" in den Naturwissenschaften, von dem ich anfangs sprach. Ich muß mich mit Andeutungen begnügen.

VIII.

Was aber hat dieses Denken und Forschen in neuen Möglichkeitshorizonten mit unserem Thema zu tun? Vielleicht fördert es eine Offenheit für neue Fragen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn beide, Patient und Arzt, tief durchdrungen wären von der Überzeugung, daß die statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung am Bett eines Krebskranken nichts zu suchen hat? Daß die Zukunft niemals unverrückbar festgelegt ist - vor allem, daß nicht feststeht, daß da keine Zukunft mehr ist? Und daß, da nicht ein Organ, sondern ein Mensch erkrankt ist, bisher wenig ernst genommene, vielleicht nur für diesen Menschen geltende Mittel hilfreich sein können. Ich kann nur fragen. Ich kann nur bezeugen, daß mir in einer sehr schweren todesnahen Krankheitssituation außer den genau auf die Bakterienstämme abge12*

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stimmten Antibiotika Goethegedichte geholfen haben - ihr Klang ebenso wie ihr Inhalt, der ein lebendiges Assoziationsgeflecht in mir aufrief; ihre Schönheit, die mich noch nie vorher so ergriffen hatte, und das Glück, das ich fühlte, als ich auf einmal Zeilen wie diese "verstand": "Alles Vergängliche / ist nur ein Gleichnis." So tief wie damals verstehe ich diese Zeilen schon nicht mehr, doch glaube ich, sie rühren an das Rätsel unserer Existenz, an die Frage, ob und inwiefern die Strukturen aller materiellen und geistigen Existenzen miteinander zusammenhängen, ineinander übergehen können, wechselseitig einander stützen, fördern oder eben auch einander behindern und zerstören können. Wenn aber unsere Gedanken und Vorstellungen so wirklich, das heißt: wirkend sind wie irgendein sichtbares, handhabbares, meßbares Materieteilchen - was hindert uns dann, jene Gedanken und Vorstellungen in uns wachzurufen und zu entwickeln, die kreativ, wohltätig, aufbauend, heilsam sind? Die hierarchisch-bürokratischen Machtstrukturen, in denen wir leben und in denen auch unser so genanntes "Gesundheitswesen" organisiert ist, behindern uns sicherlich dabei, uns frei in neuen kreativen Denk- und Handlungsräumen zu bewegen, da uns ja eingeredet wird, Freiheit sei der ungehinderte Mißbrauch unserer Anlagen und Fähigkeiten, und jener Zug der Lemminge auf den Abgrund zu sei eben auf seine Weise "frei". Eine Freiheit, den Tod zu wählen, auch den der Gattung. Freiheit zu Verantwortungslosigkeit. Eine Bekannte, die mit Krebsverdacht an der Brust operiert wurde, deren histologischer Befund zum Glück "keine Anzeichen (mehr?) für einen pathologischen Befund ergab", schrieb mir: "Der Auftrieb dieser Freude hat mir ermöglicht, auch noch etwas zu entdecken, was mich zunächst erschreckt hat: In mir gab es eine Tendenz, mich sterben zu lassen. Ich ,brauchte' die Bedrohung des Todes, um Kontakte zu wagen, in denen ich fragil, verletzt, ausgeliefert war, was ich sonst nicht zugelassen hätte, und ich war gezwungen, die totale Verantwortung für meinen Weg selbst zu übernehmen. Ich entdeckte in mir die Überzeugung, daß erst angesichts des Todes eine tiefe Nähe zu anderen möglich wird. Ich hoffe nun, daß es so drastischer Maßnahmen nicht mehr bedarf, zumal ich so viele gute Erfahrungen gemacht habe ... " Ich weiß es nicht, ob viele solcher Einzelerfahrungen imstande sind, ein Erfahrungsmuster oder, wie Sheldrake wohl sagen würde, ein "Resonanzfeld" zu schaffen, in dem die noch überwiegend zerstörerischen Impulse unserer Zeit aufgehoben und unwirksam gemacht werden könnten. Ich zweifle. Doch will ich mir und Ihnen die optimistische Prognose einer amerikanischen Ärztin, Jeanne Achterberg, deren Buchtitel "Heilung durch Gedankenkraft" ihr Programm umreißt, am Schluß nicht vorenthalten: "Nun, da sich die schwer faßbaren Geheimnisse des menschlichen Geistes zu enthüllen beginnen, spielt sich vor unseren Augen ein faszinierendes, noch nie dagewesenes Drama ab: Das wissenschaftliche Paradigma wechselt, die Metaphern vermischen sich. Es ist ein guter Augenblick zu leben."

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Verwendete Literatur Jeanne Achterberg: Die heilende Kraft der Imagination. Heilung durch Gedankenkraft. Bem, München, Wien 1989. - Deepak Chopra: Die heilende Kraft. "Quantum Healing", Ayurveda, das altindische Wissen vom Leben, und die modernen Naturwissenschaften. Bergisch Gladbach 1990. - Hans-Peter Dürr: Das Netz des Physikers. Naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Verantwortung. München, Wien 1988. - Hans-Peter Dürr: Naturwissenschaft und poetischer Raum - Begreifen und Spiegeln der Wirklichkeit. Manuskript. P. E. N.Club, Presseclub Concordia Wien 1991. - John C. Eccles / Hans Zeier: Gehirn und Geist. Biologische Erkenntnisse über Vorgeschichte, Wesen und Zukunft des Menschen. Frankfurt a. M. 1984. - Amo Gruen: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität. München 1989. - Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung. Frankfurt a. M. 1988. - James Lovelock: Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten. Zürich, München 1991. - Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod mit Totenrede von Max Frisch. Zürich 1984. - Oliver Sacks: Awakenings - Zeit des Erwachens. Reinbek 1991. - Rupert Sheldrake: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur. Bem, München, Wien 1991. - Rupert Sheldrake: Die Wiedergeburt der Natur. Wissenschaftliche Grundlagen eines neuen Verständnisses der Lebendigkeit und der Heiligkeit der Natur. Bem, München, Wien 1991. - Alexander Solschenizyn: Krebsstation. Neuwied, Berlin 1968. - Susan Sontag: Krankheit als Metapher. München, Wien 1978. - Maxie Wander: Leben wär' eine prima Alternative. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Hrsg. von Fred Wander. Darmstadt, Neuwied 1980. - Maxie Wander: Tagebücher und Briefe. Hrsg. von Fred Wander. Berlin, Weimar 1990. - Herbert Will: Georg Groddeck. Die Geburt der Psychosomatik. München 1987. - Fritz Zom: Mars. München 1977.

Todesverdrängung und Krankheitsbereitschaft Konsequenzen eines autopoietischen Lebenslaufkonzeptes für die medizinische Versorgung l

Von Dieter Lenzen, Berlin

Am 9. November 1995 machte das ARD-Magazin "Panorama" mit einem Bericht über die Kostenentwicklung im Bereich der Intensivmedizin auf und zeigte nicht untendenziös Fälle von Schwerstverletzten, z. T. durch ärztliche Fehlbehandlung geschädigten Komapatienten, die nach personalintensiver und vom Mitgefühl der Angehörigen getragenen Behandlung nach einigen Monaten in der Lage waren, leichte Reflexe auf Berührung oder Ansprache zu zeigen. Diesen Bildern wurden Kostenrechnungen gegenübergestellt, wonach für die ca. 12.000 Komapatienten in der Bundesrepublik täglich 12 Mio. DM aus den Krankenkassen aufgewendet werden. Die Zuschauer wurden mit Volkes Stimme konfrontiert, die in der Gestalt einer älteren Frau von dem "Wahnsinn" sprach, diese "dahindämmernden Menschen" zu finanzieren, und selbst eine Patientin, die zwei Jahre zuvor erfolgreich einer Lebertransplantation unterzogen worden war, urteilte, daß diese Maßnahme für alkoholgeschädigte Leberpatienten unangebracht sei, da ja jeder wisse, daß Schnaps ungesund sei. Der Bericht wurde erweitert um einen Blick auf ein englisches Computerprogramm, mit dessen Hilfe die Lebenserwartung von Patienten zu berechnen sei, so daß man eine Entscheidungsgrundlage für den Kosteneinsatz erhalte. Auf 350 Fälle habe das Programm nur vier Prognosen geliefert, bei denen fälschlich eine extrem niedrige Überlebenswahrscheinlichkeit berechnet worden sei. Die "Abschreibung" der 350 Patienten mit schlechter Prognose habe finanzielle Mittel für die Behandlung von 2000 anderen Patienten mit besserer Prognose freigesetzt. Und während noch der Chefarzt der Eppendorfer Klinik erklärt, daß "wir Ärzte uns weigern werden", Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen, die ökonomisch motiviert sind, erklärte ein Dortmunder Ökonom nüchtern, daß die Entscheidung, wer überleben soll und wer nicht, in kürzester Zeit auf uns zukommen wird. Wir sind mitten im Thema.

1 Dieser Text beruht auf einem Vortrag, der anläßlich des ,,8. Dresdner hämatologisch-onkologischen Gesprächs" im Deutschen Hygiene-Museum Dresden gehalten wurde.

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Das deutsche Gesundheitswesen ist, ökonomisch gesprochen, durch "Marktversagen,,2 gekennzeichnet. Quelle dieses Marktversagens ist nach Schulz-Nieswandt das Problem der stark beschränkten Konsumentensouveränität. Daraus folgt ein ökonomischer Handlungs- und Steuerungsbedarf für den Staat. Dieser muß nämlich gesetzlich regeln aufgrund von Annahmen, über die er keine präzisen Informationen besitzt: Kann er davon ausgehen, daß alle Leistungsnehmer in gleichem Maße altruistisch mit den ökonomischen Ressourcen umgehen, oder muß er befürchten, daß es hier eine Ungleichheit gibt, die der einzelne Leistungsnehmer auch gar nicht bewußt verschuldet haben muß? Ist es denkbar, daß Leistungsnehmer, die ja, anders als "Panorama" uns suggerieren möchte, in der Regel nicht im Koma liegen, Handlungsmustern folgen, die nicht "rational-choice" gesteuert sind, sondern solchen, bei denen das Ziel "Erhaltung" bzw. "Wiederherstellung von Gesundheit" gar nicht steuernd ist, sondern gesundheits ferne Ziele? Dazu könnte z. B. Genußmaximierung gehören, wie sie sich bei Nikotin- und Alkoholkonsumenten unterstellen läßt, soweit sie nicht zu den Suchtpatienten gehören. Oder wir können dazu Ziele zählen, die als solche keinen hedonistischen Charakter tragen, sondern ganz im Gegenteil in der Arbeitsgesellschaft hoch positiv bewertet werden: Profitmaximierung, Reputation, Tätigkeit für das Gemeinwohl als Politiker oder Gewerkschafter; diese besitzen aber den fatalen Nebeneffekt, daß die Menschen, die sie verfolgen, ihr Gesundheitsverhalten vernachlässigen zugunsten gleichfalls gemeinschaftswertiger Güter.

In dem Maße, in dem ein solches Verhalten unseren Blick bereits von der bewußten oder fahrlässigen Herbeiführung von Gesundheitsschäden zu solchen Schäden und Folgekosten überleitet, die durch Unterlassung entstehen, eröffnet sich ein noch breiteres Spektrum: Hierzu könnte fehlende compliance gezählt werden oder die Unterlassung der Teilnahme an Präventivangeboten, seien es prophylaktische Diagnosemaßnahmen wie die Krebsvorsorge oder der Verzicht auf therapeutische Alltagsaktivitäten wie die Ausübung von Sport. Diese Überlegung treibt das Problem auf die nächsthöhere Ebene, nämlich auf die der Frage nach der Einsichtsfähigkeit der Patienten, und dieses angesichts eines Informationsangebotes in den Medien, welches täglich sich a !imine widersprechende Empfehlungen für das Gesundheitsverhalten liefert. Daraus resultiert eine sich weiter anschließende Frage, nämlich die, ob die Rationalitätsannahme des Gesundheitsverhaltens nicht im Kern falsch ist und auch nicht hinterrücks normativ unterstellt oder erwartet werden darf, weil bekanntermaßen auch subjektiv oder sogar objektiv rationale Verhaltensmuster von einer Reihe von Faktoren geprägt sind, zu denen u. a. normative Orientierungen der Leistungsnehmer z.B. in der Form der Konfessionszugehörigkeit gehören, unterschiedliche Intelligibilität, unterschiedliche, von vielfachen Faktoren abhängende Selbstkonzepte, individuelle, lebensgeschichtlich bedingte Kausalattributionen, die 2 Frank Schulz-Nieswandt, Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik, Grundfragen einer kritizistischen Lehre meritorischer Wohlfahrtspolitik, Regensburg 1992.

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dazu führen, daß Patienten ein Leiden fälschlich einer psychischen Ursache zuordnen und deshalb nicht für behandlungsfähig halten. Diese und andere Faktoren konstituieren bezüglich des Gesundheitsverhaltens bei den Angehörigen einer Kultur ganz unterschiedliche Habitus, die sich durchaus alle im Rahmen der kodifizierten oder auch nichtkodifizierten aber akzeptierten gesellschaftlichen Standards bewegen. Das heißt aber ökonomietheoretisch, daß eine meritorische Zuweisung von Gesundheitschancen verfassungsrechtlich äußerst problematisch ist, weil sie sich an der Frage orientiert, wer welche Chancen verdient. Sie rührt nämlich an die Bestimmung des Artikels 3.3 GG, wonach niemand wegen seines Geschlechtes, seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Genau das wäre aber der Fall, wenn wir nur an religiös vermittelte höchst unterschiedliche und teilweise eben auch gesundheitsschädliche diätetische Regeln denken oder an bestimmte Behandlungsverbote, oder an die geschlechtsspezifischen Selbstkonzepte, die in der gegenwärtigen Gesellschaft eben mehr oder weniger immer noch darauf hinauslaufen, daß Männer sich eine Erkrankung weniger zugestehen als Frauen. Diese Differenz wird bekanntlich mit einer zweiten quittiert, mit einer immerhin um sieben Jahre unterschiedlichen Lebenserwartung zu Lasten der Männer. Mit anderen Worten: Das Problem einer verfassungsgemäßen Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist extrem viel schwieriger als Nachrichtenmagazine oder ein Gesundheitsminister sich dieses vorstellen. Jeder gesetzgeberische Eingriff, der mit einer Modifikation des Marktversagens verbunden ist, rührt unmittelbar an verfassungsrechtliche Fragen. Das Kostendämpfungsproblem spielt sich ja gerade nicht in dem schmalen Sektor von Extrempatienten ab, sondern im ärztlich-pharmazeutischen Alltag. Dort ist eine Erweiterung der Ungerechtigkeit in bezug auf die Verteilung von Gesundheits- wie von Nutzungschancen des Systems der medizinischen Versorgung nicht tolerabel. Die zwar gerechtigkeitstheoretisch hinnehmbare Alternative einer ungleichen Verteilung der Beiträge nach dem Muster des Steuersystems ist auf der anderen Seite nicht mehr konsensfähig oder enthält die Gefahr eines erweiterten Marktversagens.

I. Der einzige Ansatzpunkt, an dem - indessen nur mittelfristig - eine organische Reduktion der Ausgaben für die Gesundheit denkbar wäre, ist eine Reduktion der Leistungsfälle mit Hilfe nicht primär medizinischer Intervention. Dazu muß man etwas weiter ausholen. Die Vermeidung von Erkrankung wird in unserem Gesellschaftssystem in der Regel als eine Aufgabe des medizinisch-technischen Sektors im Sinne der Präventivmedizin gesehen, in jüngerer Zeit vermehrt auch als eine Aufgabe psychosozialer Versorgung oder einer angemessenen Gesundheitspädagogik. Bezüglich der gesundheitlichen Optimierungsmöglichkeiten durch Prävention ist inzwischen Ernüchterung eingetreten. Meßbar, allerdings in äußerst bescheidenem Maße, sind Auswirkungen ohnedies nur in den Bereichen der koronaren Herz-

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krankheiten, des Bluthochdrucks und der Krebserkrankungen. 3 Dafür gibt es einen entscheidenden Grund: Der Präventionsgedanke, gleich ob in der teuren medizinischen oder der günstigeren pädagogischen Variante, basiert aber auf der Prämisse, daß eine Erkrankung ein Ereignis ist, welches der Patient vermeiden möchte, welches er sich nicht wünscht, wozu er eigentlich nicht bereit ist. Ich halte diese Prämisse für falsch. Ich denke dabei nicht an die unübersehbare Zahl von Fällen, in denen sich jemand den im Volksmund so genannten "gelben Urlaubsschein" holt, ganz im Gegenteil. Wenn man einmal von den Fällen des offensichtlichen Mißbrauchs absieht, ist das Arbeitsunfähigkeitsattest mit unspezifischer Diagnose ja nicht selten Ausdruck einer Erschöpfung, einer Krise vielleicht, in der der Patient sehr wohl bereit ist, krank zu werden, wenn auch nicht immer "richtig". Wir müssen uns also eher fragen, unter welchen Bedingungen sich die Bereitschaft von Menschen in unserer Kultur erhöht zu erkranken. Dabei können wir die Fälle einer "nicht richtigen" Erkrankung zunächst einmal hintanstellen und uns vielmehr fragen, ob nicht auch Erkrankungen mit manifesten Befunden häufig eine Erkrankungsbereitschaft voraussetzen. Damit ist nicht gemeint die Bereitschaft, zum Arzt zu gehen, sondern ernsthaft zu erkranken und dann zum Arzt zu gehen. Es ist die These zu prüfen, derzufolge es bestimmte Bedingungen gibt, unter denen die Krankheitsbereitschaft wächst. Dazu gehören natürlich zunächst einmal die sattsam bekannten Fälle einer psychischen Generierung somatischer Erkrankungen. Sie sind reichlich diskutiert und hier nicht zu referieren. Unter ihnen befindet sich eine kleinere Zahl von Annahmen, denen zufolge eine Krankheitsbereitschaft unter dem Eindruck bestimmter Krisen wächst, als Folge oder Implikation individueller Ereignisse. 4 Solche Krisen haben schon sehr früh die Aufmerksamkeit insbesondere von Psychologen auf sich gezogen. Das gilt für die Psychoanalyse Freuds mit der Vorstellung eines vom Eros ausgehenden Wachstumsprozesses; bei C. G. Jung sind Krisen Zeiträume, die Individuationsprozesse einleiten; bei Erikson werden Krisen als normative Krisen verstanden, die zu jedem menschlichen Entwicklungsprozeß gehören. In diesen und anderen Konzeptionen wird die Krise mithin als ein Bestandteil jedes Lebenslaufes verstanden, deren Auftretenszeitpunkt allerdings stark variiert, und nicht jeder Mensch macht jede Krise durch. In diesen Konzeptionen dominiert noch eine stark philosophisch geprägte Vorstellung der Reifung und des Werdens durch eine kritische Bedrohung, ohne daß eine empirisch gesättigte Erforschung zugrunde lag. Im Rahmen der seit den sechziger Jahren entfalteten Life-Event-Forschung sind solche Krisen als Bestandteil von sog. Normalbiographien gesammelt, systemati3 Vgl. Hans Sehaefer, Zur Problematik der Prävention, in: Hans Schaefer u.a. (Hrsg.), Präventive Medizin. Aspekte und Perspektiven einer vorbeugenden Medizin, Berlin u.a. 1987, S. 11-23. 4 Vgl. die Diskussion der Literatur in: Thomas KLauer, Veränderungserleben und Krankheitsbewältigung. Eine Studie kognitiver Adaptation, Berlin 1994, S. 8.

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siert und ausgewertet worden. Dabei war die Frage leitend, ob diese Ereignisse Modi der Lebensveränderung mit sich bringen, d. h. insbesondere auch solche, denen man einen Krankheitswert beimessen kann. In diesem Zusammenhang ist häufiger die Hypothese geprüft worden, ob bestimmte Lebenskrisen karzinogen sind, d. h., ob ein Zusammenhang zwischen Krisenereignissen und der Wahrscheinlichkeit besteht, an Krebs zu erkranken. Insofern bestimmte Lebensereignisse als Stressoren gewertet werden können, liegt die Annahme nahe, daß es einen Einfluß solcher Ereignisse auf die Bildung auch von Neoplasmen geben könnte. Auffällig war indessen schon sehr früh, daß in der zeitlichen Folge bestimmter Lebensereignisse keineswegs alle Menschen erkranken, die ihnen unterworfen sind. Der sich daran logisch anschließende Gedanke, daß noch zusätzliche Faktoren hinzukommen müssen, ein Ereignis zu einem krankmachenden werden zu lassen, ist neuerdings auch in der Psychologie verfolgt worden. Kognitiv orientierte Ansätze gehen deshalb davon aus, daß der subjektiven Wahrnehmung und Verarbeitung von Lebensereignissen die entscheidende Bedeutung zukommt. 5 In der neuesten "Theorie kognitiver Adaptation,,6 werden die Mechanismen dieser Verarbeitung untersucht, dieses aber ausschließlich im Hinblick auf die Frage nach der Bewältigung bereits eingetretener Erkrankungen, nicht im Hinblick auf die gesundheits beeinträchtigende Wirkung solcher Lebensereignisse.

11. Wenn man diese Denkweise nun aber auf die Frage projiziert, welche Art der kognitiven Adaptation von Lebensereignissen zu einer erhöhten Krankheitsbereitschaft führt, muß man anders ansetzen. Es scheint theoretisch angemessener zu sein, den menschlichen Lebenslauf als Prozeß der Autopoiesis bzw. der Selbstorganisation des Organismus zu sehen. Anders als im Falle des physiologischen Organismus, der z. B. durch Nahrungsaufnahme direkt mit der Umwelt verbunden ist, gilt dieses für das Bewußtsein nicht. Mit Luhmann7 läßt sich das Bewußtsein vielmehr als System bezeichnen, das die Elemente, aus denen es besteht, durch die Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert und reproduziert 8 . Das bedeutet, daß die Regeln, aufgrund derer sich das Bewußtsein entfaltet, in ihm genetisch bereits enthalten sind. Der Entfaltungsprozeß ist ein Prozeß der Ausdifferenzierung, 5 Vgl. z.B. Sigrun-Heide Filipp, Ein allgemeines Modell für die Analyse kritischer Lebensereignisse, in: dies. (Hrsg.), Kritische Lebensereignisse, München 1981, S. 3-52; Hans Thomae, Theory of Aging and Cognitive Theory of Persona1ity, in: Human Deve10pment 12 (1970), S. 1-16; Monika Hasenbring, Krankheitsverarbeitung bei Krebs, in: Horst Käche1el Wolfgang Steffens (Hrsg.), Bewältigung und Abwehr, Beiträge zur Psychologie und Psychotherapie schwerer körperlicher Krankheiten, Berlin 1988, S. 105-131; Klauer (FN 4). 6 Vgl. die Literatur bei Klauer (FN 4), S. 22. 7 Vgl. Niklas Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: ders. (Hrsg.), Soziologische Aufklärung 6, Opladen 1995, S. 55-112. 8 Vgl. ders., S. 55 ff.

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der zwar nicht in direkter, wohl aber in indirekter Interaktion mit der Umwelt stattfindet. So werden Informationen aufgenommen, verarbeitet, abgespeichert oder auch wieder vergessen, und es werden auch Äußerungen abgesondert, die für das psychische System den Charakter von Informationen annehmen. Indirekt ist diese Interaktion deshalb, weil sie der organismischen Vermittlung bedarf. So müssen Ereignisse und Objekte der Umwelt sinnlich wahrgenommen werden, bevor sie aufgrund der internen Regeln des Bewußtseins verarbeitet werden können. Um sich stabil zu halten, verfügt ein autopoietisches System wie das Bewußtsein u. a. über die Möglichkeit des Dauerzerfalls,9 indem es die größte Zahl der Gedanken, Informationen usw. nicht speichert, sondern wieder vernichtet. (Menschen, die nicht über diese Fähigkeit des Vergessens verfügen, sind binnen kürzester Zeit dem Kollaps ausgesetzt, wie der berühmte Fall eines russischen Briefträgers zeigt, der sämtliche Informationen abspeicherte, die seine Sinne ihm aus der Umwelt lieferten.) Auf der anderen Seite neigt das Bewußtsein dazu, Paradoxien zu produzieren, um sich zu stabilisieren. So pflegen Liebende nicht selten die Gewohnheit, sich gegenseitig zu fragen, ob sie einander noch lieben, und sich dieses dann auch erwartungsgemäß zu bestätigen. Die Möglichkeit der Nichtliebe wird auf diese Weise paradoxierend in die Möglichkeit der Liebe "hineinkopiert" mit dem Effekt, daß das Verhältnis Liebe - Nichtliebe zu einer auf Dauer gestellten Bearbeitungsaufgabe wird und dadurch das System "Paar" stabilisiert. In ähnlicher Weise verhält es sich mit der für unsere Fragestellung wichtigen Todestatsache. Die Stabilisierung des Lebens ist nur denkbar, wenn die Möglichkeit des Todes in es bereits hineinkopiert ist. Diese Gegebenheit ist uns in vielen Teilen unserer Kulturgeschichte überliefert. Wir finden diese Figur im babylonischen Talmud, im Gilgamesch-Epos, wir finden sie in der Todestrieblehre bei Freud, die die Möglichkeit der Selbstzerstörung als Bestandteil des Lebens definiert. In umgekehrter Weise gilt das für die christliche Theologie: Das als ewiges gedachte Leben jenseits des irdischen Lebens ist in den Tod hineinkopiert und stabilisiert die Menschen in ihrem Leben. Damit diese Paradoxie indessen stabilisierend wirken kann, bedarf es selbstverständlich der Information und der Vergegenwärtigung der Todestatsache. Ein Tier, so nehmen wir anthropologisch oder auch nur anthropozentrisch an, ist sich der Todestatsache nicht bewußt, ebenso weiß das kleine Kind noch nichts davon. Nicht umsonst klagt der römische Gott Jupiter gegenüber Merkur in Jean Giroudoux' "Amphytrion" darüber, daß die Götter die Todestatsache nicht kennen: "Aber uns fehlt etwas, Merkur, - der Schmerz der Vergänglichkeit - der Wink des Todes - die süße Traurigkeit, danach zu greifen, was du nicht halten kannst ... " Mit dem Schwinden der gemeinsamen christlichen Weltanschauung in der Modeme, teilweise aber schon früher mit dem Beginn der Aufklärung, setzt in unserer Kultur nun aber die Dethematisierung der Todestatsache ein, d. h., die Informationszufuhr, die Möglichkeit der Vergegenwärtigung des Todes, wird gedrosselt, teil9

Ders., S. 57.

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weise ganz reduziert. Diese Erscheinung ist in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder dargestellt und teilweise beklagt worden, so durch Aries, Elias oder auch Gadamer. Sie spiegelt sich in zahllosen Phänomenen: In der Vergöttlichung der Kindheit, durch die unser Jahrhundert gekennzeichnet ist, im Jugendlichkeitskult, in der Internierung Todkranker in Krankenhäusern und Pflegeheimen und der damit verbundenen "Einsamkeit der Sterbenden", wie Elias lO sie beschrieben hat; sie findet sich in der Entfernung der Friedhöfe aus den Stadtzentren, die nicht nur Platzgründen geschuldet ist; man kann sie ablesen an dem Verzicht auf die öffentliche Aufbahrung von Leichnamen und vielen anderen Erscheinungen. Auch die Tatsache, daß die Verstorbenen in unserer Kultur nur allzu schnell vergessen werden, daß wir ihre Gräber nicht mehr regelmäßig besuchen, gehört in dieses Umfeld. Ein Defizit wie dieses, daß wir nicht wie die ägyptische Hochkultur einen Kult besitzen, der den Sohn verpflichtet, die Erinnerung an den Vater in der täglichen kultischen Präsentation wachzuhalten und dadurch, wie die ägyptische Sprache sagte, den Sohn zum Vater des Vaters zu machen, ein solches Defizit wirkt sich nachhaltig auf unsere eigene Todeserfahrung aus. Dabei spielt eine Erscheinung eine besondere Rolle, die mit der Tatsache eng verknüpft wird, daß in unserer Kultur alles getan wird, um den Menschen die Tatsache ihres eigenen Alterns und damit der Todesnähe nicht vor Augen zu führen. Ich meine die Linearisierung des Lebenslaufs. In der traditionellen Gesellschaft war das Leben des Menschen durch eine Abfolge von Lebensphasen gekennzeichnet, die in sich relativ geschlossene Zeitabschnitte mit markanten Merkmalen darstellten. Der Übergang von einer Lebensphase zur nächsten, z. B. der Übergang von der Frau zur Mutter, vom Mann zum Vater, vom Kind zum Jugendlichen, vom Jugendlichen zum Erwachsenen und eine ganze Reihe weiterer hochstandardisierter Lebensphasen der Normalbiographie, war durch Transitionsriten, auch "rites de passage" genannt, gekennzeichnet. Solche Riten hatten die Funktion, dem Menschen seinen Übergang von einer Lebensphase zur nächsten bewußt zu machen und mit diesem Voranschreiten im Lebenslauf auch die Annäherung an den Tod. Zudem waren die Riten selbst so organisiert, daß sie die Erinnerung an die Todestatsache selbst zentrierten. So gehörte zu einem Transitionsritus in der Regel die Entfernung des Initianden oder der Initiandin unter meist dramatischen Umständen aus der gewohnten Umgebung, die Exilation in z. B. ein Geburtsexil, ins Pubertätsexil o. ä. Während dieses "Exilaufenthaltes" wurden die Menschen oftmals mit ausführlichen Belehrungen über ihre nächste Lebensphase konfrontiert, und ihr Körper wurde nicht selten teilweise sehr schmerzhaften Manipulationen unterzogen. So gab es Kulturen, die die zu Erwachsenen transformierten Jugendlichen tätowierten, oder man feilte die Frontzähne; auch die in einigen Kulturen teilweise noch erhaltene Beschneidungszeremonie ist dazu zu zählen. Die Transition wurde vollzogen von Menschen, die von der Gemeinschaft, der Gesellschaft eigens dazu ausgebildet, geweiht und beauftragt waren, den Schamanen, den Priestern, Medi10 Narbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/M. 1987.

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zinmännern oder anderen Berufsgruppen. Das für die Vergegenwärtigung der Todestatsache entscheidende Merkmal dieser Transitionen war die Erfahrung des einzelnen, daß eine Lebensphase, das Leben, in dem man sich gerade eingerichtet hatte, abrupt beendet wurde, daß man gewissermaßen als Angehöriger dieses Lebens getötet und als Angehöriger einer neuen Lebensphase wiedergeboren wurde, aber als ein veränderter Mensch, worauf die an den Körpern vollzogenen Veränderungen hinwiesen. Der einzelne lernte in der rituellen Transition so das Sterben, aber er lernte auch das Leben durch sie, denn die Transition vennittelte nach ihrem Abschluß ja die Zuversicht, als ein neuer Mensch gewissermaßen aufzuerstehen, und dieses von Phase zu Phase im Leben, je nach Kultur zwischen 10 und 15 Malen. Auf diese Weise wurde der gesamte Lebenslauf zyklisch, nach dem Muster einer Kreisvorstellung organisiert mit der Implikation, daß dem Menschen suggeriert werden konnte, nach der letzten Transition nicht in das Nichts zu fallen, sondern einen Neubeginn zu erleben. Die alten Kulturen haben dafür funktional äquivalente Vorstellungen entwickelt. Der Glaube der Christen an das ewige Leben gehört dazu, eindringlicher aber sicher noch die Reinkamationslehre verschiedener östlicher Religionen. Diese rituellen Transitionen sind in unserer Kultur in den letzten 200 Jahren sukzessive aufgegeben worden. Reste davon haben sich in einigen volkskirchlichen Riten erhalten. Indessen erfüllen diese kognitiv wegen der Abwesenheit wesentlicher Elemente (Dramatik, Schmerz, Veränderung) nicht mehr die Funktion der Todeserinnerung. Das gilt auch für säkulare Äquivalente wie beispielsweise die Wehrpflicht oder den Ersatzdienst. Beide enthalten zwar noch das Element der Exilation, nicht jedoch ist eine augenscheinliche Veränderung oder eine öffentlich beglaubigte Überführung in den Erwachsenenstatus damit verbunden. Es ist nun meine These, daß das autopoietische Bewußtsein sich nicht mit dieser Abschneidung von der Zufuhr an Todese1ementen zufriedengibt, sondern ganz unterschiedliche Strategien entwickelt, um seine Stabilität zu erhalten, für die die paradoxe Präsenz des Lebensantagonisten, des Todes, unabdingbar ist. Manche dieser autopoietischen Systeme versuchen sich offensichtlich mit simulativen Todeskonfrontationen zu begnügen, wie sie die Medien in Form von Gewalt- und Horrorszenarios anbieten. Die besondere Beliebtheit, der sich Horrorfilme bei Jugendlichen erfreuen, wenn sie bei der gemeinsamen Betrachtung um die besten Nerven wetteifern, weist auf einen zwar kümmerlichen aber immerhin doch eigeninitiativen Versuch, sich eine Todeserfahrung zu verschaffen. Erscheinungen, wiederum gleichfalls bei Jugendlichen, die darauf hindeuten, daß sie eine Grenzerfahrung suchen, sei es im Alkohol- oder Drogenkonsum, sei es bei illegalen Autorennen, deuten in dieselbe Richtung. Um so bedauerlicher ist es, daß unserer Gesellschaft nichts anderes einfällt, als darauf mit der Polizei zu reagieren, statt mit der Frage danach, welche transitorische Ersatzfunktion Jugendliche sich anstelle des Versagens des Staates oder der Gesellschaft hier suchen. Wichtig und gemeinsam ist an diesen Erscheinungen der Umstand, daß diese Menschen offensichtlich angesichts des Unvermögens der Gesellschaft nach einer Art Selbsttransition suchen. Untersu-

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chungen, die meine These beispielsweise in der Eingangsphase junger Studierender verfolgt haben,ll bestätigen die Richtigkeit dieser Vermutung in qualitativen Interviews mit Erstsemestern. Was aufgrund eines größeren individuellen Handlungsspielraums bei der Pubertätstransition noch vorstellbar ist, die ansatzweise oder simulative Selbsttransition (der allerdings immer das entscheidende Merkmal der gesellschaftlichen Beglaubigung fehlt), das steht Menschen in späteren oder auch früheren Lebensphasen in der Regel nicht zur Verfügung. Es spricht deshalb vieles dafür, daß diese Organismen oder Individuen unbewußt zu dem Mittel der Somatisierung greifen. Wir wissen dieses seit langem von Phobie-Patienten, von Manisch-Depressiven, in deren Bewußtseinssystem die angesprochene Paradoxie durch eine gleichzeitige oder dicht konsekutive Paradoxie von extremer Lebensfreude und Hochgefühl in der manischen Phase sowie einer ebenso extremen Depression mit suizidalen Elementen realisiert wird. Beide Gefühlspolaritäten sind in hohem Maße irrational, Selbstüberschätzung ist paradoxal gepaart mit absolutem Selbstwertverlust. Die Höhen und Tiefen werden durch diese Patienten irrational selbst erzeugt, und zwar weitgehend abgelöst von Umwelt-Inputs als eine Paradoxierung im abgeschlossenen Bewußtseinssystem. Es scheint nun, daß diese Erscheinung zu Unrecht als Erkrankung apostrophiert wird. Tatsächlich versucht der Organismus oder besser das Bewußtsein, die ausgebliebenen Inputs an Todeserfahrung zu kompensieren und sich intern gewissermaßen seine Todesnähe und Lebensintensität herzustellen. Einen bedrohlichen Status nimmt dieser Prozeß erst bei suizidalen Neigungen an, die strukturell von der Beteiligung an einem riskanten illegalen Autorennen nicht zu unterscheiden sind. Die Suche nach einer Grenzerfahrung ist natürlich nur dann eine Suche nach einer wirklichen Grenzerfahrung, wenn die Gefahr der Selbst- oder Fremdzerstörung auch wirklich besteht. Darin unterscheidet sich der selbsttransitorische Versuch von dem fremdtransitorischen, daß hier kein Geweihter über die Grenze wacht und dafür Sorge trägt, daß der Initiand in die nächste Lebensphase und nicht in die Selbstzerstörung transformiert wird. Denselben Mechanismus können wir nun auch im Bereich bestimmter somatischer Erkrankungen beobachten, insbesondere bei denen, die eine lebensbedrohliche Dimension haben wie im Falle des Krebses oder der ischämischen Herzkrankheiten. Ich möchte analog die Bereitschaft eines Organismus, diesen Krankheiten anheim zu fallen, als den autopoietischen Mechanismus deuten, mit dessen Hilfe bei bestimmten Menschen der Versuch unternommen wird, die Todes- und damit Lebenserfahrung zu generieren, die die Gesellschaft ihnen vorenthält. Wenn wir eine solche Interpretation versuchen, verstehen wir auch besser die kausalistisch unbefriedigenden Ergebnisse über einen Zusammenhang zwischen Lebensereignissen und Krebserkrankung einzuordnen. Demnach würde nämlich nur dann (aber 11 Vgl. Barbara Friebertshäuser, Übergangsphase Studienbeginn. Eine Feldstudie über Riten der Initiation in eine studentische Fachkultur, Weinheim I München 1992.

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nicht immer dann) jemand in der Folge eines Krisenereignisses erkranken, wenn dieses Ereignis nicht kontingent ist, sondern wenn es mit einer vor dem Hintergrund einer Normalbiographie erwartbaren, aber ausbleibenden Transition verknüpft sein müßte. Nur dann wäre ein solches Ereignis besorgniserregend, wenn es im Lebenslauf des Menschen auch mit einer Überführung in eine andere Lebensphase verknüpft sein müßte. Am Beispiel der Scheidungen läßt sich dieses zeigen: Die Trennung vom Lebenspartner hat keineswegs immer denselben Stellenwert, weil sie nur manchmal zeitlich mit einer Lebensphase koinzidiert, bei der in einer Normalbiographie ohnedies (etwa durch die "Empty-Nest"-Situation) für den Betroffenen oder die Betroffene eine neue Lebensphase beginnen würde, dieses aber aufgrund z. B. fehlender Trennungsriten nicht stattfindet. Für den naturwissenschaftlich denkenden Menschen mag es vielleicht eine Provokation sein, zu fragen, ob nicht die Krebserkrankung in ihrer physiologischen Erscheinung sogar die erwähnte Paradoxie in sich aufgenommen hat. Denn eigenartigerweise ist es ja so, daß das im Falle einer Krebserkrankung entstandene Neoplasma durch das Immunsystem nicht angegriffen wird, sondern daß der Organismus mit seinen gesunden Zellen diese kranken, todbringenden Zellen gewissermaßen akzeptiert, d. h., systemtheoretisch gesprochen, in sich hineinkopiert, so daß der Organismus gewissermaßen paradoxiert wird. Eine Provokation waren aber auch die Schriften Viktor von Weizsäckers, wenn er in seinem "Gestaltkreis" versuchte, allerdings mit teilweise spekulativen und metaphorischen geisteswissenschaftlichen Mitteln, ein Krisenverständnis zu entwickeln, welches Psyche und Soma miteinander verband. Es läßt sich sicher nicht nachweisen, daß die Ignoranz der Schulmedizin gegenüber diesen Überlegungen die Bekämpfung der Krebserkrankung verhindert hätte, aber umgekehrt kann man ja auch nicht gerade behaupten, daß es einer naturwissenschaftlich akzentuierten Medizin gelungen wäre, die Krebserkrankung zu verstehen. Vielleicht liegt das ja daran, daß der Gedanke der Erkrankung in den Vordergrund rückte statt des Gedankens, die Entstehung von Neoplasmen zunächst einmal als eine systemlogische Reaktion des Organismus auf ein Input-Defizit für das Bewußtsein zu deuten. Dann wäre die Metastasierung mit Todesfolge funktional äquivalent zum Suizid bzw. zum Unfalltod bei einem illegalen Autorennen. Wenn man so denken möchte, muß man indessen ein Problem lösen, das sich in der Diremption von Natur- und Geisteswissenschaft nur spiegelt, teilweise aber auch seine Ursache hat: Naturwissenschaftlich wissen wir zu wenig über die psychologischen Mechanismen, die möglicherweise eine somatische Aberration begünstigen, und geisteswissenschaftlich wissen wir zu wenig über die physiologischen Prozesse und Medien, die es überhaupt erlauben würden, von einer psychologischen Wirkung auf die Physis zu sprechen.

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III. Für die Hypothese bezüglich der selbsttransitorischen Funktion lebensbedrohlicher Krankheiten hieße das, Anhaltspunkte dafür zu finden, daß eine Immunsuppression durch Wahrnehmungsprozesse möglich ist. Denn: eine Krisenerfahrung, die Erfahrung ausbleibender Transitionen kann nur sinnlich wahrgenommen werden, bevor sie kognitiv verarbeitet wird. Wir müssen also nach einer Art Schnittstelle suchen zwischen den sinnlich wahrnehmbaren Umweltereignissen und der Umsetzung in kognitive Strukturen und damit zusammenhängend in physiologische Prozesse, die das Immunsystem beeinflussen. Es ist deshalb aus anthropologischer Sicht die Aufmerksamkeit auf ein Organ zu richten, das in den letzten Jahren beispielsweise in der Academy 0/ Sciences in New York 12 eine besondere Aufmerksamkeit beansprucht, the pineal gland, das corpus pineale, glandula pinealis, die Epiphyse oder, wie sie seit Descartes hieß, die Zirbeldrüse. Die Epiphyse sezerniert Melatonin, und schon seit langer Zeit wurde die Epiphyse mit der Funktion der inneren Zeitsteuerung in Verbindung gebracht, dieses insbesondere bezüglich der täglichen aber auch jahreszeitlichen Biorhythmen. Die Öffentlichkeit ist auf dieses Organ aufmerksam gemacht worden, als u. a. der "Spiegel" unter der Überschrift "Fröhlich mit neunzig" auf einen Aspekt der jüngsten Untersuchungen verwies: die verjüngende Wirkung größerer Melatonin-Dosen, die aus der Beobachtung abgeleitet wurde, daß die durchschnittliche Melatoninmenge im Blut des Menschen kontinuierlich abnimmt, also in der Kindheit, in der man sich angeblich am wohlsten fühlt, den höchsten Stand besitzt. Die zu erwartende Vermarktung des Mittels als Jungbrunnen droht nun aber den viel wesentlicheren Aspekt dieser Beobachtung zu verdecken, die Tatsache nämlich, daß die Epiphyse als eine Art Taktgeber auch für den gesamten Lebenslauf fungieren könnte. So berichtet Richard Relkin l3 bereits 1983 über den lebhaften Wechsel von Melatoninmengen im Blut pubertierender Jungen, jeweils abhängig von Entwicklungsstadien des Genitals. 14 Dehydroepiandrosteron (DHEA), welches die Epiphyse produziert, ist ein Steroid-Hormon, welches nach Regelson Eigenschaften eines Bio-markers besitzt. Der Stoff scheint entweder selbst direkt zu wirken oder wiederum steuernde Funktionen in bezug auf Östrogene und Testosterone auszuüben und so intermediär Implikationen für die Zellstruktur und deren Entartungsneigung zu haben. 15 Ferner wurde beobachtet, daß höhere Dosen von DHEA den Anteil schädlichen Cholesterols im Blutserum senken. 16 Möglicherweise sind 12 Vgl. Walter Pierpaoli u.a. (Hrsg.), The Aging Clock. The Pineal Gland and other Pacemakers in the Progression of Aging and Carcinogenesis, New York 1994. \3 Vgl. Richard Relkin, The Human Pineal, in: ders. (Hrsg.), The Pineal Gland, New York u.a. 1983, S. 273-301. 14

15

16

Ders., S. 278 f. Vgl. Burkhard Bilger, Forever Young, S. 29, in: The Sciences 35 (1995), H. 5, S. 26-31. Ders., S. 27.

13 Selbstorganisation, Bd. 7

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diese Beobachtungen aber nur Folgeeffekte einer primären Steuerungsfunktion der Epiphyse für das Immunsystem. Die wichtigste Dimension ist dabei die der angesprochenen Schnittstelle zwischen Umwelt, Psyche, neuroendokrinem System und Immunsystem. Stein 17 u.a. haben 15 Ehemänner von Frauen mit terminalen Mammakarzinomen vor und nach dem Tod der Ehefrau hinsichtlich der Stimulierbarkeit der Blutlymphozyten mit Lektinen untersucht. Das Resultat zeigte einen deutlichen Stimulierbarkeitsabfall nach dem Tod der Ehefrauen und einen Anstieg auf den Ausgangswert nach dem Ablauf eines Jahres. Ähnliche Zusammenhänge wurden im Vergleich leicht depressiver mit schwerst depressiven Patienten gemacht. 18 Kaschka 19 führt diese und andere Beobachtungen einer Art Umwelt-Organismus-Reaktion auf immunsuppressive Hormone zurück, bei deren Produktion die Epiphyse eine besondere Rolle spielt. Demnach übt das autonome Nervensystem offenbar regulatorische Einflüsse auf die lymphatischen Organe aus. Mehr noch: Es scheint eine Art Regelkreis zwischen Zentralnervensystem und Immunsystem vorzuliegen, deren Einzelheiten hier nicht diskutiert werden können. Der gegenwärtige Informationsstand erlaubt es keineswegs, von evidenten Ergebnissen zu sprechen, die Beobachtungen und Forschungsresultate sind auch z. T. widersprüchlich, wenn z. B. einerseits hohe Melatonin-Ausschüttungen, andererseits niedrige als Immunsuppressoren ausfindig gemacht werden. Für die Frage möglicher Folgen der Todesverdrängung sind dieses aber Details, die nichts an der Grundhypothese verändern. Ihr zufolge wäre zu suchen nach Wahrnehmungs- und kognitiven Adaptationsparametern und nach den "endogenous and environmental synchronizers" und den Transmittern, die die "Sprache" von Transitionsereignissen und besonders die der ausbleibenden Transitionen in die "Sprache" des Organismus umsetzen. Im Blick auf die Steigerung der Krankheitsbereitschaft für eine Krebserkrankung durch ein Versagen der Gemeinschaft hinsichtlich der Transitionen entspräche eine solche Vorgehensweise einer Suche nach der immunsuppressiven Unterdrückung von Transitionsereignissen, d. h. letztlich der Wirkung von Todesverdrängung.

17 Vgl. Morris Stein, Bereavement, depression, stress, and immunity, in: Roger Guillemin u.a. (Hrsg.), Neural Modulation ofImmunity, New York 1985, S. 29-44. 18 Vgl. ders. 19 Vgl. Wolfgang P. Kaschka, Wechselbeziehungen zwischen Psyche, neuroendokrinem System und Immunsystem. Psychoimmunologie als Bindeglied zwischen Depression und Krebs, in: Hans-Jürgen Staab/Manfred Ludwig (Hrsg.), Depression bei Tumorpatienten, 2. Salzburger Symposium zur Lebensqualität chronisch Kranker, Stuttgart I New York 1993, S. 1-15.

Todesverdrängung und Krankheitsbereitschaft

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IV. Ich fasse den Gedankengang noch einmal zusammen: 1. Das Problem der Kostendämpfung im Gesundheitswesen läßt sich verfassungskonform nicht durch Gesetze regeln, wenn diese gleiche Chancen bei der Verteilung von Gesundheit und gleiche Nutzungschancen medizinischer Versorgung beseitigen. 2. Mittelfristig ist vielmehr zu versuchen, die Entstehungsbedingungen von Erkrankungen zu verändern. Dazu gehören bereits, allerdings ohne allzu große Erfolge, medizinische Prävention (Krankheitsprophylaxe), psychologische Prävention (Einstellungsveränderungen gegenüber der Gesundheit), ökologische Maßnahmen (Beseitigung belastender Umweltfaktoren) und pädagogische Interventionen wie die Gesundheitserziehung. 3. Es fehlen indessen Maßnahmen und vor allem Informationen über die Krankheitsbereitschaft von Menschen jenseits der psychosomatischen Grundhypothese. 4. In diesem Zusammenhang sind Untersuchungen fehlgeschlagen, die eine lineare Wirkung kritischer Lebensereignisse auf die Morbidität unterstellen, insbesondere auf Krebserkrankungen. Für die Unterstellung eines solchen Zusammenhangs sind offenbar weitere Faktoren anzunehmen, die ein Umweltereignis erst krankheitsrelevant werden lassen. 5. Einer dieser Faktoren scheint der lebensgeschichtliche Ort eines Lebensereignisses zu sein. Das heißt, life events werden nur dann relevant für die Steigerung der Krankheitsbereitschaft, wenn sie ausbleiben, obwohl sie in einer Normalbiographie einer Kultur als typische Lebensphasenereignisse erwartbar sind. 6. Diese Lebensereignisse sind sog. Transitionen, die in der traditionellen Gesellschaft mit rituellen Handlungen verbunden waren. Diese hatten die Funktion, den Menschen von einer Lebensphase zur anderen zu führen und ihn mit der Todestatsache vertraut zu machen. 7. Wenn man den Organismus und vor allem das Bewußtsein als ein autopoietisches System denkt, dann hat die Vergegenwärtigung der Todestatsache die Funktion, den Tod in das Leben ,,hineinzukopieren". Nur durch die Balance, die eine solche Paradoxie liefert, kann das System stabil gehalten werden. Das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit der Todestatsache würde sich also destabilisierend auswirken, wenn der Organismus nicht zum Versuch einer allerdings a limine mißlingenden Selbsttransition greift. 8. Bei den Versuchen solcher Selbsttransitionen unternimmt das Individuum Anstrengungen, in bestimmten Lebensphasen den Tod selbst in sein Bewußtseinssystem zu integrieren. Zu diesen unbewußten Versuchen zählt die Bereitschaft, an einer letalen Krankheit zu erkranken. 13*

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9. Eine solche Hypothese gewinnt Evidenz nur dann, wenn es einen Beleg für eine Schnittstelle gibt, an der die Sprache ausbleibender Lebensereignisse in die Sprache des Immunsystems übersetzt wird. Es gibt eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, daß der Epiphyse diese Funktion zukommt, wenn sie über Schwankungen der Hormonsteuerung immunsuppressiv wirkt. 10. Wenn ein solcher Mechanismus nachweisbar wäre, gäbe es einen Anhaltspunkt für die Möglichkeit, Krankheitsbereitschaft zu minimieren, die durch eine fehlende Integration der Todestatsache entsteht. Naturwissenschaftler denken diesbezüglich bereits an die massenhafte Verabreichung von Melatonin, das inzwischen synthetisiert werden konnte. Als Geisteswissenschaftler würde ich indessen nachhaltig vor einer solchen Entwicklung warnen. Wenn es nämlich anthropologisch tiefsitzende Quasi-Konstanten geben sollte, die eine bewußte Integration der Todestatsache in den Lebenszusamrnenhang erforderlich machen, dann ist es unsinnig, darauf erneut mit einer pharmakologischen Verdrängung zu reagieren. Das hieße, ein weiteres Mal dem Irrtum zu verfallen, auf den Aischylos in seinem Prometheus-Drama verwiesen hat, wenn er den Prometheus sich damit rühmen läßt, daß er den Menschen das Wissen um die Todesstunde genommen habe. Dabei wissen wir gerade aus der Erforschung der near death experiences, daß gerade die extreme Todesnähe, die ein Mensch erleben kann, oft die Angst vor dem Tod beseitigt20 , weil er ein Bestandteil des Lebens geworden ist. Es kommt also wohl nicht darauf an, mit dem Tod fertig werden zu wollen, sondern sich ihm zu stellen. "Das zum Denken und Fragen erwachende Leben", so hat Hans-Georg Gadamer geschrieben, "denkt und fragt über alle Grenzen hinaus. Angst zu kennen und den Tod nicht begreifen zu können - das ist der nie ganz verhallende Geburtsschrei des Menschen.'.2\

20 Vgl. Michael Schräter-Kunhardt, Erfahrungen Sterbender während des klinischen Todes, S. 541, in: Reinhold Schwarz/ Stefan Zett1 (Hrsg.), Praxis der psychosozialen Onkologie, Heidelberg 1993, S. 539-543. 21 Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt/M. 1993,

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Übergänge sind überall Von Heinz Stefan Herzka, Zürich Darf ich Sie einladen, sich mit einigen Erfahrungen und Gedanken zu befassen, sich die meinigen durch den Kopf gehen zu lassen und sich die Ihren zu machen? Nein, es erwartet Sie keine wissenschaftliche Abhandlung im gewohnten Sinn. Aber vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die Aufmerksamkeit auf wenig beachtete Vorgänge zu lenken und damit etwas Wissen zu schaffen. Denn, nicht wahr, viele Abhandlungen sind ja ohnehin vorwiegend Wissenswiederholung; die Wissenschaft - als Zunft verstanden - ist oft Neuem gegenüber mehr mißtrauisch als neugierig. Ich gehe zum Thema über: zu den Übergängen. Zu einer Vielfalt von Erfahrungen und Beobachtungen, die Sie so gut wie ich machen, und bei denen wir uns doch kaum aufhalten, weil wir meist schon beim Nächsten sind. Dabei sind sie immer und überall, und - das ist eine der zentralen Fragen - vielleicht sind sie Varianten ein und desselben Grundphänomenes, des Überganges. Ich verstehe darunter den Prozess der Veränderung eines seelisch geistigen Zustandes, einer Veränderung, die das bisherige einschließt und gleichzeitig etwas anderem, neuartigem Raum gibt. Manchmal ist damit eine Veränderung in der Zeit verbunden, oder im Raum, manchmal eine Änderung des Kontextes, in dem wir stehen, der "Situation". Aber bisweilen findet die Veränderung ohne irgendwelche äußeren Umstände statt, nur in uns selbst . Kürzlich mußte ich mich einem chirurgischen Eingriff unterziehen. Vor der Operation berichtete ich dem Anaesthesiearzt, ich hätte vor Jahren ein sehr beängstigendes Erwachen aus der Narkose erlebt; meine Atmung sei durch Medikamente noch stark beengt gewesen, und ich hätte Erstickungsgefühle gehabt. Das war damals ein übler Übergang aus der Narkose ins Erwachen. Mein Anaesthesist beruhigt mich, mit der Erklärung, heute würde er verschiedene Narkosemittel in einer bestimmten Reihenfolge einsetzten, so daß dies nicht mehr vorkomme. Tatsächlich schlief ich während der ersten Narkosespritze sofort leicht ein und erwachte wieder mit dem Gefühl einer ganz sanften und raschen Landung. Ich war unmittelbar nach der Operation wach - genauer gesagt, ein Teil von mir war hellwach. Ein anderer Teil von mir war noch irgendwo anders. Meiner Gefährtin, die bei mir saß, fiel dies sehr auf. "Du warst mit einem Teil von Dir sofort ganz da", sagte sie später. Jetzt ist das einige Wochen her, aber ich habe diesen Zustand noch gegenwärtig. Eigentlich war ich meine ganze anschließende Rekonvaleszenz in einem Zwischenland,

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mit einem Teil im Alltag zurück, mit einem anderen Teil meiner Person aber dort, wo ich während der Operation war. Jede Rekonvaleszenz ist ein Übergang.' Ein anderer, wichtiger Ausgangspunkt meines Themas ist ein eben erschienenes Buch der Musiktherapeutin Monika Renz, dem ihre bei mir geschriebene Dissertation zugrunde liegt? Monika hat 10 Jahre an diesem Buch gearbeitet und eigene Erfahrungen als Patientin und als Musiktherapeutin waren für sie wegleitend. Sie beschreibt den Menschen als Bürger zweier Welten, jener unserer alltäglichen Erlebniswelt, und einer Transzendenz, eines Urgrundes, in dem wir vor unserer Menschwerdung aufgehoben waren, und den wir wieder erfühlen können, oft gerade im Durchstehen von Angst, Schrecken und Krankheit. Sie entwirft eine Vorstellung von menschlicher Entwicklung und von Therapie aufgrund der Wahrnehmung und Beachtung der frühen Übergänge - der Konzeption, dem Erleben im Mutterleib, der Geburt, der frühen Säuglingszeit. Wir haben während der Entstehung ihres Buches einige Male intensiv diskutiert. Mir war und ist vor allem wichtig, daß es nicht darum geht, im Sinne einer vom Alltag abgelösten Esoterik oder Frömmelei eine "andere", eine "jenseitige" eine "bessere" oder sonstwie isolierte und idealisierte Alternativwelt zu unserem Alltag zu postulieren, sondern auf dem Boden der Wirklichkeit von uns allen eine Sprache dafür zu finden, daß wir "Bürger zweier Welten" sind. Von der einen in die andere gibt es Übergänge - oder eben den Übergang (?) - und zwischen beiden liegt ein "Zwischen", in dem wir oft allzu kurz verweilen. Gewiß sollte man an dieser Stelle auf die Erfahrungen der Mystiker eingehen, auf Buddhismus und Taoismus, auf die Inkamationslehre oder auf die Theosophie; und man könnte sich mit der Feststellung begnügen, daß Monika diesen alt-ehrwürdigen Spuren folgt. Damit allerdings könnte man unser Thema auch gleich wieder beiseite legen, einordnen in das Gestell einer Bibliothek, z. B. ins Fach Religionswissenschaft, oder Orientalistik und dort könnte es weiter ruhen. Natürlich hätte ich schon ganz zu Beginn dieser Gedankenreise von den "rites des passages", den Übergangsriten sprechen müssen, einem zentralen Thema der vergleichenden Ethnologie, Religionsforschung und Anthropologie unseres Jahrhunderts. Geburt, Beschneidung, Taufe, Geschlechtsreife, Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen, Eintritt in einen Berufsstand, Hochzeit, Beerdigung, Trauerzeit und Ahnenfeiern sind die "großen" Übergangsrituale, deren Restzustände sich auch in der technisch-materialistischen Kultur des Abendlandes finden. Wenn es sein muß, werden sie neu erfunden, wie die oft erschreckend brutalen Eintrittsrituale in manche Jugendgruppen. Es sind Aufnahmerituale, soziale und spirituelle Übergänge, bei denen ein Individuum den Schritt vom Außenstehenden zum Dazugehörigen vollzieht. I Heinz Stefan Herzka, Gesundheit und Krankheit. Dialogisches Denken als Grundlage medizinischer Anthropologie, in: E.P. Fischer/H.S. Herzka/K. H. Reich (Hrsg.), Widersprüchliche Wirklichkeit. Neues Denken in Wissenschaft und Alltag. München 1992, S. 199219. 2 Monika Renz, Zwischen Urangst und Urvertrauen. Paderbom 1996.

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Befaßt man sich aber etwas näher mit der Entwicklung des einzelnen Kindes zum Jugendlichen und Erwachsenen, so sind diese feierlich betonten Übergänge eine Auswahl, die ihre Gründe haben mag - aber eben doch nur eine Auswahl. Vom Säugling zum Kleinkind, das aufrecht gehen und sprechen kann, gibt es mehrere Übergänge, die wir, sind sie vollzogen, als Entwicklungsschritte bezeichnen; Schritte über eine Grenze, oder besser über einen Zwischenraum, der das Vorher vom Nachher unterscheidet. Bekannte Übergänge der kindlichen Entwicklung sind etwa der Gestaltwandel im Kleinkindalter, der Zahnwechsel und natürlich die Pubertät. Auch das Kind, welches in die Gemeinschaft Gleichaltriger im Kindergarten eintritt, das seinen ersten Schultag hat, und damit "schon so groß" geworden ist, hat wichtige soziale Übergänge vollzogen. Wechsel der Schulstufen, Beginn der Berufsausbildung und deren Abschluß, Se1ektionsprüfungen aller Art sind Übergangsrituale, wobei das Ritual oft wichtiger ist, als sein Inhalt. In der Entwicklung des Kindes treffen sich individuelle, intrapsychische Übergänge, mit denen sich die Entwicklungspsychologie befassen sollte und soziale Übergänge, die ein Thema der Soziologie wäre. Die Entwicklungspsychologie kann Anlaß zu einem grundlegenden Mißverständnis geben. Zu leicht sieht man im Schulkind das Kleinkind oder den Säugling nicht mehr, oder überhört man als Erwachsener das Kind in sich selbst und in anderen Erwachsenen, die von außen gesehen, die Kindheit längst hinter sich gelassen haben. Mir scheint es wichtig festzuhalten, daß man bei einem Übergang, mit dem Eintritt in eine neue Zugehörigkeit keinesweg dort, wo man herkommt, "ausgebürgert" wird. Denn man mag noch so ein anderer, ein neuer Mensch werden, man trägt den, der man bis dahin war, weiter in sich. Der Baumstamm ist für mich eine einleuchtende Metapher, trägt er doch alle Jahrringe seiner Entwicklung unter der Rinde des mächtig gewordenen Stammes und in diesen Jahrringen sind die früheren Erfahrungen aufgehoben, auch die Verletzungen. Jahrringe sind mehr als Gedächtnis und Erinnerung im herkömmlich verstandenen Sinn, sie sind Gegenwärtigkeit des Vergangenen. Ich bin überzeugt, daß auch der Mensch in diesem Sinn die früheren Formen seiner Existenz und deren Erfahrungen in sich bewahrt, im Geist und - was ich für besonders relevant halte - auch direkt im Körper eingebaut. Ich erinnere mich an eine ältere Prüfungskandidatin, die aus einem damals dem Ostblock zugehörigen Land der alten Habsburgermonarchie stammend, in der Emigration in der Schweiz in fortgeschrittenem Alter studiert hatte und die nunmehr beim Überschreiten der Schwelle zum Prüfungszimmer zur Begrüßung einen veritablen Hofknicks ausführte, wie sie ihn als kleines Mädchen in einem wohl altbürgerlichen Elternhaus gelernt haben mochte, und seither wohl kaum mehr ausgeführt hatte. Fast alle Menschen bewahren in ihrer Mimik, ihrem Bewegungsverhalten Muster der Kindheit, die sie sehr früh von ihren Eltern übernahmen oder anerzogen erhielten. Wir folgen in unserem seelisch-geistigen Erleben und in unserem sozialen Verhalten häufig "Kindheitsmustern", "Jugendmustern", die sich mit dem verknüpfen, was wir später geworden sind. Oft wird aber auch das frühere ver-

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drängt, abgespalten, verleugnet. Es scheint schwierig, eine mehrfache, komplexe Identität zu leben, die Schichten früherer Leben oder Lebensperioden in sich schließt. Diese Mehrschichtigkeit ist nicht ohne weiteres als ein Ganzes lebbar, sondern nur dann, wenn die verschiedenen Elemente in einem kontinuierlich vitalen Prozeß miteinander verknüpft, zusammengehalten werden. Das setzt voraus, Übergängen ihre Geltung zu lassen sowie die Kraft auch Widersprüche und Verletzungen, Ungereimtheiten, als Teil seiner selbst anzuerkennen. Ein besonderes Beispiel dieser mehrfachen Identität geben Menschen, die mehr als einer Kultur angehören; sei es, weil sie selbst den Kulturraum gewechselt haben, oder mit ihren Familien als Kinder aus- und eingewandert sind. Anpassungsdruck, Loyalitätsprobleme gegenüber der Ursprungskultur, Fremdenfeindlichkeit und Angst vor der Andersartigkeit des jeweils Anderen verhindern oft, daß die eigene Mehrkulturalität - oft ist sie mehr als eine duale Identität, weil mehrere Kulturströmungen daran beteiligt sind - in ihrem ganzen Reichtum gelebt, und als Bereicherung erlebt werden kann. Und doch ist kein Zweifel: sie sind die Ersten, die Vorboten der neuen Art Mensch, der obschon in einer, oft eng umschriebenen Region verwurzelt, gleichzeitig Globalbürger - Weltbürger nannten es meine Eltern ist. Mit Vergnügen sehe ich jenen Berliner Kellner vor mir, der in waschechtem Berlinerisch seinen Gästen die Speisekarte erklärte und dabei mit seiner Mimik und seiner Gestik ebenso unverkennbar süditalienisch sprach. Er hat einen Kulturübergang in sich integrieren können. Übergänge sind somit nicht Wechselprozesse sondern Wachstumsprozesse, bei denen zum bestehenden Zustand, zur bisherigen Seins weise eine neue erweiternde Erfahrung hinzukommt. Übergangszeiten sind oft sehr schmerzhaft und ängstigend, Zeiten der Krise, scheinbar ausweglos. Besonders schmerzlich sind Übergänge, in die wir unvermittelt hineingeworfen werden, durch schwere Krankheit, sei es eine eigne oder die eines nahestehenden Menschen oder durch den Tod geliebter Menschen. Übergänge sind nicht Vorgänge, die den großen religiösen Erfahrungen oder esoterischer Erkenntnis vorbehalten wären; sie sind alltäglich. Übergänge im Erwachsenenalter von großer Tragweite sind Wechsel der Lebengefährten, beispielsweise durch Scheidung, auch Wechsel der Arbeitsstelle, oder in eine arbeitslose Zeit nach einer Entlassung oder Pensionierung. Zwei weitere Metaphern können Mißverständnisse vermeiden helfen: Bei der Bergwanderung über einen Paß mag es auf der Landkarte scheinen, als steige die Straße auf der einen Seite an, um sich gleich darauf in das Tal jenseits des Passes zu senken. Bei der Wanderung erweist sich dann aber der Übergang, der Paß selbst, als ein Hochtal, welches sich zwischen der einen und der anderen Seite hinzieht. Der Übergang hat seine eigene Dauer, seine eigene Landschaft. Eindrucksvoll ist auch der Übergang von der Raupe zum Schmetterling; lange dauert die Zeit, welche die Raupe von einst, der Schmetterling von morgen, einge-

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sponnen im Cocon zubringt, eine biologisch heikle Phase des Überganges von einer Existenzform in die andere.

In Märchen und Mythen haben HeIdinnen und Helden häufig solche Zeiten des Überganges, in religiöser Sicht Zeiten der Läuterung oder der Bewährung durchzustehen. Und dennoch lassen sich Übergänge nicht so erdauern, wie Metaphern und Heldengeschichten glauben machen könnten. Irgendwann kommt ein qualitativer Sprung, der entscheidende Schritt über die Wasserscheide, der Moment des sich Einspinnens in den Cocon und der Moment des Ausbruches aus ihm, jener Augenblick, in welchem Allerleirauh im gleichnamigen Märchen, ein Zeichen ihrer königlichen Abstammung in das Glas des Prinzen fallen läßt, der Moment des Einstiegs in den Zauberbrunnen und jener, in welchem die Jungfrauen Frau Holles Reich verlassen, indem sie sich unter den Torbogen stellen, der Moment des Stolperns, welcher Schneewittchen weckt, und der belebende Kuß, der Augenblick, in dem der eklige Frosch erlöst wird, das alles sind Momente, in denen die Zeit nicht zählt, Augenblicke, Entscheidungsschritte, mit denen sich das Wesentliche vollzieht, es sind "Quantensprünge", bei denen der point 0/ no return überschritten wird; nichts ist nachher mehr so, wie es vorher war. Und das Vergangene ist durch das Neue in seiner Bedeutung und Qualität verändert. Übergänge beinhalten beides, die allmähliche Veränderung, eine Periode des Wandels, und diesen abrupten Sprung. Sie sind gleichermaßen der Zeit verbunden, wie von ihr unabhängig. Der "Quantensprung" stellt sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ein. Er läßt sich allenfalls vorbereiten, aber keinesfalls machen, und schon gar nicht drängen. Mit dem Übergang in der zeitlichen Dauer hingegen läßt sich respektvoll, aufmerskam umgehen, indem wir ihn beachten, ihm die Zeit gönnen und geben, deren er bedarf. Da ist die Zeit des Aufwachens aus dem Schlaf. Meine persönliche Morgendämmerung, jener Zustand in dem ich nicht mehr schlafe, und noch nicht ganz wach bin. Bisweilen gelingt es mir, ihn etwas zu verlängern. In ihm stellen sich, so scheint mir, Einfälle ein, bestimmte Einstellungen, die das anbrechende Tagesgeschehen betreffen, formieren sich. Wie lange ein gelungener Übergang aus dem Schlafen in den Wachzustand braucht, scheint mir weniger eine Frage der Minuten, als eine Frage der Konzentration auf diesen Übergangszustand als solchen. Seine ärgsten Feinde sind die angriffigen Muntermacher, wie die betont fröhliche Morgenmusik eines Radiosenders, die aufmunternd weckende Stimme eines Radiosprechers, der offenbar bereits unter der kalten Dusche war und schon gefrühstückt hat. Das sind Übergangsräuber. Ein Übergang ist die Fahrt zur Arbeit, der besinnliche Gang über die Stufen meines Arbeitsortes in mein Büro; er reicht von den letzten Worten, die ich zuhause gewechselt habe zu den ersten an der Arbeitsstelle. Der Arbeitstag legt sich in diesem Übergang zurecht, ein unbeabsichtigter Energieplan formiert sich, der besagt, was viel, was weniger Kräfte beanspruchen und was Bereicherung bedeuten kann.

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Übergänge sind die kurzen Zeiten zwischen unterschiedlichen Arbeitstätigkeiten und insbesondere die kurzen Pausen zwischen Besucherinnen und Besuchern, die mich aufsuchen. Jene, die kommen und einige Minuten warten, stellen sich auf das Gespräch ein, während ich selbst, nach Abschluß eines Gespräches, aus der eben erlebten Arzt-Patienten-Beziehung mich vorsichtig zurückziehe, die gemeinsame Gedanken- und Gesprächswelt verlasse, mit mir allein einige Augenblicke verweile und dann meine nächste Klientin, meinen Klienten begrüßen gehe. Wenn wir uns dann zum therapeutischen Gespräch zusammenfinden, brauchen wir zuerst nochmals gemeinsam eine Übergangszeit, bis wir uns beide zurechtgesetzt haben, bis sich ein erstes Thema einstellt; und im Laufe des Gespräches gibt es mehrfach kleine Übergänge, von einem Thema, einer Gefühlslage in die andere. Es sind dies oft Pausen erfüllten Schweigens, in dem Gedanken und Gefühle kreisen, bis sie sich wieder niederlassen. Gerade in der therapeutischen Arbeit wird man immer wieder aufmerksam auf allerlei Übergänge, zwischen Phantasie und Realität - und Kinder verweilen gut und gerne im Zwischenland, zwischen Heiterkeit und Trauer, Angst und Geborgenheit, Wut und Versöhnlichkeit. Und nie ist das eine allein und ausschließlich da, ohne daß irgendwo auch das Andere ist, das Gegenüber; und oft sind beide gegenwärtig, und man schaukelt dazwischen, wie zwischen den beiden Aufhängepunkten einer Hängematte. Ambivalenz nennt das die Psychologie. Wo sie fehlt ist eine ernste Störung zu vermuten. Oft wird sie beengt durch eine in der Kindheit erworbene Verpflichtung zu angeblicher Eindeutigkeit, zu Eindimensionalität, in der man sich stets das Andere, das Gegenüber schuldig bleibt, und dadurch schuldbewußt und manipulierbar wird, zum Nutzen der Inhaber der Macht, seien es Eltern, Kirchenfürsten oder Politiker. Wo die Ambivalenz entwertet und unterdrückt wird, wird Menschlichkeit durch Machbarkeit ersetzt. 3 Oft muß ich mich in der Arbeit gegen Übergangsräuber verwahren, Telefonanrufe, die sich dazwischen drängen, oder kurze, freundliche Anfragen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und ich muß mich selbst disziplinieren, um Gespräche zeitgerecht zu beenden. Ohne Übergang ist ein Teil der vorangehenden Arbeit wie ausgefranst und entwertet - und der Einstieg in die folgende Sequenz oft enorm erschwert. Das ist mit Worten schwierig zu erklären. Aber die Arbeit wird ohne Übergänge atemlos, wie ein gehetzt gespieltes Musikstück, dessen Pausen ungeduldig verkürzt wurden und das dabei seine musikalische Ausstrahlung einbüßt. Kommen Musiker im Orient zum gemeinsamen Spiel zusammen, so geschieht dies sehr allmählich; zuerst sind ihrer wenige da, andere gesellen sich hinzu und in dieser Zeit findet sich nach und nach das Publikum ein. Dann beginnen einige ihre Instrumente einzuspielen, andere stimmen ein, und irgendwann, nach einer recht langen Übergangszeit, beginnt das "eigentliche" Instrumentalspiel, setzt der Gesang ein, und sind die Zuhörer in den Bann gezogen. Ganz anders im westlichen 3 Elisabeth Otscheret, Ambivalenz. Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespälte, Heidelberg 1988.

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klassischen - Konzertsaal, wo die Übergangszeit zwischen dem Einmarsch des Orchesters und dem Heben des Taktstockes durch den Dirigenten sehr verkürzt ist und die Zuhörer häufig von den ersten Takten "überwältigt" werden; anders ist dies allenfalls bei Jazzorchestern. Musik eignet sich besonders gut, um sich mit Übergängen zu befassen, und so ist es denn auch naheliegend, daß Monika Renz von der Musik ausgeht. Schließlich ist Musik, als Gebetsgesang oder religiöse Musik seit Menschheitsgedenken ein Medium des Überganges zur Transzendenz, in der Anrufung der Gottheit und im Erreichen von Trancezuständen, die Grenzerfahrungen ermöglichen. Sollten Sie, verehrte Leserin oder Leser, das Bedürfnis haben, die Übergänge zu systematisieren, so mögen Sie diese beispielsweise ordnen in entwicklungspsychologische, intrapsychische, soziale und kulturelle Übergänge. Eine solche Ordnung bedeutet allerdings sogleich den Verlust aller Übergänge zwischen den Kategorien. Wichtiger scheint mir die Feststellung, daß Übergänge Bewegung sind, Bewegung vom Einen zum Anderen, ohne das Vorangehende zu verlieren oder aufzugeben. Übergänge erweisen sich als Lebensfonn im Zwischen, zwischen dialogischen Gegenübem 4 , die gemeinsam ein größeres, oft widersprüchliches Ganzes bilden, ein Ganzes, innerhalb dessen das Leben pulsiert, wie der Herzschlag zwischen Systole und Diastole, die Atmung zwischen Ein- und Ausatmung. Das Leben gewinnt an Tiefe, an Dimension und Lebendigkeit, wenn wir im Alltag Übergängen ihren Platz gewähren, ihre Zeit und den notwendigen seelisch-geistigen aber auch physikalischen Raum.

4 Heinz Stefan Herzka, Dialogik als Praxis. Ein Arbeitsbericht, in: W. Goetschel (Hrsg.), Perspektiven der Dialogik. Zürcher Kolloquium zum 80. Geburtstag von Hermann Levin Goldschmidt, Wien 1994, S. 125-143.

Die Wahrnehmung des Anderen Postmoderne Hyperflexibilität und koevolutive Identitätsbildung

Von Hinderk M. Emrich, Hannover

I. Einleitung

Die Modeme und die Postmoderne sind subjektorientiert ; das will sagen: die gesellschaftlichen Parameter, mit denen Eigenschaften, Leistungen, Wirkungen bemessen, kategorisiert und belohnt oder bestraft werden: Gewinn, Lust und Strafe, beziehen sich auf subjektive Sphären. Von denen gehen aus: Arbeit und Leistung; in denen realisieren sich: Glück und Wohlstand, Unglück, Vergessen, Krankheit und Tod. Alle diese Größen, in denen sich unser Leben abzuspielen scheint, bilden wir, als vermeintlich gute Cartesianer, ab in Sphären des Ich. Denn das "Cogito ergo sum" scheint einfach übersetzbar zu sein: ich denke und somit bin ich auch. In der Philosophiegeschichte ist allerdings immer wieder mit Recht darauf hingewiesen worden, daß schon dies ein Mißverständnis ist. Denn dem genialen Descartes 1 ging es um etwas ganz anderes: im radikalen Zweifel der ungelösten Frage, was ist Wahrheit, wenn ich schon zwischen Wachen und Traum nicht wirklich unterscheiden kann, wenigstens einen einzigen sicheren Haltepunkt zu finden; und dieser ist nicht das "Ich" sondern eben der sich selbst einholende bewußte Zweifel, der Bewußtseinsvollzug, der Prozeß des Denkens als solcher; und damit ist - wie Lichtenberg witzig bemerkte, nur das Bewußtsein - nicht aber das Ichbewußtsein als wahrhaft existierend abgesichert; und so konnte er im beginnenden vorigen Jahrhundert spotten: "Es denkt in den Straßen - es denkt in den Gassen .... ,,2 Wenn aber das modeme und postmoderne Zeitalter tatsächlich als subjektivistisch zu kennzeichnen ist - und das heißt vielleicht kritisch auch als "solipsistisch", im Sinne einer zugrundeliegenden Egologie der Gegenwart, dann stellt sich die Frage: Was sind die Folgen davon und wo gibt es Ansätze zur Überwindung? Im folgenden soll einerseits das als "Hyperflexibilität" zu kennzeichnende Syndrom der "pluralen Beliebigkeit" zum Thema gemacht werden, zum anderen die Wahrnehmung des Anderen als Interpersonalität und die damit verbundenen Chancen koevolutiver Identitätsbildung. 1 2

Vgl. Rene Descartes, Meditationen, Hamburg 1972. Georg eh. Lichtenberg, Schriften und Briefe, Frankfurt/M. 1994.

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11. Phänomenologie des postmodernen Identitätsverlusts

Was das Gegenwarts-Denken und -Fühlen in besonderem Maße bestimmt und beunruhigt, sind Fragen der Identität von Menschen: berufliche und private Rollenidentitäten, ethnische und religiöse, geraten in unentwirrbare Verwicklungen. Identitäten werden dabei so instabil, daß enorme Kräfte entladen werden; Emotionen, Aggressionen: Menschen geraten in extremer Weise in Zustände existentieller Verunsicherung und Beunruhigung, ein Klima, wie es sich in modernen und postmodernen Filmen wie denen von Wenders, Bergman oder in Fellini's "La voce della luna" und in Theaterstücken, wie denen von Botho Strauß 3 , und in Philosophien, wie denjenigen von Lyotard 4 und Baudrillard5 zeigt - ein Klima postmoderner Pluralität und Fiktionalität. Denn in der Postmoderne gerät auch das Cogito sum, in dem das Denken sich selbst einholt, ins Wanken: Auch eine Maschine könnte eines Tages selbstreflexiv, selbstreferenziell i.S. von Luhmann 6 und Maturana7 gebaut werden und ihre Cogitationes, ihre Denkakte, zum Beweis von Subjektivität in Anspruch nehmen. Was aber heißt dann noch menschliche Subjektivität? In einem kulturellen Klima, in einer philosophischen Landschaft, wo so gefragt werden kann, erscheint Identität plötzlich nicht mehr fests tell bar, Menschen sind aber gezwungen, hiennit umzugehen. Der Psychotherapeut Jürg Willi 8 hat kürzlich dargelegt, wie die scheinbar optimierte, die Arbeitsplätze wegrationalisierende Ökonomie - die schlanke Produktion ("lean production") - beim Arbeitnehmer zu einem sozialdarwinistischen Anpassungsdruck führt, der ganz explizit die Sphäre der Subjektivität ergreift: wie muß ich beschaffen sein, wie kann ich mich selbst optimieren, damit ich mich im Sinne eines Diktums von Willi "auf mich selbst verlassen" kann? Welche Form von Selbst-Konstellierung ist die optimale, um mich im Kampf gewinnen zu lassen, um mich abzusichern? Die Selbstkonstellierung, um die es sich hierbei handelt, ist eine solche, innerhalb derer subjektive Identität offenbar frei gewählt werden kann. Willi spricht in diesem Zusammenhang von Flexibilität, Jean-Francois Lyotard von ,postmoderner Hyperflexibilität'. Worum handelt es sich hierbei? Lyotard analysiert in seinem Buch "Patchwork der Minderheiten" den Einfluß des Geldes, der Ökonomie in folgender Weise: "Das Kapital ist jener Pseudoorganismus, der nicht in der Lage ist, einen Diskurs zu formulieren, der seine Wahrheit Vgl. Botho Strauß, Schlußchor, München 1991. Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen: ein Bericht, Wien 1993. 5 Vgl. Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978. 6 Vgl. Niklas Luhmann, Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, in: Merkur 42 (1988), S. 292-300. 7 Vgl. Humberto R. Maturana, Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig 1982. 8 Jürg Willi, Die bedrohte Regulation der psychischen und sozialen Ökologie des Menschen. in: P. Buchheim1M. Cierpka/Th. Seifert (Hrsg.), Neue Lebensformen - Zeitkrankheiten - und Psychotherapie. Lindauer Texte. Berlin I Heidelberg 1994, S. 144. 3

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begründet. Es verfügt über keine Religion und keine Metaphysik, die seine Existenz erklären und rechtfertigen könnten. Nirgendwo ein ,deshalb bin ich hier, deshalb bin ich oder habe ich die Macht'. Unsere Gesellschaft hat nicht nur keine Begründung, sie lehnt die Idee einer Begründung, einer höchsten Autorität, im Innersten ab. Stattdessen übernimmt das Kapital die Initiative - in gewisser Hinsicht eine geniale Perspektive, weil die Sinnfrage dadurch vollständig umgekehrt wird. Den Sinn zu begründen, d. h. ihn von anderswoher zu empfangen: darüber kann ich nur lachen, sagt das Kapital, ich schlage Axiomatiken vor, d. h. Entscheidungen darüber, was Sinn haben soll. Ich schlage vor, den Sinn zu wählen".9 Daß der Sinn von etwas nicht in der Sache selbst liegt, sondern frei gewählt werden kann, quasi verabredet wird, ist ein Grundzug dessen, was man in der Philosophie als "performativen Akt" bezeichnet. Lyotard ergänzt seine Analyse der funktionalen Rolle des Kapitals durch seine Charakterisierung von Wissenssystemen in seinem Werk "Das postmoderne Wissen". Wissen hat in den gegenwärtigen Industriegesellschaften einen überdimensionalen, nicht mehr überschaubaren, überindividuellen Charakter angenommen, hat den Charakter der Pluralität der Meinungen und nicht überschaubaren Fakten. \0 Hier besteht auch der Bezug zum Fiktionalismus und zum Konstruktivismus, wie er sich beispielsweise in dem Buch des französischen Philosophen Baudrillard widerspiegelt "Die Agonie des Realen", d. h. Dahinsiechen von Realität im Sinne herkömmlichen Denkens. Und der entscheidende Begriff von Baudrillard ist hierbei der des "Simulacrums", d. h. einer fiktionalen, simulierten Wirklichkeit. 11 III. Zur Konstitution der interpersonalen Beziehung

Die durch diese Beschreibung postmoderner Beliebigkeit ausgelösten Fragen nach der Konstitution personaler Identität führen auf grundsätzliche philosophische Probleme der Verfaßtheit von "Ich" und "Selbst" im Hinblick auf andere. Ein grundlegendes Werk hierzu stammt von dem Berliner Philosophen Michael Theunissen. Unter dem Titel "Der Andere" setzt Theunissen l2 sich mit der Entwicklung der Interpersonaltheorie als "Sozialontologie" auseinander. Ausgehend von der transzentalen Intersubjektivität Husserls und deren weiterer Ausgestaltung durch Heidegger und Sartre entwickelt Theunissen das Konzept der "Philosophie der Dialogik" bei Martin Buber, als "Ontologie des Zwischen". Die philosophische Dimension des Verhältnisses zwischen Ich und Du läßt sich in diesem Sinne einerseits auf den grundlegenden oben angedeuteten Problemen der Subjektphilosophie Jean-Francois Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten, Berlin 1977, S. 22. Vgl. J.-F. Lyotard (FN 4). II Vgl. Baudrillard (FN 5). 12 Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. 9

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aufbauen, was zur Philosophie des Existentialismus im Sinne Sartres und Heideggers führt, auf der anderen Seite aber sich von religiösen Fragen, wie sie bereits bei Kierkegaard und insbesondere bei Martin Buber deutlich werden, nicht trennen. In dem von Martin Buber 1923 erstmals veröffentlichten Buch "Ich und Du" sind die Grundfragen der für das vorliegende Thema wesentlichen Theorien über die gegenseitige Beeinflussung von persönlichen Entwicklungen von Partnern, die langfristig zusammenleben, entwickelt. 13 Denn, wie Jürg Willi ausgeführt hat, befaßt sich "Koevolution mit der Frage, wie das Leben des einzelnen durch die aktuellen Beziehungen mit seinem Partner beeinflußt wird, wie Persönlichkeitsentwicklungen von Partnern miteinander korrespondieren, wie die Entwicklung des einen aus der Entwicklung des anderen hervorgeht, durch diese herausgefordert, unterstützt und begrenzt wird und wie die selbstgeschaffenen und äußerlich gegebenen Rahmenbedingungen den Spielraum für Koevolution abstecken.,,14 Für Buber ist die Ausgangskonstellation seiner Interpersonalphilosophie durch die Erkenntnis geprägt, daß für den Menschen "die Welt ... zwiefältig" ist, und zwar "nach seiner zwiefältigen Haltung." Worin besteht diese Doppelung der Haltung? Sie geht einerseits auf Personen, andererseits auf Dinge. Dem entspricht Martin Bubers These, diese Haltungen seien durch "Grundworte" definiert, die Menschen sprechen können: "Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei, ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann." Damit führt Buber aus, daß aufgrund des uns Menschen innewohnenden Verdinglichungs- bzw. Objektivierungsprogramms Menschen wie Gegenstände behandelt werden können und daß andererseits das Ich des Menschen insofern "zwiefältig" ist, als jeweils eine Grundunterscheidung zwischen dem Grundwort "Ich-Du und dem Grundwort Ich-Es" getroffen werden muß. Nun besteht aber für Buber eine sehr wesentliche Aussage in diesem Zusammenhang darin, daß "Grundworte mit dem Wesen gesprochen" werden, eine Feststellung, die dazu führt, daß Theunissen die Dialogik Bubers als eine Ontologie, nämlich als "Ontologie des Zwischen" charakterisiert. Worin aber besteht diese Ontologie? Buber führt aus: "Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden." und er setzt dagegen: "Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.,,15 Mit anderen Worten: wesenhaft kann der Mensch nur sein im Hinblick auf andere menschliche Wesen, nicht aber auf Dinge. Buber drückt dies auch so aus: "Man sagt, der Mensch erfahre seine Welt. Was heißt das? Der Mensch befährt die fläche der Dinge und erfährt sie. Er holt sich aus ihnen ein Wissen um ihre Beschaf13

136.

Vgl. Martin Buher, Ich und Du. In: Das Dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, S. 7-

14 Vgl. Jürg Willi: Koevolution - ein Perspektivenwandel in der Psychotherapie. Vortrag auf der Tagung "Koevolution", Zürich, Oktober 1994. 15 Buher (FN 13), S. 7.

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fenheit, eine Erfahrung. Er erfährt, was an den Dingen ist".16 Dies ist das Weltverhältnis des Ich-Es. Dieser Welterfahrung als Dingerfahrung setzt Buber entgegen die existentielle Erfahrung des Du, die in dem berühmten Satz kulminiert: "Im Anfang ist die Beziehung." Wie aber kommt Buber zu diesem Satz? Hier die wesentlichen Passagen: "Das Du begegnet mir ... Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen, ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar, zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie ... Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme ... nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.'d 7 Für die zu skizzierende Theorie einer möglichen koevolutiven Interpersonalbeziehung ist wesentlich, daß weder das Ich noch das Du fixe, durch Kategorien definitiv feststellbare Begrifflichkeiten darstellen, sondern daß die Konstitution des Subjekts, das "Ich", erst in der "Beziehung", die als "im Anfang" stehend gekennzeichnet wird, d. h. aus der Begegnung, entsteht. Nur so ist der Satz zu verstehen: "Ich werde am Du" und andererseits "Ich werdend spreche ich Du". Und so ist auch der weiterführende Satz zu verstehen: "Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf.,,18 Anders gesprochen: erst vom Ergebnis der Koevolution her ist die primäre Konstitution von Ich und Du verstehbar, ablesbar, erweis bar. Blickt man von Theorien der "Autopoiesis", der "Systemtheorie", systemischen Ansätzen über die Emergenz von Eigenschaften innerhalb von Systemen auf diese Sätze einer Fundamental-Ontologie des Interpersonalverhältnisses zurück, so erscheinen sie außerordentlich "modern"; modem deshalb, weil in ihnen bereits etwas - zumindest zwischen den Zeilen - angedeutet ist, was insbesondere von der Theorie nicht-linearer Prozesse deutlich gemacht werden kann: das Ganze ist nicht nur mehr als die Summe seiner Teile - es ist etwas anderes: beim Einschwingen eines Systems in einen neuen "Attraktor", einen Zustand neuer Stabilität, der nach Durchlaufen einer "Instabilität", einer "Bifurkation" erreicht wird, entsteht ein Zustand, der nur verstanden werden kann, wenn das Ergebnis der dynamischen Wechselwirkung nicht als Summe der Konstituenten sondern als Folge der "Dynamik des Systems" verstanden wird, d. h. als Folge dessen, was Martin Buber die ursprüngliche "Beziehung" nennt, und was bei Theunissen "Ontologie des Zwischen" heißt. Wie aber steht es nun mit der Konstitution dieses "Zwischen" und worin liegt seine Bedeutung für koevolutive Prozesse?

16 17

18

Buher (FN 13), S. 9. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 19.

14 Selbstorganisation, Bd. 7

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IV. Zur Konstitution des "Zwischen"

Der Münchner Philosoph Reinhard Lauth hat in seinem 1969 publizierten Buch "Ethik" die Grundprinzipien des "Interpersonalschemas" dargestellt. 19 In einer hierauf bezugnehmenden späteren Arbeit erläutert er dieses Interpersonalschema in folgender Weise: "Personen sind füreinander nur im Verhältnis von Aufruf und Antwort da. Nun ist aber die Antwort immer frei; der Aufgerufene kann auf den Aufruf und die in diesem beschlossene Aufforderung eingehen oder sie abweisen. Es gibt zwei sehr verschiedene, aber jeweils wiederum wesentliche Verhältnisse, nämlich sich vertragen oder Gegnerschaft, Frieden oder Krieg. Im Fortgange antwortet der Aufgerufene jeweils auf eine durch den spezifischen Aufruf konkret bestimmte neue Aufforderung. Zugleich schafft er durch die Art seiner freien Antwort eine einmalige geschichtliche Situation. Von dem Augenblick an, da sie erfolgt, ist diese bestimmte Wirklichkeit realisiert mit Ausschluß anderer, ebenso möglich gewesener. Da Aufruf und Antwort Bewußtseinsakte sind, bezieht sich das Bewußtsein beider hier beteiligten Personen in jedem neuen Moment integrierend auf das Vorhergehende zurück. Es bestimmt sich mit Bezug eben darauf; und in der neuen Bestimmung ist der Wille, der in der vorhergehenden sich aussprach, seinerseits in actu mitbestimmend. In jeder Folgeentscheidung werden die vorhergehenden beurteilt, konstelliert, bewältigt, gerechtfertigt oder verworfen. Ineins damit ist jede konkrete freie Setzung Projektion in die Zukunft; sie realisiert schöpferisch eine in der Folge relevante unableitbare Position, und zwar eine moralisch-praktisch relevante. ,,20 Mit anderen Worten: Interpersonalverhältnisse sind frei miteinander wechselwirkende Bewußtseinsakte und zwar im schöpferisch thetischen Sinne kreativ. Sie werden deshalb auch als "performative Akte" bezeichnet. Dieser performative Charakter des interpersonalen Lebens, der sich in dem in Kap. III zitierten Text von Willi darin ausspricht, daß von den "selbstgeschaffenen Rahmenbedingungen" gesprochen wird: worauf gründet sich diese wirklichkeitsschaffende Kraft als eine solche, die weder der einen Person noch der anderen alleine zugesprochen werden kann? Sie gründet sich auf das beispielsweise von dem Entwicklungspsychologen Daniel Stern21 in eingehenden Untersuchungen rekonstruierte Interpersonalverhältnis der frühkindlichen Dyade zwischen Mutter und Kind. In dieser läßt sich konkret nachweisen, daß das "Ich" des Säuglings nicht in identifizierbarer Weise manifest vorhanden ist, sondern es ist ein Ich-Bewußtsein im "Entstehen", ein aus der Beziehung abgeleitetes sich aus dem dyadischen Prinzip primärer "Wirhaftigkeit" konstituierendes Gefüge, dessen originärer Status eben gerade darin liegt, daß es sich nur als ein ,,zwischen", als ein "Band" zeigt, nicht aber als eine feststellbare "Struktur" des einen oder des anderen der beiden Vgl. Reinhard Lauth, Ethik, München 1969. Vgl. Reinhard Lauth, Der letzte Grund von Fichtes Reden an die deutsche Nation, in: K. Hammacher/R. Schottky/W.H. Schrader (Hrsg.), Fichte-Studien, Bd.4, AmsterdamAtlanta GA 1992. 21 V gl. Daniel Stern, The interpersonal world of the Infant, New York 1985. 19

20

Die Wahrnehmung des Anderen

211

einander begegnenden Wesen bezeichnet werden kann. Als exemplarische Repräsentation dieses "Zwischen" erscheint damit vor unseren Augen die Madonna Raffaels, bei der die Oszillationen der Blicke zwischen der Mutter und dem Kinde eine Art innere Unendlichkeit beinhalten, die wesens mäßig genau dies ausdrückt, was mit Theunissens "Zwischen" ausgesagt ist. Wenn die Ich-Konstitution in diesem Sinne ein "Werden" ist, wenn sie bedeutet, daß es keinen statischen Begriff von "Selbst" und von personaler Identität geben kann, so verweist dies auf die von dem philosophischen Psychologen Max Scheler etwa zu gleicher Zeit mit dem Erscheinen von Martin Bubers Buch "Ich und Du" gegebene Definition personaler Identität als "Werdeprozeß". In diesem Sinne hat Robert Spaemann, im Anschluß an Scheler, personale Identität gekennzeichnet als die "spezifische Weise des Werdens von Menschen", was bedeutet, daß stärker als strukturelle Aspekte die Dynamik, der zeitliche Vollzug in seiner Prozeßhaftigkeit als konstituierend für die Identitätsbildung anzusehen ist. 22

V. Systemtheorie der Koevolution Aufgrund des bisher Dargestellten läßt sich sagen, daß koevolutive Beziehungsgefüge als Prozesse aufzufassen sind, was bedeutet, daß eine systemtheoretische Rekonstruktion nur innerhalb von Beschreibungen der zeitlichen Verläufe, der Dynamik der systemischen Wechselwirkungen vollzogen werden kann. Da es sich um äußerst komplexe Systeme handelt, deren zeitliche Verläufe in ihrer Multidimensionalität nicht beschreibbar sind, kann man sich bei einem derartigen Beschreibungsversuch nur auf einfachste Grundzüge beziehen. Eine Grundannahme besteht darin, daß, wie bereits oben angedeutet, im Sinne der beispielsweise von Peitgen vorgetragenen Konzeption der Systemtheorie nicht-linear dynamischer Prozesse davon ausgegangen werden kann, daß die emergenten Eigenschaften eines solchen Systems, durch Verzweigungsbäume beschrieben werden können, bei denen relativ stabile Phasen, die formal gesehen als "Attraktoren" zu beschreiben sind, sich abwechseln mit Phasen der "Instabilität", sogenannten "Bifurkationen" (Abb. 1) innerhalb derer äußerst geringfügige Einflüsse innerer und äußerer Variablen zu maximalen Systemänderungen führen, was dann zum Einschwingen in einen neuen Attraktor führt. 23 Diese emergenten Eigenschaften beziehen sich dann aber nicht nur auf einen Partner des betrachteten koevolutiven Systems, sondern auf die Gemeinsamkeit aller dieser Partner, im einfachsten Fall auf eine koevolutive Zweierbeziehung. Diese ist nun aber, wie oben bereits angedeutet, einerseits geprägt durch ihre Geschichtlichkeit, denn Identität wurde ja mit Scheler und Spaemann als "Werdeprozeß" gekennzeichnet - bzw. Lauth hatte davon gesprochen, daß "in 22 Vgl. Robert Spaemann, Vortrag auf dem Philos. Oberseminar der Ludwig-MaximilianUniversität München, Sommersemester 1995. 23 Vgl. Heinz Peitgen, Chaos and Fractals, New York 1993.

14*

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jeder Folgeentscheidung ... die vorhergehenden beurteilt, konstelliert, bewältigt, gerechtfertigt oder verworfen" werden. Diese Verhältnisse sind im Schema der Abb. 1 im Hinblick auf die Neurose dargestellt, wo das Trauma zu einer massiven Einschränkung der jeweils möglichen Optionen führte. Diese "subjektive Historie" muß nun aber wiederum als eine doppelte gesehen werden, in einer Weise, die bisher noch nicht in einem Schema graphisch darzustellen versucht wurde.

11

TRAUMA"

Abb. 1: Schematische Darstellung der Einschränkung der Besetzung von Endzuständen eines evolvierenden nichtlinear-dynamischen Systems durch Störungen während der Entwicklung ("Trauma"); modifiziert nach Peitgen (FN 23)

Welche sind nun aber die Grundeigenschaften, die bei einer systemtheoretischen Repräsentation (bzw. Metaphorik) des interpersonalen Nexus zu berücksichtigen sind?

Die Wahrnehmung des Anderen

213

Aus dem oben dargestellten Ursprung des interpersonalen Buberschen Ich-Du aus der primären dyadischen Mutter-Kind-Beziehung läßt sich folgern (Abb. 2), daß das "Ich" in seiner ursprünglichen Struktur nicht als abgekapselte, solipsistische Einheit zu interpretieren ist, sondern als eine "dyadische" Einheit in dem Sinne, daß in ihr die introjizierte Dyade, die Repräsentation des ,,zwischen" immer schon vorgängig mit enthalten ist. Deshalb ist als Schema für die interpersonale Wechselwirkung in der dargestellten Abbildung als Kern der Persönlichkeit (im Sinne Fichtes) nicht das abstrakte "Ich" sondern das S/O als Repräsentation des primären interpersonalen ,,zwischen" angesetzt. Unklar bleibt allerdings, in welcher Weise zwei subjektive Sphären einander in der neuen Begegnung, beim Aufbau eines neuen koevolutiven Wechselwirkungsprozesses miteinander gefühlsmäßig in Berührung kommen. Dies ist im Schema durch die Pfeile angedeutet.

Abb. 2: Schema der S/O-Repräsentation in der interpersonalen Beziehung und der Konstitution des ,,zwischen"

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VI. Koevolutive Interpersonalität und Mimesistheorie

Die prinzipiellen Möglichkeiten, die emotionale interpersonale Begegnung in ihren Grundeigenschaften zu rekonstruieren, wurde in den letzten Jahren durch die von Rene Girard entwickelten Theorien der "Mimesis" wesentlich bereichert. Dieses insbesondere auch von Gebauer und Wulf dargestellte und weiterentwickelte Konzept beinhaltet, daß mimetische Prozesse nicht darin aufgehen, "Verähnlichung" zwischen Subjekten zu sein. Das bedeutet, daß Menschen nicht nur in dem Sinne aufeinander zugehen, daß sie einander zum Vorbild nehmen, einander kopieren, und in diesem Sinne einander ähnlich werden, sondern daß vielmehr mimetische Prozesse mit tieferliegenden emotionalen Kopplungen einhergehen, die Girard in einigen seiner Werke wie z. B. "Das Heilige und die Gewalt" eindrücklich als "Begehrenskopplungen" beschrieben hat. 24 In einer eingehenden Auseinandersetzung mit Freuds kulturtheoretischem Werk "Totem und Tabu" zeigt Girard eine das Freudsche Ödipal schema zumindest ergänzende wenn nicht relativierende Konzeption, (Abb. 3) die beinhaltet, daß zwischen Subjekt und Objekt ein sogenannter "Mediateur" steht, ein "Begehrensvermittler", der eine Art "Garantie"-Funktion im Hinblick auf die Frage hat, welche "Objektwahl", welche Begehrensrichtung für ein Subjekt erstrebenswert und sinnerfüllend ist. Im Falle der primären Triangulierung zwischen Sohn, Vater und Mutter bedeutet dies, daß die Rivalität zum Vater nicht primären Ursprungs ist (wie bei Freud), sondern dadurch begründet, daß es zwischen dem Mediateur, im vorliegenden Falle dem Vater, der die Begehrensrichtung zur Mutter hin konstelliert, und dem Sohn, zu einem sekundären Rivalitätsverhältnis kommt, das durch die Gemeinsamkeit der Objektwahl bedingt ist. Die Pointe bei diesem Interpersonalschema ist nun, daß die Garantenfunktion von Mediateuren innerhalb der subjektiven Sphäre ständig neu geprüft und validiert werden muß, was beinhaltet, daß die Vielfalt der Angebote von miteinander konkurrierenden möglichen Begehrenskopplungen dazu führt, daß Subjekte ständig in ihren inneren "Tiefenstrukturen" in einem rekursiven und interaktiven Prozeß den "Erfüllungscharakter" von Erlebnissen verifizieren müssen. Hieraus läßt sich für die oben gestellte Frage der interpersonalen Begegnung ein Schema ableiten, das zur Neukonstitution einer interpersonalen Sphäre und damit eines neuen ,,zwischen" einander begegnender Personen und damit zur Tragfähigkeit koevolutiver Entwicklungen führt. Da nämlich diese neue Beziehung wiederum in doppelläufiger Richtung vorgestellt werden kann, kommt es tatsächlich zu einer wechselseitigen Berührung einander durchdringender Gefühlssphären, innerhalb derer (auf nicht kognitive, d. h. gefühlshafte Weise) die Gleichung aufgemacht werden kann: Mein (dich erfüllendes) Ich ist in eben der Weise dein Du, wie umgekehrt dein mich erfüllendes Ich wiederum mein Du darstellt. Diese, wenn man so will Grundstellung im interpersonalen Gefühlsnexus ist die Basis für alle koevolutiven Entwicklungsprozesse und deren emergente Dynamik. 24 Vgl. Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992; Gunter Gebauerl Christoph Wulf, Mimesis, Hamburg 1992.

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mimetische Triangulierung Med.

I

o

IObj. I

Mimetische/ Rivalität

Abb. 3: Grundstruktur der Beziehung zwischen Subjekt (S), Mediateur (Med.) und Objekt (Obj.)

VII. Interpersonalität und Versprechen

Die Tragfähigkeit derartiger interpersonaler, auf wechselseitige "Erfüllung" angewiesener und auf dieser aufbauender koevolutiver Prozesse hängt mit der Frage zusammen, inwieweit innerhalb des zeitlichen Verlaufs so etwas wie "Glaubwürdigkeit" möglich wird. Mit anderen Worten: die Stabilität koevolutiver Prozesse hängt an der Überzeugungskraft von Versprechensleistungen. Wie lassen sich diese begründen? Wir kommen hiermit zu einem Thema zurück, das zu Beginn der vorliegenden Überlegungen unter der Perspektive der Hyperflexibilität pluraler Selbstverwirklichungsoptionen in der Postmoderne angedeutet worden war. Denn unter der Voraussetzung, daß Identität nicht von einer statischen strukturellen Festigkeit her interpretiert werden kann sondern vielmehr als "Werdeprozeß" gesehen werden muß, kann die Glaubwürdigkeit des Versprechenden nicht darin liegen, zu verbürgen, er werde keine "Entwicklung" durchmachen. Andererseits aber kann er nicht wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde zwischen zwei Extremvarianten von Person hinund heroszillieren und damit den Versprechensprozeß als solchen ad absurdum führen. Johann Gottlieb Fichte sagt hierzu in seiner "Sittenlehre" von 1798: "Ich kann über das, was ich versprochen habe, meine Meinung und meine Maßregel ändern." Hiergegen wendet er aber ein: "In Absicht dessen, worauf zu rechnen ich

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einen anderen veranlaßt habe, bin ich nicht mehr bloß von mir, sondern von dem anderen mit abhängig: Ich bin hierüber in seinen Diensten; ich kann mein Wort nicht zurückziehen, ohne diejenigen seiner Handlungen, die er in Hoffnung auf mein Versprechen gethan hat, zu vereiteln, sonach ohne seine Kausalität in der Sinnenwelt zu stören."25 Hiermit ist angedeutet, daß es innerhalb koevolutiver Prozesse und der damit verbundenen Dynamik immer wieder zu neuer "Verständigung" im Hinblick auf die Dialektik von Identität und Versprechen kommen muß bis hin zur Aufkündigung der Gemeinsamkeit. So spricht Fritz B. Simon davon, daß "jedes System, das nicht in Krisen gerät, chronifiziert." Chronifizierung, in Simons Verständnis, führt aber, wie er zeigt, zu einem Paradox der "Anpassung durch Nichtanpassung". Mit anderen Worten, gerade dadurch, daß das System versucht, in einer Statik des Unlebendigen zu bleiben, d. h. die oben dargestellten Instabilitäten und Bifurkationen einfach zu ignorieren und neue Begegnungen und Neuanpassungen zu vermeiden, kommt es zu koevolutiver Pathologie und entsprechenden Krankheiten. In diesem Sinne fordert Simon die "Ent-Chronifizierung" : "Die Chronifizierung zu stören heißt, Krisen zu riskieren." und "Krise bedeutet Chance und Gefahr - für Therapeut wie Patient. ,,26 In diesem Sinne kann also zusammenfassend gesagt werden, daß die Bildung postmoderner pluraler Identität, mit ihrem performativen Charakter, letztlich die Folge einer Verwechslung des Bubersehen Grundwortes "Ich-Du" mit dem Grundwort "Ich-Es" ist; die koevolutive Identitätsbildung immer aber krisenhaft-dynamisch, und insofern auch chancenreich ist.

25 Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre 1798, in: I. H. Fichte (Hrsg.), J.G. Fichte, Werke, Bd. IV. Berlin 1971. S. 285. 26 Fritz B. Simon, Die Kunst der Chronifizierung, in: System Familie 6 (1993), S. 139150.

Die psychiatrische Exploration als offenes Feld zwischen Betroffensein und Verstehen Von Michael Schmidt-Degenhard, Heidelberg Im folgenden möchte ich versuchen aufzuzeigen, daß zwischen der Erfahrung des Betroffenwerdens durch ein mitmenschliches Gegenüber und dem methodisch geleiteten Versuch, diesen Mitmenschen zu verstehen, ein Fundierungsverhältnis besteht. Diese Annahme impliziert aber, daß meine Ausführungen über manche Strecken die Ebene eines methodischen Diskurses unterschreiten und sich der lebensweltlich verankerten vorprädikativen Sphäre zuwenden müssen. Zu den hier stattfindenden subjektiven und intersubjektiven Konstituierungsleistungen gehören gerade auch die sozialen Werterfahrungen, aus denen die unterschiedlichen Einstellungs typen resultieren. Einstellungen stellen Handlungsdispositionen dar, die etwa ärztliches Handeln über die technisch-instrumentale und methodische Dimension hinaus prägen und daher entscheidend das Selbstverständnis des Arztes und seine berufliche Praxis determinieren. 1 Von besonderer Bedeutung sind nun die psychologischen Funktionen von solchen Einstellungen, unter denen ich zwei hervorheben möchte: 1. Die ich-defensive Funktion: Sie betrifft die Vorgänge der Stereotypisierung und Vereinfachung sozialer Merkmale, durch die sich die Komplexität eines anderen Menschen auf bestimmte Kerneigenschaften reduzieren läßt. Hierdurch mag eine subjektive Ungewißheit und Unsicherheit in der Kommunikation gemindert werden, während das eigene SelbstwertgeJühl eine gewisse Sicherung erfährt. Demnach scheint hier eine psychodynamisch verstehbare Abwehrfunktion gewisser Einstellungen im Dienste der Ich-Stabilisierung auf 2. Einstellungen haben eine wertausdrückende und wertend-reflektierende Funktion, in der sich die Werthaltungen und die aus diesen erwachsende Weltanschauung einer Person artikulieren. Zwischen Persönlichkeit und Einstellung besteht demnach ein allerdings sehr komplexer Zusammenhang, dessen Untersuchung mehrere Dimensionen und Wertbereiche zu berücksichtigen hätte. Eine auf diese qualitativen Aspekte abhebende Einstellungsforschung berührt m.E. nun unmittelbar die Methodendiskussion in den Humanwissenschaften, fragt sie doch nach den ihr zugrundeliegenden Menschenbildern und ihrem geschichtli1 Harald Feldmann, Grundlagen und Probleme der Einstellungsforschung, in: Psychiatrie der Gegenwart, 2. Aufl., Bd. I, Teil I, Berlin/Heidelberg/New York 1979, S. 545-575.

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chen Wandel sowie den persönlichen Werthaltungen der Diskursteilnehmer. Auf die sich hier eröffnenden Forschungsfelder der historischen Anthropologie und der Psychobiographie von Forscherpersönlichkeiten sei an dieser Stelle nur andeutend hingewiesen. Der Wechsel oder die Prävalenz verschiedener Methoden im ärztlichen Handeln ist also nicht nur eine Frage der Gegenstandsangemessenheit, sondern verweist darüber hinaus auf grundlegende Einstellungen des Arztes, die wiederum den Ausdruck von bestimmten subjektiven Erfahrungen bzw. Erfahrungsbereitschaften darstellen. Die nachfolgenden Überlegungen entstammen dem Erfahrungsfeld der klinischen Psychiatrie, dem in der weitgehend naturwissenschaftlich bestimmten Medizin eine Sonderstellung zukommt. Gleichwohl meine ich, daß die sich in der Psychiatrie unabwendbar und mit großer Brisanz stellenden Fragen, um deren Thematisierung es mir jetzt geht, auch eine gewisse Relevanz für die Allgemeine Medizin im Sinne Viktor v.Weizsäckers besitzen. 2 I. Klinische Diagnostik aus der Gesprächssituation

Im klinisch-psychiatrischen Alltagshandeln geht es zumeist um die diagnostische Einordnung des jeweiligen psychopathologischen Syndroms und die Entwicklung eines adäquaten pharmako-, psycho- oder soziotherapeutischen Konzeptes. Ein solches Vorgehen - beispielhaft sei ein diagnostisches Interview anhand eines Manuals operationalisierter Symptome bzw. Merkmale entsprechend den aktuellen Klassifikationsversuchen des DSM IV oder der ICD 10 genannt - folgt durchgängig rationalen und durch empirische Validierung gesicherten Prämissen. Das diagnostische Interview bewegt sich auf einem wissenschaftstheoretisch präfonnierten Diskursniveau, dem ein definitorisch umgrenzter Geltungsbereich entspricht, der seine Bedeutung vor allem in einem forschungsstrategischen Kontext besitzt. Höchst bedenklich wird es aber, wenn daraus eine sich verbreitende Tendenz entsteht, das so beschriebene Interview zum determinierenden Muster der Arzt-Patient-Beziehung in der Psychiatrie zu machen; so, daß wegen der damit geforderten Reproduzierbarkeit des ärztlichen Gesprächs nichts Offenes, Nicht-Reproduzierbares mehr übrig bleibt. In der Sprachwissenschaft werden das wesenhaft dialogisch strukturierte Gespräch, in dem sich ein stets offenbleibender gemeinsamer Horizont der Partner konstituiert, und der auf Geschlossenheit und Vereindeutigung des Textes zielende Diskurs unterschieden. 3 Die Sprache des Gespräches ist die Sprache des alltägli2 Vgl. dazu besonders Viktor von Weizsäcker, Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische Anthropologie, Stuttgart 1951. 3 Vgl. dazu Karlheinz Stierle, Gespräch und Diskurs, in: K. StierIe/R. Waming (Hrsg.), Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik Bd. XI, München 1984, S. 297-334; Margret Winter-

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chen Umgangs, der Diskurs verwendet weitestgehend die Termini der unterschiedlichen Wissenschaftssprachen. Gleichwohl lebt - so denke ich - die Kreativität der humanwissenschaftlichen Diskurswelt aus der Gleichzeitigkeit von Diskurs und Gespräch, wie sie ja besonders auch im interdisziplinären Dialog deutlich wird. 11. Die Exploration als dialogische Erfahrung

In Anlehnung an diese Unterscheidung von Diskurs und Gespräch sei nun dem diagnostischen Interview die dialogisch konfigurierte psychiatrische Exploration gegenübergestellt: Diese läßt sich bei aller notwendigen Systematisierung und Strukturiertheit des Erkundungsfeldes auch als eine Kunst ohne festbestimmte Regel verstehen, die vom erfahrenen Psychiater die Sensibilität für solche unvorhergesehenen ereignishaften Augenblicke des Gespräches erfordert, in denen ein behutsames Fragen plötzlich einen Einblick in bis dahin noch unerschlossene, aber subjektiv bedeutsame Erlebnishorizonte des Patienten eröffnen kann. 4 Nicht zuletzt von daher eignet dem Explorationsgespräch - nicht anders als dem verwandten psychoanalytischen Erstinterview - auch ein therapeutisches Moment. 5 In der Explorationssituation erfahren wir uns gegenüber einem psychotisch gewordenen Mitmenschen, der uns etwa seine wahnhaften und halluzinatorischen Erlebnisse, seine abgründige Angst oder seine melancholische Versteinerung mitzuteilen versucht oder aber in mutistischer Verschlossenheit den dialogischen Zugang erschwert. Wenn wir uns nun im Fortgang des Gespräches auf diesen Anderen einlassen, so kann uns dabei ein Gefühl von Befremdung und Irritation erfassen: Die Erfahrung der Verrückung eines Mitmenschen in seinem Psychotisch-Sein, die ihn gleichermaßen sich selbst wie den Anderen entfremdet, bedingt dann einen Bruch und dadurch eine Beunruhigung unseres vertrauten lebensweltlichen Erfahrungsstils. v.Gebsattel hat den hieraus erwachsenden "psychiatrischen Affekt der Verwunderung" beschrieben: 6 Dieser, der Faszination verwandt, widerspiegelt unser Erlebnis der Begegnung mit dem unerklärlich anderen Menschen. Diese Erfahrung impliziert aber auch eine Anfrage an die Person und das Selbstverständnis des Psychiaters. Im klinischen Alltag und im Wissenschaftsbetrieb übergehen und verdrängen wir nicht selten dieses ursprüngliche Bewegtwerden und Betroffensein durch das so unvertraut anmutende Anderssein und die Not des Kranken. Allzumantel, Sprechen und Verstehen im Dialog: Eine sprachpsychologische Analyse, in: M. Herzog/C.F. Graumann (Hrsg.), Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften, Heidelberg 1991, S. 211-224. 4 Vgl. Hans Jacob, Wandlungen und Möglichkeiten der psychiatrischen Exploration, in: N. Petrilowitsch (Hrsg.) Zur Psychologie der Persönlichkeit, Darmstadt 1967, S. 234-250. 5 Vgl. Hermann Argelander, Das Erstinterview in der Psychotherapie, Darmstadt 1970, S. 103 ff. 6 Victor Emil von Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin / Göttingen/Heidelberg 1954, S. 75.

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leicht wird dabei vergessen, daß wir uns im Umgehen mit dem Seelisch-Anderen ständig an den Grenzen der intersubjektiv konstituierten Alltagswelt bewegen. In solcher Hinsicht läßt sich die psychiatrische Situation als eine soziale Grenzerfahrung beschreiben. IH. Die dialektische Dynamik des Verstehens

Der Versuch, die Erlebniswelt eines psychotischen Mitmenschen in ihrer besonderen Typik und personalen Dimension zu erfassen, also diesen Menschen in seinem Eigensein zu verstehen, erfordert vom Psychiater die Bereitschaft zum Grenzüberschreiten, um so die Fremdheit des Anderen und die Sphäre der vertrauten gemeinsamen Lebenserfahrung miteinander zum Einklang zu bringen. Daher bezeichnet der schillernde und eine Fülle grundlegender Probleme aufwerfende Begriff des Verstehens einen zwischenmenschlichen Vorgang, der auf seiten des Verstehenden durch eine spezifische dialektische Dynamik von Überschreiten und Vermitteln gekennzeichnet wird. Den hier anklingenden Phänomenbereich des Zwischenmenschlichen möchte ich im folgenden in die Dimensionen Intersubjektivität und Interpersonalität gliedern und dabei dem Verstehen als einem intellektuell-cognitiven intersubjektiven Geschehen die emotional fundierte interpersonale Erfahrung des Betroffenseins gegenüberstellen. Die bis heute kontrovers diskutierte wissenschaftstheoretische Dichotomie von Erklären und Verstehen bildet bekanntlich einen Eckpfeiler der "Allgemeinen Psychopathologie" von Karl Jaspers. 7 Die dort postulierte strikte Trennung und Polarisierung beider Erkenntniswege darf jedoch als überwunden und obsolet gelten, wenn man die Weiterentwicklung und den gegenwärtigen Stand der Erklärens- und Verstehenskontroverse in Philosophie und Wissenschaftstheorie betrachtet: Als besonders geeignet für die Eigenart der Medizin als praktischer Wissenschaft erscheint mir der Vorschlag von Pöggeler8 , die Dualität von Erklären und Verstehen durch den Modus des Erörtems zu erweitern. D.h., daß sowohl Erklären als auch Verstehen zunächst hinsichtlich ihres spezifischen Leistungssinnes erörtert werden müssen, um sie dann "objektgerecht", d. h. auf den kranken Menschen und seine Notsituation anwenden zu können. Der immense Zuwachs des neurobiologischen Grundlagenwissens, die Fortschritte der Psychopharmakotherapie und das weitgehende Voranschreiten des Validierungsparadigmas in Diagnostik und Therapieforschung belegen beeindruckend den Leistungssinn erklärender Methoden für das Gesamtgefüge der Psychiatrie. Die bleibende Erfordernis eines hermeneutischen

7

Kar! Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 8. Aufl., Berlin / Göttingen / Heidelberg

8

OUO Pöggeler, Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie, Freiburg/München 1994,

1965, S. 251 ff. S.30ff.

Die psychiatrische Exploration als offenes Feld

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Zuganges und einer damit verbundenen Auslegungslehre liegt aber wohl darin begründet, - und dabei darf ich auf Gadamer rekurrieren 9 - daß das geheimnisvolle Dunkel, das über der Faktizität des Psychotischen liegt, durchaus nicht seine beunruhigende Unverständlichkeit verliert, auch wenn uns heute früher ungeahnte Möglichkeiten der pharmakotherapeutischen Beherrschung psychotischer Symptomatik zur Verfügung stehen. Als das Ziel eines hier einsetzenden Verstehens sehe ich die verdeutlichende Erhellung, nicht aber die Aufhebung des Psychotisch-Unverständlichen im mitmenschlichen Anderen. Das Verstehen in der konkreten psychiatrischen Situation bezeichnet den Versuch, den Anderen in seiner Individualität zu erkennen. Es geht also bei diesem Verstehen um das Eigensein des Anderen in seiner Leiblichkeit und Lebensgegenwart, in den Entwicklungen und Verstrickungen seiner inneren Lebensgeschichte, aber auch um das Erspüren und Erahnen des pathogenetisch so bedeutsamen "ungelebten Lebens" im Sinne von v.Weizsäcker. lO Dieses lebensweltliche und menschenkundlieh intendierte Verstehen steht demnach in einer schwierigen Position zwischen wissenschaftlich-theoretischer Methode und mitmenschlicher Praxis, die sicherlich auch die beliebten Abwertungen des Verstehens als vor- oder unwissenschaftlich begünstigen mag. IV. Verstehen und Verständigung in der Explorationssituation Das Verstehen sei im folgenden als ein Prozeß der Verständigung zwischen einem Verstehen-Wollenden und einem zu Verstehenden, Verständnis-suchenden Anderen umschrieben. Das Verstehen zwischen Personen kann aber zunächst auch gerade im ärztlichen Gespräch - ein Sachdialog sein, in dem beide Partner versuchen, sich in bezug auf eine Sache zu verstehen. Jeder Akt des Verstehens ist nun infolge der ihm wesenseigenen subjektiven Relativität und Begrenztheit einem mehr oder weniger großen Risiko des Mißglükkens ausgesetzt, so daß die Verstehensintention dann ungünstigenfalls ein Nichtoder Mißverstehen des Anderen zur Folge haben kann. Allem Verstehen ist zudem eigentümlich, daß es nicht erzwungen werden kann; es setzt den uns zugewandten Horizont der Welt eines Anderen voraus, dessen Fremdheit die Möglichkeit eines Anders-sein-Könnens aufscheinen läßt. ll Zu bedenken bleibt aber auch, daß alles Verstehenwollen einen Rest des Nicht-Verstehens hinterläßt. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, daß jeder sprachliche Verstehensakt einen Horizont des 9

210.

Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt/M. 1993, S.

10 Hierzu formuliert Viktor von Weizsäcker prägnant in seiner "Pathosophie", Göttingen 1956, S. 249: " ... die Krankheit soll, und zwar ausschließend, als Wirksamkeit des Ungelebten und als Verwirklichung des Unmöglichen angesehen werden. Eine richtige Biographie kommt nur zustande, wenn sie im Sinne dieser Geschichtsauffassung aufgestellt wird." 11 Hans Robert lauß, Wege des Verstehens, München 1994, S. 22ff.

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nicht Artikulierten und noch zu Artikulierenden setzt. Dem Verstehen eignet also eine in seinem Wesen selbst begründete Unruhe. Bereits Schleiermacher verwarf die Möglichkeit eines bruchlosen, harmonisierenden Verstehens in seinem Diktum, "daß das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen Will".12 Das für die therapeutische und psychopathologische Entwicklung der Psychiatrie eher hinderliche und nachteilige Unverständlichkeitstheorem des Psychotischen bei Jaspers beruht m.E. aber auf einer nicht berechtigten Hypostasierung des Unverständlichen und resultiert nicht nur aus der mangelnden Berücksichtigung der aufgezeigten konstitutiven Bedingungen des Verstehensaktes, sondern nicht zuletzt auch aus der mangelnden Beachtung der emotionalen Dynamik zwischen den Verstehenspartnern. 13

Die auf das Verstehen des Patienten gerichtete Explorationssituation ist ungeachtet der ihr eigenen personalen Asymmetrie aber sehr wohl auch durch Wechselseitigkeit gekennzeichnet. 14 Hieraus folgt, daß dabei immer auch in mir als dem Verstehenden etwas geschieht. Die Intention des Verstehens schließt eine reine Beobachterposition aus, vielmehr ist vom Verstehenden das Einbringen seiner Person mit all ihren Resonanzflächen gefordert. Die kreative Unruhe des Verstehens bedarf im Umgehen mit dem Anderen der Ergänzung durch eine Haltung der Geduld des Verstehens, die überhaupt erst die eigentümlich schwebende Atmosphäre eines offenen Gesprächsraums ermöglicht. Daher ist die Selbstwahrnehmung dieses wechselseitigen Geschehens in der Verständigung mit dem Anderen von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung und das Gelingen der therapeutischen Beziehung. V. Einfühlung, Sich-Identifizieren, Beobachtungsdistanzierung und Interpretation als Wirkfaktoren des explorativen Dialogs In diesem Zusammenhang stellt sich nun das so komplexe Problem der Einfühlung: Gemeint sei damit jener innere Vorgang des Sich-hinein-Versetzens in den Erlebniszusammenhang eines Anderen, das aber nie die originäre Fremdheit und Distanz des Gegenüber aufzuheben vermag: "Verstehen ist nicht das Sich-Identifizieren mit den Anderen, wobei die Distanz zu ihm verschwindet, sondern das Vertraut-Werden in der Distanz, die den Anderen als den Anderen und Fremden zugleich sehen läßt" .15 Ein solches Verstehen bedingt gleichwohl auch eine "Veränderung unseres eigenen Selbst,,16; Levinas spricht sogar von einem "Erleiden des 12 Zit. nach lauß, Wege (FN 11), S. 18; vgl. zu diesem Problemfeld auch Karlheinz Stierle, Dimensionen des Verstehens, Konstanz 1990. 13 laspers, Psychopathologie (FN 7), S. 253 ff. 14 Zur Konfiguration einer solchen Wechselseitigkeit als integrativem Moment von interpersoneller und gegenständlicher Orientierung im kommunikativen Handeln vgl. die phänomenologische Untersuchung von Gottfried Fischer, Wechselseitigkeit, Berlin/Stuttgart/ Wien 1981. 15 Helmut Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 245. 16 Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen, 3. Aufl., Leipzig/Hamburg 1912, S. 13.

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Anderen" im Vollzug des Sich-Einfühlens. 17 Theunissen hat diesen Widerfahrnischarakter, also das entmächtigende Moment in der verstehenden Einfühlung als "Veranderung", als ein Anders-Werden des Verstehenden bezeichnet. 18 Das beschreibende Erfassen des Erlebnisfeldes eines psychotischen Anderen im explorativen Gespräch setzt auf seiten des Arztes eine Bereitschaft zum Sich-beeindrucken-Lassen durch das Gegenüber voraus, die sich dann als Partizipation und vorübergehende partielle Identifikation in der Begegnung konkretisiert. Es ist demnach zu folgern, daß wir bei dem Versuch, einen psychotischen Menschen zu verstehen, einen wesenhaft pathische Aspekte einschließenden Erkenntnisweg beschreiten, der unser konkretes Umgehen mit dem Kranken entscheidend prägt. Das so gemeinte Verstehen gründet sich nun auf emotionale Voraussetzungen, auf Gefühlsvorgänge und Gefühlszustände, außerdem aber auch auf bestimmte Werthaltungen. Das Verstehen ist daher den wesenssozialen Akten im Sinne von Max Scheler zuzuordnen, die immer mit Wertproblemen verknüpft sind und auf die Existenz des alter ego verweisen. 19 Die hier nur anzudeutende psychodynamische Dimension des Verstehens umfaßt die Problemfelder von Empathie und Identifikation. 2o Im Empathieaffekt fluktuieren wir zwischen den Positionen von emotionaler Teilhabe am Du und der Beobachtung des Anderen, dabei schweben wir aber in der doppelten Gefährdung des bedenkenlosen Abgleitens in die Identifikation mit dem Kranken einerseits und der distanzierenden Abwehr seiner Kundgabe andererseits. Das kontrollierte Umgehen mit dem eigenen empathischen Potential und die in der Selbsterfahrung ausgebildete Fähigkeit zur Wahrnehmung von Übertragung und Gegenübertragung setzen immer eine differenzierte Introspektionsbereitschaft und Empathiefähigkeit des Verstehenden voraus. Vom Psychiater wird daher ein fortdauernder Lernprozeß verlangt, sich vom Anderen klar abgrenzen zu können, dabei aber gleichzeitig eine hohe Transparenz seiner Ich-Grenzen zu erwerben. Die Steigerung des empathisehen Gewahrens wird dabei - entsprechend der Dialog-Struktur von Kundgabe und Hinwendung - der ebenfalls erforderlichen Steigerung des distanzierten Konstatierens vorangehen müssen. Ähnlich hat Rürnke das Paradoxe des affektiven Kontaktes in der Psychiatrie mit dem Ideal einer Arzt-Patient-Beziehung umschrieben, in der sich ein Höchstmaß der Annäherung bei Wahrung der Distanz verwirklicht. 21 Emmanuel Livinas, Außer sich, München/Wien 1991, S. 139. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1977, S. 89 ff. \9 Vgl. Max Seheler, Der Fonnalismus in der Ethik und die meriale Wertethik, 6. Aufl., Bem/München 1980, S. 522ff. 20 Vgl. Michael Sehmidt-Degenhard, Aspekte des Verstehens psychotischer Menschen, in: Fundamenta Psychiatrica 7 (1993), S. 13-19. 2\ H. C. Rümke, Der phänomenologische Aspekt des affektiven Kontaktes, in: Psyche 6 (1952/53), S. 121-143, hier S. 140. 17

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Der aufgezeigte sich intersubjektiv zwischen ego und alter ego konstituierende Erkenntnistypus eines hermeneutischen Verstehens bildet die methodische Basis der interpretativen Forschung in der Psychopathologie, die ihren Ausgangspunkt im Erleben des Anderen besitzt. Als das Gütekriterium eines solchen interpretativen Vorgehens fungiert dabei allerdings nicht das Richtigkeitskriterium kausalanalytischer Erkenntnis, sondern die Stimmigkeit der Interpretation, die mehr oder weniger zutreffend oder ganz unzutreffend erscheinen kann. Das impliziert aber, daß das richtige Stimmen einer Interpretation, wenn es sich nicht deutlich um eine unzutreffende Interpretation handelt, immer nur mehr oder weniger zutreffend sein kann. Evidenz und Plausibilität einer Interpretation besitzen daher keinen allgemeinverbindlichen Ge1tungscharakter, sie erschließen sich erst in einem situativ bestimmten intersubjektiven Vermittlungsprozeß zwischen den Gesprächspartnern bzw. Textrezipienten. Es wird aber m.E. zuwenig beachtet, daß Hermeneutik als eine synthetisch konzipierte Interpretationsweise eben auch ein kritisch-analytisches Moment als Vorbedingung erfordert und daher ihre Verstehenswege und Auslegungen ständiger Überprüfung unterziehen muß. 22 VI. Ich, Du und Wir in der Situation des BetrotTenwerdens Dem aufgezeigten Erkenntnisweg des Verstehens kann aber eine genuin interpersonale Erfahrung vorangehen, die im Unterschied zur intersubjektiven Verständigung von ego und alter ego ein Sich-Verstehen von Ich und Du bedeutet: Ich meine unser Betroffenwerden vom Erleben eines psychotisch gewordenen Mitmenschen, das uns in einer Explorationssituation unvermittelt ergreifen kann. Im folgenden möchte ich - in Abhebung von der zur Beliebigkeit verkommenen Betroffenheits-Phraseologie der Gegenwart - versuchen, einige Grundzüge einer solchen subjektiven Verfassung von Betroffensein zu erhellen: 1. Das Adverb "betroffensein" bezeichnet eine Seins-Modalität, also eine Zuständlichkeit, d. h. etwas, was man nur sein kann, das man aber nicht haben oder leisten kann wie eine Eigenschaft. Der Zuständlichkeit des Betroffenseins eignet wesenhaft etwas Unverfügbares. Im psychiatrischen Erfahrungsbereich kann dies etwa im unerwarteten Angesprochen-Werden und Berührtsein durch den Ausdruck von Fremdheit und Not bei einem psychotischen Menschen geschehen.

2. Dieses Betroffensein ist immer auf ein konkretes Du bezogen, es ist fundiert in einem vorprädikativen Wissen um das Dasein des Anderen in seiner personalen Einmaligkeit. Ein solches Betroffensein vollzieht sich als ein primär vom Fremdsein des Anderen angestoßenes interpersonales Ereignis; die nicht einem konkreten Du geltende Betroffenheit meint hingegen eine reflexive mitmenschliche Haltung, der aufgrund ihrer Abstraktheit eine nicht geringe Ideologieanfälligkeit eigen ist.

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Hans Ineichen, Philosophische Hermeneutik, Freiburg/München 1991, S. 91 ff.

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3. Erfahrungen des Betroffenseins folgen einer besonderen Geschehensdynamik, in der ein unerwartetes Erkennen oder Ahnen von begreiflichem oder unbegreiflichem Sinn vermittelt wird. In diesem impliziten und einer nachträglichen Reflexion zugänglichen Erfassen von Sinngehalten liegt auch das hermeneutische Problem des Betroffen-Werdens, auf das hier nur hingewiesen werden kann. 4. Es gibt nun verschiedene Graduierungen und Dimensionen eines solchen Betroffen werdens, die sich in formaler Hinsicht nach Zeitdauer und Intensität der Erfahrung differenzieren lassen. Die semantischen Ausformungen werden durch Gefühlszustände wie erschüttert, fassungslos, fasziniert, entsetzt, schaudernd, erstaunt, angezogen oder abgestoßen bezeichnet. Sämtlich vermitteln diese Zustände bestimmte Werterfahrungen, so daß man die verschiedenen Erlebnisse des Betroffenwerdens in Anlehnung an N. Hartmann als emotional transzendent bezeichnen könnte. 23 Erlebnisse des Betroffenwerdens setzen ein Mitfühlen voraus, bei dem es in uns - weitergehend als beim nachfühlenden Verstehen - zu einem unmittelbaren Berührtwerden durch das Gefühlsleben eines Anderen kommt. 24 Die angedeutete innere Dynamik im Betroffensein läßt sich als ein zugleich vorund rückläufiger Prozeß beschreiben, dessen Eigenart Levinas mit den Begriffen "Echo-Transzendenz" und "Rekurrenz" zu erfassen versucht: 25 Das unerwartete als Du Angesprochen-Werden durch den Anderen kann vom Angesprochenen echohaft erwidert werden, indem dieser als Ich gleichermaßen Du sagt. In dem solchermaßen Du-Sagen von beiden Situationspartnern ist dann ein Gemeinsamkeitserleben enthalten, das beide über ihre Individualitäten hinaus sich als ein rational nicht faßbares Wir verstehen läßt. Dieses gemeinsame Sich-so-als-Wir-Verstehen läßt sich als ein konkretes, emotional begründetes und interpersonal zwischen Du und Ich fundiertes Sich-Verstehen begreifen. Von diesem konkreten Sich-Miteinander-Verstehen ist nun der vorhin erläuterte rational begründete intersubjektive Verständigungsprozeß zwischen ego und alter ego zu unterscheiden, der sich auf einer abstrakteren Ebene vollzieht und ein wissenschaftliches Verstehen ermöglicht. Aus der Erfahrung des konkreten Sich-als-Wir-Verstehens kann dann in einer solchen asymmetrischen Situation wie der von Patient und Arzt im Angesprochenwerden von der Not des Kranken das Gefühl der Verantwortung für diesen leidenden Anderen erwachsen. In Umkehrung der klassischen Dialogphilosophie (Buber) mit ihrer Betonung des primären Bezogenseins vom Ich her zum Du hin geht es Levinas um das Aufzeigen einer bestimmten Du-Ich-Beziehung, in welcher der mit Du Angesprochene im primären Betroffenwerden vom Anderen auf sich selbst rekurriert und sich dabei - vermittelt durch den Anderen - überhaupt erst als Ich und damit als Person Vgl. Nicolai Hartmann, Ethik; Berlin 1949. Vgl. dazu Max Seheler, Phänomenologie des Mitgefühls, in: ders., Wesen und Formen der Sympathie, Bem/München 1974, S. 19 ff. 25 Emmanuel Uvinas, Die Spur des Anderen, München 1983, S. 209 ff. 23

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15 Selbstorganisation, Bd. 7

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erfährt. 26 Dieses Auf-sich-selbst-Zurückkommen, diese "Rekurrenz" gewährt dem Angesprochenen jedoch nicht die Ruhe eines reflexiven Bei-sich-Selbst-Seins, sondern setzt ihn immer wieder erneut der Beunruhigung durch den Anderen aus. VII. Die Wirklichkeit der psychotischen Erlebniswelt und die Grenzen des Verstehens

Mir scheint, daß wir als Psychiater in besonderem Maße einer solchen Beunruhigung durch den anderen ausgesetzt sind und daß nicht wenige klinische und wissenschaftliche Rituale unseres Umgehens mit dem Seelisch-Anderen einer wohl notwendigen Minderung dieser dauernden Verunsicherung dienen. Karl Jaspers weist in den existenzphilosophischen Ausführungen seiner "Allgemeinen Psychopathologie" (ab der 4. Auflage) darauf hin, daß uns der psychotische Mensch mit dem Fremden und Dunklen in uns selbst und daher mit unserer eigenen Gefährdetheit und Verletzlichkeit konfrontiert: Der Psychiater "dessen Seele offen geworden ist an den Grenzen, untersucht im Psychopathologischen, was er selber der Möglichkeit nach ist oder was ihm in der Feme und Fremdheit wesentlich wird als Sprache von der Grenze her".27 Unser Betroffenwerden durch den psychotischen Anderen variiert also zwischen den Gefühlshaltungen von Verwunderung, Erstaunen und Faszination einerseits sowie Beunruhigung, Erschrecken und Angst andererseits. Wiederum Jaspers sieht in einem solchen Betroffensein, das uns angesichts des Psychotischen "nicht nur staunen, sondern schaudern" lasse, einen der Ursprünge für das Wissenwollen in der Psychopathologie. 28 Eine in solchem Betroffensein fundierte verstehende Psychopathologie erkennt in den sprachlichen Mitteilungen psychotischer Menschen intersubjektiv zugängliche und interpretierbare Versuche der Selbstauslegung ihres Andersgewordenseins. Am Beginn der schizophrenen Daseinsveränderung, in der perakuten Psychose, kann ein ereignishaftes Erleben von unvergleichlichem Wirklichkeitsanspruch und elementarer Eindringlichkeit stehen, das als eine unfaßliche Erfahrung kreatürlichen Ausgeliefertseins auch im Gegenüber eine gewisse Beunruhigung und Beängstigung auszulösen vermag. Dieses vorprädikative Erleben eines Unheimlichen, des Bedrohtseins durch Auflösung und Chaos und eines unabweislichen Deterrniniertseins kann nun in die konkreten Wahngestaltungen Eingang finden. Der schizophrene Wahn beinhaltet in seiner konkretisierten Form eine fiktive Welt, die der Betroffene selbst jedoch als eine wirkliche erlebt. Die aufgezeigte primär-psychotische Erlebnisqualität des Eindringlich-Unvergleichbaren, das beim Begegnenden 26 Als Darstellung der Positionen dieser ,,klassischen" Dialogphilosophie bei Franz Rosenzweig, Martin Buber und Ferdinand Ebner sei verwiesen auf: Bemhard Casper, Das dialogische Denken, Freiburg / Basel/Wien 1967. 27 Karl Jaspers, Psychopathologie (FN 7), S. 658. 28 Ders., S. 650.

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den Eindruck des Unverständlichen hervorruft, stellt nun die originäre Erfahrungsbasis des sich daran anschließenden konkreten Wahnerlebens dar: Dieses repräsentiert eine Sphäre der Bedeutungshaftigkeit und ermöglicht somit die intrasubjektive Konstituierung einer Sinngestalt. In Anlehnung an Hofer könnte man sagen, daß der Mensch auch in den Grenzerfahrungen seiner Existenz, zu denen zweifellos das Psychotisch-Werden gehört, das Streben nach Sinnhaftigkeit und nach sinnhafter Selbstvergegenwärtigung nicht aufgibt. 29 Vermittels dieser basalen Sinnintention vermag sich der schizophrene Mensch das Unverständliche des psychotischen Einbruchs mimetisch anzueignen und im Wahn einer Sinngebung zuzuführen. Innerhalb eines Horizontes des Imaginären bzw. im Rahmen der imaginativen Potenzen des Menschen wird das Wahngebilde als ein Mundus fabulosus generiert: Dessen Erlebnisgehalte können als Ausdruck einer Kommensurabilisierung des Psychotisch-Unverständlichen interpretiert werden, das demnach in einer an bestimmte strukturale Affinitäten gebundenen Verknüpfungsdynarnik mit dem wahnhaft-sinngebenden Erleben verbunden bleibt. 30 In einer solchen als hermeneutisch zu qualifizierenden Einstellung kann der Wahn als eine quasi kunstvoll anmutende Erlebniskomposition erscheinen, die sich durch bestimmte Entsprechungen von Form und Inhalt auszeichnet. So läßt sich beispielhaft an den magisch-mythischen Wahnbildungen schizophrener Menschen eine strukturelle Verwandtschaft oder Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem disruptiven Formalcharakter der psychotischen Abwandlung und der thematischen Ausgestaltung der Wahnerlebnisse aufzeigen. Das sprachlich wohl nicht vermittelbare Ereignis des psychotischen Einbruchs wird dabei imaginativ in die Erfahrung eines Numinosen transformiert, dem die magisch-mythischen Sinnbezüge der Wahngestalt korrespondieren. Die oft archetypisch anmutenden Bildformationen dieser Wahnwelten, die das gesamte Spektrum der Ikonographie des Phantastischen umfassen können, sind einer tiefenpsychologischen Interpretation zugänglich. Bei einem erweiterten Verstehen lassen sich in den schizophrenen Bedeutungssetzungen aber auch allgemeine geistige Sinnhorizonte erkennen, welche das Wahnerleben durchdringen und strukturieren. 31 So könnte man von einer imaginativen Teilhabe (Methexis) des Subjekts an überindividuellen Sinnstrukturen sprechen, die der die individuelle Integrität bedrohenden psychotischen Sinnauflösung den Versuch eines Sinnerhaltes entgegensetzt. 32 Das Inkommensurable des psychotischen Ein29 Gunter Hofer, Die konstitutive Lebenspraxis und die psychiatrische Situation, in: HaraId Feldmannl Jan Broekmann (Hrsg.), Darstellung und Sinn, Würzburg 1990, S. 85. 30 Vg!. hierzu Michael Schmidt-Degenhard, Wahn und Imagination, in: Fortschritte Neurol. Psychiat. 63 (1995), S. 350-357. 31 Vg!. hierzu Hemmo Müller-Suur, Die Wirksamkeit allgemeiner Sinnhorizonte im schizophrenen WahnerIeben, in: Fortsehr. Neuro!. Psychiat. 22 (1954), S. 38-44. 32 Zum Zusammenhang von Mimesis und Wahndynamik vg!. Harald Feldmann, Mimesis und Wirklichkeit, München 1988 sowie ders., Aspekte der Wahndynamik, in: Fortsehr. Neuro!. Psychiat. 56 (1988), S. 14-21.

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bruches wandelt sich im Vollzug der Wahngestaltung also zu einem fiktiv Kommensurablen, das jetzt sprachlich und bildhaft mitteilbar wird. 33 Die angedeutete Möglichkeit eines Verstehens psychotischer Wahnwelten läßt eine poietische Grundtendenz des Seelischen sichtbar werden, die auf die Fiktionsbedürftigkeit des Menschen verweist. Die in solchen Überlegungen aufscheinende Einstellung zum Seelisch-Anderen reflektiert - entgegen den Defizienzmodellen des Psychotischen im gängigen medizinischen Diskurs - die seelische Positivität des psychotischen Erlebens. Allerdings bleibt dabei immer zu bedenken, welche tiefe Not und auch Angst sich in der Einsamkeit des Wähnenden ausdrückt, der in seine Subjektivität verbannt zu sein scheint und wie kaum ein anderer Mitmensch des interpersonalen Dialogs bedarf. Für ein psychotherapeutisches Umgehen mit psychotischen Menschen im klinischen Alltag ist daher auch heute v. Baeyers Mahnung unvennindert gültig, daß wir "dem schizophrenen Menschen die Beziehung schuldig sind", auch wenn ihr therapeutisches Ergebnis unverfügbar und unberechenbar bleibt und ungeachtet aller jeweiligen Hypothesen über die ursächliche Bedingtheit der Schizophrenien. 34 Der Versuch, einen schizophrenen Menschen zu verstehen, mag schließlich nach dem Überschreiten von mannigfachen Horizonten nur scheinbarer Unverständlichkeit sein Ende im Erfahren von etwas Bestimmtem Unverständlichem finden. 35 Eine solche Grenzerfahrung des intersubjektiven Verstehens muß aber mitnichten eine Aufhebung des interpersonalen Sich-Miteinander-Verstehens bedeuten, dem ja ein unverfügbares Betroffenwerden durch die Not dieses Du zugrundeliegt. Mir ging es darum, am Beispiel der psychiatrischen Exploration als einer offenen Gesprächssituation aufzuzeigen, wie sehr ein solches mitmenschliches Betroffen-werden-Können als ein substanziell-fundierendes Moment zur Erweiterung unseres Verstehens psychotischer Menschen und damit zur Humanisierung unseres therapeutischen Begleitens ihres Weges beitragen kann. Die von Heidegger einmal gegenüber Binswanger erwähnte Aufgabe einer "Hermeneutik der Exploration", die eine jeder Theorie "vorangehende Versammlung des psychiatrischen Erfahrens und Wissens auf ihre wesentlichen Grundzüge" beinhalten müßte, bleibt daher ein unvennindert aktuelles Desiderat der psychiatrischen Erkenntnis. 36 33 Zum Vorgang der sprachlichen Kommensurabilisierung des psychotischen Erlebens vgl. besonders Hemmo Müller-Suur, Das Sinn-Problem in der Psychose, Göttingen/Toronto/Zürich 1980. 34 Walter von Baeyer, Diskussionsbemerkung, in: Gaetano BenedettilChristian Müller (Hrsg.), 2. Internationales Symposion über die Psychotherapie der Schizophrenie, Basel! New York 1960, S. 84ff. 35 Vgl. dazu Hemmo Müller-Suur, Das Schizophrene als Ereignis, in: Herbert Kranz (Hrsg.), Psychopathologie heute, Stuttgart 1962, S. 81-93. 36 Zit. nach Max Herzog, Weltentwürfe. Ludwig Binswangers phänomenologische Psychologie, Berlin/New York 1994, S. 174ff.

Christlicher Glaube, Naturbild und Medizin Ein Beitrag zur Grundlegung medizinischer Ethik

Von ]ürgen Hübner, Heidelberg I. Glaube, Weltanschauung und Theologie

Der Hinweis auf Leibhaftigkeit, geschöpfliche Weltlichkeit, verheißene Natürlichkeit christlichen Lebens gehört in der Theologie der letzten Jahrzehnte geradezu zum Gestus des denkerischen Fortschritts. Als Gegenbild erscheint dabei ein abstrakter "Objektivismus" traditionsbezogener Dogmatik, ja mehr noch ein in antidogmatischem Gegenzug in seiner Abstraktion zugespitzter "Subjektivismus". Demgegenüber wird die "Ganzheitlichkeit" des Lebens angemahnt, der auch in der Theologie wieder Rechnung getragen werden müsse. Dieser Gestus beherrscht die ökologische Debatte ebenso wie die postwissenschaftliche Medizinkritik. Er weist über den Raum von christlicher Theologie und Kirche weit hinaus. Ansätze klassischer, neoklassischer oder moderner Metaphysik zeigen diese Perspektive ebenso wie die Versuche, das Gespräch zwischen den großen Religionen wiederaufzunehmen.! Alte Traditionen werden neu entdeckt, neu zusammengestellt und zur Geltung zu bringen versucht. 2 Ziel ist ein Leib-, Welt- und Naturverständnis, das die Verkürzungen und Belastungen naturwissenschaftlicher und technischer Denkweisen unterläuft, vermeidet und überwindet. In der Tat ist es lebenswichtig, die Einseitigkeiten objektivierenden und damit zugleich subjektivierenden Denkens und damit verbundene Lebenseinstellungen wirklichkeitsgerecht zu unterfangen und zu umgreifen und so ihren Stellenwert zu erkennen und ihre Reichweite zu bestimmen. Das heißt auch, sie an ihrer Stelle zur Geltung zu bringen, lebensfeindlichen Grenzüberschreitungen und Ansprüchen jedoch zu widersprechen. Die vielfältigen Versuche eines "holistic approach", von ganzheitlichen Denkentwürfen bedürfen jedoch einer sorgfältigen Überprüfung sowohl ihres in der Regel anticartesianischen Kritikmusters als auch ihrer Auswahlkriterien für alternative Argumentationsmodelle sowie der eigenen Entfaltung von Konzepten neuer Spiritualität. 1 Vgl. The New Road. The Magazine of WWF's Conservation and Religion Network, 24 Hefte bis September 1992. 2 Ein eindrückliches Beispiel ist Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985.

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Ergebnisse solcher Überprüfungen zeigen ein durchaus ambivalentes Bild. Natürlich gibt es hier wie überall viel Spreu von Weizen zu trennen, schon was den geistigen Anspruch betrifft. Doch das eigentliche Problem sitzt tiefer. In der Debatte um Cartesianismus und Ganzheitlichkeit sind nicht nur der philosophische Anspruch und die historische Seriosität zu diskutieren. Dies allein kann allerdings bereits erhebliche Akzentveränderungen auslösen. Doch ist insbesondere auf ein entscheidendes Moment dieser Debatte zu achten: ihre religiöse Dimension. Cartesianismus-Kritik wendet sich vielfach gegen so etwas wie Wissenschaftsgläubigkeit, ja Wissenschaftsreligion. Im Hintergrund kann dann jeweils eine gegenläufige religiöse Einstellung stehen. Den Mittelpunkt können überlieferte religiöse Traditionen bilden. Es können aber auch einfach "Die Erde", "Die Natur" oder "Das Leben" zu gottähnlichen Größen erhoben werden. 3 Das kann zur Folge haben, daß der Gesetzlichkeit der Naturwissenschaft und der Technik die Gesetzlichkeit des Kosmos, der Evolution oder eines umfassenden Geistes gegenübergestellt wird, der zu folgen entgegen wissenschaftsbedingter Lebensbedrohung überlebenswichtig sei. 4 Meditation und spirituelles Training sind vielfach die Methoden, mit denen dann ein neues Bewußtsein eingeübt werden soll, das von der extensiven Wahrnehmung der Körperlichkeit bis zur Einordnung in kosmische Strukturen oder im Extrem zur Hingabe an das All reichen kann. Entsprechend der jeweiligen religiösen Grundierung werden dann durchaus unterschiedliche weltanschauliche Gesamtentwürfe entwickelt, die nur in der allgemeinen Kritik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ihr Gemeinsames haben. Deren gibt es heute eine große Zahl. 5 Ein solches religiöses Interesse gibt es auch speziell im christlichen Bereich. Gerade hier ist das Moment der Ganzheitlichkeit gegen alle partikularisierenden Tendenzen immer wieder zur Geltung gebracht worden. Der Ort dafür ist in erster Linie die Schöpfungstheologie. Die verschiedenen Ansätze von so etwas wie "ökologischer Theologie" stehen dafür. Diese Bemühungen enthalten in der Regel wie auch in außerchristlichen Konzepten eine starke ethische Komponente und Motivation: Die Umweltkrise fordert dazu heraus. Der Rekurs speziell auf die individuelle Leiblichkeit versucht vielfach der Krise der modemen Medizin entgegenzutreten. Hier spielt die psychosomatische Medizin in der theologischen Diskussion eine wichtige Rolle. Das Ergebnis sind auch bei den christlich motivierten Ansätzen umfassende Entwürfe, die die Einseitigkeiten von Subjekt-Objekt-Spaltungen kritisieren und ihnen ihrerseits zu entgehen trachten. Theologische Konzeptionen, die dieser Problematik gerecht zu werden versuchen - und im Grunde muß das heute 3 Vgl. z.B. die von Jarnes Lovelock entwickelte "Gaia hypothesis": Gaia - A new look at life on earth, New York 1979. Dazu jüngst: Elisabet Sahtouris, Gaia. Vergangenheit und Zukunft der Erde, Frankfurt/M. 1993. 4 Eine Zusammenstellung einschlägiger Entwürfe in: J. Gordon Melton u.a., New Age Encyclopedia, Detroit u.a. 1990. 5 Jürgen Hübner (Hrsg.), Der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Ein bibliographischer Bericht, München 1987, Kap. L. Seitdem ist eine Fülle von weiteren Neuerscheinungen zu konstatieren.

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für jeden theologischen Entwurf gelten - können bis zu hoch differenzierten und weit ausgefächerten Systembauten entwickelt und entfaltet werden. 6 Die "Theologien mit Genitiv" oder die "Adjektivtheologien" der sechziger und siebziger Jahre boten bereits zum Teil eindrucksvolle Beispiele dafür? Die Entfaltung solcher Ansätze reicht aber auch weit ins Weltanschauliche hinein. 8 Emil Brunner hat hier im Gegensatz zur dogmatischen Theologie von "christlichen Philosophien" gesprochen. Die konzeptionelle Ausrichtung ist dabei in der jeweiligen auch biographischen Vorgabe und philosophischen Grundlegung angelegt, die ihrerseits die aktuellen Fragen unserer Welt im 20. Jahrhundert wahrzunehmen suchen. Doch gehen die "positiven", hoffnungsstiftenden und schöpferische Ausblicke eröffnenden Momente solcher Entwürfe auf spezifisch christliche Elemente und Voraussetzungen zurück, die durch die intellektuelle Ausführung und auch durch bloße Verweise auf entsprechende biblische Aussagen nicht abgedeckt sind. Angesichts aussichtsloser Krisenerscheinungen begegnen hier gelegentlich ein Optimismus oder doch eine Zuversicht, die argumentativ schlechthin nicht gerechtfertigt werden können. Der Wille, wider die Erfahrung belastender Informationen und begründeter Ausblicke des Scheitems dennoch weiterführende Perspektiven zu entwickeln und ansatzweise auszuführen, naheliegender Resignation also entgegenzutreten und gegenläufige Zukunftsmodelle zu entwerfen, ist rational nicht einzuholen. Hoffnung angesichts alles dessen, was dagegenspricht, ist nicht machbar und läßt sich nicht ausdenken. Aber auch das Argument, daß es sich psychologisch hier um eine individuelle durch Verdrängung ermöglichte Lebensstrategie handele, greift in der Regel zu kurz. Die Hoffnung, die hier zur Sprache kommt, hat eine eschatologische Dimension, und damit sind ihre spezifisch christlichen Wurzeln angesprochen. Diese werden freilich im Bereich der Futurologie und darauf in der angedeuteten Weise aufbauender Handlungskonzepte in der Regel nicht benannt oder thematisiert. Sie sind, bewußt oder auch unbewußt, jedenfalls stillschweigend vorausgesetzt. Das ist der Grund, weshalb hoffnungsbestimmte Weltanschauungen nur einleuchten, nachvollzogen und vermittelt werden können, wenn es eine unausgesprochene oder auch ausdrückliche Partizipation an diesen Wurzeln und ein entsprechendes Einverständnis zwischen Autor und Leser gibt. Im Unterschied zu christlicher Philosophie oder Weltanschauungsbildung ist es Aufgabe der Theologie, solche verborgenen Wurzeln ausdrücklich anzusprechen, zu thematisieren und zu reflektieren. Eben hier unterscheiden sich Theologie und "christliche Philosophie" oder christlich-weltanschauliche Entwürfe. Theologie als verantwortliche Rechenschaft, als Nachdenken über den Glauben hat damit vom 6 Zu erinnern ist beispielsweise an die Entwürfe von Wolfluzrt Pannenberg und Michael Welker. 7 Vgl. Jürgen Hübner, Schöpfungsglaube und Theologie der Natur, in: Evangelische Theologie 37 (1977), S. 46-68. 8 Ein Beispiel hierfür: Matthew Fox, Vision vom kosmischen Christus. Aufbruch ins dritte Jahrtausend, Stuttgart 1991.

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Glauben selbst zu sprechen. Von daher ist dann das Weltverständnis bis hin zur Leiblichkeit des Lebens ebenfalls ausdrücklich in den Blick zu nehmen. Dieser Aufgabe will ich mich nun als Theologe und als Naturwissenschaftler in gegebenen Grenzen unterziehen. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Ebene der wissenschaftlichen Reflexion und die Dimension des gelebten Lebens zu unterscheiden sind: Theologie ist Nachdenken über den Glauben, ebenso wie Naturwissenschaft Arbeit an der Natur ist. Wohl kann Theologie notwendig auch zum Nachdenken und dadurch zugleich auch zum Vordenken des Glaubens werden, wie Naturwissenschaft Natur auch verändert. Doch der Glaube selbst ist wie das Leben in der Natur selbst ein Geschehen, ein Vor-gang, der allen rationalen Abständigkeiten vorausgeht, sie transzendiert und verändert. Dieses Geschehen muß sich ereignen, stattfinden, wenn Glaube und Leben gelingen und Erfüllung finden sollen und wollen. So gehören Glaube und Leben zusammen. 9 Gültiges Leben schließt den Vollzug des Lebens ein. Das Leben selbst impliziert Beteiligung am Leben. 1O "Der Glaube" ist nicht denkbar ohne das geschehende, verbal zu beschreibende Glauben selbst, so wahr Mk 9,24 gilt: "Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben". Der Anruf: "lieber Herr" besagt zudem, daß Glauben und Gebet zusammengehören. Das ist ein Lebensvorgang. Paulus unterstreicht das Rö 7 (25a) auf seine Weise. 11. Zum Verstehen des christlichen Glaubens

Ich verweile jetzt beim Verständnis des Glaubensbegriffs. Was christlicher Glaube ist, ergibt sich aus seiner Einübung. Was da geschieht, kann theologisch aber auf verschiedene Weise beschrieben und verantwortet werden. Im Anschluß an die Evangelien kann das eher narrativ erfolgen, im Nacherzählen von Erfahrungen und Erfahrungen mit Erfahrungen. 11 Paulus bedient sich einer eher systematischen Terminologie. Hier knüpfe ich an. "Der Glaube" erscheint beispielsweise Gal 2, 16 explizit als "Glaube Jesu Christi", "jtLO'tL~ 'ITJooU XQLO'tOU". Gemeinhin wird dieser Ausdruck übersetzt mit "Glaube an Jesus Christus", und das gilt auch für den Text der Lutherbibel: "Weil wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern 9 Vgl. Gerta Scharffenorth, Den Glauben ins Leben ziehen. Studien zu Luthers Theologie, München 1982. 10 Zum Begriff "Das Leben selbst" vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1992 (Werke Bd. 6), zum Diktum "Beteiligung am Leben" den "Gestaltkreis" Viktor von Weizsäckers. 11 V gl. neben vielen anderen Beispielen narrativer Theologie Lothar Steiger, Erzählter Glaube. Die Evangelien, Gütersloh 1978; Walter J. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit. Interkulturelle Theologie, München 1979. Die Beschreibung des Glaubens als gottgemäBe "Erfahrung mit aller Erfahrung" stammt von Gerhard Ebeling: Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache, in: ders., Wort und Glaube III, Tübingen 1975,3-28, hier 25. Vgl. dazu Katrin Gelder, Glaube und Erfahrung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Gerhard Ebelings "Dogmatik des christlichen Glaubens" im Kontext der gegenwärtigen evangelisch-theologischen Diskussion (Neukirchener Beiträge zur Syst. Theologie, Band ll), Neukirchen-Vluyn 1992.

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durch den Glauben an Jesum Christum, so glauben wir auch an Christum Jesum, auf daß wir gerecht werden durch den Glauben an Christum und nicht durch des Gesetzes Werke; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht" (offizieller Text von 1912 im Anschluß an die Bibelübersetzung von 1544). Die revidierte Fassung von 1964 akzentuiert gemäß dem griechischen Text (nach Nestle 12): "Weil wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Christus Jesus, sind auch wir gläubig geworden an Christus Jesus, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch des Gesetzes Werke". 1984 13 heißt es dann: "Weil wir wissen, daß der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes". "Zum Glauben gekommen" entspricht der initiatorischen Bedeutung des Aorists ("ErttO"tEVOUIlEV"), die wiederholte Umstellung des Christustitels hinter den Namen Jesus (Jesus Christus) der traditionellen Interpretation des textkritischen Befundes. "Christus Jesus" ist freilich die lectio difficilior gegenüber "Jesus Christus". Die Übersetzung von 1964 "gläubig geworden an Christus Jesus" meint zwar das gleiche wie "zum Glauben an Christus Jesus gekommen", doch die Nachstellung des Christusnamens: "gläubig geworden (= zum Glauben gekommen) an Christus Jesus" regt zu weiterführenden Gedanken an. Das gilt auch für die sprachlich ungeschickt wirkende Voranstellung des Christustitels in Verbindung mit dem Jesusnamen (die allerdings textkritisch umstritten bleibt). Es genügt wohl, dies für das zweite Vorkommen dieser Version in unserem Vers festzuhalten und beim ersten Vorkommen bei der üblichen Reihenfolge zu bleiben, wie es der Text von 1984 wieder tut. Die Frage, die in unserem Zusammenhang zu stellen ist, lautet: Was heißt "Glaube an Christus", verbunden mit dem Jesusnamen? Die begriffs geschichtliche Forschung hat herausgearbeitet, daß allgemein die paulinische Formel "Glauben an" ("JttO"tEVELV et~") exklusiv den christlichen Glauben beschreibt. 14 In Gal 2, 16 aber begegnet auch das mit dem Genitiv des Namens verbundene Substantiv, und zwar in doppelter Weise: "durch den Glauben Jesu Christi" und "aus dem Glauben Christi" ("): "Wir ... , die wir" - ich folge dem griechischen TextlS - "gerecht zu werden suchen in Christus". "In Christus"- das meint als "Ort" Christi auch seine Gemeinde, darf aber auch direkt wörtlich genommen werden: Es ist der auferstandene Jesus Christus selbst. Und Jesus Christus: Das ist der gekreuzigte Messias. Ist in der Formulierung "Glaube Jesu Christi" der Genitiv nun ein genitivus objectivus oder ein genitivus subjectiv~s? Die traditionelle Übersetzung "Glaube an" impliziert einen genitivus objectivus: Christus ist Objekt des Glaubens. Für Glauben verbal verstanden mag das zutreffen: Glauben ist gewissermaßen das Eintreten in den Lebensbereich des auferstandenen Jesus, des Christus. So - im Sinne des Paulus - "sind wir zum Glauben gekommen". "An Christus", besser: "in Christus hinein" sind wir zum Glauben gekommen. So ist, substantivisch gefaßt, Glaube Glaube an Christus. Doch wer ist das Subjekt dieses Glaubens? Doch nicht wir, die Menschen, wenigstens nicht primär. Paulus redet von "Fleisch": "Durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht". In der Übersetzung von 1984: "Durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht". Der Glaube steht im Gegensatz zu den Werken. Er bezieht sich auf das Geschenk der Rechtfertigung. Er ist selbst Geschenk. So ist er Werk Christi. "Glaube Jesu Christi": Dieser Genitiv ist auch genitivus subjectivus. Christus ist für uns am Werk, dadurch sind wir zum Glauben an ihn gekommen, so werden wir aus diesem Glauben heraus gerechtfertigt. So erwartet es schon das Alte Testament: Psalm 143,2 (der Schluß des Verses Gal 2, 16 ist freies Zitat und Schriftbeweis). Der Glaube ist also Christi Werk und zugleich Sache der Menschen, die zum Glauben gekommen sind. "Der Glaube an Christus Jesus lebt als Glaube an ihn durch ihn" (Heinrich Schlier).16 Gerhard Ebeling formuliert: Der Glaube Christi ist "ein solcher Glaube, der in Christus selber da ist, von Christus her entsteht, an Christus orientiert ist und die Signatur Christi trägt".17 Der Glaube atmet den Geist Christi. Was heißt das nun für das Leben in der Welt, für das alltägliche menschliche Dasein also? Die Glaubenden sind ja ein Teil der Welt: Sie leben in persönlichen, in familiären und gesellschaftlichen Beziehungen, sie gehören einer bestimmten Kultur an und haben an ihrer Geschichte teil, mitsamt ihrer Kultur sind sie auch ein Stück Natur, sie partizipieren an der Geschichte der Natur, ja sie leben im Universum des Weltalls. Auf dieses Weltall gesehen sind sie nur ein Stäubchen, statistisch so gut wie zu vernachlässigen: Was ist ein Mensch in einem Universum, dessen Durchmesser gegenwärtig mit einigen zehn Milliarden Lichtjahren und dessen AIBei Luther und den folgenden Ausgaben der Lutherbibel heißt es: "durch Christus". Heinrich Schlier, Der Brief an die Galater, Göttingen 1971,93. 17 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens H, Tübingen 1989, S. 521. Der Genitiv 'IT]ooii XQLO'toii ist auch genitivus communionis oder mysticus genannt worden. Ernst Lohmeyer spricht vorn semitischen Genitiv oder vorn genitivus qualitatis. Zur Sache vgl. Ebeling, a.a.O., S. 520-522. 15

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ter mit zehn bis zwanzig Milliarden Jahren angegeben wird? Dennoch gehören sie dazu. "Dasein ist In-der-Welt-Sein", hat Martin Heidegger einst lapidar formuliert, und dahin ist es "geworfen".18 Das heißt zugleich: "Wir sind von der gleichen Nichtigkeit umfangen wie die ganze Schöpfung, wir schweben im Nichts". So hat es Rudolf Bultmann in einer Predigt (am 1. Juli 1934 über I Kor 8, 4-6) gesagt. 19 Die modeme Kosmologie unterstreicht das auf ihre Weise. Das Nichts scheint Macht zu haben über alles Leben, nichtigende Macht. Spätestens in eineinhalb Milliarden Jahren wird sich die Sonne zum Roten Riesen aufgebläht und alles Leben auf der Erde vernichtet haben, und sollte Menschen bis dahin mittels der Raumfahrt die Flucht anderswo hin gelungen sein - Wissenschaftler reden davon -, wird sie aber auch dort einmal das Schicksal der Vergänglichkeit ereilen. Für individuelle Menschen (und Tiere, Pflanzen ... ) ist das ohnehin keine Perspektive: Unser Leben währt, wenn es gut geht, 70 Jahre oder nur wenig mehr. Dennoch wird vom Andenken an persönliche Menschen gesprochen. Der Glaube Jesu Christi weiß von Auferstehung, von Schöpfung aus dem Nichts. Der Gekreuzigte, Vernichtete ist auferstanden. Mit dem Ausdruck Creatio ex nihilo ist das, was in dieser Formel gemeint ist, in der christlichen Tradition oft metaphysisch interpretiert und damit leicht mißverstanden worden. Man denkt an den aristotelischen Gott, den ersten, selbst unbewegten Beweger, die erste Ursache schlechthin und grenzt ihn als höchstes Seiendes, womöglich gar als höchsten Wert von allem anderen ab, sichert ihn gewissermaßen gegenüber allem sonst Seienden, indem es als von ihm abhängig erklärt wird, geschaffen aus dem Nichts und nur so lebendig, wie Gott es am Leben erhält. Dogmatik gerät hier zur Apotheose eines Gottes, der das gar nicht nötig hat. Dieses Schema ist plausibel, solange man es für wahr hält, gibt es aber im gegenwärtigen Weltverständnis Anlaß, daran festzuhalten? Zweifel, ja Protest und Ablehnung sind berechtigt. Der Glaube Jesu Christi bleibt zunächst einmal auf der Erde. Schon im kanonischen Alten Testament, auch zu Beginn der ersten Schöpfungsgeschichte ist im Zusammenhang der Weltentstehung nicht von Schöpfung aus dem Nichts die Rede. In Gen 1, 2 stehen Wüste und Leere, Finsternis, Tiefe und Wasser am Anfang, übersetzt auch mit Chaos, woran gern etwas voreilig mit Hilfe der jüngst entwikkelten mathematischen Chaostheorie angeknüpft wird. 2o Zur Erläuterung mag das vielleicht nützlich sein, doch theologisch ist es nicht entscheidend, wenn es um den Glauben selbst geht. Mit dem Glauben Christi ist primär nicht der Anfang der Welt als Thema aufgegeben, auch nicht primär die futurologische Bestimmung des Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1953, § 12. Rudolj Bultmann, Das verkündigte Wort. Predigten - Andachten - Ansprachen 19061941, Tübingen 1984, S. 266 f. 20 Vgl. zum Thema lohn Briggs/ F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie, München 1990; Klaus Meier/ Karl-Heinz Strech (Hrsg.), Tohuwabohu. Chaos und Schöpfung, Berlin 1991; Gerhard Herold, Chaostheologie, in: Deutsches Pfarrerblatt, 39 (1993), S. 117-120; Thomas Bonhoeffer, Ethos im Chaos. Wie aus dem Tohowabohu Ordnung hervorgeht, in: Ev. Komm., 26/4 (1993), S. 209-212. 18

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Weltendes, sondern vielmehr die schöpferische Kraft, die in diesem Glauben wirksam ist. Das aber ist das Entscheidende, das ist die Erfahrung des Glaubens an Jesus Christus: Der schöpferische Geist, den der Glaube Jesu Christi atmet, kann nicht anders verstanden werden denn als göttlicher Geist, ja als der Geist Gottes, wie ihn Israel in seinen Begegnungen mit Jahwe und seiner Bewahrung und Leitung durch ihn erfahren und in seinem Zeugnis überliefert und weitergegeben hat. In dieses Gottesverständnis kann und darf auch die griechische Gotteserfahrung, auch die griechisch-theologische Denkerfahrung einbezogen werden, freilich nicht konstitutiv, sondern explikativ, um zu erläutern, zu verdeutlichen, mit all den Resten, die dem Denken entzogen sind und übrig bleiben, wenn es um die Wirklichkeit Gottes geht. Glaube Jesu Christi, Glaube an Jesus Christus (rrio"CL~ 'ITjoo'Ü XQLO'tO'Ü) heißt also: Im Glauben wird in dieser Welt, in ihrem Alltag, in ihrer Zeit und in ihrem Raum Gott als schöpferischer Geist wahrgenommen. Von ihm her wird unsere Existenz bestimmt, in ihm hat sie ihr spezifisches und individuelles Sein. Glaubende Existenz ist damit charakterisiert durch ihre Extraneität, sie ist von außen her, nicht solipsistisch in sich selbst gegründet. Um mit Luther zu reden: Der Heilige Geist versetzt uns außerhalb unserer selbst21 und gewährt so Freiheit. Gemeint ist die Freiheit des Lebens: frei über alle Dinge, niemandem unterworfen; allen dienstbar und jedermann untertan. 22 Das ist, mit gegenwärtiger Theologie formuliert, "dasjenige Leben, das sich vom Geist durch seine freie Selbstzurücknahme zugunsten anderen Lebens bestimmen und erneuern läßt".23 Wird menschliches Leben so von außen her bestimmt, wird es seiner Geschöpflichkeit inne. Individuelles Leben ist sich selbst entzogen. Versteht es sich im Glauben gerade in dieser Unverfügbarkeit als Geschenk, erfährt es sich als Geschöpf Gottes. Dies aber gilt nicht nur bezogen auf die eigene Individualität, sondern in dem gesamten Lebenszusammenhang, in dem individuelles Leben geschieht. Hier sind wieder Mitmenschen, Familie, Gesellschaft, Kultur, Natur, ja das Universum angesprochen. Sie gehören zu meinem Extra nos, und ich zu ihrem. Mein Sein gehört zu diesen Mitgeschöpfen, und ich so oder so zu dem ihrigen. Leben ist Sein in mitgeschöpflicher Gemeinschaft. 24 Leben so wahrzunehmen, als Geschenk, als Schöpfung in Gemeinschaft, ist die Grundhaltung, die aus dem Glauben Jesu Christi sich ergibt, ja die dieser Glaube ist. Im Geiste Jesu Christi glauben heißt: Gott als Schöpfer zu erkennen und die Welt als Schöpfung zu verstehen. In diesem Sinne läßt sich sagen: Der Glaube nimmt Gott als Schöpfer wahr, und so nimmt er zugleich die Welt als Schöpfung 21 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972. 22 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520. 23 Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen 1992. 24 Im Tanz findet das einen spezifischen Ausdruck: Einen festen Standplatz gibt es nicht, und gerade so findet Leben statt!

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wahr. Der Glaube - das ist nicht das Werk des Menschen, das sich von ihm selbst ablösen ließe, zu einem Verdienst oder Pfand werden könnte, obwohl es der Mensch, aber eben er als Mensch selbst ist, der glaubt. Christus Jesus ist der Mittler, er ist der Gegenstand des Glaubens, an dem sich der Glaube festmacht und festhält. Jesus Christus ist aber zugleich der Anfänger und Vollender des Glaubens, sein Subjekt, ohne den es bloß zu einem angestrengten Für-wahr-halten käme. In diesem Sinne im Glauben Jesu Christi Gott als Schöpfer neu zu verstehen und die Welt neu als Schöpfung zu entdecken - darauf kommt es an. So sprach Luther von der Morgenröte einer neuen Zeit: "Wir stehen jetzt in der Morgenröte des künftigen Lebens, denn wir fangen an, die Erkenntnis der Kreaturen wiederzuerlangen, die wir durch Adams Fall verloren haben".25 Präzis wie immer formuliert Rudolf Bultmann in der schon genannten Predigt "Über den Glauben an Gott den Schöpfer": "An das Kreuz Christi glauben heißt bereit sein, Gott als den Schöpfer wirken zu lassen. Gott schafft aus dem Nichts, und wer vor ihm zunichte wird, den macht er lebendig". Hier ist zu Ende gedacht, was "Selbstzurücknahme zugunsten anderen Lebens" letztlich bedeuten kann und vorab allererst begründet. "Glaube" impliziert bei aller Vorläufigkeit seiner Artikulation und allem Rückfall in Unglauben eine Entscheidung: "Alles, was wir im Bereiche der Welt tun, kann in dem doppelten Sinn getan werden: entweder als ein Tribut an die Weltmächte oder im Gehorsam gegen den Schöpfer, entweder als Götzendienst oder, im Glauben an Gott den Schöpfer, als Liebesdienst". Damit schließt Bultmann seine Predigt. 26 In diesem Sinne will in der Tat der Glaube Jesu Christi ins Leben treten und zum Ziel kommen. Er partizipiert an Gottes Schöpferturn und eröffnet die solidarische Gemeinschaft mit allen Mitgeschöpfen. Freilich, und daran wäre im Anschluß an unsere Exegese von Gal 2, 16 festzuhalten, kann es um das Kreuz nicht nur als Abstraktum gehen. Insofern kann auch das Kreuz allein schwerlich Glaubensgegenstand sein. Es geht um Jesus Christus selbst, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Er allein, in seiner irdischen und geistigen Leiblichkeit, ist der Bürge des neuen Lebens, das aus dem Glauben kommt. Dieses Leben darf angesichts von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi mit Recht Ewiges Leben genannt werden, Leben also, das auch das Sterben integriert, indem es den Tod und seine Macht überwindet. Auch dieses Leben kann - das wäre ein Widerspruch in sich - kein Abstraktum sein. Leben ist leibliches Leben und als solches Leben in Gemeinschaft. Es gibt auch eine Gemeinschaft mit den Toten und unter den Toten. Dieses Leben beginnt im Glauben auf der Erde. Das solidarische Leben mit den Mitgeschöpfen ist in dieser Weise nicht bloß ein Imperativ, ein Gebot oder Gesetz. Es ist die Wirklichkeit, die der Glaube Jesu Christi erschließt. Mitgeschöpflichkeit ist die Vorgabe, die das Leben leiblich bestimmt. Die in allen Verzerrungen gegenwärtig bedrängende Umwelt wird so zur Mitwelt. 25 26

Martin Luther, WA TR I, S. 1160. Bultmann (FN 19), S. 273.

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In dieser mitweltlichen Gemeinschaft gilt es das Leben so wahrzunehmen, wie es zunächst zeitlich sich ereignet. Da Leben in der Welt geschieht, heißt Wahrnehmung des Lebens zugleich Weltwahmehmung. Angesprochen ist damit die Welt, wie sie uns faktisch begegnet und wie wir an ihr teilhaben. Diese Welt ist, wie verstellt, entstellt und zerstört auch immer, Gottes Schöpfung. Hier ist das freigelegt, was Claus Westermann als Urgeschehen, Gerhard Liedke als Grundgeschehen in Unterscheidung vom Rettungsgeschehen bezeichnet hat. 27 Im Glauben wird die Solidargemeinschaft der Mitgeschöpfe bejaht. Das heißt: Hier wird die Welt als Gottes Schöpfung wahrgenommen, geehrt, um mit ihr und für sie zu leben?8 Verweist die Erkenntnis der Welt als Schöpfung im Glauben Jesu Christi allein auf den Schöpfer selbst, so gilt es, sie gewissermaßen mit den Augen Gottes anzusehen. Das bedeutet: Es gibt Hoffnung für die Welt, die Welt hat Zukunft, es macht Sinn, in und mit ihr und für sie zu leben. Bewahrung und Rettung können als Gottes schöpferisches Handeln verstanden werden. Bewahren und retten, Leben gelingen lassen ist so auch Aufgabe der Menschen. Unter dieser Vorgabe ist der Optimismus oder doch die Zuversicht begründet, die so viele weltanschauliche Gesamtentwürfe und futurologische Spekulationen bestimmt, insbesondere, wenn ihre Konzeption christlich motiviert oder beeinflußt ist. Freilich transzendiert diese Vorgabe jede innerweltliche Futurologie. Weil es Ewiges Leben gibt, darf die Welt Hoffnung haben. Diese Hoffnung wertet weltlich-irdisches Leben nicht ab. Der Blick des Glaubens auf die Schöpfung partizipiert an dieser Hoffnung, an der Erwartung der Zukunft Gottes. Die Welt ist auch und gerade als Schöpfung vergänglich, doch als diese vergängliche Schöpfung ist sie zu ehren und zu hüten, und in dieser hoffnungsvollen Vergänglichkeit gilt es in, mit und für sie zu leben. III. Zur Bedeutung des Weltbildes

Wie kann die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung nun im einzelnen artikuliert, zum Verstehen und zum Einverständnis gebracht werden? Hier gewinnt die Frage nach dem Weltbild besondere Bedeutung. Die klassische abendländische Vorstellung zeichnet die Welt als Ordnung. Der mittelalterliche Ordo von Kirche und Gesellschaft entspricht der kosmischen Ordnung: der Hierarchie von irdischer und himmlischer Welt. In der Schedelsehen Weltchronik von 1493 ist das zusammenfassend dargestellt: Unten, im geozentrischen Weltbild in der Mitte der Weltkugel, ist die Erde, der irdische Bereich, hierarchisch gegliedert nach den Elementen von Erde, Wasser, Luft und Feuer und ihrer Mischung. Ihre Sphäre reicht bis 27 Vgl. Claus Westermann, Schöpfung, Stuttgart 1971; ders., Genesis 1-11 (BK III), Neukirchen-Vluyn 1983, S. 58 f., 240-242 u.ö.; Gerhard Liedke, Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie, Stuttgart 1979, S. 91 ff. Dazu J. Hübner, Schöpfung, Weltbild und WeItverantwortung, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 5, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 219237. 28 Vgl. Jürgen Hübner, Die Welt als Gottes Schöpfung ehren. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie heute, München 1982.

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zur Bahn des Mondes. Dann folgen die höheren Sphären der Planetenbahnen, überirdisch und oft schon als göttlich und unvergänglich angesehen. Sie reichen vom Merkur bis zum Saturn; in ihrer Mitte befindet sich die Sonne. Das Ganze wird umschlossen von der Sphäre der Fixsterne, die feststehen relativ zu den Bewegungen der Wandelsterne, der Planeten. Jenseits des Fixsternhimmels folgt der Kristallhimmel; das sind die Wasser über der Feste von Gen 1, 7, gefroren. Aristotelischer Tradition folgend, umgreift diesen ganzen Kosmos das Primum mobile, der christlich versachlichte erste Beweger, nun zum Neutrum geworden. Erst jenseits auch dieser Sphäre beginnt Gottes Thronsaal, der Wohnsitz Gottes, der alles lenkt und regiert, umgeben von den himmlischen Heerscharen und den Seligen, Vätern, Aposteln und Heiligen, ihrerseits hierarchisch gegliedert. Von ihm am meisten entfernt, in der Mitte der Erde, befindet sich die Hölle, bei Dante beispielsweise noch einmal hierarchisch aufgebaut. Diese kosmische und überweltliche und unterweltliche Ordnung bestimmte das Leben von Mittelalter und Renaissance bis weit in die Zeit der Aufklärung hinein, und die Denkstruktur unserer Logik und Ethik ist davon bis heute entscheidend geprägt. Unten und oben, nieder und höher, ja Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz - all das folgt dem gleichen Schema. Die Vertauschung von Sonne und Erde durch Kopernikus bedeutete noch nicht den Zusammenbruch dieses Weltbilds. Erst Giordano Bruno, der dafür im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen starb, zerbrach diesen Kosmos, indem er von einer unendlichen Zahl von Welten sprach, von denen die unsere nur eine ist, nicht mehr von letzter Bedeutung im Gesamt des Universums. Damit war die Weltordnung nicht mehr gesichert, die Ordnung auf der Erde gefährdet, weil gründlich in Frage gestellt. Die Menschen hatten ihren festen Ort verloren. Sie mußten sich neu orientieren, um von neuem Stand zu gewinnen. Die kosmologisch begründete Weltlichkeit und Leiblichkeit des Lebens war verloren gegangen. Auch die vielfältig herausgearbeiteten Analogien zwischen kosmischer Struktur und menschlicher Körperlichkeit - der Mensch als Mikrokosmos im Makrokosmos des Universums 29 - trugen nicht mehr. Auch die mittelalterliche Medizin - ich erinnere nur an die Lehre von den Körpersäften und Temperamenten 30 - hatte ihre Basis verloren. Die Philosophie Descartes' und der Cartesianismus sind eine Antwort darauf: Selbstvergewisserung des Menschen in seiner Welt. Descartes ging diesen Weg als katholischer Christ. Nach Aufklärung, Rationalismus einschließlich Neothomismus und Idealismus ist Ende des vorigen und in unserem Jahrhundert versucht worden, mit Hilfe des Evolutionismus dem Menschen neu einen festen Platz im Universum anzuweisen, seinen Lebenszusammenhang zu beschreiben und eine neue Ethik zu entwickeln. Danach hat der Mensch seinen Ort im Werden des Universums, das sein Ziel findet 29 Vgl. J. Godwinl Rohert Fludd, Hermetic Philosopher and Surveyor of two Worlds, Shambhala 1979. 30 Vgl. Heinrich Schipperges, Modeme Medizin im Spiegel der Geschichte, München/ Stuttgart 1970.

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in der Evolution des Lebens auf unserem Planeten, die ihrerseits auf den Menschen zuläuft und in der erdweiten Vereinigung der Menschheit in Liebe und Vergeistigung zur Vollendung kommt: zur Vereinigung mit Gott. Teilhard de Chardin hat in dieser Vision und ihrer denkerischen Entfaltung die elementare Erfahrung katholischen Priestertums zusammengefaßt. 31 Auch das ist eine Artikulation des christlichen Glaubens?2 Es kann aber nicht die letzte und einzige sein. Unser heutiges Weltbild, wie es Interpreten gegenwärtiger Astrophysik und Kosmologie entwerfen, ist noch einmal ein anderes - sofern überhaupt noch von einem Weltbild gesprochen werden kann, entbehren doch die Gleichungen und Formeln moderner Physik jeder Anschauung. Grundsätzlich bleiben sie auch im Bereich des Hypothetischen, jederzeit revidierbar. Jedes Bild ist also eine eigentlich unzulässige Vereinfachung. Doch ohne Bilder kommt der Mensch nicht aus, und so stellt man sich das Universum vor als einen Trichter,33 in zeitlicher Entwicklung begriffen seit dem Urknall, hinter den zurückzudenken sinnlos ist, weil jedes ,,zurück" hier schon Zeit voraussetzt, die es noch nicht gab. In der Zeit aber bewegen wir uns irgendwo am Rande des Trichters, und die Zukunft ist offen. Orientierung unseres Lebens auf der Erde kann hiervon jedenfalls nicht abgeleitet werden, theologisch schon gar nicht. So komme ich zurück auf unseren Ausgangspunkt, die paulinische Aussage des Glaubens. Entscheidend war, daß diese Aussage selbst bereits keinen "Punkt", keinen festen Ort im Sinne eines Weltsystems meinte, sondern ein Geschehen signalisierte. Paulus stellt mit dem Wort vom Glauben Weltfrömmigkeit gerade in Frage. Er wendet sich Ga12, 16 gegen die Gerechtigkeit aus Werken des Gesetzes. Die Werke des Gesetzes sind darauf aus, Gottes Weltordnung heilig zu halten - so entspricht es pharisäischer und judenchristlicher Frömmigkeit, die Paulus vor Augen stehen und gegen die er sich wendet. Wie aber ist Leben in der Welt zu ordnen, damit es Orientierung und darin Sinn findet? Das alttestamentliche Gesetz, zentriert im Liebesgebot (Dtn 6, 5 und Lev 19, 18. 34, zusammengefaßt Mt 22, 37) geht nicht von einem Weltbild aus. Es ist der Fehler der Gesetzesfrömmigkeit, dies zu meinen. 34 Jedes Weltbild ist relativ. Es hat seine Zeit und wird ersetzt. Darauf die Weltordnung aufzubauen, kann nur sehr begrenzt, für ein Zeitalter vielleicht, immerhin, aber doch nur für dieses Bestand haben. Dann aber kann eine solche Ordnung, jede Ordnung keine letzte Gültigkeit haben. Sie ist zeitlich nützlich und insofern unentbehrlich. Leben muß strukturiert werden. Ohne Gesetz geht Leben im Ungewissen unter. Jede Ordnung 31 Vgl. Pierre Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1959. 32 Jürgen Hübner, Teilhard de Chardins Vision der Zukunft, in: ders., Die neue Verantwortung für das Leben. Ethik im Zeitalter von Gentechnologie und Umweltkrise, München 1986, S. 188-192. 33 J.J. Halliwell, Quantenkosmologie und die Entstehung des Universums, in: Spektrum der Wissenschaft, 199212, S. 50-58, hier S. 55, Bild 3. 34 Beispiele finden sich im Rabbinismus und in der Apokalyptik. Eine Sonderstellung nimmt die jüdische Kabbala ein.

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ist jedoch - anknüpfend an natürliche und kulturelle Gegebenheiten - menschliche Ordnung. Jede Kosmologie hängt am Logos des Menschen. So ist auch die pharisäische Weltordnung und die derer, die ihr folgen, menschliche Ordnung. Darauf zu bauen, schafft Gerechtigkeit vor Menschen. Vor Gott schafft das keine Gerechtigkeit. Der schöpferische Geist Gottes reicht unendlich weiter als menschliche Vernunft. Ihm gerecht zu werden, ihm zu entsprechen, kann kein Werk irgendeines vernünftigen oder auch kosmologisch ausgelegten oder gar begründeten Gesetzes sein. Das leuchtet schon ein, wenn noch gar nicht von der Pervertierung des Gesetzes, seinem Mißbrauch, von Sünde also die Rede ist. Um so mehr muß das unter den Bedingungen der Sünde und ihrer Herrschaft gelten. Schöpfungs gemäß, unter und mit den Augen des Schöpfers zu leben, kann also nicht im Heilighalten einer Weltordnung geleistet werden. Weltordnungen sind profane Orientierungen. Im Zeichen der Liebe gesetzt und auch durchgesetzt, können sie dem Willen Gottes entsprechen. Sie können ihm aber auch entgegenstehen, wenn sie zum Selbstzweck werden, wenn um der Ordnung willen und nicht um des Lebens willen gelebt werden soll. Unter den Bedingungen des abendländischen Geistes ist das besonders eindrücklich. Wird das Leben eingebunden in eine Hierarchie, die metaphysischem Denken und seiner Logik oder gar - in der Neuzeit der Logik ohne metaphysische Deckung ausgeliefert ist, droht es zu verkümmern. Werden dieses Denken und seine Nachfolger ihres Machtanspruchs entkleidet, dann können sie freilich in Dienst genommen werden für das Wirken des Schöpfers und dem, was ihm entspricht, dann können sie in Dienst genommen werden für die Liebe. Dennoch hält sich in dem allem, im Wechsel der Weltbilder und Ordnungen, im Wandel der Geschichte von Natur und Kultur bis hin zur modemen Zivilisation etwas durch, das Leben in verschiedener, jedoch biographisch eindeutiger Weise ausmacht. Im Begriff Leibhaftigkeit ist das angesprochen. Es entspricht unserer Natürlichkeit. Auch diese verändert sich, gewiß. Aber sie verschafft sich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, immer wieder neu Geltung. Spätestens in körperlicher oder seelischer Krankheit macht sie sich bemerkbar. Der Glaube kann gar nicht anders, als in dieser Leiblichkeit und Natürlichkeit zu leben. Er ist leibhaftig, sonst ist er nicht Glaube, sondern eine intellektuelle Operation, eben ein bloßes Für-wahr-halten. Was aber bedeutet der Glaube für Leiblichkeit und Natürlichkeit? Wir sagten: Er nimmt ihre Wirklichkeit wahr als geschöpfliche Wirklichkeit, er versetzt in die Solidargemeinschaft der Geschöpfe dieser - und ich habe hinzugefügt: der künftigen Welt. Der Glaube macht deutlich: Jeder Mensch und alle Geschöpfe haben ihr Sein außerhalb ihrer selbst: Sie sind aufeinander angewiesen. Das gilt auch für die ganze Schöpfung: Sie ist auf ihren Schöpfer angewiesen. Diese Erkenntnis eröffnet der Glaube Jesu Christi. Und er führt zu ihrer Bejahung, ja er gewährt sie. Dieses Aufeinander-angewiesen-sein stiftet Beziehungen: Beziehungen zwischen Menschen untereinander, zwischen Menschengruppen und Völkern, aber ge16 Selbstorganisation. Bd. 7

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rade auch die Beziehungen zu den Mitgeschöpfen, Tieren, Pflanzen, ja Steinen, Landschaften. In diesem Sinne gibt es auch Beziehung in das außerirdische Universum hinein, zu Sonne, Mond und Sternen. Von dieser mitgeschöpflichen Beziehung her gewinnt auch das Gewicht, was in vergangenen Weltbildern artikuliert war. Was sich da durchhält, braucht nicht in Bildern oder Systemen festgehalten oder festgeschrieben zu werden, so sehr Bilder und Systembauten das artikulieren und zur Wahrnehmung anleiten können. Die Beziehungswirklichkeit des Lebens, ansatzweise schon in der unbelebten Natur im Universum und auf der Erde angelegt, offen artikuliert im Gebet, zumal im Gebet für andere, eröffnet das, was den Gewinn des Lebens ausmacht. Und hier gibt es immer neue Entdeckungen zu machen; das reicht bis zur Beziehung zum eigenen Körper. Im Glauben kann sogar das Sterben dazugerechnet werden: Es entspricht der Lebenswirklichkeit an ihrer Grenze, wo doch die Beziehung nicht aufhört, die Beziehung zum Schöpfer und zwischen den Geschöpfen, sich jedoch wandelt, verwandelt wird. So kann es im Glauben Jesu Christi nicht darum gehen, eine Weltordnung heilig zu halten, und sei es eine Gott zugeschriebene Weltordnung. Gott allein ist heilig. Im Beziehungsgeflecht der Schöpfung gibt es die Möglichkeit, sich zu orientieren und ordnend zu gestalten. Worum es dabei aber letztlich geht, ist, eben diese Beziehungen wahrzunehmen, ihnen zu entsprechen und sie zu entwickeln, so daß Leben gelingt, sich erfüllt und weitergeht. IV. Folgerungen für die Medizin Im Bereich der Medizin läßt sich das Gesagte konkretisieren. Aufschlußreich ist hier die ethische Diskussion. Die Beziehungswirklichkeit des Lebens auch im medizinischen Alltag wahrzunehmen, ist die Grundintention einer christlich bestimmten medizinischen Ethik. Diese fundamentalethische Grundbestimmung liegt aller ethischen Argumentation im einzelnen voraus und muß sie relativieren. Es kann in der medizinischen Ethik nicht nur darum gehen, Argumente gegeneinander abzuwägen, sie einer Hierarchie von Gütern, Normen und Werten zuzuordnen und allein davon Entscheidungen abzuleiten. Dieses Argumentationsmuster entspricht logisch exakt dem alten, geozentrischen Weltbild und seinen hierarchischen ontologischen Implikationen. Es ist nach der Ablösung dieses Weltbilds und seiner philosophischen Bedeutung gewissermaßen übrig geblieben als eine Handhabe praktikabler rationaler Argumentation. Als solche behält es auch seine Bedeutung, freilich relativ zu den Erfordernissen gegenwärtiger Entscheidungsfindung. Es geht zu allererst um Menschen, ihr Leben und ihre Zukunft in der Welt von heute. Bezogen auf Gesundheitswesen und Medizin heißt das: Der Mensch muß die Herrschaft über Wissenschaft und Technik behalten. Er kann sich nicht mehr in ein kosmologisch abgestütztes allgemeingültiges System von Wahrheiten bergen: Er hat nunmehr die Verantwortung für das, was möglich ist. Und möglich ist heute

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vieles, das bis vor kurzem noch gänzlich außerhalb der Verfügungsgewalt des Menschen lag. Erinnert sei nur an die heutigen Methoden der Geburtenregelung, an Intensiv- und Transplantationsmedizin. In diesen und vielen anderen Feldern müssen heute neuartige Entscheidungen verantwortet werden. Mit der Verantwortung in medizinischen Entscheidungssituationen kann aber nicht allein ein Arzt oder ein Ärzteteam behaftet sein. Betroffen ist schließlich der Patient. Sein Leben und dessen Gestalt stehen auf dem Spiel. Der einzelne Patient oder die Patientin können aber auch nicht isoliert für sich allein betrachtet werden, sondern hier sind ganze Lebenszusammenhänge mit im Spiel. Ihnen gehören weitere Menschen zu: Angehörige, Freunde, Kollegen. Sie bestimmen jeweils eine Biographie entscheidend mit. Schon in der ärztlichen Privatpraxis, insbesondere aber im Krankenhaus gesellen sich ihnen die ärztlichen und pflegenden Mitarbeiter zu, ebenso das Reinigungspersonal und die Angestellten der Verwaltung. Hier bestehen und entstehen Beziehungen. Sie wahrzunehmen und einzubringen bedarf des Gesprächs. Im ethischen Gespräch muß in den Situationen, die eintreten, um Lösungen und Entscheidungen gerungen werden. Alle an einem bestimmten Anlaß Beteiligten müssen dazu einbezogen werden. Nur so kann auch in der ärztlichen Versorgung ein menschen- und lebensgemäßer Weg gefunden werden, der weiterführt. Eine solche Grundbestimmung medizinischer Ethik kann sich nicht nur auf die Anwendung medizinischen und anderen natur- und humanwissenchaftlichen Wissens beziehen. Auch das schulmäßige Wissen ethischer Regeln wird nicht ausreichen. Die fundamentalethische Grundorientierung wird nicht ohne Einfluß schon auf den Erwerb und damit die Natur dieses Wissens, seiner Einschätzung und den Umgang damit bleiben. Welches Wissen überhaupt und vor Ort gebraucht wird, das kann das ethische Gespräch in entscheidender Weise mit erhellen und schon im voraus beeinflussen. Hier ist wohl natur- und humanwissenschaftliches Sachund Fachwissen gefragt, dies allein ist aber nicht genug: Die Menschen müssen sich einbringen. Das ist mehr als Kommunikation, die auf bloßen Konsens aus ist. 35 Dies ist notwendiges Medium. Doch dahinter steht die Frage nach dem persönlichen menschlichen Leben überhaupt, und das ist immer ein Zusammen-, ein Miteinander-leben. Das erfordert Gemeinschaft. Menschen sind nicht nur individuelle oder kollektiv vernetzte Subjekte, sondern leben jeweils einzeln und gemeinsam auch in ihrer jeweiligen Welt. Ihre im Verlauf ihrer Biographie entwickelte Weltorientierung, ihr Weltbild bis hin zu den verschiedenen Weltanschauungen hat sie in ihrer Eigenart geprägt. Das bestimmt auch 35 Vgl. die Diskussion mit Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handeins, 2 Bde., Frankfurt/M. (1981), 3. Auf!. 1985; dazu: Edmund Arens (Hrsg.), Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handeins. Düsseldorf 1989; Hans-Joachim Höhn, Kirche und kommunikatives Handeln: Studien zur Theologie und Praxis der Kirche in der Auseinandersetzung mit den Sozialtheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas'. Frankfurt / M. 1985 (Frankfurter Theologische Studien 32).

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jede einzelne Persönlichkeit wesentlich mit. Hier liegen auch die Wurzeln des jeweiligen Ethos, der überkommenen und übernommenen ethischen Orientierung bis zu ihrer Neugestaltung im Laufe biographischer Entwicklungen. Die angesprochene ethische Grundorientierung, die im ethischen Gespräch zur Geltung gebracht werden wird, wird sich in solchen Elementen ethischer Individuation und Sozialisation artikulieren. Die jeweiligen Weltbilder oder deren Folgeeinstellungen werden sich hier bemerkbar machen. Im Blick auf die Medizin hat naheliegenderweise die der Natürlichkeit entsprechende Leiblichkeit zentrale Bedeutung. Sie umfaßt Körper, Seele und Geist und ihre Beziehung zur Mitwelt. Sich in der geschilderten Weise Situationen auszusetzen und sich in sie hineinzugeben, erfordert eine Freiheit, die nicht einfach erworben werden kann. An dieser Stelle trifft sich der christliche Glaube mit dem, was vernünftigerweise auch allgemein verständlich gemacht werden kann. Angesichts der alltäglichen medizinischen Wirklichkeit, ihren praktischen Erfordernissen, Zwängen und Belastungen, auch dem, was allgemein als beklagenswert, aber nicht vermeidbar angesehen wird: Zeitmangel, Streß, notwendige bürokratische Prozeduren, juristische Absicherungen - angesichts all dessen erscheint aber auch das Vernünftige oft genug als utopisch. Die Realität sieht anders aus. Und dennoch: Hier zu resignieren, käme einer Bankrotterklärung gleich. In der Sicht des christlichen Glaubens ist das keine Möglichkeit. Der Glaube widerspricht seinem Wesen nach jeder Resignation. In der Grundeinstellung des Glaubens versteht es sich von selbst, trotz aller Widerstände und Mißlichkeiten, das Menschenund Schöpfungsgemäße zu tun. Das wird nicht auf spektakuläre Weise geschehen können, sondern entscheidend sind schon ganz kleine Schritte, Gesten, die eines deutlich machen: Hier ist der Geist der Liebe lebendig. Dem soll, kann und muß die Technik dienen. Es darf nicht der Geist der Technik sein, der medizinisches Handeln oder Unterlassen bestimmt. Dasselbe gilt, falls es so etwas gibt, für den Geist der Ökonomie. Ideologisierungen in der einen oder anderen Richtung sind von der Wurzel her zu kritisieren: Sie haben mit Resignation vor den Gegebenheiten zu tun, und der Mensch droht dem zum Opfer zu fallen. Das steht dem ärztlichen Sinn der Medizin strikt entgegen. Hier sich im Geist der Liebe zu engagieren, steht dagegen allen Beteiligten wohl an. Der christliche Glaube, so wie er hier erläutert worden ist, versteht sich als Einladung dazu. Eine besondere Aufgabe christlicher Seelsorge wird es sein, zwischen ewiger und irdischer Hoffnung zu vermitteln. Die Erwartung ewigen Lebens ist in dem Weltbild und in den Denkformen mittelalterlicher und auch noch neuzeitlicher Theologie sehr anschaulich und handfest vermittelt worden. Eigenartigerweise kann auf solche Bilder auch heute zuweilen zurückgegriffen werden: Ihr existenzbezogener Sinn kann unabhängig von dem dahinterstehenden Weltbild vermittelt werden. Nichtsdestoweniger werden noch heute weitere, neue Bilder gesucht und gefunden werden müssen, die das zur Sprache bringen und anschaulich machen können und damit zum Verstehen bringen, was christliche Zukunftshoffnung be-

Christlicher Glaube, Naturbild und Medizin

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sagt. Eingebettet in diese Zukunftshoffnung des ewigen Lebens wird dann auch getrost von irdischen Hoffnungen und deren Ende gesprochen werden können. Daß menschliches Leben auf Hoffnung angewiesen ist, ist eine allgemeine Wahrheit, ebenso, daß Sterben ein Teil des Lebens ist und ihm zugehört. Daß irdische Hoffnung im Sterben bis zu ihrer irdischen Vollendung geführt werden kann und dennoch auch angesichts des Todes Hoffnung bleibt, das vermittelt die Erwartung des ewigen Lebens. Was diese Erwartung besagt, ist schon Inhalt des irdisch gelebten Glaubens. Angesichts des nahen Todes ist daher die Botschaft ewigen Lebens nichts Neues. Wohl aber kommt der Glaube an das ewige Leben durch das Sterben hindurch zu seinem Ziel. In der biblischen Überlieferung ist an dieser Stelle vom kommenden "Schauen" die Rede, vom Schauen dessen, was der Glaube bereits geglaubt hat. "Dir geschehe, wie du geglaubt hast" - dieser Zuspruch gilt wie im ganzen Leben so auch im Sterben. Er eröffnet den Ausblick in Gottes Zukunft, der sich der Glaube bereits anheimgegeben hat und nun erst recht anheimgeben kann. Dies zu vermitteln, bedarf es beispielsweise in der Klinik nicht nur eines beruflich dafür zuständigen Seelsorgers. Jeder Mensch, so also auch jeder Beteiligte einschließlich des Arztes ist in dieser Weise zur Seelsorge berufen. Es dürfte aber eine erhebliche Erleichterung der Arbeit bedeuten, wenn ein Pfarrer oder eine Pfarrerin dem ärztlichen Team mit angehört. Beispiele aus der Praxis zeigen, daß eine solche Zusammenarbeit den Tiefgang menschlichen Lebens auch in der medizinischen Praxis zur Geltung bringt und zum Erleben bringen kann. Für die Organisation ärztlicher wie kirchlicher Arbeit liegt hier ein weites Feld kreativer Möglichkeiten, die zu nutzen ein eigenes Postulat auch medizinischer Ethik darstellt.

Edition Viktor von Weizsäcker und Goethe Einführung zur Edition von "Der Umgang mit der Natur"

Von Rainer-M. E. Jacobi, Essen So führt Goethe (gegen Newton im Unrecht und für sich selbst doch im Recht) im Kampfe mit sich selbst die Kinder seines Hasses ans Licht und trägt eben dadurch, daß er das Bemerken auf die sinnlichen Phänomene hinlenkt, noch mehr als sein Gegner zur Entwicklung der physiologischen Theorie bei. Denn er hat den Gebrauch des Auges selbst neu entfaltet. Trotzdem ist diese unwillkürliche Wirkung Goethes nur dialektisch bedingt, und sie ist nicht die echte und wahrhafte seines großen Werkes über die Farben und seiner Persönlichkeit. Nicht eine Theorie war sein Ziel, sondern im neuen Sehen ein unendlich Lebendiges zu fassen sein einziges Streben. Goethe benutzt den Versuch nicht, um zur Theorie der Erscheinung, sondern um zu ihrem Urbild zu gelangen: zum Urphänomen. Daher ist ihm der einzelne Versuch nichts; er kennt nicht den "Fundamentalversuch" der Physiker. Sondern auf die Vermannigfaltigung der Versuche kommt alles an, und nur viele solcher verschiedener Versuche ergeben ein Gesamtbild und damit eine Art von höherer Erfahrung. Dieses unendlich Lebendige, im Urphänomen wie in einer Art höheren Erfahrung angeschaut, ist das Endziel seiner nicht auf Beherrschung und Erklärung der Natur, sondern auf Klarheit, Reife, Weisheit, Wahrheit und Wesen ausgehenden Arbeit. Viktor von Weizsäcker

1. Zur Goethe-Rezeption bei Viktor von Weizsäcker

Es gibt nur wenige Texte, die Viktor von Weizsäcker in mehr oder weniger systematischer Absicht Personen widmete, deren Werk nicht unmittelbar mit seiner ärztlichen Profession in Verbindung zu stehen schien. Neben Goethe wird man hier noch Kant, Schelling und Sartre nennen müssen. 1 Gegen den ersten Anschein ließe 1 Viktor von Weizsäcker, Einleitung zu Kant: Der Organismus (1923), in: Peter Achilles/ Dieter J anz / Martin Schrenk / earl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 502 - 517, Frankfurt / M. 1986 (im folgenden als GS mit nachgestellter Bandzahl zitiert); ders., Jean-Paul Sartres "Sein und Nichts" (1947), GS 1, S. 424-434; ders., Der Widerstand bei der Behandlung von Organkranken. Mit Bemerkungen über Werke von Jean-Paul Sartre (1949), GS 6, S. 427 - 449, Frankfurt/M. 1986; ders., Über EW.J. Schelling (1950),

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sich freilich zeigen, daß das geistige Schaffen dieser Autoren den Weizsäckerschen Intentionen überaus nahe steht. Mag dies mit Blick auf den geistes geschichtlichen Horizont der Medizinischen Anthropologie für die genannten Philosophen wenig überraschen, verwundert es doch zunächst bei Goethe. Da überdies Kant den am häufigsten und am genauesten zitierten Autor im veröffentlichten Werk Weizsäckers bildet, würde man in den scheinbar beiläufig in die Texte eingestreuten Goethe-Zitaten auch einen Hinweis auf den bürgerlichen Bildungsstandard des 19. Jahrhunderts vermuten können. Aber ganz gegen diesen Eindruck, den die Mehrzahl der Texte bei flüchtiger Lektüre zu bestätigen scheinen, wird man Goethe für den Gesamtentwurf des Weizsäckerschen Werkes eine vermutlich zentrale Bedeutung einräumen müssen. Indes bedarf dies eines genaueren Blicks auf die Texte; eines Blicks, der weniger von Autorennennungen und Quellenverweisen sich leiten läßt, als vielmehr den Denkbewegungen selbst zu folgen sucht. Hierbei zeigt sich alsbald, daß es nicht allein um die Texte geht, deren Titel einen Bezug auf Goethe erkennen lassen, weit weniger um die ungezählten - nur selten ausgewiesenen Zitierungen Goethes, sondern vor allem um jene Texte oder Textpassagen, in denen die Programmatik des Weizsäckerschen Werkes deutlich wird, oder aber die Leitfiguren seines Denkens entworfen werden. Die Rede ist mithin von den Grundtexten und dem Grundgestus der Weizsäckerschen Denkbemühungen. 2 Es macht den exemplarischen Wert des hier zur Edition gebrachten Textes aus, die wirkungs geschichtliehe Potenz und literarische Dignität eines solchen Verstehenszugangs überaus deutlich aufzuzeigen. Eine gelegentlich vom üblichen Maß abweichende Kommentierung des Textes schien daher angezeigt. Nun kann freilich nicht in literaturkritischem Sinne von einer Goethe-Rezeption bei Weizsäcker gesprochen werden, eher wohl von der erneuten Aufnahme jener Problemstellungen, die Goethe zum Naturphilosophen, ja sogar zum experimentierenden Naturforscher werden ließen. 3 Verdankt sich der vermeintliche Erfolg der Wissenschaftsentwicklung über weite Strecken der Verdrängung dieser ProblemGS 1, S. 470-478. Der Vollständigkeit halber sei noch ein kurzer Text zu Alexander von Humboldt erwähnt, in dem Weizsäcker - wie auch an anderen Stellen - geschichtsphilosophische Überlegungen vorträgt: ders., Erinnerung an Alexander von Humboldt (1950), GS 1, S.451-456. 2 Zu dem Versuch, ,Grundtexte' in Weizsäckers Werk zu bestimmen, denen sich die Programmatik seines anthropologischen Denkens entnehmen läßt, sei auf den Beitrag des Verfassers in diesem Band verwiesen. 3 Es sei lediglich an die zunächst mit Goethes botanischen Studien verbundene, seit dem denkwürdigen Gespräch mit Schiller im Juli 1794 in Jena dann aber zu einem naturphilosophischen Thema ersten Ranges werdende Frage nach dem Verhältnis von Idee und Erfahrung im Umgang des Menschen mit der Natur erinnert. Vgl. hierzu Johann Wolfgang Goethe, Glückliches Ereignis (1817), in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, München 1989 - 1994, Bd. 10, S. 538 - 542 (im folgenden als HA mit nachgestellter Bandzahl zitiert); ders., Anschauende Urteilskraft (1820), HA 13, S. 31- 32. Insbesondere aber sei auf den Briefwechsel Goethes mit Schiller verwiesen und die späten aphoristischen Notizen "Zur Morphologie" (1829), in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887 - 1912, 11. Abt., Bd. 6, S. 347 ff.

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stellungen, so lag Weizsäcker allererst an deren wirklichem Verständnis. Insofern möchte man seinen Umgang mit Goethe gleichsam als den Versuch einer ReSignation der neueren Wissenschaftsgeschichte bezeichnen. Ohne dieser eigentümlichen Verbindung zwischen Weizsäcker und Goethe hier im einzelnen nachgehen zu können - handelt es sich doch um das Desiderat der Weizsäcker-Rezeption überhaupt - sei lediglich unter Verweis auf die Texte, in denen Goethes Problemstellungen Weizsäcker zu Elementen seines eigenen Werkaufbaus werden, die zentrale Bedeutung dieser geistigen Verwandtschaft angedeutet. 4 Hier müssen zunächst Texte der zwanziger Jahre genannt werden, die damit ihren Rang als wirkliche Grundtexte der Medizinischen Anthropologie ein weiteres Mal unter Beweis stellen. So kommt in zwei sehr verschiedenen Texten des Jahres 1926 der Bezug des Weizsäckerschen Werkentwurfs auf Goethe exemplarisch zum Vorschein. Zum einen im Aufsatz "Der Arzt und der Kranke", den Weizsäcker zum ersten Heft der gemeinsam mit Martin Buber und Joseph Wittig begründeten Vierteljahresschrift "Die Kreatur" beisteuerte und zum anderen im Handbuchartikel "Einleitung zur Physiologie der Sinne".5 Wird im ersteren Text unter präziser Verwendung des Goetheschen Terminus "Urphänomen" der - wie es Weizsäcker später ausführt - "metaphysische Ort" der Arzt-Patient-Beziehung bestimmt, von dem her der ,,zusammenhang von Wahrheit und Krankheit" sich als ein ontologischer erweist,6 so versucht Weizsäcker in dem Handbuchartikel - gleichsam als methodische Grundlegung - sein Biologieverständnis von jener Forderung Goethes her zu entwickeln, mit der dieser sein Verhältnis zu Kant abschließend kennzeichnete: "Kant hat die ,Kritik der reinen Vernunft' geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein Fähiger, ein Bedeutender die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben.',7 Wiederum vom "Urphänomen" ausgehend, mit klarem Verweis auf die Goethesche Intention, daß "nicht eine Theorie ... sein Ziel (war), sondern im neuen Sehen ein un4 Die exemplarische Bedeutung der Naturphilosophie Goethes für die Leitbegriffe des Weizsäckerschen Denkens war noch nicht Thema der Sekundärliteratur. Selbst die überaus materialreiche und bislang zuverlässigste Untersuchung zur Medizinischen Anthropologie von Stefan Emondts räumt Goethe eine eher marginale Bedeutung ein, wobei freilich deren andere Intention in Rechnung zu stellen ist. Vgl. Stefan Emondts, Menschwerden in Beziehung. Eine religionsphilosophische Untersuchung der medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers, Stuttgart 1993, bes. S. 114, 126f., 206f., 210f. 5 Viktor von Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke (1926), GS 5, S. 9-26, Frankfurt/M. 1987; ders., Einleitung zur Physiologie der Sinne (1926), GS 3, S. 325 -428, Frankfurt/M. 1990. 6 Vgl. Weizsäcker, Über medizinische Anthropologie, GS 5, S. 177 -194, hier S. 180f. Zum Urphänomen: Goethe, Erfahrung und Wissenschaft [Das reine Phänomen) (1798), HA 13. S. 23 - 25; ders., Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil (1810), §§ 175 - 177, 720, 741, HA 13, S. 367 f., 482 f., 488; ders., Maximen und Reflexionen, HA 12, S. 366f.; ders., Gespräche mit Eckermann vom 18.02. 1829,23.02. und 21. 12. 1831. Vgl. auch Ferdinand Weinhandl, Die Metaphysik Goethes, Berlin 1932, bes. S. 217 - 261. 7 Goethe, Gespräche mit Eckermann vom 17. Februar 1829 (zit. von Dorothea Kuhn in HA 13, S. 628), vgl. auch ders., Maximen und Reflexionen, HA 12, S. 468, Nr. 731.

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endlich Lebendiges zu fassen sein einziges Streben", erhebt Weizsäcker im abschließenden VIII. Kapitel die "Sinneslehre" zur "Aufgabe der Biologie". 8 Doch statt der Frage nach dem, was eine ,richtige Kategorie' oder ein ,richtiges System' der Biologie sei, nachzusinnen, nimmt er einen weiteren Grundbegriff Goethes auf, um den eigentümlichen Charakter der Sinneswahrnehmung klarer fassen zu können: nämlich den der Gestalt. Das Anliegen seiner langjährigen sinnesphysiologischen Untersuchungen galt letztlich dem Aufweis, daß nicht nur der Wahrnehmungsvorgang, sondern der Lebensvorgang selbst, eine Leistung sei, "deren Eigenart ist, nur als Ganzes zu reagieren und jeden Einze1vorgang durch einen Gesamtvorgang zu determinieren".9 Sofern aber genau diese Eigenart unter dem Zugriff naturwissenschaftlicher Methodik verloren geht, stellt sich für Weizsäcker ein von der Psychologie, der Physik oder Physiologie ,gleichmäßig abweichendes' neues Erkenntnisproblem. In kaum zu übertreffender Prägnanz bringt er es auf die Formel, "daß wir im Sinnlichen logisch Widersprechendes im Erlebnis einer Anschauung zu vollziehen vermögen. ,,10 Dies nun führt ihn, die Gestaltkreislehre antizipierend, zur Bestimmung seines erkenntnisleitenden Prinzips. Ganz im Gegensatz zur subjektiven Konstitution eines Objektes als Gegenstand von Erkenntnis geht dieses vom sinnlichen Erlebnis selbst aus, dessen erfahrene Wirklichkeit eine neue Weise von Erkenntnis stiftet, deren Authentizität keine reflektierte sondern eine erlebte ist. Wie zum Zwecke nochmaliger Verdeutlichung, verweist Weizsäcker abschließend darauf, daß sich mit dieser "ganz anderen Art von wissenschaftlicher Erfahrung" der Name Goethes aufs engste verbindeY Nun gelten diese beiden Texte nicht nur als exemplarische Belege für das besondere Verhältnis Weizsäckers zu Goethe, sie machen überdies deutlich, daß die Gestaltkreislehre in ihrer genuin erkenntniskritischen Intention gleichsam neues Licht auf die häufig mißverstandene Kontroverse zwischen Goethe und Newton zu werfen vermag. Wobei das Interessante hieran ist, daß die eigentümliche Widersprüchlichkeit des ,Denkens im Gestaltkreis' es ad absurdum führt, jene Kontroverse dadurch auflösen zu wollen, daß man den Sieg eines der beiden Kontrahenden aufzuweisen sucht. Doch ist hier nicht der Ort, sich diesem wissenschaftshistorisch und erkenntnistheoretisch noch immer ertragreichen Thema zu widmen; die Bedeutung allerdings, die es für Weizsäckers eigene naturphilosophische Orientierung hat, wird nicht nur an dem Umstand ersichtlich, daß es keinen Text gibt, in dem er sich Weizsäcker, Einleitung (FN 5), S. 329, 407 ff. Ebd.,S.417. 10 Ebd., S. 421, 424. Exemplarisch für dieses "logisch Widersprechende" ist die Erfahrung der Identität einer Person durch die "Nichtidentität ihrer raumzeitlich-objektiven Bestimmungen hindurch" (S. 426). Dieses ,erweiterte Erfahrungsverständnis', dessen Kennzeichen sein Gestaltcharakter ist, entwickelte Weizsäcker 1923 in dem Text "Das Antilogische" (GS 2, S. 368 - 394, Frankfurt/M. 1998). Die Antilogik erweist sich mithin als das eigentlich Spezifische der Gestalt, wie es Weizsäcker dann später in "Gestalt und Zeit" (1942) explizit ausgeführt hat. 11 Ebd., S. 425 ff. 8

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ausführlicher auf Goethe bezöge ohne dies auch zugleich mit Hinweisen auf jene Kontroverse zu verbinden, sondern näherhin in zwei Texten, die als ,Kommentare' zum 1940 in erster Auflage erschienenen Hauptwerk Weizsäckers, dem ,Gestaltkreis-Buch', gelesen werden dürfen. Auch hier müssen vorerst Andeutungen genügen. Die Rede ist von zwei wiederum im gleichen Jahr, nämlich 1942 erschienenen Texten: der Abhandlung "Gestalt und Zeit", die als Heft 7 in der mit dem Namen Wilhelm Troll verbundenen Schriftemeihe "Die Gestalt" in Halle (Saale) erschien, und dem Vortrag "Wahrheit und Wahrnehmung" vor der Deutschen Philosophischen Gesellschaft in Leipzig. 12 Mag sich dem flüchtigen Leser der Bezug auf Goethe im letzteren Text nicht sogleich erschließen, so wird man beide Texte im Gegensatz zu dem sehr viel breiter angelegten, mitunter fast disparat anmutenden ,Gestaltkreis-Buch' als streng am Geschehen der Wahrnehmung orientierte Entfaltungen jener "Wissenschaft von den Lebenserscheinungen" betrachten können, die Weizsäcker mangels eines besseren Begriffs gleichfalls Biologie nennt und in strikter Abtrennung von Physik und Psychologie zur Grundlage seiner "anthropologischen Medizin" bestimmt. 13 Der bereits in der "Einleitung zur Physiologie der Sinne" erkennbare Zusammenhang seines ,erkenntnisleitenden Prinzips' mit dem Goetheschen Begriff der Gestalt wird hier zum eigentlichen Thema. Dabei verleiht er der sehr viel später von seinem damaligen Mitarbeiter Alfred Prinz Auersperg geprägten Rede von der Urphänomenologie der Wahrnehmung bereits in "Wahrheit und Wahrnehmung" ihre naturphilosophische Pointe, deren zunächst überraschende Radikalität mit Blick auf Goethes Naturverständnis eher trivial erscheinen mag. 14 Dieser Einsicht, die in 12 Weizsäcker, Gestalt und Zeit, in: Wilhelm Pinder/Wilhelm Troll I Lothar Wolf (Hrsg.), Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie, Heft 7, Halle (Saale) 1942; ders., Wahrheit und Wahrnehmung, in: ders., Wahrheit und Wahrnehmung. Über das Nervensystem. Zwei Vorträge, Leipzig 1943. Beiden Texten liegen Vorträge zugrunde, die im Jahr 1942 gehalten wurden; sie sind jetzt in Bd. 4 der Gesammelten Schriften enthalten (Frankfurt/M. 1997). 13 Weizsäcker, Einleitung (FN 5), S. 425 f. Mit ,Gestaltkreis-Buch' ist das 1940 in I. Auflage erschienene Hauptwerk Weizsäckers gemeint: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit vorn Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart 1940,5. Aufl. 1986. 14 Es handelt sich hier um einen für die naturphilosophische Grundhaltung Weizsäckers zentralen Gedanken, so daß die entsprechende Passage in größerem Zusammenhang zitiert werden soll: "Es ist nicht so, daß der Verstand das sinnliche Rohmaterial bearbeitet, reinigt und den Rest wegwirft, sondern die Wahrnehmung selbst hat Verstand, aber einen unbewußten. Helmholtz hat dies richtig gefühlt; aber er hat nicht daran gedacht oder es nicht gewagt, die Folgerung zu ziehen, daß wir die Natur nicht denken, sondern im strengsten Wortsinne von ihr gedacht werden. Es gilt das Wort des Paulus, der gesagt hat: ,Jetzt erkennen wir's stückweise; dann aber werden wir's erkennen, gleich wie wir erkannt sind.' Damit enthüllt sich nun, daß die gegenwärtige veränderte Situation der Wissenschaft zugleich teilhat an einer Stellung des Menschen zu der Natur, die von allgemeinster und nicht nur wissenschaftlicher Art ist. Indern ich sie überwissenschaftlich nenne, ist aber bereits ein Abschied von der sogenannten wissenschaftlichen Weltanschauung überhaupt ausgesprochen. Wenn ich es nun noch wagen darf, zu einern so großen Gegenstande einige mehr thesenhafte Sätze hinzuzufügen, so können es nur die folgenden sein. Was die modemen klassischen Naturwis-

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solcher Klarheit wohl an keiner anderen Stelle seines Werkes zu finden ist, muß die in unverkennbar systematischer Absicht geschriebene Abhandlung "Gestalt und Zeit" vorgeordnet werden. Wird es mit der hier vorgelegten Nachlaßedition nunmehr zwei vom äußeren Anlaß her ausgewiesene ,Goethe-Texte' Weizsäckers geben, so darf die Abhandlung "Gestalt und Zeit" dennoch als der Schlüsseltext für das Verhältnis Weizsäckers zu Goethe gelten. Insofern hier eine tatsächliche Problemanalyse der Kontroverse zwischen Goethe und Newton versucht wird - für Weizsäcker übrigens die "interessanteste Auseinandersetzung über die Sinneswahrnehmung, die das 19. Jahrhundert gesehen hat" -leistet dieser Text einen zentralen Beitrag zur häufig eingeklagten Bestimmung des Weizsäckerschen Wissenschaftsverständnisses. 15 Neben dem hier edierten Text gibt es noch einen weiteren ,Goethe-Text' Weizsäckers. Der anläßlich der Festsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 22. Mai 1949 gehaltene Vortrag "Zur Farbenlehre" gilt weithin als das Zeugnis für die Verbindung Weizsäckers zu Goethe. 16 Zwar gab der 200. Geburtstag Goethes - ebenso im Falle des Editionstextes - den äußeren Anlaß ab, doch sensehaften objektive Natur genannt hatten, erweist sich allen Ernstes als die Natur des Menschen, als seine Natur, und sie hat so gut teil an ihm wie er an ihr und damit an seiner sinnlich-verständigen so gut wie an seiner tätig-verwirklichenden Art. Das gilt für die physikalischen nicht anders wie für die biologischen Abteilungen des wissenschaftlichen Gesamtunternehmens des Menschen. Es gibt nicht eine reine Erkenntnis der schon zuvor vorhandenen und nur noch zu findenden Wahrheit, sondern Wahrheit ist möglich, doch müssen wir sie verwirklichen - Erkenntniswert für uns muß Seins wert werden. Die Verzichte der Physik auf vollständige Determination, von denen wir Kenntnis nehmen, retten nicht die Einheit des objektiv naturwissenschaftlichen Weltbildes, sondern sie bedeuten, wie mir scheint unausweichlich, die neue Zentrierung in der Einheit der menschlichen Person. Aber auch der Verzicht der Biologie auf eine eigene besondere Lebenskraft der Lebewesen rettet nicht das Lebewesen aus seiner gefährlichen Isolierung inmitten der von notwendigen Gesetzen beherrschten äußeren Natur, sondern dieser Verzicht auf Vitalismus bedeutet wirklich einen völligen Verzicht auf eine Sonderstellung des Menschen gegenüber der äußeren Natur. Wenn aber die Unabhängigkeit der äußeren Natur vom Menschen und wenn die Unabhängigkeit des Menschen von der äußeren Natur geopfert wird, dann entsteht durch beides mit gleichem Erfolge die eine Abhängigkeit der Mensch-Natur von einem Grunde, der selbst nie Gegenstand werden kann, also auch nicht wissenschaftlich erkannt werden kann." (Weizsäcker, Wahrheit und Wahrnehmung, GS 4, S. 383-403, Frankfurt 1997, hier S. 400f.). Konnte vom Verfasser schon an anderer Stelle (vgl. den Beitrag in diesem Band, S. 113, FN 42) auf die anthropologische Begründung des zumeist nur religiös verstandenen "Grundverhältnisses" hingewiesen werden, so kommt hier die allenthalben in Abrede gestellte naturphilosophische Gründung des Weizsäckerschen Denkens überraschend deutlich in den Blick. Zu Alfred Prinz Auersperg vgl.: ders., Das Phänomen des Personalen in Goethes Biologie und seine pathologischen Abwandlungen, in: Jahrbuch Psychol. Psychoth. med. Anthropol. 16 (1968) Heft 1, S. 30 - 42, hier 30 f. 15 Weizsäcker, Gestalt (FN 12), S. 26 (GS 4, S. 363). Auf die Bedeutung dieses Textes für die Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Leben, womit sich die Begründung des Gestaltcharakters von Wahrnehmung verbindet, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. Emondts (FN 4), S. 210 - 224. 16 Weizsäcker, Zur Farbenlehre (1949), GS 1, S. 457 -469.

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handelt es sich keineswegs um einen erbaulichen ,Jubiläumstext'. Wie schon in den exemplarisch vorgestellten anderen Texten steht wiederum jene zentrale Problemstellung Goethes im Mittelpunkt, von der her Weizsäckers Denkansatz überhaupt erst verstanden werden kann. So überrascht es nicht, daß erneut die Kontroverse zwischen Goethe und Newton zur Sprache kommt, doch sogleich auf die ihr vorausgehende naturphilosophische Grundfrage nach der Art des Umgangs von Mensch und Natur bezogen wird. Daß dieser "Umgang" - übrigens ein Grundbegriff der Gestaltkreislehre - ein Werden und Gestalten im Zwischen der miteinander Umgehenden meint, erschließt sich besonders deutlich im Rückblick auf den Text "Gestalt und Zeit". Unter Bezug auf die Einsichten der neueren Physik, "daß es ... am Verhalten des Beobachters liegt, was herauskommt", bringt es Weizsäkker auf die Formel, "daß die Umgangsart mit der Natur so wichtig für das ist, als was sie erscheint. Im Umgang wird sie das, was sie ist." Wobei in der Umgangsart "vom Subjekte und vom Objekte her je nachdem Unterschiedliches geschieht."l7 Doch eigentlich kann bei der Umgangsart, die Goethes Farbenlehre gegenüber Newtons ,Lichttheorie' erst als das wirklich Andere qualifiziert, weder von Subjekt noch von Objekt (in transzendentalphilosophischem Sinne) gesprochen werden. Die Erkenntniskritik der Gestaltkreislehre ist der Goetheschen Rede von der Farbe nun insofern verwandt, als sie auf genau die ontologische Differenz zielt, die einen zum Objekt gewordenen Gegenstand notwendig von jenem ,biologischen Urphänomen' unterscheidet, das Weizsäcker in der bereits erwähnten "Einleitung zur Physiologie der Sinne" als sinnliches Erlebnis bezeichnet. l8 Als ob es noch eines Hinweises bedürfte, erwähnt Weizsäcker in seiner Rede "Zur Farbenlehre" die Kreismetaphorik Goethes, mit der dieser die Einheitlichkeit des Sehens zu illustrieren suchte. Indem er weiter davon spricht, daß "der Akt des Sehens ein solch kreisendes Bewegen vom Auge zum Objekt und vom Objekt zum Auge ist", greift er selbst auf Formulierungen zurück, mit denen er an anderen Stellen die Eigenart der Erkenntnisweise im Gestaltkreis beschreibt. l9 Überdies gibt es im Haupttext der Gestaltkreislehre, dem sogenannten ,Gestaltkreis-Buch', eine Vielzahl essentieller Bezüge zu Goethe, was zu der These Anlaß gibt, im Gestaltkreis Weizsäckers Summe einer lebenslangen Beschäftigung mit Goethes Denken zu sehen,z° Ebd., S. 462. Mit Blick auf das vom Verfasser zur erkenntniskritischen Intention des Weizsäckerschen Textes "Die Schmerzen" (1926) angeführte (in diesem Band, S. 100-105), wird nunmehr deutlich, daß die adäquate ,Kategorie' zur Beschreibung der "großen Ereignisse des menschlichen Erlebens" das sinnliche Erlebnis ist, nicht aber ein System naturwissenschaftlicher Grundbegriffe. Das "sinnliche Erlebnis" steht gleichsam für jenen zeitüberbrückenden Horizont der Vergegenwärtigung, in dem transjektive Erfahrung möglich wird. Insofern kann Weizsäckers Formel der "transjektiven Erfahrung" von der Goetheschen Gestaltwahrnehmung her - als eines Urphänomens - erst eigentlich verstanden werden. Vgl. Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke (FN 5), S. 19 ff.; ders., Gestalt (FN 12) S. 21 f., 37, 39 f. 19 Weizsäcker, Zur Farbenlehre (FN 16), S. 461. 20 Eine nähere Ausführung dieser These sei der in Vorbereitung befindlichen Untersuchung des Verfassers "Kranksein und Wissen. Zur geistes geschichtlichen Bedeutung der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers" vorbehalten. 17

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2. "Der Umgang mit der Natur" - Quellenlage und Textgestalt Lange Zeit war die Verfügbarkeit der Texte Weizsäckers auch dadurch besonders erschwert, daß diese an mitunter sehr entlegenen Stellen zur Veröffentlichung kamen. Es ist der Mühe von Peter Achilles zu danken, daß nunmehr eine wohl als vollständig zu bezeichnende Bibliographie aller im Druck erschienenen Texte Weizsäckers vorliegt. 21 Eine nach Sachgruppen geordnete Auswahl hiervon erscheint seit 1986 in den "Gesammelten Schriften".22 Hierbei handelt es sich um keine historisch-kritische Ausgabe, sondern eher um eine Leseausgabe, der sparsame Anmerkungen beigegeben sind, wobei weder Vollständigkeit angestrebt, noch ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben wird. Aus vielerlei Gründen war im Fall der vorliegenden Edition anders zu verfahren. Weniger die Zugänglichkeit zu einem Text gab hierfür den Anlaß, als vielmehr das Interesse am geistesgeschichtlichen Kontext des Weizsäckerschen Werkes leitend war. So gesehen ist diese Edition Hinweis auf eine noch zu leistende Arbeit: die wissenschaftliche Aufbereitung des Nachlasses. Die in groben Zügen angedeutete geistige Nähe des Weizsäckerschen Werkes zu Goethes Denken, der man eine Leitfunktion für das Verständnis der Medizinischen Anthropologie als einer "Wissenschaft von den Lebenserscheinungen" wird einräumen müssen, legt es nahe, mit dem hier zur Edition gebrachten Text ein erstes Beispiel der Nachlaßsichtung zu geben. Wie schon angeklungen, handelt es sich um den zweiten Text, der vom Anlaß her als ein ,Goethe-Text' ausgewiesen ist. Er geht auf einen Vortrag zurück, den Viktor von Weizsäcker am 4. Juli 1949 an der Technischen Hochschule Stuttgart hielt. Die Quellenlage weist allerdings die Besonderheit auf, daß zwei voneinander erheblich abweichende Textvorlagen existieren. Hinzu kommen einzelne Stücke eines im wesentlichen sich auf terminliche Vereinbarungen beschränkenden Briefwechsels mit der einladenden Institution. Auch sei erwähnt, daß zu den ,GoethePapieren' des verfügbaren Nachlasses noch drei doppelseitig mit Tinte beschriebene Blätter mit vorbereitenden Skizzen, Gliederungsentwürfen und kleineren Textpassagen zum Stuttgarter Vortrag gehören, sowie ein einseitig gleichfalls mit Tinte beschriebenes Blatt, das mit "Epilog zur Goethe-Rede" betitelt ist und Nachgedan21 Peter Achilles, Bibliographie, GS 1, S. 641 - 671. Diese Bibliographie umfaßt alle Publikationen Viktor von Weizsäckers einschließlich der Rezensionen, Diskussionsbeiträge und Fremdberichte über unveröffentlichte Vorträge; ausgenommen sind Texte, die wie im Fall vorliegender Edition, einer Öffentlichkeit zwar bereits zugänglich gemacht wurden, bislang aber nicht im Druck vorlagen. 22 Die "Gesammelten Schriften" (FN 1) umfassen neben den beiden autobiographischen Texten Weizsäckers "Natur und Geist" (1944/54) und "Begegnungen und Entscheidungen" (1945/49), den in monographischer Form erschienenen Werken "Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" (1940), "Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische Anthropologie" (1951) und "Pathosophie" (1956), die mehrfach erschienenen Aufsatzsammlungen ("Arzt und Kranker", "Diesseits und Jenseits der Medizin"), seine klinischen Vorlesungen und akademischen Hauptschriften (Promotion, Habilitation), sowie eine Vielzahl z.T. entlegen publizierter Texte wissenschaftlichen aber auch essayistischen Charakters.

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ken zum Vortrag anläßlich der Festsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 22. Mai 1949 enthält. Die vorbereitenden Notizen zu dem hier edierten Nachlaßtext sind auf einer Seite mit zwei Datumsangaben versehen (24. und 26. Juni 1949), wobei nicht festgestellt werden konnte, ob es sich hierbei um die erste beschriebene Seite handelt. Ohne jetzt auf den Inhalt dieser Notizen einzugehen, deren Bedeutung für die geistesgeschichtlichen Bezüge des Weizsäckerschen Denkens nicht unerheblich sind, sei lediglich darauf verwiesen, daß dank dieser Notizen eine Entscheidung zwischen den beiden vorliegenden Textfassungen getroffen werden konnte. Wäre es für eine Nachlaßediton unverzichtbar, beide Fassungen nebst allen Notizen vorzulegen, darf unter den genannten Prämissen im vorliegenden Fall darauf verzichtet werden. 23 Die beiden Textfassungen unterscheiden sich beträchtlich. Handelt es sich zum einen um ein Manuskript, dessen erste Seite mit der unterstrichenen Titelzeile und dem am rechten oberen Blattrand vermerkten Hinweis "Stuttgart" beginnt, liegt in der zweiten Fassung ein Typoskript vor, dessen erstes Blatt unter der Titelzeile den Hinweis enthält "Goethe-Vortrag gehalten an der T.H. Stuttgart am 4. 7. 1949", wobei nachträglich von Hand das Wort "Goethe" gestrichen wurde. Doch neben diesen eher formalen Differenzen handelt es sich in der Tat auch inhaltlich um zwei verschiedene Texte, die erkennbar der gleichen Intention folgen, aber verschiedene Schwerpunkte setzen und sich auch nicht immer den gleichen Fragen zuwenden. Hier nun war das Studium der vorbereitenden Notizen überaus hilfreich, zumal dort jener Gedanke, der die eigentliche Bedeutung des hier edierten Textes ausmacht aber nur in der Manuskriptfassung enthalten ist, an hervorgehobener Stelle vermerkt wird?4 Überdies enthalten diese Notizen mehrere Gliederungsentwürfe, deren einer unter Angabe von einem bzw. mehreren Stichworten die exakte Abfolge der Manuskriptseiten wiedergibt. 25 Wenn hier also die Manuskript23 Wie schon im vorliegenden Fall bezüglich der Bewertung der verfügbaren Textfassungen ersichtlich, kommt den im Nachlaß befindlichen handschriftlichen Entwürfen und Notizen, die auch bereits publizierte Texte betreffen, ein noch kaum abzuschätzender Wert für die kritische Aneignung des Weizsäckerschen Werkes zu. Auch hinsichtlich der für das Verständnis mancher Texte unverzichtbaren Kenntnis der zeitgeschichtlichen Situation, würde eine Aufbereitung der Nachlaßdokumente von großem Nutzen sein. 24 Hier ist der zum Vergleich von Goethes Urphänomen mit Platons Idee von Weizsäcker in Anschlag gebrachte Begriff der "Anamnesis" gemeint (vgI. S. 273), zu dessen Bedeutung im letzten Kapitel dieser Einführung ein Hinweis erfolgt. 25 Da diese Auflistung sowohl einen hilfreichen Überblick zur thematischen Struktur des Textes gibt, als auch zur Pointierung bestimmter Begriffe beiträgt, sei sie hier wiedergegeben (die Schrägstriche markieren den Zeilenbruch): "G. I 1 Aufschub d. Katastrophe. Keine Prätentionen I la Kampf um Newton. N's Persönlichkeit. I 2 Ironie: Kern u. Schale I 2a Royal Society 13 Technik ein Dämon?/3a Teilen od. Einen. Sinne und Krankhaftes 14 Spalt in d. Wissenschaft? I 4a Platon u. Goethe I 5 Gestalt I 5a Anamnesis I 6 Das Neue I 6a Umgang mit d. Wahn, d. Fremden, d. Unbewussten, Relativism. u. Pluralism. I 7 "Gedichte sind gemalte Fensterscheiben" Frische. I 7a 7 Umgangsarten: lyrisch, naturphilos., experimentell, technisch, begriffsanalyt., fromm, unbenannt./S Theophagen ISa Die unbenannte Umgangs-

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fassung zur Edition gebracht wird, so handelt es sich um den zwar gedanklich reicheren und mit den Notizen in besserem Einklang stehenden Text, sehr wahrscheinlich aber nicht um den vorgetragenen Text. Das Manuskript in der hier vorliegenden Form macht den Eindruck einer Erstfassung; es enthält Korrekturen, Durchstreichungen und Überschreibungen. Umfaßt das Typoskript fünf eineinhalbzeilig und doppelseitig beschriebene Blätter, wobei die Satzspiegelbreite nur zu Dreiviertel genutzt wurde und längere Gedichtzitate eingefügt sind, so handelt es sich bei dem Manuskript um acht wiederum doppelseitig mit Tinte recht engzeilig beschriebene Blätter. Hiervon umfassen die Gedichtzitate etwa eine Seite, überdies ist die letzte Seite nur zu einem Viertel gefüllt. Die Paginierung erfolgt blatt- und seiten weise, also jeweils auf der Rückseite mit einem der Blattzahl nachgestellten kleinen A. Die Druckfassung gibt die Textgestalt der Manuskriptvorlage hinsichtlich der Absätze und Hervorhebungen wieder?6 Vom Herausgeber ergänzte Hervorhebungen sind gekennzeichnet. Mit Blick auf die in den Notizen aufgefundene Seitengliederung des Textes werden die Seitenbruche des Manuskripts im Druck durch einen doppelten Schrägstrich gekennzeichnet. Vom Autor selbst gibt es keine Anmerkungen oder Quellenverweise, so daß nach dem Ermessen des Herausgebers Quellenverweise, Kommentare und werkgeschichtliche Notizen beigegeben wurden. 3. Zur Bedeutung des Textes

Der Titel ließe zunächst weder auf Goethe noch auf Weizsäcker schließen, wüßte man nicht, daß für Goethe und übrigens auch für Weizsäcker, neben den Professionen, denen beide ihr je verschiedenes Ansehen verdanken, die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur das eigentliche Leitthema ihres Wirkens war. Haben die vielfältigen Editionsbemühungen um die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, die zunehmende Wahrnehmung der Naturthematik in seinem poetischen Werk und nicht zuletzt der Umstand, daß die "Farbenlehre" seit der ersten belegbaren Farbbeobachtung vom 12. Dezember 1777 bis hin zu seinem Tode das ihn am intensivsten beschäftigende Thema überhaupt war,27 zwar eine gewisse art." Als zusammenfassender Nachtrag folgt am unteren Rand des Blattes: "Also behandelt werden: 1. das Thema G. u. Newton / 2. Sein Verhältnis zur Technik / 3. Sein Naturumgang, Naturidee G.'s. /4. Wie sollte d. Umgang sein? 7 Arten / 5. Wissenschaft u. Technik." 26 Absätze sind im Manuskript durch einen Zeileneinzug kenntlich gemacht. Als Hervorhebung verwendet der Autor einfache Unterstreichungen, die im Druck durch Kursivsatz wiedergegeben werden. 27 Vgl. Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, § 75, HA 13, S. 348; insbesondere aber das "Nachwort zur Farbenlehre" von Dorothea Kuhn, HA 13, S. 613 - 640. Überaus erhellend hierzu: Ludwig Hänsel, Goethe. Chaos und Kosmos, Wien 1949; ders., NewtonGoethe-Pascal. Die Farbenlehre und das Problem der Mitte, in: Eduard Castle (Hrsg.), Festschrift zum 200. Geburtstag Goethes, S. 113 -146, Wien 1949; Kurt Hildebrandt, Goethes Naturerkenntnis, Hamburg 1947. Nicht vergessen sei an dieser Stelle die sog. "Leopoldina-

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Veränderung des Goethe-Bildes bewirkt, so kommt jenem Urteil von Heimholtz, daß Goethe in seinem Streit mit Newton wohl als Künstler recht zu geben sei, nicht aber als Wissenschaftler, noch immer hohe Plausibilität zu?8 Insofern nun Weizsäcker mit dem Versuch eines neuen Verständnisses der Wirklichkeit von Mensch und Natur Goethe gleichsam als Repräsentant einer ,neuen Biologie' - als einer "Wissenschaft von den Lebenserscheinungen" - in Anspruch zu nehmen sucht,29 kommt den einschlägigen Texten nicht nur grundlegende Bedeutung für das Verständnis seiner Medizinischen Anthropologie zu, sie sind überdies Beiträge zum Thema ,Goethe und die Wissenschaft'. Neben der skizzierten Nähe zu Goethes Denken, die mit dem edierten Text eine weitere Bestätigung findet, bringt die zum Teil überaus detaillierte Diskussion Goethescher Texte und Denkansätze, wie sie im veröffentlichten Werk Weizsäckers vorliegt, ein Desiderat der wissenschaftlichen Goethe-Rezeption selbst zum Vorschein. Die im Nachlaß aufgefundenen ,Goethe-Papiere' geben daher Anlaß, der bisherigen Aufnahme der Weizsäckerschen ,Goethe-Texte' seitens der Goethe-Forschung einen flüchtigen Blick zu widmen. Zunächst fällt auf, daß in der Tat nur jener durch Anlaß und Titel auf Goethe hinweisende Text "Zur Farbenlehre" gelegentlich in den einschlägigen Bibliographien Erwähnung findet; allerdings nicht in der weitverbreiteten "Hamburger Ausgabe" von Goethes Werken und überraschenderweise auch nicht in der Bibliographie der Deutschen Literaturwissenschaft. 30 Alle weiteren Goethe betreffenden Texte Weizsäckers, insbesondere aber die Abhandlung "Gestalt und Zeit" wurden in der Goethe-Forschung, so scheint es, bislang noch nicht wahrgenommen. Dieser Umstand dürfte als marginal zu bezeichnen sein, wenn nicht - wie es der Editionstext erneut zeigt - Weizsäcker einen grundsätzlichen Beitrag zum Verständnis der Ausgabe" von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft (Hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina von K. Lothar Wolf t, Wilhelm Troll t, Rupprecht Matthaei t, Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt, Weimar 1947 ff.), vgl. Dorothea Kuhn, Goethes Schriften zur Naturwissenschaft. Über Inhalt und Gestaltung der Leopoldina-Ausgabe, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft (NF) 33 (1971), S. 123 - 146. 28 Vgl. Weizsäcker, Gestalt (FN 12), S. 26, 38, (GS 4, S. 363, 377). 29 Ebd., S. 26 f., (GS 4, S. 364). 30 Vgl. Bibliographie der Deutschen Literaturwissenschaft, 1945 - 1953, bearbeitet von Hanns W. Eppelsheimer, Frankfurt1M. 1957. Weizsäckers Text ,,zur Farbenlehre" (FN 16) findet Erwähnung in den einschlägigen Bibliographien in: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe (FA). I. Abteilung, Bd. 23/1, Zur Farbenlehre, Frankfurt 1 M. 1991, S. 1471, sowie FA 1,23/2, Schriften zur Farbenlehre 1790-1807, Frankfurt1M. 1991, S. 469; ebenso in: Peter Eichhorn, Idee und Erfahrung im Spätwerk Goethes, Freiburg 1971, S. 258. Daß Weizsäckers Beiträge zum Verständnis der Kontroverse Goethes mit Newton in überaus kenntnisreichen Untersuchungen zur Thematik keine Erwähnung finden, sei zumindest angemerkt; z. B. Gernot Böhme, Ist Goethes Farbenlehre Wissenschaft?, in: ders., Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt1M. 1980, S. 123-153; Christoph Gögelein, Zu Goethes Begriff von Wissenschaft auf dem Wege der Methodik seiner Farbstudien, München 1972; Hartmut Schönherr, Einheit und Werden. Goethes Newton-Polemik als systematische Konsequenz seiner Naturkonzeption, Würzburg 1993. 17 Selbstorganisation, Bd. 7

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Kontroverse zwischen Goethe und Newton zu leisten vermöchte. Spätestens seit den berühmt gewordenen Texten Werner Heisenbergs sollte bekannt sein, daß jene Kontroverse mitnichten nur einer affektiven Unbeherrschtheit Goethes entstammt oder aber lediglich einer Verletzung seines Künstlerturns, sondern vielmehr die Frage nach dem, Umgang mit der Natur' zum Thema hat. 31 Ernst Cassirer gebührt das Verdienst, dem systematischen Problemgehalt dieser Frage am profundesten nachgegangen zu sein. 32 Abseits von biographischen Umständen und eher "zufälligen Einzelbedingungen" war ihm zunächst daran gelegen, das methodische Problem dieser Kontroverse mit Blick auf dessen "bleibenden Sachgehalt" deutlich zu machen. Hiermit rückte er es "seiner allgemeinen intellektuellen Bedeutung nach unmittelbar an unsere eigene philosophische Gegenwart heran" und konnte zeigen, daß es "eine Zukunftsaufgabe der Philosophie und Erkenntniskritik" enthält. 33 Ausgehend vom "Urphänomen des Lebens" als dem Leitbild der Goetheschen Naturbetrachtung,34 das alle gleichsam ,von außen' herangetragenen Zergliederungen und Abstraktionen auf ,Maß und Zahl' eo ipso ausschließt, kommt Cassirer bei der näheren Beschreibung "der methodischen Grundabsicht Goethes" zu der Einsicht, daß diese nicht "auf die Erschließung und Durchforschung neuer Teilgebiete der Natur, als vielmehr auf eine neue Gesamtansicht von ihr gerichtet" war. Hierbei liege das Entscheidende "nicht in der Besonderheit der Gegenstände und Phänomene, die betrachtet werden, sondern in der Art und Richtung der Betrachtung selbst; - nicht in dem speziellen Objektkreis, sondern in dem eigentümlichen Blickpunkt, unter den hier das Ganze der Naturerscheinungen gestellt wird. ,,35 Im Horizont dieses ,eigentümlichen Blickpunktes', in welchem der Gegenstand dem Denken nicht als Feststehendes und Gegebenes gegenübersteht, vielmehr "die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden",36 wird für Cassirer "eine Mannigfaltigkeit von Naturbegriffen möglich ... , ohne daß die Objektivität des einen die des anderen schlechthin aufhebt und zunichte macht. ,,37 31 Vgl. Werner Heisenberg, Die Goethesehe und die Newtonsehe Farbenlehre im Lichte der modemen Physik (1941), in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, s. 85 - 106, Stuttgart 1973 (10. Aufl.); ders., Das Naturbild Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt (1967), in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der GoetheGeseIlschaft 29 (1967) S. 27 - 42. 32 Ernst Cassirer, Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung (1921), in: ders., Idee und Gestalt, S. 33 - 80, Darmstadt 1994 (Nachdruck der 2. Aufl., Berlin 1924). 33 Ebd., S. 37. 34 Ebd., S. 48. 35 Ebd., S. 64. 36 Goethe, Bedeutende Fördemis durch ein einziges geistreiches Wort (1823), HA 13, S.37. 37 Cassirer (FN 32), S. 73. Bei Weizsäcker entspricht dies dem Versuch, bei der Darstellung seiner Medizinischen Anthropologie "von der systematischen zur enzyklopädischen Bemühung" überzugehen, also "nicht einsinnig und einstimmig etwas für alle Verbindliches

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Gibt es mithin nicht einen Naturbegriff, der die "konkrete Totalität der Erscheinungen" abzubilden vermag,38 ist eine Erkenntnistheorie gefordert, "die nicht nur die Methoden der Erkenntnis im engeren Sinne, sondern die wesentlichen Kategorien und Grundrichtungen des Weltverständnisses überhaupt umfaßte, jede in ihrer Besonderheit begriffe und zugleich ihre Bedeutung und Stellung im Ganzen kenntlich machte.,,39 Aus dieser Forderung erwächst für Cassirer ein Problem der systematischen Philosophie, dessen Lösung erst jene Kontroverse zur Frage nach dem Umgang mit der Natur wirklich verstehen helfe. Ohne daß bislang Hinweise auf literarische oder persönliche Beziehungen bekannt wären, zeigen die erkenntnistheoretischen Konsequenzen, die sich für Cassirer aus der Kontroverse Goethes mit Newton ergeben, eine frappierende Ähnlichkeit mit jenem "Erkenntnisproblem", das sich Weizsäcker angesichts der eigentümlichen Wirklichkeit der Sinneswahrnehmung aufdrängte. 4o Findet Cassirers Untersuchung mit der luziden Entfaltung einer philosophischen Problemstellung zunächst ihren Abschluß, versucht Weizsäcker Wege des Umgangs mit der Naturwozu für ihn allererst der Umgang des Arztes mit dem kranken Menschen gehört aufzuzeigen, die sich den erkenntniskritischen Bemühungen Goethes verpflichtet wissen. In überaus klarer Weise zu benennen, worin seine Beziehung zu Goethe ihr geistiges Fundament findet, macht denn auch die Bedeutung des edierten Textes aus. Insofern gibt dieser Text nicht nur eine Orientierung hinsichtlich der Leitbegriffe des Weizsäckerschen Denkens, vielmehr richtet er das Augenmerk auf jene Werkzusammenhänge, aus denen ersichtlich wird, inwiefern die Gestaltkreislehre Weizsäckers auch als eine Antwort auf die von Goethe im Streit mit Newton problematisierte Frage nach dem Umgang mit der Natur verstanden werden kann. 41 (zu) verkünden, sondern statt dessen ... (sich) auf eine Vielstimmigkeit, wenn auch keine kritiklos hingenommene, (zu) berufen." (Pathosophie, Göttingen 1956, S. 264f.) 38 Ebd. 39 Ebd., S. 80. 40 Vgl. Weizsäcker, Einleitung (FN 5), S. 421. Das Verhältnis zu Goethe betreffend gerät Weizsäcker in große Nähe zu Cassirer, so daß eine Formulierung, die John Michael Krois für Cassirers Beziehung zu Goethe fand, in gleicher Weise für Weizsäcker zuträfe: "Ich meine, wir können Goethe als den ,ideellen Mittelpunkt' von Cassirers Lebenswerk ansehen, nicht in dem quantitativen Sinne, daß er mehr von Goethe übernommen hätte als von anderen Denkern, wohl aber in dem qualitativen Sinne: indem sein Goethebild allem, was er sich von anderen Denkern aneignete oder selbst entwickelte, einen greifbar sinnlichen Bezugspunkt gab." (l.M. Krois, Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hrsg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Cassirer-Forschungen, Bd. I, S. 297 - 324, Hamburg 1995, hier S. 320). 41 Am deutlichsten wird dies in dem allzu wenig beachteten Vorwort zur 4. Auflage (1950) des ,Gestaltkreis-Buches' (FN 13). Hier bezeichnet Weizsäcker die "Denkweise im Gestaltkreis" als Folge einer Krise, "die darin besteht, daß eine Stufe der klassischen Naturwissenschaften unter Kritik gestellt werden muß." Die neue Stufe wird "nur erreicht indem die klassischen Begriffe sich teils ändern, teils in andere Beleuchtung rücken, teils verlassen werden. An die Stelle jenes naturwissenschaftlichen Weltbildes tritt eben das, was wir Gestaltkreis nennen und die Realität in ihm kann daher eine ,cyclomorphe' genannt werden (ein 17*

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Diese Werkzusammenhänge darzustellen, ist hier nicht der Ort, ein Hinweis soll genügen. Um Goethes Umgang mit der Natur näher zu bestimmen, stellt Weizsäcker Goethes Urphänomen in Beziehung zu Platons Idee, wobei das die Beziehung stiftende die Gestalt ist - genau genommen aber jene Besonderheit der Gestalt, die den GestaltbegrW so problematisch macht: das Vermögen der AnamneSiS. 42 Die - wenn man so will - philosophische Leistung Weizsäckers ist es nun, über mehrere Etappen hinweg gezeigt zu haben, daß eine erkenntnistheoretische Ernstnahme der Wirklichkeit der Wahrnehmung notwendig Erkenntniskritik ist. Deren Kernstück bildet der Aufweis des Gestaltcharakters der Wahrnehmung, für Tenninus, der noch nicht benützt wird)." Weizsäcker, Der Gestaltkreis (FN 13), S. XVIII. In der Rede von der ,cyclomorphen Realität' klingt jenes Wirklichkeitsverständnis Weizsäckers an, das sich mit seinem Begriff des Umgangs verbindet; vgl. ders., Grundfragen medizinischer Anthropologie (1948), GS 7, S. 255 - 282, hier besonders S. 260ff. Insofern erhält die Verwendung des Wortes "Umgang" im Titel des Editionstextes eine doppelte Bedeutung: neben der eher umgangssprachlichen eine sehr bestimmte, die Weizsäcker in seinem Spätwerk auf die prägnante Fonnel bringt, "daß das, womit jemand umgeht, selbst der Umgang wäre." Wobei er einräumt, daß dies eigentlich "unverträglich fürs Denken" sei, für die Logik also gleichsam eine "dialektische Situation" entstünde (Pathosophie, Göttingen 1956, S. 367). 42 V gl. "Der Umgang mit der Natur" (in diesem Band), S. 272 f. Die ausführlichste Darstellung dieses für Weizsäckers Denken offenbar zentralen Zusammenhangs findet sich in "Gestalt und Zeit" (FN 12). Hier heißt es in unüberhörbar kritischer Distanz zu Kant: "Die Dialektik des Gestaltbegriffes ist eigentlich auch die des in objektive und biologische Struktur sich spaltenden Zeitbegriffes. Und will man dann klarstellen, wie eigentlich biologische Wirklichkeit erfaßt werden müßte, dann erhebt sich die Alternative: ist die Zeit die Fonn, in der Lebewesen erscheinen und angeschaut werden müssen, oder sind die Lebenserscheinungen die Fonnen, durch welche die Zeitbestimmungen erst zu treffen sind? Was ist denn nun Form: die gestaltlose Möglichkeit, wie etwa bei Kant, oder die gestaltete Wirklichkeit, wie etwa für Goethe? ... Die Entwicklung der Sinneslehre zeigt aber ... , daß die Unzulänglichkeit des physikalisch-physiologischen Erkenntnisprinzips grundsätzlicher Art ist. Auch hier ergibt sich, daß Gestaltwahmehmung, als Problem der Organbiologie betrachtet, eine Anamnesis voraussetzt, daß auch hier also Gestalt nicht ohne Zeit zu denken ist." (S. 24f.: GS 4, S. 361 f.) Nun verweist die Rede von Anamnesis auf eine philosophische Grundhaltung, für die in Anlehnung an die Platonische Ideenlehre (vgl. Phaidon, lOOc 5 f.) Erkenntnis immer auch ein Geschehen der Teilhabe ist, einer Teilhabe an dem das Hier und Jetzt des Gegebenen Überschreitenden. Dieser philosophische Gestus des Erinnerns und Erwartens bezeichnet nicht nur die Nähe des Naturverständnisses bei Weizsäcker und Goethe, er bildet zugleich das Fundament für Weizsäckers ärztliche Haltung, deren Zentrum die sog. "biographische Methode" ist. Es überrascht nun nicht, in den Elementen dieser Methode jenen philosophischen Gestus wiederzufinden; nämlich in Weizsäckers Fonneln von der "Wirksamkeit des ungelebten Lebens" und der "Verwirklichung des Unmöglichen". Vgl. hierzu: ders., Pathosophie, Göttingen 1956, S. 241- 263. Zur Bedeutung von Anamnesis und Teilhabe - und damit von Gestalt für Goethes Naturverständnis vgl. Adolf Meyer-Abich, Christian von Ehrenfels' Gestalttheorie, als theoretische Vollendung der Naturwissenschaft Goethes und Humboldts, im Hinblick auf ihre Bedeutung für die heutige Biologie erörtert, in: Ferdinand Weinhandl (Hrsg.), Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, S. 292 - 322, Darmstadt 1960, hier bes. 296 ff.; sowie Wilhelm Troll, Gestalt und Gesetz, in: ders., Gestalt und Urbild. Gesammelte Aufsätze zu Grundfragen der organischen Morphologie, Die Gestalt, Heft 2, S. 2050, Halle (Saale) 1942, hier bes. S. 25 ff.

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den er die Formel vom "biologischen Akt" prägte. 43 Grundtexte hierfür sind der nicht zufällig als Festgabe für Johannes von Kries 1923 erschienene Aufsatz "Das Antilogische" und die schon erwähnte Abhandlung "Gestalt und Zeit".44 In dem Handbuchartike1 "Einleitung zur Physiologie der Sinne" von 1926 verweist Weizsäcker auf die "formale Verwandtschaft" der deskriptiven "Eigentümlichkeiten der Sinnesempfindungen" mit der Antinomienlehre Kants, worin "das Unvermögen, sinnliche Phänomene in Verstandeskategorien zu denken" gründe. 45 Die anamnestische Dimension der Gestalt, die immer zugleich mit einer proleptischen sich verbindet, leistet nun nicht nur eine nähere Bestimmung des sogenannten "metaphysischen Ortes" der Begegnung von Arzt und Krankem, sie kennzeichnet vielmehr genau jene ontologisch paradoxe Struktur jedes biologischen Aktes wie auch des Umganges des Menschen mit der Natur überhaupt, deren Darstellung Weizsäkker im Gestaltkreis versucht. 46 43 Vgl. zum "biologischen Akt" Weizsäcker, Der Gestaltkreis (FN 13), S. 8 - 23. Der Gestaltcharakter des biologischen Aktes und damit auch der Wahrnehmung bezeichnet zugleich den Kern der Kontroverse zwischen Goethe und Newton: "Der eigentliche Gegensatz liegt eben in der Idee des Werdens. Wie wird denn etwas in der Natur und im Menschen?" Ders., Zur Farbenlehre (FN 16), S. 459. Eine naturphilosophische Erläuterung dieses Gegensatzes gibt Weizsäcker in seinem Kommentar zu den "Versuchen über polyphäne Farben" von Paul Christian und Renate Haas, vgl. ders., Über die Realität der polyphänen Farben (1948), GS 4, S. 497 - 523, hier bes. S. 503 f. Es geht um das Verhältnis von Teil und Ganzem, um die Frage, "ob bei einem Werden sich etwas Neues bildet oder nicht." Ob also bei der ,Teilung eines Ganzen' das Ganze die Teile schon vorher enthalten habe, oder aber "die Teile für sich ... immer etwas anderes als das Ganze" sind? (S. 503). Auf diesem "Gegensatz in der Definition der Wirklichkeit" (Ebd.) antwortet Weizsäcker im Sinne Goethes mit dem Gestaltcharakter der Wahrnehmung: der Akt des sinnlichen Wahrnehmens bildet ein Ganzes, ein in Verstandeskategorien nicht Denkbares. Vgl. Goethe, Anschauende Urteilskraft, HA 13, S. 30f.; Ferdinand Weinhandl, Die Metaphysik Goethes, Berlin 1932, bes. S. 292 - 314; Kurt Hildebrandt, Goethes Naturerkenntnis, Hamburg 1947, bes. S. 170 ff.; Paul Christian, Die Wirklichkeit des Sehens und Goethes Farbenlehre, in: Studium Generale 2 (1949), S. 428-432; Herbert Hensel, Sinneswahrnehmung und Naturwissenschaft, in: Studium Generale 15 (1962), S. 747 -758. 44 Vgl. Weizsäcker, Das Antilogische (FN 10). Johannes von Kries betreffend vgl. die Rezension Weizsäckers zu dessen Werk "Allgemeine Sinnesphysiologie" (1923), GS 3, S. 663670. 45 Weizsäcker, Einleitung (FN 5), S. 422 f. 46 Die Zeitgestalt des Werdens macht das ontologisch Paradoxe des Umgangs aus, wie er sich in jedem biologischen Akt, in jeder Wahrnehmung, ja im Geschehen des Lebens selbst vollzieht. "Es ist für den proleptischen Charakter nun ebenso klar wie für den anamnestischen, daß er in der analytischen Erkenntnis der Mechanik oder Physik ebenfalls keine entsprechende Realität besitzt: was, in der objektiven Form der Zeit gedacht, noch nicht ist, ist überhaupt nicht. Wahrnehmungs gestalt ist also eine anamnestisch-proleptische Vergegenwärtigung ihres Gegenstandes. Das Reale in ihr ist damit ein in der analytischen Mechanik Irreales. Ja, man wird sagen dürfen, daß die analytische Naturwissenschaft es sich zum Ziel gesetzt hat, die Wahrnehmungs gestalt als Schein und Irrealität aufzulösen und als einen Trug der Sinne zu erweisen. Umgekehrt behauptet die Wahrnehmung sich (antilogisch) gegen die denkende Auflösung der Analyse durch die Vergegenwärtigung des Gegenstandes in seiner Gestalt." (Weizsäcker, Gestalt und Zeit (FN 12), S. 37: GS 4, S. 376).

Der Umgang mit der Natur (1949)1 Von Viktor von Weizsäcker Aus dem Nachlaß herausgegeben und kommentiert von Rainer-M. E. Jacobi (Essen) unter Mitwirkung von Wolfgang Riedel (Berlin / Würzburg)

Seit einiger Zeit berichten uns die Astronomen und Physiker, daß die Sterne mit wachsender Geschwindigkeit auseinander fliegen und daß dann so am Ende die Welt auch aufhören werde zu existieren. Um unser erschüttertes Vertrauen zu einer solchen Welt zu reparieren versäumen sie nicht hinzuzufügen, daß wir noch einige Milliarden Jahre Zeit bis dahin haben. Wir sind aber zerknirscht, daß wir so etwas noch gar nicht wußten; und ganz hat jenes väterliche Wohlwollen der Naturforscher uns nicht beruhigen können. Der Aufschub der Katastrophe ist doch unbehaglich. Denn wenn wir selbst dann auch längst chemisch geworden sein werden so ganz kalt läßt uns das Schicksal unserer Nachfahren doch nicht. Es ist aber beachtenswert, daß die Entdecker und Verkünder solcher Neuigkeiten nicht wie vor 300 Jahren wegen Ketzerei verfolgt werden. Die Kirche beachtet sie nicht und die Staaten scheinen sie mit auffallenden Ehren zu begrüßen. Eine Abstumpfung gegen so schauerliche Prognosen ist unverkennbar. Vielleicht ist das ein ganz gutes Zeichen. Es könnte sein, daß die Naturforscher-Wissenschaft uns nicht darum kühler läßt, weil wir denken, daß sie vielleicht irrt, sondern daß im Gegenteil wir ruhig bleiben weil wir andere Sorgen haben. Nicht, weil die Naturwissenschaft irren könnte, sind wir unsicher; sondern, wenn sie nicht irrt, werden wir ruhig; denn so ist doch diese Sache wenigstens besorgt und aufgehoben. Goethes heitere Ruhe gegen die Natur tritt vor allem ein, nachdem er sich die Prätention abgewöhnt hat. Nun will er lernen, lernen. Nun ist das Pathetische und 1 Der Tochter Viktor von Weizsäckers, Frau Cora Penselin, nebst ihrem Ehegatten, Herrn Prof. Dr. Siegfried Penselin, gilt der besondere Dank des Herausgebers. Beider vertrauensvolle Gastfreundschaft und hilfreiche Mitarbeit machten es möglich, diesen als handschriftliches Manuskript im Nachlaß aufgefundenen Text nunmehr in kommentierter Weise vorlegen zu können. Zur Edition sei angemerkt, daß außer einer behutsamen Angleichung der Orthographie und Interpunktion an heute gültige Regeln, sowie der stillschweigenden Tilgung gehäuft auftretender Füllworte in einigen wenigen Fällen, keinerlei Veränderung des Textes erfolgte. Vom Herausgeber ergänzte Hervorhebungen sind gekennzeichnet. Weitere Angaben zu diesem Text und seiner Bedeutung für das Werk Viktor von Weizsäckers sind den dieser Edition vorangestellten Ausführungen des Herausgebers zu entnehmen.

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das Sentimentale, das man sich aus dem Werther noch holen konnte, gänzlich von ihm abgefallen. Statt dessen kommt der granitene 2 Zug in sein Wesen, aber immer mit Freundlichkeit verbunden und selten unbehaglich. Keine Prätentionen - das ist es. Mit der Natur natürlich verkehren, das konnte er. Wenn Goethe über Land reist, in Thüringen, Italien oder anderswo, dann sieht er sich an, was die Leute da machen, wovon sie eigentlich leben. Ihm ist das antike Aquadukt in der Campagna "höchst ehrwürdig. Der schöne, große Zweck, ein Volk zu tränken durch eine so ungeheure Anstalt!"3 Und überall kümmert er sich um die Gerätschaften der Handwerker, die Steine der Architekten, / / die Stoffe der wachsmalenden Damen. Ich kann es gar nicht verstehen, daß ein neuerer Kritiker des Goethekultus behauptet, Goethe habe ein Entsetzen vor der heraufkommenden Welt der technischen Naturbeherrschung gehabt. Etwa, weil er Leute mit Brillen nicht empfangen wollte?4 Ist es immer nötig tröstend auf sein Interesse für den Panama-Durchstich hinzuweisen? (Wir brauchen Goethe doch keinem Denazifierungsprozeß zu unterziehen, wie den Christus von Oberammergau.) Hier wird nicht behauptet, daß ein solches Entsetzen ihn nicht auch zuweilen berührt hätte. Aber Goethes Kampf mit Newton in der Farbenlehre hat eine ganz andere Entstehung. Er hat durchaus nicht die Dimension eines solchen weltgeschichtlichen Dramas. Wir können uns nicht größer machen als wir sind, indem wir einen Tiefsinn hineinlegen, der nicht darinne liegt, und unsern Ruhm zuletzt doch daraus holen, daß es eben Goethe war, der irrte. Um was es sich dabei handelt erfährt man ziemlich schnell durch die empfehlenswerte Lektüre seines Abschnittes über 2 VgI. Johann Wolfgang Goethe, Über dem Granit (1784), in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, München 1989-1994, Bd. 13, S. 253-258 (im folgenden als HA mit nachgestellter Band- und Seitenangabe zitiert). Diesen für die Entwicklung von Goethes naturphilosophischem Denken bedeutsamen Versuch einer ,Naturgeschichte' wird man hinsichtlich des poetischen Selbstverständnisses Goethes auch metaphorisch lesen dürfen. In radikaler Abkehr von der sentimental-subjektivistischen ,Werther-Epoche' wird der Granit als Jundamentum inconcussum allen irdischen Daseins und naturgeschichtlicher Gegenpol des Menschen und seiner Subjektivität (des "beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teils der Schöpfung") gleichsam als der "unerschütterlichste" Grund und ,tellurische Rückhalt' auch des menschlichen Ich vorgestellt. 3 Goethe, Italienische Reise, HA 11, S. 135 (Rom, 11. 11. 1786); vgI. auch S. 121 f. (Terni, 27. 10. 1786). 4 Weizsäcker bezieht sich auf die von Karl Jaspers beim Empfang des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt 1947 gehaltene Rede "Unsere Zukunft und Goethe". Bei der Passage "Entsetzen vor der heraufkommenden Welt der technischen Naturbeherrschung" handelt es sich um ein Zitat (K. Jaspers, Unsere Zukunft und Goethe, in: ders., Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, S. 26-49, München 1951, hier S. 34; Erstdruck in: Die Wandlung 2 (1947) Heft 7, S. 559-578). VgI. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, HA 8, S. 120f. Hier wird sehr schön deutlich, daß es Goethe nicht um eine Abwehr von Technik schlechthin zu tun ist, wohl aber um den Zusammenhang und Sinn, in dem die Verwendung von Technik steht. Am Beispiel von Fernrohr und Brille spricht er davon, daß zu deren Verwendung "eine höhere Kultur" gehöre, um der Menschen "Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen."

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"Newtons Persönlichkeit" in den "Materialien zur Geschichte der Farben1ehre.,,5 Ihn vorzulesen wäre vielleicht die beste Nutzung dieser Stunde. Aber ich habe versprochen nicht über die Farbenlehre zu sprechen. - Da sieht man denn, daß nicht der Alpdruck unerbittlicher mathematisch-physikalischer Notwendigkeit es war, der Goethe zu einer romantischen Flucht in die Naturphilosophie und so in einen Irrtum trieb (zu glauben was er nicht glauben wollte; eigensinnig zu werden, weil er im Unrecht war). Sondern Newton und seine Lehre ärgerten ihn, weil er sich seinen Charakter als wohlorganisiert, gesund, wohltemperiert, "ohne Leidenschaft, ohne Begierden,,6 vorstellte. Es gibt aber "starke, feste, dichte, elastische, biegsame, geschmeidige, dehnbare, starre, zähe, flüssige und wer weiß was sonst noch für Charaktere".7 Und Newton schreibt er die starre Kohärenzform zu. Und da erscheint das "ethische Haupträtsel,,8: der Bezug des Charakters auf Wahrheit und Irrtum. Ein großer Charakter kann irren! Auch ein großer. Aber "noch ein Geheimnisvolleres liegt dahinter": Niemandem, auch wenn er das begriffen hat, ist gegeben sich fortwährend zu tadeln. Da ist der einzige Ausweg, "daß wir unsere Fehler und Irrtümer wie ungezogene Kinder spielend behandeln, die uns vielleicht nicht so lieb sein würden, wenn sie nicht eben mit solchen Unarten behaftet wären.,,9 Solche Geisteshaltung aber ist / / die Ironie. Es bedeutet also zwar viel, aber doch weniger, daß Goethe hier Newton einen außerordentlichen Mann nennt; weniger daß er hier sagt: "Auf diese und noch manche andere Weise möchten wir den Manen Newtons, insofern wir sie beleidigt haben könnten, eine hinlängliche Ehrenerklärung tun. ,,10 Sondern die Ironie ist es, welche die Wunden dieser Welt lindern kann. Und Goethe nun besaß die Kraft der Selbstironie. Dies war die Frucht aus dem Ablegen der Prätentionen. Er lehrte sie nicht, er hatte sie. Trifft diese Ironie aber auch die Natur? Auch den Naturbegrijf. Und woher hat sich denn die philiströse Welt den Naturbegriff Goethe's geholt? Aus dem Faust, dem jungen Faust: Ins lnnre der Natur . Dringt kein erschaffner Geist Glückselig, wem sie nur Die äußre Schale weist. II 5 Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, Newtons Persönlichkeit, HA 14, S. 170-177. Vgl. hierzu auch den von Weizsäcker im gleichen Jahr vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag ,,zur Farbenlehre", in: Viktor von Weizsäcker, Gesammelte Schriften (hrsg. von Peter Achilles, Dieter Janz, Martin Schrenk, earl Friedrich von Weizsäcker), Bd. I, Frankfurt / M, 1986, S. 457-469 (im folgenden als GS mit nachgestellter Band- und Seitenangabe zitiert). 6 Ebd., S. 171 7 Ebd., S. 173 8 Ebd., S. 174 9 Ebd., S. 175 10 Ebd., S. 176 II Diese Verse stammen nicht, wie von Weizsäcker irrtümlich angenommen, aus dem ,jungen Faust" (gemeint ist wohl der "Urfaust" von 1772-75), sondern aus einem Gedicht

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Vernehmen wir aber nun, was der alte Goethe dazu sagt: "Ins Innre der Natur-"

o du Philister! -

"Dringt kein erschaffner Geist". Mich und Geschwister Mögt ihr an solches Wort Nur nicht erinnern: Wir denken: Ort für Ort Sind wir im Innern. "Glückselig! wem sie nur Die äußre Schale weist!" Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen, Ich fluche drauf, aber verstohlen; Sage mir tausend tausendmale: Alles gibt sie reichlich gern; Natur hat weder Kern Noch Schale, Alles ist sie mit einemmale; Dich prüfe du nur allermeist, Ob du Kern oder Schale seist. 12 / /

Nichts also ist es mit jenem Entschuldungsverfahren. Die Sache ist einfacher. Damals war Goethe jung und ein Philister, dann ist er alt und heiter, nicht mehr so furchtbar ernst in dieser Sache. Albrecht von Hallers, "Die Falschheit menschlicher Tugenden" (1730), hier v. 289 f.: "Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist, / Zu glücklich, wann sie noch die äußre Schale weist!" (A. v. Haller, Die Alpen und andere Gedichte, hrsg. v.A. Elschenbroich, Stuttgart 1965, S. 50). 12 Das Gedicht erschien erstmals 1820 u.d.T. "Unfreundlicher Ausruf' in "Zur Morphologie" 1,3 (HA 13, S. 34 f.), danach 1827 u.d.T. "Allerdings. Dem Physiker" in Bd. 3 der Ausgabe erster Hand (HA 1, S. 359). Es bezieht sich polemisch auf das in FN 11 zitierte geflügelte Wort Hallers, der ja nicht nur Dichter, sondern vor allem Physiologe ("Physiker") war und als solcher eine wissenschaftliche Autorität ersten Ranges darstellte. Nicht faustische "Prätention", wie Weizsäcker meint (evtI. im Blick auf "Faust" I, v. 512, HA 3, S. 24: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst"?), sondern Hallers (christlich motivierte) Erkenntnisskepsis ist hier als das Philistertum angesprochen, dem Goethe sein Vertrauen auf das "öffentlich Geheimnis" allen Naturwirkens entgegenhält. Zugleich aber kommt in diesem "weltanschaulichen Gedicht" (vgI. auch "Epirrhema": Müsset im Naturbetrachten / Immer eins wie alles achten; / Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das ist außen. / So ergreifet ohne Säumnis I Heilig öffentlich Geheimnis. / I Freuet euch des wahren Scheins, Euch des ernsten Spieles: I Kein Lebendiges ist ein Eins, / Immer ist's ein Vieles. HA I, S. 358) jene durch die Identitätsphilosophie Schellings bestärkte Grundhaltung Goethes zum Ausdruck, wie sie seine Farbenlehre, die eben keine Farbentheorie sein will, bestimmt. Ihm war am Phänomen Farbe gelegen; es galt also, "die volle Wirklichkeit, den lebendigen Vorgang von Seele und Auge bis zum gesehenen Gegenstand und der Lichtquelle, in welchem der rein-physikalische Vorgang nur ein Sektor ist", in den Blick zu nehmen. Die Farbe ist ihm gleichsam "ein Ausdruck der Identität, sie ist im Auge und am Gegenstand, sie ist innen und außen." (Kurt Hildebrandt, Goethes Naturerkenntnis, Hamburg 1947, S. 171; vgI. auch: Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort, HA 13, S. 315).

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Sie finden aber noch anderes in den "Materialien". Newton "war vier Jahre alt als KarlI. enthauptet wurde, und erlebte die Thronbesteigung Georgs I. Ungeheure Konflikte bewegten Staat und Kirche [ ... ]. Ein König ward hingerichtet; entgegengesetzte Volks- und Kriegsparteien stürmten widereinander [ ... ].,,13 In den Jahren 1648 und 1649 entstand zu Oxford ein ähnlicher Kreis. Hier "versammelte man sich, um durch Betrachtung der ewig gesetzmäßigen Natur sich über die gesetzlosen Bewegungen der Menschen zu trösten oder zu erheben". 14 Das waren die Anfange der englischen Societät der Wissenschaften; der Royal Society, deren Präsident auch Newton war. So etwas wie Tröstung und Erhebung durch Betrachtung ewiger Naturgesetze und mathematische Abstraktion konnte Goethe nach der Großen Revolution in Frankreich und dem Verluste der Charlotte von Stein nicht mehr gelingen. Und doch von Anfang war sein Umgang mit der Natur eben ein anderer gewesen. Wenn er von Offenbach von seiner Geliebten nach Frankfurt heimwandert, dann nimmt er wahr die Wendung von Osten nach Westen, vom Aufgang zum Untergang der Sonne. So ist sein Verkehr mit der Natur. Ort für Ort ist er im Innern des Äußern, natürlich und gegenwärtig. Nun aber zur Technik. Es ist doch sonderbar, wenn ein so positiver Mensch in die Vermutung einer so negativen, realitätsflüchtigen Lebenshaltung gerät. Wenn etwas mich gegen Kierkegaard hätte einnehmen können, dann dessen gelegentlicher Vorwurf, Goethe habe kein Pathos, er dichte, wenn die Situation kritisch werde. Ist denn sein Leiden nichts? Ist seine Gabe nichts? Sind seine landesväterlichen Arbeiten im Herzogtum, sein Umgang mit den natürlichen Dingen nichts? Und ist die Behauptung, man müsse an dem Urteil darüber scheitern, etwas? Und so erlauben Sie mir, eine ganz bestimmte Aussage über eine unsere Gegenwart offenkundig bedrängende Frage zu machen. Die Frage lautet: ist in der wisssenschaftlich-technischen Naturbeherrschung ein Satan versteckt und / / hat Goethe diesen nicht gesehen oder nicht sehen wollen? - Und zweitens: stellt er eine andere Umgangsart zur Wahl, als eine bessere? - Drittens endlich: Kult oder Vorbild? Kritik oder Liebe? Wenn meine Studenten von mir wissen wollen, ob ich an Gespenster glaube, dann antworte ich mit jenem Franzosen: ich glaube nicht an Gespenster, aber ich habe welche gesehen. 15 Wenn Sie mich aber fragen ob ich des Descartes cogito ergo sum folge, dann antworte ich: ich sage nicht, ich denke also bin ich, sondern ich sage: ich denke also mißtraue ich - nämlich dem Denken l6 . Wenn Sie jemand Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, HA 14, S. 171. Ebd., S. 133 f. 15 Gemeint ist der berühmte Satz der Madame du Deffand, einer Freundin Voltaires; befragt, ob sie an Gespenster glaube, antwortete sie: "Je n'y crois pas, mais j'en ai peur". 16 Mit dieser kritischen Abwandlung des Cartesianischen cogito ergo sum beschreibt Weizsäcker an anderer Stelle Sigmund Freuds "Verhältnis zum Geist"; vgl. Nach Freud (1949), GS I, S. 441 - 450, hier S. 449 f. Als Quelle dieser erkenntniskritischen Haltung, verdichtet in dem Diktum: "Bewußt sein heißt, zu spät kommen" (GS 7, S. 251), wird man Friedrich Nietzsche benennen dürfen. In den Nachgelassenen Fragmenten (August-Septem13

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fragt, ob die Technik gut oder böse sei, dann können Sie antworten: das kommt nur darauf an, wie man sie anwendet. Wenn dann aber jemand behauptet, man könne sie nur so anwenden wie sie ist, dann dürfen sie getrost antworten: also sitzt das Böse nicht in der Technik sondern hinter der Technik. Denn der Teufel kommt vom Rücken her. Und wenn Sie so antworten, dann haben sie goethisch geantwortet, denn Mephisto kam in der Gestalt des Pudels durch jene Unexaktheit, mit der die Zimmerleute das Pentagramm auf die Türschwelle geritzt hatten 17. Glauben die Techniker also nicht, sie seien auserwählt, die tragische Rolle des Guten in der Welt zu spielen, aus der wider ihren Willen das Böse sprieße; sondern die Blume wächst auf dem gediegenen Miste. Nichts ist es also mit der satanischen Technik. Es gibt sie nicht, denn der Satan ist stärker als die Technik. Die Wissenschaft ist richtig, aber manchmal ist sie schwächer als er. Aber sie ist umso stärker gegen ihn, je besser sie ist; und eine gute Technik ist besser als eine schlechte. Und so ist Goethe auch ein Feind von aller Art von Pfuscherei. Im Forschen, im Bauen, im Dichten und überall. Ein jedes aber tue man auf seine Art, und nicht alles auf eine Art. Hier wird nun unser Thema mehr Worte fordern. Gibt es denn mehrere Arten des Umgangs mit der Natur oder ist eine nur die richtige? Und wie verhalten sich die verschiedenen Arten? Man kann malen, dichten, beschreiben und erzählen, analysieren und synthetisieren; man kann zerkleinern und bauen, Werkzeug und Instrumente herstellen, modellieren und konstruieren. Ein jegliches nach seiner Art - so stand Goethe auch zur Mathematik. Und: ,ein kleiner Mann ist auch ein Mann'. / / Ist das Toleranz? Ich glaube nicht. Ist es Pluralismus? Schon eher. Ist damit Einheit verträglich? Mehr als dort, wo philosophische Tyrannis herrschen will. Er schreibt an Jacobi, wo die Philosophen teilen, sehe er sich nicht gefördert, ja sie ber 1885), 40 [23-25] finden sich die zentralen Einwände, die dann von Weizsäcker vielfältig aufgenommen wurden: "Zuletzt müßte man immer schon wissen, was ,sein' ist, um ein sum aus dem cogito herauszuziehn, man müßte ebenso schon wissen, was wissen ist: man geht vom Glauben an die Logik - an das ergo vor Allem! - aus, und nicht nur von der Hinstellung eines factums! - Ist ,Gewißheit' möglich im Wissen? ist unmittelbare Gewißheit nicht vielleicht eine contradictio in adjecto? Was ist Erkennen im Verhältniß zum Sein? Für den, welcher auf alle diese Fragen schon fertige Glaubenssätze mitbringt, hat aber die Cartesianische Vorsicht gar keinen Sinn mehr: sie kommt viel zu spät. Vor der Frage nach dem ,Sein' müßte die Frage vom Werth der Logik entschieden sein" (Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 11, S. 640; im folgenden als KSA mit nachgestellter Band- und Seitenangabe zitiert). An dieser Neubestimmung der - mit Nietzsche gesprochen - "Werthschätzungen ... , welche um die Logik herum liegen", ist Weizsäcker besonders gelegen, also z. B. jenen: ",das Gewisse ist mehr werth als das Ungewisse', ,das Denken ist unsre höchste Funktion'; ebenso den Optimismus im Logischen, das Siegesbewußtsein in jedem Schlusse, das Imperativische im Urtheil, die Unschuld im Glauben an die Begreifbarkeit im Begriff' (KSA 11, S. 643). 17 Vgl. Goethe, Faust I, v. 1400ff., HA 3, S. 33. Hierzu sei auf eine autobiographisch gefärbte Reflexion Weizsäckers zur sog. "Notwendigkeit des Satans" verwiesen, die ihm "erste Einsicht" der moralischen Anthropologie ist, mithin als Grundlage der medizinischen gilt; vgl. Begegnungen und Entscheidungen (1949), GS 1, S. 191-399, hier S. 395 ff.

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haben ihm mitunter geschadet, aber wo sie einen, da träfen sie mit seiner Natur zusammen. 18 Es gibt seit einigen Jahrzehnten in Theoretischer Physik eine Entwicklung, die manchem hierher zu gehören scheint; es ist der Dualismus in der Lichtphysik, die Wesentlichkeit des Beobachters für die Bestimmung der Objektivität. Ja man versucht in der Komplementär-Physik die Verdrängung der Psychoanalyse wiederzufinden 19. Die Selbstverborgenheit der Psyche, ja die Selbstentfremdung von Karl Marx wäre dann die große Einsicht, durch die wir begreifen, daß dasselbe Ding so verschieden erscheint. Ich sehe aber nicht, daß dieser Weg von Goethe vorbereitet wurde, wohl aber manches, was ihn ihm entfremden müßte. Goethes Toleranz und Bescheidung, sein Verzicht auf Prätentionen ist menschlich, nicht denkerisch bedingt. Und das hieß dann leidenschaftlich, nicht leidenschaftslos. Und das bedingt dann seine Entschiedenheit in zwei Fragen: im Gebrauche der Sinnlichkeit und in der Wahrnehmung des Pathologischen. Diese zwei Eigenheiten seines Umganges mit der Natur dürfen hier nicht übergangen werden.

18 VgI. Goethe an EH. Jacobi, 23. Nov. 1801, in: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Karl Robert Mandelkow, München 1988 (3. Aufl.), Bd. 2, S. 423 (Nr. 764). Weizsäcker vermerkt am Rande seines Manuskriptes jene auch in der Druckfassung der Hamburger Briefausgabe gesperrt gesetzte Passage (Z. 18), wo die "Ursprüngliche Empfindung" zur Sprache kommt, "als seien wir mit der Natur eins". Zur Verdeutlichung des Zusammenhanges sei besagte Briefstelle im ganzen zitiert: "Wie ich mich zur Philosophie verhalte kannst du leicht auch denken. Wenn sie sich vorzüglich aufs Trennen legt, so kann ich mit ihr nicht zurechte kommen und ich kann wohl sagen: sie hat mir mitunter geschadet, indem sie mich in meinem natürlichen Gang störte; wenn sie aber vereint, oder vielmehr wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung als seien wir mit der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges Anschauen verwandelt, in dessen immerwährender Synkrisis und Diakrisis wir ein göttliches Leben fühlen, wenn uns ein solches zu führen auch nicht erlaubt ist, dann ist sie mir willkommen und du kannst meinen Anteil an deinen Arbeiten damach berechnen." 19 Hier bezieht sich Weizsäcker auf den von Niels Bohr 1927 in die Physik eingeführten Begriff der "Komplementarität" und die von Bohr selbst angeregten Versuche der Anwendung dieses Begriffes außerhalb der Physik. Prominent wenn auch nicht unumstritten sind in diesem Zusammenhang: Pascual Jordan, Verdrängung und Komplementarität, Hamburg-Bergedorf 1947 und Wolfgang Pauli, Naturwissenschaftliche und erkenntnistheoretische Aspekte der Ideen vom Unbewußten, in: Dialectica 8 (1954), S. 283-301 (Nachdruck in: Wolfgang Pauli, Physik und Erkenntnistheorie, Braunschweig 1984). VgI. auch die Ausführungen von Ernst Peter Fischer im vorliegenden Band sowie die überaus materialreichen und profunden Darstellungen in: Harald Atmanspacher / Hans Primas/Eva Wertenschlag-Birkhäuser (Hrsg.), Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft, Berlin / Heidelberg 1995. Es ist überdies ideengeschichtlich von nicht geringem Interesse, daß in eben jenem Jahr, als Niels Bohr seinen Komplementaritätsgedanken in Corno einer größeren Öffentlichkeit präsentierte, Viktor von Weizsäcker vor der Kölner Kant-Gesellschaft erstmals sein Konzept des Gestaltkreises vorstellte (Über medizinische Anthropologie, GS 5, S. 177194). Sofern nun beide Denkfiguren in das geistige Umfeld jener naturphilosophischen Grundhaltung gehören, wie sie im zitierten Brief Goethes an EH. Jacobi zum Ausdruck kommt, intendieren sie gleichermaßen eine "Revision der Grundbegriffe der Naturwissenschaft" (Weizsäcker).

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Den Gebrauch der Sinne kann er nie aufopfern. Die Sinnlichkeit wird weder ein erkenntnistheoretisches noch ein sinnesphysiologisches Problem. Das Blatt selbst ist grün, der Himmel selbst ist blau, der Mohn selbst ist rot. Er würde vielleicht eher Cezanne zustimmen, wenn dieser ausruft "Donnerwetter es gibt eine farbige Logik, der Maler schuldet nur ihr Gehorsam ... ".20 Aber so wild wurde er im Alter selten. Das ist das eine. Das andre ist seine angebliche Angst vor dem Krankhaften, das es doch gibt. Viel zu berühmt wurden die Briefstellen, in denen er Schiller gegenüber zugibt, daß die Tragödie nur aus dem Pathologischen hervorgehe, daß dieses ihn aber zerstören würde. 21 Mehr Aufschluß geben die Worte von Werther zu Albert: "Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, / / ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.,m - Nun ist klar, daß es nicht die Kälte der Empfindung, nicht der Egoismus der Selbsterhaltung, sondern das Übermaß des Mit-Leidens ist, welches ihn von Sterbelagern entfernt, von vielem Krankhaften wegtreibt. Was außen 20 Paul Cizanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet und Briefe (hrsg. von Walter Hess), Harnburg 1957, S. 20. Vollständig lautet die hier zitierte Gesprächspassage (einschließlich einer kleinen Korrektur von "farbiger Logik" in "Farbenlogik"): "Donnerwetter, es gibt eine Farbenlogik, der Maler schuldet nur ihr Gehorsam. Niemals der Logik des Gehirns, wenn er sich der ergibt, ist er verloren. Immer der Logik der Augen. Wenn er richtig empfindet, wird er richtig denken, glauben Sie mir. Die Malerei ist zuerst eine Sache der Sichtbarkeit. Der Inhalt unserer Kunst liegt darin, in dem, was unsere Augen denken." Dies bezeichnet zugleich auf überraschend prägnante Weise die Differenz zwischen Goethe und Newton: ihr unterschiedliches Verständnis von Natur, genauer von deren Wahrnehmung. Man mag es fast als Antwort auf die Frage Goethes nach dem "Wesen der Farbe" lesen, wenn es bei Cezanne heißt: "denn ich stelle mir manchmal die Farben vor als große, nouomenale Entitäten, als leibhaftige Ideen, als Wesen der reinen Vernunft, mit denen wir in Beziehung treten könnten. Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sie ist in der Tiefe. Die Farben sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche. Sie steigen aus den Wurzeln der Welt auf. Sie sind ihr Leben, das Leben der Ideen" (S. 25). Und an anderer Stelle: "Die Farbe ist biologisch, wenn ich so sagen darf. Die Farbe ist lebendig, macht allein die Dinge lebendig" (S. 20). 21 Vgl. Goethe an Schiller, 9. Nov. 1797, in: Goethes Briefe (FN 18), Bd. 2, S. 317 f. (Nr. 672) aber auch Goethe an Schiller, 24./25. Nov. 1797, ebd. S. 316 (Nr. 671). Hier will freilich bedacht sein, daß diese maßgeblich von Kant geprägte (pejorative) Rede vorn "Pathologischen", bzw. "Empirisch-Pathologischen" (vgl. z. B. Kritik prakt. Vernunft A 133 f., 151 f.; Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Darmstadt 1983, S. 25 f.) nur wenig mit der erst später etablierten medizinischen Disziplin der Pathologie zu tun hat, sondern eher im Sinne Weizsäckers jene Grundbefindlichkeit menschlichen Daseins meint, die er als das "Pathische" bezeichnet, worauf in einer ausführlichen Studie auch Walter Brednow hinweist, allerdings ohne auf Weizsäcker Bezug zu nehmen (Zum Begriff des "Pathologischen" bei Goethe, in: Medizinhistorisches Journal 8 (1973), S. 257-289, hier S. 263). 22 Goethe, Die Leiden des jungen Werther, HA 6, S. 48 (Erstes Buch, 12. August 1771).

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ist, ist innen, galt auch hier. Kein Weniger sondern ein Mehr an Pathos unterscheidet ihn von Späteren bis herab zu Thomas Mann, welchem das Pathologische zum Kunstmittel der Emotion, ja zum ethischen Vitamin wurde, um die müden Seelen aufzuregen. Im übrigen hat Goethe weniger gefordert als er gegeben hat. So ist auch meine Meinung er habe keinen Entscheid zwischen seiner Umgangsart mit der Natur und einer anderen verlangt, so als ob die seine besser, richtiger oder allein die rechte wäre. Aber hier taucht noch ein Zweifel auf, dem an dieser Stelle nicht ausgewichen werden darf. Ist es denn so, daß Goethes Naturforschung weniger wissenschaftlich war als die im 19. Jahrhundert siegreiche, die messende und rechnende? Dem kann nicht so sein. Goethe hat beobachtet, war Empiriker, und er hat experimentiert, war also Systematiker. Er dachte nach, war also Theoretiker, und er zergliederte, war also auch Analytiker. Dies ist vielleicht das schwerste Stück der kritischen Beurteilung, weil hier eine Interpretation von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten nachwirkt, die über 100 Jahre alt ist und die falsch ist. Goethe hat manche stupende Unwissenheit von der Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie seiner Zeit gehabt, was immer leicht zu zeigen war. Warum soll man das nicht aussprechen? Dadurch aber war allzu leicht zu verdecken, daß ein Spalt mitten durch diese neueren Naturwissenschaften selbst geht. Die Spaltung ist aber diese. Der Spalt besteht nicht darin, daß mancher Physiker eine stupende Unwissenheit von der Biologie, mancher Naturwissenschaftler eine stupende Unkenntnis von Geschichte und Philosophie hat; ja daß wer alles wüßte ungefähr nichts wüßte. Sondern die Spaltung ist diese, daß die Wissenschaften samt und sonders, zusammen und einzeln kein Menschenbild und kein Weltbild zustande bringen. Das sogenannte physikalische Weltbild ist sogar falsch, und das medizinische Menschenbild, die medizinische / / Anthropologie ist auch falsch. Falsch weil nur richtig, nicht wahr, ,richtig falsch', möchte man sagen. Die Wissenschaften sind also nicht nur unvollkommen, weil sie noch kein befriedigendes Welt- und Menschenbild zustande gebracht haben, oder weil sie sich ein anderes Ziel gesetzt haben, sondern sie sind gezwungen etwas zu zerstören, was der Sinn vereint hat. 23 23 Überaus prägnant formulierte Weizsäcker diese seine Haltung zum ,Weltbildanspruch' der objektiven Wissenschaften bereits anläßlich der sog. "He1mstedter Vorlesungen" im Oktober 1925: "Ich glaube, daß wir in einem objektiv geordneten Weltbild ein falsches Weltbild vor uns haben, nämlich ein Bild einer Welt, die nicht existiert. Die Welt, die unsere wirkliche Welt ist, ist die Welt des Menschen, nicht die der denkenden (logischen) Vernunft. Die Naturwissenschaft und die objektive Geschichte erörtern die Notwendigkeiten in der natürlichen, die Geschehnisse in der vergangenen Welt. Aber als Menschen leben wir in der gegenwärtigen, in der Erinnerung an die vergangene, in dem Hinblick auf die zukünftige Welt. Dieses Leben in einer durch Verdienst und Schuld am Vergangenen haftenden, durch Angst und Hoffnung auf das Kommende gerichteten verantwortlichen Gegenwart ist das wirkliche Leben. Und in ihm leben wir auch nicht als Objekte, sondern als unvertretbare Personen in einer Personengemeinschaft. Die objektiv-wissenschaftliche Weise ist nun eine unter dem Primat des Verstandes gewonnene und abgeleitete Weise, über die wirkliche Welt etwas Richtiges auszusagen, aber diese Weise ist nicht die einzige und nicht die wichtigste Weise, etwas aus-

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Daß dem so ist erhellt daraus, daß die Naturwissenschaften unvermögend sind, oder bisher waren, ein sittliches System für ein Volk zu erzeugen; sie konnten es mit knapper Not für Aufgeklärte, Gebildete und für Wenige. Eine ein Volk durchgreifende Sittlichkeit erzeugte Naturwissenschaft erst indirekt, als sie Technik aus sich entließ, denn nun ist die Akkuratesse, die redliche Handarbeit, die zuverlässige Herstellung die Sittlichkeit geworden an der alle teilhaben. So folgt auf den Bildungsbegriff der Wahrheit der tätige Vollzug des Brauchbaren, des Nährenden und Nützlichen. Und wenn nun auch in der Wissenschaft von der Natur die Selbstbesinnung auf den Umgang des Menschen mit der Natur als den Kern der Sache stößt, wenn so die praktische Struktur des Unternehmens ein Übergewicht über die logische des Wahrheitsbegriffes gewinnt, dann ist dieser Schritt bereits einer Rückwirkung der Technik auf die Wissenschaft zuzuschreiben. 24 Wenn es mir erlaubt ist in so wichtiger Sache, die eine so vielfache nähere Erklärung erlaubt, ja fordert, eine meinen Neigungen folgende und dem Goethe-Jahr entsprechende Überlegung herauszugreifen, dann sei es die folgende. In einer kürzlichen Kontroverse über Goethe ist von der Seite, der ich von Herzen zustimme (es ist die, welche für alle denen Goethe Höchstes bedeutet das Wort nimmt), - von dieser Seite also wurde auch geäußert, der totalitäre Philosoph Platon habe die Dichter aus seinem Polizeistaate vertreiben wollen. 25 Und dagegen muß ich nun hier ein Wörtchen sagen. Platons Exzesse in seiner Politeia sind mir bekannt. Es gibt noch andere, aber nicht Exzesse sollen die Verteilung der Gewichte motivieren. Rücken wir die Gewichte also zurecht. Goethe und Platon sind nicht solche Gegensätze. Ein Übereinstimmendes wäre die zentrale Stellung der Techne in Platons Philosophie, die der Tätigkeit in Goethes Leben und Denken. Techne und Tätigkeit sind doch ähnlich. Aber eine strengere Prüfung wäre der Vergleich / / von zusagen" (GS 5, S. 135). Den unvermeidlich destruktiven Charakter wissenschaftlichen Denkens meint Weizsäcker in dessen Logik, genauer gesagt in deren Grundstrukturen der ,Kausalität' und ,Negation' erkennen zu können. Insofern markiert sein Bemühen, dem LogosCharakter der Wissenschaften das Pathos einer Erkenntnishaltung des lebendig-teilnehmenden Umgangs entgegenzustellen, die eigentliche Nähe zu Goethe. 24 Zur "Verwandlung der Wissenschaft in Technik", wodurch sich das "wahnhafte Weltbild der exakten Naturwissenschaft entzaubert" vgl.: Der Begriff der Allgemeinen Medizin (1947), GS 7, S. 135-196, hier S. 142f. An anderer Stelle führt Weizsäcker das Wahnhafte des wissenschaftlichen Weltbildes auf jene "arbeitsteilige Selbstentfremdung" zurück, wie sie seit Reformation und Aufklärung als Spaltung der Vernunft in Wissen und Glauben zu beobachten ist. Genau dies macht für Weizsäcker die "unbewußte Schuld" des Geltungsanspruchs neuzeitlicher Objektivität aus. "Sittliche Wissenschaft" gründet hingegen in einem tätigen Vollzug, dessen einsichtige Tugend selbst ein Wissen ist (Der Begriff sittlicher Wissenschaft [1948], GS 7, S. 233-254, hier S. 243 f., 238 f.). 25 Vgl. Platon, Politeia, X, 607b-608b. Weizsäcker nimmt auf die, selbst in der Tagespresse ihren Niederschlag findende Kontroverse zwischen Curtius und Jaspers Bezug, deren Anlaß die in Jaspers' Goethe-Rede (FN 4, S. 33, 43 ff.) vollzogene Absage an den "GoetheKultus" im Sinne "einer tieferen Auflehnung gegen Goethe" war. Vgl. auch Ernst Robert Curtius, Goethe, Jaspers, Curtius. Ein Schlußwort in eigener Sache, in: Die Zeit, 2. Juni 1949; Ludwig Hänsel, Goethe. Chaos und Kosmos, Wien 1949, S. 188 f.

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Platons Idee und Goethes Urphänomen 26 • Lassen Sie uns diese nebeneinanderhalten. Ich hoffe nun es wird in diesem Kreise beruhigen, wenn lange Prüfung aussagt, daß zwischen Urphänomen und Idee kein solcher zum Ausschluß führender Widerspruch besteht, und also auch keiner von Dichter und Staat. Lieber wende ich mich dafür freilich zu Goethe, denn er neigt weniger zur Übertreibung. Und gerade dieses Maßhalten hat er sich aus dem Süden Europas geholt oder bestätigt. Nun also: im Urphänomen, da erschien ihm die Gestalt?? Nicht der Geist aber ist so gesichert gegen die Maßlosigkeiten des Fanatismus, Terrorismus und die Überheblichkeit der Ideen, sondern die Natur. Und hier fassen wir seine höchstpersönliche Entdeckung: die Natur ist nicht ein Gesetz sondern ein Maß, ein gestaltendes, ein aus26 In Ansehung ihrer Bedeutung für den Fortgang des Textes erfolgte seitens des Herausgebers eine Hervorhebung der Begriffe "Idee" und "Urphänomen". 27 Dem auch für das Verständnis der Denkweise Weizsäckers überaus bedeutsamen Verhältnis von Urphänomen und Gestalt kann hier nicht nachgegangen werden; gleichwohl findet sich einiges in den der Edition vorangestellten Ausführungen des Herausgebers. Im folgenden seien lediglich einige Zeugnisse zur Genese der urphänomenalen Wahrnehmungsweise Goethes - Alfred Prinz Auersperg spricht in diesem Zusammenhang von der "Urphänomenologie" Goethes - angeführt. Zunächst muß jener Brief an Charlotte von Stein genannt werden (Rom, 8. / 9. Juni 1787), in welchem Goethe den Begriff Urpflanze erstmals verwendet, sie allerdings als "das wunderlichste Geschöpf von der Welt" bezeichnet, als "Modell" und "Schlüssel" (Goethes Briefe, Bd. 2, S. 58-60, hier S. 60; folgend als HAB mit nachgestellter Band- und Seitenangabe zitiert). Diese Einsicht fließt sodann in mehrfacher Weise in die erst 1816/17 in zwei Bänden und 1829 vollständig in der Ausgabe letzter Hand erschienene "Italienische Reise" ein: HA 11, S. 266 (Palermo, 17. April 1787), S. 323 f. (Neapel, 17. Mai 1787) und S. 374ff. (Zweiter Römischer Aufenthalt, Juli 1787). Wesentlich ist hierbei, worauf Heinrich Henel nachdrücktlieh verweist, daß mit der Rede von der Urpflanze "nicht eine in der Natur vorkommmende, den Typus rein verkörpernde Pflanze gemeint" sein kann, sondern in der Tat ein die Gestaltwahrnehmung der Pflanze erst ermöglichendes Urbild: eine Idee also im Sinne Platons, nicht Kants (H. Henel, Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft, in: Euphorion 74 [1980], S. 397-402, hier S. 401). Die gleichsam ,wahrnehmbare' Verkörperung einer Idee im individuellen ,Objekt', eines Ganzen im Teil, macht jene eigentümliche Schwebe aus, die sich mit dem Begriff der Gestalt verbindet. Goethe selbst nennt es 1817 im Rückblick auf seine botanischen Studien treffend die "sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze" (HA 13, S. 164). Dieses Gestaltverständnis und nicht das der Gestaltpsychologie war dann auch für Weizsäckers Entwurf der Gestaltkreislehre leitend. Weitere interessante Belege zum urphänomenalen Charakter der Gestaltwahrnehmung finden sich in Goethes Brief vom 9. Juli 1786 (vor der Italienreise!), wo er vom "Gewahrwerden der wesentlichen Form" spricht, "mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt" (HAB I, S. 514), aber natürlich auch in der "Italienischen Reise", z. B. HA 11, S. 17 (Auf dem Brenner, 8. Sept. 1786), S. 60 (Padua, 27. Sept. 1786); vgl. hierzu: Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft (Leopoldina Ausgabe), Zweite Abteilung, Bd. 9 A (Zur Morphologie), Weimar 1977, S. 365-368, 520-523. Inwiefern der urphänomenale Charakter von Gestalt für Goethes morphologisches Denken schlechthin kennzeichnend ist, zeigen neben der Einführung des Begriffs "Urphänomen" selbst (Zur Farbenlehre [1810], §§ 174-177, HA 13, S. 367f.) insbesondere seine ,,Betrachtung zur Morphologie überhaupt" (nach 1794, HA 13, S. 123-127) und "Die Absicht eingeleitet" (Aus: Zur Morphologie 1817, HA 13, S. 54-59).

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gleichendes, ein harmonisierendes Maß. Und hier zeigt sich wirklich ein Unterschied zu Platon. Denn hat dieser nicht die Harmonie der Seele bestritten? Hat er nicht die Grausamkeit des Denkens bestätigt? Hat er nicht die Erfolglosigkeit der Liebe vorausgesagt? Ja und nein. Platons Zerrissenheit ist die des alten Europa. Vom Eros zur Agape führt kein Weg, den wir sehen können, denn vom lieblosen Staate zum liebenden Verzichte des Gastmahles gibt es keinen. Allen Ernstes aber ist Goethe einer von denen, die ihn fanden, denn inzwischen war Jesus geboren. Kein Zweifel, daß Goethe zum christlichen Äon gehört. Aber er hat es noch nicht überschritten; und das wollen wir uns fest einprägen. Die zweifelhafte Dämmerung nachchristlicher Menschheit, die ist's die er nicht sehen wollte, und nicht etwa die Schrecknis des Pathos und der Liebe. Das ist, was man mit Zitaten nicht bezeugen kann. Die Gestalt also, sei es in der Morphologie der Pflanzen und Knochen, sei es in den schwankenden Gebilden der Dichtung - diese Gestalten waren kein Ausweg aus dem Dilemma zwischen naturglaubender Christlichkeit und nachchristlicher Existenz, die weder an Natur noch an Schöpfer glauben wird. Und jetzt mag es gelingen, die Spaltung im Umgange mit der Natur selbst zu Gesichte zu bringen. Nicht dadurch hat Goethe diese Spaltung vermieden, daß er ihr diesen Schöpfer gleichsam spekulativ zuerkannte, sondern dadurch daß er sich nicht der Zukunft, sondern der heidnisch-christlichen Vergangenheit verband. Sein Umgang mit der Natur war einer des Erinnerns. Und hier kommt nun der einzige Gedanke, den ich Ihnen vorzulegen habe. Ich erkenne, daß Goethes Urphänomen und Platons Idee darin übereinkommen, / / daß ein Altes, schon immer Gewesenes, erinnert wird. Diese Anamnesis, diese Erneuerung des Seins im sinnlichen Wahrnehmen ist es, die Goethes Liebe zur Gestaltung mit der Vorliebe der Naturwissenschaften für ewig waltende Gesetze in Eines bringt. 28 28 In Abweichung vom Manuskript erfolgte vom Herausgeber die Hervorhebung des Begriffs "Anamnesis", denn die hiermit angesprochene platonische Lehre bezeichnet aufs Genaueste die Weise, in welcher Weizsäcker den Begriff des "Urphänomens" in seine Medizinische Anthropologie übernimmt. Der Erkenntnissinn von Anamnesis liegt im Vermögen einer Wiedererkenntnis, die über das Erkennen des nur Bekannten hinausgeht. Vielmehr tritt in ihr das, "was wir kennen, gleichsam wie durch eine Erleuchtung aus aller Zufälligkeit und Variabilität der Umstände, die es bedingen, heraus und wird in seinem Wesen erfaßt" (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1986 [5. Aufl.], S. 119). Eben dies war der Anspruch, den Goethe mit der Einführung des Urphänomens in seine Farbenlehre verband; ihm galt die Farbe als "das reine Phänomen, also das ganz in Erscheinung übergegangene Wesen" (Kurt Hildebrandt, Goethes Naturerkenntnis, Hamburg 1947, S. 177). In der Anschauung des Urphänomens vollzieht sich mithin, wie es Weizsäcker im vorliegenden Text formuliert, eine "Erneuerung des Seins im sinnlichen Wahrnehmen". Alles menschliche Kranksein verweist dann nicht nur auf die "Urphänomene des Pathos", auf Schmerz, Schwindel, Schwäche und Angst, sondern eröffnet dank seines anamnestischen Charakters immer auch die Chance zur Wandlung. Ohne daß es an anderer Stelle des Weizsäckerschen Werkes gleichermaßen deutlich würde, kommt erst im Lichte dieses platonischen Topos der hermeneutische Sinn der Medizinischen Anthropologie zur Geltung, ja er bestimmt recht eigentlich den Gestus des Weizsäckerschen Denkens.

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Ist das so, dann sind alle weiteren und näheren begrifflichen Bestimmungen selbstverständlich. Selbstverständlich, daß Goethe in der Antike sein Maß fand; selbstverständlich, daß die Geschichte des Christentums seine eigene war (deren katholische Form eine abgelebte Funktion der Historie); selbstverständlich, daß er im Kampfe gegen die newtonische Unsinnlichkeit eine perverse Befriedigung seiner Kampfneigung für den Gegensatz von Geist und Sinnen fand. Selbstverständlich endlich, daß ihm die Bewahrung seiner Person ebenso wichtig sein mußte, wie die Zukunft der Menschen. Denn die Wissenschaft erinnert, die Dichtung erinnert, der Staat erinnert; keine von diesen veräußert. Und bedenken Sie dies wohl: so tätig diese Tatigkeiten aussehen, sie alle, wiewohl immer nur Umgangsarten werden nichts erzeugen, was nicht schon war, werden nichts erfinden, was erst sein wird und noch nicht war. In seiner Newton-Neurose hat Goethe, immerhin, das Leid solcher Zukunftslosigkeit erlitten und ist ihm nicht in irgendeine Prätention ausgewichen. (Weder in die Überschätzung seiner Person, noch in die Übertreibung des Unpersönlichen zum Überpersönlichen.) Nun meine ich, sind wir vorbereitet, auch die Goethe-Kultfrage hinter uns zu bringen. Nicht mehr brauchen wir uns zu ereifern, ob Goethe einer Herrschaft der Technik aus Entsetzen vor deren Folgen ausgewichen sei. Faust baut als alter Mann einen Damm gegen die Fluten des Meeres, um vielen Menschen Ansiedelung und Wohlstand zu verschaffen, vertreibt das alte Ehepaar darum, wird blind, stirbt und wird erlöst. Man kann nicht sagen, daß die Technik ihn zur Hölle befördert - im Gegenteile. Aber dies, denke ich, wird Sie nicht mehr interessieren. Das heißt: Sie wird nicht interessieren, was einer prophezeit, der damit die Vergangenheit meint. 29 / / 29 Vgl. Goethe, Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, 5. Akt, HA 3, S. 333-364. Der lakonisch knappe Verweis auf eine nicht dem Zukünftigen, sondern dem Vergangenen geltende ,Prophetie' ließe die Vermutung zu, daß sich Weizsäcker schon seinerzeit gegenüber den gesellschaftspolitisch aufgeladenen und utopisch verklärten Deutungen jenes sog. "Schlußmonologs" (v. 11559 - 86) in deutlicher Distanz befand. Dies stünde in Einklang mit seiner bislang noch kaum rezipierten Aufklärungskritik, wie er sie in den Helmstedter Vorlesungen, die "Dialektik der Aufklärung" antizipierend, entwickelt (vgl. GS 5, S. 67-141). Um so erfreulicher ist es, nun auch seitens der etablierten Goethe-Forschung Textnähe und hermeneutische Verantwortung eingefordert zu sehen. Albrecht Schönes subtiler Kommentar zur Faust-Dichtung liefert zwei überraschende Hinweise, die den letzten Szenen des 5. Aktes neue Akzente verleihen und Weizsäckers hintergründige Skepsis wohl verstehbar werden lassen. Keine wie auch immer motivierte Technikkritik, sondern die Hybris des modernen Menschen kommt in den Blick. Zum einen ist es der totalitäre Herrschafts- und Ordnungsanspruch des ,verblendeten' Faust (Philemon/Baucis-Szene, v. 11233-58, 11275 bzw. 11551 ff.), der Paul Celan zur Übernahme dieser Motive in seine "Todesfuge" veranlaßte (Albrecht Schöne, Goethe. Faust. Kommentare, in: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. I. Abteilung, Bd. 7/2, S. 726, Frankfurt am Main 1994, folgend als FA mit nachgestellter Abteilungs-, Band- und Seitenzahl zitiert), zum anderen sind es zwei Zeugnisse Goethes zur späten Faustfigur. Im Brief vom 3. Nov. 1820 schrieb er Schubarth, daß es vor dem Ende des zweiten Teils der Faustdichtung "noch manche herrliche, reale und phantastische Irrtümer auf Erden [gäbe], in welchen der arme Mensch sich edler, würdiger, höher, als im ersten, gemeinen Teil geschieht, verlieren dürfte (HAB 3, S. 493). Und in seiner autobiographischen Aufzeich-

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Die kolossale Enttäuschung, welche die Technik gebracht hat beruht nicht darauf, daß die Naturgesetze sich als unzutreffend erwiesen haben. Einen Irrtum wie den vom Od,3o oder vom Perpetuum mobile, oder von den Erhaltungsgesetzen, oder vom Lichtäther konnte man korrigieren. Die Verläßlichkeit der Naturgesetze nimmt dabei noch zu. Dagegen wird die Behauptung, das Recht sei unwandelbar eine Blamage. Die Unveränderlichkeit der Rechtsidee ist eine Soll-Vorschrift, kein Ist-Satz. - Hier ist also nichts zu machen. Die kolossale Enttäuschung, die die Technik brachte, kommt nicht von der Unzuverlässigkeit der Naturgesetze, und nicht von der Unzuverlässigkeit bei ihrer Anwendung. Sondern es ist deren Gleichgültigkeit gegen menschliches Glück, deren Fremdheit gegen menschliches Wesen, deren Rücksichtslosigkeit gegen das Höhere im Menschen. So gleichgültig und rücksichtslos sind die Naturgesetze dagegen, daß sogar fraglich wird, was denn dieses Höhere überhaupt seiY nung "Bedenklichstes" aus demselben Jahr (FA I 13, S. 335) heißt es, "daß ein Irrtum so gut als ein Wahres zur Tlitigkeit bewegen und antreiben kann. [ ... ) Der wunderbarste Irrtum aber ist derjenige, der sich auf uns selbst und unsere Kräfte bezieht, daß wir uns einem würdigen Geschäft, einem ehrsamen Unternehmen widmen dem wir nicht gewachsen sind, daß wir nach einem Ziel streben das wir nie erreichen können." Schöne ergänzt dies noch durch eine weitere Passage, deren Bezug zur späten Faustfigur frappierend ist (FA I 13, S. 83): "Es ist nichts trauriger anzusehen als das unvennittelte Streben ins Unbedingte in dieser durchaus bedingten Welt; es erscheint im Jahre 1830 vielleicht ungehöriger als je" (vgl. FA I 7/2, S.751). 30 Der von earl Ludwig Frhr. von Reichenbach (1788 - 1869) eingeführte Tenninus steht für eine Art ,Lebenskraft', die sowohl von Menschen als auch Tieren und Pflanzen ausgestrahlt und von bestimmten Menschen sogar wahrgenommen werden könne. Für diese prägte Reichenbach den Ausdruck "sensitive" (vgl. CL von Reichenbach, Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode, 2 Bde., Stuttgart 1854/55). Der Herausgeber dankt Hans Werner Ingensiep (Essen) für diesen Hinweis. 31 Mit der eigentümlichen Fremdheit der Naturgesetze gegenüber dem menschlichen Wesen klingt, wenn auch etwas verborgen, ein Grundthema Weizsäckers an: das Verhältnis des Denkens zum Leben; in seiner Diktion das Verhältnis von "Logos und Pathos als den Gegenspielern eines weltgeschichtlichen, eines geistigen Dramas" (GS 5, S. 221). Die Realisierung denkbarer Naturgesetze in Fonn von Technik ist eine Weise der Verwirklichung des Möglichen, die Realität menschlichen Lebens hingegen eine Weise der "Verwirklichung des Unmöglichen". Insofern ist die denkbare Wirklichkeit der Naturgesetze nicht eigentlich lebbar, wie ja auch die lebende Natur nicht in Strenge dem folgt, was man gemeinhin unter Naturgesetzen versteht. Für Weizsäcker führt dieser hier nur äußerst knapp skizzierte Gedankengang zu einem Verständnis von Krankheit und Gesundheit, besser wohl von Pathogenese und Salutogenese, dem nicht zuletzt dank der modemen Selbstorganisations-Forschung die verdiente Aufmerksamkeit zuteil werden dürfte. In Anlehnung an den Titel eines frühen Textes des Botanikers und Goethe-Forschers Wilhelm Troll könnte man das Verhältnis von Pathogenese und Salutogenese auch als eines von Gesetz und Gestalt betrachten (vgl. Wilhelm Troll, Gesetz und Gestalt [1925), in: ders., Gestalt und Urbild, Halle 1940/42, S. 20-50). Während die Vorgänge der Pathogenese weitgehend kausal erklärbar sind, entzieht sich die Salutogenese wie auch das Gesundsein als solches einer schlüssigen wissenschaftlichen Analyse im herkömmlichen Sinn. An vielen Stellen seines Werkes widmet sich Weizsäcker diesem Zusammenhang (insbes. "Ärztliche Aufgaben" [1933), GS 8, S. 143-157, hier S. 153), eine systematische Annäherung erfolgt dann im Kapitel "Logophanie und Eidologie", in: Pathosopbie, 18*

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Die Veränderung die sich nun begeben wird ist eine andere. Weder in der Rektifizierung der Naturgesetze, noch in der Verbesserung der Rechtsverfahren und anderer Menschenwerte wird sie bestehen. Eine Zeitlang glaubten Menschen es handle sich um eine Art von Umkehrung, bei der sich der bisherige Mensch gleichsam auf den Kopf stellen müßte. Nietzsche versuchte es mit der Umkehrung aller Werte 32 ; Max Scheler sprach vom Umsturz der Werte. 33 Dann klammerte man sich an die Idee des Krankhaften. Es gab sogar Pathographien von Hölderlin und Nietzsche. 34 So als ob der Umgang mit der Natur ein solcher sein könnte, daß man erfährt, was hier noch normal, was pathologisch ist. Und nun begibt sich etwas Neues: Es gibt einen Umgang mit der Natur, der nicht weniger notwendig, nicht weniger verläßlich, nicht weniger wirklich ist und der doch das Gesetz und das Recht, wie es bis dahin erkannt war, in Frage stellt: es ist der Umgang mit dem Wahn?5 Da ist zuerst der Umgang mit dem sogenannten Wahnsinnigen. Hier entscheidet aber die unvermeidliche Parteinahme, kein objektives Merkmal der Natur. Was ich nicht verstehen kann, weil es mir fremd bleibt, das kann ich ausstoßen, aber nicht widerlegen. Der Umgang besteht dann im Kampf mit dem Fremden, er kann in die Gewaltprobe, die Machtprobe münden, doch nie mit objektiver Entscheidung wer recht hat. - Das unüberwindlich Fremde enthält auch das, was wir körperliche oder organische Krankheit nennen. Sie ist dem Wahn vergleichbar, weil auch in ihr ein Göttingen 1956, S. 178-216. Die "kolossale Enttäuschung", zu der Technik letztlich immer führen muß, gründet mithin in der Lebensfremdheit des Gesetzes. Will man hierin die Täuschung durch einen Wahn sehen, gelangt man zu einem weiteren Grundbegriff der Weizsäkkerschen Erkenntniskritik. 32 Vgl. Friedrich Nietzsehe, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 160; ders., Der Antichrist, KSA 6, S. 253; siehe auch den Untertitel der 2. Auflage (1906) der Nachlaßkompilation "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" (12. Aufl. Stuttgart 1980). 33 Max Scheler, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Leipzig 1923 (3. Aufl.). 34 Vgl. Wilhelm Lange, Hölderlin. Eine Pathographie, Stuttgart 1909; Wilhelm LangeEichbaum, Genie - Irrsinn und Ruhm, München 1927; Ernst Kretschmar, Geniale Menschen, Berlin 1929. 35 Auch hier handelt es sich, wie schon in FN 31 angedeutet, um einen der Grundbegriffe Weizsäckerschen Denkens, so daß sich der Herausgeber abermals veranlaßt sah, den Begriff "Wahn" abweichend vom Manuskript hervorzuheben. Angesichts der im vorliegenden Text erfolgenden Ausführungen und eingedenk des Umstandes, in der Rede vom Wahn wohl einem der schwierigsten Gedanken Weizsäckers zu begegnen, sei lediglich auf zwei einschlägige Stellen in seinem Werk verwiesen, die zum näheren Verständnis herangezogen werden sollten: "Der Wahn der Materie", in: Pathosophie, Göttingen 1956, S. 23-31, und "Die Eintagsfliegen" sowie "Satan", in: Begegnungen und Entscheidungen (1949), GS 1, S. 387-399. Vielleicht aber sei noch angemerkt, daß Weizsäcker den Wahn als konstitutiv für das Dasein von Mensch, Welt und Gott betrachtet, genauer wohl für das Denken des Daseins von Mensch, Welt und Gott. Hierzu müßte man einer weiteren Denkfigur Weizsäckers folgen, dem Prinzip der "gegenseitigen Verborgenheit", dem sich auch und gerade ein bewußtes Denken des Daseins nicht zu entziehen vermag. Im Versuch solchen Entzugs läge dann das Wahnhafte.

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Fremdes begegnet - wir nennen es Schicksal. Zufall oder Anlage -; doch daß das Kranke das Verkehrte sei, das sagen wir Kraft einer Parteinahrne, die selbst / / so unbegründbar ist wie der Tod, das Leben, die Überwindung. - An dritter Stelle wahnartig nenne ich das Unbewußte. Wir Ärzte wissen aus Erfahrung, wie oft ein Patient bereit ist, das Unbewußte in theoretischen Gedanken anzuerkennen, aber nicht fähig, das eigene Unbewußte, dessen Realität in ihm, zu erkennen. Erst wenn wir fähig sind, diese "schlechthinnige Abhängigkeit", wie Schleiermacher das Religiöse nannte 36 , zu ergreifen, beginnen wir den Umgang mit dem andern, das schlechthin anders ist, zu pflegen, und das ist die wahnhafte Existenz, die lauter Spaltungen zuerst hervorbringt. - Nun kommen, hier an vierter Stelle, jene dem Physiker und dem Soziologen bekannten sonderbaren Bildungen der Wissenschaften, in denen die schon im Individuum VeITÜckung bedeutenden Begriffe entstehen, welche das Weltbild aller später verändern werden: ich nenne hier den Relativismus und den Pluralismus. Daß ein jedes Ding anders aussehen müsse, wenn ich es von einem andern Orte aus betrachte, das leuchtet schnell ein; aber es enthält immer noch die Idee, das Ding selbst bleibe doch dasselbe. Und eine Kugel zum Beispiel sähe doch von jedem Standort wie eine Kugel aus. Aber das ist eine Halbheit. Vom Inneren der Kugel aus, auch von ihrer Oberfläche aus, ist sie keine Kugel mehr. Jetzt müssen wir erfahren, daß sie nur war, als sie erschien, nicht das ist als was sie erschien. 37 Soweit sind wir heute. So wurde die Negation, der Nihilismus zur wahrhaftigsten Einstellung in unserer Generation. - Dies nun ist das hier fünfte Exempel des Umganges mit dem Wahn: es ist der negative Wahn, der Wahn, hier sei kein Wahn. Nichts sei schuld, niemand sei Schuld, niemand habe Schuld, niemand habe Wahrheit, niemand sei im Recht, niemand habe recht. Ich denke nicht daran, dieses Urteil auf die Jugend abzuwälzen; so als ob der verunglückten Jugend diese Einstellung nachzusehen wäre, sie nun aber durch Hinweis auf den so positiven Goethe zu kurieren wäre. Auch weiß ich, daß ihr, der Jugend so nicht zu helfen ist; denn nichts wird sie glauben und sie wird merken, daß der Erzieher selbst nicht glaubt, was er zu glauben glaubt. Diese Sache liegt ganz anders. Allen Ernstes: ich rate Ihnen, mehr Goethe zu lesen und Goethe-Reden weniger zu hören, Goethe-Artikel nicht zu lesen. Warum aber? / / Warum also Goethe selbst? Ich flehe Sie an, lesen Sie Goethe selbst, denn das ist das einzige was uns von ihm geblieben ist. Zuerst: er ist natürlich. Sein Umgang 36 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube (2. Aufl. 1830/31), hrsg. von Martin Redeker, 2 Bde., Berlin 1960, Bd. 1. Der zur Rede stehende Gedanke der "schlechthinnigen Abhängigkeit" wird in der Einleitung (bes. § 4) entwickelt. Die These zu § 4 lautet: "Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind." 37 Die Konvex/Konkav-Inversion der Kugelschale ist ein Paradebeispiel der frühen Gestaltpsychologie; vgl. E.M. von Hornbostel, Über optische Inversion, in: Psychologische Forschung I (1922), S. 131-156, hier S. 154ff.

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mit der Natur ist natürlich. Sein Bittgang in die Naturwissenschaft war nicht die Hauptsache. Auf diesem Wege hat er nur seine Steuern bezahlt; wagen wir die Behauptung, er, dem nichts Menschliches fremd bleiben sollte, er habe auch die Form des gelehrten Forschers ausprobieren wollen. Es wäre unnatürlich gewesen, die Gewalttat des Intellektes über die Natur nicht auszuprobieren. Also in diesem Sinne, war auch sein Gelehrtendasein natürlich. Und dann: man kann etwas dabei lernen. Es geht doch gar nicht an, nichts zu lernen. Jede Pfuscherei war ihm verhaßt. Lieber sich einmal irren, als gar nichts tun, aus Faulheit oder aus Sentimentalität. Auch das ist eine gute Regel; sie verdient beherzigt zu werden. Man solllernen, wo es was zu lernen gibt. Dabei macht man eine sonderbare Erfahrung. Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! Sieht man vorn Markt in die Kirche hinein, Da ist alles dunkel und düster; Und so sieht's auch der Herr Philister: Der mag denn wohl verdrießlich sein Und lebenslang verdrießlich bleiben. Kommt aber nur einmal herein! Begrüßt die heilige Kapelle; Da ist' s auf einmal farbig helle, Geschieht' und Zierat glänzt in Schnelle, Bedeutend wirkt ein edler Schein; Dieses wird euch Kindern Gottes taugen, Erbaut euch und ergetzt die Augen!38 / /

Und nun kommt die Hauptsache. Goethe ist ein Beispiel, wie manfrisch bleibt. Eines freilich muß sich im Umgange mit der Natur inzwischen geändert haben. Da ist das Verhältnis von Herr und Knecht. Goethe lebt vor der Epoche jenes aus der Naturbeherrschung stammenden Gefühls der Superiorität, wir aber an deren Ende oder nach deren Ende. Jener fühlt sich noch nicht als Herr, wir nicht mehr. Das ist einer der Gründe, warum dazwischen Goethes Frömmigkeit nicht verstanden wurde. Auch nicht seine Frische, sein Zorn, die Frische seines Zorns. Es gibt aber sieben verschiedene Arten mit der Natur umzugehen. Die erste und höchste ist die lyrische - von dieser sage ich nichts weiter. Nach langer langer Pause kommt die naturphilosophische. Von Platons Idee schwingt sich ein mächtiger Bogen zu des Aristote1es Entelechie, als dem nächsten Pfeiler; aber die Brücke bricht nicht ab, und so viele Zwischen bögen- und pfeiler sein mögen - bei Spinozas Substanz, bei Leibnizens Monade finden wir uns wieder gefestigt. Und dann ist es Goethes Urphänomen, das in dieser Reihe sicher steht. 39 38 Goethe, HA I, S. 326 (Erstdruck 1827). 39 Hier ist nicht der Ort, den philosophiegeschichtlichen Quellen von Goethes Denken nachzugehen, zumal seine zentralen Begriffe, zu denen auch das "Urphänomen" gehört, noch

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"Spaltet immer das Licht! Wie öfters strebt ihr zu trennen, Was euch allen zum Trutz Eins und ein Einziges bleibt. ,,40

Die dritte Umgangsart, welche nun alle Muskeln und Sinne braucht, aber immer auf eine systematisch vorgeschriebene Art, ist das Experiment. Im Experimente spaltet der Mensch und unterwirft er sich doch der Natur. Er beträgt sich dabei ein wenig heimtückisch, insoferne er es ganz der Natur überläßt zu antworten wie sie will; aber er fragt sie so, daß sie nur im monotonsten Dialekt antworten kann, nämlich in einer Sprache die nur aus zwei Worten besteht: aus ja oder nein. - So ist der experimentierende Umgang von selbstgewählter Unfreiheit enthält aber jenen folgenreichen Keim des Tuns schon ganz deutlich: dieser Umgang ist ein tätiger und der erkennende Mensch ward ein handelnder: der homo sapiens wird homo faber, der Schmied seines Glückes und nun auch seines Unglücks. Es ist also die Technik, in der sich diese vierte Stufe oder Art ins Verhältnis / / von Herr und Knecht zugleich begab. - Wie im Erschrecken von solcher Verstrickung sucht der Kutscher die Zügel noch einmal an sich zu reißen. Denn jene Brücke, in der Anfahrt nach oben führend, beginnt sich wieder zu senken, und schon droht sein Gefährt in rasender Fahrt zu entgleiten - wird man das andere Ufer unbeschädigt erreichen? Nur die festeste Zügelführung könnte sichern. Logisch aber auch realistisch, denkstreng aber auch empirisch muß sie sein, und diesen Umgang mit der Natur möchte ich wagen in Wissenschaften zu erkennen, die sich aus der Experimentalphysik als Theoretische Physik, aus der Logik und Mathematik als Logistik, aus der Philosophie als Erkenntnistheorie, aus Biologie und Medizin als Anthropologie nunmehr abheben und erheben. 41 Es ist aber merkwürdig, daß auch noch bei dieser, als fünfte der Umgangs arten aufgezählten, sich eine alte immerfort erhält und unverwechselbar behaupten kann. Ich möchte sie als die fromme bezeichnen. Sie kann auch alle vorhergehenden begleiten. Was ist aber Frömmigkeit im Umgang? immer Gegenstand kontroverser Deutungen sind. Lediglich auf zwei zeigenössische Werke soll verwiesen werden, deren Kenntnis man Weizsäcker unterstellen kann. In beiden erfolgt eine äußerst profunde Untersuchung der philosophischen Bezüge in Goethes Denken. Kurt Hildebrandt (Goethes Naturerkenntnis, Hamburg 1947) erinnert an die Kontroversen der Spinoza-Rezeption im ausgehenden 18. Jahrhundert, verbunden mit dem irreführenden Epitheton "Pantheismus", woran sich dann der Atbeismus-Vorwurf EH. Jacobis entzündete (vgl. Hildebrandt, S. 106ff., bes. S. 126-144). Hans Leisegang (Goethes Denken, Leipzig 1932) zeigt, daß die Spinoza-Rezeption Goethes auf dem Wege einer Umdeutung der geometrischen Denkfigur in eine eher ,organismische' erfolgt sei, wofür Herders Text "Gott, einige Gespräche über Spinozas System" (1787) stehe (vgl. Leisegang, S. 58 ff.). Hierzu auch Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken in problemgeschichtIichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 11 ff; ebenso Kommentar in FA I 25, S. 862-870. 40 Goethe, Xenien (1796), Nr. 171. Vergebliche Bemühung (auch unter dem Titel "Die Zergliederer"). Nicht in HA, vgl. Goethe, FA I 1, S. 513. 41 In einer zweiten Fassung dieses Textes bezeichnet Weizsäcker diese fünfte Form als "begriffsanalytische Umgangsart mit der Natur" (vgl. hierzu die der Edition vorangestellten Ausführungen des Herausgebers).

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Edition "Fromme gesunde Natur! Wie stellt die Moral dich an Pranger Heilge Vernunft! Wie tief stürzt dich der Schwärmer herab!,,42

Die Natur ist fromm, dem frommen Menschen ist sie fromm, der Moral und der Vernunft ist sie fromm. Nicht die Theologen, nicht die Theosophen erreichen sie. "Theophagen" überschreibt er das Distichon: "Diesen ist alles Genuß. Sie essen Ideen, und bringen In das Himmelreich selbst Messer und Gabel hinauf.'A3

Diesen Gott-Essern hat Goethe noch manchen Vers gewidmet. Wo aber Frische und Frommheit die Moral und die Vernunft begleiten, da stoßen diese selbst auf Natur. Die lyrische, philosophische, experimentelle, technische und begriffsanalytische Umgangsart, allesamt begleitet von frommer, das will sagen nicht nur aufessender sondern verehrender Haltung - dieses sind die sechs Umgangsarten die wir gesehen haben und bei Goethe wiederfinden. Gibt es nun aber auch eine siebente? Ja es muß eine geben, aber da wir ihr keinen Namen geben können, wollen wir sie die ,Unbenannte' heißen. "Noch ein Geheimnisvolleres liegt dahinter".44 Warum muß es diese geben? Weil doch alles Menschliche, soll es nur dauern, entartet und dann nur noch stilisiert wird. Darum auch lehrte Platon, die menschliche Seele sei der Lyra nicht / / zu vergleichen, ihr komme keine Harmonie zu. Darum entsteht in der Kultur ein Unbehagen, in der Zivilisation eine Entmenschung. Darum sind Liebesfragen auch Magenfragen, darum Baufragen auch Geldfragen, darum entsteht aus Frieden auch Krieg, aus Sieg auch Macht, und aus Macht auch Streit. Und darum ist Natur selbst voll Kampf und Grausamkeit. Darum erscheint hinter ihrem Rücken der Satan. Darum werden aus allen jenen Umgangsarten, so frisch und fromm sie einmal waren, nun stilisierte Lebensfonnen und die Sehnsucht nach der unbenannten Umgangsart.

42 43 44

Goethe, Xenien Nr. 899, Fratzen, FA I I, S. 609. Ders., Xenien Nr. 898, FA 11, S. 609. Ders., Materialien (FN 5), S. 175.

Buchbesprechungen Kimura, Bin: Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen Japanischer Subjektivität. Übersetzt und herausgegeben von Elmar Weinmayr. Darmstadt 1995, Wiss. Buchgesellschaft, 203 S.

Kimura dürfte manchen Lesern durch seine Aufsätze über "Schulderlebnis und Klima (Fuhdo)" (1966) oder über die "Phänomenologie des Zwischen" (1980) als Vertreter der anthropologischen Psychiatrie und als Mitarbeiter Hubertus TeIlenbachs bekannt sein. Weniger bekannt ist, daß er selbst etliche Werke der anthropologischen Medizin und Psychiatrie ins Japanische übersetzt hat und daß sein Werk in Japan ein ausgesprochen hohes Ansehen genießt. Sein hier zu besprechendes Buch erschien 1993 in der 26. japanischen Auflage. Kimura ist seit seiner Emeritierung als Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Kyoto im Jahr 1994, als Forschungsdirektor am Kawai-Institut für Kultur und Erziehung in Kyoto tätig. Die bereits 1972 verfaßte, erst jetzt mit Unterstützung einer japanischen Stiftung von Elmar Weinmayr sorgfältig übersetzte und mit Anmerkungen sowie einem Anhang versehene Monographie Zwischen Mensch und Mensch, stellt ein Ergebnis von Kimuras zweitem längeren Deutschlandaufenthalt von 1969 bis 1970 an der psychiatrischen Abteilung Hubertus TeIlenbachs in Heidelberg dar. Kimuras Buch läßt sich in die Tradition der "Japandiskurse" einordnen. Unter diesem Begriff werden eine Vielzahl von Abhandlungen zusammengefaßt, die sich mit dem ,typisch Japanischen' und der spezifischen Eigenart der japanischen Kultur auseinandersetzen. So ist der Ausgangspunkt des Buches die Frage, woraus das Wir der japanischen Identität besteht, wenn etwa ein Japaner in Europa sagt: "Wir Japaner essen so etwas nicht". Seine zunächst noch nicht näher explizierte Antwort lautet, daß im ,Zwischen Mensch und Mensch' der überindividuelle Ort des Selbstseins der Japaner zu suchen ist. Hiermit ist das Thema der Intersubjektivität vorgegeben, das Kimura natürlich auch aus dem Erfahrungsbereich eines Psychiaters beleuchtet. So beschreibt er im zweiten Kapitel die besondere Affinität der Japaner zur Melancholie und eigentümlich japanische Ausprägungen der Psychopathologie dieses Krankheitsbildes. Während die Inhalte melancholischer Gedanken bei Europäern häufiger von moralischen Fragen und von Schuld bestimmt sind (vertikale Bindung an eine höhere Macht), berichten Japaner öfter von quälender Scham, ihre Pflichten gegenüber Familienmitgliedern vernachlässigt zu haben (horizontale d. h. zwischenmenschliche Bindung). Im dritten, für seine Argumentation wichtigsten Kapitel ,Klima und menschliche Subjektivität', widmet sich Kimura der japanischen Einstellung zur Natur. Unter Bezug auf die Klimalehre des japanischen Philosophen Watsuji Tetsuro (dessen interessantes Buch Fudo, Wind und Erde liegt seit 1992 in deutscher Übersetzung vor), die sich als Weiterentwicklung der Herdersehen Klimatologie versteht, definiert Kimura das Klima als Ort des Sich-selbst-findens. Für die Japaner sei ,Natur' typischerweise kein dinghaftes Gegenüber, das es auszubeuten und zu nützen gelte. Vielmehr sei die Natur für Japaner ein Ort, in den der Mensch einge-

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lassen ist und in dem er ganz aufgeht. Anders als Herder und Tetsur6, die den Einfluß des Klimas auf die Bildung des Menschen untersuchen, versteht Kimura Klima nicht als etwas, das von außen wirkt. Ausgehend von einer vorreflexiven ,reinen Erfahrung' der Natur, wie sie der phänomenologischen Betrachtungsweise entspricht, beschreibt er das naturhafte Klima als ein Konstitutivum der Seele und des Leibes des Menschen, wie auch den Menschen und dessen Kultur als konstituierend für das Klima einer Landschaft. Für Kimura ist der Leib des Menschen durch und durch klimatisch. "Das Klima ist der außerhalb des Ich liegende Ort der Begegnung von Ich und Natur, aus dem heraus der Mensch sich selbst findet" (S. 63). Im folgenden Kapitel über ,Die Japanische Sprache und die Zwischenmenschlichkeit der Japaner' spürt der Autor der eigentümlich japanischen Weise des Denkens und Erfahrens am Beispiel typischer Redewendungen nach. Besonders eingehend werden dabei die verschiedensten Bedeutungen und Verwendungen des Japanischen Worts ,ki' untersucht, das auch im psychopathologischen Denkens Kimuras eine wichtige Rolle spielt. In einem eigenen Kapitel belegt Kimura anhand der in Japan häufiger als in Europa zu beobachtenden Sozialphobien und des nahezu spezifisch japanischen Krankheitsbildes des Adoptivwahnes, welch großen Einfluß die dem Japaner eigentümliche, im alltäglichen Leben fast nie zu Bewußtsein kommende Art und Weise des Erfahrens auf die Ausprägung dieser Krankheitsphänomene ausübt. Im Schlußkapitel seines Buches setzt sich Kimura für eine transkulturelle Psychiatrie ein. Den Begriff ,transkulturell ' will er dabei nicht im häufiger gebrauchten kulturvergleichenden Sinn verstanden wissen, sondern im Sinne einer die verschiedenen kulturellen Unterschiede übergreifenden, d. h. genuin anthropologischen Psychiatrie und Psychopathologie. Hier leitet ihn die Auffassung, daß ,,zwischen Mensch und Mensch" und "Klima" anthropologische Konstitutiva sind, die den kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen schon immer zugrunde liegen und auf diese genauso bestimmend Einfluß nehmen, wie auf die verschiedenen psychopathologischen Phänomene. Kimuras Buch stellt keine konsistente aufeinander aufbauende Abhandlung dar. Das Thema des Buches wird vielmehr in stets lebendiger und anregender Annäherung umkreist. Gerade in dieser ungewöhnlichen Methode vermittelt sich aber die besondere Qualität und der Reiz des phänomenologisch-verstehenden Ansatzes den Kimura vertritt. Martin Sack, Hannover

TeIlenbach, Hubenus: Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung. Hürtgenwald 1992, Guido PressIer-Verlag, 253 S. Das Werk von Hubertus Tellenbach wird geprägt von dem Bemühen, die sich im Erfahrungsraum der Psychopathologie öffnenden Abgründe menschlicher Existenz aus der Perspektive einer phänomenologisch-anthropologischen Wesensschau zu erhellen. Der einem solchen intuitiven Erkenntnisweg zugrundeliegende Wissenschaftsbegriff steht unter dem Leitstern der ganzheitlichen Kategorie der Urphänomene im Sinne Goethes; er markiert damit den Gegenpol zur etablierten, sich zumeist als eine empirisch-metrische und naturwissenschaftlich orientierte Disziplin begreifenden Psychiatrie. Die vorliegende Sammlung von in Jahrzehnten entstandenen Aufsätzen und Vorträgen über die dichterischen Gestaltungen von Schwermut, Wahn und Fallsucht (Epilepsie) in der abendländischen Geistesgeschichte demonstriert eindrucksvoll die Unverzichtbarkeit des anthropologischen Fragens und Forschens für eine sich als Seelenheilkunde verstehende Psychiatrie.

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TeIlenbach erblickt in den fiktiven Erfahrungen und Schicksalen poetischer Texte Spiegelungen menschlichen Außer-sich-Geratens, in denen sich Typen leidvoll abgewandelten Daseins zu exemplarischen Wesensgestalten verdichten. Eine Rezension kann das literaturgeschichtliche und thematische Spektrum der Beiträge allenfalls andeuten, das von den Gestalten des Alten Testamentes (Hiob, Ezechiel) und der antiken Tragödie (Sophokles, Euripides) über die Dramen Shakespeares bis hin zu Kleist, Grillparzer, Kierkegaard, Strindberg, Dostojewskij und von Hoffmannsthai reicht. Das hermeneutische Ingenium TeIlenbachs entfaltet sich dabei in einer ganz eigenen Verschränkung von Narration und behutsamer interpretativer Annäherung, die den Leser in ihren Bann zieht und zum Mitgehen auf einem ungewöhnlichen Denkweg auffordert. TeIlenbachs Vorgehen unterscheidet sich daher gleichermaßen von den reduktiven Literaturdeutungen psychoanalytischer oder klinisch-psychiatrischer Provenienz wie von herkömmlicher Pathographik. Existentielle Schwermut und psychotische Melancholie werden als unterschiedliche Erscheinungsformen von Depressivität aufgezeigt, denen aber der erlebte und reflektierte Sinnverlust der personalen Existenz und die basale Abwandlung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Daseins gemeinsam ist. In der lähmenden Erfahrung einer unergründlichen Leere bedeutet die Melancholie gleichsam die letzte gemeinsame Endstrecke solcher Entwicklungen. Die Gestalt Harnlets exemplifiziert das schwermütige Alternieren von genialem Transzendieren-Können und einem verzweifelten Nicht-Können, in dem eben dieses Transzendieren sich versagt. Die am Geschick Hiobs verdeutlichte Möglichkeit des Transzendieren-Könnens, die Fähigkeit zur Selbstübersteigung trotz überwältigenden Leids, bildet dann das existentielle Prinzip einer psychotherapeutischen Melancholieprophylaxe. TeIlenbachs luzide Deutung der antiken Tragödien (Orest, Herakies, Aias, Ödipus) erkennt im Wähnen die sich mit unerbittlicher Konsequenz vollziehende Geschichte eines an einem entscheidenden Punkte sich selbst verfehlenden Daseins, das so seiner existentiellen Kontinuität beraubt wird. Für den verstehen-wollenden Psychopathologen resultiert daraus die Einsicht, "daß es den Wahn als ein Unvermitteltes, als ein Novum ohne biographische Voraussetzung nicht gibt". Verwiesen sei auch auf die Interpretation des "King Lear" und des "Othello" sowie von Strindbergs Trauerspiel "Der Vater" und der Aporie der wahnhaften Querulanz in Kleists "Michael Kohlhaas". Hervorzuheben ist daneben die erstmals veröffentlichte subtile Studie zur Phänomenologie der Eifersucht, die auch dem Problem ihrer möglichen Intensitätssteigerung und Abwandlung zum Eifersuchtswahn nachgeht. Ein bewegender Essay ist dem Aus-der-Welt-Gleiten v. Hofmannsthais gewidmet; in dieser eigentümlichen Bewegung scheint eine dem Psychotischen nahe Region des Unheimlichen und Entbergenden auf, die durch eine Konvertibilität von Traum und Wirklichkeit gekennzeichnet ist. An den Romanfiguren Dostojewekijs enthüllt TeIlenbach die den fallsüchtigen Menschen entmächtigende Dialektik vom "Steigen in seraphische Höhen und vom Stürzen in die Abgründe des epileptischen Krampfanfalls. " Die gegenwärtig nahezu ausschließlich zum Gegenstand der Neurophysiologie gewordene Krankheitsgruppe der Epilepsien gewinnt in den Deutungen TeIlenbachs jene existentielle Dimension zurück, in der sich das subjektive Leiden der Betroffenen ereignet. TeIlenbachs hohe Kunst psychopathologischer Auslegung, die mit einer im wissenschaftlichen Diskurs selten gewordenen eindrucksvollen Sprachgestalt verhu!1den ist, vermag im psychiatrischen Leser ein Gespür für solche Erlebnisdimensionen u:.11 -: