Seelsorge im Trauerfall: Erfahrungen und Modelle aus der Pfarrerfortbildung 9783666623059, 3525623054, 9783525623053


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German Pages [172] Year 1984

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Seelsorge im Trauerfall: Erfahrungen und Modelle aus der Pfarrerfortbildung
 9783666623059, 3525623054, 9783525623053

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Friedrich-Wilhelm Lindemann Seelsorge im Trauerfall

Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer

B A N D 20

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Seelsorge im Trauerfall Erfahrungen und Modelle aus der Pfarrerfortbildung

Von FRIEDRICH-WILHELM

LINDEMANN

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Dem Andenken meines Vaters für Asta, Gisela, Thomas Lindemann

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lindemann, Friedrich-Wilhelm: Seelsorge im Trauerfall: Erfahrungen u. Modelle aus d. Pfarrerfortbildung / von Friedrich-Wilhem Lindemann. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1984 (Arbeiten zur Pastoraltheologie; Bd. 20) ISBN 3-525-62305-4 N E : GT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984. Printed in Germany. - Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Garamond auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Inhalt

Vorbemerkung

9

1. P r o b l e m e der kirchlichen Begleitung T r a u e r n d e r und einige praktisch-theologische Lösungsvorschläge v o n H a r b s m e i e r ( 1 9 4 8 ) bis Spiegel ( 1 9 7 3 )

11

1 „Kein Prediger kennt das Labyrinth eines trauernden Menschenherzens, das kennt Gott allein." (Götz Harbsmeier)

12

2 „Der Nekrolog bei der Bestattung ist gewiß eine Krux, aber eine, die überwunden werden kann." (Günther Dehn)

19

3 „Er wird den Sinn der Trauer verstehen müssen, um daraus zu erkennen, was er der Trauer gegenüber zu sagen und an Hilfe zu vermitteln hat." (Wolfgang Trillhaas)

21

4 „Die Kasualpraxis, als Seelsorgerliche Gelegenheit verstanden, macht Diebe." (Rudolf Bohren)

25

5 „Was man im Gespräch nicht zu sagen wagte, kommt dann - im Schutz von Talar und Bäffchen - zu spät." (Werner Krusche)

28

6 „Wer schützt den Pfarrer vor den Gefahren des Friedhofs?" (Hugo Maser) 7 „ . . . und mein Text sind dann zwei bis drei Seiten Notizen und ein persönlicher Eindruck." (Thomas Bonhoeffer)

32

8 „Je besser er seine Rolle als Zeremonienmeister versteht, desto größer wird der Spielraum." (Walter Neidhart)

38

9 „Weniger fromme Rührung am Grab, mehr Todes- und Unwiederbringlichkeitsernst!" (Manfred Mezger)

40

10 „Akzeption als das große Jasagen zu meinem Gegenüber umfaßt die Totalität des Menschseins des anderen." (Hans-Joachim Thilo)

42

11 „Es geht bei dieser Art von Empathie um eine spezifische Einstellung, die zwar von Persönlichkeitsmerkmalen abhängig, in jedem Fall aber trainierbar ist." (Klaus Winkler)

47

12 „Das Handeln des Pfarrers ist Evangelium, wenn es unbehinderte Trauerarbeit freisetzt." (Yorick Spiegel)

54

13 Die Auswertung persönlicher Berufserfahrung allein verhilft zu individueller Kompetenz

59

30

5

2. Schritte einer Fallbearbeitung als Beispiel für die Auswertung persönlicher Berufserfahrung. Der Fall M.: „Das war ein schwerer Schlag." 1 Der Fall M.: „Das war ein schwerer Schlag."

62

2 Einige kritische Stellungnahmen

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1 „Gefahr einer massiven Verdrängung" 2 „Stimmigkeit" der Beziehungen als Gefahr für das fremde Wort des Glaubens 3 Direktives Vorgehen als Flucht vor dem Kreuz und als Verweigerung der Kreuzesnachfolge 1 Dokumentation: Martin Kuske: „Mitten auf der Erde steht das Kreuz" 2 Die Konfliktdynamik im Trauergespräch mit Herrn M. im Spiegel einer Arbeitsgruppe 3 Revision des eigenen Fallberichts unter psychoanalytisch-pastoralpsychologischen Gesichtspunkten 1 Vorüberlegung: die Widersprüche 2 Methodische Gesichtspunkte 1 Der doppelte Konflikt 2 Das szenische Verstehen 3 Das Göttinger Gruppenmodell 1 Die normativen Verhaltensregulierungen 2 Die psychosozialen Kompromißbildungen 3 Wünsche und Konflikte 3 Anwendung auf den Fallbericht 1 Anlaß und äußerer Rahmen 2 Die Oberfläche 1 Die Normen 2 Die psychosozialen Kompromißbildungen 3 Der Konflikt 3 Das unterschwellige Geschehen 1 Die unbewußten Normen 2 Die vorbewußten psychosozialen Kompromißbildungen 3 Der unbewußte Konflikt 4 Zusammenfassung: Der existentielle Konflikt und die verschiedenen Lösungsversuche 4 Ziele des Trauerbesuchs und Verhaltensalternativen. Auseinandersetzung mit Spiegel, Kuske und Tacke 1 Alternativen zur sozialtechnischen Engführung 2 Alternativen zur biblizistischen Engführung 4 Die Beerdigungspredigt zum Fall M 1 Die Predigt als Ausdruck des persönlichkeitsspezifischen Credo des Pfarrers 1 Bezug zur Trauersituation

6

61

65 66 67 67 74 82 82 83 84 85 89 92 94 95 96 97 97 97 98 98 98 98 99 106 107 107 109 114 118 120 120

2 Theologische Kritik 3 Berufsidentität

3. W a h r n e h m u n g s d i f f e r e n z i e r u n g u n d individuelle Vermittlung der christlichen V e r h e i ß u n g s t r a d i t i o n 1 Einige Ziele und Schritte einer psychoanalytisch orientierten Seelsorgeaus- und -fortbildung 2 Trauerbesuch nach dem Selbstmord einer 16jährigen: „Was haben wir alles falsch gemacht?" 1 2 3 4

Balintgruppe mit Pfarrern Falldiskussion mit Studenten Vergleich der Pfarrer-und Studentengruppe Der Trauerbesuch als Szene

3 Die Beerdigungspredigt: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi." 1 Reaktionen der Pfarrergruppe 1 Wahrnehmungen 2 Antwortendes Erleben 3 Antwortende Einfälle 4 Schlußbildungen 2 Reaktionen der Studentengruppe 4 Die Beerdigungspredigt als Ausdruck individueller Interpretation der Trauersituation und individueller Vermittlung der Verheißungstradition 1 2 3 4

Anknüpfung Problemdarstellung Heilsangebot Predigtschluß

Nachbemerkung Predigt ü b e r 1.Könige 19,1-18 Literaturverzeichnis

Vorbemerkung

Diese Arbeit ist die Dokumentation eines langjährigen Arbeits- und Reflexionsprozesses. Im Gemeindevikariat, 1967, machte ich die unerwartete Erfahrung, daß mir von den pastoralen Aufgaben, in die ich mich einzuüben hatte, die Begleitung Trauernder in Seelsorge und Predigt am besten gelang. Das hatte zunächst einen biographischen Grund. Aus mehreren Todesfällen in der engsten Familie hatte ich die Erfahrung, wie Trauernden zumute ist; so war mir die Situation der Adressaten meiner Beerdigungspredigten am ehesten vertraut, und es erschlossen sich mir die dazugehörigen Predigttexte entsprechend eher als die der sonntäglichen Gemeindepredigt. Situation und Tradition waren hier am genauesten aufeinander zu beziehen, denn es war jeweils eine ebenso begrenzte wie konturierte Situation vorgegeben. Die Vermittlung zwischen der individuellen Situation der Menschen und der christlichen Verheißungstradition, das Kardinalproblem eines jeden evangelischen Pfarrers, ist das Thema der vorliegenden Dokumentation: eingegrenzt auf eben diese Amtshandlung. So hat der Leser eine Art Ausschnittvergrößerung aus dem Gesamtbild pastoraler Praxis vor Augen, die möglicherweise auf andere Felder dieser Praxis übertragbar ist. In der Zusammenarbeit mit dem Pastor und Psychoanalytiker Klaus Winkler in meinen ersten Amtsjahren als Gemeindepfarrer wurden mir die psychischen Hintergründe des Verhaltens Trauernder zunehmend bewußt. Protokolle dieser Arbeit erschienen unter dem Titel „Vier Trauersituationen" zusammen mit Winklers Aufsatz „Pastoralpsychologische Aspekte der Beerdigung" 1972 in der Zeitschrift „Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft". Diese Auseinandersetzung mit eigener Berufserfahrung ist die Keimzelle der vorliegenden Arbeit (auszugsweise zitiert in ihrem 2. Teil, S. 62—65). In ihrem 1. Teil werden in chronologischer Reihenfolge einige praktisch-theologische Beiträge zur kirchlichen Begleitung Trauernder dargestellt und daraufhin befragt, inwiefern sie Hilfe geben zur Vermittlung zwischen individueller Situation und christlicher Tradition. Dieser Teil ist der Versuch einer Antwort auf Fragen, die sich während meiner Arbeit als Studieninspektor am Predigerseminar, 1972-1975, bei der Vikarsausbildung 9

immer wieder gestellt haben: auf Fragen nach praktikablen und theologisch begründeten Handlungsvorschlägen. Daß Handeln in der Seelsorge zuallererst Verstehen heißt, ist Gegenstand und Thema des 2. Teils. Darin wird die inzwischen veröffentlichte praktischtheologische Diskussion meiner Fallberichte von 1972 auszugsweise dokumentiert und zum Anlaß genommen, an einem von ihnen erweiterte Verstehensmöglichkeiten zu zeigen: mit Hilfe eines psychoanalytisch-pastoralpsychologischen Vorgehens, das mir in der Weiterbildung zum Pastoralpsychologischen Berater durch Wulf-Volker Lindner und Klaus Winkler am Studienseminar der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers in Göttingen zuteil wurde. Der 3. Teil baut auf Erfahrungen auf, die ich, zugleich lernend und lehrend, als Pastoralpsychologe am Studienseminar in Göttingen 1976-1981 gemacht habe. Hier werden nunmehr Ziele psychoanalytisch orientierter Seelsorgefortbildung entwickelt und an einem Fallbericht, den ein Kollege freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, einzelne methodische Schritte dieser Art der Seelsorgefortbildung dargestellt. Das Interesse dieser Arbeit ist hauptsächlich gerichtet auf ein differenziertes Verstehen der Verhaltens- und Auslegungsprozesse in der pastoralen Situation. Dem Umstand, daß unter diesem Aspekt die Frage nach den theologischen Inhalten vielleicht manchmal zu kurz kommt, soll zum Schluß der Abdruck einer eigenen Predigt entgegenstehen, die am Ende des hier dokumentierten Arbeitsprozesses entstand: gehalten am 21. 11. 1981 zur Einführung in mein Amt am Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung in Berlin über das Thema, wie Gott dem verzagten Elia begegnete. Die Arbeit wurde von der Fakultät der Abteilung für Evangelische Theologie der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen, angeregt von Prof. Dr. Hans-Eckehard Bahr und wissenschaftlich begleitet von Prof. Dr. Thomas Bonhoeffer. Ihnen beiden danke ich an dieser Stelle für ebenso kritischen wie geduldigen Beistand. Ich danke den Lehrern und Freunden, den Professoren Wulf-Volker Lindner und Dr. Klaus Winkler. Ich danke allen Kollegen und Seminarteilnehmern, deren Material und Diskussionsbeiträge in diese Arbeit mit eingegangen sind. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danke ich der Ev. luth. Landeskirche Hannovers und der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (Berlin West). Berlin, im März 1984

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FWL

1. Probleme der kirchlichen Begleitung Trauernder und einige praktisch-theologische Lösungsvorschläge von Harbsmeier (1948) bis Spiegel (1973)

Die Schwierigkeit, Ende und Anfang zu verknüpfen, hat Ernst Lange die „entscheidende Verlegenheit unserer Epoche" 1 genannt. Ihr sind Pfarrer von Amts wegen alltäglich ausgesetzt. Besonders akut und greifbar wird sie im Zusammenhang der Beerdigungspraxis, wenn der Pfarrer angesichts des Endes eines Menschen das verheißene und längst begonnene Anfangen Gottes verständlich und tröstlich bezeugen soll. Worin besteht aber diese Schwierigkeit im einzelnen, woher kommt sie? Wie läßt sich ihr begegnen? Die Autoren der in diesem Kapitel dargestellten Beiträge geben recht unterschiedliche Antworten. Uns interessiert hier vor allem die praktische Frage, wie das Problem der Vermittlung zwischen situativer Erfahrung und christlicher Deutung der Situation gelöst wird. Wie wird die Situation Trauernder gesehen, verstanden und als Anknüpfungspunkt für die Verkündigung berücksichtigt? Wie wird die christliche Botschaft angesichts des Todes übersetzt, welche Ubersetzungshilfen werden gegeben? Welche Bedeutung für den Vermittlungsprozeß wird der Person des Pfarrers zugemessen? Da es keine generelle Lösung dieser Fragen gibt, interessiert uns die Individualität der einzelnen Entwürfe mit ihren Stärken und Schwächen. Harbsmeier und Spiegel markieren die Pole des Spannungsbogens unterschiedlicher Positionen. Jener betrachtet die Beerdigungspraxis aus der Position des Sachwalters göttlicher Wahrheit - sozusagen von oben - kritisch gegenüber allen menschlichen Tröstungsversuchen, zu denen Religion, Ritual und Psychotherapie gezählt werden. Dieser betrachtet die Beerdigungspraxis gerade umgekehrt - sozusagen von unten - aus der Position des Trauernden, der „Therapie" sucht; so mißt er alle kirchlichen Handlungen, auch die Predigt, kritisch daran, ob sie die Therapie fördern, d.h. den Trauerprozeß voran und zum Abschluß bringen. Jener betont den Primat des richtenden und befreienden Wortes Gottes, dieser den der menschlichen 1 E. Lange, Pfarrer, 32. (Vollständige Titel siehe Lit. Verz. Soweit Titel in den Fußnoten nur in Stichworten vorkommen, sind diese Stichworte im Lit. Verz. unterstrichen.)

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N o t ; jener den qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch und daraus folgend die Grenzen zwischenmenschlichen Verstehens und Beeinflussens, dieser die Machbarkeit nicht nur der individuellen Therapie, sondern darüber hinaus der Realisierung des messianischen Reiches. Gegenüber Harbsmeiers Position der dialektischen Theologie bemühen sich Dehn und Trillhaas um Verständnis für das Empfinden Trauernder. In Auseinandersetzung mit Bohrens Position der dialektischen Theologie betont Krusche die Bedeutung der Kasualpraxis für den Gemeindeaufbau. Bei allen bleibt aber das Vermittlungsproblem zwischen Text und Situation ungelöst. Thomas Bonhoeffer stellt als erster die prinzipielle Gleichgewichtigkeit der „Texte" von Lebenssituation und Verkündigungstradition heraus. Damit können human wissenschaftliche und biblisch theologische Sätze sachgemäß, und das heißt kritisch, aufeinander bezogen werden. In den Beiträgen Neidharts, Thilos, Winklers und Spiegels kommen die bis dahin vernachlässigten humanwissenschaftlichen Aspekte zum Tragen als Hilfen zum Verständnis der Situation, die das Erbe der dialektischen Theologie erneut interessant machen. Immer geht es um die Frage: was wird sein, wenn wir nichts mehr zu sagen haben?

1.1. „Kein Prediger kennt das Labyrinth eines trauernden Menschenherzens, das kennt Gott allein." 2 G ö t z Harbsmeier hat 1947 in seinem Aufsatz „Was wir an den Gräbern sagen" klassisch dargestellt, was vielen Pfarrern bis heute Schwierigkeiten macht: Die Verpflichtung zur Verkündigung von Tod und Auferstehung Christi einerseits, und die Verpflichtung zum mitmenschlichen, seelsorgerischen Umgang mit der Situation Trauernder andererseits. Dieser Aufsatz, der zudem detaillierte Praxisanweisungen für die Verknüpfung von Situation und Tradition enthält, ist wichtig für die gesamte nachfolgende Diskussion 3 geworden und soll deshalb ausführlich dargestellt werden. Die Schwierigkeit evangelischer Beerdigungspraxis führt H . vor allem auf eine Ursache zurück: auf die Gefährdung christlichen Wahrheitsanspruchs durch das überlieferte religiöse Ritual der Bestattung. Denn das Ritual stelle nicht nur eine Form zur Verfügung, sondern allein durch seinen Vollzug auch immer schon tröstliche Inhalte. „Und so wird die Zeremonie zugleich auch zu einem kultischen Akt, der auch, ohne daß dabei irgendein biblisches Harbsmeier, Was wir an den Gräbern sagen, 103. Jüngst hat Manfred Josuttis die Diskrepanz zwischen Ritual und Verkündung am Beispiel Harbsmeiers dargestellt in: ders., Leben - T o d - Ubergangsfeld, 31 f. 2 3

12

Zitat vorkäme und der Name Christi genannt würde, eine tröstliche Kraft auf die Leidtragenden auszuüben vermag." 4 Diese Wirkung wird damit erklärt, daß das religiöse Ritual den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen entgegen komme, eine Erklärung, die nicht praktisch-theologisch auf das Verständnis der Situation, sondern dogmatisch auf Religionskritik ausgerichtet ist: „Denn das Religiöse überhaupt hat diese Kraft, die der Mensch liebt, weil sie den eigentlichen Ernst menschlichen Sterbenmüssens verschleiert und dem Menschen in objektiver Weise Ewigkeit zuspricht und so den Tod aus der Kraft der Frömmigkeit, deren der Mensch von sich aus fähig ist, als Feind überwindet." 5 Diesem faszinierenden Inhalt habe sich die christliche Verkündigung angepaßt wie im katholischen Ritus oder in der liturgischen Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche. „Das Ergebnis ist Einverleibung des Christlichen in die Religiosität der frommen Zeremonie und deren Welt, nicht aber Erhebung aus der Religiosität zum christlichen Glauben an den Gott, der die Toten auferweckt." 6 H. nennt das: „Heidentum i n . . . christlichen Formen." 7 Das bedeutet, wenn ein Pfarrer sich auf die Situation, die Trostbedürftigkeit Trauernder einläßt, droht höchste Heidentums-Gefahr. Neben diesem theologischen Basisargument mit der strikten Gegenüberstellung von Religion und christlichem Glauben, die den ganzen Aufsatz durchläuft, verweist H. auf die Erfahrung, daß die mythologischen Vorstellungen aus Bibel und Mittelalter nicht mehr nachvollziehbar und deshalb notwendig unglaubwürdig seien für den, „der illusionslos in seiner Zeit und Welt heute lebt" 8 . Harbsmeiers „heute" war eine Zeit, in der sowohl die Erfahrung des Kirchenkampfes als auch die des Krieges und der Not der Nachkriegsjahre präsent waren. In anderem Zusammenhang schreibt er: „Je ernster die Kampflage war, um so ehrlicher war die Situation." 9 So fordert er für die Beerdigungspredigt Zeitgemäßheit und Illusionslosigkeit. Das führt ihn zu einer weiteren Abgrenzung, nämlich gegen den „profanen Rationalismus" sogenannter liberaler Theologen, die zwar die „kultische Orthodoxie" des Rituals ablehnten, aber statt dessen Tod und Auferstehung Christi „nur" als Symbol für den „dem Leben innewohnenden ,Sinn"' 1 0 nähmen. Damit wird aber zugleich der Versuch, den Sinn mythologischer Vorstellungen der Bibel zu übersetzen und heute verständlich zu machen, abgetan, und zwar AaO Ebd. 6 AaO 7 AaO 8 AaO » AaO 10 AaO 4

84.

5

85 f. 85. 88. 94. 89.

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mit einer psychologisierenden Deutung: auch so versuche man, Tod und Leid mit den Mitteln der Religion von sich fernzuhalten. Das sei nicht nur illusionär, sondern auch unchristlich. Demgegenüber stellt H. fest: „Was wir an den Gräbern zu sagen haben, ist eben nicht der Nachweis eines Weges, auf dem wir den Schrecken und die Anfechtung des Todes loswerden können, wie das alles soweit als möglich von uns abgewendet werden kann, sondern daß wir den Schrecken und die Anfechtung des Todes und des Leidens in seiner letzten, abgründlichen Tiefe übernehmen können, so wie es alles in Wahrheit ist, ohne Beschönigung, ohne Verschleierung, ohne weltanschauliche, religiöse und mythologische Tröstung durch Illusionen, und daß eben das der Weg des Lebens, ja des ewigen Lebens ist." 11 Aufgabe der Beerdigungspredigt ist also, die Trauernden in die Lage zu versetzen, den Tod in seiner ganzen Brutalität zu übernehmen, und zwar durch einen Glaubensakt. Wie aber soll diese Aufgabe erfüllt werden? H. kommt nun auf den rechten Glauben des Predigers zu sprechen als Voraussetzung glaubwürdiger Verkündigung. Und zwar beschreibt er ihn inhaltlich konträr zur allgemeinen religiösen Gläubigkeit, wie er sagt: der Weg Jesu ist als kritischer Maßstab für den eigenen Lebensweg zu nehmen. Das bedeutet im Blick auf den Tod: „An Christus glauben heißt, mein Gott geschuldetes und ihm doch versagtes Leben als solches angenommen und aufgehoben wissen in Gott und darin das ewige Leben haben, ganz unabhängig von dem Tod oder vielmehr ganz dem Tode zum Trotz, den wir einmal sterben müssen gleich aller Kreatur, der aber doch eben als mein Tod als Mensch auch dadurch charakterisiert sein wird, daß er ein Tod ist, der für mich schon vorweggenommen wurde, als ich mein Leben als Gott geschuldetes und ihm doch versagtes übernommen habe." 12 Dieses entschlossen nachdenkende Ubernehmen und Annehmen des Leidensweges Christi als Urteil über den eigenen Lebensweg ist der entscheidende Glaubensakt, den H. immer wieder umschreibt. In ihm ist Gewißheit und damit ewiges Leben da - in dieser „personalen Bindung" an Christus. Die Trauer um einen Toten oder das eigene Sterben werden in diesen grundsätzlichen Erwägungen nicht als spezielle Situation der Anfechtung und Bewährung des Glaubens betrachtet, sondern als Situationen, die für den Rechtfertigungsglauben im Verständnis Harbsmeiers bereits relativiert sind. Von da aus werden auch alle Fragen nach einer futurischen Eschatologie 13 - dem Leben nach dem Tode - letztlich als ungläubige und A a O 90. Ebd. 1 3 Der Göttinger Psychiater J. E. Meyer hat aufgrund klinischer Erfahrungen die Frage gestellt, ob der „Wandel christlich-eschatologischer Vorstellung" mit dazu geführt habe, daß in der Öffentlichkeit der T o d ausgeblendet, und dadurch letztlich das Sterben für viele erschwert werde. (Mündlich und: ders., Vergänglichkeit, 62ff). 11

12

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illusionäre Fragen abgewiesen zugunsten des aktuellen Glaubensaktes und einer präsentischen Eschatologie. Harbsmeier bietet dem Leser also ein ganz bestimmtes Glaubensverständnis als Hilfe für die Erfüllung der anspruchsvollen Aufgabe an, die er ihm zugewiesen hat. Dies ist freilich eine Form des Glaubens, die sehr stark vom intellektuellen Vollzug lebt und die Fragen Trauernder nicht eigens aufnimmt. So ist die Frage, ob sie anderen nachvollziehbar ist, anderen Pfarrern und Gemeindegliedern, die trauern. Die letzte Frage im grundsätzlichen Teil dieses Aufsatzes gilt der öffentlichen Unterscheidung zwischen dem religiösen und dem christlichen Verständnis der Beerdigung. Trotz aller grundsätzlichen Kritik spricht sich Harbsmeier nicht für eine Abschaffung, aber für die richtige Handhabung des überkommenen Zeremoniells aus, das eine die öffentliche Veranstaltung ordnende und der christlichen Botschaft raumgebende Funktion haben soll. Voraussetzung rechter Handhabung sei das rechte theologische Verständnis, das in der Grabrede zu artikulieren sei. So wird der Grabrede eine wichtige kritische Funktion in der öffentlichen Unterscheidung zwischen Theologie und Religion zugewiesen. „Beerdigung im christlichen Sinne ist nichts anderes als solche Wortverkündigung aus Anlaß des Todes eines Gliedes der Gemeinde." 1 4 Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen werden nun im zweiten Teil des Aufsatzes praktische Anweisungen zur Vorbereitung der Grabrede abgeleitet. Dazu unterscheidet H . vier „Faktoren", die zu berücksichtigen seien: 1. der Text, 2. die Leidtragenden, 3. die Trauergemeinde und 4. der Tote 1 5 . (1) Der Text ist das wichtigste Hilfsmittel zur rechten Wortverkündigung im Kampf gegen die Religion. Damit steht das Problem der Textwahl an erster Stelle. Maßgeblich für die Wahl soll aber der Bezug zur Situation der Trauernden sein. Wie nun sollen Text und Situation verbunden werden? H . gibt zunächst eine theologische Anweisung. Statt eines Spruchs, der „nur Anlaß bietet zu ein paar freundlich, christlich-passenden W o r t e n " 1 6 , sei „das hier nötige, tröstende und heilende, aufrichtige, dankbare Wort der Wahrheit zu sagen, indem das ganze Evangelium nicht ohne das ganze Gesetz beschlossen liegt" 1 7 . Er fügt ein hermeneutisches Kriterium hinzu. „Verstanden aber im umfassenden Sinne dieses Wortes ist der Text erst dann, wenn er je in meiner konkreten Situation, in der ich gefordert bin, diesen Leidtragenden und dieser Trauergemeinde angesichts dieses Todes und Toten das ganze 14 15 16 17

AaO AaO AaO AaO

98. 96. 97. 96.

15

Evangelium zu sagen, zu mir redet, wenn er mich also gerade in der mir für die heute an mich gestellte Aufgabe der Beerdigung verpflichtet." 1 8 Bezieht sich H . hier auf das Evidenzerleben, wenn sich dem Ausleger im Blick auf eine aktuelle Situation auf einmal ein Text erschließt, zu reden beginnt und zur Interpretation der Situation führt? H . hebt diese Erfahrung jedenfalls nicht hervor. Die Situation als Ort des Hörens und Auslegens wird nicht eigens thematisiert. Die Verknüpfung von Text und Situation wird zwar gefordert aber nicht gezeigt. H . betont allein das Verpflichtungserleben als Indiz rechten Schrift- und Textverständnisses. Dieser hermeneutischen Akzentuierung entspricht dann inhaltlich die Hervorhebung des Bußrufs als zentralen Inhalts der Beerdigungspredigt 1 9 . Diese an der Thematik von Schuld und Vergebung orientierten Kriterien bestimmen nun auch die Empfehlungen für den Umgang mit den „Leidtragenden". (2) U m die Vielfalt der verschiedenen Arten der Trauer vereinfacht zu erfassen, benutzt H . den Gewissensbegriff als Schlüssel. „Wir dürfen aber wissen, daß der in meiner Nähe einschlagende Tod bei aller Verschiedenheit der Wirkungen, die er auf mich hat, mich doch immer in meinem Gewissen trifft." 2 0 Das bedeutet: „Wie mein Tod je der meine ist und mich so fordert, daß ich ihn je allein für mich sterben muß, so bin ich auch dem Tod der Meinigen gegenüber je allein der einzelne, je nachdem, wie ich zu dem Toten in meinem Leben gestanden habe." 2 1 Im Vordergrund steht nicht triviale Schuldproblematik, sondern eher das Ideal des eigentlichen Selbstseins 22 . Dieses fordert in diesem Zusammenhang, sich sowohl mit seinem eigenen T o d als auch mit den Beziehungen zu dem verstorbenen Angehörigen wahrhaftig auseinanderzusetzen, was folgerichtig zur Schulderkenntnis führt. Bedeutet aber diese Konzentrierung auf die Schuldfrage nicht eine Wahrnehmungseinschränkung? Erlaubt sie, die von vielen Trauernden erlebte Trennungsproblematik und Sinnentleerung wahrzunehmen und verständnisvoll zu behandeln? A a O 97f. A a O 98. 2 0 A a O 102. 2 1 E b d . ; Harbsmeier knüpft hier offenbar an M. Heideggers existenziale Interpretation des Todes und des Gewissens an. Vgl. Sein und Zeit § 52 und 60, im Einzelnen: „Der T o d als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins." (258 f). Das Gewissen als Ruf zum eigensten Schuldigsein ist Entschlossenheit. „Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein des Daseins nicht von seiner Welt a b . . . " , sondern „bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen." (298). 2 2 „ D a s eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials." Heidegger, a a O 130. 18

19

16

So wie Freud zwischen Trauer und Melancholie unterschied, unterscheidet H . , freilich ohne ihn zu zitieren, zwischen der „Trauer um das Aufhören einer Lebensgemeinschaft..., die in einem gegenseitigen Sichgehören bestand" und dem „Mitleid mit sich selbst um des Verlustes willen, indem man besessen zu haben meinte, was man nun verlor." 2 3 Selbstmitleid erhält hier einen kritischen Akzent, obwohl es regelhaft zur Trauererfahrung gehört. Ebenso wird die Haltung derjenigen abgewertet, „die von dem Prediger nichts anderes erwarten als die Beerdigung ihres Schmerzes mit Hilfe einer Art Psychotherapie durch den Klang der Stimme des Predigers" 2 4 , von denen wiederum die unterschieden werden, „die längst je auf ihre Weise mit allem fertig sind, bevor die Predigt gehalten wird" 2 5 . Das breite Spektrum, das zwischen diesen beiden extremen Erwartungshaltungen liegt, erfaßt H . nicht. Er erwähnt zwar den Mechanismus „Substitution der Trauer durch Haß gegen die Feinde" 2 6 , ohne aber dieses Phänomen als Ausdruck einer seelischen Notlage verstehen und den Trauernden zunächst zugestehen zu wollen. Er betont zwar, daß solche Phänomene „von erheblichem Belang" 2 7 für den Prediger sind, zeigt aber nicht, wie sie positiv einbezogen werden können in die theologische Interpretation der Situation, worauf es uns in dieser Arbeit ankommt 2 8 . In H.s Arbeit entspricht der ironischen Distanzierung gegenüber allem, was mit Psychotherapie zusammenhängt, eine Wahrnehmungsmöglichkeit gegenüber der psychischen Befindlichkeit Trauernder. Sie wird schließlich theologisch so legitimiert: „Kein Prediger kennt das Labyrinth eines trauernden Menschenherzens. Das kennt Gott allein." 2 9 (3) Andererseits empfiehlt H . , in der öffentlichen Grabrede auf den individuellen Trauerfall Bezug zu nehmen. „Je mehr unsere Rede gerade auf die unmittelbar betroffenen Leidtragenden ,gemünzt' ist, um so mehr wird sie auch allen gelten." 3 0 Und er begründet dies mit dem Grundsatz: das „Allerpersönlichste ist gerade auch das Allgemeinste" 3 1 . Was meint er aber mit dem Allerpersönlichsten? Er gibt keine Beispiele. Aber - und das ist wiederum eine Stärke seiner distanzierten Haltung gegenüber zu viel persönlicher Nähe - er markiert Grenzen für den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen vor der A a O 103. Ebd. 25 Ebd. 2 C-, H

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