Schweizerische Beiträge zur Rechtssoziologie: Eine Auswahl [1 ed.] 9783428456611, 9783428056613


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Schweizerische Beiträge zur Rechtssoziologie: Eine Auswahl [1 ed.]
 9783428456611, 9783428056613

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 56

Schweizerische Beiträge zur Rechtssoziologie Eine Auswahl Herausgegeben von

Manfred Rehbinder

Duncker & Humblot · Berlin

SCHWEIZERISCHE BEITRÄGE ZUR RECHTSSOZIOLOGIE

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehhinder

Band 56

Schweizerische Beiträge zur Rechtssoziologie Eine Auswahl

herausgegeben von

Manfred Rehbinder

DUNCKER

&

HUMBLOT / BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schweizerische Beiträge zur Rechtssoziologie: e. Ausw. / hrsg. von Manfred Rehbinder. Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 56) ISBN 3-428-05661-2 NE: Rehbinder, Manfred [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1984 bel Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berl1n 61 Prtnted in Germany ISBN 8428·05661·2

INHALT Einleitung ................................. . ..........................

7

Erster Teil Allgemeine Grundlagen der Rechtssoziologie

A. Die Interdependenz von Recht und Sozialleben ...................... 1. Dietrich Schindler: Recht und Ambiance (1931)

B. Die Entwicklung des Rechts aus dem Sozialleben ....................

11 11 23

2. Walter R. Schluep: Die Beziehungen der wirtschaftlichen und

sozialen Entwicklung der Gesellschaft und der Entwicklung des Rechts (1970) ...................................................

23

C. Die Soziologie der Gesetzgebung ....................................

35

3. Eugen Huber: Die Realien der Gesetzgebung (1921) ..............

35

4. Hans Fehr: Die Dynamik des Gesetzes (1940) ....................

41

5. Thomas Fleiner: Voraussetzungen für den Erlaß "richtiger Nor-

men" (1974) ....................................................

51

D. Die Wirksamkeit von Gesetzen ....................................

65

6. Pet er NoH: Über die soziale Wirksamkeit von Gesetzen (1970) ....

65

Perrin: Was versteht man unter der Effektivität einer Rechtsnorm? (1979) .......................................

75

7.

Jean-Fran~ois

Zweiter Teil A ngewandte Rechtssoziologie

A. Privatrecht ........................................................

83

8. Johann Caspar Bluntschli: Eigentum und Erbrecht (1879) ........

83

6

Inhalt 9. Richard König: Die Verkehrssitten im Handel mit Emmentaler-

käse zwischen Produzent und Großhändler (1918) ................

95

10. Roger Zäch: Postulate zur Bestimmtheit gesetzlicher Regelungen

und der Entwurf des neuen Eherechts (1982) .................... 107

B. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 11. Hans Schultz: Abschied vom Strafrecht? (1980) .................. 125 12. Martin Killias: Muß Strafe sein? (1980)

135

C. Völkerrecht ........................................................ 159 13. Max Huber: Soziologische und juristische Betrachtungsweise im

Völkerrecht (1910) .............................................. 159

14. Jacob Wackernagel: über rechtssoziologische Betrachtungsweise,

insbesondere im Völkerrecht (1958) .............................. 165

EINLEITUNG Die vorliegende Auswahl schweizerischer Texte zur Rechtssoziologie ist das Ergebnis eines Seminars, das ich mit einem Kreis besonders an Rechtssoziologie interessierter Studenten und Assistenten in den Jahren 1982 und 1983 in Zürich in privatem Rahmen durchgeführt habe. Als Assistent dieses Seminars hat sich nicht nur bei der Durchführung der Arbeitssitzungen, sondern auch bei der inhaltlichen Gestaltung dieses Bandes Herr lic. iur. Wolfgang Humbert-Droz große Verdienste erworben. Die einleitende Biographie zu den ausgewählten Textstücken ist von den jeweiligen Seminarteilnehmern verfaßt worden, die sich mit dem betreffenden Autor besonders intensiv beschäftigt haben. Ziel dieses Bandes ist, die bedeutendsten schweizerischen Rechtssoziologen mit einem ihrer wichtigsten Texte in einem Reader vorzustellen. Wie bei jedem Reader bedarf auch bei diesem die Auswahl ein paar Worte der Rechtfertigung. Zunächst handelt es sich hier nur um Beiträge zur Rechtssoziologie aus dem Bereiche der Rechtswissenschaft, nicht also um Beiträge aus den Gebieten der Politologie, Soziologie, Psychologie, Anthropologie usw. Wer sich über die Beiträge von NichtJuristen zur schweizerischen Rechtssoziologie orientieren will, kann dies in Kürze anhand der Arbeitsergebnisse des jetzt auslaufenden Nationalen Forschungsprogramms über die Entscheidungsprozesse in der schweizerischen Demokratie tun. Dort waren vorwiegend NichtJuristen an der Arbeit und haben die schweizerische Rechtssoziologie, wie ich als Präsident der zuständigen Expertengruppe des Nationalfonds feststellen konnte, maßgeblich gefördert. Ferner enthält dieser Band nur Beiträge Schweizer Autoren. Damit entfielen für die Auswahl solche Autoren, die in der Schweiz arbeiteten, aber nicht schweizerischer Nationalität sind, wie z. B. Karl Haff, Hans Nawiasky und in der Gegenwart: Paul Trappe, Manfred Rehbinder. Schließlich entfielen schweizerische Autoren, die im Ausland gearbeitet haben und ganz der Rechtssoziologie des Auslandes zugerechnet werden, wie Hans Ryffel. Das hier vorliegende Ergebnis der Auswahl beruht auf umfassenden Literaturstudien und zeigt, welche lange Tradition die rechtssoziologische Betrachtungsweise in der Schweiz hat. Verbreitete theoretische Konstrukte wie "Realien der Gesetzgebung" oder "Ambiance" stammen aus der Schweiz, und die Lebensnähe der schweizerischen Rechtswissenschaft hat rechtssoziologische Erwägungen immer als selbstver-

Einleitung

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ständlicher erscheinen lassen als im übrigen deutschsprachigen Raum. Es mag vielleicht überraschen, den berühmten Staatsrechtler J. C. Bluntschli hier in das Privatrecht eingereiht zu sehen. Außerhalb der Schweiz ist seine Bedeutung für das Zivilrecht kaum noch bekannt. Doch ist er der Verfasser des Privatgesetzbuches für den Kanton Zürich, eines Vorläufers des ZGB, und hat zeitlebens viel für die Reform des schweizerischen Privatrechts getan. Insgesamt zeigt die Auswahl, die sich als repräsentativ versteht, daß die Rechtssoziologie im Werke schweizerischer Rechtswissenschaftler wegen ihrer Selbstverständlichkeit eher einen beiläufigen Stellenwert einnimmt, auch wenn sie als unverzichtbar empfunden wird. Erkenntnistheoretische Grundsatzfragen vermögen hier, da sie nicht zu Unrecht als unfruchtbar gelten, nicht zu interessieren. Daß dennoch kein Anlaß besteht, den Beitrag der Schweiz zur Rechtssoziologie zu übersehen, das sollte dieser Band belegen und deutlich machen. Ich danke allen Seminarteilnehmern für ihre Mitarbeit. Zürich, im April 1984 Manfred Rehbinder

ERSTER TEIL

Allgemeine Grundlagen der Rechtssoziologie

A. Die Interdependenz von Remt und Sozialleben RECHT UND AMBIANCE Von Dietrich Schindler* Dietrich Schindler, geboren am 3. Dez. 1890, stammt aus einer Industriellenfamilie. Sein Vater, Dr. Heinrich Schindler-Huber, war Generaldirektor der Maschinenfabrik Oerlikon in Zürich. Seine Mutter war die Schwester von Max Huber, dem international bekannten Völkerrechtler und Richter am StIGH im Haag. Max Huber übte einen bestimmenden Einfluß auf Dietrich Schindler aus.

Schindler studierte Jurisprudenz an den Universitäten Berlin, Leipzig und Zürich und promovierte 1916 mit einem staatsrechtlichen Thema (Die Rechtsbeziehungen zwischen Bund und Kantonen im Heerwesen). Anschließend arbeitete er vorübergehend in der Verwaltung der Maschinenfabrik Oerlikon. 1921 verließ er diesen von der Familie vorgezeichneten Weg, um sich an der Universität Zürich zu habilitieren. Seine von Fritz Fleiner betreute Habilitationsschrift schrieb er "über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie". Die Venia legendi umfaßte die Fächer Allgemeines und Schweizerisches Staats- und Verwaltungsrecht. Seit 1924 las er auch Völkerrecht. 1927 wurde er zum Extraordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht und Rechtsphilosophie gewählt. 1928 hielt Schindler an der Haager Akademie Vorlesungen über die Entwicklung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. 1932 folgte sein Hauptwerk "Verfassungsrecht und soziale Struktur". Eine zweite Haager Vorlesung hielt er im Jahre 1933 über "Contribution a l'etude des facteurs sociologiques et psychologiques du droit international". 1936 erfolgte nach dem Rücktritt von Fritz Fleiner seine Wahl zum Ordinarius. Die sich abzeichnende Kriegsgefahr veranlaßte Schindler, sich vermehrt mit neutralitäts- und kriegs rechtlichen Fragen auseinanderzusetzen. So verteidigte er in seinen Arbeiten mehrmals die schweizerische Neutralitätsdoktrin gegen ideologisch motivierte Angriffe. 1938 erschien dann seine bedeutendste völkerrechtliche Arbeit im Handbuch des Völkerrechts, in der er die Entwicklung der Schiedsgerichtsbarkeit seit 1914 als Mittel der organisatorischen Friedenssicherung darstellt. Während des Zweiten Weltkrieges beriet Dietrich Schindler den schweizerischen Armeestab und das Eidgenössische Politische Departement (Außenministerium) in völkerrechtlichen Fragen. 1940 wurde er zudem zum Präsidenten des Verwaltungsrates der Neuen Zürcher Zeitung gewählt. 1943 bis

* Verfassungsrecht und soziale Struktur, Zürich 1932, S. 92 -103.

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Dietrich Schindler

1945 war er dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement für Pressefragen zugeteilt. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu seinem Tod beschäftigte sich Schindler vermehrt mit den Grundlagen des Völkerrechts im Lichte der sich verändernden internationalen Lage. 1946 wurde er in das Internationale Komitee vom Roten Kreuz berufen und spielte in der Folge eine maßgebliche Rolle bei den Vorarbeiten zur Genfer Konvention von 1949. 1947 wurde er in das Kuratorium der Haager Akademie gewählt. Am 10. Januar 1948 verstarb er im Alter von 58 Jahren. Die Rechtssoziologie nimmt im Gesamtwerk von Schindler (siehe die Bibliographie in Schindler: Recht, Staat, Völkergemeinschaft, Zürich 1948, S. 373 ff.) einen wichtigen Platz ein. Neben den schon erwähnten Arbeiten "Verfassungsrecht und soziale Struktur" (1932) und "Contribution a l'etude des facteurs sociologiques et psychologiques du droit international" (1933) sind das Referat "Recht und Staat" (Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereines, 1931) und die Abhandlung "Werdende Rechte. Betrachtungen über Streitigkeiten und Streiterledigung im Völkerrecht und Arbeitsrecht" (Festgabe für Fritz Fleiner, 1927) zu nennen. Sein rechts soziologisches Hauptwerk ist "Verfassungsrecht und soziale Struktur", mit dem er auch international bekannt wurde. Er beschreibt dort, von einer dialektischen Betrachtungsweise ausgehend, einen aus vier Elementen zusammengesetzten Rechtsbegriff. Ordnung und Macht sind für ihn formale, ethische und vitale Forderungen die beiden inhaltlichen Elemente des Rechts, welche in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Er be~ schreibt die Rolle des Rechts in einem polar strukturierten sozialen Ganzen und weist auf die verschiedenartigen Komplementär- und Parallelverhältnisse zwischen Recht und Außerrechtlichem hin. Unter dem Begriff des Außerrechtlichen versteht er nicht nur soziologische, sondern - unter Verwendung der psychoanalytischen Terminologie - auch psychologische Faktoren wie das Bewußte, das Unterbewußte und das Triebhafte. Die Arbeit mündet in eine Theorie von der ,Ambiance' des Rechts. Schindler versteht darunter die Stimmung, die teils unbewußte Umgebung des Rechts, in welche das Recht eingebettet ist, und welche sich aus soziologischen, psychologischen und weiteren außerrechtlichen Faktoren zusammensetzt, zu denen das Recht wiederum in einem polaren Spannungsverhältnis steht. Urs Saxer

A. Es ist oben festgestellt worden, daß in jeder Rechts- oder Staatstheorie das Bewußte und Unterbewußte, das Vordergründige und Hintergründige, das Explizite und Implizite zu unterscheiden sei. Das Gleiche gilt auch für das verwirklichte Recht. Denn das Recht ist gleichsam die bewußte Ergänzung des Unterbewußten. Was im Recht zur Realisation gelangt, ist nur das Vordergründige, das Explizite, kurz das, was im vollen Licht des Intellektes lag. Es ist sehr wohl möglich, daß auch dies nicht ganz verwirklicht wurde, doch das ist hier neben~ sächlich. Was hier festzuhalten ist, ist die Tatsache, daß das Hinter-

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gründige, Implizite usw. neben dem Recht bestehen bleibt, daß seine Inhalte nicht ins Recht überführt wurden, sei es, weil das Bewußtsein ihrer Erheblichkeit fehlte, sei es, weil sie als ohnehin wirksam angesehen wurden, sei es, weil eine Transposition ins Rechtliche der Natur der Sache nach unmöglich ist. Trotzdem handelt es sich um Dinge, die für den zum Recht gewordenen Inhalt wesentlich sind. Denn sie bilden die Umgebung des Rechts, sein Milieu, in das es hineingehört und mit dem es sinnnvoll wird, jenen Teil der umgebenden Welt, mit welchem oder gegen welchen es ein Ganzes bilden soll. Für die Bezeichnung dieses Außerrechtlichen in seiner Relation zum Recht und in seiner besonderen Gestalt und Funktion eignet sich am besten der französische Ausdruck "ambiance". Die positive Rechtsordnung setzt somit eine Ambiance voraus. Jede besondere Art und Gestalt des positiven Rechts, vorab jede Art einer Staatsverfassung, setzt eine besondere Art und Gestalt der Ambiance voraus.

B. Da nun die Ambiance nicht Recht ist, kommt ihr auch nicht die gleiche Festigkeit zu wie dem Recht. In der Verschiedenheit der Änderungsursachen und der Änderungsform von Recht und Ambiance liegt der Grund für die allmählich entstehende Disharmonie zwischen dem Recht und der das Recht ergänzenden, tragenden und balancierenden Umgebung. Wir haben hier vor allem dem Fall Aufmerksamkeit zu schenken, in dem das Recht, z. B. eine Staatsform, in bisheriger Form bestehen bleibt, aber die Ambiance sich ändert. Und zwar ändert sie sich wegen des Wechsels der äußern (z. B. wirtschaftlichen) Bedingungen, oder was uns hier interessiert - deshalb, weil sie dem hellen Bewußtsein entrückt ist und infolgedessen allmählich der Vergessenheit anheimfällt, während umgekehrt die im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehenden Rechtsprinzipien in ihre einseitigen Konsequenzen ausgebaut werden und ihrerseits auf das Außerrechtliche übergreifen, wodurch dessen kompensatorischer Charakter abgeschwächt, wenn nicht aufgehoben wird. Hierin, in dieser Vernichtung des kompensatorischen Charakters der Ambiance, liegt der Grund der Entartung der Staatsformen und Rechtsinstitute. Es ist eine tragische Erscheinung, daß oft ein Rechtsprinzip, das einmal gesund war und wohltuend wirkte, im Laufe der Zeit entartet und schädliche Folgen erzeugt!. Die Änderung liegt aber weniger im Recht selbst als im Außerrechtlichen. Denn alles objektive Recht ist starr und formal und verleiht regelmäßig umfangreichere subjektive Rechte und Kompetenzen, als dem sozialen Ganzen 1 Vgl. Ortega y Gasset in einem Aufsatz über Kant (Neue Schweizer Rundschau, Mai 1930, S. 385): "Aus einem vollkommen genauen Ausdruck für einen bestimmten Kulturwillen verwandelt sich mit der Zeit jeder große philosophische Standpunkt durch Abnützung in eine Formel der Widerkultur." Das gilt häufig auch für Staatsverfassungen.

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eigentlich zuträglich ist. Aber das Recht kann nicht anders, weil die notwendig allgemeine Formulierung des Rechtssatzes eine feiner abgestufte Normierung nicht zuläßt. Wohl aber zählt es darauf, daß diese subjektiven Rechte und Kompetenzen nicht bis zu ihren äußersten Möglichkeiten ausgenützt werden. Denn die Entartung eines Rechtsinstituts besteht in der zur Regel werdenden äußersten Ausnützung der von ihm gebotenen formalrechtlichen Möglichkeiten. Es liegt an der unvermeidlichen Einseitigkeit jeder juristischen Formulierung, daß ein Rechtssatz seine soziale Funktion nur dann richtig erfüllen kann, wenn das dem formulierten Rechtsprinzip entgegengesetzte Prinzip als sein polarer Gegensatz im Außerrechtlichen wirksam ist und verhindert, daß die im Rechtssatz selbst liegende Möglichkeit bis zum Äußersten ausgenützt wird. Je primitiver eine Rechtsordnung ist, desto mehr ist die kompensatorische Wirkung der Rechtsambiance unentbehrlich, je entwickelter sie ist, desto mehr ist die polare Gegenposition ins Recht selbst aufgenommen worden. Alles starre Recht bedarf der außerrechtlichen Kompensation. Wenn diese allein nicht mehr genügt, wird das kompensatorische Prinzip ins Recht selbst aufgenommen. Das geschah beispielsweise mehrfach dadurch, daß ein besonderes Billigkeitsrecht neben dem starren Recht in die Rechtsordnung eingefügt wurde, wie die römische aequitas und die englische equity. Zahlreiche moderne Entwicklungen gehen in der gleichen Richtung, so die Einschränkung der Vertragsfreiheit durch Arbeiterschutzgesetze, des Privateigentums durch die zahlreichen öffentlichrechtlichen Schranken2 , der Geltendmachung eines Privatrechts über~ haupt durch das Verbot des Rechtsmißbrauchs: überall hat sich die im Außerrechtlichen liegende Hemmung der schrankenlosen Ausnützung einer subjektiven Berechtigung als ungenügend erwiesen, weshalb die erforderlich erscheinenden Schranken als gesetzliche Vorschrift in die Rechtsordnung selbst aufgenommen wurden. Vor allem sind es aber zahlreiche staatsrechtliche Normen, welche dieser Kompensation bedürfen, aber sie nur im Außerrechtlichen finden können. Denn hier müssen die Normen einfach und formal sein, weil sie der Öffentlichkeit, als der politisch letzten Instanz im Staat3 , ver~ ständlich sein und auch in der Anwendung verständlich bleiben müssen. Dahin gehören die Kompetenzen der obersten Staatsorgane, wie z. B. das Vetorecht der Regierung gegenüber dem Parlament. Die Ausübung dieses Rechts könnte bei Ausnützung der äußersten Möglichkeiten zu unerträglichen Zuständen führen: es sind nicht rechtliche, sondern rein 2 Vgl. die neue, diese Schranken berücksichtigende Auffassung des Privateigentums bei R. Haab, Kommentar zum schweizerischen ZGB, Sachenrecht S. 42; H. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 115 ff. 3 Vgl. mein: über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie, 1921, S. 63 f.

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politische Gründe, die davon abhalten. Das einer Minderheit zustehende Initiativrecht, in Verbindung mit der Volksgesetzgebung, könnte dazu führen, daß in kurzen Zeiträumen die Staatsverfassung immer wieder von neuem geändert wird oder daß doch - wenn die Initiativen in den Abstimmungen unterliegen - in kurzfristiger Wiederholung Verfassungskämpfe heraufbeschworen werden, welche die Konsolidierung eines Staates verhindern und positive politische Arbeit sabotieren: es sind keine rechtlichen Gründe und es können keine solchen sein, welche einen Mißbrauch der Initiative zu Zwecken der Destruktion verhindern, sondern allein politische Einsicht und der gesunde Sinn des Volkes4 • Aber weil hier, wo es sich um das oberste Organ des Staates, die Aktivbürgerschaft, handelt, gesetzliche Schranken gegen Mißbrauch nicht möglich sind - weil kein Organ vorhanden ist, das feststellen könnte, was Mißbrauch ist, ohne daß es dem Volke übergeordnet würde, was der obersten gesetzgebenden Gewalt des Volkes widerspräche - gerade deshalb kann ein Mißbrauch der Volksrechte nicht durch eine Änderung dieses oder jenes Punktes im Verfassungstext verhindert werden, sondern der Mißbrauch stellt, wenn er unerträgliche Zustände herbeiführt, die Staatsform selbst in Frage. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt sich hier die Abhängigkeit des Rechts von im Außerrechtlichen wirksamen, dem Prinzip des positiven Rechts selbst entgegengesetzten Prinzipien. Ein weiteres Beispiel bieten die Freiheitsrechte. Ob ihr Zweck, die freie Betätigung und Entfaltung des Individuums zu sichern, erreicht wird, hängt völlig von außerrechtlichen Verhältnissen ab. Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung hat zu weitgehenden wirtschaftlichen Bindungen geführt; die Vertrustung, die das Resultat dieser Freiheit sein kann, ist das Gegenteil dessen, was mit der wirtschaftlichen Freiheit erreicht werden sollte. Die Frage taucht auf, ob hier nicht ein Fehler im Ausgangspunkt liegt. Das wird später zu untersuchen sein. C. Die Wichtigkeit des Außerrechtlichen für das Recht erhellt vor allem dann, wenn das Außerrechtliche eine andere Gestalt als üblich annimmt und dadurch das Recht selbst tiefgehend beeinflußt wird. Die Einwirkung der geographischen Lage eines Landes auf die Verfassung wird in der Regel übersehen werden; sie wird aber offenbar, wenn z. B. für England festgestellt wird, daß "die Insellage eine Verfassung er4 über den politischen Charakter des Schweizervolkes, der den Radikalismus seiner politischen Institutionen kompensiert, vgl. Fleiner, Bundesstaatsrecht, S. 19, 309 ff., ferner Schweizerische und deutsche Staatsauffassung, 1929, S. 8. Dennoch ist in der Schweiz die Frage des Mißbrauchs des Initiativrechts in Verbindung mit einer Initiative auf Vermögensabgabe (1922), deren Annahme destruktiv gewirkt hätte und deren bloße Lancierung wirtschaftlich schädigend war, lebhaft diskutiert worden. Vgl. auch mein: Verfassungsleben im Kanton Zürich, 1928, S. 49 f.

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setze"". Auch für die Schweiz gilt ohne Zweifel, daß die geographischen und ethnographischen Verhältnisse, die ihre Geschichte bestimmten, ihre Verfassung entscheidend beeinfiußten; z. B. wäre der für das kleine Gebiet auffällige Föderalismus ohne die geographischen und ethnographischen Verschiedenheiten nicht denkbar. Ähnliches läßt sich für andere Staaten nachweisen. Ein weiteres Beispiel: das normale Spiel demokratischer Institutionen setzt ein mehr oder weniger homogenes Volk voraus. Das bleibt vorerst - so lange alle beobachteten Demokratien homogene Bevölkerungen haben - unbewußt, es wird erst erkannt, wenn der Blick auf Staaten geworfen wird, wo diese Homogenität fehlt. Dazu gehören z. B. die Südstaaten der amerikanischen Union infolge der Mischung schwarzer und weißer Bevölkerung. über die dortigen politischen Verhältnisse berichtet einer der besten Kenner Amerikas: "Es ist beinahe tragisch, zu sehen, wie die Anwesenheit der Neger überall, wo sie in großen massiven Blöcken ansässig sind, das politische Leben ertötet und das normale Spiel der freien politischen Institutionen unmöglich gemacht hat."6 Denn die Weißen suchen in erster Linie die "Rassenfront" zu wahren. Die Demokratie bedarf nicht nur der Homogenität, sondern auch einer gewissen Tradition und vor allem der Staatsgesinnung. Wo diese Voraussetzungen fehlen, kann trotz demokratischer Institutionen keine Demokratie bestehen. So führt K. v. Schumacher7 über Mexiko aus, daß die formell bestehende Demokratie faktisch Diktatur sein muß, um beim Fehlen jeder Tradition und jedes Staatsgedankens etwas wie Einheit in die bunte und herrschaftshungrige Masse der Indianer, Mestizen, Kreolen und Fremden bringen zu können. Noch ein Beispiel für das "Vorausgesetzte" im internationalen Leben: In der internationalen Politik sind militärische Rüstungen "one of the most formidable tacit elements". Die Schwäche der Rüstungen scheint Schwäche des Staates in den internationalen Beziehungen zu bedeuten. Daß Rüstungen nicht unbedingt nötig sind, sofern andere ebenso bedrohliche "tacit elements" zur Verfügung stehen und angewendet werden können, zeigt die Sowjetunion. Sie kann Totalabrüstung fordern "because she is the first to have evolved an alternative instrument 01 policy ... Her foreign policy being one, needs but one method everywhere, and this method, the fostering of a communistic revolution in every nation, has no need of Russian armaments ... "8. S ß

C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 50. A. Siegfried, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 1928, S. 210.

7 Mexiko und die Staaten Zentralamerikas, in: Aufbau moderner Staaten, Bd. UI, Zürich 1929. Auch erwähnt in AöR 19, S. 132. 8 Madariaga, Disarmament, 1929, S. 5l.

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D. Das positive Recht kann daraufhin geprüft werden, ob und welche Vorkehrungen ergriffen worden sind, um die Verbindung des Rechts mit dem es umgebenden Außerrechtlichen möglichst wirksam herzustellen. Darüber sollen nur wenige Bemerkungen folgen. Diese Vorkehrungen liegen in erster Linie in der Organisation des Gesetzgebungsapparates. Das Individuum, das in der Gesetzgebung mitwirkt, stellt, da es beiden Sphären angehört, die Verbindung her. Je mehr der Kreis der Mitwirkenden sich der Gesamtheit der Bürger annähert, um so vollständiger kommt auch das Außerrechtliche in der Gesetzgebung zur Geltung. Die reine Demokratie scheint in dieser Hinsicht die beste Staatsform zu sein. Allein nicht notwendig. Denn das Maximum dieses Einflusses ist nicht dessen Optimum. Vielmehr besteht bei einem zu weit gesteigerten Einfluß die Gefahr, daß das Recht zur bloßen Funktion des Außerrechtlichen wird und das dem Recht Spezi~ fische (wodurch es die ihm im sozialen Ganzen zukommende Funktion erfüllt), die dialektische Einheit der genannten vier Momente zu sein, zu kurz kommt. Es ist auch möglich, in der Rechtsanwendung die Ambiance mehr oder weniger zur Geltung zu bringen und demgemäß das Recht je nachdem mehr als ein in sich selbst geschlossenes System oder mehr als einen der Faktoren des sozialen Ganzen auszulegen. Einzelne Rechtsgebiete (wie z. B. Prozeßrecht, Wechselrecht) eignen sich mehr für die erste, andere (wie z. B. das Verfassungsrecht) mehr für die zweite Methode der Auslegung. Das kommt gelegentlich auch in der Art der damit betrauten Behörden zum Ausdruck. So hat es einen guten Sinn, die Auslegung verfassungsrechtlicher Normen im Streitfall nicht den ordentlichen Gerichten, sondern einem für solche Fragen geschaffenen Spezialgericht oder sogar den politischen Behörden anzuvertrauen. Denn es kommt hier alles darauf an, die Norm in Verbindung mit der Ambiance zu sehen und entsprechend auszulegen. Vor allem gilt das, wenn die Verfassungsvorschrift neu und wenig präzis ist und ihr Inhalt durch die Entscheidungspraxis allmählich bestimmter gestaltet werden soll. Es war deshalb begründet, wenn die schweizerische Bundesverfassung von 1848 den Entscheid über Beschwerden der Bürger wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte in die Hände der Bundesversammlung, also der gesetzgebenden Behörde legte. Freilich hat sich diese Regelung aus praktischen und organisatorischen Gründen nicht bewährt9 • Die Verfassung von 1874 legte den Entscheid in die Hände des Bundesrates und des Bundesgerichts und die Kompetenz des letzteren ist zuungunsten des ersteren seither immer mehr erweitert worden; das geschah, je mehr sich die von der politischen Behörde inaugurierte Praxis befestigt hatte. Je durchgebildeter das Recht ist, desto g

Dubs, Das öffentliche Recht der schweiz. Eidgenossenschaft H, S. 82.

2 Rehbinder (Hrsg.)

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mehr ist der Ausgleich mit der Ambiance und ihre Einfügung in Begriffe und Systematik des Rechts gelungen, desto leichter kann daher die Anwendung dem Gericht überlassen bleiben. Je weniger fein ausgeglichen das Recht ist, desto mehr muß die Auslegung einer Behörde anvertraut werden, die den Blick für die Ambiance hat und zur Geltung bringen darf. Das Ideal wären Männer, die die Unparteilichkeit des Richters mit dem Weitblick des begabten Gesetzgebers verbänden. E. Die Ambiance des Rechts kann sich im Laufe der Zeit ändern, ohne daß sich das Recht selbst ändert. Aus der dem Recht günstigen, kompensatorischen Ambiance kann eine solche werden, welche der vollen Ausnützung formalrechtlicher Möglichkeiten keinen Widerstand mehr bietet. Das Absterben der Ambiance kann um so leichter geschehen, als diese den meisten nur halb bewußt ist und ihr notwendig ergänzender Charakter zum Recht häufig verkannt wird, weshalb man sie widerstandslos langsam zerbröckeln läßt. Oft auch wird sie absichtlich zerstört; ja es kommt nicht selten vor, daß diejenigen, die an der Aufrechterhaltung einer Rechts- und Sozialordnung selbst interessiert sind, ahnungslos an der Zerstörung der tragenden und ergänzenden Ambiance mithelfen. Aber auch abgesehen von gewollter Zerstörung kann die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Lebensgewohnheiten, der moralischen und religiösen Vorstellungen, zu einem Hinfall der Ambiance führen, mit der Folge, daß im neuen Milieu das alte Recht anders als früher wirkt. Die individuellen Freiheitsrechte zum Beispiel, die unter den früheren Verhältnissen lebensfördernd und Hemmungen lösend zu wirken vermochten, können unter den neuen Verhältnissen zur Ursache kultureller Destruktion werden. Ist ein solcher Zustand eingetreten, so leidet das soziale Ganze; weder im Rechtlichen noch im Außerrechtlichen ist Halt, Sicherheit und Klarheit zu finden. Es sind die nun mangelnden sozialen Strukturelemente, nach welchen ein steigendes Bedürfnis erwacht, damit das soziale Ganze das für seine Existenz notwendige innere Gleichgewicht finde. Diese Strukturelemente, die früher nur halbbewußt waren, dann gänzlich in Vergessenheit gerieten, - obschon sie lange Zeit unterbewußt noch wirksam waren - treten, nachdem ihr Mangel das Ganze in seiner Existenz bedroht hat, in die volle Helle des Bewußtseins; sie werden als Postulat aufgestellt, das nun die vorerst ideelle Kompensation zu der an chaotischer Freiheit leidenden Wirklichkeit darstellt; schließlich werden sie verwirklicht, in der einzigen Form, in der das möglich ist, in der Form des Rechts. Dieses Recht, das Ordnung, Disziplin, Autorität verkörpert, findet seinerseits die Ambiance in der als latente Möglichkeit weiter vorhandenen anarchischen Freiheit. Wie bisher, so geht die Bewegung in formal gleicher Weise weiter. Die maßlose Freiheit, vorerst eine jederzeit realisierbare Möglichkeit, versinkt allmählich - wenn

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sie nie mehr realisiert wird - ins Halbbewußte einer fernen Erinnerung und wird schließlich zu bloßer Geschichte, der jeder Aktualitätswert mangelt, was für die praktische Politik so viel wie Vergessenheit bedeutet. Dann aber fehlt dem autoritären, freiheitsfeindlichen Recht die Kompensation im entgegengesetzten Außerrechtlichen. Die eintretende Erstarrung wird als ein die Existenz und den Fortschritt des Gemeinwesens bedrohender Mangel empfunden. Die Aufmerksamkeit lenkt sich auf das, was dem sozialen Ganzen fehlt: Freiheit, Bewegung, Fortschritt. Und schließlich werden auch diese wieder in der Form rechtlicher Institutionen verwirklicht. Neuerdings stehen anfänglich Recht und Außerrechtliches (das autoritäre Element, das in den Gewohnheiten weiter lebt) in fruchtbarer kompensatorischer Spannung zueinander, bis die Ambiance des Rechts ins Halbbewußte und ins Vergessen versinkt. Darauf muß die Kompensation von der andern Seite her erfolgen, vorerst in der Form des Postulats, sodann als Verwirklichung im Recht. So erscheint das einzelne soziale Strukturelement, das sich im Außerrechtlichen befindet, als in einem Kreislauf begriffen: vorerst im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit stehend, verschwindet es allmählich in der Vergessenheit; die dadurch im sozialen Ganzen eintretenden Störungen lassen den Wunsch entstehen, den Mangel zu beheben, und das geschieht durch Änderung des Rechts. An Stelle der freiheitlichen Staatsordnung tritt eine autoritäre oder umgekehrt. Das Strukturelement, das im Recht verwirklicht ist, (z. B. Freiheit) bleibt unverändert, während das polar entgegengesetzte, im Außerrechtlichen wirkende (Autorität), den geschilderten Kreislauf vollzieht, bis es dann, neuerdings voll bewußt, selbst zum Recht wird und das andere Element, nun in die Ambiance gekommen, in die Bewegung eintritt10 • Was hier skizziert wurde, ist nichts anderes als die seit dem Altertum als "Zyklentheorie" bekannte Lehre von der Aufeinanderfolge der Verfassungsformenl l • Plato hat die Abfolge verschiedener Staatsverfassungen als Phasen eines stufenförmigen Auflösungsprozesses erkannt. Seine psychologische Begründung ist von Polybius und Cicero 1! 10 Man nehme diese Darlegungen als das was sie sind: als schematische Vereinfachungen. Die zu Grunde liegende Erkenntnis läßt sich kaum anders als in Bildern verständlich machen. Vgl. den folgenden Text für eine Einschränkung. - Wilhelm Glungler, Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung, 2. Aufl. 1930, S. 20 ff., gebraucht für eine ähnliche Erscheinung wie die hier geschilderte des Nicht-mehr-übereinstimmens von Recht und Ambiance den aus der Elektrotechnik übernommenen Begriff der Phasenverschiebung. Solche Analogien sind gefährlich, wenn sie mehr sein sollen als Krücken des Denkens, die man möglichst bald beiseite stellt. In dieser Weise sind auch die Ausführungen des Textes zu verstehen. 11 Ihre Richtigkeit wird neuerdings anerkannt von Koellreutter, Artikel Staat im Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. V, S. 595. Vgl. ferner den dort zit. Rich. Schmidt. 12 Cicero, de republica I 29, 44, 45.

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und deren Auffassung wiederum von Macchiavelli übernommen worden, der schreibt: "Die Kraft erzeugt Ruhe, die Ruhe Müßigkeit, diese Unordnung, die Unordnung Zerrüttung, und ebenso entsteht aus der Zerrüttung Ordnung, aus Ordnung Kraft, aus dieser Ruhm und gutes Glück. "13 Freilich darf in diesem Kreislauf nicht eine notwendige Fortbewegung erblickt werden; es ist wohl auch die Auffassung der genannten Autoren, daß es sich lediglich um eine Entwicklungstendenz handelt, die sich dann auswirkt, wenn ihr nicht andere Faktoren entgegenstehen. Auch bleibt die Darstellung der Abfolge als eine solche von Monarchie - Aristokratie - Demokratie im Äußerlich-Organisatorischen stecken. Aber anderseits erhellt aus der gegebenen psychologischen Motivierung die Einsicht in die untrennbare Verschmelzung des Staatlichen und Außerstaatlichen. Und was das kompensatorische Verhältnis dieser beiden Sphären anbetrifft, so ist es besonders von Aristoteles bemerkt worden. In der Tat sieht er die übertreibung des einer Regierungsform zugrunde liegenden Prinzips als Hauptursache jedes Umsturzes an: "Vor allem dieses aber darf nicht übersehen werden, was die entarteten Verfassungen tatsächlich übersehen: die Mitte. Vieles, was volkstümlich scheint, löst die Demokratien auf. Es gibt in der Politik Leute, die das einzige Heil in der übertreibung erblicken und nicht wissen, daß auch die Eigenart einer Verfassung ihre Grenzen hat."14 Außer den großen Umwandlungsperioden, die sich in der Änderung der Staatsform, also des Rechts, äußern können (nicht müssen), gibt es auch Wandlungen innerhalb kürzerer Perioden, die mehr Schwankungen im Außerrechtlichen bedeuten, aber auf der gleichen soziologischen Notwendigkeit beruhen. Hierher gehört der periodische Wechsel zwischen 'einer Rechts- und Linksregierung, wie sie häufig parlamentarisch regierte Länder, wie Großbritannien und Frankreich15 aufweisen. Durch die neue politische Richtung sollen jeweilen die Mängel der bisherigen überwunden werden. Man könnte somit "langweIlige" und "kurzweIlige" Perioden unterscheiden, welch letztere sich innerhalb der ersteren abspielen würden. Freilich scheint es, daß gerade das Balancespiel zwischen den Rechts- und Linksparteien den Umsturz der Staatsverfassung zu verhindern vermag, so daß der Wechsel mit "kurzer Wellenlänge" (der wenig tief greift), sich nicht innerhalb derjenigen mit "langer Wellenlänge" abspielt, sondern an seine Stelle tritt und der Wechsel der regierenden Parteien den Wechsel der Staatsfor'13 Vgl. Dilthey, Gesammelte Schriften, H. Bd., S. 31. P. Janet, Historie de la science politique, I, S. 150 f. U Aristoteles, Politik, V. Buch, 9. Kap. (Deutsche Ausgabe, Verlag Meiner,

S.176). 15

Für letzteres vgl. A. Siegfried, Tableau des Partis en France, 1930, S.

123 ff.

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men zu verhindern vermag. Doch kann diese Frage hier nicht weiter verfolgt werden. Die hier angedeutete Tendenz des Schwankens zwischen polaren Möglichkeiten beschränkt sich nicht auf das Gebiet der Politik, sondern ist im Wesen der menschlichen Psyche tief begründet. Der Drang zur stärkeren Betonung der in einer gegebenen Lage nicht genügend entwickelten Strukturelemente oder Funktionen ist identisch mit dem, was Spranger gelegentlich den "Drang nach dem ungelebten Leben" nennt und woraus er die "Kontrastbewegung der Generationen" herleitet. Es ist der dem Lebendigen innewohnende, sich oft höchst unharmonisch gebärdende Wille zur harmonischen Gestaltung. Da aber die Verwirklichung immer nur mit einer gewissen Einseitigkeit zu gelingen scheint, so sucht das Denken, vorab das polititsche, die Ergänzung in entgegengesetzter Richtung. Es scheint in seinem Hin und Her einem "law of the pendulum" zu folgen 16 • Doch soll damit nicht behauptet werden, daß ein Gleichgewichtszustand, in dem das polar Gegensätzliche dauernd harmonisch vereinigt ist, unmöglich wäre 17 •

16 J. Dickinson, Democratic realities and democratic dogma, The American Political Science Review 24 (1930), S. 283. 17 Die Antike hat die Lösung in der gemischten Staatsform gefunden.

B. Die Entwicklung des Remts aus dem Sozialleben DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DER WIRTSCHAFTLICHEN UND SOZIALEN ENTWICKLUNG DER GESELLSCHAFT UND DER ENTWICKLUNG DES RECHTS Von Walter R. Schluep* WalteT R. Schluep, geboren im Jahre 1928, studierte Nationalökonomie an der Hochschule St. Gallen (lic.oec. 1951) und Rechtswissenschaft an den Universitäten Zürich und Bern (Fürsprecher und Notar 1959). Promotion (mit der Schrift: Die wohlerworbenen Rechte des Aktionärs und ihr Schutz nach schweizerischem Recht, St. Gallen 1956) und Habilitation (mit der Schrift: Das Markenrecht als subjektives Recht, Basel 1964) in St. Gallen. Dort auch Ordinarius für Handels-, Wirtschafts- und Europarecht von 1965 - 1968, von 1968 - 1975 Ordinarius für Zivil- und Europarecht in Bern, seit 1975 Ordinarius für schweizerisches und europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich.

Schluep ist Präsident der eidgenössischen Kartellkommission, Präsident des Instituts für Europäisches und Internationales Wirtschafts- und Sozialrecht an der Hochschule St. Gallen sowie Mitglied des Kuratoriums der MaxPlanck-Gesellschaft in München. Zu seinen wichtigen Werken aus neuerer Zeit zählen der Sammelband: Zum Wirtschaftsrecht, Bern 1978, sowie die Darstellung der Innominatverträge im Handbuch: Schweizerisches Privatrecht VII 1, BaseIlStuttgart 1979. David Guggenbühl

I. Theorie der Realfaktoren im schweizerischen Recht Weder Rechtswissenschaft noch Praxis sind in der Schweiz der Gefahr 'erlegen, das Recht als das sozusagen blinde Ergebnis allgemeiner soziologischer Kräfte aufzufassen. Das gilt zunächst für den berühmten Satz von der normativen Kraft des Faktischen1 • Auch die Lehre Ehrlichs2 , nach der das Recht gleichsam im sozialen Sein fertig vorge'" Auszug aus Recueil de travaux suisses presentes au VIIIe Congres international de droit compare, Basel 1970, S. 41 (45 - 57). I Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914 (Neudruck 1959), 338 ff.

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funden wird, hat kaum schweizerische Gefolgsleute gefunden. Eben deshalb fand zwar die Theorie Duguits vom Recht als "fonction sociale"3 Beachtung, kaum aber Anhang. Das gilt erst recht von der Konzeption des Amerikaners Pound4, wonach des Juristen Aufgabe vorab das "social engineering" wäre. Falsch wäre es, aus Dietrich Schindlers "Verfassungs recht und soziale Struktur" anderes zu lesen. Schindler macht schon in der Einleitung klar, worauf es ihm ankommt: "Sollten nicht gerade die extremen Positionen der normativen und soziologischen Rechtslehre Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung bieten?"5 Diese letzte Frage wird später bejaht, indem Schindler sich zur "dialektischen" Gestaltung des Rechts bekennt, worunter er versteht: "Die soziologischen und normativen ,Elemente' oder ,Faktoren' des Rechts müssen in dem oben näher dargestellten Sinn als ,Momente' in dem dialektisch gefaßten Begriff des Rechts verstanden werden. Das Recht ist die Einheit in der Gegensätzlichkeit dieser Momente."jI Mit dieser Einsicht Schindlers ist die schweizerische Grundhaltung charakterisiert, wie immer man sie begründen und chiffrieren mag 7 : Allemal gilt als ausgemacht, daß das Geistige des Rechts (die Idealfaktoren) Erfüllung erst findet in der Vermählung mit der Wirklichkeit (den Realfaktoren). Dieser Bund von Idee und Stoff schließt Herrschaft des einen über das andere aus. Die Idee erhält ihre Züge ebenso vom Stoff, wie der Stoff seine geistige Ordnung intendiert. Bleibt lediglich darzustellen, in welcher theoretischen Gestalt (und damit individuellen Ausprägung) das Leitmotiv in der schweizerischen Lehre erklingt. 1. Auf dem Gebiet des Verfassungs rechts darf nochmals auf die eben erwähnte dialektische Methode Schindlers hingewiesen werden. Ergebnis dieser Betrachtung ist die Erkenntnis Schindlers, daß Recht und Außerrechtliches im Parallel- und Komplementärverhältnis stehen können. Originell und wohl auch spezifisch schweizerisch bleibt die fein2 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München/Leipzig 1913, 172. - Zum Zusammenhang mit der Freirechtsschule: Riebschläger, Die Freirechtsbewegung, Berlin 1968. 3 Duguit, Les transformations generales du droit prive depuis le Code Napoleon, 2. Aufl., Paris 1920. ( Pound, Jurisprudence, St. PaullMinn. 1959, Bände 1 - 5. Ebenso ist die amerikanische Schule des sogenannten Realismus in der Schweiz kaum aufgenommen worden; vgl. dazu Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, Berlin 1967; Llewellyn, Eine realistische Rechtswissenschaft - der nächste Schritt, in Hirsch / Rehbinder, Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 1967, 54 ff.; Vischer, Die Kritik an der herkömmlichen Methode des internationalen Privatrechts, in FS Germann 1969, Bern 1969, 287 ff. S Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 4. Aufl., Zürich 1967, 3. 6 Schneider, ebd. 16. 7 Vgl. Mengiardi, Strukturprobleme des Gesellschaftsrechts, ZSR 1968 Ir, 45 ff.

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sinnige Lehre Schindlers von der Bedeutung der Ambience für das Rechts. Die gegenseitige Durchdringung von Wirklichkeit und Norm betont auch die heute tätige Generation unserer Verfassungsrechtlert • Weiter geht Richard Bäumlin10 , der das Recht vom geschichtlichen Vollzug her ergründen und auf diesem Weg die Dichotomie von Sein und Sollen überhaupt überwinden will. 2. Im Zivilrecht ist es namentlich die Entwicklung der Interessenjurisprudenz zur Wertjurisprudenz l1 , die das Leitmotiv wieder erkennen läßt. Es gehört zum Rüstzeug des modernen Juristen nicht nur als Richter, sondern besonders auch als Gesetzgeber, die beteiligten Interessen zu analysieren. Vor allem beherrscht das Interessendenken die Auslegung und die richterliche Rechtsfindung (nach Art. I Abs. 2 und 3 ZGB). Dort findet es seinen theoretischen Ausdruck in der Forderung nach der Beachtung teleologischer und soziologischer Elemente der Auslegung 12 • Zweckforschung verlangt nämlich nach auch heute noch gültiger Methodenlehre vorgängig Interessenklärung. Insoweit ist die Veränderung wirtschaftlicher und sozialer Interessen im Sog wirtschaftlicher und sozialer Geschehnisse zu berücksichtigen; wäre es auch nur, um den Wandel der Normsituation zu belegen. Erweist solche Interessenforschung eine gegenüber dem Zeitpunkt der Gesetzgebung veränderte Normlage, so steht und fällt der Einfluß der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung mit der weiteren Frage: Ob trotz veränderter Interessenlage gültig bleiben muß, was vordem war; oder ob im vornherein objektiv-zeitgemäß zu verfahren und daher dem Wandel Rechnung zu tragen aufgegeben ist. Darüber besteht in der Lehre keine Einmütigkeit 13• Die Praxis aber ist in der Frage eklektisch im Sinne eines nicht immer überzeugenden Pragmatismus14 • 3. Weit über die Grenzen der Schweiz hinaus hat sich die Lehre Eugen Hubers15 von den Realien der Gesetzgebung durchgesetzt. Mensch, Siehe in diesem Band S. 11 - 21. In willkürlicher Auswahl: Imboden, Die Staatsformen, BaseIlStuttgart 1959 (Verpflichtung zu "konstitutionellem Realismus"); (Hans) Huber, dessen Gesamtwerk hier anzuführen wäre; Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945. 10 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, Zürich 1961, 38; nach Bäumlin ist die Überwindung der Gegenüberstellung des "Juristischen" und des "Soziologischen" auch das Anliegen Burckhardts (Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl., Zürich 1944, 171 ff.). 11 Vgl. Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz, Bad Homburg vor der Höhe/Berlin/Zürich 1967. 12 Dazu Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Einleitungsband, Art. I N. 192 ff. 13 Dazu Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheorien, in FS Germann 1969, Bern 1969, 257 ff.; Meier-Hayoz, ebd. Art. I N. 154. 14 Vgl. die ausführlichen Nachweise bei Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlautes, Winterthur 1960, 199 ff. 15 Recht und Rechtsverwirklichung, Basel 1921, 281 ff. B

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Naturalien und überlieferung sind nach Huber die drei großen Realitäten, denen sich der Gesetzgeber gegenübergestellt sieht: "Die Realien aber stellen sich uns als die tatsächlichen Verhältnisse, als die realen Mächte dar, mit denen unter jeder menschlichen Vergesellschaftung gerechnet werden muß." W'er eben im Recht eine soziale OrdnungsmachV' sieht, muß sich zwangsläufig mit dem Sozialen befassen. Daher fordert Jacob Wackernagel17 zur Frage heraus: "Aus welchen im sozialen Bereich liegenden Gründen sah dieser (sc. der Gesetzgeber) sich ver anlaßt, gewisse Gestaltungen des Eherechts, des Erbrechts oder des Schuldrechts gesetzlich festzulegen, welche zum Beispiel von den entsprechenden Regelungen anderer Rechtsgemeinschaften abweichen?" Und Germann18 stellt fest: "Kenntnis wirtschaftlicher Tatsachen und Verständnis für die soziologischen Zusammenhänge ganz allgemein können als ,Realien', wie für den Gesetzgeber, auch für den Richter bei seiner ergänzenden Rechtsfindung sehr bedeutsam sein ... " 4. Der Aufruf zur Beachtung der Wirklichkeit macht auch den Kern der Lehre von der "Natur der Sache" aus. Die Bedeutung des Prinzips ist in der Schweiz namentlich von Gutzwiller 19 , Stratenwerth20 , MeierHayoz21 und Ballweg22 ausgebreitet worden. Auszugehen ist vom klassischen Satz Dernburgs23. "Die Lebensverhältnisse tragen ... ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache. Auf sie muß der denkende Jurist zurückgehen ... " Gutzwiller2' hat zutreffend die Gefahr allen "Schließens" aus der "Natur der Sache" vermerkt: tautologische und erschlichene Ergebnisse. Endlich aber ist Gutzwiller die hier durchschlagende Einsicht zu danken, daß die soziale und wirtschaftliche Natur stetem Wandel unterworfen ist und daß die "Natur der Sache" mehr als ein Hilfsmittel der Auslegung und der Lückenfüllung nicht sein kann 25 . Nach diesem 16 Merz, Das Recht als soziale Ordnungsmacht, Berner Rektoratsrede, Bern 1964. 17 über rechtssoziologische Betrachtungsweise, insbesondere im Völkerrecht, in diesem Band S. 165 - 173. 18 Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl., Bern 1967, 161; ders., Grundlagen der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., Bern 1968, 104; vgl. auch Egger, über die Rechtsethik des Schweiz. Zivilgesetzesbuches, Zürich 1950, 22 ff. 19 Gutzwiller, Zur Lehre von der "Natur der Sache" (1924), in ders., Elemente der Rechtsidee, BaseIlStuttgart 1964, 134 ff. 20 Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der Natur der Sache, Tübingen 1957. 21 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, Zürich 1951, 112 f. und 202; ders. (N. 12) Art. I N. 387 ff. 22 Ballweg, Zu einer Lehre von der Natur der Sache, Basel 1960. 23 Dernburg, Pandekten, 6. Aufl., Berlin 1900, Band I, 84; vgl. im übrigen auch Liver, Der Begriff der Rechtsquelle, ZBJV 91 bis (1951), 27. 24 N. 19, S. 21. 25 Ebd. S. 29.

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Verständnis kommt dem Grundsatz der Charakter einer Rechtsquelle nicht zu. Das steht im offenkundigen Gegensatz zur modernen ontologisch-naturrechtlichen Konzeption des Prinzips. Zunehmend sieht man nämlich in der Sache "entelechiale Kräfte"26, die angeblich von selbst zu einer Ordnung drängen, welche es bloß zu erkennen und im Rechtssatz nachzuvollziehen gelte. 5. In diese Richtung zielen namentlich die Erörterungen von Hans Welzel27 , wonach die "sachlogischen Strukturen" des Rechtsstoffes Vorbilder für die Gestaltung des Rechtsinhaltes sind. Offen bleibt freilich, ob die Erkenntnis solcher Strukturen den Gesetzgeber geradezu verpflichte. Das scheint Welze128 zu bejahen, wenn er von bleibenden Ergebnissen des Naturrechts im ontologischen Randgebiet redet: "Unabhängig vom Streit und den Zweifeln über die materialen Wertfragen bestehen bestimmte ontologische Grundverschiedenheiten, an die jede denkende Wertung gebunden ist und die darum jeder Wertung feste Grenzen setzt. Duns Scotus' Satz, daß Gott wohl Judas, aber nicht einen Stein hätte selig machen können, bezeichnet einen solchen essentieUen Sachverhalt." 6. Vorgegeben sind dem Recht auch die Institutionen. Hauriou 29 und Renard 30 haben den Institutionalismus begründet. Die Institutionen sind zunächst rein habituell gefügt, schlagen aber später vielfach "ins Normative" um31 • Dann entstehen Rechtsinstitute. Deren Sinn voll zu erfassen ist nur möglich unter Rückgriff auf das vorrechtliche Ordnungsgefüge. Auch hier ist aber zu fragen, ob diese tatsächlichen Organisationen bloß vorgeformter Stoff, also Material des Rechts, oder Auftrag zur Transposition der in der Anlage vorgefundenen Struktur ins Rechtliche seien. Insoweit berührt sich die Institutionstheorie mit Carl Schmitts konkretem Ordnungsdenken32 . In der Schweiz hat der Institutionalismus - abgesehen von einigen Ansätzen in der handelsrechtDazu Fechner, Rechtsphilosophie, Tübingen 1956, S. 149. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1955, 178 ff. und mit ihm Stratenwerth (N. 20) und Ballweg (N. 22). 28 Ebd. S. 197. 29 Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung, Berlin 1965. lVIaurice Hauriou definiert: "Eine Institution ist eine Idee vom Werk oder vom Unternehmen, die in einem sozialen Milieu Verwirklichung und Rechtsbestand findet. Damit diese Idee in die konkrete Tatsachenwelt umgesetzt wird, bildet sich eine Macht aus, von der sie mit Organen ausgestattet wird. Zwischen den Mitgliedern der an der Durchsetzung der Idee beteiligten sozialen Gruppe ergeben sich unter der Oberleitung der Organe Gemeinsamkeitsbekundungen, die bestimmten Regeln folgen" (S. 34). 30 Renard, La philosophie de l'institution, Paris 1939. 81 Dazu ausführlich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München! Berlin 1964, 260 ff. S2 Schmitt, über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1936; auch Vorwort zur 2. Auf!. von Gesetz und Urteil, München 1969. 28

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lichen Literatur des französischen Landesteils33 gefunden.

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kaum Gefolgschaft

7. Ausgiebig und auf verschiedenen Feldern hat sich dagegen die schweizerische Lehre mit der Denkform des Typus befaßt3 4 • Auch der Typus ermöglicht als sogenannter Lebenstypus wirklichkeitsbezogenes Rechtsdenken. Pet er Jäggi hat die Diskussion eröffnet mit dem Postulat der typgerechten Auslegung im Aktienrecht 35 • Mannigfache terminologische Mißverständnisse36 haben in der Folge die Diskussion erschwert. Während die Typologie von einer Seite kategorisch abgelehnt wird37 , halten andere an ihrer Bedeutung für den Gesetzgeber und den Rechtsanwender 38 fest. Relevant ist hier namentlich die These, atypische Sachverhalte seien auch dann nicht nach der am Typus ausgerichteten Regel zu beurteilen, wenn die formale Subsumtion an sich möglich wäre. Das hat zur Folge, daß der Bereich der Lückenfüllung erweitert wird und neue wirtschaftliche und soziale Entwicklungen durch richterliches Recht geordnet werden können. 8. Neuestens hat Alois Troller39 die Phänomenologie Edmund Husserls in origineller Weise nutzbar gemacht, um die Verschränkung von Recht und Wirklichkeit sichtbar zu machen. Anders als Reinach40 handelt Troller nicht vorab von den transzendentalen (apriorischen) Rechts33 Zumstein, Du caractere institutionnel de la soch§te anonyme, Diss. Lausanne 1954; vgl. auch du Pasquier, Introduction a la theorie generale et ä la philosophie du Droit, 4. Aufl., NeuchätellParis 1967, 256 ff. 34 Jäggi, Ungelöste Fragen des Aktienrechts, SAG 1958/59, 65 ff.; Bär, Grundprobleme des Minderheitenschutzes in der Aktiengesellschaft, ZBJV 1959, 369 ff.; ders., Aktuelle Fragen des Aktienrechts, ZSR 1966 H, 326 ff.; Secretan, L'etendue de la liberre de choix entre les diverses corporations de droit prive, ZBJV 1960, 173 ff.; Bäumlin, Strukturprobleme der schweizerischen Demokratie der Gegenwart, ZBJV 1961, 81 ff.; Koller, Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht, Freiburg 1967; Jolidon, Problemes de structures dans le droit des societes, ZSR 1968 H, 429 ff.; Mengiardi, ZSR 1968 II, 17 ff.; Wohlmann, Die Treuepflicht des Aktionärs, Diss. Zürich 1968; Schluep, Schutz des Aktionärs auf neuen Wegen, SAG 1960/61, 137 ff.; ders., Die methodologische Bedeutung des Typus im Recht, in FS Max Obrecht, Solothurn 1961. Vgl. im übrigen Zippelius, Die Verwendung von Typen in Normen und Prognosen, in FS Karl Engisch, Frankfurt1M. 1969, 244 ff. 35 Jäggi, ebd. 3G Manche Klarstellung bringt Koller (N. 34), 11 - 57. 37 Jolidon, ZSR 1968 II, 544 ff.; zurückhaltender Schluep, Typus (N. 34), 14. 38 Vgl. die übrigen in Anm. 34 genannten Autoren. 39 Troller, überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt/M./ Berlin 1965. 40 Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, München 1953. - Völlig anders ist auch der Ansatz von Amselek, Methodes ph(momenologiques et theorie du droit, Paris 1964, den die phänomenologische Reduktion zu einer rein normativen Rechtslehre führt. - Vgl. zum ganzen Problem Elisabeth Hruschka, Die phänomenologische Rechtslehre und das Naturrecht, Diss. München 1967.

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strukturen, sondern primär von der Lebenswelt. Gegenstand der eidetischen Reduktion ist daher das "Vorgegebene", zu dem Troller freilich neben Menschen und Sachen auch rechtliche Einrichtungen und sogar die Rechtstechnik zählt. Das Wesen der Dinge ist bei Troller Entwurf ihrer Ordnung: "Die Rechtsordnung steht als Willensordnung unter dem Wesensgesetz des zu Ordnenden und ist von den Voraussetzungen seiner Existenz abhängig."41 Von absoluter Abhängigkeit spricht Troller, "soweit der Wille des Gesetzgebers und der Wille des Gesetzesunterworfenen an der vorgegebenen Seins- und Existenzgrundlage nichts zu ändern vermögen"42. Demgegenüber ist die Abhängigkeit relativ zwingend, wenn die Adressaten zu einem an sich möglichen, aber ihrem Wesen und ihrer Existenzform widersprechenden Verhalten gezwungen werden 43 •

11. Einfallstore der Realfaktoren Die wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit ist somit nach der herrschenden schweizerischen Rechtstheorie zwar nicht norm be stimmend, aber doch normrelevant. An diese Feststellung schließt sich die Frage, wie sich diese Verschmelzung von Sein und Sollen rechtstechnisch vollzieht. Die Antwort muß notwendig Art. I ZGB folgen 44 • 1. Vorab ist es mithin Sache des Gesetzgebers, die wirtschaftlichen und sozialen Fakten in ihrer Eigenart zu erfassen und die ihnen "gemäße" Regel zu setzen. Daher sind zunächst die Gesetze (und die ratifizierten völkerrechtlichen Verträge) daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit vorrechtliche Verhaltensentwürfe wirtschaftlicher und sozialer Art normrelevant sind. Folgerichtig gerät daher vorwiegend der Norminhalt 45 ins Blickfeld. Man darf aber darob die organisatorischen Eigenheiten nicht übersehen. Namentlich gewährt das moderne Gesetzgebungsverfahren mit der vorgeschalteten Vernehmlassung der wirtschaftlichen und sozialen Organisationen rein formal die ständige Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Gesichtspunkte 46 . Von her-

Troller (N. 39), 73. Ebd. 43 Methodisch fordert die in der Schweiz gerne angerufene (vgl. etwa Bäumlin [N. 34], 27 ff. und Schluep, Was ist Wirtschaftsrecht?, FS Walther Hug, Bern 1968, 93 ff.) Topik (Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 2. Aufl., München 1965) den Beizug auch realistischer Gesichtspunkte. 44 Dazu ausführlich Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Einleitungsband, Art. I ZGB. 45 Die Theorie hat einen eigenen Terminus geprägt: Maßnahmegesetz; vgl. dazu Schluep, Was ist Wirtschaftsrecht? (N. 43), 86 ff.; Bäumlin (N. 34), 13 und öfter. 48 Dazu Hug, Zur Praxis der Bundesgesetzgebung in der Schweiz, in FS Germann 1969, Bern 1969, 110 ff., namentlich 114 ff. (zu Art. 32 Abs. 2 und 3 41

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vorragender Bedeutung für das Sozialrecht ist aber vor allem - wiederum formal gesehen - die besondere Rechtsquelle des allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrages. 2. Kaum einmal sind Gesetze so transparent, daß ihr Sinn am bloßen Wortlaut offenkundig würde. Erforderlich ist daher allemal Auslegung durch den Rechtsanwender. Auslegung ist aber wie die Gesetzgebung ein wichtiges Einfallstor wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen in den Bereich des Rechtlichen47 • Äußerste Grenze bleibt freilich der Wortlaut48 • Diese Schranke fällt, wenn der Wortlaut unbestimmt (mit weitem Begriffshof und fehlendem oder jedenfalls sehr engem Begriffskern) ist. Mit bloßer Auslegung und Sinnentfaltung ist hier nicht voranzukommen. Es liegen Lücken intra legem49 vor, von denen weiter unten zu handeln ist. 3. Art. lAbs. 2 ZGB stellt dem Richter neben dem ausgelegten Gesetz das Gewohnheitsrecht als zweite Rechtsquelle zur Verfügung. Weil die erste Voraussetzung allen Gewohnheitsrechts longa consuetudo bleibt, können wirtschaftliche und sozial motivierte Verhaltensweisen BV, Art. 34 ter Abs.4 BV sowie zu Art. 22 bis Abs. 2 BV, Art. 27 ter Abs. 2 BV, Art. 27 quater Abs.4 BV, Art. 45 bis Abs. 2 BV). Dazu auch Hans Huber, Die Anhörung der Kantone und Verbände im Gesetzgebungsverfahren, ZBJV 1959, 249 ff.; Flückiger, Die Anhörung der Kantone und Verbände im Gesetzgebungsverfahren, Diss. Bern 1968. Vor allem aber Eichenberger, Rechtssetzungsverfahren und Rechtssetzungsformen in der Schweiz, ZSR 1954 laff.; Fleiner, Die Verbände in unserer Demokratie, ZSR 1969 I, 77 ff. (7 Zur schweizerischen Auslegungstheorie vgl. Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber (N. 21); ders., Berner Kommentar (N. 12) Art. I; Burckhardt, Methode und System des Rechts, Zürich 1936, 241 ff., namentlich 270 ff.; Du Pasquier (N. 33), 181 ff.; Deschenaux, Schweizerisches Privatrecht 11, Basel! Stuttgart 1967, 73 ff.; Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung (N. 18), 47 ff.; Stratenwerth (N. 13), 258 ff.; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre ,2. Aufl., 133 ff. - Vom Wirtschafts recht her ist ein das teleologische Element weit überholendes funktionales Element bei der Auslegung gefordert; dazu Schluep, Was ist Wirtschaftsrecht? (N. 43), 94, wo verlangt wird, daß das funktionale Element vor allem bei Gleichklang mit anderen Elementen Konkretisierungsfunktion haben soll. Auslegungsaporien führen aber selbstverständlich nicht ohne weiteres zur Hintansetzung echter Privatrechtsgesichtspunkte. Vgl. dazu Schluep, Das Markenrecht als subjektives Recht, Basel 1964, 119 ff., namentlich 121 ff. 48 Das mit Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, 304) wohl entgegen der herrschenden Lehre, welche auch Sinnermittlung gegen den möglichen Wortlaut noch zur Auslegung zählt; dazu Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung (N. 18), 108; vgl. auch MeierHayoz (N. 12), Art. I N. 137 ff. Nach der im Text vertretenen Auffassung wäre zu unterscheiden zwischen Auslegung, freier Sinnermittlung und freier Rechtsfortbildung. Freie Sinnermittlung wäre dann zwar nicht mehr Auslegung ,aber auch nicht Lückenfüllung modo legislatoris. Es handelte sich gleichsam um ein Ausziehen der vorgefundenen Wertstruktur über den Wortlaut hinaus. Vgl. auch Burckhardt (N. 47), 280. 49 Vgl. dazu namentlich Meier-Hayoz, Lücken intra legern, FS Germann 1969, Bern 1969, 149 ff.; dagegen: Deschenaux (N. 47), 98.

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unmittelbar zum Rechtssatz werden, wenn die allgemeine Rechtsüberzeugung (opinio necessitatis) sie trägt 50 • 4. Kann der Richter dem Gesetz eine Regel nicht entnehmen und ist qualifiziertes Schweigen auszuschließen, so liegt eine (echte) Lücke praeter legern vor. Solche Lücken 51 sind nach der Weisung des Art. I Abs. 2 und 3 ZGB modo legislatoris zu schließen, wobei der Richter "bewährter Lehre" und "überlieferung" zu folgen hat. Anders als bei der Gesetzgebung sind Rechtswissenschaft und überlieferung hier in jedem Fall zu konsultieren. Ähnliche methodische Probleme wie Lücken praeter legern stellen Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, die dem Richter einen derart ungebundenen Konkretisierungsweg öffnen, daß die formelle Auslegung materiell zur Rechtsfindung wird. Nach schweizerischer Lehre sind solche "Durchgangslücken"52 (als besondere Erscheinungsform der sogenannten Lücken intra legern) modo legislatoris zu schließen, soweit das Gesetz nichts anderes anordnet. Eine solche abweichende Regelung trifft Art. 4 ZGB53, wonach gewisse Durchgangslücken nach Recht und Billigkeit, das heißt in Ansehung aller (somit auch wirtschaftlicher und sozialer) Umstände des Einzelfalles zu schließen sind. 5. Wirtschaftliche und soziale Strömungen können Verkehrssitte werden, ohne daß sie sich zu Gewohnheitsrecht verdichten. Im wirtschaftlichen Bereich sind es die Usanzen, die teils kraft Verweisung Gesetzesrang haben oder doch als vereinbarter Vertragsinhalt - mitunter mit internationaler Geläufigkeit - gelten.

6. Rechtswissenschaft ist - abgesehen von ihrer Funktion im Rahmen der Lückenfüllung - nicht "authori1;y" im Sinne des anglo-amerikanischen Rechts. Immerhin ist ihr Einfluß auf Gesetzgebung und Auslegung unverkennbar. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang namentlich an die jährlichen Referate im Rahmen des Schweiz. Juristenvereins. Es muß freilich beigefügt werden, daß die Grundhaltung der schweizerischen Rechtslehre gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Änderungen eher zurückhaltend und bewahrend als dynamisch ist. Dem ist besonders dort beizupflichten, wo wirtschaftliche Entwicklungen ihrerseits Abklatsch technischer Erfordernisse sind und auf Kosten elementarer Persönlichkeitsgüter wie Gesundheit, Ruhe und Privatsphäre gehen. 7. Das schmiegsamste Institut, wirtschaftliche und auch soziale Veränderungen ins Recht umzusetzen, bleibt die Privatautonomie als Quelle Zum Gewohnheitsrecht: Meier-Hayoz (N. 12), Art. I N. 141 ff. Zum ganzen Problem Meier-Hayoz, ebd. N. 144 ff.; Germann (N. 48), 111ff. 52 Dazu Merz, Berner Kommentar, Einleitungsband, Art. 2 N. 42 ff. 53 Dazu Meier-Hayoz (N. 12), Art. 4 N. 11 ff. 50 51

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rechtsgeschäftlicher Individualnormen. Vor allem ist hier auf die Gesamtvereinbarungen54 und die zunehmend verbreiteten Formularverträge mit sogenannten allgemeinen Geschäftsbedingungen hinzuweisen, di:e weite Bereiche des wirtschaftlichen Verkehrsrechts praktisch normieren. Demgegenüber wird im Bereich des wirtschaftlichen Organisationsrechts allgemein ein numerus clausus der Gesellschaftsformen55 angenommen. Doch dürfen diese Formen im Rahmen des dispositiven Rechts umgebaut werden56 , was zum oben angedeuteten Problem der atypischen Sachverhalte führt. III. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Schweiz 1. Die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz läßt sich kurz charakterisieren als Vollzug des industriellen Produktionssystems mit maximierter Arbeitsteilung und technokratischer Struktur, wachsender Tendenz zur Konzentration, als Wandel zur sogenannten Konsumgesellschaft mit ausgeprägtem Massenkonsum, als Verschränkung von Staat und Wirtschaft mit ausgreifendem staatlichen Produktions- und Konsumbereich (namentlich zur Verbesserung der Struktur, aber auch zur Füllung von Produktionslücken und zur Ergänzung des Koordinationssystems sowie zur Steuerung des Wachstums bei optimaler Geldwertstabilität). Kennzeichnend ist eine rationalistische und utilitaristische Grundhaltung mit Diesseitsneigung, blindem Glauben an den wissenschaftlichen und namentlich technischen Fortschritt, aber auch mit Entfremdung des Einzelnen, Funktionalisierung des Daseins, Abwertung religiöser und kultureller Bedürfnisse und mit einer über alle Stränge schlagenden Betriebsamkeit und Genußfreude. Ferner ist zu vermerken die Legion von Gruppenorganisationen zur Wahrung gruppenspezifischer Interessen (ohne weltanschauliche Annäherung der Glieder und ohne Klassencharakter), die Rückkehr vom Kontrakt zum Status also57, aber gleichermaßen eine allgemeine Bewußtwerdung dessen, was man die soziale Frage heißt. Es handelt sich durchwegs um Merkmale, welche die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz mit jener anderer spätkapitalistischer Staaten teilt. Die Diagnose ist oft ge54 Dazu vor allem Nawiasky (N. 47), 79 ff. Natürlich sind solche Gesamtvereinbarungen nur in sehr beschränktem Sinne privatautonome Gebilde. Nawiasky zählt sie daher zu den materiellen Gesetzen. Vgl. dazu auch Hans Huber, Die Bedeutung der Grundrechte für die sozialen Beziehungen unter den Rechtsgenossen, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, 259 ff., 269 f. 55 Vgl. dazu Mengiardi, ZSR 1968 H, 17 ff. 58 Dazu Koller (N. 34), 107 ff. 51 Dazu namentlich Rehbinder, Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, in Hirsch / Rehbinder (N. 4), 197 ff.; Friedmann, Recht und sozialer Wandel, Frankfurt/M. 1969.

Entwicklung der Gesellschaft und des Rechts

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stellt worden, so daß hier ein Verweis genügt58 • Zu diesen allgemeinen Symptomen kommen hausbackene: die Not etwa des schweizerischen Einzelhandelsgewerbes angesichts der (Konsum-)Genossenschaftskonzerne, das Kreuz der landwirtschaftlichen überschüsse, die Bodenschmelze, die Mystifikation der Unternehmenskonzentration, der Glaube an die offene Türe im Außenhandel, der widersprüchliche Zwang, mit immer weniger Leuten pausenlos mehr herzugeben und dergleichen mehr. 2. Auch die soziale Entwicklung 59 lehrt, daß innerhalb der ideologisch getrennten Hälften dieser Erde erstaunlich viel Gleichklang zu vernehmen ist. Sicherheit (polar zur Entwurzelung) und soziale Gerechtigkeit (polar zur Leistungseuphorie) als Ziele; Einkommensschichtung sowie Ordnung der Arbeitsentgelte und der Arbeitsbedingungen als Mittel: das zieht wie ein roter Faden durch die westlichen Industriestaaten. Es geht das Schlagwort um vom sozialen Rechtsstaat. Sozialpolitik ist eine genuin rechtliche Unternehmung, weil Umschichtung von Einkommen immer auch Verlierer und damit einen Konflikt der Interessen bringt. Die moderne Sozialpolitik ist wie das Leben überhaupt in die neue Problematik des zunehmenden Wohlstandes geraten. Vielfach stellen sich Fragen nicht der Sozialleistung, sondern der Frei58 Vgl. Friedmann, ebd.; Hoselitz, Wirtschaftliches Wachstum und sozialer Wandel, Berlin 1969; Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 5./6. Aufl., Neuwied und Berlin 1967; Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, M9,nchen/ Zürich 1968; ders., Gesellschaft im überfluß, München/Zürich 1963; Aron, Die industrielle Gesellschaft, Fischer-Bücherei, Frankfurt/M./Hamburg 1964; Savatier, Les metamorphoses economiques et sociales du droit prive d'aujourd'hui, Bände 1 - 3, Paris 1959/1964; Ripert, Aspects juridiques du capitalisme moderne, Paris 1946; Flintner, Die Geschichte der abendländischen Lebensformen, München 1967, 324 ff. - Zwei markante Positionen sind herauszuheben: einmal der vom neuen Marxismus, besonders aber von Marcuse mit klarem Blick erkannte Zug, den Einzelmenschen durch das industrielle System in Pflicht zu nehmen und - damit verkettet - die materielle Freiheit auszuhöhlen, zugleich die formalen Aspekte dieser Freiheit zu glorifizieren und den Menschen zur Adoption des Systems zu bringen. Die Schlußfolgerungen Marcuses freilich, wonach zum Neuaufbau ab nihilo zu blasen ist, traut dem System zuviel, dem Menschen jedoch zu wenig zu. Neben Marcuse verdient Galbraith Erwähnung, weil er - mit "Gesellschaft im überfluß" nicht anders als mit "Die moderne Industriegesellschaft" - pointierend aufreißt, was zumindest Zug der Zeit ist. Die überraschenden Ergebnisse - zwar auf die USA zugeschnitten, aber auch hierzulande im Keim lassen sich schlagwortartig zusammenfassen: Technostruktur der Unternehmung (Dominanz der Spezialisten über das Management), autonome Planung der Unternehmung auf dem Markt, Wachstum statt Gewinnstreben, Selbstfinanzierung, Entmachtung der Aktionäre, Lenkung der Nachfrage durch Manipulation der Verbraucher, Zielkonsens durch Identifikation und Adaption der Gruppen, Schwächung der Gewerkschaften als Folge der Verbrüderung auf dem Arbeitsmarkt, Globalsteuerung der Wirtschaft und endlich Vermählung der Wirtschaft mit dem Staat. 59 Dazu vor allem Liefmann-Keil, Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1961, 6 ff.

3 Rehbinder (Hrsg.)

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zeit und des Urlaubs, die aber mit der Möglichkeit der Überstunden doch wieder - freilich nun individuell - gegen (Sozial-)Einkommen ausgehandelt werden könnenoo . Ferner ist auf den zunehmenden Anteil freiwilliger Einkommensumschichtungen im Rahmen der stiftungsrechtlichen Privatfürsorge hinzuweisen. Vor allem aber wird Sozialpolitik mehr und mehr zur Sozialinvestition, will sagen zur Befriedigung von Kollektivbedürfnissen (Spitäler, Altersheime, Ausbildungsstätten usw.) durch Einsatz allgemeiner Mittel. Insoweit setzt sich in der Schweiz die Tendenz durch, Leistungseinkommen durch Sozialeinkommen und Sozialnutzungen abzusichern und damit eine Art von Eigentumsersatz ohne vorgängigen Konsumverzicht zu schaffen. Im Blick auf das Arbeitsverhältnis ist auf die überragende Bedeutung der Arbeitsmarktorganisation in Gestalt des bilateralen Monopols hinzuweisen, wobei sich die Gewerkschaften durch ausgeprägten Willen zur staatspolitischen Verantwortung ausgezeichnet haben. Noch völlig offen ist in der schweizerischen Sozialwirklichkeit die Frage, ob und in welchen Formen Arbeitnehmer an einer neuen Unternehmensverfassung überhaupt, an der Einführung der Mitbestimmung im besonderen, interessiert sind. (Es folgen unter IV. Ausführungen über den Einfluß dieser Entwicklung auf das schweizerische Recht.)

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Dazu Liefmann-Keil, ebd. 405 ff.

c. Die Soziologie der Gesetzgebung DIE REALIEN DER GESETZGEBUNG Von Eugen Huber* Eugen Huber, als jüngstes von fünf Kindern eines Arztes am 13. Juli 1849 geboren, verbrachte seine Jugendjahre in Stammheim (Kanton Zürich). Nach dem Tode seines Vaters im Dezember 1862 siedelte er zusammen mit seiner Familie nach Zürich über. Dort begann er auch sein Rechtsstudium, das er in Berlin fortsetzte und mit einer Zürcher Dissertation über die schweizerischen Erbrechte in ihrer Entwicklung seit der Ablösung des alten Bundes vom deutschen Reich im Jahre 1872 beendete. Anschließend arbeitete er als Journalist bei der Neuen Zürcher Zeitung. Im Jahre 1877 trat er dort als Chefredaktor zurück, übernahm das Amt eines Verhörrichters in Trogen (Appenzell a. Rh.) und bereitete sich auf eine wissenschaftliche Laufbahn vor, die er im Jahre 1881 als Professor für Bundesstaatsrecht, kantonales Zivilrecht und Rechtsgeschichte an der Universität Basel begann.

Im Jahre 1884 beauftragte ihn der schweizerische Juristenverein mit der vergleichenden Darstellung des gesamten schweizerischen Privatrechts. Zwischen 1886 und 1893 erschien sein vierbändiges Werk "System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts", welches zur wissenschaftlichen Grundlage der Vereinheitlichung des schweizerischen Privatrechts wurde. 1888 folgte Huber einer Berufung an die Universität Halle und lehrte dort deutsche Rechtsgeschichte und deutsches Staatsrecht. Vier Jahre später, 1892, kehrte er in die Schweiz zurück und übernahm an der Universität Bern den Lehrstuhl für eidgenössisches und bernisches Privatrecht. Noch im selben Jahr erhielt er vom Bundesrat den Auftrag zur Ausarbeitung des Entwurfes für ein einheitliches Zivilgesetzbuch. Er steuerte diesen seinen Entwurf durch alle Stadien der parlamentarischen Beratung - er selbst gehörte von 1903 bis 1911 dem Nationalrat an -, bis er am 10. Dezember 1907 von der Bundesversammlung angenommen wurde. Seine "Erläuterungen zum Vorentwurf des schweizerischen ZGB" (190112, 2. Auf!. 1914) stellen sein zweites wichtiges Werk dar 1 • Im Zentrum von Hubers juristischem Schaffen stand immer das Privatrecht. In seinem letzten Lebensjahrzehnt begann er jedoch, sich auch mit grundsätzlichen Fragen der Rechtsphilosophie und der Gesetzgebung zu beschäftigen. Da entstand sein Alterswerk "Recht und Rechtsverwirklichung"

* Recht und Rechtsverwirklichung, Basel 1921, 2. Auf!. 1925, S. 281 - 287.

1 Ein Verzeichnis der Publikationen von Eugen Huber sowie ein Nachruf von Gmür finden sich in der Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins 59 (1923), S. 209 - 217.

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(Basel 1921), in dem sich seine vielbeachteten rechtssoziologischen Ausführungen über die Realien der Gesetzgebung finden. In seiner letzten Publikation "Das Absolute im Recht", einer Festgabe zur Jahresversammlung des schweizerischen Juristenvereins von 1922, faßte Eugen Huber seine Rechtsphilosophie zusammen. Im September 1922 mußte Huber schwer erkrankt von seinem Lehrstuhl Abschied nehmen. Ein halbes Jahr später, am 23. April 1923, ist er dann verstorben. Peter Böhringer

Wir haben die Realien als das fünfte Element des Rechts kennengelernt!, als das Material, womit jedes Recht aufgebaut werden muß. Für die Rechtsverwirklichung kommt ihnen die gleiche Bedeutung zu. Sie zählen nicht zu den Aufgaben des Rechts und bedeuten für das Wesen des Rechts nur eines der Elemente, und zwar dasjenige, das dem Recht einen gewissen Inhalt mit Notwendigkeit anweist. In ihrer vollen Bedeutung treten sie erst in Erscheinung bei der Betrachtung der Rechtsverwirklichung, oder aber sie gehören sowohl zur Gestaltung als zur Anwendung des Rechts, indem sie für beides gewisse Bedingungen setzen, die weder von der Gesetzgebung noch vom Richter übersehen werden dürfen. Wir verstehen dabei unter der Gesetzgebung die Formulierung der Rechtssätze durch den Gesetzgeber und die Gewohnheit, und unter dem Richter alle Instanzen, die zur Rechtsanwendung berufen sind. Diese umfassende Funktion rechtfertigt es, hier von diesen Realien besonders zu handeln. Die Entstehung der formulierten Rechtssätze läßt sich auf zwei allmächtige Momente zurückführen: Die Ideen und die Realien. Die Ideen schaffen den Antrieb, in der Ordnung der menschlichen Gemeinschaft die Gerechtigkeit zu verwirklichen, sie gebären zwar nicht die Interessen, aber sie verlangen nach der vernünftigen Ordnung derselben im Zusammenleben der Menschen, sie wirken regulativ, indem sie das Bild dessen vor Augen stellen, was unserem Rechtsbewußtsein entspricht. Sie ruhen, in ihrer Anwendung auf das Recht, im Ethos und verbinden sich um der Gerechtigkeit willen mit der neutralen Logik. Sie bemeistern die in den menschlichen Verhältnissen von Natur gegebenen Machtverhältnisse, indem sie der Gerechtigkeit in der Gestaltung des Rechts die Gewalt als Rechtsrnacht dienstbar machen. Die Realien aber stellen sich uns als die tatsächlichen Verhältnisse, als die realen Mächte dar, mit denen unter jeder menschlichen Vergesellschaftung gerechnet werden muß. 1 Huber unterscheidet als Elemente des Rechts: das Ethos, die Logik, die Macht, die Gestaltung (Organisation der Gemeinschaft und Formulierung von Rechtssätzen) und die Realien.

Die Realien der Gesetzgebung

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Vergleicht man die Bestimmung der Gesetzgebung durch die Realien mit derjenigen durch die Ideen ganz allgemein, so wird ihre Unterscheidung darin gefunden werden, daß die Ideen diese Bestimmung von innen heraus vorführen, d. h. aus dem vernünftigen Bewußtsein. Die Realien dagegen bewirken eine Bestimmung von außen, indem sie die Bildung der Rechtssätze nach vorhandenen Wirklichkeiten, die dem Bewußtsein aus der Erfahrung dargeboten werden, beeinflussen. Doch ist dabei wiederum wohl zu unterscheiden. Die Gesetzgebung hat es mit den Interessen der Menschen in ihrer Vergesellschaftung zu tun. Diese Interessen richten sich nach konkreten Verhältnissen, die nicht nur äußerlich dem steten natürlichen Wechsel unterworfen sind, sondern auch in den Wünschen und Bestrebungen der Menschen sich immer wieder unter neuer Gestalt als Bedürfnisse aufdrängen. Die Fragen, die hieraus für das lebendige Dasein des menschlichen Verkehrs entstehen, sind ihrer Natur nach stets konkret, und wenn auch die Gesetzgebung eine abstrakte Regel aufstellt, so wird doch die Verwirklichung immer nur in konkreten Verhältnissen gefunden werden, denen die Gesetzgebung ihre Rechtssätze anzupassen hat. Daraus entstehen also unablässig konkrete Ordnungen, die ebenso dem Wechsel unterworfen sind, wie die Materialien des gesellschaftlichen Lebens, die sozialen Tatbestände, selber. Wer ausschließlich auf diese Erscheinung das Augenmerk richtet, wird also kein konstantes Recht, sondern nur eine dem steten Wechsel unterworfene Gestalt des Rechts anerkennen. Daraus erklärt sich dann die Klage, daß die Rechtsordnung niemals eine wirkliche Gerechtigkeit, sondern immer eine unbeständige Ordnung bedeute, auf die kein Verlaß sei. Allein aus dieser Abhängigkeit der Gesetzgebung von den tatsächlichen Verhältnissen läßt sich nun eines doch herausschälen, das jenem Wechsel nicht unterworfen ist, nämlich die Tatsache dieser Abhängigkeit selber. Diese tatsächlichen Verhältnisse üben ihren Einfluß auf die Gesetzgebung nicht nur in Gestalt der Interessen oder Bedürfnisse aus, die nach den Ideen bestmöglich zu ordnen wären, die also in ihrer materiellen Existenz den Gesetzgeber zwingen, bald diese und bald jene Ordnung zu treffen und als Recht aufzustellen, sondern auch in dem Sinne, daß sie die unerläßliche äußere Voraussetzung jeder Gesetzgebung bilden. Es gibt Momente, mit denen die Gesetzgebung sich jederzeit abfinden muß, die also für die Gesetzgebung so notwendig sind, wie die Idee des Rechts selber. Sind die tatsächlichen Interessen und Bedürfnisse auch nur zufällig vorhanden oder durch eine natürliche Entwicklung bald so und bald anders gestaltet, so liegen in jenen Momenten doch Voraussetzungen, die über der zufälligen Erscheinung stehen. Das sind die Tatsachen, die den Interessen und Bedürfnissen zugrunde liegen. Mag die Gestalt der letzteren wechseln, wie der Wind in der Windrose, der den Namen wechselt, weil er die Richtung ver-

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ändert 2 , die Tatsache der atmosphärischen Bewegung ist immer vorhanden und mithin als Realität absolut gegeben. Gerade so verhält es sich mit jenen Voraussetzungen, durch die von außen die Gesetzgebung mit Notwendigkeit bestimmt wird. Nur diese Tatsachen haben eine Bedeutung für die abstrakte Erfassung des Wesens der Gesetzgebung. Alles andere geht in konkreten Dingen auf, über die nichts Absolutes gesagt werden kann. Beanspruchen wir für jenes Bleibende einen besonderen Namen und setzen wir es damit in Gegensatz zu den wechselnden Begierden und Bedürfnissen, so wählen wir dafür den Namen Realität und sind darnach befugt, in besonderem Sinne von den Realien der Gesetzgebung zu sprechen3 • Die Unterscheidung der beiden Arten, in denen eine Bestimmung der Gesetzgebung durch die tatsächlichen Verhältnisse erfolgt, hat nun aber auch nach einer andern Richtung ihren guten Sinn. Wenn der Gesetzgeber der Interessenverfolgung oder Bedürfnisbefriedigung durch die Einzelnen in der Gemeinschaft eine Schranke setzt und eine Regel gibt, so fallen für ihn die tatsächlichen Verhältnisse nicht im Sinne ihres gegebenen Bestandes in Betracht, sondern in ihrer Verwendung für gewisse Zwecke. Der Zweck ist es, worauf der Gesetzgeber schaut, und die Mittel dafür stehen erst in zweiter Linie. Der Gesetzgeber ordnet unter dieser Betrachtungsweise die Interessen, er handelt von den rechtlich zu schützenden Interessen. Hinter diesen aber liegen jederzeit reale Verhältnisse, die der Gesetzgeber einerseits hinnehmen muß, wie sie sind, und von denen man andererseits sagen kann, daß sie das stets notwendige Material der Gesetzgebung bilden. Man darf sich freilich nicht vorstellen, die tatsächlichen Verhältnisse seien unter dem Gesichtspunkt der Interessenregelung andere als bei der Feststellung der Realien. Vielmehr handelt es sich nur um eine verschiedene Betrachtungsweise derselben tatsächlichen Momente oder um deren verschiedene Einsetzung in die gesetzgeberischen überlegungen. Die Frage, in welcher Weise dieselben durch die Gesetzgebung geordnet werden sollen, geht selbstverständlich auch von diesen Tatsachen aus. Allein die Fragestellung ist eine andere. Statt sich zu fragen, welche Ordnung geschaffen werden soll, wird hier das Problem aufgeworfen, welche tatsächlichen Verhältnisse auf die Art, in der die Vgl. Dante, Divina Commedia, Purg. cant. XI, v. 100 ff. Nicht daß das Recht sich aus den Realitäten ableiten würde. (Snell, Naturrecht S. 4, sagt: Das Recht leitet sich nicht her aus zufälligen Untersuchungen der Verschiedenheit der Völker, sondern aus den menschlichen Anlagen und Kräften der menschlichen Gattung), aber diese Anlagen und Kräfte sind die Realien, mit denen die Gesetzgebung notwendig zu arbeiten hat. Wir hätten auch "Materialien" sagen können; allein unter Materialien der Gesetzgebung versteht man gemeinhin etwas anderes. - Von "geistigen Realitäten" spricht E. J. Bekker, in Berolzheimers Archiv Bd. 1, S. 185 ff. "Was sind geistige Realitäten?" 2

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Die Realien der Gesetzgebung

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Gesetzgebung die Ordnung zu schaffen sucht, einen allgemeingültigen und nicht wegzudenkenden Einfluß ausüben. Von naturrechtlichen Feststellungen ist aber gleichwohl dabei durchaus nicht die Rede. Umgekehrt wird durch den Nachweis eines gewissen Bestandes von tatsächlichen Verhältnissen, mit denen überall und jederzeit die Gesetzgebung sich hat abfinden und wird abfinden müssen, eine Beschränkung der Gesetzgebungsmacht dargelegt, die für die wechselnde Gestalt ihres Inhaltes außerordentlich abklärend zU wirken vermag. Von diesen Realien gilt in besonderem Sinne der Satz: "Nah beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen." Es mag unter ihrem Bestand diese oder jene Rechtsordnung geschaffen werden: zU umgehen sind sie niemals. Sie waren allezeit vorhanden, sie bestehen und werden bleiben. Sie sind von Natur eine der Gesetzgebung sich aufdrängende Macht, nicht im Sinne der Postulierung einer bestimmten Rechtsordnung, sondern in dem Verstande, daß sie ausnahmslos von der Gesetzgebung als ihr Material anerkannt werden müssen. Daß die Realien dabei auf die Gestaltung der Rechtsordnung unter dem Gesichtspunkte der Regelung nach den Ideen einen großen Einfluß ausüben, ist selbstverständlich. Nur wollen wir sie uns klar machen, sie feststellen, ohne diesen Einfluß weiter zU verfolgen. Es ist ein Verhältnis, das uns an die Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Stoff erinnern kann. Wie der Bildner abhängig ist von der Materie, aus der er sein Kunstwerk gestaltet, wie er anders arbeitet, wenn er einen Holzschnitt gräbt, als wenn er radiert, und anders, wenn er eine Statue in Bronze schafft, als wenn er eine solche in Marmor meißelt, so bestimmt die Realität auch das Werk des Gesetzgebers. Der Inhalt seins Werkes ist abhängig von den tatsächlichen Verhältnissen, mag er auch im Grunde mit den verschiedenen Materialien dasselbe zur Darstellung bringen wollen. An eine materialistische Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist dabei freilich nicht zu denken. Die Idee schafft den Plan. Alles andere ist Material und Werkzeug 4 • Wollen wir nun in diesem Sinne die Realien der Gesetzgebung feststellen, so bietet sich uns im wesentlichen, unter Zusammenfassung der außerordentlich mannigfaltigen Verhältnisse, eine Gruppierung nach drei Beobachtungen dar: Erstens ist es der Mensch, der in seiner anthropologischen Existenz für die Gesetzgebung eine nicht wegzudenkende Realität darstellt. Wie vermöchte es eine Gesetzgebung zU 4 Freilich lassen sich dabei gewisse Maximen unterscheiden, nach denen die Gesetzgebung sich zu den Realien unter der Perspektive der Idee verhält. Opportunismus und Radikalismus sind z. B. zwei der bekannten Typen der Arbeit mit den gegebenen Materialien als Lebensäußerung. Absolut aber sind die Betrachtungen und ihre Elemente. Nur ihre Verwendung ist stets konkret bedingt.

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geben ohne die Menschen mit allen ihren natürlichen Eigenschaften? Mit dem Menschen werden wir uns mithin als einer ersten Realität in unseren Ausführungen zu beschäftigen haben. Sodann bieten sich in den natürlichen Verhältnissen, unter denen der einzelne Mensch lebt und mit andern verkehrt, Tatsachen dar, die in irgend einer Weise zu allen Zeiten und an jedem Orte vorhanden sind, handele es sich um Naturkräfte oder um körperliche Sachen, deren Beschaffenheit sich der Gesetzgebung unbedingt und überall als ein Reale aufdrängt, sobald sie Ordnung in die Dinge bringen will. In diesen Naturalien ist folglich eine zweite Realität für die Gesetzgebung anzuerkennen. Endlich kann nicht verkannt werden, daß die Gesetzgebung niemals vor einer "tabula rasa" steht, sondern ausnahmslos mit bereits vorhandenen Rechtszuständen zu rechnen hat, die eine Realität darstellen, so bestimmt, als die menschliche Natur und die Naturalien selber. Sie sind ja auch eigentlich ein Stück der menschlichen Natur, mit Hinsicht nämlich auf die Vergesellschaftung der Menschen, wobei sowohl der Inhalt des vorhandenen Rechts als die Art der Gestaltung desselben in Betracht gezogen werden kann. Der Mensch, die Naturalien und die überlieferung sind also in Zusammenfassung der unabsehbaren Menge der tatsächlichen Verhältnisse die drei großen Realitäten, den'en die Gesetzgebung gegenübersteht. Jede derselben hat wieder ihre eigene Bedeutung und gliedert sich wieder in eine gewisse Zahl von untergeordneten Erscheinungen, die wir in den drei folgenden Abschnitten im einzelnen behandeln werden.

DIE DYNAMIK DES GESETZES Von Hans Fehr* Hans Fehr, geboren am 9. 9. 1874, studierte Rechtswissenschaften in Bern und schloß seine Studien mit einer Dissertation über das Verhältnis des Staates und der Kirche in St. Gallen, seinem Heimatkanton ab. Er habilitierte sich 1904 in Leipzig bei Rudolf Sohm mit einem Werk über die Entstehung der Landeshoheit im Breisgau. 1907 wurde er Professor für deutsche Rechtsgeschichte in Jena. Später dozierte er in Halle und Heidelberg sowie ab 1924 in Bern. Er starb am 21. 11. 1961. Fehr entfaltete eine reiche Publikationstätigkeit, die besonders durch seine Neigung zu bildender Kunst und Dichtung geprägt ist. Zu seinen wichtigsten Werken zählen: Das Recht im Bilde, Recht und Wirklichkeit, Die Dichtung im Recht und Die Tragik im Recht. Immer wieder betont er den Zusammenhang zwischen Recht und Sozialleben. Sein Interesse galt hier vor allem dem Zweck und der Wirkung der Gesetzgebung. Alastair Guggenbühl

I. Damit man mir nicht den Vorwurf macht, ich wiederholte mit meinen Forderungen nach einem dynamischen Recht nur die alte Idee vom "Zweck im Recht", möchte ich zunächst kurz den Zweck des Gesetzes von der Wirkung des Gesetzes scheiden. Zunächst vom Zweck. Wenn der Gesetzgeber in einem Gesetze Normen aufstellt, so gibt er ihnen eine bestimmte Richtung. Er will mit ihnen bestimmte Zwecke erfüllen, etwa den Zweck, den Täter zu strafen oder die Vertragsfreiheit zu sichern. Der Zweck ist also etwas Gewolltes, etwas bewußt Erstrebtes. Im Zweck liegt Absicht. Die Rechtsnorm ist das Mittel, um den Zweck zu erreichen. Sie ist erforderlich zu diesem Zweck. Man kann daher die Zweckmäßigkeit mit dem Philosophen Windelband "Erforderlichkeit" nennen. Die Zwecke können verschiedenster Art sein. Es können mit der Norm sittliche Zwecke, religiöse Zwecke, reine Nützlichkeitszwecke usw. neben den rechtlichen Zwecken erstrebt sein. • ZSR 59 (1940) 53 - 64.

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Der Gesetzgeber setzt die Norm als ein Sollen. Er gibt Gebote und Verbote. Er ordnet an, wie unter bestimmten Gegebenheiten verfahren und gehandelt werden soll. Wir haben es also mit einem regulativen Prinzip zu tun. Ob sich dieses Prinzip im Einzelfall durchsetzen wird, weiß der Gesetzgeber nicht. Wenn er glaubt, das Zweckmäßige, das Erforderliche getan zu haben, so ist seine Aufgabe erfüllt. Entscheidend für die Normgebung ist letzten Endes die Weltanschauung. Ein Gesetzgeber der Liberalität, der den Menschen größte Freiheit lassen will, wird andere Normen aufstellen als ein Gesetzgeber, dem der totale Machtstaat als Ideal erscheint. Die Verschiedenartigkeit der gewollten Zwecke schafft die Verschiedenartigkeit der Normen. 11. Der dynamische Gesetzgeber verfährt anders. Er verfährt nicht nach einem regulativen, sondern nach einem konstitutiven Prinzip. Er setzt die Norm im Gesetz als Ursache, die eine Wirkung, eine praktische Wirkung hat. Er berechnet die aus der Norm sich entwickelnden Folgeund Nebenwirkungen. Entsprechen diese überdachten, möglichen Wirkungen seinen gesetzgeberischen Absichten, so formt er die Norm nach ihnen. Das Dynamische, das Wirkungsmäßige ist ihm der Beweggrund, die Norm oder so zu gestalten. In der Norm schafft er die causa für die Wirkung. Mit Windelband kann man statt Kausalität "Erfolglichkeit" sagen. Der Ausdruck ist sehr klar; will doch der Gesetzgeber in der Norm die Erfolglichkeit schaffen, damit diese ohne jene Wirkung zustande kommt. Die Philosophie spricht in unserm Falle zuweilen von "umgestülpter Kausalität". In der Tat: Zuerst müssen vom Gesetzgeber die möglichen Wirkungen praktisch überdacht werden. Je nachdem erzeugt er im Gesetz die causa, die Norm so oder anders. Ein Beispiel sei folgendes: Der Gesetzgeber unseres Obligationenrechts gab im Jahre 1881 eine Reihe von Normen über die Genossen~ schaft. Als Regel für die Haftbarkeit der Genossenschafter stellte er den Art. 689 auf: "Ist eine Bestimmung, durch welche die persönliche Haftbarkeit der einzelnen Genossenschafter ausgeschlossen wird, in den Statuten nicht enthalten oder nicht gehörig veröffentlicht worden, so haften sämtliche Mitglieder solidarisch mit ihrem ganzen Vermögen." Der Zweck, den der Gesetzgeber verfolgte, ist absolut klar. Er wollte die Stellung der Genossenschaftsgläubiger stärken und damit die Kreditwürdigkeit der Genossenschaft. Aber in der Wirkung hatte er sich verrechn:et. Was geschah? Die meisten Genossenschaften machten von der statutarischen Freiheit Gebrauch. Sie schlossen die persönliche Haftbarkeit der einzelnen Genossenschafter aus und ließen nur das Vermögen der Genossenschaft haften. Der Gesetzgeber des neuen OR

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von 1936 hat diese Wirkung überschaut und überdacht und daher in Art. 868 festgesetzt: "Für die Verbindlichkeiten der Genossenschaft haftet das Genossenschaftsvermögen. Es haftet ausschließlich, sofern die Statuten nichts anderes bestimmen." Die Haftungsnorm des alten OR ist also in ihr Gegenteil verkehrt worden. So ließen sich zahlreiche Beispiele aufführen. Es zeigt sich in voller Klarheit der Unterschied zwischen Zweck und Wirkung. Der Zweck ist bestimmt gewollt. Der gesetzgeberische Wille setzt ihn. Die Wirkung aber tritt ungewollt, unabhängig vom gesetzgeberischen Willen ein. Den Zweck schafft der Gesetzgeber, die Wirkung schafft das Leben. Nur dann verwirklicht sich die Absicht des Gesetzgebers, wenn Zweck und Wirkung übereinstimmen, wenn Erforderlichkeit und Erfolglichkeit sich decken. Zweckbestimmtes und Wirkungsmäßiges (Dynamisches) sollten miteinander harmonieren. Und nun geht meine Erfahrung dahin: Der europäische Gesetzgeber überlegt sich zu wenig die mögliche Wirkung der Normen. Das, was bei kluger, weitschauender überlegung voraussehbar ist, beachtet er nicht energisch genug. Mit einem Worte: Das dynamische Recht, als das Wirkungsrecht, kommt in den europäischen Gesetzen nicht zu genügender Geltung. Selbstverständlich wird jeder Denkende zugeben, daß oft mit der besten überlegung gewisse Wirkungen nicht voraussehbar sind. Das Leben, die Wirtschaft, die Politik bringen überraschungen, die selbst der Weitsichtigste nicht ahnen kann. Wir wollen vom Gesetzgeber gewiß nichts Unmögliches verlangen! Aber ein "mehr" verlangen wir, eine dynamischere Einstellung. Wir ersehnen ein Gesetz, dessen Normen stärker die Wirkungsmöglichkeiten ins Auge fassen als bisher. Denn letzten Endes entscheidet nicht der Zweck, sondern die Wirkung. Wie sich das Gesetz im praktischen, blutvollen Leben auswirkt, das ist das Entscheidende. Denn was geschieht, wenn der Gesetzgeber zu wenig dynamisch denkt beim großen Werke, das er zu vollbringen hat? Nichts anderes als: das Gesetz wird hundertfach umgebogen oder umgangen. Das Leben kennt tausend Ränke, um sich durchzusetzen. Das Leben wird immer siegen. Es ist das Stärkere. Es ist das Stärkste. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Einmanngesellschaft. Es gibt Gesetzgebungen (so früher z. B. die italienische), welche verboten, alle Aktien einer Aktiengesellschaft in einer Hand zu vereinigen. Es gehe nicht an, sagte der Gesetzgeber, daß eine Gesellschaft gleichsam aus einem Mann bestehe. Das widerspreche dem Zweck der Gesellschaft. Der Zweck einer Gesellschaft sei immer auf eine Vielheit gerichtet. Gut so! Aber was war die Wirkung dieser Norm? Es bildeten sich in Wirklichkeit trotzdem Hunderte von Einmanngesellschaften. Es wurden Strohmänner gesucht, denen man eine Aktie gab. Der Vater holte seine gehorchenden Kinder

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heran und schenkte ihnen eine Aktie usw. So wurde der Form genügt. Der "Zweck" war erreicht, den der Gesetzgeber gewollt hatte. Die Aktien waren unter mehrere Personen verteilt. In der Tat aber lebten Hunderte von Einmanngesellschaften ihr Leben; denn die ganze faktische Macht des Unternehmens lag bei dem einen Manne. Durch diese Zwecksetzung schob der Gesetzgeber viele Aktionäre in ein unlauteres, unsauberes Fahrwasser hinein und zwang sie, an Scheinmitglieder Aktien auszugeben. Diese Situation hat der neue schweizerische Gesetzgeber erkannt. Er schuf im neuen OR eine Norm, welche die Einmanngesellschaft zuläßt. Es ist der Art. 625 Ir. Er gestattet die Zusammenballung aller Aktien in einer Hand und gewährt nur dem Richter, die eventuelle Auflösung der Gesellschaft auszusprechen auf Begehren eines Aktionärs oder eines Gläubigers. Unser Gesetzgeber sah also die Wirkung voraus, die eine Untersagung der Einmanngesellschaft zur Folge gehabt hätte. Die kluge, vorausschauende Einstellung ließ ihn die dynamische Norm von 625 II in das Gesetz aufnehmen. III.

Noch auf einem andern Gebiete möchte ich die Dynamik des Rechts an einem Beispiele illustrieren, nämlich im Gebiete der Rechtsprechung. Der Satz ist zunächst sicher richtig: Der Richter hat das durch Gesetz und Gewohnheit geschaffene Recht anzuwenden. Rechtsquelle sind für ihn das Gesetzes- und Gewohnheitsrecht. Die Tätigkeit des Richters ist nicht rechtserzeugend, sondern rechtsanwendend. Der Richter setzt sich allein diesen Zweck, darf sich allein diesen Zweck setzen (vgl. aber die Ausnahme in ZGB Art. 1). Aber was ist die Wirkung des Richterspruchs; worin liegt dessen dynamische Kraft? Ohne Zweifel in seiner eminent rechtsschöpferischen Gestaltung. Die Wirkung der Ge~ setz es auslegung ist ganz gewiß eine rechtsschöpferische. Der Spruch des Richters ist, dynamisch gesehen, eine Rechtsquelle von höchster Bedeutung. Hunderte von Verbindlichkeiten aller Art, Tausende von Verträgen ruhen einzig und allein auf den Urteilen der obersten Gerichte. Für die Innominatkontrakte sagt neuestens Oftinger mit vollem Recht, daß wenn der Vertrag Lücken aufweise, der Richter die Norm schaffen müsse, um die Vertragslücke zu ergänzen. Verhältnismäßig häufig wür~ den in diesem Bereiche die Gerichte angerufen. Aus ihrer Praxis ließen sich dann mit der Zeit Regeln abstrahieren, die weitgehend die fehlende gesetzliche Normierung solcher Verträge ersetzen 1 • Wer der Gerichtspraxis die rechtsschöpferische Kraft abspricht, übersieht nicht nur die Tatsache, daß im Werten und Auswerten des Gel

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setzes eine große rechtsschöpferische Tat liegt, er übersieht auch das dynamische Element, das im Urteilsspruch steckt. Zweck des Urteils im Zivilprozeß ist, inter partes, zwischen den Parteien die streitigen Rechtsfragen zu entscheiden. Aber weit über die Parteien hinaus, bis in die letzten Winkel des Volkes wirkt in Wirklichkeit der Richter~ spruch. Das war nicht sein Zweck. Gewiß nicht. Aber über diese zweck~ bestimmte Grenze hinaus ergießt der Richterspruch seine (segensreiche oder verderbliche!) Wirkung in die Rechtswelt hinein. Er läßt sich nicht aufhalten, so wenig wie der Besen im "Zauberlehrling". Ja nicht einmal ein Zauberwort kann ihn bannen! Kehre ich zur Dynamik des Gesetzes zurück, so möchte ich als Ergebnis festlegen: Der Zweck des Gesetzes und die Dynamik des Gesetzes können sich in dreifacher Weise zueinander verhalten. 1. Wirkung und Zweck können sich decken. Dann ist der Idealzustand erreicht, d. h. es ist erreicht, was der Gesetzgeber mit der Norm wollte.

2. Die Wirkung kann hinter dem Zweck zurückstehen und 3. die Wirkung kann über den Zweck hinausgehen. In beiden letzteren Fällen ergibt sich eine Disharmonie von Zweck und Wirkung. Das Ziel ist nicht erreicht. Die Norm hat versagt, je nachdem: mehr oder weniger versagt. IV.

Um nun die geforderte Dynamik des Gesetzes zu erzielen, ist es notwendig, die Rechtssätze weniger statisch zu gestalten als bisher. Statische Begriffe sind Seinsbegriffe. Sie sind gerichtet auf ein ganz bestimmtes Sein, eine ganz bestimmte Struktur. Sie tragen etwas Körperhaftes in sich. Sie drängen nach Ruhe, nach fester Geschlossenheit. Der statische Gesetzgeber hat daher die Tendenz, möglichst viele De~ finitionen in das Gesetz hineinzubringen, und es ist allbekannt, daß jede Definition etwas Starres in sich birgt. Nun steht draußen vor der Türe das Leben mit seiner Bewegung, mit seiner Unruhe und ewigen Veränderung. Und das Recht will doch die~ sem Leben dienen, will es fördern, unterstützen. In diese Kluft, die sich notwendigerweise ergibt und die sich niemals ganz schließen kann, springt nun das dynamische Recht hinein. Es arbeitet auf ein beweglicheres, elastischeres Gesetz hin. Es versucht, funktionale Begriffe, die weit mehr auf Bewegung .und Ausdehnungsmöglichkeit abgestellt sind als die Seinsbegriffe, zu schaffen. Im Vordergrund steht nicht die Frage: Wie ist der Begriff?, sondern: Wie wirkt der Begriff?

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Ein packendes Beispiel ist in Art. 965 unseres neuen OR. Dort wird das Wertpapier definiert als "eine Urkunde, mit der ein Recht derart verknüpft ist, daß es ohne die Urkunde weder geltendgemacht noch auf andere übertragen werden kann". Man sieht: Das Funktionale der Urkunde wird in der Norm festgelegt. Die Einlösungs- und die übertragungsfunktion werden als Kennzeichen aufgeführt. Die Kraft, die Dynamik, welche die Urkunde in sich schließt, geben ihr den Charakter. Diese Begriffsbestimmung geht auf die berühmte Definition von Heinrich Brunner zurück. Sie wirkte damals in dem Wust von Theorien erlösend, weil Brunner als Erster das Funktionale des Wertpapieres in voller Klarheit darlegte. Ähnlich steht es mit der Definition des Eigentums in unserm ZGB (Art. 641 I). "Wer Eigentümer einer Sache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie nach Belieben verfügen." Eine Funktion dieses obersten Sachenrechts, das Verfügungsrecht, wird zur Begriffsbestimmung verwendet; nicht eine statische Definition wird gegeben, wie dies frühere Gesetzgebungen versuchten. Als Gegenbeispiel will ich eine Norm aus dem deutschen Handelsgesetzbuch, § 17 I, heranziehen. Dort steht: "Die Firma des Kaufmannns ist der Name, unter dem er im Handel seine Geschäfte betreibt und seine Unterschrift abgibt." Diese statische Bestimmung legt die Firma fest als Name des Kaufmanns. Die Firma knüpft an einen bestimmten Namensträger an. Sie geht von ihm aus und bleibt mit ihm verbunden. Nun löst aber die Firma in ihrer Wirkung ganz andere Kräfte aus. Betrachtet man das funktionale Wesen der Firma im kaufmännischen Verkehr, so gilt sie weit mehr als Name des Geschäfts, denn als Name des Kaufmanns. An das Geschäft, an das Unternehmen, an die ganze Organisation kettet sich der Wert der Firma an. Das hat die kaufmännische Praxis längst erkannt, und eine neuere wissenschaftliche Abhandlung erklärt die Firma mit vollem Recht als einen der wichtigsten Werbefaktoren für ein Unternehmen2 • Nach dieser statischen Begriffsbestimmung im deutschen HGB sollte die Firma unübertragbar sein. Aber der Kaufmann verlangte nach ihrer übertragbarkeit. Der Gesetzgeber scheute sich nicht vor einem logischen Widerspruch und ließ im § 28 die übertragung zu, "wenn der bisherige Geschäftsinhaber oder dessen Erben in die Fortführung der Firma ausdrücklich willigen". Unser neues OR vermeidet jede begriffliche Festlegung der Firma. Es läßt die Firma weder als Name des Kaufmanns noch als Name des Unternehmens erscheinen. Es knüpft, der welschen Auffassung nachgebend, die Firma noch stark an den Inhaber an (Art. 938 und 944), gibt aber andererseits so viele Freiheiten, daß man beinahe von einer übertragbarkeit der Firma in der Schweiz sprechen kann. So scheut 2

Jakob Grünbaum, Über die Firma, 1931.

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denn der Art. 953 II die Formulierung nicht: Der übernehmer (des Geschäfts) darf jedoch ... die bisherige Firma weiterführen, sofern ... Wenn auch der Grundsatz der Vererblichkeit und Veräußerbarkeit der Firma im Gesetz nicht ausgesprochen ist, so ist doch eine Lockerung "des starren Prinzips der Firmenwahrheit" (so die Botschaft zum 3. Entwurf S. 103) im dynamischen Sinne nicht zu verkennen 3 • Im neuen OR ist, sowenig wie im OR von 1881, die Kollektivgesellschaft (sehr ähnlich der deutschen offenen Handelsgesellschaft) weder als Gesellschaft (societas) noch als juristische Person (universitas) fest~ gelegt. Man kann sie in dieser Beziehung begrifflich nicht scharf charakterisieren, und es ist keine Lösung, wenn man sie etwa eine rela~ tiv juristische Person nennt. Aber man weiß genau, wie diese Handelsgesellschaft funktioniert. Sie wirkt nach innen hin im ganzen wie ein Gebilde des Gesellschaftsrechts, nach außen hin wie ein Gebilde des Korporationsrechts. Dieser funktionale Niederschlag im Gesetz ist für das praktitsche Leben absolut ausreichend. Das neue schweizerische Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 ist ein erfreuliches Beispiel für eine fortschreitende dynamische Auffassung. So wird z. B. einer der Hauptbegriffe im Gesetzbuch nicht defi~ niert, der Täterbegriff. Ebensowenig finden wir eine feste Umschreibung des Begriffes Anstifter und Gehilfen. Die Wissenschaft und die Praxis haben die Aufgabe, diese Begriffe festzulegen und sie je nach den Lebensanschauungen und der sich wandelnden Rechtsüberzeugung mit diesem oder jenem Inhalt auszufüllen4 • Und wie stark die Statik einer weitblickenden Dynamik gewichen ist, beweist der Art. 26, in dem es heißt: "Besondere persönliche Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, die die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschließen, werden bei dem Täter, dem Anstifter oder dem Gehilfen berücksichtigt, bei dem sie vorliegen." Der Richter hat also den weitesten Spielraum, die Erhöhungs-, Minderungs- und Ausschließungsgründe zu berücksichtigen. Daß sich im Bereiche der Steuergesetzgebung das statische Recht bisweilen einfach nicht durchführen läßt, habe ich in meiner Abhandlung: Das kommende Recht (Berlin 1933, S. 24) in Anlehnung an eine kritische Äußerung Blumensteins gezeigt. Es führt bisweilen zu den größten Ungerechtigkeiten, ja zu Unmöglichkeiten, wenn einfach bestimmt wird, daß der im Grundbuch eingetragene Eigentümer besteuert werden soll. Der Gesetzgeber hat sich die Wirkung der Norm zu wenig überlegt. Er hat nicht bedacht, daß die Steuer die Person treffen soll, 3 Vgl. dazu meinen Aufsatz in der Festgabe für earl Wieland (1934) S. 77. Ebenso Guhl, Das Schweizerische Obligationenrecht (1937) S. 390. ~ Vgl. Max Ammann, Die Problematik der Täterschaft im Strafrecht, Diss. Zürich 1938.

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der die ökonomischen Wohltaten des Grundstücks zugute kommen. Und das ist eben nicht immer der Eingetragene.

v. Mit welch' irrigen Vorstellungen und Schlußfolgerungen ist die Kritik an meine Unterscheidung von statischem und dynamischem Gesetz, von statischem und dynamischem Recht herangetreten. Immer wieder sieht man, daß der an sich einfache Gedanke nicht zu Ende gedacht wird5 • Immer wieder wird das dynamische Recht als ein ungewisses, unzulängliches, allzu elastisches Recht verurteilt. Ein kritischer Betrachter erklärt, ich ließe mich von "rein wissenschaftlichen Zweckmäßigkeiten" leiten6 • Vereinzelt tauchen freilich Studien auf, die in ihrem ganzen Aufbau dynamischer Art sind, wie z. B. der treffliche Aufsatz von Ludwig Schnorr v. Carolsfeld: Einige sachenrechtliche Fragen aus dem ErbhofrechF. "Dieses Ergebnis allein folgt aus der dynamischen Rechtsbetrachtung", sagt der Verfasser. Und warum hat das Werk, um ein Beispiel aus der Rechtsgeschichte anzuführen, von Heinrich Mitteis (Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933) diesen großen Erfolg gehabt? Weil der Gelehrte das lebendige Wirken des Lehnrechts im fränkischen und mittelalterlichen Staat darzustellen und die dynamische Betrachtung des Zusammenspiels der einzelnen Kräfte in feinsinniger Weise zu verwerten wußte. Jeder Einsichtige muß doch zugeben, daß unser gesamtes modernes Leben vielmehr auf Kräfte, auf Energien, auf Bewegung und Wechsel aller Dinge eingestellt ist, als das Leben früherer Jahrhunderte. Wie sollte, wie könnte in dieser Hast des Geschehens das Gesetz und das Recht zurückbleiben? Wie sollten die alten, starren Seinsbegriffe noch fortwirken können? Wie sollten sie nicht den funktionalen Begriffen mehr Platz gönnen? Ausdrücklich sage ich "mehr Platz gönnen". Denn ich habe stets betont, daß neben dynamischen Begriffen auch statische Begriffe notwendig sind. Das ist das beste Gesetz, welches dynamisches Recht und statisches Recht in weiser Harmonie verbindet. Mit Guardini (Hölderlin) läßt sich sagen, daß wir es mit zwei Grunderscheinungen des Daseins zu tun haben, mit "Strom" und "Berg". Das dynamische Recht ist das Strömende, das Fließende, das statische Recht ist die "ruhende Mächtigkeit aller Dinge". Und wie sich Strom und Berg, wie sich Fließendes und Ruhendes in der wohlgeordneten Natur ergänzen, ebenso müssen 5 Zuletzt wieder von Erich Jung, Subjektives und objektives Recht, Marburg 1939, S. 41. e Deutsches Recht, 1934, S. 341. 7

AcP 25 (1939) S. 348 ff.

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sich im Bereiche der geistigen Welt des Rechts statische und dynamische Normen ergänzen und unterstützen.

In diesem kurzen Aufsatz lag mir vor allem am Herzen, darzulegen, daß Zweck und Wirkung des Gesetzes scharf auseinandergehalten werden müssen. Noch einmal unterstreiche ich deshalb die Forderung, der europäische Gesetzgeber solle sich mehr als bisher um die Wirkung der Normen bekümmern. Er muß sich tiefer und besser überlegen, wie die Normen in Wirklichkeit funktionieren. Darnach hat er sie zu gestalten, denn dann erst werden sie lebendig. Darf man für "dynamisches" Recht den deutschen, aber wenig schönen Namen "Wirkungsrecht" einsetzen, so ist zu sagen: Soll das Gesetz das Dasein des modernen Menschen lebensnaher und damit glückhafter leiten und beherrschen, so hat der Gesetzgeber dem Wirkungsrecht einen größern Spielraum einzuräumen als bisher. Die Aufgabe ist schwer und bedarf bei vielen eines völligen Umdenkens. Auch erfordert sie ein zuverlässiges, gutgeschultes Richtertum. Aber die Schwere der Aufgabe soll uns anziehen, niemals abschrecken.

VORAUSSETZUNGEN FÜR DEN ERLASS "RICHTIGER NORMEN" Von Thomas Fleiner* Thomas Fleiner, Neffe von Fritz Fleiner, wurde 1938 in Kilchberg/ZH geboren. Er studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten Zürich, Paris und Yale und promovierte in Zürich 1966 mit "Die Kleinstaaten in den Staatenverbindungen des zwanzigsten Jahrhunderts". Seit seiner Wahl im Jahre 1971 zum Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg i. ü. veröffentlichte er neben verschiedenen staats- und verwaltungsrechtlichen Aufsätzen zwei Hauptwerke: die "Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen Verwaltungsrechts" (1977, 2. Auf!. Zürich 1980) und die "Allgemeine Staatslehre" (Berlin, Heidelberg, New York 1980).

Fleiners Mitarbeit in der Kommission für die Totalrevison der schweizerischen Bundesverfassung sowie seine rege Expertentätigkeit für Bund, Kantone und Gemeinden in Fragen der Gesetzgebung weckten immer mehr sein grundsätzliches Interesse an Gesetzgebungslehre und Rechtssoziologie. Schon in seiner Antrittsvorlesung von 1971 über "Recht-Sprache-Wirklichkeit" befaßte er sich mit einer rechtssoziologischen Grundproblematik, indem er die Sprache als Brücke zwischen Recht und Wirklichkeit darstellte. Die gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung von Recht und Wirklichkeit ist auch das Thema seiner 1974 in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR 93 II, 279 - 348) erschienenen Abhandlung "Norm und Wirklichkeit". Hier stellt er zuerst das Verhältnis von Norm und Wirklichkeit theoretisch dar. Darauf behandelt er im Abschnitt über die Voraussetzungen für den Erlaß "richtiger Normen" die Frage, was der Gesetzgeber unternehmen müsse, um effiziente Gesetze zu erlassen. Während seiner Mitarbeit bei Gesetzgebungen sah sich Fleiner oft mit dieser Frage konfrontiert. Der folgende Textauszug basiert deshalb auf reichen persönlichen Erfahrungen. Peter Böhringer

Sowohl empirische wie auch sprachwissenschaftliche, rechtsphilosophische, anthropologische und erkenntnistheoretische Untersuchungen haben gezeigt, daß mit den Normen ein bestehender Trend nur in einem sehr beschränkten Rahmen verändert werden kann. Dies entspricht schließlich auch der landläufigen überzeugung, daß Gesetze realitätsbezogen sein müssen. Immer wieder betonen die Mitglieder der gesetzgebenden Organe, sie müßten sich an die Realitäten halten und

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Aus: Norm und Wirklichkeit, ZSR 93 II (1974) 279 (333 - 347).

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seien gezwungen, pragmatische Politik zu betreiben. Zu den Tugenden der Behörden gehören ja seit eh und je Sachlichkeit, Kompromißbereitschaft, Vernunft und Sinn für Angemessenheit und Zweckmäßigkeit. Das Recht ist nicht abstrakte, von der konkreten Wirklichkeit losgelöste Normenordnung. Die Norm ist im Sinne von Max Weber 1 ein Sollen, das die Chance hat, in Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Der Rechtsnorm entspricht die Regelmäßigkeit des Handeln2 • Allerdings ist sie nur Chance zur Regelmäßigkeit. Sie setzt die Möglichkeit regelwidrigen Verhaltens voraus. Ein Gesetz, das absolut sicher befolgt wird, ist keine Rechtsnorm, sondern ein Naturgesetz. Andererseits läßt die Tatsache, daß es Personen gibt, die sich nicht an ein Gesetz halten, nicht ohne weiteres den Schluß zu, das Gesetz selbst müsse revidiert werden. Wenn allerdings die übertretungen häufiger werden, beginnen wir uns zu fragen, ob eine Revision der Bestimmungen nicht am Platze wäre. Normen müssen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse berücksichtigen, sie dürfen von ihren Adressaten nicht losgelöst betrachtet werden. Die Norm wird nicht nur vom Regierenden, sondern auch von den Gehorchenden bestimmt. Die Gegenmeinung von Herbert Krüger3 , wonach sich die Verbindlichkeit des Befehls nicht auf den Gehorsam der Adressaten stützt, kann nicht überzeugen. Das Gesetz ist nicht, wie Hegel meint, deshalb Gesetz, weil ihm Gehorsam geleistet werden muß. Eine Norm wird erst zur Norm, wenn ihr gehorcht werden kann und im allgemeinen auch gehorcht wird. In diesem Sinne gewinnt der Satz "oboedientia facit imperantem" seine richtige Bedeutung. "Gesellschaftliche Macht hat der Machthaber nur, wenn er nicht bloß den Willen anderer Menschen motivieren, sondern wenn er ihn zu von ihm bestimmten, gesellschaftlich wirksamen Leistungen zu motivieren vermag. ,Seine', des Machthabers gesellschaftliche Macht besteht in den Leistungen der Gehorchenden: oboedientia facit imperantem."4 Damit stellt sich die Frage, was der Gesetzgeber unternehmen muß, um Gesetze zu erlassen, die tatsächlich die Chance haben, verwirklicht zu werden. Zitelmann5 versucht zu unterscheiden zwischen dem Zweck, 1 Max Weber, Rechtssoziologie, hrsg. von J. Winkelmann, 2. Aufl., München 1967, S. 88 ff. t Vgl. Manfred Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 48. 3 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1966, S. 839. « Hermann Heller, Allgemeine Staatslehre, Leiden 1934, S. 244; vgl. auch Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (Neudruck 1960), S. 426, und Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., München 1971, S.40. 5 Ernst Zitelmann, Die Kunst der Gesetzgebung, Dresden 1904, S. 5 ff.

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den der Gesetzgeber mit seinen Normen erreichen will, und den Mitteln, mit denen dieser Zweck erreicht werden kann. Die Zweckbestimmung ist nach Zitelmann eine rein politische Aufgabe, die von der Weltanschauung oder Ideologie des Gesetzgebers abhängig ist. Hat der Gesetzgeber aber einmal seinen Zweck formuliert, so ist er bei der Verwendung seiner Mittel nicht mehr frei. Je mehr der Gesetzgeber von dem abweicht, was ohnehin geschehen würde, je mehr er also den Trend verändern will, um so größere Mühe muß er sich bei der Wahl der Mittel geben, um tatsächlich diese Trendabweichung zu gewährleisten. Sind die Ziele, die er sich steckt, mit den bestehenden Verhältnissen der Gesellschaft überhaupt nicht vereinbar, so wird er sein Ziel, langfristig gesehen, auch nicht mit dem Mittel des Terrorismus erreichen6 • Eine im Jahre 1958 in den Vereinigten Staaten durchgeführte Untersuchung hat aufgezeigt, daß selbst in einem Gefängnis, dem alle Machtmittel zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit zur Verfügung stehen, das Verhalten der Menschen mit Macht und Gewalt nicht verändert werden kann, wenn es sich nicht anders motivieren läßt7. "Indeed, the glaring conclusion is that despite the guns and the surveillance, the searches and the precautions of the custodians, the actual behavior of the inmate population differs markedLy from that which is called for by official commands and decrees. Violence, fraud, theft, aberrant sexual behavior - all are commonplace occurrences in the daily round of institution al existence in spite of the fact that the maximum security prison is conceived of by society as the ultimate weapon for the control of the criminal and his deviant actions. Far from being omnipotent rulers who have crushed all signs of rebellion against their regime, the custodians are engaged in a continuous struggle to maintain order - and it is a struggle in which the custodians frequently fail. Offenses committed by one inmate against another occur often, as do offenses committed by inmates against the officials and their rules. And the number of undetected offenses is, by universal agreement of both officials and inmates, far larger than the number of offenses which are discovered." Die gesellschaftliche Wirklichkeit läßt sich eben nicht nach Belieben manipulieren. Aus diesem Grunde - im Gegensatz zu Zitelmann - ist der Gesetzgeber selbst bei der Wahl des Zweckes nicht vollständig frei. Auch der Zweck, den er verfolgen will, muß mit der bestehenden Wirklichkeit in Einklang sein. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Wahl der Ziele eine viel größere Entscheidungsfreiheit als bei der Wahl der für die Erreichung dieser Ziele notwendigen Mittel. Dazu Peter NoH, Gesetzgebungslehre, Hamburg 1973, S. 99. Gresham Sykes, The Society of Captives: A Study of a Maximum Security Prison, Princeton Press 1958, in: L. M. Friedman / St. Macaulay, Law and Behavioral Sciences, New York 1969, S. 443. 8

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Verhaltensvorschriften müssen auch die Motivation der Adressaten mitberücksichtigen; bis zu einem gewissen, sehr beschränkten Maße läßt sich der Adressat durch Drohung und Gewalt in seiner Motivation umstimmen. Wenn aber eine bestimmte Grenze überschritten ist, wird sich der Adressat mit keinem Mittel in seiner Motivation ändern lassen. Er wird zwar sein äußeres Verhalten darauf einstellen, daß er der Gewalt und der Sanktion entgehen kann; dieses Verhalten wird aber nur solange befolgt werden, als es tatsächlich kontrolliert wird. Das Recht findet hier seine klare und meines Erachtens letzte Grenze. Damit stellt sich nun die Frage, welche empirischen und theoretischen Unterlagen dem Gesetzgeber zur Verfügung gestellt werden müssen, damit sich dieser ein Bild machen kann über die Chance der Verwirklichung der Normen, die er erläßt. Zuerst wird sich der Gesetzgeber Rechenschaft über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse geben müssen. Mit anderen Worten: Die Realien, die Rechtstatsachen sind erste Grundlage für eine gute Gesetzgebung. Die nächste Frage wird sich auf die mögliche Wirkung der Gesetze zu richten haben, d. h. welche Wirkungen und Nebenwirkungen der Gesetze auf Grund der bisherigen Erfahrungen zu erwarten sind. Die dritte, wohl heikelste Frage richtet sich nach der Spannung zwischen Sein und Sollen. Wie groß darf diese Spannung sein? Hat es überhaupt einen Sinn, Normen zu erlassen, die mit der faktischen Wirklichkeit vollständig übereinstimmen und demnach keine Sollenswirkung haben? Diesen verschiedenen Fragen wollen wir hier kurz nachgehen. I. Die Realien und Rechtstatsachen Einen beispielhaften Weg für die Untersuchung der Realien beim Erlaß neuer Gesetze ist Eugen Huber gegangen8 • Er zählte zu den Realien die rechtliche, kulturelle, soziologische, politische und gesellschaftliche Entwicklung. Die Frage nach der Rechtstatsache sei am Beispiel der Gesetzgebung über eine neue Raumplanung erläutert. Ein neues Raumplanungsrecht muß sich harmonisch in die bestehende Rechtsordnung einfügen und gleichzeitig die Grundlage für eine Trendabweichung sein, nämlich die weitere Zersiedelung des Landes zu verhindern. Diese Zielsetzung wird sich nur erreichen lassen, wenn jedermann von Gesetzes wegen verpflichtet wird, den Boden entsprechend der Planung zu nutzenD. Vlenn der Gesetzgeber nun wissen will, inwieweit 8 Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, Basel 1921, S. 282 f., siehe in diesem Band S. 36 - 40. 9 Art. 35, Entwurf zu einem Raumplanungsgesetz: "Die Nutzungspläne enthalten die für jedermann verbindlichen Anordnungen über die zulässige Nutzung des Bodens."

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dieses Ziel, d. h. die Durchsetzung der Nutzungspflicht überhaupt erreichbar ist, muß er sich mit dem bereits bestehenden bisherigen Recht auseinandersetzen. Dabei wird er zum Beispiel feststellen, daß es schon jetzt ein Institut der Nutzungspflicht auf dem Gebiete der Forstwirtschaft gibt. Mit anderen Worten: Er muß sich ein Bild über das bestehende Recht und die einschlägige Rechtsordnung machen. Er wird aber auch zu untersuchen haben, inwieweit sich die bisherigen Normen auf dem Gebiete der Planung überhaupt haben durchsetzen lassen und inwieweit von ihnen abgewichen worden ist. Dabei wird er feststellen, daß vielerorts die Pläne auf dem Papier geblieben sind. Diese Erkenntnis wird den Gesetzgeber zwingen, den Ursachen der mangelhaften Verwirklichung nachzugehen. Bodenspekulation, bestehende Eigentumsverhältnisse und die bestehende Eigentumsordnung, die mangelhafte Rechtswirkung der Pläne, wirtschaftliche Bedürfnisse, mangelhafte Voraussehbarkeit, Wohnungsnot, hohe Erschließungskosten der Gemeinden, mangelhafte Ausgestaltung des Institutes der Erschließungsbeiträge, Hortung des Bodens und schlechte Planung durch Gemeinde und Kantone: alle diese Ursachen werden dazu beigetragen haben, daß sich die Pläne in den Kantonen nicht haben verwirklichen lassen 1o• Solche Untersuchungen werden bereits wesentlich Aufschluß geben können über die Mittel, die zur Durchsetzung bestimmter Ziele notwendig sind. Da auch die Mittel in die bestehende Rechtsordnung harmonisch einzufügen sind, werden sich dabei Zielkonflikte ergeben. Die Durchsetzung der Nutzungspflicht ließe sich beispielsweise mit der totalen Aufhebung des Eigentums an Boden erreichen. Dieses Mittel würde aber in Konflikt mit der bestehenden Eigentumsordnung geraten. Solche Zielmittelkonflikte werden den Gesetzgeber entweder zwingen, andere Institute abzuändern oder gar auf die Verfassungsgrundlage zurückzukommen bzw. nach anderen Mitteln zu suchen, die mit der bestehenden Rechtsordnung übereinstimmen. Sollten diese Mittel aber nicht zum Ziele führen und will der Gesetzgeber die übrigen Rechtsinstitute beibehalten, wird er sich fragen müssen, ob er nicht auch auf das von ihm vorgezeichnete Ziel verzichten will. Schließlich muß der Gesetzgeber Aufschluß über die bestehenden Bedürfnisse der Adressaten haben. Er muß untersuchen, wo die Wurzeln für die Probleme auf dem Gebiete der Raumplanung liegen und beispielsweise wissen, weshalb der heutige Mensch ein Bedürfnis nach größerem und besserem Wohnraum hat. Er sollte sich auch über die politische, gesellschaftliche Bedeutung und Wirkung des Eigentums im klaren sein. Ebenso muß er Kenntnis haben über Gewohnheit und Gebräuche, über die Moralauffassungen der Bevölkerung, die Verhal10 Vgl. dazu den aufschlußreichen Bericht der Kommission des Kantons Zürich für die Reform des zürcherischen Bodenrechts vom 28. März 1972.

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tensweisen von Gruppen und Personen und über die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Die Zweckbestimmungen und die Mittel des Gesetzes sind nun aber auch vom Adressaten, d. h. vom Menschen selber wesentlich eingeschränkt. Der Gesetzgeber kann ja nicht Unmögliches verlangen. Er kann nicht vorschreiben, daß die Fußgänger zu ihrer Sicherheit über die Straße zu fliegen hätten, er kann nicht den 24-Stunden-Arbeitstag einführen oder ein Verbot auf jegliche Nahrungsaufnahme erlassen. Daß die gesetzgeberische Zwecksetzung somit an die physische Natur des Menschen gebunden ist, dürfte allgemein anerkannt sein. Dies sind aber nicht die einzigen Schranken der Normsetzung, die dem Gesetzgeber von der Natur des Menschen her gegeben sind. Er muß von gewissen weiteren Grundbedingungen der Menschennatur ausgehen lt • "A system of rules addressed to rational persons to organize their conduct concerns itself with what they can and cannot do. It must not impose a duty to do what cannot be done. Secondly, the notion that ought implies can conveys the idea that those who enact laws and give orders do so in good faith. Legislators and judges, and other officials of the system, must believe that the laws can b'e obeyed; and they are to assurne that any orders given can be carried out. . .. Laws and commands are accepted as laws and commands only if it is generally believed that they can be obeyed and executed.... Finally, this precept expresses the requirement that a legal system should recognize impossibility of performance as a defense, or at least as a mitigating circumstance. In enforcing rules a legal system cannot regard the inability to perform as irrelevant. It would be an intolerable burden on liberty if the liability to penalties was not normally limited to actions within our power to do or not to do."12 Normen müssen also so gestaltet sein, daß sie überhaupt befolgt werden können13. Schließlich beruht ja das Recht auch auf der im Menschen wirksamen Kraft des Rechtsbewußtseins. Aus dieser Kraft wird das Bewußtsein um die Verbindlichkeit der bestehenden und der zu schaffenden Normen schließlich hergeleitet 14. Dieses Rechtsbewußtsein beruht allerdings nicht nur auf der Tatsache, daß der Mensch sich vollkommen freiwillig den Imperativen einer Norm unterwirft. Der Impe11 Etwa im Sinne des "Minimum Content of Natural Law" von H. L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 189 ff. 12 John Rawls, A Theory of Justiee, Cambridge (Mass.) 1972, S. 237. 13 Anderer Meinung: Walther Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, Basel 1927, S. 248 ff. 14 Hugo Krabbe, L'idee moderne de l'Etat, Reeueil des Cours de l'Aeac\E!mie de Droit international III, 1926, S. 573 ff., und Dietrich Schindler, Der Kampf ums Recht in der neueren Staatsrechtslehre, Festgabe zum Schweiz. Juristentag 1928, S. 9.

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rativ der Norm wirkt nur deshalb, weil der Adressat weiß, daß er gegenüber jedermann durchgesetzt wird. Ein Sonntagsfahrverbot wird sich nicht auf der Basis der Freiwilligkeit durchsetzen lassen. Jeder wird annehmen, der andere werde sich ohnehin der Norm nicht unterziehen. Er will nicht der Benachteiligte sein. Sobald aber die Gewährleistung dafür besteht, daß Normbrecher bestraft werden, wird der Adressat bereit sein, aus Solidaritätsgründen freiwillig seinen Beitrag zu leisten. Das Rechtsbewußtsein und die Freiwilligkeit der Unterwerfung wirken also nur, wenn der Staat dafür Gewähr bietet, daß die Normen rechtsgleich angewendet werden. "By enforcing a public system of penalties government removes the grounds for thinking that others are not complying with the rules. For this reason alone, a coercive sovereign is presumably always necessary, even though in a wellordered societ,y sanctions are not severe and may never need to be imposed. Rather, the 'existence of effective penal machinery serves as men's security to one another."15 Der moderne freiheitliche Rechtsstaat muß somit seine Gesetze darauf abstützen können, daß sie von einem Großteil der Bevölkerung freiwillig befolgt werden. Diese Freiwilligkeit läßt sich aber nur herbeiführen, wenn Gewähr dafür besteht, daß die Nichtbeachtung der Norm bestraft wird. Nur so wird sich derjenige, der die Norm freiwillig befolgt, nicht übertölpelt vorkommen. Unser heutiger Staat wäre gar nicht in der Lage, Normen zu erlassen, die von einern Großteil der Bevölkerung nicht freiwillig befolgt werden. Stellen wir uns beispielsweise vor, die Verkehrsteilnehmer eines Landes würden sich für einen Tag nicht an die Verkehrsvorschriften halten. Das Chaos wäre perfekt; der Staat hätte keine genügenden Mittel, mit denen er den Verkehrsgesetzen Nachachtung verschaffen könnte. Diese Freiwilligkeit besteht eben nur solange, als der Staat gewillt ist, die Verkehrsordnung durchzusetzen. Sobald das Bewußtsein aufkommt, die Geschwindigkeit werde nicht mehr überprüft, wird sich auch derjenige, der sich der Beschränkung bisher freiwillig unterzogen hat, überlegen, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, diese Vorschrift zu befolgen. Die Durchsetzungsordnung gewährleistet somit, daß Normen tatsächlich Sollensinhalte schaffen können, daß sie auf Grund des bestehenden Rechtsbewußtseins und der Durchsetzungsgewährleistung befolgt werden. So ist das Recht, das Sollen, dazu bestimmt, in ein Sein umgesetzt zu werden. Der Dualismus von Wert und Wirklichkeit wird somit nicht nur durch die Norm, sondern auch durch die tatsächliche Beachtung der Norm überwunden l6 . John Rawls (N. 12), S. 240. Dazu Dietrich Schindler (N. 14), S. 17; Hermann U. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, Tübingen 1911, S. 7; Erich Fechner, Rechts15 U

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Normen müssen also effizient sein. Diese Effizienz beruht einerseits auf der Anerkennung der Normen als gerechte und andererseits auf der Gewährleistung der Durchsetzungsordnung. Die Normeffizienz war beispielsweise beim dringlichen Bundesbeschluß über die Maßnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung nicht gewährleistet, weil die kantonalen Planungsinstrumente noch nicht überall vorbereitet waren. Der Gesetzgeber muß sich über die Gewährleistung der Durchsetzung im klaren sein, bevor er Normen erläßt. Es sei an die von Topitsch zitierte Unterredung erinnert, die zwischen dem physiokratischen Projektenmacher Le Mercier und der Kaiserin Katharina H. von Rußland stattgefunden haben soll: "Können Sie mir sagen", fragte die Kaiserin, "welches die besten Wege sind, den Staat gut zu regieren?" - "Es gibt nur einen, Madame, nämlich gerecht zu sein, d. h. den ordre aufrechtzuerhalten und den Gesetzen Achtung zu verschaffen." - "Aber auf welcher Grundlage sollen die Gesetze eines Reiches beruhen?" - "Auf einer allein, Madame, auf der Natur der Dinge und der Menschen."17 Diese Aussage muß nicht unbedingt im Sinne des alten Naturrechtes verstanden werden; sie läßt sich auch so interpretieren, daß nur diejenigen Gesetze, die die Adressaten mitberücksichtigen, eine Chance auf Verwirklichung haben. Nur wenn der Gesetzgeber die normative Kraft des Faktischen - im Sinne einer Rückkoppelung - mitberücksichtigt, wird er richtiges Recht schaffen können. 11. Die Wirkung der Gesetze Das Problem der Wirkung von Normen wurde bereits eingehend behandelt. In diesem Zusammenhang stellt sich lediglich die Frage, wie der Gesetzgeber beim Erlaß der Normen ihre Wirksamkeit zu berücksichtigen hat und inwieweit allenfalls von dieser Wirksamkeit her Schlüsse auf den Inhalt der Normen zu ziehen sind. Es geht also nicht etwa im Sinne von Noll um die Nachkontrolle der Effektivität der Gesetze, die schon verschiedentlich gefordert wurde, sondern um eine aus den bisherigen Erfahrungen zu schließende Vorkontrolle oder Voraussehbarkeit der Wirkung der Gesetze18. Natürlich erfordert eine derartige Voraussehbarkeit genügendes sta~ tistisches Erfahrungsmaterial. Allein, bereits mit den heute uns zur philosophie, 2. Aufl., Tübingen 1962, S. 266; ähnlich auch Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, Berlin 1966, S. 188 ff. 17 Ernst Topitsch, Restauration des Naturrechts? Sachgehalte und Normsetzung in der Rechtstheorie, in ders.: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied/Berlin, 3. Aufl. 1971, S. 64. 18 Zur Nachkontrolle vgl. Peter Noll, Gesetzgebungslehre (N. 6), S. 146 ff. und dort angeführte Literatur, sowie ders., Gründe für die soziale Unwirksamkeit von Gesetzen, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. III, Düsseldorf 1972.

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Verfügung stehenden Möglichkeiten lassen sich gewisse Rückschlüsse auf die Wirkung von Gesetzen ziehen. Wenn beispielsweise gemäß Art. 35 a Abs. 3 und 3bis des Vorschlages des Nationalrates zu einem Raumplanungsgesetz eine generelle Ausnahmebewilligung für Bauten außerhalb der Bauzone vorgesehen ist und diese Ausnahmebewilligung gemäß Abs. 4 von den Kantonen der Gemeindezuständigkeit überantwortet wird, läßt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß diese Norm Grundlage für die Aushöhlung des gesamten Raumplanungsgesetzes sein wird. Sobald nämlich in der Gemeinde eine Ausnahmebewilligung erteilt worden ist, werden mit der Begründung der Rechtsgleichheit weitere folgen; die anderen Gemeinden werden schon aus Konkurrenzgründen nicht nachstehen, und bald wird die Zersiedelung des Landes munter weitergehen wie vor dem Raumplanungsgesetz. Als weiteres Beispiel sei Art. 5 des Bundesgesetzes über die Nationalstraßen zitiert: "Die Nationalstraßen haben hohen verkehrstechnischen Anforderungen zu genügen; sie sollen insbesondere eine sichere und wirtschaftliche Abwicklung des Verkehrs gewährleisten. Stehen diesen Anforderungen andere schutzwürdige Interessen entgegen, wie insbesondere die Erfordernisse der militärischen Landesverteidigung und der wirtschaftlichen Nutzung des Grundeigentums, die Anliegen der Landesplanung oder des Gewässer-, Natur- und Heimatschutzes, so sind die Interessen gegeneinander abzuwägen." Auch hier ließ sich voraussehen, daß eine derartige Norm dem Richter oder Verwaltungsbeamten kaum eine einigermaßen vernünftige Anleitung zur eigentlichen Interessenabwägung gibt. Ähnliches ließe sich bereits beim alten Gewässerschutzgesetz oder beim alten Bundesbeschluß über die Bewilligungspflicht für den Erwerb von Grundstükken durch Personen im Ausland sagen. Beide Gesetze mußten aus den gleichen Gründen, nämlich wegen ihrer Unwirksamkeit, revidiert werden 19 • Es handelt sich hier in der Regel" um sozial unwirksame Gesetze, die ihren Zweck verfehlen, weil schon der Gesetzgeber selbst, meist aufgrund von politischen Motivationen, nur vorgibt, den Gesetzeszweck erreichen zu wollen, oder ihn nur mit halbem Herzen verfolgt ... "20. Dazu gehören beispielsweise Gesetze auf dem Gebiete der Wirtschaftsverwaltung, Umweltschutzgesetze, Preiskontrollgesetze und solche, die in die kantonale Hoheit eingreifen, für deren Durchsetzung aber ein be19 Zum Gewässerschutzgesetz vgl. Botschaft des Bundesrates BBI 1970 II, S. 425 ff., zum Bundesbeschluß über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland vgl. Botschaft des Bundesrates BBI 1972 II, S. 1241. 20 Peter Noll, Gründe für die soziale Unwirksamkeit von Gesetzen (N. 18), S.262.

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sonderer Entscheid des Bundesrates über das Eintreten des Sanktionsmechanismus notwendig ist. Die Erfahrung zeigt, daß Gesetze, die wesentliche Interessen und Bedürfnisse des Menschen beschneiden, bedeutend schwieriger durchzusetzen sind als solche, die den menschlichen Bedürfnissen entgegenkommen. So wird der Gesetzgeber beispielsweise auf dem Gebiete des Umweltschutzrechtes, das zum Teil wesentliche Interessen beeinträchtigen kann, gerade dieser Tatsache besonders Rechnung tragen müssen und den Kontroll- und Sanktionsapparat entsprechend auszugestalten haben. Der Vollzugsapparat, der den Kantonen und Gemeinden zur Verfügung steht, darf personell und materiell nicht überfordert werden. Gerade derartige überlegungen fehlen aber zumeist bei der Ausarbeitung der Gesetze in den Expertenkommissionen und noch mehr bei der Beratung der Gesetze im Parlament. Vielfach ist man der Auffassung, mit dem Erlaß sorgfältig ausformulierter Normen und Vorschriften habe der Gesetzgeber seine Pflicht getan. überdies müssen die weiteren Mittel in Betracht gezogen werden, mit denen die Motivationen der Bevölkerung verändert werden können. Was in Schweden für die Umstellung vom Links- auf den Rechtsverkehr an Erziehungs-, Informations- und anderen Maßnahmen getroffen worden ist, könnte möglicherweise auch für andere Gesetze wegleitend sein. überaus wichtig ist auch die Frage der Nebenwirkung von Rechtsnormen, d. h. danach, inwieweit sich aus Gesetzesnormen erwünschte oder unerwünschte Nebenwirkungen ergeben werden. Auch über diese Nebenwirkungen wurden bereits Erfahrungen gemacht, die heute schon der Gesetzgebung dienlich sind. Auf dem Gebiet des Steuerrechts ist das Phänomen der Nebenwirkung längst bekannt. Wir wissen, daß mit Hilfe des Steuerrechts die Wirtschaft kaum gesteuert werden kann. Selbst die Umverteilung des Eigentums läßt sich über das Steuerrecht nur schlecht bewerkstelligen, da die inflationäre Wirkung der Steuern, die Lohn- und Preiserhöhungen und die damit verbundenen überwälzungen auf den Konsumenten mit in Betracht gezogen werden müssen. Es ist allgemein bekannt, daß sich ein Reklame-Verbot am Fernsehen auf den Inseratenteil in den Zeitungen auswirkt, daß die Mehrwertabschöpfung im Raumplanungsrecht zur überwälzung auf den Mieter führt, daß ein allgemeines Drogenverbot Subkulturen nach sich zieht, daß drastische Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Autobahnen den Eisenbahnverkehr fördern und daß wirtschaftspolizeiliche Maßnahmen in der Regel auch wirtschaftspolitische Nebenwirkungen erzeugen. Natürlich lassen sich nicht alle möglichen Nebenwirkungen eines Gesetzes voraussehen. Der Gesetzgeber sollte aber doch versu-

Voraussetzungen für den Erlaß "richtiger Normen"

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chen, den bekannten Nebenwirkungen von Gesetzen soweit als möglich Rechnung zu tragen. III. Die Spannung von Sein und Sollen

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß der Gesetzgeber von der Wirkungs möglichkeit der Norm Schlüsse zu ziehen hat, sei es auf die Vollzugsinstrumente, sei es auf den Inhalt von Normen21 • Damit wird aber die grundsätzliche und schwierige Frage nach dem zulässigen Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen aufgeworfen. Wie weit darf dieses Spannungsfeld von Sein und Sollen sein? Was kann der Gesetzgeber seinen Bürgern zumuten? Wann muß er von der bestehenden rechtlichen Wirklichkeit Rückschlüsse auf den Inhalt seiner Norm ziehen? Wann soll er sich lediglich damit begnügen, den Vollzugsapparat zu verbessern? Welcher Grad von Normabweichungen, z. B. auf dem Gebiete der Schwangerschaftsunterbrechung, ist notwendig, damit der Gesetzgeber eine Revision seines Gesetzes in Betracht zieht? Natürlich handelt es sich hier weitgehend um Fragen politischer Natur. Aus der Fragestellung "Norm - Wirklichkeit" ergeben sich aber gleichwohl gewisse Gesichtspunkte, gewisse Kriterien, die bei der Beantwortung dieser Fragen berücksichtigt werden sollten. Die folgenden Ausführungen über die beiden Extremseiten des Problems finden sicher allgemeine Zustimmung. Es ist unsinnig, mittels Gesetzen Verhaltensweisen vorzuschreiben, die ohnehin befolgt werden. Eine Norm, die dem Menschen das regelmäßige Atmen vorschreibt, ist keine Sollensvorschrift. Unsinnig sind aber auch Normen, die vom Menschen Unmögliches verlangen. Der Gesetzgeber kann nicht vorschreiben, daß für die juristische Ausbildung eine Reise hinter den Mond notwendig sei. Gibt es aber - neben den angeführten Extremen - gewisse Gesichtspunkte, die uns auch im Mittelfeld dieser Problemstellung Richtlinien für die Entscheidung des Gesetzgebers mitgeben können? Der Gesetzgeber muß sich hier unseres Erachtens auf Grund folgender Kriterien schlüssig werden: 1. Rechtsgleichheit

2. Rechtsbewußtsein 3. Rechtssicherheit 4. Freiwilligkeit und Solidarität 5. Zweck der Norm. 21 Solche Schlußfolgerungen zieht beispielsweise Jörg Paul Müller für die Frage der Sozialrechte, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, ZSR 92 II 1973, S. 715 ff.

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Eine Norm muß dann überprüft bzw. sollte dann nicht erlassen werden, wenn die Rechtsgleichheit bei der Durchsetzung nicht gewährleistet ist. Diese Rechtsgleichheit ist in Frage gestellt, wenn die Norm allgemeine Blankettvorschriften enthält, wenn infolge mangelhafter Kontroll- und Durchsetzungsmöglichkeiten derjenige sich betrogen fühlen muß, der die Norm befolgt, bzw. wenn auf Grund verschiedener Gegebenheiten anzunehmen ist, daß die Vollziehungsorgane die Norm diskriminatorisch anwenden werden. Beim Erlaß von Normen ist auch das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung in Betracht zu ziehen. Normen, die kaum angewendet werden oder wesentliche Interessen der Bevölkerung beeinträchtigen, zerstören allmählich das allgemeine Vertrauen in die Rechtsordnung bzw. das Rechtsbewußtsein. Dies ist insofern gefährlich, als die rechtsstaatliche Normenordnung insbesondere darauf aufzubauen hat, daß sich möglichst viele möglichst freiwillig den Gesetzen unterziehen. Der Gedanke der Rechtssicherheit verlangt, daß unklare Vorschriften oder solche, bei denen Mittel und Zweck auseinanderfallen, oder Normen, die Unsicherheit über den Vollzug aufkommen lassen, verhindert werden. Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Abstützung der Normen auf die freiwillige Befolgung ist der Solidaritätsgedanke. Normen, welche die Solidarität unter der Bevölkerung fördern, lassen eher eine freiwillige Befolgung erwarten als diejenigen, welche von allem Anfang an zu einer Desintegration der Bevölkerung führen. Wenn sie zu rechtlichen oder faktischen Privilegien einiger Bevorzugter führt, welche letztlich nicht dem Wohle aller zugute kommen, wird die Norm ihren Integrationswert verlieren und muß überprüft werden. Darüber hinaus ist auf den Zweck der Norm abzustellen. Kann der Zweck der Norm mit den vom Gesetzgeber bereitgestellten Mitteln nicht erreicht werden, so muß der Zweck selbst fallengelassen oder den Mitteln entsprechend angepaßt werden. Wenn beispielsweise die auf der partnerschaftlichen Zusammenarbeit aufbauende Privatrechtsordnung die freie gesellschaftliche Gestaltung durch die verschiedenen Gruppen nicht mehr möglich macht, fällt ihr Zweck dahin, und die Normen sind entsprechend abzuändern, um diesen Erfordernissen wiederum Rechnung zu tragen. Damit der Gesetzgeber alle diese Fragen sorgfältig und umfassend prüfen kann, müssen ihm die notwendigen Untersuchungsunterlagen zur Verfügung stehen. Ihm ist eine wissenschaftliche Infrastruktur bereitzustellen. In der Schweiz sind Rechtstatsachenforschung und Unter-

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suchungen über Effektivität und mögliche Auswirkung von Gesetzen bisher noch kaum systematisch betrieben und im Ausland erst in jüngster Zeit an die Hand genommen worden. Die Zusammensetzung von Expertenkommissionen, in denen sich meist nur Juristen oder allenfalls Nationalökonomen befinden, läßt darauf schließen, daß wir in der Schweiz auch nur von der Fragestellung noch weit entfernt sind. Es ist daher kaum verwunderlich, daß in unserem Land vornehmlich mit Notrecht gearbeitet wird und daß alle paar Jahre wichtige Gesetze umzuarbeiten sind, um sie den neuen Erfordernissen anzupassen.

D. Die Wirksamkeit von Gesetzen üBER DIE SOZIALE WIRKSAMKEIT VON GESETZEN Von Peter Noll*

Peter NoH, geboren 1926, verbrachte seine Jugend im elterlichen Pfarrhaus in Stein a. Rhein, später in ArIesheim, und besuchte das Gymnasium in Basel. Er studierte Rechtswissenschaft in Basel, Lausanne und Paris und war von 1951 bis 1961 als Gerichtsschreiber am Obergericht des Kantons Basel-Land tätig. 1955 habilitierte er sich an der Universität Basel für Strafrecht und Strafprozeßrecht bei O. Germann mit der Schrift "übergesetzliche Rechtfertigungsgründe". Von 1961 bis 1969 wirkte er als o. Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie und Gesetzgebungslehre an der Universität Mainz. 1969 folgt er einem Ruf nach Zürich, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1982 tätig war, seit 1971 auch als Mitglied des Kassationsgerichtes des Kantons Zürich. Außer durch zahlreiche Abhandlungen auf dem Gebiete des Straf- und Strafprozeßrechts sowie der Strafrechtsreform und sein zweibändiges Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts wurde Noll vor allem durch sein Buch: Gesetzgebungslehre (Hamburg 1973) bekannt. Der nachfolgende Beitrag gehört zu den Vorstudien zu diesem Buch. Rainer Mössinger

1. Ein erster Grund für faktische Nichtgeltung gesetzlicher Normen oder allgemeiner: von Nichterfüllung der gesetzgeberischen Absicht liegt in Mängeln, die schon in der Zielvorstellung des Gesetzgebers selbst gegeben sind. Der Gesetzgeber will etwas objektiv Unmögliches oder er verfolgt zwei Zwecke gleichzeitig, die sich gegenseitig ausschließen, z. B. Vollbeschäftigung einerseits und absolute Stabilität der Währung andererseits. Die Norm kann auch so abstrakt und unbestimmt sein, daß über ihre Realisierung erst etwas ausgesagt werden kann, wenn ein bestimmter historischer Kontext oder eine weiterführende, konkretisierende Praxis als weiterer, geschriebener oder ungeschriebener Normeninhalt in die unbestimmt und abstrakt gehaltene Norm hineingelesen wird. So läßt sich kaum etwas über die faktische

* Aus: Papierne Paragraphen?, in Mainzer Universitätsgespräche WS 1969/

70, S. 58 - 63.

5 Rehbinder (Hrsg.)

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Geltung oder Nichtgeltung der Grundrechtsnormierungen ohne Blick auf die konkretisierende Verfassungsgerichtsbarkeit aussagen. Man hat deshalb diese obersten Rechtssätze auch schon als Leerformeln bezeichnet (Topitsch). Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit werden in verschiedenen Rechts- und Sozials,ystemen ganz verschieden definiert, interpretiert und realisiert. Sie eignen sich deshalb auch besonders gut dazu, als reine Symbole und Aushängeschilder über einer ganz andersartigen Wirklichkeit mißbraucht zu werden. Sie sind dann eher selbstdarstellerische Behauptung, die der Staat, sei es auch zur Täuschung, über sich selber aufstellt, als eigentliche Verhaltensanordnungen. So wie jeder Staat behauptet, ein guter Staat zu sein, so bezeichnet er sich eben auch als demokratisch, freiheitlich, gerecht, sozial. Nur wenn zugleich, wie z. B. in der Bundesrepublik, ein jedermann zugängliches Verfahren vor unabhängigen Gerichten, die alle Normen und Entscheidungen überprüfen können, zur Verfügung gestellt wird, sind diese obersten Normen mehr als staatliches Selbstlob. 2. Der zweite und wichtigste Grund für das Verfehlen gesetzgeberischer Ziele liegt im Ungehorsam der Normadressaten. Die Vorstellung, daß der Gesetzgeber wie ein Gott kraft seines Wortes die Wirklichkeit gestalte, daß man nur etwas in ein Gesetz zu schreiben brauche, um es auch schon realisiert zu haben, hat sich längst als naiv erwiesen, obwohl sie immer noch weithin praktiziert wird. Es gibt keine Gesetze, die nie übertreten werden, die also absolute faktische Geltung besitzen. Solche Gesetze wären sogar sinnlos, denn sie müßten etwas verbieten, was zu tun ohnehin unmöglich wäre. Untersuchungen über die statistische Häufigkeit von Gesetzesübertretungen gibt es eigentlich nur im Strafrecht, obwohl die Frage in anderen Rechtsgebieten genau so interessant ist. Auch im Strafrecht sind wir aber, bei der Schätzung der sog. Dunkelziffern, weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Immerhin wissen wir, daß die Dunkelziffern z. B. bei den Tötungsdelikten verhältnismäßig niedrig, bei der Abtreibung, bei der Homosexualität, bei der Beleidigung und bei den übertretungen der Straßenverkehrsvorschriften sehr hoch sind. Der Vergleich gibt Hinweise auf die Gründe für die erhöhte oder verringerte faktische Geltung der entsprechenden Normen. Dunkelziffern werden immer dann groß, wenn Entdeckungschance und Verfolgungsintensität gegenüber der übertretung gering und die persönlichen Motive für die übertretung entsprechend stark sind. Zwischen diesen Gründen bestehen äußere und psychologische Zusammenhänge, die erst zu einem geringen Teil erforscht sind. So kommt eine kriminologische Mainzer Dissertation zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß die Zahl der Diebstähle in einem bestimmten Gebiet sich umgekehrt proportional zu der Zahl der Kriminalbeamten verhält. Offenbar haben also die Diebe ein

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feines Gespür für die in ihrem Arbeitsgebiet gegebene Verfolgungsintensität. Ferner läßt sich feststellen, daß die Tätigkeit des staatlichen Sanktionsapparates allein nie genügt, um verhältnismäßig hohe faktische Geltung von Normen zu erzielen, sondern daß die Verwirklichung von Sanktionen fast immer die Mitwirkung der Bevölkerung, vor allem eines Geschädigten voraussetzt. Wo ein solcher wie bei der Homosexualität nicht vorhanden ist oder wie bei der Abtreibung sich nicht äußern kann und als Individuum für einen weiteren Personenkreis noch nicht sichtbar ist, wird die Befolgungschance sofort sehr gering. Die rechtspolitisch äußerst gewichtige Frage, wie der Gesetzgeber reagieren soll, wenn ihm dieser Zustand bekannt wird, kann ich hier nur kurz streifen. Zunächst läßt sich beobachten, daß mit einer offenkundigen Häufung der Übertretungen das Bewußtsein der Verbindlichkeit der Norm abnimmt und daß davon meistens auch die Verfolgungsorgane selbst betroffen werden. Beispiele dafür sind das Kohleklauen und das "Organisieren" von Lebensmitteln im Schwarzhandel unmittelbar nach dem Krieg, beides gesetzlich verbotene Handlungen, die praktisch nicht mehr verfolgt wurden. Dabei ist wesentlich, daß die Häufigkeit der übertretung offenkundig wird. In diesen Zusammenhang gehört der Hinweis auf die "präventive Funktion des Nichtwissens" (Popitz) und die Untersuchung von Anne-Eva Brauneck, aus der sich ergibt, daß das Unwissen um die kriminellen Dunkelziffern eine heilsame Funktion hat, weil jeder Bürger glaubt, die anderen seien besser als er selber, und sich daher anstrengt, nicht noch schlechter zu werden (AnneEva Brauneck, in: Erinnerungsschrift für Max Grünhut, 1964). Wie stark das Konformitätsbedürfnis die Gesetzestreue beeinträchtigen kann, wenn die Gesetzesübertretungen der anderen für den Normadressaten unmittelbar sichtbar sind, zeigt sich etwa bei Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr. Ist an Baustellen auf der Autobahn eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 Stundenkilometern vorgeschrieben, so wird doch kolonnenweise etwa mit 100 Stundenkilometern gefahren, und derjenige, der sich an die Norm halten will, wird bald eine Reihe von hupenden und blinkenden Autofahrern hinter sich haben. Das heißt: eine Adressatengruppe entwickelt spontan Gegennormen, deren Verbindlichkeit stärker ist als die vom Gesetzgeber erlassenen Vorschriften. Die Beobachtung läßt sich verallgemeinern. Neben den individuellen Gegenmotivationen sind wichtigster Grund für die faktische Unwirksamkeit von Gesetzesnormen die informellen Normen, die sich in jeder Gruppe ständig bilden und die den gesetzlichen Normen unter Umständen zuwiderlaufen. So erweist es sich fast als unmöglich, durch Gesetze und Gerichtsurteile die Gleichberechtigung der Neger in Amerika durchzusetzen, weil die gesellschaftlichen Gegennormen der Weißen 5'

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und zum Teil auch der Neger selbst die Rassentrennung und die Diskriminierung der Neger verlangen. Daß die Gangster nach ihren eigenen Gesetzen leben und diese brutaler durchsetzen, als der Staat es mit seinen Normen tut, ist bekannt. Es ist offensichtlich unmöglich, alle Gruppenbildungen, denen eigentliche Subkulturen - und das sind eben Anti-Ordnungen oder zumindest Nebenordnungen außerhalb des Rechts - entsprechen, zu verhindern; und doch wäre dies der wohl wirksamste Durchsetzungsakt zum Zwecke der Verwirklichung des Rechts. Bekannt sind die Subkulturen der Gefängnisse, nicht nur der Gefangenen, sondern auch der Gefängnisbeamten, bekannt ist auch die Subkultur der Polizisten, die dazu führt, daß Körperverletzungen im Amt und sonstige Amtsdelikte, z. B. bei Studentendemonstrationen, kaum je aufzuklären sind. Aber auch in Bereichen höheren sozialen Prestiges erweist sich das Solidaritätsgefühl einer Gruppe oft als stärker denn die Motivation durch die staatlichen Gesetze, genau nach dem Satz: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. So ist es häufig nicht einfach, über den Kunstfehler eines Arztes ein objektives Gutachten eines Kollegen zu bekommen. Jede Gruppe, d. h. jede Personenmehrheit, die sich für einige Dauer zusammenfindet, entwickelt spontan informelle Normen des gegenseitigen Verhaltens, die oft, selbst bei formeller Gleichberechtigung der Mitglieder, hierarchische Strukturen enthalten. Wir können dies überall, in Familien, Fakultäten, Vereinen, Schulklassen, Betrieben usw. beobachten. Wie diese Verhaltensnormenentstehen und von welchen Vorstellungen sie begleittet sind, zeigt auf höchst eindrückliche Weise die Freiburger Dissertation von Gerd Spittler, Norm und Sanktion (1968), in welcher u. a. das Verhalten des Küchenpersonals eines Großrestaurants untersucht wurde. Um die Beobachtungen ungehindert machen zu können, hatte Spittler sich als Geschirrspüler einige Wochen lang anstellen lassen. Besonders aufschlußreich ist das Kapitel über die Rolle des Lehrlings (S. 47 ff.): "Die ... Verhaltenserwartungen, die sich an die Rolle des Lehrlings knüpfen, können wir abstrakt unter zwei Prinzipien zusammenfassen: Es wird von ihm ein besonderer Arbeitseifer erwartet und eine besondere Ehrerbietung gegenüber dem Meister" (S. 48). Der Abstand zwischen der Realordnung, die von den Lehrlingen befolgt werden muß, und der Rechtsordnung, wie sie im Grundgesetz, im Arbeitsrecht und vermutlich auch in den vertraglichen Bestimmungen niedergelegt ist, dürfte beträchtlich sein. Der Eindruck drängt sich auf, daß der Lehrling noch keine volle Menschenwürde besitzt, sondern diese erst allmählich erwerben muß. Eine entsprechende Untersuchung über das Verhältnis zwischen Professoren und Assistenten steht meines Wissens noch aus. Mit der Angabe von Dunkelziffern läßt sich der Abstand zwischen Legalordnung und Realordnung in solchen Verhältnissen nicht hinrei-

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chend beschreiben, obwohl natürlich dauernd auch zahlreiche Bagatelltatbestände des Strafrechts seitens des Küchenchefs erfüllt werden: Nötigung, Beleidigung, leichte Körperverletzung. Eher läßt sich angeben, unter welchen Bedingungen solche vor dem Zugriff des Rechts weitgehend geschützten, an Hackordnungen erinnernde SozialnormenKomplexe entstehen. Es ist dies immer dann der Fall, wenn Menschen eng zusammenleben und gegenseitig aufeinander angewiesen sind: in der Familie, in Anstalten, in kleinen Betrieben, in denen die Mikroorganisation weitgehend den Mitgliedern der Gruppe überlassen bleibt, ohne daß objektive Kontrollinstanzen vorhanden wären. Je abgeschlossener und abgeschirmter diese autonom regulierten Gruppenbereiche sind, desto gedämpfter erreicht sie das Licht des Rechts. Es verhindert nur noch äußerste Auswüchse und auch diese nicht immer mit Sicherheit, wie die Ereignisse in Klingelpütz und in der "Glocke" beweisen. Um so mehr muß rechtspolitisch danach getrachtet werden, solche Bereiche nach außen transparent zu machen, z. B. im Strafvollzug Briefverkehr und Besuche möglichst ungehindert zuzulassen, ganz abgesehen davon, daß auch unter dem kriminalpolitischen Gesichtspunkt der Resozialisierung des Gefangenen es als angezeigt erscheint, dessen Kontakte mit der Außenwelt, in die er später wieder eintritt, nicht abzuschneiden, sondern im Gegenteil zu fördern. Dies ist denn auch das Programm des Alternativentwurfs. Das beobachtete Verhalten ist im allgemeinen besser als das unbeobachtete, und der Abstand zwischen Legalordnung und Gruppenordnung würde wesentlich geringer, wenn in dem von Spittler geschilderten Fall die Küche vom Restaurant optisch und akustisch nicht getrennt wäre. Das Strafrecht hat sich, im Gegensatz zu anderen Rechtsdisziplinen, mit der Kriminologie eine empirische Wissenschaft angegliedert, die vor allem auch die Wirksamkeit gesetzlicher Normierungen kontrolliert. Wie soeben hervorgehoben, ist solches im Strafrecht, das mit genau definierten rechtswidrigen Einzelakten zu tun hat, auf welche jeweils ebenso genau definierte Sanktionen folgen, leichter und näherliegend, als etwa beim Zivilrecht oder im öffentlichen Recht. Dennoch ist der Vergleich zwischen dem vom Zivilrecht und dem öffentlichen Recht beherrschten Realgeschehen und den wissenschaftlichen Methoden, die dieses beobachten, einerseits und dem vom Strafrecht beherrschten Realgeschehen und den Anregungen der kriminologischen Wissenschaft andererseits immer wieder ungeheuer gedankenträchtig. Wie wäre z. B. eine der Kriminologie entsprechende und vergleichbare fruchtbare begleitende empirische Wissenschaft für das Zivilrecht und das öffentliche Recht zu entwickeln? Sollte es eigentlich nicht möglich sein - um nur ein Beispiel herauszugreifen - neben der Kriminalstatistik auch eine Zivilstatistik nach übergeordneten wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu führen, die beispielsweise sich mit der Zahl von Eheschei-

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dungen, Vaterschaftsurteilen, Adoptionen, Gesellschaftsgründungen, Konkursen usw. befaßte? Und warum werden eigentlich bei Individualanalysen immer nur Kriminelle oder Lehrlinge oder Arbeiter, also Angehörige unterer Schichten untersucht und warum nicht auch die Lebensläufe von Professoren, Direktoren und Ministern systematisch ausgewertet? Ist nicht auch die Wissenschaft befangen in einem Vorurteil, das durch den sozialen Ort der sie Betreibenden bedingt ist und ihre Fragestellungen bestimmt? Warum wird eigentlich immer nur von oben nach unten und nie von unten nach oben wissenschaftlich geforscht? Zum Forschungsobjekt zu werden, scheint eine Abwertung zu sein. Das gilt sogar für Normen selbst. Oberste Normen lassen nicht einmal, schon nach ihrer grammatikalischen Formulierung, die Möglichkeit ihrer Verletzung zu. Die Verfassungen setzen die Grundrechte in der Form des kategorischen Indikativs. Die Würde des Menschen ist unantastbar; alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Diese Normen scheinen, im Gegensatz zu den strafrechtlichen, die gerade auf die 'Übertretung hin formuliert sind, gar nicht damit zu rechnen, daß sie verletzt werden können. Besonders dringend geboten sind meines Erachtens rechtstatsächliche Untersuchungen über die faktische Normgeltung auf dem Gebiet des Zivilrechts, besonders etwa im Schuld recht und im Erbrecht. Schon Tocqueville hatte erkannt, daß mit dem Erbrecht - heute auch mit dem Erbschaftssteuerrecht - eine Gesellschaft in wenigen Generationen total umgestaltet werden kann. Das ausschließliche Erbrecht des ältesten Sohnes war eine wesentliche Stütze des Feudalismus; das gleiche Erbrecht aller Kinder hat in vielen Gegenden einen leistungsfähigen landwirtschaftlichen Grundbesitz zerstört. Die Normen sind in diesen Fällen wirksam geworden, haben aber Wirkungen gezeitigt, die zwar möglicherweise dem historischen Gesetzgeber erwünscht sein mochten, die aber einer kritischen überprüfung mit Kriterien übergeordneter Gerechtigkeitsvorstellungen nicht standhalten. Noch viel problematischer ist die Frage nach der Wirksamkeit von zivilrechtlichen Normen, insbesondere des Schuldrechts, die den Austausch von Leistungen und Gütern regeln. Offenbar funktionieren diese Normen überhaupt nur, wenn zwischen den Vertragspartnern ein annäherndes Machtgleichgewicht besteht, und man wird immer wieder stark an den Satz von Thukydides erinnert, das Recht sei eine Beziehung zwischen gleich Starken. Am letzten Freitag (23. Januar 1970) brachte das Fernsehen der französischen Schweiz eine Sendung über "L' Afrique noire a Paris", in der die Verhältnisse der neu eingewanderten Afrikaner in Paris geschildert

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wurden. Sie wohnen in baufälligen Häusern allerprimitivsten Zuschnitts; die Vermieter, denen meistens mehrere solcher Häuser gehören, werden "Schlafverkäufer" genannt, weil sie jedes von den Betten in einem Raum an mehrere Afrikaner vermieten, die sich dann in zeitlich gestaffelten Schichten schlafen legen. Die Ausbeutung, auch der Verkauf von Lebensmitteln und Mahlzeiten, ist monopolisiert in der Weise, daß kein Konkurrent in das betreffende Gebiet eindringen kann und früher vorhandene Konkurrenten ausgekauft werden müssen. Natürlich ist das alles Wucher in krassester Form; aber das Zivilrecht ist offensichtlich unfähig, diese Zustände zu verhindern. Mit der Feststellung, daß diese Verträge, soweit von solchen überhaupt gesprochen werden kann, allesamt nichtig sind, ist niemandem geholfen, ebensowenig mit der Bestrafung der Wucherer. Nur wenn die Eigentümer, Vermieter und Verkäufer gezwungen würden, bestimmte Verträge zu bestimmten Bedingungen abzuschließen und einzuhalten, würden einigermaßen gerechte Verhältnisse hergestellt. Eine so starke staatliche Intervention würde aber praktisch einer Sozialisierung gleichkommen. Die Frage drängt sich auf: Was ist das für ein Recht, das solches zuläßt? Ist das Zivilrecht überhaupt Recht, ist es ein Normenkomplex, der Ungerechtigkeit auch sichtbarster Art verhindern kann? Ist es nicht einfach eine äußerliche Reglementierung bestehender Machtverhältnisse, gerecht, wenn diese gerecht sind, ungerecht, wenn sie ungerecht sind? Auffällig ist jedenfalls, daß reine Zivilrechtsgesellschaften, wie im alten Rom oder im heutigen Südamerika, die kein korrigierendes Sozialrecht haben, Gesellschaften krassester Ausbeutung und Ungleichheit sind. Daß das Recht als unerfüllter Anspruch über der unbewältigten Wirklichkeit steht, wie im Völkerrecht, wird man sich wohl immer gefallen lassen müssen; daß es sich aber den bestehenden Machtverhältnissen, seien sie noch so ungerecht, unbeschränkt anpaßt, ist schwer zu ertragen. Recht wäre dann auch eine Konzentrationslagerordnung. 3. Die gezeigten Erscheinungen der Rechtswirklichkeit finden eine Entsprechung und lassen sich teilweise erklären in formalen Normstrukturen, die zudem für eine ziemlich sinnvolle Normentypologie Verwendung finden könnten. Die Normen des Zivilrechts und des Strafrechts sind auf unbestimmt viele Fälle anwendbar, die sich immer wieder in gleicher Weise ereignen und in gleicher Weise entschieden werden sollen. Morde werden immer wieder vorkommen und sollen immer bestraft werden; Kaufverträge werden immer wieder geschlossen, und der Käufer soll immer den vereinbarten Kaufpreis zahlen, der Verkäufer die versprochene Sache liefern. Die Normen sind so formuliert, daß jedesmal, wenn ein Tatbestand erfüllt ist, die entsprechende Rechtsfolge 'eintreten soll. Sie sind auf Einzelgerechtigkeit ausgerichtet und gehen von einem gleichbleibenden Gesamtzustand aus, letztlich

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von einer stabilen Gesellschaft, deren Ordnung stillschweigend als gerecht supponiert wird. Sie beruhen auf der unausgesprochenen Hypothese, daß die Summe der Einzelgerechtigkeit zugleich die Gesamtgerechtigkeit sei. Leider trifft dies nur sehr bedingt zu. Auch wenn es in jedem einzelnen Fall gerecht sein mag, die Verbrecher der gesetzlich vorgesehenen Strafe zuzuführen, kann dies doch unter Umständen insgesamt zu einer Steigerung der Gesamtkriminalität führen und so zu einem insgesamt unerwünschten Zustand. Auch wenn die Erfüllung freiwillig übernommener Verpflichtungen im Vertragsrecht in jedem einzelnen Fall gerecht sein mag, kann die Anwendung dieser Zivilrechtsregeln doch insgesamt zu extrem unsozialen und ungerechten Zuständen führen. Das heißt, die Anwendung dieser Normen zeitigt auf die Dauer Nebenwirkungen und Spätwirkungen, die gesamthaft einen Zustand bilden, der ganz und gar unerwünscht ist und korrigiert werden muß. Die Normen, die im sozialen Rechtsstaat diese Korrektur versuchen, sind die sog. Maßnahmengesetze, wie der von Forsthoff in nicht ganz unpolemischer Absicht eingeführte Begriff sich eingebürgert hat. Maßnahmengesetze streben nicht in erster Linie die Einzelfallgerechtigkeit an, sondern visieren einen Gesamtzustand und wollen diesen ändern oder seine Verschlimmerung verhindern. Sie korrigieren die Gesamtergebnisse der auf Einzelfallgerechtigkeit ausgerichteten Normen. Sie bewirken große Umverteilungen des Sozialprodukts und sind als solche meistens auch im jährlichen Staatsbudget zahlenmäßig sichtbar. In ihrer Mikrostruktur können diese Gesetze allerdings auch wieder Normen enthalten, die eine unbestimmt häufige Tatbestandserfüllung VOraussetzen, Normen z. B., die festsetzen, wann jemand in den Genuß bestimmter Sozialleistungen gelangt. 4. Die unerwünschten und größtenteils auch nicht voraussehbaren Nebenwirkungen und Spätwirkungen von rechtlichen Normen bilden eines der größten Probleme der politischen Handlungslehre. Allen großen Staatstheoretikern, von Plato bis Marx, schwebte ein Zustand der Gesellschaft vor, der ein für allemal so normiert ist, daß er sich gewissermaßen von selbst im Gleichgewicht hält und nie mehr geändert werden muß. Karl Raimund Popper nennt diese Theorien holistische und stellt ihnen seine "Stückwerk-Sozialtechnologie" gegenüber. "Wie Sokrates weiß der Stückwerk-Ingenieur, wie weniger weiß. Er weiß, daß wir nur aus unseren Fehlern lernen können. Daher wird er nur Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig mit den tatsächlich erreichten vergleichen, immer auf der Hut VOr den bei jeder Reform unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen. Er wird sich auch davor hüten, Reformen von solcher Komplexität und Tragweite zu unternehmen, daß es ihm un-

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möglich wird, Ursachen und Wirkungen zu entwirren und zu wissen, was er eigentlich tut ... Im Gegensatz zur Stückwerk-Sozialtechnik hat die holistische oder utopische Sozialtechnik nie ,privaten', sondern immer ,öffentlichen' Charakter. Sie will ,die Gesellschaft als Ganzes' nach einem feststehenden Gesamtplan ummodeln, will ,die Schlüsselpositionen in die Hand bekommen' und die Macht des Staates erweitern, bis ,der Staat mit der Gesellschaft fast identisch wird', und sie will ferner von den ,Schlüsselpositionen' aus die geschichtlichen Kräfte lenken, welche die Zukunft der sich entwickelnden Gesellschaft gestalten, indem sie entweder diese Entwicklung aufhält oder ihren Verlauf voraussieht und ihm die Gesellschaft anpaßt" (Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. 54, mit Zitaten von Mannheim). "Je größer die Veränderungen sind, die der Holismus durchzuführen versucht, desto größer sind ihre unbeabsichtigten und zum großen Teil unerwarteten Rückwirkungen, die den holistischen Ingenieur zwingen, zur Improvisation und damit zur Stückwerk-Technik Zuflucht zu nehmen. Dies charakterisiert die zentrale oder kollektivistische Planung sogar in höherem Maße als die bescheideneren und vorsichtigeren Eingriffe der Stückwerk-Technik und treibt den utopischen Ingenieur dauernd zu Aktionen, die er nicht geplant hat, führt also zu dem notorischen Phänomen der ungeplanten Planung" (Popper S. 55). Der Holist nährt sich von der Illusion, es wäre eine Ordnung konstruierbar, in der keine unerwünschten Nebenwirkungen und Spätwirkungen der einmal statt gefundenen Normierung mehr eintreten. Die Summe der Einzelfallgerechtigkeiten wäre nach seiner Vorstellung dann identisch mit der Gesamtgerechtigkeit; es würde nie mehr Situationen geben, in denen korrigierende Maßnahmengesetze erlassen werden müßten. Von der Normenstruktur her gesehen, ist er gegen immer wieder zu erlassende Maßnahmengesetze; er will die grundsätzlich auf einen stabilen Gesellschaftszustand bezogenen jedesmal-wenn-Gesetze. Für ihn müßte es, wenn einmal durch die entscheidenden Maßnahmen die Gesellschaft nach seiner Vorstellung total geändert ist, nur noch auf Stabilität ausgerichtete Dauergesetze, jedesmal-wenn-Gesetze geben wie Zivilrecht und Strafrecht. In Wirklichkeit funktionieren diese Ordnungen nur, wenn und weil die Grundbedingungen ihres Funktionierens durch Maßnahmengesetze, die das Makrogeschehen ständig steuern, gesichert werden. Die Meinung, daß beispielsweise das Zivilrecht einen gegebenen sozialen Zustand dauernd im Gleichgewicht halte, daß es gewissermaßen eine natürliche, organische Ordnung sei, ist eine Illusion. Auch ein Zoologischer Garten macht den Eindruck eines natürlichen Gleichgewichtszustandes: Die Tiere haben genug zu essen, vermehren sich in Grenzen, fressen keine Menschen und auch sich gegenseitig nicht auf. Doch all dies

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natürlich nur, weil ein gesicherter äußerer Rahmen besteht, weil Nachschub, überwachung usw. von außen gewährleistet werden. Zivilrecht und Strafrecht sind gewissermaßen Binnenordnungen, die das tägliche Mikrogeschehen in der Gesellschaft reglementieren, die aber keine Fehlentwicklungen im Makrogeschehen verhindern können und die auch nicht mehr funktionieren, wenn der sichernde äußere Rahmen entfällt, wenn beispielsweise große Wirtschaftskrisen oder Kriege ausbrechen. In Teilbereichen beweisen dies nur Subkulturen, die immer dann entstehen, wenn der äußere Rahmen der Grundbedingungen der Wirksamkeit der Mikrorechtsordnung nicht mehr vorhanden ist: das staatliche Recht gilt an der 5th Avenue, aber nicht in Harlem. Entfallen diese Grundbedingungen für eine ganze Gesellschaft, gleitet sie insgesamt in eine Subkultur ab: der Handel wird schwarz, private Gewalt tritt an Stelle der staatlichen, das normale Verhalten wird kriminell. Insofern mag earl Schmitt recht gehabt haben, wenn er meinte, das Recht funktioniere nur im Normalzustand; nur hat er übersehen, daß es gerade die Hauptaufgabe des Rechts ist, den Normalzustand, der sein Funktionieren im Binnenbereich garantiert, durch dauernde überprüfung und Korrektur der Normenergebnisse zu erhalten.

WAS VERSTEHT MAN UNTER DER EFFEKTIVITÄT EINER RECHTSNORM? Von

Jean-Fran~ois

Perrin*

Jean-Francois Perrin wurde 1937 in Genf geboren. Nach 6 Semestern an der Universität Genf schloß er sein Studium mit dem Lizentiat ab, verbrachte dann zwei Semester in München als Austauschstudent und erwarb das Genfer Anwaltspatent 1965. 1966 bis 1969 war er Assistent für Internationales Privatrecht und doktorierte 1969 über "die "Anerkennung der ausländischen Gesellschaften, eine Studie im Schweizerischen IPR". Kurz darauf wurde er zum Assistenzprofessor ernannt und ist seit 1975 Ordinarius für Zivilrecht, allgemeine Rechtstheorie und Rechtssoziologie.

Prof. Perrins Werk spiegelt die Vielfalt seiner Interessen: vom Familienrecht über die Informatik ("Das öffentliche Recht und die Fortschritte der Technik", Genf 1970) zur Rechtstheorie. Seine wichtigsten rechtssoziologischen Arbeiten betreffen die Analyse vom Familienrecht und gelebter Wirklichkeit: "Öffentliche Meinung und Eherecht" (Genf 1974), "Scheidung in Europa" (Leiden 1977, Kollektiv) und "Ehe im Alltag. Soziale Ungleichheiten, kulturelle Spannungen und familiäre Organisation" (Lausanne 1982, Kollektiv). Ein weiteres Thema ist das Verhältnis der allgemeinen Rechtstheorie zur Soziologie: "Theoretischer Grundstein zum Studium der Schaffung von Rechtsnormen" (Genf 1978), "Rechtsphilosophie durch Rechtssoziologie?" (Genf 1980) und "Die Sozialwissenschaften und das Recht" (in Sociologia deI diritto, 1982). Catherine Zufferey

I. Effektivität und Wirksamkeit Der Schöpfer einer rechtlichen Norm verfolgt eine Absicht und wählt, um sein Ziel zu erreichen, ein Mittel dazu aus. Er will zum Beispiel die Folgen von Verkehrsunfällen beschränken und erklärt zu diesem Zwecke das Tragen eines Sicherheitsgurtes in Automobilen oder eines Schutzhelmes für Motorradfahrer für obligatorisch. In der Folge kann man beobachten, in welchem Grade der Zweck erreicht wurde, oder man kann den tatsächlichen Anwendungsgrad des Mittels beurteilen. Im ersten Falle - wenn man das Ziel seinem Verwirklichungsgrad gegenüberstellt - mißt man die Wirksamkeit einer Norm oder eines Normensystems. Im zweiten Fall - wenn man mißt, ob die durch die

* übersetzt aus: Pour une theorie de la connaissance juridique, Geneve 1979, S. 91 - 94.

Jean-Fran!;ois Perrin

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Norm vorgeschriebene Anweisung tatsächlich das vorgesehene Verhalten hervorgerufen hat - mißt man die Effektivität der Norm. Folgende Bemerkungen seien einleitend zu diesen Begriffen gemacht: 1. Die beiden Begriffe Effektivität und Wirksamkeit stehen zwar mit-

einander in Verbindung, können aber nicht auf die Gleichung hin vereinfacht werden: Wenn die Regel effektiv ist ->- ist sie auch wirksam.

Denn in Wirklichkeit existieren alle möglichen "widernatürlichen" Kombinationen!. Es ist vor allem möglich, daß eine Norm in einem hohen Grade effektiv ist, aber gleichwohl unwirksam, weil das Mittel ungeeignet war2. 2. Das Studium der Beziehung zwischen "Wirksamkeit" und "Effektivität" gehört zum Bereich der "Wirkungen" des Rechts und entfernt uns von der genetischen Perspektive, auf die wir uns in diesem Essay beschränken wollen. Die Untersuchung der Effektivität - direkter als diejenige der Wirksamkeit - stellt die normative unmittelbare Absicht (das Verhaltensmodell) der Wirklichkeit gegenüber, und wir werden sehen, daß das Recht das Ergebnis dieser Gegenüberstellung in seine Definition aufgenommen hat. Wir können daher nicht auf ein Studium der Effektivität verzichten selbst wenn wir uns darauf beschränken würden, eine Definition der Norm zu erarbeiten. 3. Die Terminologie ist in der Rechtstheorie - mehr noch als in der Rechtssoziologie - sehr verschwommen. "Effektivität" und "Wirksamkeit" werden zum Beispiel leider in synonymer Bedeutung in der französischen übersetzung der "Reine Rechtslehre" von Kelsen verwendet3. Wir werden soweit wie möglich diese Verwechslungen zu vermeiden suchen und das Wort "Effektivität" nur für das verwenden, was sich auf die direkte Gegenüberstellung des von der Norm vorgeschriebenen Modells mit dem konkret aufgetauchten Verhalten bezieht.

11. Soll man den Begriff Effektivität in der Rechtstheorie verwenden? 1958 schrieb Carbonnier: "Ein sehr verworrenes Problem, dessen Erschließung jedoch sehr nützlich für die Grundlegung einer soziologiDazu Raymond Boudon, Effets pervers et ordre social, Paris 1977. Das behaupten zum Beispiel einige Experten, die den Zwang zum Tragen von Sicherheitsgurten aus medizinischen Gründen ablehnen. 3 Hans Kelsen, Theorie pure du droit, übersetzung von Thevenaz, Neuchätel 1953. 1 2

Was versteht man unter der Effektivität einer Rechtsnorm?

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schen Gesetzgebung wäre: Welcher maximale Ineffektivitätsgrad ist mit der Existenz einer Rechtsnorm vereinbar? Es ist sehr wahrscheinlich, daß unsere normativen Vorurteile ihn zu tief ansetzen lassen 4 ." Wenn die Regel einmal kundgemacht worden ist, glaubt der Gesetzgeber seine Aufgabe erledigt zu haben. Die Regierung hat ebenfalls den natürlichen Drang, den Mythos von der Allmächtigkeit des Gesetzes zu akzeptieren. Die Regel ist rechtsgültig geworden, also wird sie auch angewandt! Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: Eine rechtliche Norm, tadellos gemäß den Vorschriften der formellen Quellentheorie erlassen, wird nicht jedesmal angewandt, wenn sie es müßte. Es kommt sehr häufig vor, daß sie toter Buchstabe bleibt, obwohl alle Bedingungen erfüllt sind. Wir befinden uns also in einer sogenannten Ineffekti vi tä tssi tua tion. ßI. Die verschiedenen Effektivitätsfaktoren Aus welchen Gründen gelingt es dem Gesetzgeber oder gelingt es ihm im Gegenteil nicht, das Verhalten der Rechtsadressaten zu steuern? Welche Faktoren begrenzen seine Macht? Auf diese Fragen wollen wir jetzt zu antworten versuchen. Wir gehen dazu von einigen Hypothesen aus, die in der theoretischen Rechtssoziologie zwar latent vorhanden sind, aber bis jetzt noch nicht empirisch überprüft wurden. 1. Der Effektivitätsgrad einer Norm ist vor allem zum Zeitpunkt ihres

Erlasses veränderlich, und zwar aufgrund von Faktoren, deren Wirkungen sich häufen oder miteinander kombinieren. Es ist jedoch, zumindest theoretisch, möglich, diese Faktoren zu isolieren und in einer soziologischen Analyse ihre jeweilige Bedeutung zu messen. Diese Faktoren beeinflussen das Verhalten der entsprechenden Rechtsunterworfenen, indem sie sie dazu anhalten: - ihr Verhalten dem Vorgeschriebenen anzupassen (Gehorsamsfaktor) oder - sich für ein anderes Verhalten als das Vorgeschriebene zu entscheiden (Abweichungsfaktor).

2. Die Entscheidung der Rechtsunterworfenen hängt von zwei Hauptfaktoren ab, die jedoch ihrerseits aus einer Kombination von analysierbaren Unterelementen bestehen: a) Konsens Der Rechtsunterworfene bejaht freiwillig die rechtliche Anweisung; er sieht die Notwendigkeit oder den Nutzen des vorgeschriebenen Verhaltensmodells ein. 4 Jean Carbonnier, Effectivi1k et ineffectivite de la regle de droit, in Annee sociologique 1958, S. 13.

Jean-Franc;ois Perrin

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(1) Rechtskenntnis Bevor man einem Modell zustimmen kann, muß man es kennen. Dem Juristen genügt der formelle Erlaß. Es ist jedoch offensichtlich, daß die "offiziellen Veröffentlichungen" nur wenige Bürger erreichen. Wir nehmen deshalb an, daß es eine Wechselbeziehung zwischen der Kenntnis des normativen Modells und seiner Befolgung gibt. (2) ideologische Zustimmung Die Bejahung kann darin bestehen, daß man bewußt (ideologisch) dem in der Norm implizit erhaltenen Wert zustimmt. Seine Ablehnung stellt umgekehrt einen Abweichungsfaktor dar. Wir nehmen daher eine Wechselbeziehung zwischen dieser Bejahung und dem Verhalten der Rechtsunterworfenen an 6 • (3) Verinnerlichung Die Zustimmung kann auch aufgrund "automatischer Disziplin" bestehen. Der Rechtsunterworfene wird seit seiner Kindheit dazu erzogen, den von der Obrigkeit erlassenen Normen zu gehorchen. Der Gehorsam ist "verinnerlicht". Diese Wirkung ist meßbar. Umgekehrt kann auch eine autoritätsfeindliche Einstellung eine Rolle spielen. Verinnerlichung oder Ablehnung manifestieren sich natürlich nicht bei jeder Norm auf gleiche Weise. Sie können jedoch in jedem spezifischen normativen Zusammenhang beobachtet werden. (4) Propaganda Gilt eine Norm als bekannt, kann man die Ideologie der Rechtsunterworfenen ihr gegenüber verändern. Wir gehen deshalb davon aus, daß es eine Wechselbeziehung zwischen der Propaganda (im einen oder anderen Sinne) und dem Effektivitätsgrad gibt. b) Sanktion Die rechtlichen Normen sind sehr oft von einer Sanktion begleitet, welche in der durch die Rechtsordnung vorgesehenen Folge eines Verhaltens besteht, das nicht mit dem Vorgeschriebenen übereinstimmt. Die klassische juristische Literatur betrachtet die Sanktion als ein wesentliches Element des Begriffs der Rechtsnorm. Wir haben diese Ansicht abgelehnt. Für uns ist die Sanktion eine Norm, die im Dienste einer anderen Norm steht. Sie hat die Aufgabe, einen positiven Einfluß auf den Befolgungsgrad der Norm auszuüben, in deren Dienst sie steht. Die Theorie von der doppelten Norm, die zuerst von Kelsen vertreten, dann jedoch aufgegeben wurde 8 , leistet 5 80 auch Jean Piaget, Le jugement moral chez l'enfant, Paris 1969, insb. 8.48.

Was versteht man unter der Effektivität einer Rechtsnorm?

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uns hier gute Dienste. Zahlreiche rechtliche Normen, die als Verhaltensmodelle angesehen werden, sind von einer Kontranorm begleitet, die in der Sanktion für ein dem Vorgeschriebenen entgegengesetztes Verhalten besteht. Die Beziehung, die zwischen den beiden Normen besteht oder, genauer, zwischen dem Modell und der Sanktion, muß untersucht werden. Wir gehen davon aus (und diese Behauptung ist fast ein Truismus), daß gewöhnlich eine Beziehung zwischen der Häufigkeit der Normanwendung und dem Befolgungsgrad des Verhaltensmodells besteht. (1) Sanktionskenntnis Wir gehen daher davon aus, daß eine Beziehung zwischen der Sanktionskenntnis und der Befolgung des Verhaltensmodells besteht. (2) Sanktionsanwendung Wir gehen weiter davon aus, daß eine Beziehung zwischen der statistischen Häufigkeit des tatsächlichen Vorkommens der Sanktion und dem Effektivitätsgrad des Verhaltensmodells besteht. (3) Auf die Sanktion bezogene Propaganda Wir gehen schließlich von einer Beziehung zwischen der auf die Sanktion bezogenen Propaganda und dem Effektivitätsgrad des Normmodells aus. Es ist sicher, daß sich diese verschiedenen Faktoren überschneiden und ergänzen. Wir isolieren sie nur, um ihre relative Bedeutung besser unterscheiden zu können. So greift die Normkenntnis zum Beispiel nicht isoliert als Faktor ein. Es ist auch wahrscheinlich, daß diese Faktoren einen unterschiedlichen Einfluß in den verschiedenen Rechtsgebieten haben. Nähere Forschungen könnten ergeben, daß einige unter ihnen einen mit den anderen nicht vergleichbaren Einfluß haben7 •

• Hans Kelsen, Theorie pure du droit, 2. Auflage, Übersetzung von Eisenmann, Paris 1962, S. 66. 1 Zur Nachprüfung dieser Hypothesen siehe: Le port obligatoire de la ceinture de securite, Travaux CETEL No 1, Universite de Geneve 1977.

ZWEITER TEIL

Angewandte Rechtssoziologie

A. Privatremt EIGENTUM UND ERBRECHT Von Johann Caspar Bluntschli Das rechtswissenschaftliche Studium führte den am 7. März 1808 in Zürich geborenen Johann Caspar Bluntschli aus seiner Vaterstadt nach Berlin und Bonn, wo er 1829 zum Doktor promovierte!. 1830 kehrte er nach Zürich zurück, in eine Stadt voll politischer Unruhen. Als Savigny-Schüler und Anhänger der historischen Rechtsschule lehnte er radikale Änderungen ab. Er fühlte sich zur Politik berufen und setzte sich als Vertreter der gemäßigten "konservativen" Partei für die aktuellen Reformen des Zürcher Staatswesens und des Bundes ein, aber immer vermittelnd und unter der ständigen Angst, daß die Neuerungen in eine Revolution ausarten könnten. Zunächst Stadtrat, dann Mitglied des Großen Rates, wurde er 1839 nach dem Sturz der radikalen Regierung gleichzeitig Regierungsrat und Tagsatzungsabgeordneter. Zugleich Bezirksgerichtsschreiber, Notar und Rechtskonsulent der Stadt Zürich, gewann er umfassenden Einblick in die Rechtswirklichkeit. 1833 wurde er an die neugegründete Universität Zürich berufen, wo er römisches Recht las und drei Jahre später als Ordinarius auch deutschrechtliche Vorlesungen hielt. Seine rechtshistorischen Untersuchungen 2 nach dem Vorbild Eichhorns bestärkten ihn in der überzeugung von der vorwiegend germanisch-rechtlichen Natur des Zürcher Rechts. 1840 erhielt er den ersehnten Auftrag, ein privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich zu schaffen, dessen ersten Entwurf er bereits 1844 vorlegte. Diskussionen um grundsätzliche Fragen des Erbrechts und weitere Beratungen zum Personenund Familienrecht verhinderten aber, daß die Vorlage sobald Gesetz wurde. Die empfindliche Wahlniederlage um das Amt des Bürgermeisters (Präsident der Kantonsregierung) und der damit verbundene Umschwung zugunsten der radikalen Partei zwangen Bluntschli, 1848 nach München überzusiedeln. Daß der Große Rat ihn weiterhin mit der Ausarbeitung des Privatrechtlichen Gesetzbuches betraute, konnte ihn darüber hinwegtrösten. Dieser Arbeit, die ihn immer noch mit Zürich verband, maß er größtes Gewicht bei. Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnten bis 1855 die einzelnen Teile des Gesetzes in Kraft gesetzt werden 3• In München stand die akademische Tätigkeit im Vordergrund. Bluntschli war ordentlicher Professor für deutsches ! Entwicklung der Erbfolge gegen den letzten Willen nach römischem Recht mit besonderer Rücksicht auf die Novelle 115, Bonn 1829. 2 Staats- und Rechtsgeschichte der Stadt und Landschaft Zürich, 2 Bde. Zürich 1838/39; Geschichte des schweizerischen Bundesrechts von den ersten ewigen Bünden bis auf die Gegenwart, 2 Bde. Zürich 1846/52. a Privatrechtliches Gesetzbuch für den Canton Zürich mit Erläuterungen, Zürich 1853/55.

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Privatrecht 4 und für Staatsrecht. Mit den in dieser Periode entstandenen staatsrechtlichen Werkens gelangte er zu europäischem Ruhm. Die politische Untätigkeit veranlaßte ihn, 1861 einem Ruf an die Universität Heidelberg zu folgen, wo er zugleich in die Erste Kammer des badischen Landtages Einsitz nehmen konnte. Bluntschli war Mitbegründer des deutschen Protestantenvereins, Präsident des deutschen Juristentages, Mitbegründer des "Institut de droit international" in Genf, Mitherausgeber der "Kritischen Vierteljahresschrift", Mitglied der Expertenkommission für das Schweizerische Obligationenrecht und vieles mehr. In diese dritte Periode seines Lebens fallen aber vor allem die umfassenden und weit über die Landesgrenzen hinaus bekanntgewordenen völkerrechtlichen Publikationen 6 • Am 21. Oktober 1881 starb Bluntschli unerwartet in Karlsruhe, wo er die badische Generalsynode leitete7 • Eine seltsam intensive Beziehung zu dem rätselhaften "Philosophen" Friedrich Rohmer (1814 - 1856) überschattete Bluntschlis Leben und hatte großen Einfluß auf seine Arbeit. Er lernte Rohmer 1841 kennen, bewunderte ihn von da an grenzenlos und war ihm zeitweise völlig hörig. Wie andere Jünger Rohmers begeisterte er sich für die damals neue Psychologie, die Rohmer wie ein Messias verkündete. Da er Rohmers Ideen, die in schroffstem Gegensatz zu Bluntschlis praktischer Natur standen, vorbehaltlos übernahm, wurde er zwar zu enormer Schreibtätigkeit angeregt, brachte sich aber immer wieder in peinliche Situationen (siehe insbesondere: Psychologische Studien über Staat und Kirche, Zürich und Frauenfeld 1844). Aber auch in seinem Hauptwerk, vor allem in der "Lehre vom modernen Staat", stößt man immer wieder auf Rohmersche Psychologie. Um so wertvoller erscheinen daher diejenigen Arbeiten Bluntschlis, die seine unermüdlichen Reformbestrebungen und seine ständige Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit zum Ausdruck bringen. Die folgenden Textauszüge sind in dem Werk: Gesammelte kleine Schriften, 2 Bände, Nördlingen 1879 - 1881, erschienen. Sie haben vor allem im Zusammenhang mit dem Erlaß des Zürcher Privatrechtlichen Gesetzbuches eine bedeutende Rolle gespielt. Rolf Steiner

Deutsches Privatrecht, München 1853. Allgemeines Staatsrecht, München 1851/52. Dieses Werk wurde von ihm später völlig umgearbeitet in: Lehre vom modernen Stat, 3 Bde. Stuttgart 1875/76; Deutsches Statswörterbuch, in Verbindung mit earl Brater, 11 Bde. Leipzig und Zürich 1857 - 1870; Geschichte der neueren Statswissenschaft, München 1864. 6 Das moderne Kriegsrecht der civilisierten Staten, Nördlingen 1866; Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staten, als Rechtsbuch dargestellt, Nördlingen 1867; Deutsche Statslehre für Gebildete, Nördlingen 1874. 7 Zu Bluntschlis Leben: Denkwürdiges aus meinem Leben, Nördlingen 1884 (enthält auch eine vollständige Publikationsliste). 4

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I. Zur Reformfrage des Eigentums* Während die Weltgeschichte den engen Zusammenhang der steigenden Zivilisation und der Ausbildung des Eigentums deutlich macht und alle neue ren Staaten die Unverletzlichkeit des Eigentums als eine Grundbedingung der rechtlichen Existenz und der Wohlfahrt anerkennen, erheben sich in unserer Zeit eine Menge feindlicher Stimmen bald gegen die Idee des Eigentums selbst, welche sie als eine Ausgeburt des schändlichsten Egoismus verdammen, bald gegen die Verwirklichung und die Formen desselben und verlangen, sei es Abschaffung des Sondereigentums und ausschließliche Anerkennung des Rechts der Gemeinschaft, sei es eine so tiefgreifende Umgestaltung des Eigentums, daß das bisherige Privateigentum darüber zu Grunde ginge oder doch schwere Einbuße litte. Diese Stimmen haben oft einen starken Widerhall und lauten Beifall gefunden, und wir haben bereits verschiedene ernstliche Versuche erlebt - besonders im Jahre 1848 -, die dem Eigentum feindliche Doktrinen praktisch zu machen. Alle diese Unternehmungen sind freilich gescheitert; die Macht der Staatsgewalt und des Eigentums, welche sich von der gemeinsamen Gefahr bedroht sahen, konnte wohl augenblicklich verblüfft und gelähmt werden; dennoch war sie zu groß, um dem ersten großen Feldzug der kommunistischen oder der sozialistischen Revolution dauernd zu erliegen. Aber die Welt war von einer furchtbaren Gefahr, wie von der unerwarteten Eruption eines Vulkans überrascht, und es war die Sicherheit des Eigentums für einige Zeit durch dieselbe sehr erschüttert worden. Woher sollen wir nun die Zuversicht nehmen, daß diese Gefahr nicht nochmals wiederkehren werde? Wir könnten volle Beruhigung nur dann schöpfen, wenn wir uns überzeugten, daß die Ursachen, die zu jenen Angriffen geführt, verschwunden seien oder doch viel von ihrer Stärke verloren haben, und uns nur dann sicher fühlen, wenn seither die Macht der Rechtsordnung größer geworden wäre. Können wir uns dieser Wahrnehmung erfreuen? In einigen Beziehungen freilich hat sich die Sachlage seither verbessert. Bevor die Revolution gegen das Eigentum ausgebrochen, hatten nur Wenige sie für möglich gehalten. Die Erfahrungen des Jahres 1848 haben Jedermann über das Dasein einer solchen Gefahr aufgeklärt, und der Schreck davon sitzt noch in den Gliedern der besitzenden Klassen. Die Einsicht in eine Gefahr aber ist, richtig benutzt, der Anfang ihrer Bewältigung. Jene Erfahrungen konnten so die Macht der angegriffenen Rechtsordnung stärken, und sie haben sie wirklich gestärkt. Darauf vornehmlich ist die neue Erhebung und Verschärfung der Regierungsgewalt und der Kriegsrnacht gegründet worden. Dieselben ha-

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Gesammelte kleine Schriften, Bd. 1, Nördlingen 1879, S. 218 - 224.

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ben aber noch in einer anderen Hinsicht heilsam gewirkt. Sie haben um der allgemeinen übel willen, welche alle auch die eigentumslosen Klassen der Bevölkerung betrafen - in diesen selbst Zweifel geweckt gegen die kommunistischen Lehren. Aber in der Hauptsache wirken die Ursachen, welche die Erhebung der proletarischen Massen wider das Eigentum veranlaßt haben, noch fort, wie vor dem ersten großen Kampf, ja die Hauptursache, das unleugbare Mißverhältnis übermäßiger Reichtümer und Genüsse der Wenigen auf der einen Seite, und eines weitverbreiteten Mangels und Dürftigkeit großer Massen auf der anderen Seite, woran die heutige Gesellschaft krankt und welches in den großen bewegten Weltstädten ganz besonders auffällig und reizbar erscheint, hat eher noch an Ausdehnung zugenommen. Ohne dieses Mißverhältnis wäre die Geistesverirrung, welche zu Bestreitung des Eigentumsbegriffs geführt hat und die Verdorbenheit der moralischen Gesinnung, welche ihre Lust hat an dem Umsturz der Eigentumsordnung und im Trüben zu fischen hofft, nicht sehr gefährlich. Einzelne Bösewichter können wohl aus solchen Motiven das Eigentum Einzelner gelegentlich schädigen - zu allen Zeiten hat es Diebe und Räuber gegeben -, aber ein ernster Angriff auf die ganze Institution des Eigentums wird erst möglich, wenn die Massen von solchen Doktrinen ergriffen werden, und das werden sie nur, wenn sie schwere Mißstände empfinden. Das Eigentum ist ein so natürlich-menschlicher Begriff, es schließt sich so selbstverständlich an die Besonderheit und Selbstheit der einzelnen Personen und Familien an, die Institution ist ferner seit Jahrtausenden so fest gewurzelt in der Geschichte unserer Zivilisation und in den Sitten so lebendig, daß auch die Massen an das Eigentum als an eine natur-notwendige und geradezu als an eine heilige Institution glauben und daher für eigentumsfeindliche Doktrinen nicht leicht eingenommen werden. Ihr ganzes Bewußtsein und ihr Gewissen sträuben sich dagegen. Nur wenn der Druck und die Not für die Menge unleidlich wird, wenn die Mißstände der Zivilisation wie eine schwere Krankheit empfunden werden, in solcher Verstimmung und in fieberhafter Aufregung kann sie momentan für jede Empörung gewonnen werden. Derartige Mißverhältnisse aber sind leider in bedenklicher Weise noch vorhanden. Es gibt große Massen in der europäischen Bevölkerung, welche mit Mühen und mit Arbeit überladen sind und mit ihrem Lohn kaum die notdürftigsten Bedingungen dieses schweren Lebens erschwingen, ganze Klassen von Arbeitern, welche elend wohnen, dürftig gekleidet und schlecht genährt und doch nicht einmal der Fortdauer dieser ärmlichen Existenz sicher sind. Es gibt in dem modernen, auf sein Christentum und seine Zivilisation stolzen Europa auch seit der Aufhebung aller Leibeigenschaft Zustände, welche in vielen Beziehungen

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tatsächlich schlimmer sind, als die der antiken Sklaverei. Die tägliche Arbeit des modernen Proletariers ist sicher im Ganzen nicht geringer und nicht leichter als die des antiken Sklaven, und die Genüsse desselben sind weniger gesichert. Der Vorzug der persönlichen Freiheit, der ihm durch die Gesetzgebung gewährleistet wird, wirkt wohl für Einzelne, die sich aus diesem Abgrund emporringen, aufs beste, aber der Masse gegenüber dient er nur, um den schreienden Widerspruch zwischen der Idee und der Wirklichkeit heftiger zu machen und ihren Mißmut zu reizen, denn in der Wirklichkeit ist die Freiheit dieser Leute der Macht des Kapitals dauernd dienstbar. Tausende und Zehntausende sind zwar nicht Sklaven dieser oder jener Person, aber sie sind Sklaven dieses oder jenes Fabrikationszweiges oder dieser oder jener Einrichtung. Ihre Kräfte und Fertigkeiten heben sie über die natürlichen Armen (die Waisenkinder und die Gebrechlichen) empor, aber die unnatürlichen Gesellschaftsverhältnisse drücken sie unter jene Armen nieder. Die Unnatur und das Mißverhältnis einer solchen Existenz ohne Genuß wird überdem durch die Vergleichung mit den entgegengesetzten Existenzen, die im übermaß der Genüsse schwelgen, noch mehr verbittert. Wenn der überfluß des Reichtums den Mangel der Dürftigkeit ergänzt und deckt, so wird der Widerstreit beider gemildert oder versöhnt. Wenn aber jener unbekümmert um diesen sich ergießt und sich beide trennen und meiden, wie das leider in unserer Kulturwelt häufig geschieht, dann wird der Gegensatz zu tödlicher Feindschaft gesteigert. In den dürftigen Klassen gährt dann der Haß wider den Reichtum und wider das Eigentum, in dem sie die Quelle aller ihrer Übel zu erkennen wähnen. Wird der Egoismus des Eigentums ohne Rücksicht auf die menschliche Gemeinschaft zu den äußersten Konsequenzen getrieben, so tritt ihm nun der Egoismus der Vermögenslosigkeit entgegen und verlangt mit räuberischer Gewalt Teilung der Güter. In der Tat, wenn der einseitige und rücksichtslose Egoismus der Individuen, der die Seele des römischen Eigentumsbegriffs ist, als oberstes Gesetz anerkannt und in maßloser Weise überspannt wird, so erliegt er seinen eigenen Konsequenzen, und derselbe Egoismus, welcher in der Regel als Vertreter des Eigentums erscheint, zeigt sich nun auch als Angreifer des Eigentums. Nicht daß man das übel der neueren Gesellschaftszustände aufdeckt und auf Heilmittel denkt, ist zu tadeln - das ist nur übung einer menschlichen Pflicht -, wohl aber haben die kommunistischen und, wenn auch in minderem Grade, die sozialistischen Versuche zur Bekämpfung des übels dieses nur verschlimmert und die wirkliche Heilung noch erschwert, denn sie haben die Stimmung vergiftet und das Mißtrauen gegen jede Reform gereizt.

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Der gemeinsame Fehler aller jener Versuche, auch wo sie in guter Meinung unternommen wurden, war der, daß sie sämtlich, sei es unmittelbar die Existenz des Eigentums angriffen oder doch mittelbar die Sicherheit desselben bedrohten. Die Erfahrungen vorzüglich des Jahres 1848 haben nun aber deutlich gezeigt, daß jede Störung dieser Sicherheit des Eigentums sofort das übel, dessen Heilung angestrebt wird, vergrößere und die Leiden unseres gesellschaftlichen Körpers vermehre. In dem Verhältnis, in welchem das Eigentum unsicher wird, verliert es an Wert, und die allgemeine Wertminderung der vorhandenen Güter ist zugleich eine Verminderung der in ihnen liegenden Kräfte, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Durch Ausbreitung der Armut ist den Dürftigen sicher nicht geholfen. Dazu kommt, daß jede Unsicherheit des Eigentums auch den Kredit unsicher macht, und der Mangel an ökonomischem Vertrauen lähmt den ökonomischen Verkehr unter den Menschen. Es wird daher auch um so weniger Arbeit gesucht, und um dessen twillen auch die Arbeit geringer belohnt. So eng sind Eigentum und Arbeit verbunden, daß wenn das Eigentum erschüttert wird, auch die Arbeit an Wert verliert. Es ist daher den Arbeitern nicht so zu helfen, daß man die Eigentümer bedrängt. Im Gegenteil, jede wahre Reform der empfundenen Mißstände muß die Sicherheit des Privateigentums als eine unentbehrliche Grundlage aller Heilung auf das sorgfältigste bewahren. An ein Zusammenwerfen des gegenwärtigen Eigentums und an eine neue Verteilung desselben, sei es nach gleichen Teilen, sei es je nach dem verschiedenen Maße der individuellen Fähigkeit und Anstrengung, darf daher überall nicht gedacht, es muß vielmehr die geschichtliche Verteilung der Güter vor allen Dingen anerkannt werden. Zu dieser geschichtlichen Güterverteilung gehört das Erbrecht auch, welches das Recht und den Erwerb der früheren Geschlechter den Nachkommen überliefert und den Zusammenhang der Vergangenheit mit der Gegenwart schützt. Die reformierende Sorge des Staates darf nicht zur Vormundschaft über das Privateigentum und noch weniger zur Willkür über dasselbe gesteigert werden. Die schützende und heilende Tätigkeit des Staates bezieht sich nur auf die allgemeinen Grundbedingungen und Schranken der Institution, deren Erfüllung und Bewegung im einzelnen teils der Geschichte des Privatvermögens teils der Freiheit der Individuen überlassen bleiben muß, und darf nur insoweit einschreiten, als die überlieferten und gegenwärtigen Zustände der Institution an unnatürlicher Verderbnis und an unsittlichen Verkehrtheiten leiden. Im Grunde läßt sich, wenn wir von den Maßregeln einer sorgfältigen Volkswirtschaftspflege absehen, die nicht hier zu erörtern sind, das Ziel aller Reform des Privatrechts in dem einen Worte aussprechen: Herstellung eines gesunden Kreislaufs und demnach Sättigung des Mangels durch Hinleitung des überflusses, oder anders ausgedrückt,

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Berücksichtigung der Verbindung unter den Menschen zugleich mit der Ausprägung und mit dem Schutze des Individualrechts; also auch hier wieder tut Bekämpfung der Extreme und ihrer Einseitigkeit hauptsächlich Not. 11. Das Erbrecht und die Reform des Erbrechts* Viel wichtiger aber ist die Ergänzung der Familienerbfolge durch die Einführung einer weiteren gesetzlichen Erbfolge, welche auch die Pflichten der Einzelnen gegen die Gemeinde und die Gesellschaft berücksich tigt. Wie immer die Erbfolge der Familie geordnet werde, zunächst hat diese Ordnung nur für die höheren und mittleren Klassen der Gesellschaft eine unmittelbare Bedeutung. Sie sichert den Wohlstand der Aristokratie und erhält die ökonomische Gesundheit der zahlreichen und wichtigen bürgerlichen und bäuerlichen Familien. Aber auf einen sehr großen Teil der Arbeiter und der dienenden Klassen wirkt sie fast gar nicht, weil diese in den meisten Fällen weder eine Erbschaft zu hinterlassen, noch auf Erbschaften zu hoffen haben. Sie erfüllt auch nicht die Hauptaufgabe der Rechtsordnung, die vorzugsweise durch das Erbrecht zu lösen ist, die Rücksichten gegen die ganze Gesellschaft mit der Sorge für die Freiheit der Einzelnen zu verbinden. Sie verhindert nicht die ernste Gefahr einer übermäßigen, zuletzt ebenso unsinnigen als verderblichen Anhäufung von unfruchtbaren Erbschätzen in einigen wenigen Häusern, noch gewährt sie Mittel, um eine überhand nehmende Verarmung der vermögenslosen Arbeiterbevölkerung. Damit die wirtschaftlichen Zustände der Nation gesund bleiben, ist ganz ebenso, wie für die Gesundheit des Körpers ein geregelter Blutumlauf erforderlich ist, auch ein geregelter Gutsumlauf notwendig. Wie die heftige Anschwellung von Blutschwären an einzelnen Stellen des Leibes den ganzen Körper krank macht und der gesamte Kreislauf des Blutes in den Extremitäten den ganzen Körper lähmt, so entstehen aus der überspannten Ansammlung von Gütern in wenigen Familien und aus der Absperrung großer Klassen von dem Erwerb und Genuß der Güter schwere Krankheiten des Volkes. Das Erbrecht kann, ohne die Sicherheit des Privateigentums irgend zu gefährden, für einen geordneten Gutumlauf in dem Volkskörper sorgen und auf diesem Wege solchen Krankheiten vorbeugen und gesunde Verhältnisse schützen. Das Mittelalter kannte bereits eine erbrechtliche Institution, welche freilich nur zugunsten und im Interesse der Aristokratie für einen

* Gesammelte kleine Schriften, Bd. 1, Nördlingen 1879, S. 251 - 259.

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Kreislauf gewisser Güter sorgte. Die Lehensgüter, welche in der Familie des Vasallen forterbten, fielen doch, wenn die männliche Nachkommenschaft derselben ausstarb, wieder an den Lehnsherrn, häufig den Landesherrn zurück, durften dann aber nicht von diesem behalten, sondern mußten zur Ausstattung eines neuen Vasallen und seiner ritterlichen Erben wieder verliehen werden. Das mittelalterliche Heimfallsrecht ist nicht wieder herzustellen noch auszudehnen. Aber der gute Grundgedanke derselben läßt sich heute in viel weiterem Umfange und mit stärkerer Wirkung auf die großen Volksklassen anwenden. Wir können für den nötigen Gutumlauf sorgen, indem wir dem Erbrecht der Familie ein Erbrecht der Gemeinde und des Staates ergänzend und berichtigend hinzufügen und dasselbe zur Ausstattung neuer bisher unbemittelter Familien mit solchen Erbgütern der Gemeinden benutzen. Die Gründe für ein solches Erbrecht der Gemeinde und des Staates, für welches sich schon in den älteren Rechten Keime finden lassen, sind ebenso stark wie für das Familienerbrecht. Sie sind in der heutigen Gesellschaft stärker geworden als in den früheren Zeitaltern, weil der Verband und der Zusammenhang der Familie mit der Zeit gelockert und schwächer geworden sind. Der wahre Grund alles natürlichen Erbrechts ist doch die Gemeinschaft, welche das Leben des Erblassers mit dem seiner Erben verbindet, der Zusammenhang des Blutes und der Sitte, der Kultur und der Interessen, wesentlich die Gemeinschaft der Rasse. Nun gibt es verschiedene Kreise, gleichsam engere und weitere Ringe der Rassengemeinschaft, welche den Einzelnen mit anderen Menschen zusammenhält. Der Einzelne ist ein Kind seiner Eltern, ein Angehöriger seiner Familie; er ist aber auch ein Kind der Gemeinde und des Landes, denen er zugehört. Ist er mit seiner Sippschaft durch tausend feine Beziehungen seiner leiblichen und seelischen Anlage wie seiner Erziehung und seines Lebens eng verbunden, so wirken auch die Einrichtungen und die Einflüsse seiner Heimat und seines Vaterlandes sehr bestimmend ein auf seine ganze Existenz. Sein Körper empfängt die Eindrücke der Volksart und seine Seele erhält einen großen Teil ihrer Bildung durch die Sprache des Landes, die Schule des Ortes, die Sitten seines Wohnortes, die Geschichte seines Volkes. Der tüchtige Bürger hat auch ein Verständnis und ein Interesse für die Wohlfahrt seines Heimatortes und seines Vaterlandes. Auf diese äußere und innere Lebensgemeinschaft, auf die Pflichten der Einzelnen gegen die Gemeinde und den Staat läßt sich ein Erbrecht der Gemeinde und des Staates sehr wohl begründen. In einer Beziehung ist das von jeher anerkannt worden. Die mittelalterlichen Rechte schützen ein Erbrecht der Landesherrschaft an dem

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"erblosen" Gut, d. h. an dem Nachlaß dessen, der keine erbberechtigten Sippen hat. Auch das römische Recht kennt ein hinterheriges subsidiäres Erbrecht des Fiskus in Ermangelung von Blutsverwandten und von Testamentserben des Erblassers. In bäuerlichen Weistümern findet sich zuweilen ein Erbrecht der Nachbarn, und manches Stadtrecht ordnet ein eventuelles Erbrecht der Stadtgemeinde an. Aber diese ältere Rechtsbildung ist noch sehr kümmerlich und ganz unzureichend für die große Aufgabe. Wir bedürfen im Geiste unserer Zeit und der heutigen Bedürfnisse einer viel energischeren Ausbildung des Prinzips. Insbesondere ist auch das Erbrecht der Gemeinde neben dem des Staates anzuerkennen, und es sind beide aus der Dunkelheit einzelner seltener und zufälliger Eventualitäten in die regelmäßige Anwendung vorzurücken und unbedenklich auch gleichzeitig mit dem Erbrecht der Familie, in Konkurrenz mit diesem wirksam zu machen. Nur so wird der Zweck eines gesunden Gutumlaufs erreicht. Das Erbrecht der Gemeinde und des Staates darf auch nicht länger als ein bloßes fiskalisches Nutzungsrecht betrachtet und ausgebeutet, sondern es soll entweder zur Ausstattung bedürftiger, aber fähiger Familien mit freiem Vermögen oder für wohltätige Einrichtungen und Anstalten im Interesse der vermögenslosen Volksklassen verwendet werden. Es soll nicht zur bloßen Gemeinde- und Staatssteuer werden, sondern Erbrecht bleiben und erbrechtliche Wirkungen haben. Das Verhältnis, in welchem die Gemeinde und der Staat sich in diesem Erbrecht auseinanderzusetzen haben, läßt sich so ordnen, daß in der Regel bei mittleren und kleineren Verlassenschaften die Gemeinde dem Staate vorgeht, wenigstens so lange nicht die Gemeinde und ihre Angehörigen wohlhabend genug sind, um eines solchen Zuwachses von Erbgut nicht mehr zu bedürfen, daß dagegen die großen aristokratischen Verlassenschaften, sei es ganz, sei es in höherem Maße, dem Erbrecht des Staates anheim fallen. Die Gemeinde kann und darf nicht für aristokratische Existenzen sorgen. Der Staat dagegen hat ein Interesse und muß die Möglichkeit haben, unter Umständen auch hoch verdiente Männer mit reichen Gütern auszustatten. Ebenso wie die Familienerbfolge und der überlebende Ehegatte bedarf auch das Erbrecht der Gemeinde und des Staates, damit es sicher bleibe, des Schutzes durch eine gesetzliche Beschränkung der Testierfreiheit, d. h. des Pflichtteil systems. Das Verhältnis dieses öffentlichrechtlichen Erbrechts zu dem Familienerbrecht wird durch den allgemeinen Grundsatz geregelt werden müssen: Je näher die Familienerben dem Erblasser stehen, desto geringer sind die Erbansprüche der Gemeinde und des Staates. Mit der Entfernung der Familienerben wachsen die letzteren.

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Ich hatte schon vor einem Vierteljahrhundert in dem Entwurf zu dem privatrechtlichen Gesetzbuch für den Kanton Zürich derartige Vorschläge gewagt. Die Gesetzgebungskommission verwarf den Gedanken nicht, aber sie traute sich nicht, bei Anlaß eines allgemeinen Gesetzbuchs eine solche Neuerung vorzuschlagen, und hielt es für zweckmäßiger, diese Reform einem besonderen späteren Gesetz vorzubehalten. Ein solches ist nun seither nicht erschienen. Nur sind in einzelnen Kantonen der Schweiz strengere Erbsteuergesetze eingeführt worden. Man suchte so jenen Gedanken, freilich in zweifelhafter Gestalt, einigermaßen zu berücksichtigen. Die Steuern sind aber besser gleichmäßig je nach der Leistungsfähigkeit aller oder den freiwilligen Genüssen vieler und nicht nach dem Zufall der Todesfälle zu erheben; und der gewünschte Zweck eines geregelten Gutumlaufs wird nicht erreicht, wenn die Erbschaftssteuern für gewöhnliche Gemeinde- und Staatsbedürfnisse verwendet werden. Die Notwendigkeit einer derartigen Reform des Erbrechts ist während des letzten Menschenalters sehr viel klarer geworden. Es wäre meines Erachtens nicht mehr ein unreifes Wagnis, sondern eine große segensreiche Tat, wenn das deutsche Reich, indem es das Familien- und Erbrecht neu ordnet, dieselbe mit den großen Mitteln, über die es verfügt, in die Hände nähme und durchführte. Eine solche Tat würde unzweifelhaft vielen und lauten Widerspruch aufregen, aber sie würde einen Teil des Proletariats auf eine höhere Stufe erheben, die großen unbemittelten Klassen wieder mit Hoffnung und mit Liebe zur Heimat erfüllen, die Gemeinden konsolidieren, die Gesellschaft von schweren Leiden heilen, den Staat stärken und ein Vorbild für andere Völker' werden. Um dem Gedanken eine faßliche Gestalt zu geben und zu weiterer Erwägung anzuregen, erlaube ich mir zum Schluß noch folgenden Vorschlag zur Sprache zu bringen: 1. Wenn der Erblasser eigene Nachkommen als Erben hinterläßt, so tritt ein Erbrecht der Gemeinde oder des Staates in der Regel überhaupt nicht ein.

Nur wenn der Erbteil eines Kindes 100000 Mark übersteigt, so kommen der Gemeinde von dem Mehrbetrag 10 Ofo zu. übersteigt der Erbteil eines Kindes 500 000 Mark, so kommt überdies dem Staat von dem Mehrbetrag über 500 000 Mark ein Kindsteil zu. 2. Fällt die Erbschaft an Eltern oder Großeltern des Erblassers, so kommt der Gemeinde ein Erbteil von 5 % der Verlassenschaft zu, insofern eine Erbportion eines Vorfahren mehr als 10000 Mark und nicht über 50000 Mark beträgt und von 10 Ofo von 50000 Mark an, wenn die Erbportion der Aszendenten über 50000 Mark beträgt. Wenn dieselbe

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mehr als 100000 Mark beträgt, so erhält überdem der Staat einen Erbanspruch von weiteren 10 0 10 des Mehrwerts. 3. In derselben Weise ist das Erbrecht der Geschwister des Erblassers und der Kinder seiner Geschwister, d. h. innerhalb der elterlichen Parentel zu ordnen. 4. Gehören die Erben der großelterlichen Parentel des Erblassers an, so hat die Gemeinde einen Erbanspruch auf 10 0 10 der Verlassenschaft, insofern diese mehr als 10000 Mark beträgt, und auf 20 °/0 von dem Mehrwert der Verlassenschaft über 50000 Mark. übersteigt dieselbe 100000 Mark, so kommen die 20 % des Mehrwerts nicht mehr der Gemeinde, sondern dem Staate zu. 5. Wenn die Erben der urgroßelterlichen Parentel des Erblassers angehören, so wird das Erbrecht der Gemeinde unter denselben Bedingungen statt auf 10 und 20 0 10 je auf 20 und 30 % gesteigert und das des Staates auf 30%. 6. Wenn keine Erben der drei nächsten Parentelen vorhanden sind, so wird die Verlassenschaft als erbloses Gut behandelt und fällt bis auf den Betrag von 50 000 Mark der Gemeinde, wenn sie mehr beträgt, mit dem Mehrwert dem Staat zu. 7. Das Erbrecht der Gemeinde und des Staates wird, wenn ein überlebender Ehegatte des Erblassers vorhanden ist, zugunsten desselben mit seinem Nießbrauch auf Lebenszeit belastet. 8. Die Erbgüter, welche die Gemeinde kraft Erbrechts erwirbt, werden als Erbvermögen angelegt und je nach Bedürfnis zur Ausstattung unbemittelter Familien oder für gemeinnützliche Anstalten im Interesse der vermögenslosen Klassen verwendet. 9. Das Erbgut, welches der Staat erwirbt, dient teils für wohltätige Staatsanstalten, teils zur Ausstattung von Personen, die sich um den Staat, um die Wissenschaft oder Kunst oder für das Wohl der Menschheit oder der unteren Volksklassen große Verdienste erworben haben. 10. Das Erbrecht der Gemeinde und des Staates darf nicht durch letztwillige Verfügungen denselben entzogen oder beschränkt werden. Aber es steht dem Erblasser frei, dasselbe durch seine wohltätigen oder gemeinnützlichen Stiftungen und Vermächtnisse zu erfüllen und zu ersetzen, wenn Gemeinde und Staat diese Anordnungen billigen, oder auch durch Nutznießungsrechte zugunsten einer oder mehrerer den Erblasser überlebender Personen zu beschweren. Ohne ein solches Ptlichtteilsrecht ist die Wirksamkeit des Systems nicht gesichert. Die Beschränkung der Testierfreiheit auf einen engeren Bereich hat aber um so weniger Bedenken, als ein absolutes Verfü-

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Johann Caspar Bluntschli

gungsrecht des Individuums, dessen Wirkung er nicht mehr erlebt, für eine Zeit, in welcher er zu handeln unfähig ist, sich keineswegs von selbst versteht und nicht mit dem freien Verfügungsrecht des Eigentümers während seines Lebens zu verwechseln ist. Indem unser Recht in künstlicher Ausdehnung der Willensmacht eines Individuums das Testament zuläßt und schützt, darf es wohl gleichzeitig die Pflichten wahren, welche dem Einzelnen gegen die Gemeinde und den Staat obliegen. Auf diese Weise würde der Gemeinde und dem Staat fortwährend ein Gütervorrat gesichert, der von Zeit zu Zeit neue Zuflüsse erhielte und aus welchem fortwährend Abflüsse zur Bildung neuer vermöglicher Familien abgeleitet werden könnten.

DIE VERKEHRS SITTEN IM HANDEL MIT EMMENTALERKÄSE ZWISCHEN PRODUZENT UND GROSSHÄNDLER Von Richard König* Richard König wurde am 22. August 1890 als Sohn eines Landarztes im bernischen Jegenstorf geboren. Nach erfolgreich bestandener Maturität zog er, da er Landwirt werden wollte, für ein Jahr ins Welschland, um in der Praxis zu beweisen, daß es ihm mit dieser Entscheidung ernst war. Danach begann er sein Studium an der ETH Zürich, welches er 1913 mit dem Diplom eines Ingenieur-Agronom abschloß. In der Folge führten ihn weitere Studien nach Berlin und Bern, wo er 1916 das Examen als Dr. rer. pol. mit summa cum laude bestand.

Daraufhin trat er dem Schweizerischen Bauernsekretariat in Brugg bei, in dem er bis 1929 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. In dieser Zeit verfaßte er eine Anzahl kürzerer Schriften über wirtschaftspolitische und betriebswirtschaftliche Fragen; ferner wirkte er an den Vorarbeiten für das Landwirtschaftsgesetz von 1919, das Getreidegesetz, die Alkoholgesetzgebung und andere wichtige Vorlagen mit. So stammt auch die markante Wendung in den Wirtschaftsartikeln der Bundesverfassung, der Bund könne "Maßnahmen ergreifen zur Erhaltung eines gesunden Bauernstandes und einer leistungsfähigen Landwirtschaft sowie zur Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes", von ihm. In der Zeit zwischen 1919 und 1934 gehörte er überdies dem Nationalrat an, wo er als Abgeordneter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei vor allem die Interessen der bäuerlichen Kreise vertrat. Im Jahre 1929 wurde er schließlich als Ordinarius für praktische Nationalökonomie an die Universität Bern berufen; dies ohne vorherige Habilitation, unmittelbar aus der Praxis heraus. Neben den Vorlesungen auf diesem Gebiet hielt er auch solche über allgemeine Wirtschaftsgeschichte, die geschichtliche Entwicklung und heutige Struktur der schweizerischen Volkswirtschaft, Steuerpolitik und Steuerwirtschaft des Bundes und der Kantone sowie über schweizerisches Bankwesen und Bankpolitik. Als er 1940 zum Präsidenten des Bankrates der Kantonalbank von Bern gewählt wurde, trat er von seinem Ordinariat zurück, war aber weiterhin als Honorarprofessor an der Fakultät tätig. König fand am 10. Januar 1949 zusammen mit seiner Gattin unerwartet den Tod, als infolge eines Gasleitungsbruches unmittelbar vor seinem Haus das ausströmende Gas ins Hausinnere drang und das Ehepaar vergiftete. Zu den Schriften Königs mit rechtssoziologischem Inhalt gehört neben dem nachfolgenden Aufsatz auch seine Dissertation mit dem Titel "Die Hypothekarverschuldung im Kanton Bern", wo er anhand einer Kombination von • ZBJV 54 (1918) 361 - 374.

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allgemeinen und speziellen Erhebungen die Zusammenhänge zwischen Bodenbeschaffenheit, Siedlungsweise, Erbsitte und Hypothekarverschuldung untersuchte. Lisanne Schellenberg

I. Einleitung Die vorliegende Arbeit behandelt die Verkehrssitten im Handel mit Emmentalerkäse zwischen Produzent und Großhändler im Gebiet der deutschen Schweiz. Zwecks genauerer Abgrenzung der Untersuchung müssen einige in dem Titel enthaltenen Begriffe näher erläutert werden. Was ich als Verkehrssitten bezeichne, wird gewöhnlich als "Usance" angesehen. Mit dem Ausdruck "Usance" ist aber die rechtliche Natur der betreffenden kaufmännischen übung bereits fixiert. Da sich mir nun bei näherer Untersuchung der im Emmentalerkäsehandel allgemein gebräuchlichen Besonderheiten die rechtliche Natur derselben als nicht einheitlich erwies, so habe ich dafür statt Usance den Ausdruck Verkehrssitte im Sinne einer rechtlich neutralen Bezeichnung gewählt. Unter Emmentalerkäse ist der im ganzen Gebiet der Schweiz nach Emmentalerart fabrizierte Käse zu verstehen. Da die Verkehrssitten in den verschiedenen Produktionsgebieten je nach der Zeit der Einführung der Emmentalerkäsefabrikation etwas voneinander abweichen, so muß hier ganz kurz auf die territoriale Entwicklung der Emmentalerkäseproduktion eingetreten werden. Im Stammgebiet, im Emmental, wurde schon seit mehreren Jahrhunderten Käse fabriziert!, aber bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur auf den dortigen Alpen. Im Jahre 1816 entstand die erste Talkäserei in Kiesen; in den vier folgenden Jahrzehnten folgten ihr die Talkäsereien in den übrigen Gemeinden des bernischen Hügel- und Flachlandes. Immer mehr wurde auch in dem größten Teil der übrigen Schweiz der Emmentalerkäse die vorherrschende Käsesorte und errang sich nach und nach die Anerkennung neben den Produkten des eigentlichen Stammgebiets. Dagegen wird von den Fachleuten der in den letzten Jahren in großen Gebieten des Auslandes nach Emmentalerart fabrizierte und unter diesem Namen verkaufte Käse nicht als vollwertig anerkannt. Da sich außerdem im Ausland naturgemäß wesentlich verschiedene Handelssitten ausgebildet haben, so wurde die Untersuchung in örtlicher Abgrenzung auf das Gebiet der Schweiz beschränkt. 1

Peter, Die schweizerische Milchwirtschaft, S. 14.

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In bezug auf die zeitliche Abgrenzung ist zu sagen, daß hauptsächlich diejenigen Verkehrssitten behandelt werden, die im Jahre 1914 allgemein gebräuchlich waren. In einigen Punkten wird auf die Veränderungen im Laufe der letzten Jahrzehnte zurückzugehen sein. Dagegen werden die Umgestaltungen, welche die weitgehenden staatlichen Eingriffe und Regulierungen seit Kriegsausbruch mit sich gebracht haben, nicht berücksichtigt, weil sie zum großen Teil vorübergehender Natur sind. Endlich beschränkt sich die Arbeit auf diejenigen Sitten, die sich in dem Verkehr zwischen Produzent und Großhändler gebildet haben. Bei der üblichen Formlosigkeit und Kürze der Kaufverträge zwischen diesen beiden Parteien war der Boden zur Entwicklung einer großen Zahl von ausgesprochenen Handelssitten günstig. Im Verkehr zwischen Großhändler und Detaillist und auch im Exporthandel sind dieselben dagegen weniger ausgebildet. Der Produzent ist in der Mehrzahl der Fälle ein auf eigenes Risiko produzierender Käser, weniger häufig auch ein Lohnkäser. Da der Unterschied der Preise erstklassiger und zweitklassiger Produkte beim Käse sehr bedeutend ist, so kommt es sehr stark auf die Qualität der Arbeitsleistung beim Produzenten an. Den Anforderungen zur Leistung einer qualitativ hochstehenden Arbeit kommt der Produzent in der Regel nur nach, wenn er finanziell am Erfolg des Unternehmens beteiligt ist. Deshalb konstatieren wir für die Emmentalerkäsefabrikation als Regel, daß zwar die Käsereigebäude und die maschinellen Einrichtungen den genossenschaftlich organisierten Milchlieferanten (Landwirten) gehören, daß aber die Käsefabrikation selbst von einem selbständig wirtschaftenden Käser ausgeführt wird. Dieser Umstand, daß wir es auf Seite des Produzenten mit einem Stand von zahlreichen selbständigen Kleingewerbetreibenden zu tun haben, ist nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung der Verkehrssitte geblieben und mußte deshalb kurz berührt und begründet werden. Im Jahre 1913 bestanden in der Schweiz 1801 solcher Käsereien. Ihre Produktion betrug 6930000 q Käse; der Wert dieser Produktion beläuft sich auf etwa 140 Millionen Franken 2 • In diesen Zahlen sind freilich die andern Hartkäse inbegriffen. Doch ist die Produktion derselben im Verhältnis zum Emmentaler sehr gering. Wir greifen jedenfalls nicht zu hoch, wenn wir annehmen, daß der jährliche Umsatz in dem durch unsere Verkehrssitten beherrschten Handel sich vor dem Kriege auf mindestens 100 Mill. Fr. belief. Der großen Zahl von Produzenten steht die relativ geringe Zahl von Großhändlern gegenüber. Im Hinblick auf die uns beschäftigende Frage e Peter, ebd. S. 14. 7 Rehbinder (Hrsg.)

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verdient besonders hervorgehoben zu werden, daß wir es auf dieser Seite mit einem sehr finanzkräftigen Element zu tun haben. Bei dem gewaltigen Aufschwung, den der Emmentalerkäsehandel in den letzten 60 Jahren genommen hat, haben sich die meisten dieser Großhändler ganz beträchtlich bereichert. Man nennt sie nicht umsonst im Volksmund "Käsebarone". Wir werden sehen, daß diese überlegenheit der Großhändler über die Produzenten sich in den zwischen ihnen bestehehnden Verkehrssitten sehr deutlich abspiegelt. In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Versuche zum genossenschaftlichen Betrieb des Käsehandels unternommen worden und scheinen nun in der Exportgesellschaft für Emmentalerkäse in Zollikofen definitive Gestalt angenommen zu haben. 11. Darstellung und wirtschaftliche Begründung der im Emmentalerkäsehandel bestehenden Sitten

Der Betrachtung über die rechtliche Natur der im Emmentalerkäsehandel bestehenden Sitten3 hat eine Darstellung und namentlich eine ausführliche wirtschaftliche Begründung derselben vorauszugehen. Auch in rein juristischen Kreisen kommt man immer mehr dazu, die rechtlichen Verhältnisse von der wirtschaftlichen Grundlage aus zu betrachten. Eine eingehende Erörterung der den Käsehandelssitten zugrunde liegenden ökonomischen Interessen- und Machtverhältnissen wird uns die Erkenntnis der rechtlichen Natur derselben bedeutend erleichtern. Der Käsekauf geschieht entweder in der Form des Mulchenkaufs oder des Postenkaufs. 1. Mulchenkauf. Es wird dabei entweder die Produktion vom 1. Mai bis 31. Oktober, d. h. der sog. Sommerkäse, oder die Produktion vom 1. November bis 30. April, d. h. der sog. Winterkäse unterschieden. Diese Unterscheidung wird aus einem wirtschaftlichen Grund vorgenommen; aus der bei der Grünfütterung gewonnenen Sommermilch läßt sich ein gehaltvollerer Käse erzielen, als aus der Wintermilch. Die Preise für Sommerkäse standen denn auch lange Zeit wesentlich über denjenigen für Winterkäse. Seitdem der Käseexport nach den Vereinigten Staaten infolge des im Jahre 1911 herabgesetzten Eingangszolles 3 Die Angaben über die bestehenden Sitten habe ich aus der Zusammenstellung: "Usancen im Käsehandel" in "Wirz's Schreibkalender für schweiz. Landwirte, Jahrgang 1916" entnommen. Der Redakteur dieses Artikels, Dr. Pauli (von der Exportgesellschaft für Emmentalerkäse A.-G. in Zollikofen) hat mir auch über die Begründung dieser Sitten ausführliche Mitteilungen gemacht. Ich habe diese jedoch auch mit Direktor Peter von der Molkereischule Rütti und mit mehreren Käsern besprochen.

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stark gestiegen ist, ist zwar die Preisdifferenz nicht mehr so groß. Denn die Amerikaner bevorzugen den blasseren und spröderen Winter käse. Interessant ist, daß die Sommerkäse schon im August und die Winterkäse schon im Februar vom Großhändler gekauft werden, d. h. in beiden Fällen zu einer Zeit, wo die Produktion von 2 Monaten noch gar nicht vorhanden ist und höchstens der Ausfall der Produktion der ersten 2 Monate der betr. Produktionsperiode richtig beurteilt werden kann. Der Mulchenkauf geschieht deshalb, seitdem überhaupt der Emmentalerkäsehandel im namhaften Umfang existiert, stets auf Ausstich. Dieser Ausdruck bedarf einer näheren Erklärung. Bei der Annahme werden die Käse vom Großhändler zwecks Prüfung der Qualität mit dem Käsebohrer ausgestochen. Der Käsebohrer hat die Form eines gegen das äußere Ende etwas schmäler werdenden halben Zylindermantels mit geschärften Kanten. Bei der Prüfung stößt der Händler den Bohrer in den Käselaib hinein, dreht um und zieht ihn wieder hinaus. Auf diese Weise erhält er einen zylindrischen Durchschnitt durch den ganzen Käselaib, der ihm die Beurteilung der wichtigsten Eigenschaften des Käses erlaubt. Beim Mulchenkauf auf Ausstich gilt der festgesetzte Preis nur für diejenigen Käse, die der Händler beim Ausstechen als erstklassige Ware anerkennt. Diese Qualitätsprüfung ist deshalb eine sehr subjektive; die Einteilung in Prima- und Sekundaware hängt dabei wesentlich davon ab, wie sich der Absatz und die Preise in der Zeit zwischen Kauf und Annahme gestaltet haben. Die im September und Oktober fabrizierten Käse werden schon im August (also vor ihrer Herstellung) gekauft, dagegen erst um Weihnachten angenommen, wenn die erste Gärung abgeschlossen ist. Haben sich nun in dieser Zwischenzeit (August bis Dezember) die Absatzverhältnisse günstig gestaltet, so wird der Grossist bei der Qualitätsprüfung anläßlich der Annahme nachsichtig sein. Sind dagegen die Preise unterdessen gesunken, so wird er geneigt sein, möglichst wenig als Primaware, dagegen möglichst viel als dem Käser verbleibenden Ausschuß zu taxieren. Daraus ergibt sich, daß der Produzent aus steigenden Preisen sozusagen keinen Nutzen zieht, daß er dagegen sinkende Preise sehr stark zu fühlen bekommt. Das hat sich namentlich in der Absatzkrise des Jahres 1912 sehr deutlich gezeigt. Die seit vielen Jahrzehnten in dem größten Teil der Schweiz gebräuchliche Handelssitte des Mulchenkaufs auf Ausstich erweist sich demnach überhaupt als ein getreues Abbild der verschiedenen wirtschaftlichen Stärke der beiden Vertragsparteien. Der folgende Ausspruch eines erfahrenen Grossisten ist deshalb beinahe zum geflügelten Wort geworden: "Mit dem Bohrer in der Hand Bringt man die Käser zum Verstand."

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2. Postenkauf. Beim Postenkauf wird nur derjenige Käse verkauft, der in den Kellern des Käsers zur Zeit des Kaufabschlusses vorhanden ist. Ist in bezug auf das Ausschießen nichts vereinbart worden, so hat der Käufer den gesamten Posten (Prima- und Sekundaware) zu akzeptieren. Der Käser ist bei dieser Art des Kaufs weniger der Willkür des Großhändlers bezüglich der Qualitäts- und damit der Preisbestimmung unterworfen, als bei dem Mulchenkauf auf Ausstich. Beim Postenkauf kommt zwar ein Preisrückgang ebenfalls zur Geltung; dafür aber bieten die zahlreicheren Kaufabschlüsse dem Produzenten auch die Möglichkeit, von steigenden Preisen besser und schneller Vorteil zu ziehen als beim Mulchenkauf. Der Postenkauf stellt also gewissermaßen einen Emanzipationsversuch der Produzenten, der Käser, dar. Er war namentlich in der Ostschweiz eine Zeitlang üblich, da die dortigen Käser sich besser zu helfen wußten als die Berner. In neuerer Zeit tritt aber auch dort anstelle des Postenkaufs mehr und mehr der Mulchenkauf auf Ausstich, ein Zeichen, daß auch dort die Händler das wirtschaftliche übergewicht gewonnen haben. 3. Kauf von Sekundaware. Wenn nichts anderes vereinbart ist, so gilt beim Kauf von Sekundaware (d. h. von zweitklassiger oder "Ausschußware") der festgesetzte Preis nur für das im Moment des Kaufabschlusses bereits vorhandene Quantum, nicht aber (wie z. B. beim Mulchenkauf auf Ausstich) für den in der gleichen Produktionsperiode noch neu entstehenden Ausschußkäse. Dieser allgemeine Brauch hat seinen Grund in der Tatsache, daß die Qualitätsunterschiede bei der zweitklassigen Ware viel größer sind als bei der erstklassigen. Während der Begriff Primakäse doch ein mehr oder weniger begrenzter ist, finden sich unter der Sekundaware von der der erstklassigen ganz nahe stehenden Qualität bis zu dem kaum mehr genießbaren Ausschuß sehr große Unterschiede. Zu einer Preisbestimmung ist deshalb eine persönliche Besichtigung unerläßlich. 4. Transportkosten. Ist nichts vereinbart, so gilt in der Schweiz stillschweigend der Kauf franeo Verladestation. Ist die Entfernung zwischen Produzent und Großhändler nur gering, so erfolgt die Spedition häufig per Fuhrwerk durch die Milchlieferanten (Landwirte) der betreffenden Käserei. In diesem Fall ist es gebräuchlich, daß der Käufer für eine reichliche (oft nur allzu reichliche) Verpflegung von Mann und Pferd aufzukommen hat. 5. Gewicht. In den Kantonen Bern, Freiburg, Solothurn, Luzern und Aargau gilt im Handel mit Emmentalerkäse der festgesetzte Preis pro 50 kg. mit 6 Ofo Eingewicht (also für 53,2 kg.).

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Interessant ist bei dieser Handelssitte, daß die ihr heute zu Grunde liegende Ursache nicht mehr die ursprüngliche ist. Der ursprüngliche Entstehungsgrund ist folgender: Als der Emmentalerkäsehandel um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen größeren Umfang anzunehmen begann, besaßen die meisten Käser nur noch sehr mangelhafte Einrichtungen. Der Käse ging deshalb in noch "grünem" Zustand an den Händler über. Bei der in den Heizkellern des Händlers eintretenden Gärung trat dann ein ansehnlicher Gewichtsverlust ein. Deshalb wurde es üblich, bei der Gärung im grünen Zustand diesen künftigen Gewichtsverlust auszugleichen durch 6 Ofo Eingewicht. Nun sind aber schon längst sämtliche Käsereien mit den nötigen Heizeinrichtungen versehen, um die erste Gärung beim Produzenten eintreten zu lassen. Trotzdem wird in den angegebenen Kantonen zwischen dem Produzenten und dem Grossisten immer noch mit 6 '0/ 0 Eingewicht gehandelt. Man glaubt, daß die schweizerischen Händler diesen Brauch beibehalten haben mit Rücksicht auf die ausländischen Händler. In den Marktberichten wird nämlich nicht besonders bemerkt, daß die Preise mit 6 Ofo Eingewicht zu verstehen sind. Sie scheinen deshalb höher, als sie in Wirklichkeit sind, und lassen dem ausländischen Händler (der diese Sitte meist nicht kennt, da sie im Exporthandel nicht besteht) den direkten Einkauf von den schweizerischen Produzenten nicht vorteilhaft erscheinen. In der Ostschweiz, wo die Emmentalerkäsefabrikation erst zu einer Zeit Einzug hielt, wo die Käse die erste Gärung schon allgemein beim Käser durchmachten, wird der Preis meist pro 50 kg. netto bestimmt. 6. Zahlung. Im Emmentalerkäsehandel ist Barzahlung (oder doch Zahlung innerhalb 10 Tagen) durch die Großhandelsfirmen üblich. Diese Tatsache läßt jedoch nicht auf eine überlegenheit der Produzenten schließen, sondern bezweckt wohl eher die Verunmöglichung der Existenz schwächerer und neuer Konkurrenten im Lager der Händler. Die bestehenden Firmen sind meist alten Datums, und ihre Inhaber besitzen dazu noch häufig ein bedeutendes Privatvermögen. Sie erhalten deshalb von den Banken leicht Kredit zur prompten Erledigung ihrer Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Produzenten. Dadurch wird das Aufkommen neuer Firmen sehr erheblich erschwert, da die Produzenten sehr stark auf diese Barzahlung halten, um ihrerseits den Verpflichtungen gegenüber den Milchlieferanten nachkommen zu können. 7. Mängelrüge. Das Prüfen der Emmentalerkäse darf nur mittels Anbohren geschehen. Wird der Käse angeschnitten, so begibt sich der Empfänger des Rügerechts. Auch diese allgemeingültige Regel beruht auf einem wirtschaftlichen Grund. Durch das Anschneiden wird der

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Käseteig allerlei schädlichen äußeren Einwirkungen ausgesetzt und verliert deshalb an Dauerhaftigkeit und Transportfähigkeit. Dagegen hinterläßt die Qualitätsprüfung durch Anbohren nach Wiedereinsetzen des Böhrlings fast keine äußeren Spuren. Mängel, die bei der normalen Prüfung bei der Annahme durch den Händler nicht konstatiert werden können, dürfen übungsgemäß gerügt werden, bis die Käse im Lager des Händlers zwecks Einsalzens zum zweiten Mal gewendet werden, bei welcher Gelegenheit derartige Mängel sichtbar werden. Damit haben wir die hauptsächlichsten Handelssitten, wie sie in dem Verkehr mit Emmentaler zwischen Produzent und Händler im Gebiete der Schweiz vor dem Kriege bestanden, behandelt. Wir konnten nachweisen, daß die meisten von ihnen auf wirtschaftliche Momente zurückzuführen sind. Vor allem auch spiegelt sich die wirtschaftliche überlegenheit der Großhändler über die Produzenten in den Käsehandelssitten deutlich wider. III. Die Stellung der schweizerischen Gesetzgebung zu den kaufmännischen Verkehrssitten im Allgemeinen

Mit dem Ausdruck "kaufmännische Verkehrssitten" ist hier kein juristisch einheitlicher Begriff gemeint. Sondern es sind darunter diejenigen kaufmännischen Gepflogenheiten zu verstehen, die in einem bestimmten Gewerbe zwischen bestimmten Vertragsparteien ohne besondere Vereinbarung regelmäßig gelten. Welche davon ihrer rechtlichen Natur nach Gesetzesrecht, welche Gewohnheitsrecht und welche regelmäßiger Vertragswille sind, ist mehr eine zufällige Unterscheidung des momentanen Standes der Gesetzgebung als eine prinzipielle Unterscheidung der bestehenden Handelssitten nach ihrer Eignung zur rechtlichen Festlegung. Die Entwicklung des Rechts ist ja überhaupt dadurch gekennzeichnet, daß tatsächliche übungen nach und nach zu Gewohnheitsrecht und bei einer folgenden Kodifikation zu Gesetzesrecht werden. Danz 4 gibt dafür für die neuere deutsche Rechtsentwicklung mehrere Beispiele. Auch die Kodifikation des schweizerischen Zivilrechts hat mehrere Institute, die sich gewohnheitsrechtlich ausgebildet hatten, zu Gesetzesrecht erhoben. Interessant und wichtig ist der Unterschied zwischen dem dabei beobachteten Verfahren, je nachdem es sich um Gebiete des Handelsrechts oder des übrigen Privatrechts handelt. Während beim übrigen Privatrecht der Gesetzgeber die festzulegenden Normen stark nach 4

Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, S. 118, 132.

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ihrem Verhältnis zum "richtigen Recht" wertet und sogar durch die Gesetzgebung die wirtschaftlichen Verhältnisse nach seinem sozialen Ideal zu gestalten sucht, so wird das Handelsrecht dagegen häufig in der Form zum Gesetzesrecht, wie es sich auf Grund der allgemeinen übung vorher gewohnheitsrechtlich ausgebildet hatte. Die allgemeine übung ist aber nicht nur im Käsehandel, sondern auch sonst häufig ein Abbild der verschiedenen wirtschaftlichen Stärke der Vertragsparteien. Diese Bemerkung gilt somit auch bis zu einem gewissen Grade vom gesetzten Handelsrecht. Die Betrachtung der historischen Entwicklung des Handelsrechts erlaubt die oben angegebene weite Fassung des Begriffes der kaufmännischen Verkehrssitte (Handelssitte). Unter dieser Voraussetzung ist natürlich die rechtliche Natur der Handelssitte eine sehr verschiedene. Bei dem gegenwärtigen Stand der schweizerischen Gesetzgebung können die Handelssitten sein: 1. Dispositive Gesetzesnormen. Die Handelssitte ist hier als Normalfall gesetzlich sanktioniert. Wenn der Vertrag einen anderen Inhalt haben soll, so müssen dies die Parteien besonders vereinbaren.

2. Gewohnheitsrecht: a) nach dem allgemeinen Hinweis von Art. 1 Abs. 2 ZGB, der auch für das Obligationenrecht Geltung hat 5• Infolge des geringen Alters der Kodifikation hat sich wohl gemeines Gewohnheitsrecht im Sinne dieses Artikels noch kaum gebildet; b) nach dem speziellen Hinweis einzelner Artikel des Obligationenrechts auf übung und Ortsgebrauch. In diesen Fällen sind die aus diesen Gebräuchen oder der Verkehrssitte sich ergebenden Sätze als echte Rechtssätze zu betrachten6• Die Gewohnheitsrechtssätze sind wie diejenigen des Gesetzesrechts solche des objektiven Rechts und sind vom Richter anzuwenden, ohne daß sich die Parteien darauf zu berufen brauchen. 3. Gewohnheitsrecht minderen Grades oder bloße Gewohnheit. Wenn das Gesetz dagegen nicht darauf verweist, so gelten Handelsgewohnheiten, Usancen, nach der herrschenden Lehre 7 und der bundesgericht!. Praxis8 nicht als Rechtsquelle, sondern dienen nur zur Interpretation des Parteiwillens, indem sie in bezug auf die im Vertrag nicht ausdrücklich geregelten Punkte als mutmaßlicher Vertragsinhalt betrach5 Gmür, Die Anwendung des Rechts nach Art. 1 des scbweizerischen Zivilgesetzbuches, S. 133. 6 Gmür, ebd. S. 90. Nach Pfenninger: Uebung und Ortsgebrauch nach ZGB, S. 72, werden sie durch den Hinweis sogar zum Gesetzesbestandteil. 7 So z. B. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts Bd. 1, S. 271; Cosack, Lehrbuch des Handelsrechts, S. 129; Rossei, Manuel du droit federal des obligations, p. 15; Curti, Schweizerisches Handelsrecht, S. 10. 8 So u. a. BGE 23,769; 32 II 283; 34 II 638.

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tet werden können. Der Richter hat deshalb nicht von sich aus den Bestand einer solchen Usance zu erforschen, sondern diejenige Partei, die sich darauf beruft, hat den Beweis dafür zu erbringen. Eine andere Auffassung kann sich seit Bestehen des ZGB ergeben, durch dessen Art. 2 die Regeln von Treu und Glauben zu Rechtssätzen des eidgenössischen Rechtes erhoben werden 9• Festgelegt werden diese Regeln durch den Maßstab des üblichen, des nach der Sachlage als angemessen gebotenen Handeins, durch die Verkehrssitte. Zur Bestimmung der Verkehrssitte können auch übung und Ortsgebrauch herangezogen werden. Dadurch werden diese selbst gewissermaßen zu einer Art gewohnheitsrechtlichen Sätzen minderen Grades. IV. Die Stellung der schweizerischen Gesetzgebung zu den Käsehandelssitten im Speziellen In der Zusammenstellung von Dr. Pauli, die ich zum Ausgangspunkt meiner Darlegungen gemacht habe, sind die uns beschäftigenden Handeissitten als solche aufgeführt, die "im Käsehandel gelten, wenn nicht durch Vertrag etwas anderes vereinbart ist". Prüfen wir dieselben auf ihre rechtliche Natur, so zeigt sich, daß wir unter ihnen Vertreter von allen drei Kategorien finden, die wir in bezug auf die Stellung der Handelssitten im schweizerischen Zivilrecht überhaupt unterscheiden konnten. 1. Dispositive Gesetzesnormen. Die im Emmentalerkäsehandel gebräuchliche Art der Zahlung (Barzahlung) erweist sich als der von der Gesetzgebung vorgesehene Normalfall, indem der Art. 184 OR lautet: "Sofern nicht Vereinbarung oder übung entgegenstehen, sind Käufer und Verkäufer verpflichtet, ihre Leistungen gleichzeitig - Zug um Zug - zu erfüllen." Dies ist im Emmentalerkäsehandel zwischen Produzent und Großhändler, trotzdem es sich meist um große Summen handelt, infolge der oben angegebenen Gründe in der Tat allgemein üblich.

2. Gewohnheitsrecht. Zwei von unseren Verkehrssitten lassen sich unter Artikel subsumieren, in denen das Gesetz auf die kaufmännische übung verweist. Die im Käsehandel übliche Tragung der Transportkosten weicht von dem Normalfall des Gesetzes (Art. 189, 1) insofern ab, als die Transportkosten erst von der Verladestation an vom Käufer getragen werden (anders bei Transporten auf nur kurze Entfernung). Der andere Fall, in dem eine Verweisung des OR auf die kaufmännische übung im Käsehandel bezogen werden kann, betrifft die Art und Zeit der Mängelrüge (Art. 201 OR). 9

Gmür, Kommentar, S. 39, Nr. 6.

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Durch diese Verweisungen werden die aus den beiden genannten Käsehandelssitten sich ergebenden Sätze zu gewohnheitsrechtlichen Normen. Im Streitfalle hätte demnach der Richter von sich aus nach dem Vorhandensein einer solchen Sitte zu forschen. 3. Gewohnheiten oder Gewohnheitsrecht minderen Grades. Es bleiben noch eine ganze Anzahl von Käsehandelssitten übrig, die weder einer dispositiven Gesetzesnorm entsprechen, noch unter diejenigen Artikel des OR subsumiert werden können, in denen auf die übung oder auf den Ortsgebrauch verwiesen wird. Es sind dies von den angeführten Sitten: 1. Mulchenkauf auf Ausstich. 2. Postenkauf.

3. Kauf von Sekundaware. 4. Gewichtsberechnung.

Sie fallen also in diejenige Kategorie der Handelssitten, bei denen es streitig ist, ob sie als Gewohnheitsrecht minderen Grades oder nur als regelmäßiger Vertragsteil zu gelten haben. Die Ansicht des Bundesgerichtes über diese Kategorie von Handelssitten im allgemeinen haben wir kennen gelernt. Es wäre aber interessant festzustellen, wie sich das Bundesgericht speziell zu den Käsehandelssitten gestellt hat. Von den in der amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheiden des Bundesgerichts beschäftigen sich nur drei mit dem Emmentalerkäsehandel; zwei davon (BGE 20 S. 1070 und 24 S. 709) haben aber nichts mit der Handelssitte zu tun, und der Entscheid 21 S. 570 beschäftigt sich zwar mit der Handelssitte (Mängelrüge), aber nicht mit deren rechtlicher Natur. Gerichtliche Streitigkeiten werden überhaupt im Käsehandel nach Möglichkeit vermieden. Die Großhändler lassen lieber einige 100 Fr. fahren, als daß sie sich durch Verärgerung der Produzenten für die nächste "Käsejagd" einen in die Zehn- und Hunderttausende gehenden Gewinnausfall zuziehen. Auch die Tatsache, daß Produzent und Großhändler meist nahe beieinander wohnen und deshalb eine Unkenntnis der speziellen Gebräuche fast ausgeschlossen ist, mag mit Schuld sein an der geringen Zahl von gerichtlichen Streitigkeiten auf diesem Gebiet. Wir müssen in folge dieses Mangels an gerichtlichen Entscheiden uns auf eine andere Weise Klarheit über die rechtliche Natur dieser Handelssitten zu verschaffen suchen. Zwei Erfordernisse werden als Kriterien für die Existenz eines Gewohnhei tsrechtes angesehen: 1. eine hinreichend lange und hinreichend deutliche übung,

2. die überzeugung einer Volksgemeinschaft, daß eine Rechtsnorm befolgt werde lO • 10

Gmür (N. 5), S. 84, und Huber, Vorlesung über ZGB, allgemeiner Teil.

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Bei Besprechung der einzelnen Handelssitten ist gezeigt worden, daß die meisten von ihnen der ersten Anforderung genügen. Viel schwieriger ist die Entscheidung für die zweite Frage. Eine Volksgemeinschaft, in unserm Fall also Käser und Händler, soll die überzeugung der Befolgung einer Rechtsnorm haben. Ich habe deshalb die betr. Frage Vertretern beider Vertragsparteien und auch einem neutralen Sachverständigen vorgelegt, bin aber nirgends zum Ziel gekommen. Einig waren alle Befragten darin, daß diese Sitten in einem gerichtlichen Streit als geltend angenommen würden und daß es auf die Art der Geltendmachung (Beweislast) vom praktischen Standpunkt aus nicht stark ankomme. Damit ist aber über die rechtliche Natur dieser Handelsgewohnheiten nichts gesagt. Da sich die Frage auf dem Wege der direkten Befragung der Parteien nicht entscheiden läßt, so müssen wir auf indirektem Wege auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieser Rechtsüberzeugung zu schließen suchen. Ein Moment namentlich scheint mir darauf hinzudeuten, daß es sich in der Anschauung der Parteien um übungen handelt, die über bloße Gewohnheiten hinausgehen und sich gewohnheitsrechtlichen Bildungen nähern. So weit nämlich die Kaufverträge schriftlich abgefaßt werden, sind die Vertragsbedingungen meist gedruckt. Daneben sind aber bis in die letzten Jahre häufig noch mündliche Käufe abgeschlossen worden, bei denen der Preis sozusagen die einzige ausdrückliche Vereinbarung bildete, und doch handelt es sich bei diesen Geschäften in der Regel um Summen, die 50 000 Fr. übersteigen. Es ist nicht anzunehmen, daß der Käser derartige Kaufverträge abschließen würde, wenn er nicht ein starkes Gefühl von Sicherheit hätte. Ob ihm die bestehenden Sitten, wenn er (freilich unbewußt) sie ihrer rechtlichen Bedeutung nach nur als stillschweigenden Vertragsinhalt ansehen würde, dieses Gefühl der Sicherheit zu gewähren vermöchten, scheint mir sehr fraglich. Es handelt sich offenbar mehr um die unbewußte Empfindung dessen, was der Gesetzgeber in bewußter Weise in den Regeln von Treu und Glauben in Art. 2 ZGB sanktioniert hat. Wir haben freilich gesehen, daß in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Käsehandelssitten die größere wirtschaftliche Macht der Großhändler gegenüber den Käsern deutlich zur Geltung kommt. Doch aber wohl nicht in dem Maße, daß sie der Moral und damit den Regeln von Treu und Glauben zuwiderlaufen. Denn schließlich haben wir es ja nicht nur bei den Handelssitten überhaupt, sondern selbst beim Gesetzesrecht zum Teil mit einer Festlegung von tatsächlichen Machtverhältnissen zu tun.

POSTULATE ZUR BESTIMMTHEIT GESETZLICHER REGELUNGEN UND DER ENTWURF DES NEUEN EHERECHTS Von Roger Zäch* Roger Zäch, geboren 1939 in St. Margrethen (St. Gallen), studierte Rechtswissenschaft von 1959 - 1963 an der Universität Genf und promovierte mit einer Dissertation über den vertraglichen Ausschluß der Kündbarkeit bei Personengesellschaften. Nach praktischer Tätigkeit als Anwalt und· Assistententätigkeit bei Walter R. Schluep habilitierte er sich 1976 an der Hochschule St. Gallen mit "Die Rückabwicklung verbotener Kartelleistungen". Seit 1977 ist er dort als ao., ab 1979 als o. Professor für Privat- und Wirtschaftsrecht tätig. Er publizierte vor allem auf den Gebieten des Zivil- und Kartellrechts und der juristischen Methodenlehre. Pierre-Andre Schaerer

• Festschrift für Arthur Meier-Hayoz, Bern 1982, S. 475 - 494. Nachstehende Werke werden nur mit dem Namen des Verfassers zitiert: Abegglen, James C.: Management and Worker, The Japanese Solution, Tokyo/New York/San Francisco 1975; Bamberg, Günter / Coenenberg, Adolf Gerhard: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre, 3. Aufl., München 1981; Bell, Daniel: The Coming of Post-Industrial Society, A Venture in Social Forecasting, London 1974; Bless-Grabher, Magdalen: Das alte Wil im Spiegel seiner Sittenmandate, Separatdruck aus "Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde", Band 2, herausgegeben von Louis Carlen, Zürich 1981; Burckhardt, Walther: Methode und System des Rechts, Zürich 1971 (Nachdruck); Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl., Zürich 1944; Carbonnier, Jean: Flexible Droit, 3. Aufl., Paris 1976; Claessens, Dieter / Milhoffer, Petra (Hrsg.): Familiensoziologie, Frankfurt am Main 1973; Claessens, Dieter / Menne, Ferdinand W.: Zur Dynamik der bürgerlichen Familie und ihrer möglichen Alternativen, in: Familiensoziologie, hrsg. von Dieter Claessens / Petra Milhoffer, Frankfurt am Main 1973, 313 - 346; Coing, Helmut: Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1969; Comes, Heinrich: Der rechtsfreie Raum, Berlin 1976; Dabin, Jean: Theorie Generale du Droit, Paris 1969; Dubs, Hans: Die Forderung der optimalen Bestimmtheit belastender Rechtsnormen, ZSR 1974 H, 223 - 247; Duss von Werdt, Josef: Hat die Europäische Kleinfamilie noch eine Zukunft?, in: Die Familie unter Druck, Zürich/Köln/Zürich 1973, 111 - 122; Engisch, Kar!: Einführung in das Juristische Denken, 7. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977; Felix, Günther: Gesetzesvollzug im Massenverfahren, in: Steuer und Wirtschaft 1976, 267 - 273; Frank, Richard: Revision des Eherechts: Wunschdenken des Gesetzgebers?, in: NZZ vom 30. September 1981, S. 35; Fritsch, Bruno: Möglichkeiten und Grenzen der Zukunftsforschung, in: Die Herausforderungen der 80er Jahre, Diessenhofen 1981, 7 - 13; Gäfgen, Gerard: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, 3. Aufl., Tübingen 1974; Global 2000: Der Bericht an den Präsidenten, hrsg. vom Council on Environmental Quality und dem US-Außenministerium, Washington D.C. 1980, Herausgabe der deutschen übersetzung durch Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1981; Graf Hans Georg: Trends der Schweizer Bevölkerungsentwicklung, in: Schweize-

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Zielsetzung und überblick Mit den folgenden Ausführungen werden zwei Ziele verfolgt: Es sollen vier Postulate dargestellt werden, die helfen, gesetzgeberische Probleme zu entscheiden, und es soll beurteilt werden, ob und inwierische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 1974, 231 - 249; von Hayek, Friedrich August: Die Anpassung von Wissen (Nobel Memorial Prize Lecture, December 11, 1974, S. Fischer Verlag), Stuttgart o. J.; Heinsohn, Gunnar / Knieper, Rolf: Theorie des Familienrechts: Geschlechtsrollenaufhebung, Kindesvernachlässigung, Geburtenrückgang, Frankfurt am Main 1974; Held, Thomas / Levy, Rene: Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft, Frauenfeld/Stuttgart 1974; Hegnauer, Cyril: Der Entwurf des neuen Eherechts, SJZ 1980, 69 -75; Henkel, Heinrich: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Auf!., München 1977; Hersch, Jeanne: Die Unfähigkeit, Freiheit zu ertragen, Zürich/Köln 1974; Hoffmann-Nowotny, H.-J.: Manager und Vater: zwei unvereinbare Rollen?, in: Die Familie unter Druck, Zürich/Köln/Zürich 1973,9 - 25; Hofstätter, Peter R.: Sozialpsychologie, 3. Aufl., Berlin 1967; Hotz, Reinhold: Methodische Rechtsetzung, eine Aufgabe der Verwaltung, von der Juristischen Abteilung der Hochschule St. Gallen angenommene, noch unveröffentlichte Habilitationsschrift; de Jouvenel, Bertrand: Die Kunst der Vorausschau, Neuwied/Berlin 1967; Kahn, Hermann: Angriff auf die Zukunft, Die 70er und 80er Jahre: So werden wir leben, Wien/München/Zürich 1972; Kahn, Hermann / Wiener, Anthony J.: Ihr werdet es erleben, Reinbek bei Hamburg 1971; Kerimow, D. A.: Fragen der Gesetzgebungstechnik, Aus den Erfahrungen der Gesetzgebungspraxis in der UdSSR, Berlin 1958; Koller, Arnold: Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht, Freiburg 1967; König, Rene: Die Familie der Gegenwart, München 1974; Kneschaurek, Francesco: Das Prognostizieren als Aufgabe eines Hochschulinstituts, in: Die Außenwirtschaft 1968, 117 -136; Liver, Peter: Begriff und System in der Rechtsetzung, ZSR 1974 II, 135 - 189; Lutz Christian: Die wirtschaftlichen Herausforderungen der 80er Jahre, in: Die Herausforderungen der 80er Jahre, Diessenhofen 1981, 61 -78; Merton, Robert K.: Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. von Ernst Topitsch, KölnIBerlin 1965, 144 - 161; Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1973; Montesquieu: De L'Esprit des Lois, Tome Premier, Paris 1941; Naucke, Wolfgang: über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1972; Noll, Peter: Gesetzgebungslehre, Reinbek bei Hamburg 1973; Piaget, Jean: Psychologie der Intelligenz, 6. Auf!., München 1974/1976; Portalis, Jean-Marie: Discours, preliminaire sur le projet de Code civil, in: Discours, rapports et travaux inedits sur le Code civil, hrsg. von Portalis Frederic, Paris 1844; Portmann, Adolf: Vom Lebendigen, Frankfurt 1973; Riou, Catherine: L'egalite des epoux en droit allemand, Paris 1965; Russel, Bertrand: Ehe und Moral, Zürich/Wien o. J. (erste Auflage 1929); Schelsky, Helmut: Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen,JZ 1974, 410 - 416; Schluep, Walter R.: Privatrechtliche Probleme der Unternehmenskonzentration und -kooperation, ZSR 1973 II, 153 - 557; Schönenberger, Wilhelm / Jäggi, Peter: Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, Obligationenrecht, Teilband V 1 a, 3. Auf!., Zürich 1973; Simonius, Pascal: Eherecht im Umbruch, hrsg. vom Arbeitskreis für Familien- und Gesellschaftspolitik, Bern/Hausen März 1981; Vierkandt, Alfred: Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1928; Weber, Max: Methodologische Schriften, Frankfurt am Main 1968; Yankelovich, Daniel: New Rules, Searching for Self-Fulfillment in a World Turned Upside Down, New York 1981; Zäch, Roger: Bestimmtere und unbestimmtere Formulierung von Tatbestand und Rechtsfolge: Konsequenzen für die Rechtsanwendung, in: St. Galler Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1981, Bern/Stuttgart 1981, 271 - 295.

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weit das neue Eherecht, genauer die Vorschriften über die Wirkungen der Ehe im allgemeinen!, diesen Postulaten entsprechen. Die Untersuchung möchte sowohl zusätzliche Gründe zur Beurteilung des neuen Eherechts aufzeigen als auch einen Beitrag zur Gesetzgebungslehre und damit zur juristischen Methodenlehre leisten, die Arthur Meier-Hayoz vor über 20 Jahren für die Schweiz neu gestaltet hat. Bereits hier ist darauf hinzuweisen, daß Gesetzgebungspostulate nur beschränkte Geltung haben: Sie sind methodische Anweisungen, die sich bisweilen widersprechen und oft vor gesetzgeberischen Entscheidungen mit unmittelbarerem Gerechtigkeitsbezug zurücktreten müssen; ihr Wert ist vor allem heuristischer Art2 • Die Postulate, die im folgenden dargestellt werden, können natürlich auch bei der privatautonomen Rechtsetzung berücksichtigt werden. Postulat I: Je persönlichkeitsbezogener das Verbandsverhältnis, desto unbestimmter (offener, flexibler) die gesetzliche Regelung. Unter Verbandsverhältnissen im weitesten Sinn wird eine mehr oder weniger dauerhafte Vereinigung "bestimmter Personen aus bestimmtem Rechtsgrund in bestimmter Organisation zu einem bestimmten Zweck" verstanden3 . Eine rechtliche Regelung ist unbestimmt (offen, flexibel), wenn für die Adressaten vor einer Anwendungsentscheidung (eher) ungewiß ist, ob einem Tatbestand bzw. einer Rechtsfolge ein konkreter Sachverhalt bzw. eine konkrete Verhaltensanweisung zuzuordnen ist 4 • Eine solche unbestimmte Regelung liegt auch vor, wenn der Gesetzgeber, statt die anstehenden Fragen selbst zu entscheiden, die Entscheidungsbefugnis an eine oder mehrere Personen (Behörden, Privatpersonen) delegiert; sie wird um so unbestimmter, je mehr Personen zur Mitentscheidung befugt sind. 1 BBl 1979 H 1404 ff.; Cyril Hegnauer, Der Entwurf des neuen Eherechts, SJZ 1980, 69 - 75, bietet einen überblick über die Revisionsvorlage. 2 Vgl. Noll, 281; Dubs, ZSR 1974 H, 246. Vgl. zur Gesetzgebungslehre etwa: D. A. Kerimow, Fragen der Gesetzgebungstechnik, Aus den Erfahrungen der Gesetzgebungspraxis in der UdSSR, Berlin 1958; Walter Buser, Die Organisation der Rechtsetzung, ZSR 1974 H, 377 ff.; Jacques-Michel Grossen, L'organisation des travaux preliminaires de legislation, ZSR 1974 H, 349 ff.; Jürgen Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Berlin/Heidelberg/New York 1976; Kurt Eichenberger u. a. (Hrsg.), Grundfragen der Rechtsetzung, Basel 1978; Richard Frank, Gesetzgebungslehre in der Praxis, SJZ 1978, 290 ff.; Konrad Baumann, Ein Modell der Rechtsetzung und das Rechtsetzungsverfahren im Bunde, Diss. Zürich 1979; Rene A. Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, BaseI/Stuttgart 1979; Günther Winkler / Bernd Schilcher (Hrsg.), Gesetzgebung, Wien/New York 1981; Reinhold Hotz, Methodische Rechtsetzung, eine Aufgabe der Verwaltung, Zürich 1983. 3 Schönenberger / Jäggi, Vorbem. OR Art. 1 N. 116. 4 Vgl. Zäch, 276, mit Verweisungen auf Noll, 256, und Engisch, 108; Dubs, ZSR 1974 H, 223.

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Die Menschen sind in verschiedene Verbandsverhältnisse eingebunden5 • Diese Verbandsverhältnisse sind in unterschiedlichem Maß persönlichkeitsbezogen6 • Stark persönlichkeitsbezogene Verhältnisse man spricht von Gemeinschaftsverhältnissen7 - entziehen sich weitgehend einer rechtlichen Normierung S ; ja die rechtliche Normierung stark persönlichkeitsbezogener Verhältnisse hat "eher zerstörende als schüt· zende oder gar fördernde Wirkung"9. Ehe und Familie bilden seit je den Verband, in dem die Beziehungen zwischen den Verbandsgliedern weitgehend persönlichkeitsbezogen sind, ein Sachverhalt, der sich in unserer Zeit sogar verstärkte. Denn durch die Beschränkung der Familie auf Eltern und Kinder "Verwandte" wohnen nicht mehr zusammen 10, das Hauspersonal ist praktisch verschwunden11 - haben die Beziehungen innerhalb der Familie einen immer gefühlsbetonteren Charakter angenommen12 • Fragen des ehelichen Verhältnisses sollten daher, jedenfalls soweit sie stark persönlichkeitsbezogen sind, entsprechend diesem Gesetzgebungspostulat möglichst unbestimmt (offen, flexibel) normiert werden. Ein Vergleich der Vorschriften des Entwurfs mit den (noch) geltenden Bestimmungen der Art. 159 ff. ZGB zeigt folgendes: Stark persönlichkeitsbezogene Fragen des ehelichen Verhältnisses wie, wer von den Ehegatten die Sorge für den Unterhalt tragen, wer und in welchem Umfang im Haus oder außerhalb des Hauses eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben soll, wer den Haushalt führen und die Kinder betreuen, wer die eheliche Wohnung bestimmen und über die Ausbildung der Kinder entscheiden soll, werden nach den Vorschriften des Entwurfs nicht mehr gesetzlich entschieden 13, sondern den Betroffenen zur eigenen Entscheidung überlassen. Vorgesehen ist lediglich, daß der RichSchönenberger / Jäggi, Vorbem. OR Art. 1 N. 112 ff. Comes, 60 - 64. 7 Comes, 64; Coing, 170; Henkel, 278; Vierkandt, 208 ff., insbesondere 225, 226; Weber, 321 - 324. 8 Coing, 170, mit besonderem Hinweis auf das Eherecht sowie auf Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), 344, wonach die Familienbeziehungen "nur teilweise dem Rechtsgebiete" angehören; Carbonnier, 28, 30, 183 -187; Dabin, N. 131; Riou, 8; vgl. auch Simonius, 27; Russel, 99: "Wenn die in der Ehe liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollen, müssen Eheleute zu der Einsicht gelangen ,daß sie in ihrem Privatleben Freiheit brauchen, ganz gleichgültig, was das geltende Recht dazu sagt." 9 Comes, 64; Coing, 171; vgl. auch von Hayek, 9 f. 10 König, 61, 69. 11 De Jouvenel, 315. 12 König, 67; Vierkandt 230 f., 447 - 449; Russel, 124; Carbonnier, 143 f.; Riou,4. 13 Vgl. Art. 163, 162, 164 und 167 des Entwurfs sowie die (bereits geltenden) Art. 297 Abs. 1 und 302 ZGB. 5

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ter bzw. die Vormundschaftsbehörde für den Fall, daß sich Ehepartner nicht einigen können, als vermittelnde oder entscheidende Instanz zur Verfügung steht. Die Regelungen des Entwurfs sind daher unbestimmter (offener, flexibler) als das noch geltende Recht. Unter dem Gesichtspunkt des hier in Frage stehenden Gesetzgebungspostulats sind sie daher dem noch geltenden Recht vorzuziehen. Wird die Entscheidungsbefugnis für die erwähnten Probleme nicht einem der Ehegatten, sondern einem Dritten, dem Richter, übertragen, so fehlt zwar die Möglichkeit, Entscheidungen rasch zu treffen. Dies ist aber kein MangeP4: Die hier anstehenden Fragen bedürfen keiner raschen Lösung. Insbesondere die Fragen der Bestimmung der ehelichen Wohnung, der Haushaltsführung und der Kindererziehung sind Probleme, die vorhersehbar sind und deren Lösung erdauert werden kann. Dazu kommt, daß der Zwang zur Einigung, der mit einer solchen Regelung verbunden ist, zu einer umfangreicheren Argumentation und damit wohl auch zu einer besseren Lösung führt1 5 • Die unbestimmte (offene, flexible) Regelung der eben erwähnten eherechtlichen Fragen entspricht übrigens bewährter Tradition. Im Bereich von Ehe und Familie haben sich - wie ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt - die Gesetzgeber eigentlich von jeher eine weise Zurückhaltung auferlegt. Eine diesbezügliche Ausnahme machen entsprechend der damaligen philosophischen Grundhaltung die Gesetzgeber des Absolutismus und der Aufklärung 16 • So finden sich im Allgemeinen Landrecht Preußens, das einen Höhepunkt jener Entwicklung bildet, Bestimmungen, wie17 : "Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet" (§ 67). "Wie lange sie aber dem Kinde die Brust reichen solle, hängt von der Bestimmung des Vaters ab" (§ 68). a. M. wohl Frank, NZZ vom 30. September 1981, S. 35. Ähnlich strukturiert sind übrigens die Entscheidungsprozesse in japanischen Unternehmungen: Nearly "all decisions are worked out by groups of people in conference and discussion"; solche Entscheidungsprozesse verunmöglichen praktisch, "to fix individual respons ability for decisions or for errors in decisionmaking", und sie schützen damit die Position des einzelnen in der Unternehmung: when "a man must spend his entire career in one factory or company, it is important that his prestige and reputation and his relations with others retain their integrity", Abegglen, 128 - 129. Daß jeder Partner sein Ansehen bewahrt, ist auch für den Bestand einer Ehe entscheidend. Vgl. auch Hegnauer, 73. 18 Vgl. etwa Bless-Grabher, 3; Montesquieu, 233 (Buch 29, Kapitell). 17 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, Textausgabe, Frankfurt am Main/Berlin 1970, S. 384 und S. 359; vgl. auch Portalis, 24, zum Code civil: Les lois civiles "doivent regler le gouvernement de la familIe"; vgl. aber Montesquieu, 233 (Buch 29, Kapitell). 14

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Oder, im Abschnitt über die Trennnung der Ehe durch den Tod: "Die Wittwe mag ein ganzes, der Wittwer aber ein halbes Jahr, um den verstorbenen Ehegatten trauren" (§ 436). "Erfolgt innerhalb der Trauerzeit eine anderweitige gültige Verheirathung: so wird dadurch die Trauer geendigt" (§ 437). Postulat II: Je größer das Prävisionsinteresse, desto bestimmter die gesetzliche Regelung 18 • Unter Prävisionsinteresse wird das Interesse der Adressaten an einer möglichst genauen Erkennbarkeit des Sinns rechtlicher Normen verstanden 19 • Eine rechtliche Normierung ist bestimmt, wenn für die Adressaten schon vor einer Anwendungsentscheidung gewiß ist, ob einem Tatbestand bzw. einer Rechtsfolge ein konkreter Sachverhalt bzw. eine konkrete Verhaltensanweisung zuzuordnen ist20 • Das Prävisionsinteresse ist je nach Funktion einer Norm unterschiedlich21 : Großes Prävisionsinteresse kommt etwa den grundlegenden organisatorischen Vorschriften für die staatliche sowie die private Rechtsetzung und Kooperation22 ZU 23 • Gleiches gilt von den Rechtsvorschriften, die den Bürger belasten, wie den steuerrechtlichen Vorschriften 24 sowie von den Normen, die hauptsächlich der Konfliktsverhütung dienen25 , wie etwa den Strafbestimmungen oder den Vorschriften für den Straßenverkehr26 • Geringer ist demgegenüber das Prävisionsinteresse bei Normen der Wiedergutmachung, wie insbesondere den Regeln über die Liquidation einer außervertraglichen Schädigung27 • Denn hinsichtlich solcher Ereignisse genügt es zu wissen, daß eine Schadensersatzpflicht besteht. Art und Umfang des Ersatzes können nach richterlichem Ermessen bestimmt werden28 • Vgl. NoH, 269 und 282 Nr. 4 und Nr. 5; Dubs, ZSR 1974 11, 225 f., 246. Vgl. NoH, 269. 20 Vgl. Zäch, 276, mit Verweisungen auf NoH, 256 und Engisch, 108. 21 NoH, 269. 22 Damit ist Zusammenarbeit in GeseHschaften und InteressengegensatzVerträgen gemeint, vgl. Schluep, ZSR 1973 11, 252 f. 23 Burckhardt, Methode, 188; derselbe, Organisation, 202. 24 Felix, StuW 1976, 269; Dubs, ZSR 1974 11, 223 ff., 246. 25 NoH, 269. 26 Daß beispielsweise die in Art. 26 SVG enthaltene Grundregel, wonach sich im Verkehr jedermann so zu verhalten hat, "daß er andere ... weder behindert noch gefährdet", nicht genügen würde und daher durch ganz bestimmte Vorschriften über einzelne Verkehrsvorgänge ergänzt werden mußte, ist offensichtlich. 27 NoH, 269. 28 Vgl. NoH, 269. 18

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Die Regelung der Fragen des Familiennamens, des Bürgerrechts sowie der Vertretungsmacht samt der Beschränkung bezüglich der Kündigung der Familienwohnung und der Auskunftspflicht der Ehegatten bezüglich der finanziellen Verhältnisse gehören zu den erwähnten grundlegenden organisatorischen Vorschriften und interessieren Dritte, weshalb ihnen großes Prävisionsinteresse zukommt. Daher sind diese Probleme möglichst bestimmt zu regeln. Ein Blick auf die Art. 160, 161, 166, 169 und 170 des Entwurfs zeigt, daß diese Fragen recht bestimmt geregelt sind. Der Entwurf berücksichtigt daher das hier in Frage stehende Gesetzgebungspostulat. Postulat III: Je unterschiedlichere Sachverhalte der Tatbestand einer Norm erfaßt, desto unbestimmter (offener, flexibler) die Rechtsfolge 29 • Von einer (unbestimmten, offenen, weiten) Formulierung des Tatbestands ist abhängig, ob ihm Sachverhalte zuzuordnen sind, die - nach rechtlicher Beurteilung - unterschiedlich sind 30 • Wird einem Tatbestand, der rechtlich unterschiedliche Sachverhalte erfaßt, eine bestimmte Rechtsfolge31 zugeordnet, so müssen rechtlich unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden. Dies verstößt gegen das Gebot, Ungleiches ungleich zu behandeln32 • Wird einem solchen Tatbestand dagegen eine unbestimmte Rechtsfolge 33 zugeordnet, so kann die rechtsanwendende Behörde die ihr angezeigt erscheinende unterschiedliche Behandlung vornehmen34 • Die Bestimmungen des Entwurfs über die Wirkungen der Ehe im allgemeinen sollen - wie nach bisherigem Recht - für alle ehelichen Verhältnisse gelten. Die Schaffung unterschiedlicher Bestimmungen für unterschiedliche eheliche Verhältnisse, wie dies im Güterrecht der Fall ist und beispielsweise für das Aktienrecht geprüft wird35 , steht nicht zur Diskussion. Für die Beurteilung der Frage, ob die Tatbestände der vorgeschlagenen Bestimmungen rechtlich unterschiedliche 29 Vgl. die Formulierung von Noll, 266: "Die unbestimmte Rechtsfolge löst die generelle Gleichbehandlung, die im generalisierenden Tatbestand angelegt ist, wieder auf. Anstelle der gesetzlichen Kasuistik entsteht eine richterliche." 30 Vgl. Zäch, 281; Noll, 256. 31 Zäch, 276. 32 Vgl. Noll, 265. 33 Zäch, 276. 34 N oll, 265 f. 35 Zwischenbericht, zum Vorschlag für eine Teilrevision des Aktienrechts, o. O. o. J., 181 ff. Der Problematik, welche die allzu weite Tatbestandsumschreibung im geltenden Aktienrecht mit sich bringt, wird versucht, mittels der in der Schweiz von Peter Jäggi (SAG 1958, 57 - 80) und insbesondere von Arnold Koller entwickelten Lehre von der typgerechten Auslegung beizukommen.

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Sachverhalte erfassen, sind daher alle ehelichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Im folgenden wird zunächst - in statischer Betrachtung - die Unterschiedlichkeit der ehelichen Verhältnisse aufgezeigt (1). Anschließend wird - in dynamischer Betrachtung - dargetan, wie sich die Verhältnisse in ein und derselben Ehe und Familie im Zeit ablauf verändern können (2). 1. Für die Entscheidung der Frage, wer die Sorge für den Unterhalt von Ehe oder Familie tragen soll, sind die Erwerbstätigkeit, Art und Umfang eines Vermögens sowie die Zahl allfälliger Kinder entscheidend. In der Lebenswirklichkeit finden sich Ehen, in denen nur der Mann oder aber nur die Frau oder beide Ehegatten einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Daß die Vermögensverhältnisse sehr unterschiedlich sind, bedarf keiner Ausführung. Hinsichtlich der Zahl der Kinder reicht der Bogen von der kinderlosen Ehe über ein bis zwei Kinder bis hin zur Großfamilie.

Bei der Regelung der Frage der Ausübung einer Erwerbstätigkeit fällt neben der unterschiedlichen Zahl allfälliger Kinder und der unterschiedlichen finanziellen Situation auch die Intensität von Bedürfnissen für Prestigegüter ins Gewicht, die bekanntlich je nach Milieu und Beeinflussung durch die Werbung sehr unterschiedlich sein können. Bei der Regelung der Frage der Haushaltführung sind neben dem Umstand, ob einer oder beide Ehegatten beruflich tätig sind und den sehr unterschiedlichen Vermögensverhältnissen vor allem die Arbeitsbedingungen bedeutsam. Diese können sehr verschieden gestaltet sein. Zu erwähnen ist einzig: Arbeit zu Hause oder außerhalb des Hauses, zeitlich normale oder abnormale Beanspruchung, Schichtarbeit. Bei der Regelung der Frage, wer die eheliche Wohnung und damit den Wohnort bestimmen soll, sind sinnvollerweise nicht nur Art und Stellung des oder der erwerbstätigen Ehegatten, sondern auch deren Um- oder Weiterbildungsinteressen sowie die Erziehungs- und Ausbildungsinteressen der Kinder zu berücksichtigen. Unter diesen Gesichtspunkten besehen finden sich einmal lohnabhängige Ehegatten, die ihre Erwerbstätigkeit an irgendeinem Ort ausüben können. Demgegenüber sind selbständigerwerbende Ehegatten oft an bestimmte Standorte gebunden. Andere Ehegatten wiederum - wie Angehörige bestimmter Verwaltungszweige oder Mitarbeiter international tätiger Unternehmen - sind periodisch zu Wohnsitzwechseln gezwungen. Die Um- und Weiterbildungsinteressen der Eltern sind je nach ihrem Beruf und die Ausbildungsinteressen der Kinder je nach deren Fähigkeiten sehr unterschiedlich. Bei der Ordnung der Frage der Betreuung und Erziehung der Kinder, die freilich nicht nur das Eherecht, sondern auch das Recht des

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Kindesverhältnisses betrifft, sind die Erwerbstätigkeit, die Arbeitsbedingungen sowie die sehr unterschiedlichen Vermögensverhältnisse entscheidend. 2. Wird eine Ehe und Familie im Zeit ablauf betrachtet, können sinnvollerweise vier verschiedene Phasen unterschieden werden36 : a) die Vorkinderfamilie37 , b) die Familie mit Kindern, das ist die Zeit, bis die Kinder das elterliche Haus verlassen, sie beträgt rund 20 Jahre38 , c) die Nachkinderfamilie bis zum Pensionierungsalter, sie beträgt etwa 15 Jahre 39 und d) das Pensionierungsalter von etwa fünf bis zehn Jahren40 • Werden diese verschiedenen Phasen berücksichtigt, wird klar, daß sich in ein und derselben Familie die Umstände, die für die Beantwortung der erwähnten Fragen maßgeblich sind, im Lauf der Zeit verändern: So stellt sich die Frage der Sorge für den Unterhalt während der Zeit der Kinderfamilie anders als während der Vorkinder- oder der Nachkinderfamilie; denn während diesen zwei Phasen sind beide Ehegatten in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Regelung der Frage der Haushaltführung, die insbesondere von allfälligen Kindern sowie von der Erwerbstätigkeit abhängig ist, stellt sich in der Zeit der Kinderfamilie anders als während der übrigen Phasen. Denn während diesen Phasen ist kein Ehegatte wegen Kindern an das Haus gebunden; vielmehr können in der Regel beide einer Erwerbstätigkeit nachgehen bzw. sie sind im Pensionierungsalter von diesem Zwang befreit, weshalb sie in diesen Phasen beide gleichermaßen in der Lage sind, häusliche Arbeiten zu verrichten. Die Regelung der Frage der Bestimmung der Wohnung sollte während der Phase der Kinderfamilie auch deren Erziehungs- und Ausbildungsinteressen berücksichtigen, während in den übrigen Lebensabschnitten der Familie vor allem auf die Interessen des bzw. der erwerbstätigen Ehegatten abzustellen ist. Die Regelung der Frage der Kindererziehung endlich stellt sich nur während einer bestimmten Phase. Diesbezüglich sind demzufolge nicht je nach Lebensabschnitt einer Familie unterschiedliche Voraussetzungen gegeben. Diese Betrachtung zeigt, daß die durch ein einheitliches Eherecht erfaßten ehelichen Verhältnisse sehr unterschiedlich sind. Die unbeVgl. König, § 50; Held / Levy, 124 - 127. Vgl. Held / Levy, 125. 38 König, 61; Held / Levy, 126. 39 Vgl. Held / Levy, 126. 40 Die mittlere Lebensdauer der Männer beträgt 69,21, die der Frauen 75,03 Jahre, Graf, 241. 36 37

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stimmte (offene, flexible) Formulierung der Rechtsfolgen der vorgeschlagenen Normen für die Fragen der Sorge für den Unterhalt, der Haushaltführung, der Bestimmung der Wohnung und der Kindererziehung ist somit gerechtfertigt. Sie entspricht auch dem hier in Frage stehenden Gesetzgebungspostulat. Postulat IV: Je unbekannter die Regelungsmaterie, desto unbestimmter (offener, flexibler) die gesetzliche Regelung 41 • Die Konsequenzen von Entscheidungen - auch von gesetzlichen Regelungen - werden von Umweltzuständen beeinflußt42 • Um vernünftig handeln zu können, ist daher erforderlich, zunächst diese Umweltzustände zu erforschen. Dieses Postulat der Entscheidungslehre wurde - was nebenher erwähnt sei - im Rahmen der Rechtsetzung eigentlich seit je beachtet. So läßt sich die Lehre von der Natur der Sache, die ja insbesondere verlangt, bei der Rechtsetzung die zu ordnende soziale Wirklichkeit zu erforschen und zu berücksichtigen, über das Naturrecht der Aufklärung und die thomistische Rechtsphilosophie bis in die griechische Antike zurückverfolgen43 • Die zutreffende Erforschung der für eine Entscheidung relevanten sozialen Umweltzustände kann wegen deren Komplexität und Interdependenz 44 nur mehr oder weniger gelingen. So ist im täglichen Leben immer wieder zu erfahren, daß vor Entscheidungen aller Art die relevanten Umweltzustände nicht erkannt oder falsch eingeschätzt wurden. Die Schwierigkeiten, die bereits bei der Ermittlung gerade herrschender Umweltzustände bestehen, steigen noch, wenn es gilt, eine zukünftige Wirklichkeit zu ermitteln46 , was aber notwendig ist, um die Folgen von Entscheidungen abschätzen zu können. Allgemein gilt, daß die Umweltzustände um so unbekannter sind und bleiben, je größer der Zeithorizont ist, der für eine bestimmte Entscheidung in Betracht zu ziehen ist. 41 Vgl. Noll, 256: "Je weniger eine Norm sich auf Einzelheiten einläßt (... ), desto unabhängiger wird sie vom Wandel der Dinge im Laufe der Zeit." Dieses Postulat wird natürlich nicht befolgt, wenn versucht wird, bestimmte gesellschaftliche Zustände herbeizuführen oder zu verhindern. Zum heuristischen Charakter der Gesetzgebungspostulate, vorn, Zielsetzung und überblick. 42 Bamberg / Coennenberg, 16. 43 Coing, 177 - 188. Häufig begnügen sich die Juristen allerdings mit den eigenen Erfahrungen, die Ergebnisse der Realwissenschaften werden nicht genügend berücksichtigt, Schelsky, JZ 1974, 411 ff.; Naucke, 26; Noll, 86 - 98. u Gäfgen, 35; von Hayek, 8 f. So ist hier einzig auf die sich selbst zerstörende oder erfüllende Prophezeiung zu verweisen, vgl. dazu Merton, 144 ff. 45 Vgl. Bamberg / Coennenberg, 17.

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In der Praxis müssen nun laufend Entscheidungen ohne genaue Kenntnis der relevanten Umweltzustände getroffen werden46 • Werden solche Entscheidungen offen, flexibel gestaltet, besteht am ehesten Gewähr dafür, daß sie nicht durch künftige Umweltzustände überrollt werden bzw. daß unbekannte Entwicklungen eingefangen werden können 47 • Auch der Gesetzgeber muß Entscheidungen treffen, ohne die relevanten Umweltzustände, die Regelungsmaterie, gen au zu kennen48 • Dies ist insbesondere der Fall bei Gesetzen, die für eine lange Geltungsdauer oder für Lebensverhältnisse geschaffen werden, die einem raschen Wandel unterliegen. Besonders das Zivilrecht ist auf Dauer angelegt. Bei einer Neuregelung des Eherechts sind daher nicht nur die heutigen, sondern auch die künftigen ehelichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Wird gefordert, daß ein neues Eherecht mindestens eine Generation überdauert, so ist davon auszugehen, daß ein revidiertes Recht, sofern es wie vorgesehen in Kraft tritt, im Jahr 2020 noch gelten wird. Der Gesetzgeber hat somit nicht nur die gegenwärtige soziale Wirklichkeit in Betracht zu ziehen, sondern auch die ehelichen und familiären Verhältnisse im Jahr 2020. Zu den heutigen Realien ist hier lediglich festzustellen, daß nach Ansicht führender Leute wie Horkheimer, Adorno und Carbonnier die gegenwärtige Lage der Familie noch nicht zureichend empirisch erforscht ist 49 • Zu erwähnen sind beispielsweise die Auswirkungen der zwischenelterlichen Beziehungen auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie die Interdependenz zwischen Familie und Gesellschaft oo . DaVgl. Bamberg / Coennenberg, 96. Vgl. die Postulate von Kahn I Wiener, 381 f., die allerdings ambivalent sind: "Solange wir sowohl über die Ziele wie über die Mittel im ungewissen sind, dürfte das wichtigste Prinzip lauten: zu vermeiden, die Zukunft detailliert zu planen. Soziale Maßnahmen sollten der Freiheit einen großen Spielraum lassen (... ) und sie sollten künftige Revisionen und neue Entscheidungen möglichst nicht erschweren. Doch die Entscheidungen der Zukunft zu überlassen, kann wohl den Fortschritt erleichtern, aber kaum Katastrophen verhüten oder auch nur einer Verschlechterung der Lebenslage entgegenwirken. In dieser Hinsicht wäre eine straffe, strengere Politik erforderlich und auch die Bereitschaft, einige künftige Entwicklungsmöglichkeiten auszuschließen (...). Doch ein straffer Plan zur Vermeidung einiger beunruhigender Trends würde ein höheres Maß an Übereinstimmung und Vertrauen erfordern, als aller Wahrscheinlichkeit nach erreichbar ist", und ebenda 389 f.: Mangelnde Information ergibt "eine Rechtfertigung für (...) die Tendenz, unwiderrufliche oder bedeutsame Entschlüsse aufzuschieben, um möglichst lange flexibel zu sein. Flexibilität ist allerdings nicht in allen Fällen günstig; klare, unwiderrufliche Entscheidungen sind in vielen Situationen oft vorzuziehen (...). Leider gibt es hier keine wirklich gute Faustregel". 46

47

48 49

NoH,96.

Claessens I Milhoffer, 77; vgl. auch Carbonnier, 162 - 164.

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zu kommt - worauf mit Nachdruck auch Adolf Portmann hinweist-, daß der heutige Stand des Wissens, der in einzelnen realwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie, der Psychologie, der Soziologie und insbesondere der Verhaltensforschung gegeben ist, bei der Gesetzgebung noch kaum genützt wird 51 • Die gegenwärtigen Realien könnten daher weiter geklärt werden. Mit dieser Feststellung soll es hier sein Bewenden haben. Denn es soll nun - weil dies hier ein Hauptanliegen ist52 - danach gefragt werden, wie Ehe und Familie im Jahr 2020 aussehen werden 53 • "Die Gegenwart ist" - nach einem Wort Bertrand de Jouvenels "kartographierbar, die Zukunft ist es nicht"54. Daher kann es nicht darum gehen, ein Bild der Ehe und Familie des Jahres 2020 zu entwerfen, sondern es sollen lediglich mögliche Veränderungen aufgezeigt werden, um jeweils im Anschluß daran zu überlegen, welche Auswirkungen diese auf die Fragen haben könnten, die heute im Brennpunkt des Revisionsinteresses stehen.

1. Zunächst werden Entwicklungen aufgezeigt, für die erkennbare Tendenzen bestehen und deren Auswirkungen abschätzbar sind. a) Die durchschnittliche Geburtenzahl je Frau (Index der Gesamtfruchtbarkeit), die 1964 den Stand von 2,68 erreichte, ist seither auf 1,6 gesunken (Pillenknick)55, und sie könnte (bei uns) weiter sinken56 . Außerdem könnte sich die Geburtenfolge weiter verengen 57 • Als Gründe, die diese Entwicklungen erwarten lassen, werden hauptsächlich angeführt58 : Die finanzielle Belastung durch die Kinder, die zu Konsumverzichten nötigt; die Sozialversicherungen, die das (direkte) Angewie50 Claessens / Milhoffer, 77 f.; Claessens / Menne, 314, wo die Frage aufgeworfen wird, ob die Menschen in sehr intimen Beziehungen Demokratisierungs- und Egalisierungstendenzen mitvollziehen können; Frances G. Wickes, Analyse der Kinderseele, die Auswirkung elterlicher Probleme auf das Unbewußte des Kindes, 2. Aufi., Zürich/Stuttgart 1969. 51 Noll, 86 - 98; vgl. auch Portmann, 110. 5! Vgl. auch das in der Finanz und Wirtschaft vom 21. Februar 1981, S. 15, abgedruckte Interview mit dem Präsidenten des Schweizerischen Wissenschaftsrats, Prof. Dr. G. Huber, mit der überschrift: "Unser Zukunftshorizont ist zu eng gezogen"; Kneschaurek, 119 f. 53 Wir Juristen befassen uns wohl zu wenig mit der Zukunft, obwohl festzustehen scheint, daß sich die Welt des Jahres 2000 "von der heutigen in wichtigen Punkten unterscheiden" wird, Global 2000,88. S( de Jouvenel, 135; Fritsch, 10 f. 55 ESTA, Die Entwicklung der Fruchtbarkeit in der Schweiz, in: Die Volkswirtschaft 1977, 51. Ähnlich ist die Entwicklung in den USA, vgl. Yankelovich, XIV. 58 Weltweit ist mit einem rapiden Bevölkerungswachstum zu rechnen, Global 2000, 26. 57 König, 65; Held / Levy, 126 f. 58 Heinsohn / Knieper, 9 f., 184 f.; König, 71, 90; Russel, 120 f.

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sensein der Eltern auf Kinder im Alter weitgehend beseitigen; die sinkende Zahl der an Nachfolgern interessierten Selbständigerwerbenden; der Wunsch, nicht durch Kinder an einer Auflösung der Ehe, mit der ja zunehmend gerechnet wird, gehindert zu sein. Sodann könnte die Tendenz zur früheren Verselbständigung der Kinder anhalten. Denn Kinder müssen sich immer früher in familienfremden Milieus wie Kindergärten und Schulen bewegen, sie werden früher in intensiverem Maß von Clubs aller Art sowie von den Massenmedien, insbesondere vom Fernsehen, in Anspruch genommen 59 , und sie müssen sich - worauf namentlich Jeanne Hersch aufmerksam machteOO - besonders in der Stadt schon sehr früh mit einer ihnen feindlichen Umwelt auseinandersetzen. Die unmittelbaren Folgen solcher Entwicklungen bestünden in einer Erhöhung der Zahl der kinderlosen Ehepaare sowie der Familien mit nur einem oder zwei Kindern61 sowie in einer Verkürzung der Phase der Kindererziehung auf rund 15 bis 20 Jahre. Solche Entwicklungen hätten zur Folge, daß sich in einer größeren Zahl von Ehen die Frage der Kinderbetreuung und Kindererziehung nicht oder nur während kurzer Zeit stellte, womit sie relativiert würde. Solche Entwicklungen führten aber auch dazu, daß - von einer allfälligen kurzen Phase abgesehen - praktisch beide Ehegatten frei wären, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies wiederum müßte die Regelung der Fragen der Erwerbstätigkeit, der Sorge für den Unterhalt sowie der Haushaltführung beeinflussen. Eine Verkürzung der Phase der Kindererziehung bzw. deren vermehrtes Fehlen sowie ein Anhalten der ebenfalls bestehenden Tendenzen zur früheren Heirat und zur Verlängerung der Lebenserwartung62 führte wohl dazu, daß die Phase der Kindererziehung den zentralen Stellenwert 'einbüßte, der ihr im geltenden Recht zu kommt63 • Sie würde sich wohl zu einem von drei ungefähr gleich bedeutsamen ehelichen Lebensabschnitten entwickeln. b) Eine substanzielle Verkürzung der Arbeitszeit etwa in der Form der Verkürzung der täglichen Arbeitszeit oder der Arbeitswoche, der Erhöhung der Zahl der jährlichen Ferienwochen oder der Feiertage, der Herabsetzung des Pensionierungsalters6 4, hätte Auswirkungen auf 59 60 61 62 63 6i

König, 65. Hersch, 120 ff., 128. Vgl. auch König, 83. Held I Levy, 126 f. Held I Levy, 126. de Jouvenel, 176 f.; Bell, 461; Lutz, 65, 71; Yankelovich, XV.

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die Frage der Haushaltführung, der Kindererziehung und gemein - auf die Beziehungen zwischen den Ehegatten.

ganz all-

c) Hinsichtlich der Erwerbstätigkeit der verheirateten Frau bzw. beider Ehegatten sind zwei gegensätzliche Entwicklungen ins Auge zu fassen. Angesichts der Tatsache, daß in den Entwicklungsländern gewaltige Menschenmassen zur Arbeit drängen, könnte Arbeit auch bei uns so knapp werden, daß nur noch einem Ehegatten je Familie erlaubt würde, zu arbeiten. Ein weiterer Geburtenrückgang sowie eine Abwanderung von Ausländern könnten demgegenüber bei uns dazu führen, daß beide Ehegatten einer Arbeit nachgehen müßten65 • Beide Entwicklungen würden sich - wenn auch in unterschiedlicher Weise - auf die Fragen der Sorge für den Unterhalt, der Haushaltführung, der Kinderbetreuung und Kindererziehung sowie der Bestimmung der Wohnung auswirken. Die Frage der Erwerbstätigkeit des zweiten Ehegatten würde demgegenüber in beiden Fällen von außen entschieden und damit als Problem der Ehegatten weitgehend entfallen. d) Sollte die örtliche Mobilität - etwa wegen Strukturveränderungen in der Wirtschaft und weiterer Nivellierung der örtlichen Vielfalt - amerikanische Ausmaße annehmen, so hätte dies zur Folge, daß der Wohnsitz im Verlauf einer Ehe mehrmals gewechselt würde 66 • Unter solchen Umständen stellte sich zwar die Frage der Bestimmung der Wohnung häufiger. Sie würde damit aber viel von der Bedeutung verlieren, die sie heute zum Problem macht. e) Verbesserungen der Wohnungs ein richtungen und der Haushaltsgeräte, eine Veränderung der Eßgewohnheiten sowie die weitere Verbreitung der gleitenden Arbeitszeit mit Mittagessen im Betrieb sowie die Einrichtung von Tagesschulen mit Mittagsverpflegung würden wohl auch die Frage der Haushaltführung aus dem Blickpunkt des Interesses rücken67 • f) Auch die Frage der beruflichen Ausbildung der Kinder könnte an Schärfe verlieren: Die Automatisierung, die Arbeitsteilung und die Normierung der Arbeit könnten die heute bestehenden Unterschiede zwisch'en einzelnen Berufen stark vermindern. Die Berufsberatung, gründend auf psychoanalytischen Tests aller Art, könnte die eigene Entscheidung weitgehend vorwegnehmen. Das Interesse der Eltern an der beruflichen Ausbildung der Kinder könnte sich - statt auf die 65 Für die USA rechnet Kahn, 254 f., mit einer Zunahme der Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen; diese Prognose scheint sich zu bestätigen, vgl. Yankelovich, XIX. 6~ Zwischen 1955 und 1960 wechselten etwa 80 Millionen Menschen (mehr als die Hälfte der damaligen Bevölkerung) die Wohnung; davon blieben etwa 47 Millionen im angestammten "county", während der Rest in andere "counties" oder Gliedstaaten der USA zog, Bell, 314. 67 Heinsohn / Knieper, 10; Duss-von Werdt, 118.

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Wahl eines bestimmten Berufs - immer stärker darauf ausrichten, den Kindern Aufstieg, Fortschritt und erhöhten Lebensstandard zu ermöglichen6B • Diese Entwicklung dürfte sich insbesondere bei Lohnabhängigen verstärken. Denn sie haben keine Nachfolger für einen eigenen (Gewerbe-)Betrieb oder ein eigenes Geschäft heranzubilden69 • Das Problem der Berufswahl würde auch relativiert, wenn inskünftig (stärker) mit einem oder gar mehreren Berufswechseln im Verlauf des Erwerbslebens zu rechnen ist. 2. Abschließend ist auf drei Entwicklungen aufmerksam zu machen, die insbesondere das Verhältnis der Eltern zu den Kindern betreffen und deren Auswirkungen auf Ehe und Familie, ja auf den einzelnen selbst kaum abschätzbar sind. a) In seiner Schrift "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft" legt Alexander Mitscherlich dar, wie in unserer Zeit die "Vaterrolle" zerfällt. Durch die Verlagerung der Arbeit von zu Hause weg in Fabriken und Büros kann die Vater- und Berufsrolle nicht mehr gleichzeitig ausgeübt werden. Für ein Kind bedeutet dies, daß 'es den auswärts arbeitenden Vater nicht an der Arbeit beobachten kann, und daß es daher diesbezüglich vom identifizierenden Beobachten und Lernen ausgeschlossen ispo. Die Folgen davon sind neurotische Verhaltensweisen 71 • Hier ist allerdings auf die Möglichkeit einer gegenläufigen Entwicklung aufmerksam zu machen: Die Computertechnik führte unter anderem zur sogenannten Arbeit am Bildschirm. Diese Tätigkeit, die heute außerhalb der Wohnung ausgeführt wird, könnte ohne weiteres zu Hause verrichtet werden. Eine Verlegung solcher Arbeitsplätze nach Hause, die insbesondere zu Einsparungen von Kosten bzw. Zeit für Transport, Bau und Unterhalt von Büroräumlichkeiten und auswärtiger Verpflegung führte, scheint in den USA bereits im Gang zu sein72 • Zu beachten ist freilich, daß in vielen Fällen die Ehegatten an einer örtlichen Trennung für die Dauer der Arbeit interessiert sind. Der Verlegung der Arbeitsplätze nach Hause könnten sich daher vor allem verheiratete Personen widersetzen. b) Für den Menschen ist bekanntlich die sogenannte zweite Geburt entscheidend. Gemeint ist damit die Entwicklung des spezifischen affektiven Sozialkontaktes, die Schaffung der Voraussetzungen für die Entwicklung des Menschen als sozial-kultureller Persönlichkeit73 • Be68 Vgl. Global 2000, 169. Zu der damit häufig verbundenen überforderung der Kinder: Mitscherlich, 197 f. Diese wirtschaftlichen Werte könnten aber auch an Bedeutung verlieren, vgl. Yankelovich, XV, 225 - 233. 69 Vgl. auch Heinsohn / Knieper, 163. 70 Hoffmann-Nowotny, 19 f.; vgl. auch Russel, 122 f., 139. 71 Mitscherlich, 338 - 344. 72 Vgl. auch Lutz, 70.

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obachtungen von Kindern, die ihr erstes Jahr in einem Säuglingsheim verbrachten, sowie Tierversuche lassen vermuten, daß eine gedeihliche Entwicklung nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß mindestens während des ersten Lebensjahres eines Kindes jemand viel Zeit für dessen Betreuung aufwendet7 4 • "Die besondere früh geburtliche Exponiertheit des Menschenkindes", sagt Mitscherlich, fordert in dieser ersten Zeit "eine Betreuung, die Unlust spannungen auf vielen Wegen rasch beseitigt. Die Menschenmutter muß bei Unlusterfahrungen jederzeit als Refugium verfügbar sein (... ), sonst wächst Mißtrauen"75. Fehlt es an solcher Betreuung, so scheinen sich als Folge davon schwere und schwerste neurotische und psychotische Störungen einzustellen, Störungen, die - und dies ist entscheidend - später nicht korrigierbar sind 76 . Wenn sich die Auffassung Mitscherlichs und anderer erhärten sollte, wonach "in der Kindheit (... ) ein Leben ohne väterliches Vorbild ebensowenig wie eines ohne Nähe der Mutter folgenlos ertragen werden" kann77 , so müßten der Erziehung und Betreuung des menschlichen Kindes in den entscheidenden Phasen alle andern Interessen untergeordnet werden. Dies könnte einmal zur Folge haben, daß nach einer Anregung von Hoffmann-Nowotny Büros und Fabriken wenigstens zeitweise für Kinder geöffnet werden müssen, um ihnen beobachtendes Identifizieren zu ermöglichen78 . Die naheliegendste Konsequenz bestünde aber wohl darin, einen Elternteil notfalls zu verpflichten, seine Kinder während gewisser Zeit selbst zu betreuen. Eine solche Pflicht ließe sich ableiten aus einem ohne weiteres begründbaren Persönlichkeitsrecht des Kindes auf angemessene Betreuung durch eine Mutter. Denn wo anders dürfte - in den Worten des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs Österreichs - von angeborenen Rechten gesprochen werden, wenn nicht dort, wo es darum geht - notfalls mit Mitteln des Rechts - für den Menschen die sogenannte zweite Geburt zu gewährleisten. Angesichts des verbreiteten Kosten-Denkens mag nebenher darauf hingewiesen werden, daß eine allfällige Entschädigung für die Betreuung, für die sich Ansätze im sogenannten Mutterschutz und Kinder73 Mitscherlich, 80; König, 71, 59; König, 71 f., unterscheidet im Anschluß an Claessens zwischen Soziabilisierung und der darauf folgenden Sozialisation; Claessens / Menne, 325; vgl. auch Piaget, 176; Hofstätter, 112. 74 Mitscherlich, 80 - 83; König, 59 f. 75 Mitscherlich, 81. 76 Mitscherlich, 83. 77 Mitscherlich, 343; Claessens / Menne, 325 f. 78 Hoffmann-Nowotny, 22.

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geld finden 79 , der Gesellschaft wohl billiger zu stehen käme als die Kosten späterer psychologischer und psychiatrischer Behandlung. c) Endlich ist darauf aufmerksam zu machen, daß das bereits erwähnte Desinteresse der Lohnabhängigen an eigenen Kindern zu einer Auslöschung der Gesellschaft führen könnte, und daß sich daher der Staat möglicherweise schon sehr bald gezielt mit den Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion befassen muß80. Ob und in welchem Umfang die hier aufgezeigten Szenarien Wirklichkeit werden, ist ungewiß. Sicher aber ist, daß solche Entwicklungen die Lösung ehe rechtlicher Fragen beeinflussen würden. Aus den überlegungen zu Postulat IV ergibt sich aber auch, daß der Lebensbereich von Ehe und Familie, den wir so bekannt wähnen8t, im Grunde genommen recht unbekannt ist. Die gegenwärtigen Realien ließen sich zwar weiter klären, die künftige Entwicklung aber bleibt weitgehend unbekannt. Die unbestimmte (offene, flexible) Normierung der Fragen des ehelichen Verhältnisses entspricht daher auch dem hier in Frage stehenden Gesetzgebungspostulat.

78

Heinsohn I Knieper, 187 - 195; vgl. Russel, 143.

80 Heinsohn I Knieper, 182 - 236.

81 Vorurteile scheinen vor allem in ideologisch belasteten Bereichen den Zugang zu den Realien zu versperren, vgl. Noll, 96 f.

B. StrafredIt ABSCHIED VOM STRAFRECHT? Von Hans Schultz* Hans Schultz, geboren 1912, studierte Rechtswissenschaft in Bern und promovierte dort mit einer Dissertation über den gerichtlichen Vergleich. Danach war er zunächst als Anwalt, Jurist bei der Postdirektion und über 10 Jahre lang als Gerichtspräsident in Thun tätig, wo er heute noch lebt.

Von 1955 - 1977 lehrte er an der Universität Bern, seit 1959 als ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht, strafrechtliche Hilfswissenschaften und Rechtsphilosophie. Er ist Präsident der Schweizerischen kriminologischen Gesellschaft und Herausgeber der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht. Er beteiligte sich maßgeblich am Alternativentwurf deutscher Strafrechtslehrer und leitete die Expertenkommission für die Revision des schweizerischen Strafgesetzbuchs. Die Universität Freiburg (Br.) verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Zu seinen Hauptwerken zählen das Schweizerische Auslieferungsrecht und die weitverbreitete Einführung in das Strafrecht. Daneben verfaßte er weit über 100 Publikationen auf dem Gebiete des Strafrechts, des Straßenverkehrsrechts und des internationalen Strafrechts. Von rechtssoziologischem Interesse sind besonders seine Arbeiten auf dem Gebiete der Kriminologie. Alastair Guggenbühl

Wie läßt es sich erklären, daß ausgerechnet das Strafrecht heftige Angriffe erdulden muß? Sehen wir einmal ab von allen Anfeindungen, die sich aus zeitgebundenen politischen Konstellationen erklären lassen; Gerichtsgebäude und Gefängnisse waren immer erste Ziele revolutionärer Bewegungen, die sich nach einem Machtwechsel dieser Mittel sozialer Kontrolle sogleich aufs Intensivste zu bedienen wußten. Ein Hauptgrund der wissenschaftlichen Anfechtungen des Strafrechts scheint mir darin zu bestehen, daß es sich in verhängnisvoller Weise isolierte. Damit meine ich nicht die unlängst von Bernhard Haffke mit gutem Grund beklagte Absonderung des Strafrechts von den empirischen Sozialwissenschaften1• Ich denke vielmehr an die bis vor kurzem übliche Trennung des Strafrechts von der Gesamtheit der Rechtsordnung, wie • ZStrW 98 (1980), 625 - 636. I Bernhard Haffke: Tiefenpsychologie und Generalprävention, 1976, S. 16 f.

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sie sich in geläufigen Definitionen dieser Disziplin, die nicht selten tautologisch sind, verrät. So wenn es heißt: "Strafrecht ist der Inbegriff der Rechtsnormen, welche die Ausübung der staatlichen Strafgewalt regeln, indem sie an das Verbrechen als Voraussetzung die Strafe als Rechtsfolge knüpfen"2, oder "Strafrecht ist die Gesamtheit der Rechtsnormen, die an ein bestimmtes menschliches Verhalten - das Verbrechen - bestimmte, überwiegend allein dem Strafrecht vorbehaltene Rechtsfolgen anknüpfen"3. Das Strafrecht ist, was man als eine bare Selbstverständlichkeit kaum auszusprechen oder gar zu betonen wagt, ein Teil der Rechtsordnung. Und zwar ist es nicht in beliebiger Weise mit dem Gesamten des Rechts verbunden, sondern auf eine ganz besondere Art4• Das Strafrecht bildet einen Teil des Systems der rechtlichen Sanktionen und nach heute kaum mehr bestrittener Auffassung deren ultima ratio. Wenn es ein Merkmal des Rechts ist und die rechtlichen sich von anderen sozialethischen Normen dadurch unterscheiden, daß sie dem Widerstrebenden gegenüber erzwungen werden können, wenn es nicht anders geht, dann bildet das Strafrecht die letzte Verteidigungslinie des Rechts überhaupt. Die enge Verbindung des Strafrechts mit der gesamten Rechtsordnung und dessen Aufgabe, der Bewährung des Rechts zu dienen, ließe sich aus Bindings Normentheorie ableiten. In der Schweiz wurde sie vom Schöpfer des schweizerischen Zivilgesetzbuches, Eugen Huber, in seinen rechtstheoretischen Schriften vertreten 5 , ebenso und ganz ausgesprochen von Walther Burckhardt, der immer wieder die Einheit der Rechtsordnung und die Eigenart der Strafe, Äußerung des Rechtszwanges zu sein, hervorhobe. Dieselbe Auffassung findet sich in der italienischen Rechtslehre, welche davon ausgeht, daß das Strafrecht Sanktionsrecht isF. In Deutschland stehen ihr nahe die Strafrechtslehrer, welche - wie Claus Roxin und Hans-Heinrich Jescheck - den Schutz der Rechtsgüter als die Aufgabe des Strafrechts hervorheben8 • Edmund Mezger, Strafrecht, Ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1949, § H, S. 3. a Reinhart Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 1971, § 1 lAI,

!

8.2. , Max Kummer, Die Vollstreckung des Unterlassungsurteils durch Strafdrohung, in Festgabe Hans Schultz, 1977, S. 391, bemerkte ironisch, das "Vollstreckungsmittel ,Strafe' sei eben ein ganz besonderer Saft, der bis zur Kriminalstrafe reiche, was weitgehende Garantien gegen voreiliges Verabreichen gebiete". 5 Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, Probleme der Gesetzgebung und der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, S. 366 lit. g. e Walther Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 1927, S. 229 ff. 7 Für viele Pietro Nuvolone, 11 sistema deI diritto penale, Padua 1975, S. 15 f. 8 Claus Roxin, Strafrechtliche Grundprobleme, 1973, S. 13; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, § 1 III 1, S. 6.

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Allein, ist das Strafrecht dermaßen eng mit dem Bestand der gesamten Rechtsordnung verbunden, dann erweisen sich die grundsätzlich gegen das Strafrecht gerichteten Angriffe als eigentlich auf die Rechtsordnung als solche zielend. Die Frage nach dem Abschied vom Strafrecht wird zur Frage nach der Zukunft des Rechts überhaupt. Damit gewinnt sie eine ganz andere Dimension und meint die Möglichkeit, ob der Mensch leben kann, ohne daß er von einer Rechtsordnung geleitet wird. Nichts wäre einfacher und verführerischer, als in die luftigen Gefilde der Utopie zu entschweben. Noch immer verlockt die Verheißung Rousseaus, es sei alles gut aus den Händen des Allmächtigen hervorgegangen, der Mensch sei frei geboren und erst die Vergesellschaftung bringe das übel in die Welt 9 • Eine Vision, die Schiller vom ästhetischen Staat sprechen ließ, der allein die Gesellschaft wirklich machen könne, "weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht", der allerdings "sich wohl nur ... in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden" lasse 10 . Eine Vision, die Karl Marx beflügelte, wenn er schrieb: "In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch die Assoziation zugleich ihre Freiheit"l1, eine Vision, die sich im Blick des sonst so pessimistischen Sigmund Freuds eröffnete, wie er davon sprach, "es müßte eine Neuregelung der menschlichen Beziehungen möglich sein, welche die Quellen der Unzufriedenheit mit der Kultur versiegen machten, indem sie auf den Zwang und die Triebunterdrückung verzichtet, so daß die Menschen sich ungestört durch inneren Zwist der Erwerbung von Gütern und dem Genuß derselben hingeben könnten. Das wäre das goldene Zeitalter, allein es fragt sich, ob ein solcher Zustand zu verwirklichen ist. Es scheint vielmehr, daß sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muß: es scheint nicht einmal gesichert, daß beim Aufhören des Zwanges die Mehrzahl der menschlichen Individuen bereit sein wird, die Arbeitsleistung auf sich zu nehmen, deren es zur Gewinnung neuer Lebensgüter bedarf"12. Es geht um die absehbare Zeit, um den Raum, in dem wir zu wirken haben. Zugegeben, ein Keim utopischen Denkens ist schon in die Strafrechtslehre eingedrungen, wenn sie den Grundsatz der Subsidiarität der g Jean Jacques Rousseau, Du Contrat social, Livre premier, chap. I: "L'homme est ne libre, et partout il est dans les fers." 10 Friedrich Schiller, über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 27. Brief, Bd. 8, Ludwig Bellermann (Hrsg.), S. 279, 282. 11 Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, 1953, S. 361, 396 mit dem Ausblick auf die Idylle des Lebens ohne Arbeitsteilung "in der kommunistischen Gesellschaft, wo ... die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben ...". 12 Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, I, 1967, S. 91.

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Strafe und deren Rolle als ultima ratio in den Vordergrund rückt, ebenso wenn sie aller Arglist der Zeit zum Trotz und nur allzu häufig volkstümlichen Meinungen zuwider am Gedanken steter Humanisierung und Milderung festhält. Aber auf absehbare Zeit ist mit der Unvollkommenheit des Menschen zu rechnen. Er bleibt ein bedürftiges Körperwesen. Seine Weltsicht erfaßt immer nur Ausschnitte des tatsächlich sich Vollziehenden. Er ist unfähig, sich immer ganz in jeden anderen, ihm begegnenden Menschen zu versetzen, dessen Erwartungen zu erkennen und ihnen zu genügen. Es wird ferner damit zu rechnen sein, daß es einzelne geben wird, die andere bewußt schädigen und benachteiligen wollen, eine Gefahr, die in einer Zeit immer knapperer Versorgung mit lebenswichtigen Gütern zunehmen wird. Selbst ein tiefenpsychologischen Einsichten so aufgeschlossener, doch kritischer Autor wie Bernhard Haffke formuliert nur als Fernziel: "Eine Gesellschaft mit ich-starken und autoritätsresistenten Bürgern könnte es sich ,leisten', Delinquenz als Krankheit zu betrachten 13 • " Die Frage, wie die Menschen ohne Recht leben würden, wandelt sich in die Problematik, wie sie dann die unausweichlichen Konflikte lösen würden. Die Aussicht ist gering, daß Konflikte zwischen Einzelnen wie zwischen Gruppen ausschließlich durch liebevolle Verständigung behoben würden. Entfällt das Recht, bleibt, rebus sie stantibus und in strenger Folgerichtigkeit bedacht, nur die Selbsthilfe, das Recht des Stärkeren, der Rückgriff auf die GewaIt14. In den Staaten mit gehäufter bedrohlicher Kriminalität ist die Selbsthilfe in ihrer sanftesten Form schon deutlich wirksam, als privater Selbstschutz, von mechanischen Sicherungen und Warnvorrichtungen bis zur Leibwache reichend; Firmen, die diese Güter anbieten, erleben eine Hochkonjunktur. Es gilt, die Alternative klar zu sehen: Es geht um die friedliche Schlichtung der Konflikte durch eine übergeordnete Instanz, welche der Idee der Gerechtigkeit verpflichtet ist, oder um die Herrschaft der Gewalt. Sollen Konflikte friedlich behoben werden, dann ist die Bindung der Menschen durch eine Rechtsordnung, die durchgesetzt werden kann, unabweislich. Es ist die große geschichtliche Erfindung, die Menschen durch die staatliche Rechtsordnung zu befrieden, die Anwendung von Gewalt dem Einzelnen zu entziehen und der Gesamtheit zu übertragen und, von Notwehr und Notstand abgesehen, einzig ihr unter rechtlich gen au bestimmten Voraussetzungen zu erlauben, Gewalt als Anwendung körperlicher Kraft zu üben. Es ist heute geboten, an die grundHaffke (N. 1), S. 72. Ebenso Hans Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969, S. 93, 317; siehe auch Wolfgang Mertens, Rückzug des Strafrechts - mehr Freiheit?, GA 1980, 41. 13

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legende Aufgabe jeder Staats- und Rechtsordnung zu erinnern: Eine gerechte Friedensordnung zu schaffen. Davon sprachen vor mehr als dreieinhalbtausend Jahren die Gesetzestafeln der Könige von Sumer und Babylon15 • Noch heute wird im angelsächsischen Recht mit der Anklage wegen einer schweren Straftat, im indictment, dem Beschuldigten vorgeworfen, er habe den Frieden des Landes oder den Königsfrieden verletzt. Staat, Recht und Strafrecht haben sich, wie Schopenhauer deutlich sah16, miteinander gebildet. Jacob Burckhardt bemerkte dazu: "Von den furchtbaren Krisen bei der Entstehung des Staates, von dem, was er ursprünglich gekostet hat, klingt noch etwas nach in dem enormen, absoluten Vorrecht, das man ihm von jeher gewährt hat1 7."

Argumente aus der heutigen Lage verstärken die Notwendigkeit rechtlicher Ordnung und deren Durchsetzung. Es ist nicht nur so, wie Wilhelm Gallas hervorhob, daß die heutige pluralistische Gesellschaft des Rechtes als einzig übrig gebliebener Bindung an gemeinsame Werte dringlicher bedarf als frühere Zeiten, in denen religiöse Gebote oder allgemein anerkannte sittliche Normen das Recht unterstützten 18 • Wir gehen einer Zeit entgegen, die immer stärker auf rechtliche Regelungen angewiesen sein wird, um den aufkommenden Nöten zu begegnen. Als Stichworte seien genannt die immer knapperen Naturschätze und deren Verteilung, der Schutz der Umwelt und, dies darf nicht außer acht gelassen werden, die Organisation und der Betrieb der technischen und administrativen Welt, auf die wir auf Gedeih und Verderb angewiesen sind, so gerne wir uns auch den damit verbundenen Einschränkungen unseres Beliebens entziehen möchten; ich nenne nur den öffentlichen Verkehr oder die Sozialversicherungen. 15 Auf der Stele, welche den Codex Harnrnurabi trägt, hieß es in dem auf sumerische Vorbilder zurückgehenden Nachwort: "Harnrnurabi der schützende König bin ich. Den Menschen entzog ich mich nicht, war nicht säumig, eine Wohnstätte des Friedens verschaffte ich ihnen ... " Zu den Vorgängern Hammurabis Hartrnut Schmöckel, Harnrnurabi von Babyion, Die Errichtung eines Reiches, 1958, S. 65, mit der Datierung der Regierungszeit von Harnrnurabi um 1700 v. Chr., S. 34. 16 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I. Teil, 4. Buch, Grisebach (Hrsg.), Bd. I o. J., S. 452 f. Den Zusammenhang zwischen Rechtsfrieden, Staat und Strafrecht betont auch Sebastian Scheerer, Artikel Strafgesetzgebung, in: R. Sieverts / H. J. Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Ergänzungsband 1979, S. 398 f. 17 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Rudolf Marx (Hrsg.), 1935, S. 32. 18 So Wilhelm Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 17. HansHeinrich Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik, ZStW 91 (1979), 1044 f., nennt weitere Gründe, weshalb die Bindungen durch Werte schwächer werden, und bezeichnet in LK, 10. Aufl., Einleitung ,1979, Rn. 1, in übereinstimmung mit Günther Kaiser, Strategien und Prozesse der Sozialkontrolle, 1972, das Strafrecht als einen "Teil des Gesamtsystems der sozialen Kontrolle" (im Original Fettdruck).

9 Rehbinder (Hrsg.)

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Alle diese unser Leben sichernden Rechtsnormen können mißachtet werden. Deshalb und nur deswegen sprach Emile Durkheim davon, Kriminalität sei als soziale Erscheinung normaP9. Aus diesem Grunde steht hinter den rechtlichen Geboten und Verboten der mögliche Zwang, man möge ihn benennen, wie immer man will, und mit dem Rechtszwang die Sanktion. Wie es schon Radbruch sah 20 und neulich Callies21 wieder bemerkte, ist das Strafrecht ein äußertes Mittel, bestimmte soziale Konflikte zu bewältigen. Man mag die Strafe höchst gelinde ansetzen und dann nur noch von einer Ordnungswidrigkeit sprechen, Sanktion bleibt sie dennoch. Selbst wenn man meint, wie es Eduard Naegeli22 und Arno Plack 23 vorschwebt, der Notwendigkeit eines Strafrechts zu entgehen, indem gegenüber den Urhebern gewisser Taten Maßnahmen vorgesehen werden, handelt es sich gleichwohl um einen erzwungenen, einen auferlegten Eingriff, um eine Sanktion. Sogar wenn das Ziel dieser Sanktion eine Behandlung wäre, ließe sich eine nach Voraussetzungen, Begrenzung und Durchführung genaue, eine strafrechtsähnliche Regelung nicht umgehen, wenn die Grundsätze des Rechtsstaates nicht preisgegeben werden sollen. Der Mensch wird nicht zum vollkommenen Wesen, wenn er sich den Mantel des Therapeuten umhängt. Selbst das vielangefochtene Schuld prinzip erweist sich seiner begrenzenden Funktion wegen als rechtsstaatlich unentbehrlich, wenigstens vorläufig. Denn es fehlen zuverlässige Methoden, um die Dauer der Behandlung einer Sozialgefährlichkeit im voraus zu bestimmen. Darauf wies Stratenwerth kürzlich hin 24 • Dieselbe 'Überlegung führte in den Vereinigten Staaten weg von der früher üblichen relativ unbestimmten Freiheitsstrafe, deren tatsächliche Dauer sich in diesen weiten Grenzen nach dem Verhalten des Verurteilten im Vollzug bestimmte. Endlich, um es erneut zu sagen: Die vom Recht verordnete Behandlung bleibt ein zwangsweiser Eingriff in die Freiheit des von ihr Betroffenen. Wenn Moliere die Figur des medecin malgre lui schuf, so ließe sich hier von einem Patienten gegen seinen Willen sprechen. Es ist nicht von ungefähr, daß immer mehr Stimmen laut werden, welche, wie die von Stephan Quensel, sich um der Verantwortung des Rechtsbrechers willen gegen das Vorbild der Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten wenden, wenn es um eine sozialtherapeutische Behandlung IV Emile Durkheim, Les regles de la methode sociologique, 13. Auf!., Paris 1956, S. 65 f. 20 Gustav Radbruch, Der Zweck im Recht, in: Der Mensch im Recht, 1957, S.103. 21 Rolf-Peter Calliess, Strafvollzugsrecht, 1978, S. 13. 22 Eduard Naegeli, Von der Vergeltung zur Sozialisierung, in: Die Gesellschaft und die Kriminellen, 1972, S. 76 f. 23 Arno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 367 f. 24 Günter Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977.

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geht 26 • Nur in Klammern sei beigefügt, daß sich bei Hippokrates der Satz findet, der Patient müsse mit dem Arzt gegen die Krankheit kämpfen, und derart die Verantwortung selbst des wirklichen Patienten berufen wird 26 • Hier zeigt sich der grundlegende Widerspruch, der allem Recht innewohnt und mit dem sich jeder abfinden muß, der sich dem Recht widmet: Das Recht ist die zur Zeit als richtig erachtete sozialethische Ordnung, die sich als letzte Zuflucht auf den Zwang stützen muß, um sich durchzusetzen, die aber dennoch der Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen bedarf. Das ist der Preis der Freiheit und der Sicherheit, die das Recht gewährt. Ob Recht gelten soll, steht in der Verantwortung des Menschen und zu dieser Verantwortung muß sogar der Rechtsbrecher aufgerufen werden, selbst wenn es durch Zwang geschehen muß27. Wenn derart aus dem Abschied vom Strafrecht auf absehbare Zeit nichts wird ,so bleiben die Zweifel auszuräumen, welche die heutige Kritik an der herkömmlichen Kriminalpolitik äußert. Die heute geltend gemachten Zweifel an der Möglichkeit zu resozialisieren sind zu den ständig wiederkehrenden Ausschlägen des Pendels zu zählen. Seitdem mit der griechischen Sophistik der Besserungsgedanke und andere spezialpräventive Ziele der Strafe im abendländischen Denken zum ersten Male verkündet wurden28 , traten ihnen immer wieder die entgegen, welche im Strafrecht ein Mittel erblickten, durch Vergeltung Gerechtigkeit zu üben29 • Und immer wieder verfielen Zeiten staatlicher Schwäche, unbekümmert um alle strafrechtlichen Lehren, darauf, ihre Schwäche durch ein hartes und grausames Strafrecht zu verdecken. Deshalb besteht kein Grund, die allgemeine Richtung strafrechtlicher Entwicklung zu verlassen, die sich seit etwa zwei Jahrhunderten ab25 Stephan Quensel, Der Anstaltsinsasse als Objekt von Strafjustiz und Behandlungseifer, in Festgabe Hans Schultz, 1977, S. 490. Ferner Ruth Murbach, Das medizinische Modell der Delinquenz, Entwicklung und Auswirkungen am Beispiel der nordamerikanischen Sexualpsychopathengesetze, Zürich 1980. 28 Walter Müri, Der Arzt im Altertum, Griechische und lateinische Quellenstücke mit der übertragung ins Deutsche, 4. Aufl. 1979, S. 11. 27 Alternativ-Entwurf § 37 Abs. 2 Satz 1: "Im Vollzug ist der Verurteilte auf seine Selbstverantwortung anzusprechen." 28 Plato, Protagoras, übers. von Friedrich Schleiermacher, Bd. 1, 1804, S. 258 f., der Protagoras ausführen läßt: "Wer aber mit Vernunft sich vornimmt, einen zu strafen, der bestraft nicht um des begangenen Unrechts willen, ... sondern des zukünftigen wegen, damit nicht auf ein andermal wieder, weder derselbe noch einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe." 29 So noch Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Teil, 1. Abschnitt, Allg. Anmerkung vor § 50, E I, Werke Bd. VII, hrsg. von Rudolf Cassirer, 1916, S. 139.

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zeichnet, die einer immer deutlicheren Milderung und Humanisierung. Ich möchte nicht bloß diese Schlagworte hinwerfen, sondern wenigstens einige Hinweise geben, wie diese Richtung weiter verfolgt werden kann. So zum Beispiel durch das Angebot einer wirklichen Behandlung an Rückfällige, durch vermehrtes Einbeziehen nicht angestellter Mitarbeiter im Strafvollzug, durch neue Sanktionsformen, die eher mit Beschränkung der Freiheit als mit deren Entzug arbeiten, wenn sie überhaupt in die Freiheit eingreifen, oder durch Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit. Es ginge schlicht darum, Ernst zu machen damit, nur die Tat zu mißbilligen, doch nicht den Täter, der unserer Anteilnahme bedarf, weil ihn immer nur eine begrenzte Verantwortung für sein Verhalten treffen kann. Ich weiß, dies alles tönt so unscheinbar und doch ist es das Entscheidende. Es geht um den einzelnen straffällig gewordenen Menschen, und da kann nur die immer wieder dem einzelnen hier und jetzt gewährte vermehrte Zuwendung helfen. Außerdem ist das als strafbar erklärte Verhalten zu beschränken auf die einen anderen oder die Allgemeinheit schädigende Handlung. Das Strafrecht verzichtet heute darauf, moralische Gebote, die sich nicht auf andere Menschen beziehen oder deren Mißachtung keine äußerlich greifbare Schädigung verursacht, dur~usetzen. Das Recht läßt dem Einzelnen einen immer größeren Raum zu freier Entscheidung und vermeidet so, dem bösen Wort von Karl Kraus zu verfallen, der Skandal beginne, wenn die Polizei ihm ein Ende bereiteflo. Selbst wenn besondere Formen der heutigen Kriminalität zu schärferem Eingreifen nötigen oder, wie die Wirtschaftskriminalität, neue Strafbestimmungen fordern, ist an der maßgebenden Linie der strafrechtlichen Entwicklung im ganzen nicht zu zweifeln. Doch ist sie nicht ungefährdet. Denn es droht heute die Gefahr, daß die Urheber spektakulärer und von den Massenmedien weidlich ausgeschlachteter Delikte den Blick auf die Wirklichkeit der Strafrechtspflege des Alltags trüben. Dort geht es weder um schwere Gewalttaten noch um erhebliche Vermögensdelikte, sondern in aller Regel um Kleinkriminalität. Selbst wenn 'es sich um Rückfällige handelt, sind es meistens sozial schwache Menschen, vor denen in einem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaate die Strafe die gefährdeten Rechtsgüter am besten sichert, wenn sie soziale Hilfe bringt oder sie wenigstens anbietet. Es bedarf immer wiederholter, jeder Sensation abholder Aufklärung der Bürger über die Wirklichkeit der Strafrechtspflege und der Hinweise darauf, daß selbst gelinde Strafen gegenüber einer großen Zahl von Rechtsbrechern wirksam sind. Die Erfahrungen mit der Strafaussetzung zur Bewährung sprechen dafür!. 30 Kar! Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, hrsg. von Heinrich Fischer, Bd. 11, München - Wien o. J.

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Die Beschäftigung mit dem Strafrecht darf nicht vergessen lassen, daß, wie schon die Aufklärung lehrte, Vorbeugen besser als Strafen ist. Nach der Sicht des amerikanischen Anthropologen Ralph Linton steht die Menschheit am Anfang der dritten großen Stufe ihrer Entwicklung32 • Dem Sammler- und Jägerdasein als erste Epoche folgte die durch Seßhaftwerden, Grundbesitz, Ackerbau, Handwerk und Städtebau gekennzeichnete zweite Periode. Wir beginnen die durch die großstädtische und technische Lebensweise gekennzeichnete dritte Epoche, welche die von Helmuth Plessner als Charakteristikum des Menschen genannte natürliche Künstlichkeit überdeutlich werden ließ33. Die durch diese Lebensart geschaffenen, verbrecherisches Verhalten begünstigenden Lebensbedingungen. wie sie der Peyrefitte-Bericht "Reponse a la violence" in umfassender Weise untersuchte und der nicht zuletzt den modernen Städtebau als kriminogenen Faktor erwähnt34, fordernentsprechende sozialpolitische Maßnahmen. Wie immer hat die Sozialpolitik den Vorrang vor der Kriminalpolitik. Das Fazit ist höchst bescheiden und keineswegs aufsehenerregend. Es bleibt nichts anderes, als sich damit abzufinden, daß die Bewahrung und Sicherung der Rechtsordnung, die friedliche Bewältigung des Konflikts mit dem Rechtsbrecher Aufgaben sind, die sich stets neu stellen. Denn dem Menschen ist aufgegeben, sein Leben, jedoch auf eine bestimmte Weise zu führen. Weil der Mensch sich seine Zukunft, und zwar in verschiedener Weise vorstellen kann, ist ihm nicht aufgegeben, sein Leben irgend wie, sondern es richtig zu führen. In den zwischenmenschlichen Beziehungen vertritt die Idee der Gerechtigkeit den Anspruch auf Richtigkeit. Die Gerechtigkeit bekundet sich in dem heute so dringlich spürbaren, weltweit erhobenen Anspruch auf gleiche Verteilung der zur Fristung des Lebens unbedingt erforderlichen Güter. Mit der gerechten Friedensordnung soll das Gleichgewicht erhalten werden, das allein das überleben der Menschheit sichert35 • Das Strafrecht 'erweist sich als bescheidener Träger dieses Gleichgewichtes. 31 Nachweise für die Schweiz bei Hans Schultz, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Band, 3. Auf!. 1977, § 31 IV 1 f., S. 89: kein Widerruf für sieben Achtel der Fälle. Für die deutsche Strafrechtspflege werden die Strafaussetzung im Urteil und die nach Verbüßung eines Teils der Strafe, eigentlich Fälle der bedingten Entlassung, nicht gesondert behandelt, weshalb die Ergebnisse weniger günstig lauten; siehe Kaiser, S. 136 f. 32 Ralph Linton, The tree of culture, New York 1962, S. 662. 33 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Einleitung in die philosophische Anthropologie, 2. Auf!. 1965, S. 309, der als erstes anthropologisches Grundgesetz "Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit" nennt. 34 Reponse a la violen ce, Rapport du Comite d':€tudes preside par Alain Peyrefitte, Paris 1977, bes. S. 124 ff. 35 In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke, Bd. IV, hrsg. von Rudolf Cassirer, 1913, S. 151, spricht Kant

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Weil die Lebensführung eine Aufgabe ist, gibt es für sie keine Einfür-allemal-Lösung. Es bleibt zweierlei: Das unablässige und umsichtige Mühen um immer bessere Regelungen: Ius criminale semper est reformandum. Doch zugleich ist, was gerne übersehen wird, darauf zu achten, daß einmal Erreichtes nicht verloren geht. Denn die ethische Geschichte der Menschheit beginnt mit jedem Neugeborenen neu36 • Deshalb ist das Bestehen einer Rechtsordnung nichts sicher Gegebenes. Immer wieder ist in den Formen des Rechts um das jeweils richtige Recht zu ringen. Aber welche großartige Aufgabe wird da gestellt und besonders den Juristen übertragen, selbst wenn es nur um den unscheinbaren Dienst am Recht im Alltage geht: Heraklit maß die Größe dieser Aufgabe mit dem Satz: "Das Volk muß für sein Gesetz kämpfen wie für seine Stadtmauez.:l 7 •

davon: "Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" (im Original gesperrt), welches "Problem ... von der Menschengattung am spätestens aufgelöst wird", S. 157. Damit erfülle die Menschheit "die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen", indem "sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle ... ", S. 156. Das Ziel der durch Vernunft geleiteten Entwicklung und Absicht der Natur fallen zusammen. Hat mit der Atombombe dieser Zwang eingesetzt? 3B "Wenn auch die Welt im Ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen", Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen. 37 Die Vorsokratiker, Die Fragmente und Quellenberichte, übers. und eingeleitet von Wilhelm Capelle, 1938, fr. 44, S. 154.

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Überlegungen zur Funktion von Sanktionen aus sozial psychologischer Sicht Von Martin Killias* Martin Killias wurde am 29. März 1948 in Zürich geboren, wo er vorerst Rechtswissenschaft, anschließend Soziologie und Sozialpsychologie studierte. Beide Studien schloß er mit dem Lizentiat ab und promovierte in der gleichen Zeit mit einer rechtssoziologischen Dissertation (1978).

Teils parallel, teils im Anschluß an das Studium folgten verschiedene praktische Tätigkeiten als Hochschulassistent, in der Verwaltung und an einem Gericht. 1980 begab er sich zu einem längeren Studienaufenthalt in die Vereinigten Staaten. Als visiting fellow an der School of Criminal Justice der State University of New York in Albany arbeitete er an seiner Habilitationsschrift zum Thema "Soziale Funktionen des Strafprozesses". Seit 1982 ist Martin Killias außerordentlicher Professor am Institut de police scientifique et de criminologie der Universität Lausanne und seit 1984 Bundesrichter. Urs Saxer

I. Einleitung Seit mehreren Jahrzehnten sieht sich das Strafrecht erheblichen Legitimationsschwierigkeiten ausgesetzt. Besonders eindringlich zeigte sich dies im Titel einer Streitschrift von Arno Plack - "Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts"1 - , der wohl noch stärker beachtet wurde als das fragliche Buch selbst. Die Problematik, die dieser Titel ausdrückt, beschäftigt die Wissenschaft allerdings nicht erst seit gestern. Zwar sprach man früher weniger von der "Abschaffung" des Strafrechts als vom Zweck der Strafe, den man - anknüpfend an Liszts "Marburger Programm" von 18832 - in der Besserung des Täters oder - der "klassischen" Schule, vor allem von BindinglI vertreten, folgend - in der Vergeltung des Unrechts der deliktischen Tat erblickte.

* ZStrR 97 (1980) 31 - 57. 1 2

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München 1974. Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStrW 3 (1883). Karl Binding, Die Normen und ihre übertretung, 4 Bde., Leipzig 1916 ff.

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Die Auseinandersetzung, die sich an diese Streitfrage knüpfte und die unter der Bezeichnung "Schulenstreit" in die deutsche Strafrechtsgeschichte eingegangen ist4, kann im Rahmen dieser knappen Ausführungen nicht nachgezeichnet werden. Wir wollen dafür einen Aspekt herausgreifen, der sowohl zur Zeit des Schulenstreits wie auch im Verlaufe der modernen Diskussion über die Reform des Strafrechts nUr wenig beachtet, doch unausgesprochen wohl immer als bedeutsam empfunden wurde: nämlich die Frage, ob die Gesellschaft zu ihrem Bestand Sanktionen (im weitesten Sinne des Wortes) überhaupt benötigt oder ob die Widerstände gegen die "Abschaffung" des Strafrechts allein auf die mangelnde Aufklärung der Öffentlichkeit zurückgeführt werden können 5 • Daß diese Frage bisher weitgehend ausgespart geblieben ist, liegt wohl auch am unterschiedlichen Verhältnis zur Empirie und zu den Sozialwissenschaften überhaupt, das die einzelnen Strafrechtsschulen auszeichnete. So waren die Vertreter eines spezialpräventiv orientierten Strafrechts, d. h. eines reinen Maßnahmenrechts, bemüht, die überlegenheit ihres Ansatzes empirisch zu belegen, indem sie anhand von Rückfälligkeitsstatistiken u. a. die geringe Effektivität des reinen Vergeltungsstrafrechts zu zeigen versuchten 6 • Diese "Nachfrage" nach Rückfälligkeitsdaten führte bei der Kriminologie zu entsprechenden Forschungsimpulsen, was im Ergebnis die Einseitigkeit dieser Disziplin noch verstärkte, die Aufmerksamkeit allein auf Tätermerkmale zu richten und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge weithin zu vernachlässigen. Die Vertreter der "klassischen" Schule andererseits waren bei der apriorischen Natur vieler ihrer Annahmen wenig geneigt, diese einem empirischen Test zu unterwerfen. So erhielt die Kriminologie von dieser Seite kaum Anregungen, sich mit der Bedeutung der Strafe für die gesellschaftliche Stabilität zu befassen. Diese Konstellation hat bewirkt, daß wir zwar über die spezialpräventiven Auswirkungen verschiedener Sanktionen relativ gut unterrichtet sind, daß aber gleichzeitig die Diskussion über die Fragen der Generalprävention und der Funktion von Sanktionen für die sie verhängende Gesellschaft - außerhalb der psychoanalytischen Literatur - kaum über spekulative Annahmen hinausgelangt ist. Um diese Lücke etwas zu schließen, sollen im folgenden einschlägige Forschungsergebnisse 4 Vgl. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3 Aufl., Göttingen 1965. 5 Wie bereits Franz Alexander / Hugo Staub, Der Verbrecher und seine Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen, in: TiIman Moser, Psychoanalyse und Justiz, Frankfurt a. M. 1971, 395; Originalausgabe: Wien 1929, und neuerdings Plack (N. 1), 395 ff., anzunehmen scheinen. 6 Vgl. G. Th. Kempe, Franz von Liszt und die Kriminologie, in: Franz von Liszt zum Gedächtnis, Berlin 1969.

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referiert und mögliche Konsequenzen für unser Thema gezeigt werden. Daß es sich hierbei vorwiegend um Arbeiten aus der Sozialpsychologie handelt, erklärt sich aus deren Bedeutung für die AnaLyse der Voraussetzungen und Auswirkungen gesellschaftlicher Randbedingungen auf der Ebene individuellen Verhaltens: tatsächlich erscheint das Verhältnis zwischen der strafenden Gesellschaft und dem bestraften Individuum geradezu als das Musterbeispiel eines sozialpsychologischen Forschungsgegenstandes. Damit soll zugleich ein Forschungsdefizit innerhalb der Kriminologie behoben werden, haben doch auch deren neuere Richtungen die theoretischen Entwicklungen in der Sozialpsychologie der letzten zwei Jahrzehnte noch kaum zur Kenntnis genommen 7 •

11. Zum Begriff der Strafe Im alltagssprachlichen Sinne ist die Strafe ein übel, das jemandem als Reaktion auf die Verletzung einer Norm zugefügt wird. Im Rechtssinne kann Strafe definiert werden als ein übel, das jemandem vom Staate als Reaktion auf die schuldhafte Verletzung einer strafbewehrten Rechtsnorm in einern dazu vorgesehenen Verfahren zugefügt wird 8 • Der Begriff der Strafe setzt damit vor allem die Begriffe der (Rechts-) Norm und der Schuld voraus. 1. Begriff und Funktion der (Rechts-)Norm

Luhmann9 definiert Normen als Erwartungen von Menschen über das Verhalten anderer, wobei das spezifische Charakteristikum der Rechtsnorm darin liegt, daß eine große Zahl von Personen - d. h. im Idealfall alle Angehörigen einer Gesellschaft - unter den gleichen Bedingungen ein identisches Verhalten erwarten. Derartige Erwartungen dienen der Reduktion der unendlichen Zahl von faktisch möglichen auf eine einzige oder allenfalls einige wenige bestimmte Verhaltensweisen. Dank der Generalisierung derartiger Erwartungen weiß man somit, was man von anderen (x-beliebigen) Leuten unter bestimmten Bedingungen erwarten kann, und jeder andere weiß gleichzeitig, was andere von ihm in dieser Situation erwarten. In einer Gesellschaft, 7 Zu diesem Manko der kriminologischen Forschung vgl. Karl-Dieter Opp, Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, Darmstadt - Neuwied 1974, 251. Teilweise gilt diese Feststellung auch für die Pionierarbeit von Stephan Quensel, Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie, Stuttgart 1964, in welcher z. B. die - für die seitherige Entwicklung der Sozialpsychologie sehr bedeutsamen - Arbeiten von Festinger, Bandura, Berkowitz, Skinner u. a. nicht rezipiert werden. S Vgl Hans Schultz, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 3. Aufl., Bern 1977, 26 f. 9 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek b. Hamburg 1972.

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deren Angehörige sich nicht instinktgesteuert nach stereotypen Mustern verhalten (müssen) und deren sozialer Entwicklungsstandard praktisch unendlich viele Verhaltensvarianten zuließe (Kontingenz), stellt die Reduktion der sozialen Komplexität durch Normierung - d. h. gesamtgesellschaftliche Standardisierung - von Verhaltenserwartungen eine notwendige Bedingung für das überleben bzw. den Bestand der Gesellschaft dar10 • Diese Notwendigkeit bezieht sich nicht auf den Inhalt konkreter Normen - dieser ist, wie die Erfahrung lehrt, zumindest in komplexeren Gesellschaften durchaus wandelbar - , wohl aber auf die Tatsache der Normierung der in bestimmten, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders wichtigen Situationen erwartbaren Verhaltensweisen an sich.

2. Die Strafe als Reaktion auf schuldhaftes Verhalten Jede Strafe hat die Verletzung einer Norm zur Voraussetzung. Insofern unterscheidet sie sich von anderen Formen der übelszufügung und insbesondere auch von Maßnahmen, die z. B. gegenüber Geisteskranken im Hinblick auf deren potentielle Gefährlichkeit - also ohne daß sich eine konkrete Gefahr realisiert hätte - verhängt werden können. Die bloße Tatsache einer Normverletzung kann in primitiven Gesellschaften zur Verhängung einer Strafe genügen, sofern die maßgebenden Gesellschaftsmitglieder zur überzeugung gelangen, daß jemand eine normwidrige Handlung verübt hat. So stellte das germanische Recht bis zum Beginn des Mittelalters vorwiegend auf das äußerlich feststellbare Ergebnis einer normwidrigen Handlung ab, ohne weiter nach den Vorstellungen und Absichten des Täters zu fragen: "die Tat tötet den Mann". Auch Tiere konnten für "Missetaten" in einem Verfahren strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Andererseits erfaßte das Strafrecht jener Zeit die bloß versuchten Delikte nur ausnahmsweise oder über die Kriminalisierung einzelner Vorbereitungshandlungen wie Schwertzücken (als Vorstufe zum Mord), Wegelagerei (als Vorstufe zum Raub) u. a. Komplexere psychische Vorgänge wie der Tatbeitrag des Anstifters oder Gehilfen sowie die Unterschiede zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz blieben damals ebenso unberücksichtigt wie geistige Störungen, die die Zurechnungsfähigkeit des Täters beeinträchtigt haben mochten l l . 10 Vgl. Martin Irle, Lehrbuch der Sozialpsychologie, Göttingen / Toronto / Zürich 1975, 444; im gleichen Sinne Schultz (N. 8) 23 f., und Quensel (N. 8) 88 ff. Nach Theodore M. Newcomb, Sozialpsychologie, Meisenheim am Glan 1959, 201, dienen soziale Normen dazu, den Phänomenen der Umwelt im Rahmen einer Kultur einen standardisierten Bedeutungsinhalt zuzuschreiben, und sind damit eine Voraussetzung für die soziale Kommunikation. 11 Vgl. Heinrich Mitteis / Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 15. Aufl., München 1978, Kap. 9 IV.

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Im Laufe einer längeren Entwicklung setzte sich eine differenziertere Betrachtungsweise durch, die weniger auf den äußeren Ereignisablauf als auf die inneren Beweggründe des Täters abstellte, m. a. W. also dessen Motive in den Vordergrund rückte 12 • "Ursache" des Verbrechens war also immer weniger der menschliche Organismus an sich als der "böse Wille", der diesen zur Tat veranlaßt hatte. Indem somit die Tat Entscheidungsvorgängen im Individuum selbst zugerechnet wird, rückte dessen falsche Entscheidung unter der Bezeichnung "Schuld" ins Zentrum der strafrechtlichen Begriffe. Strafe setzt damit voraus, daß das Individuum, das eine Norm übertreten hat, normgemäß hätte handeln können. Daß es sich nicht so, sondern "falsch" entschieden hat, wird ihm zum (Schuld-)Vorwurf gemacht. Der französische Terminus für Schuld - la faute (= der Fehler) - bringt diesen Gedanken anschaulich zum Ausdruck. Mit der Entdeckung der Entscheidungsabläufe im Innern des Individuums waren die Voraussetzungen für eine zunehmende Differenzierung des Schuld begriffs gegeben. Tatsächlich brachte die Entwicklung des Strafrechts während der folgenden Jahrzehnte zahlreiche neue Einsichten über Bedingungen, die die Entscheidungsmöglichkeiten des Individuums mehr oder weniger stark einengen oder gar ausschließen. Nach diesen begrifflichen Erörterungen soll im folgenden untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen die Bestrafung des Täters eine notwendige Reaktion auf abweichendes Verhalten darstellt. III. Zur Abwicklung von Enttäuschungen normativer Erwartungen Mit jeder Normierung wird ein gewisses Maß an Abweichung produziert1 3 • Normen lassen sich auf die Dauer somit nur aufrechterhalten, wenn es in der sozialen Interaktion gelingt, mit Normverletzungen fertig zu werden. Dazu müssen Strategien gefunden werden, die es ermöglichen, an normativen Erwartungen bezüglich zukünftigen Verhaltens festzuhalten, obwohl diese in der Vergangenheit durch abweichendes Verhalten immer wieder enttäuscht worden sind. In modernen Gesellschaften haben sich eine Reihe von Formen, über die Enttäuschung hinwegzukommen, herauskristallisiert, die teils bei der Wahrnehmung' teils bei der Verarbeitung enttäuschender Erfahrungen ansetzen. Die Enttäuschungsabwicklung erfolgt auf individueller Ebene somit teils über kognitive Prozesse und teils über emotionale Reaktionen. Vgl. Viktor Achter, Geburt der Strafe, Frankfurt a. M. 1951. Vgl. Emile Durkheim, Kriminalität als normales Phänomen, in: F. Sack / R. König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1974; vgl. auch Hartmut Schellhoss, Abweichendes Verhalten, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Freiburg i. Br. 1974. 12

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1. Kognitive Techniken zur Vermeidung von Enttäuschungen normativer Erwartungen Von großer Bedeutung sind die kognitiven Prozesse, die einen großen Teil der Enttäuschungen normativer Erwartungen neutralisieren, ohne daß es zu einer emotionalen Reaktion käme, und in diesem Zusammenhang vor allem Festingers 14 Theorie der kognitiven Dissonanz, die insofern als Glanzstück einer sozialps,ychologischen Theorie gelten darf, als sie zu einer einmalig großen Zahl von Forschungsarbeiten angeregt hat l5 . In der von Irle weiterentwickelten Form besagt sie - kurz zusammengefaßt - folgendes l6 : Alle Menschen haben Vorstellungen über Ursachen und Wirkungen von Phänomenen der realen Lebenswelt; ohne sie wäre man gar nicht in der Lage, die Vorgänge in der Welt zu verstehen, zu kontrollieren und/oder zu planen. Kognitive Dissonanz tritt dann auf, wenn ein empirisches, d. h. äußerlich wahrnehmbares Ereignis nach den Vorstellungen - genauer ausgedrückt: nach einer bestimmten Hypothese - einer Person nicht sein kann und/oder nicht sein darf, wenn also - entgegen den Annahmen dieser Person - trotz des Vorliegens der Bedingung X die erwartete Wirkung Y nicht eintritt. Festinger hat anhand zahlreicher Beispiele illustriert, was man sich unter einem solchen Zustand vorzustellen hat: In kognitiver Dissonanz befinden sich etwa die Mitglieder einer Sekte, deren Führer den Weltuntergang auf einen bestimmten Zeitpunkt prophezeit hat, wenn das erwartete Ereignis nicht eintritt, oder starke Raucher, wenn sie auf die Gefährlichkeit des Tabakkonsums aufmerksam gemacht werden, oder - so darf man in Anlehnung an Irle wohl ergänzen der Wirtschaftswissenschaftler, dessen Konjunkturprognosen sich wieder einmal nicht bewahrheitet haben. Kognitive Dissonanz entsteht also immer dann, wenn ein Ereignis entgegen den bisherigen Erwartungen einer Person auftritt bzw. ausbleibt, und ist um so stärker, je mehr jemand von der Wahrheit einer Hypothese überzeugt war. Je stärker die kognitive Dissonanz ist, die eine Person erfährt, desto mehr wird sie sich bemühen, sie zu reduzieren. Dazu kann sie ihre Erwartung (Hypothese, Theorie, Norm) über Bord werfen oder korrigieren, was beispielsweise ein Wissenschaftler tun wird, wenn er sich an die Regeln der Wissenschaftstheorie hält, 14 Leon Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, Calif., 1957; deutsch: Theorie der kognitiven Dissonanz, hrsg. von Martin Irle und Volker Möntmann, Bern/Stuttgart/Wien 1978 (im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe). 15 Die bei Festinger abgedruckte Bibliographie enthält 856 Titel von Forschungsprojekten zur Theorie der kognitiven Dissonanz, die zwischen 1956 und Anfang 1977 erschienen sind. Zwei Drittel hiervon entfallen auf die Jahre nach 1967. 16 Vgl. Festinger (N. 10) 299 ff. und Irle (N. 10) 310 ff.

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die Existenz des erwartungswidrigen Ereignisses ignorieren oder leugnen,

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nach Informationen suchen, die ihrer bisherigen Erwartung entsprechen und dadurch das Gewicht des erwartungswidrigen Ereignisses vermindern, indem dieses zum "Einzelfall" stilisiert wird, sich von anderen Personen in der überzeugung bestätigen lassen, daß ihre Erwartungen durchaus richtig seien und sie folglich keinen Anlaß habe, daran etwas zu ändern, und/oder

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ihre Hypothese - oder allenfalls ihr ganzes Weltbild - derart verändern, daß eine Falsifikation nicht mehr möglich ist, indem nicht überprüfbare - und damit auch nicht widerlegbare - Zusatz annahmen in die Hypothese aufgenommen werden17 •

Welcher Weg zur Reduktion der kognitiven Dissonanz gewählt wird, hängt vom dazu erforderlichen Aufwand ab. Dieser ist um so größer, je mehr eine Kognition - eine Erwartung (Hypothese), eine Meinung oder die Kenntnis eines Faktums - in ein umfassendes System von Kognitionen eingebettet ist. So werden etwa die Anhänger der Weltuntergangs-Sekte die Prophezeiung ihres Führers nicht als falsch anerkennen können, wenn sie nicht ihre ganze religiöse überzeugung revidieren wollen. Die Revision ganzer Weltbilder erfordert jedoch einen erheblichen Aufwand, zumal dadurch auch die soziale Rolle einer Person aufs stärkste betroffen wird. Es ist - um beim gewählten Beispiel zu bleiben - daher wahrscheinlicher, daß die Anhänger einer solchen Sekte andere Kognitionen verändern werden. Sie könnten beispielsweise annehmen, daß die Welt nur deswegen nicht untergegangen sei, weil sie so erfolgreich missioniert und so viele Leute sich gebessert hätten, daß der Menschheit ihr trauriges Ende habe erspart werden können 18• Natürlich könnten sie sich auch einreden, daß die Welt in Wirklichkeit untergegangen und quasi unbemerkt das paradiesische Zeitalter angebrochen sei. Die bekanntlich nicht immer paradieskonforme Alltagswelt würde vermutlich jedoch so viele Dissonanzen zu herkömmlichen Paradiesvorstellungen erzeugen, daß das Leugnen der Tatsache, daß die Welt nicht untergegangen ist, am Ende mehr kognitive Dissonanz erzeugen als beseitigen dürfte. Nach diesem Exkurs über kognitive Dissonanz sind wir in der Lage, das, was über Erwartungen (Hypothesen) und ihr Verhältnis zur Em17 Diesem Zweck dienen Einschränkungen wie "im allgemeinen", "keine Regel ohne Ausnahme" usw. Solche "Theorien" sind nicht widerlegbar und verstoßen damit gegen die Regeln der Wissenschaftstheorie. Sie sind aber auch praktisch nutzlos: wenn man nur weiß, daß, wenn der Hahn kräht auf dem Mist ,das Wetter ändert oder bleibt wie es ist, kann man nicht entscheiden, ob man am nächsten Tag eine wetterabhängige Tätigkeit ausführen kann. 18 Vgl. Festinger (N. 14) 246 ff.

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pirie gesagt wurde, auf das Problem der Wahrnehmung normwidriger, d. h. einer normativen Erwartung zuwiderlaufender Handlungen anzuwenden und dazu einige Hypothesen zu formulieren. Wenn oben (Rechts-)Normen definiert wurden als Erwartungen, die die Angehörigen einer Gesellschaft teilen, wie man sich unter bestimmten Bedingungen zu verhalten habe, so folgt daraus, daß die Menschen voneinander im allgemeinen ein normgemäßes Verhalten erwarten 1D • Das Ausbleiben einer normgemäßen und darum erwarteten Handlung sowie das Auftreten einer norm- und damit erwartungswidrigen Handlung erzeugt folglich kognitive Dissonanz. Sie ist um so stäker, je mehr man sich auf die Richtigkeit seiner Erwartung verlassen, und um so schwächer, je mehr man mit einem erwartungswidrigen Ereignis gerechnet hat. Das normwidrige Verhalten einer geliebten oder sozial hoch geachteten Person erzeugt damit eine stärkere Dissonanz als das gleiche Verhalten einer verhaßten oder sozial verachteten Person. Je stärker die erfahrene kognitive Dissonanz ist, desto eher wird man versuchen, diese zu reduzieren. Dies kann - entsprechend den oben beschriebenen Varianten - auf folgende Weise geschehen: -

Man kann schlicht "übersehen", daß eine normwidrige Handlung begangen worden ist, indem man im richtigen Moment wegschaut oder die Handlung als nicht normwidrig bewertet. Letzteres kommt insofern sehr häufig in Betracht, als die Grenze zwischen der rechtlich belanglosen Bagatelle und dem strafrechtlich erheblichen Delikt oft eine Frage des "Maßes" ist und damit von der kognitiven Verarbeitung des Ereignisses durch die Beteiligten abhängt2o •

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Man kann die normative Erwartung revidieren, d. h. seine Vorstellungen über Recht und Unrecht dem beobachteten Verhalten anpassen. Da die Rechtsnormen für die ganze Gesellschaft verbindlich sind und individuell nicht ohne weiteres "korrigiert" werden können, erscheint dieser Weg wenig erfolgversprechend21 •

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Man kann die Erwartungen bezüglich der sich abweichend verhaltenden Person oder gegenüber der sozialen Gruppe, welcher sie angehört, revidieren. Man erwartet dann von dieser Person nicht länger ein normgemäßes Verhalten und ändert insofern seine "Meinung" über sie.

19 Ein Ausdruck hievon ist die Vermutung des guten Glaubens (= Normkonformität) in ZGB Art. 3 Abs. 1. 20 Besonders deutlich zeigt sich dies beispielsweise beim Delikt der Notzucht, wo oft das gleiche Verhalten - je nach Interpretation - als Gewaltanwendung oder als temperamentvolles Liebeswerben gedeutet werden kann. Vgl. Ph. Robert / Th. Lambert / C. Fangeron, Image du viol collectif et reconstruction d'objet, Genf 1976. 21 Es sei denn, es gelinge jemandem, sich einer Subkultur mit entsprechenden abweichenden Normen anzuschließen.

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Man kann aber auch versuchen, sich in Erinnerung zu rufen oder durch neue Informationen zu erfahren, was für ein wertvoller Mensch X "in Wirklichkeit", d. h. abgesehen von diesem Einzelfall, ist. Noch wirksamer läßt sich diese Meinung gegen die normwidrige Erfahrung verteidigen, wenn es gelingt, Informationen zu beschaffen, die das Verhalten der Person X gar nicht mehr als abweichend erscheinen lassen. So könnte man vielleicht erfahren, daß ihr Verhalten gut gemeint war, also im Einklang mit einer zumindest gleichrangigen Norm stand, oder es könnte sich zeigen, daß X durch "üble Elemente" verführt wurde, oder am Ende könnte sich der Schluß aufdrängen, daß die Vorwürfe gegen X auf unbewiesenen und unhaltbaren Behauptungen beruhen.

In welcher Weise in einem konkreten Fall die kognitive Dissonanz also der Widerspruch zwischen einer normativen Erwartung und dem Verhalten der Person X - reduziert wird, hängt davon ab, welche der beteiligten Kognitionen - die Wahrnehmung der normwidrigen Handlung oder die Meinung über X - mit geringerem Aufwand geändert werden kann. Dies hängt einerseits davon ab, wie aufdringlich die normwidrige Handlung in das Bewußtsein des Beobachters dringt, und andererseits davon, zu wie vielen weiteren Kognitionen das "Eingeständnis", daß man ein Delikt wahrgenommen hat, in Widerspruch steht. Diese Wahrnehmung kann zum Selbstbild einer erfolgreichen, überlegen und vorsichtig planenden Person, das man in der Regel auch gegen außen zur Schau trägt, unter Umständen in einer dissonanten Beziehung stehen, deren überwindung mehr fordert als den Aufwand, der nötig ist, um ein Delikt "wider besseres Wissen" zu ignorieren. So ist beispielsweise die Entdeckung eines Geschäftsinhabers, daß ihn sein Finanzchef über Jahre hinweg betrogen hat, doppelt unangenehm: erstens, weil er sehr viel Geld verloren hat, und zweitens, weil er - im Falle einer Anzeige - auch noch seinen Ruf als tüchtiger Chef zu verlieren droht. Außerdem erfordert das Eingeständnis, ein Delikt wahrgenommen zu haben, im Normalfall eine Änderung der affektiven Beziehung zum Täter, was häufig mit hohen psychischen "Kosten" verbunden ist. So mag es beispielsweise einem betrogenen Liebhaber leichterfallen, trotz aller gegenteiligen Indizien an die Treue seines Partners zu glauben, als die Hoffnungslosigkeit der Lage einzusehen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ob man diese "Kosten", die normalerweise mit einer Anzeige verbunden sind, auf sich nimmt, hängt weitgehend ab von der sozialen Unterstützung, die man erwarten kann. Je nachdem, ob man sich öffentlichem Spott oder gar Vorwürfen wegen des eigenen Verhaltens aussetzt oder aber die solidarische Unterstützung der Umgebung erwarten kann, wird man eher die normwidrige Handlung ignorieren

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oder weg rationalisieren oder aber die Meinung über den Täter ändern. Die kognitive Verarbeitung normwidriger Erfahrungen wird damit durch die erwartete soziale Unterstützung erheblich beeinflußt22 • Diese hypothetischen überlegungen werden sehr anschaulich illustriert durch die Tatsache, daß Angehörige sozial verachteter Gruppen wie Vorbestrafte23 , Gastarbeiter24 u. a. bei strafrechtlichen Verfehlungen deutlich häufiger angezeigt und zur Rechenschaft gezogen werden als der Durchschnitt der Bevölkerung oder gar sozial hoch geachtete Personen. Das Delinquieren von Personen, denen die Bevölkerung ohnehin ein solches Verhalten zutraut, erzeugt per definitionem keine oder höchstens eine schwache kognitive Dissonanz, so daß nur wenig Anlaß besteht, solche Erfahrungen wegzurationalisieren. Außerdem kann derjenige, der solche Personen anzeigt, mit einer nahezu uneingeschränkten sozialen Unterstützung rechnen. Bei einer sozial hochgestellten Person müssen demgegenüber die Beweise schon sehr eindeutig sein, bis die Öffentlichkeit den Stab über ihr bricht25 • Dennoch gelangt auch der größte Teil der strafbaren Handlungen, die von den Angehörigen diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen begangen werden, wohl nie zur Kenntnis der offiziellen sozialen Kontrollinstanzen. Diese Lückenhaftigkeit der Strafverfolgung erweist sich im Hinblick auf die "Prävention durch Nichtwissen"26 durchaus als systemrational. Ohne Dunkelfeld ließen sich normative Erwartungen kaum mehr als verbindlich aufrechterhalten, weil das Bekanntwerden jeder Abweichung deren Allgegenwart und damit die schiere Fiktivität der Normen enthüllen müßte2 7 • Die Systemrationalität des Nichtwissens allein erklärt jedoch nicht das Warum des Nicht-wissen-Wollens. Hierzu bedarf es einer sozial psychologischen Theorie, die - ausgehend von der Theorie der kognitiven Dissonanz - das Nicht-wissen-Wollen als 22 Die Rolle der sozialen Unterstützung für die Reduktion kognitiver Dissonanz hat bereits Festinger eingehend untersucht: N. 14, 177 ff. 23 Die Literatur zum Thema der Stigmatisierung ist inzwischen unüberblickbar geworden. Zur höheren Chance von Vorbestraften, in einem Strafverfahren angeklagt zu werden, vgl. Klaus Sessar, Empirische Untersuchungen zu Funktion und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft, ZStrW 87 (1975), 1053. 24 Empirisch ließ sich dies an zwei Untersuchungen zum Ladendiebstahl in der Schweiz und in Freiburg i. Br. belegen. Vgl. Rolf Stephani, Die Wegnahme von Waren in Selbstbedienungsgeschäften durch Kunden, Bern 1968, 57, und Erhard Blankenburg, Die Selektivität rechtlicher Sanktionen. Eine empirische Untersuchung von Ladendiebstählen, in: Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Teilnehmende Beobachtung abweichenden Verhaltens, Stuttgart 1973, 141. 25 Diese Haltung kommt nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern z. T. auch in Strafverfahren zum Ausdruck; vgl. z. B. Dorothee Peters, Richter im Dienste der Macht, Stuttgart 1973, 110 ff. 26 Heinrich Popitz, über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen

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Vgl. Luhmann (N. 9) 72.

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instrumental zur Vermeidung von Enttäuschungen normativer Erwartungen - und damit zur Stabilisierung der Normen - begreift. 2. Die affektive Verarbeitung von Enttäuschungen normativer Erwartungen Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man die individuelle Reaktion auf abweichendes Verhalten hochsituierter oder sozial verachteter Personen nicht anhand der Theorie der kognitiven Dissonanz, sondern anhand der Theorie der kognitiv-affektiven Konsistenz untersucht28 • Als besonders erklärungskräftig erweist sich diese These, wenn ein Delikt nach den Regeln, die zur Rekonstruktion von Wahrheit allgemein akzeptiert werden, als "bewiesen" zu gelten hat und Rationalisierungsversuche aussichtslos erscheinen, und trotzdem dieses Delikt nach Palmströms Logik nicht sein dürfte, weil z. B. der Täter einer angesehenen sozialen Gruppe angehört. In einem solchen affektiven Dilemma befand sich beispielsweise die schweizerische Öffentlichkeit nach der Entdeckung der landesverräterischen Umtriebe von Brigadier Jeanmaire: der "Schock", der allgemein empfunden wurde, war letztlich ein Symptom der affektiven Inkonsistenz zwischen dem großen Respekt, den hohe Offiziere genießen, einerseits, und der äußerst negativen Bewertung des Landesverrats andererseits. Gemäß der Theorie der kognitiv-affektiven Konsistenz kann eine solche Inkonsistenz beseitigt werden, indem u. a. eines der kognitiven Elemente - z. B. also die Kategorie der höheren Stabsoffiziere - differenziert wird, so daß diese Gruppe das unrühmliche Individuum nicht mehr umfaßt. Konkret kann dies bewerkstelligt werden, indem der Fehlbare als "unwürdig" betrachtet wird, noch länger zur angesehenen sozialen Gruppe zu gehören, und gegebenenfalls in einem Verfahren, das primär die symbolische Trennung zum Ausdruck bringt, aus der fraglichen Gruppe ausgeschlossen wird. Verschiedene Organisationen haben im Laufe der Zeit derartige Verfahren institutionalisiert. So soll die Degradation im Militärstrafrecht29 und im Kirchenrechflo, um zwei 28 Diese Theorie wurde von Milton J. Rosenberg I Robert P. Abelson, An Analysis of Cognitive Balancing, in: Milton J. Rosenberg et al., Attitude Organization and Change, New Haven/London 1960, am ausführlichsten formuliert. Sie besagt - stark vereinfacht ausgedrückt -, daß Personen dazu tendieren, Widersprüche zwischen den affektiven Beziehungen, die sie zu verschiedenen Objekten haben, möglichst zu vermeiden, indem sie entweder einzelne Affekte verändern oder die "problematischen" Objekte so differenzieren, d. h. in mehrere Elemente zergliedern, daß die "störenden" Elemente als nicht mehr zum fraglichen Objekt gehörend definiert werden. Sie ist aus den Gleichgewichtstheorien hervorgegangen, deren Fruchtbarkeit für die Kriminologie bereits Opp (N. 7) 239 ff., illustriert hat. 29 MStG Art. 37. 30 Codex iuris canonici can. 2305.

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prominente Beispiele zu erwähnen, in erster Linie wohl verhindern, daß der negative Affekt gegenüber dem begangenen Delikt das Prestige aller Angehörigen des Offiziers- oder Klerikerstandes in Mitleidenschaft zieht3 1 . Dieses "Affekt-Management" kommt jedoch insbesondere in Verbindung mit einer kriminellen Bestrafung des Täters zum Zuge. Es ist zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen die Enttäuschung einer normativen Erwartung durch die Bestrafung des Täters bewältigt wird.

3. Die Strafe als ultima ratio zur Verarbeitung von Enttäuschungen normativer Erwartungen Enttäuschungen normativer Erwartungen lassen sich nur so lange über kognitive Prozesse vermeiden, als die übertretung der Norm nicht derart offenkundig ist, daß die sozialen Kontrollinstanzen einschreiten müssen, wenn sie nicht ihrerseits normative Erwartungen enttäuschen wollen, wie sie sich etwa aus dem Legalitätsprinzip ergeben32 • Insbesondere im Falle einer Anzeige läßt sich, sofern das Delikt bewiesen ist, eine Sanktion in der Regel nicht mehr vermeiden. Ihre Bedeutung liegt darin, daß die Enttäuschung über das normwidrige Verhalten nicht der Norm oder der Person des Erwartenden - der sich dann in seiner Erwartung getäuscht hätte - zur Last gelegt, sondern dem sich falsch Verhaltenden als Schuld zugerechnet wird33 • Durch diesen Zu schreibungsprozeß werden in der Regel Aggressionen freigesetzt, die sich gegen den Täter in Form der Strafe richten. Bevor wir diesen Mechanismus näher beleuchten, sind jedoch äquivalente Formen der Enttäuschungsverarbeitung zu betrachten. Anstatt die Enttäuschung über die Normverletzung mit der falschen Entscheidung des sich abweichend Verhaltenden zu begründen, kann man das fragliche Ereignis auf Faktoren zurückführen, die die falsche Entscheidung des Täters ihrerseits determiniert haben und die nun als eigentliche Ursache der Enttäuschung erscheinen. Als derartige Faktoren kommen übernatürliche Kräfte (z. B. Hexerei), Naturkatastrophen, Krankheiten u. a. in FrageM • Die Schuld, die schließlich den Täter trifft und zu dessen Bestrafung Anlaß gibt, erscheint damit als eine 31 Die Theorie der kognitiv-affektiven Konsistenz erweist sich damit als sehr bedeutungsvoll für die Analyse des Disziplinarrechts von Organisationen, soweit dieses auf den Ausschluß "unwürdiger" Elemente angelegt ist. 82 Zwischen informeller und formeller (= staatlicher) sozialer Kontrolle wird hier einfachheitshalber nicht differenziert. Vgl. dazu Kurt Weis, Der übergang von informeller zu formeller sozialer Kontrolle, in: KrimJ 1975, 125 - 13l. 33 Luhmann (N. 9) 55. s, Luhmann, ebd. 47; Günther Jakobs, Schuld und Prävention, Tübingen 1976,17.

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Art Residualkategorie, d. h. als jener Rest von Kausalität, der nicht auf andere Ursachenquellen zurückgeführt werden kann35 • Jede Entdeckung eines bisher unbekannten Faktors, der die vorgeworfene individuelle Entscheidung determiniert, ist damit geeignet, diese Residualkategorie weiter zu reduzieren. Welche Faktoren als Schuldminderungs- oder Schuld ausschließungsgründe prinzipiell in Frage kommen, hängt nicht allein von der Entwicklung der Medizin und der Naturwissenschaften, sondern auch von kulturellen Wertmaßstäben ab. So ist beispielsweise in unserer Gesellschaft, die die Bewertung einer guten Erziehung sehr betont, die Erklärung abweichenden Verhaltens durch Erziehungsdefekte wesentlich beliebter als in Gesellschaften, in denen die Erziehung der Jugend noch kaum als soziale Aufgabe bewußt empfunden wird36 • Ebenso hängt das Gewicht, das den gegebenenfalls ungünstigen sozialen Startbedingungen des Täters beigelegt wird, davon ab, inwieweit die wahrgenommene Chancenungleichheit auf dem Hintergrund der Gleichheitsidee als illegitim erscheint und damit als Mitursache des Delikts angesehen werden kann37 • Wahrscheinlich ist dies nur in Gesellschaften mijglich, die dem Ideal der Egalite verpflichtet sind. Schließlich kann auch der Täter selbst durch sein Verhalten nach der Tat - vor allem durch sein Geständnis und Äußerungen der Reue die Schwere der ihm zugerechneten Schuld u. U. reduzieren, wie bereits Alexander und Staub38 vor fünfzig Jahren erkannt haben. Ein einsichtiger Täter bestätigt gewissermaßen die normativen Erwartungen der Gesellschaft und entschärft damit das Enttäuschungsproblem insofern, als seine Tat die zukünftige Geltung der Norm nun nicht mehr in Frage zu stellen vermag. Ein renitenter Angeklagter gefährdet demgegenüber gerade die zukünftige Geltung der Norm und frustriert damit die anderen in doppeltem Maße. Oft wird denn auch das Strafverfahren mehr wegen dieser Haltung des Täters als wegen der Tat selbst eingeleitet. Damit läßt sich die Strafe als eine Art "ultima ratio" charakterisieren, die immer dann eingreift, wenn die Verletzung einer Norm auf der kognitiven Ebene nicht verarbeitet werden kann. Würde sie ausbleiben, so käme dies einer Außerkraftsetzung der Norm gleich39 : könnte man 35 Günter Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, Heidelberg/Karlsruhe 1977, 33. 38 Auch in Europa war dies bis ins 18./19. Jahrhundert kaum der Fall. Vgl. Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, München/Wien 1975. 37 Vgl. Jakobs (N. 34) 30. M N. 5, S. 390. 39 Es wird hier nicht behauptet, daß nur eine Strafe im Rechtssinne in Frage komme und informelle Sanktionen wirkungslos wären. Hingegen be-

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nämlich regelmäßig beobachten, daß ein bestimmtes normwidriges Verhalten keine negativen Konsequenzen nach sich zieht, so würde dies lerntheoretisch betrachtet40 - einer Außerkraftsetzung negativer Verstärker gleichkommen und längerfristig bewirken, daß das normwidrige Verhalten nicht mehr gehemmt wird 41 • Mit Recht bezeichnet daher Sack die Sanktion als "Komplementärbegriff" der Norm 42 • An Anlehnung an Durkheim43 könnte man auch sagen, die Sanktion sei so "normal" wie das abweichende Verhalten, das der Normierung sozialen Verhaltens auf dem Fuße folgt. Aus dieser Einsicht folgt freilich nicht, welche konkreten Sanktionen welche konkreten Normen stützen sollen. Dies bleibt der Kriminalpolitik überlassen, in deren Rahmen die Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden gesellschaftlichen Standpunkten stattfindet. Daß daraus keine Legitimation des Status quo abzuleiten ist, braucht nicht betont zu werden. Die Bedeutung der Sanktion für die Aufrechterhaltung sozialer Normen haben psychoanalytisch orientierte Kriminologen schon Ende der zwanziger Jahre in ähnlicher Weise beschrieben. Es lohnt sich - nicht nur wegen des Fünfzig-Jahr-Jubiläums der Publikation von Alexander und Staub - , diese Arbeiten unter diesem Gesichtspunkt erneut zu konsul tieren.

4. Funktionen der Strafe aus psychoanalytischer Sicht Innerhalb der Kriminologie, die sich seit Lombroso fast ausschließlich mit der Person des Täters und deren Auffälligkeiten beschäftigt hat44 , kommt den Vertretern der psychoanalytischen Richtung das Verdienst zu, bereits in den zwanziger Jahren die Reaktion der Gesellschaft auf abweichendes Verhalten thematisiert zu haben. So beschrieben Reik45 und Alexander und Staub46 die Strafe als psychische Reaktion der konformen Mehrheit auf verbotene Handlungen. dürfen wohl auch vorrechtliche soziale Normen unter den genannten Bedingungen der Bestätigung durch eine Sanktion. 40 In diesem Punkte läßt sich die ältere (behavioristische) Lerntheorie, vgl. z. B. B. Skinner, Science and Human Behavior, New York 1953, in die neueren (kognitiven) lerntheoretischen Ansätze, vor allem Albert Bandura IR. H. Walters, Social Learning and Personality Development, New York 1963, integrieren, vgl. dazu Christiane Schmerl, Sozialisation und Persönlichkeit. Zentrale Beispiele zur Soziogenese menschlichen Verhaltens, Stuttgart 1978, 37. 41 Vgl. Schmerl, ebd. 120, und Irle (N. 10) 270. 42 Fritz Sack, Probleme der Kriminalsoziologie, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 12, 2. Aufl., Stuttgart 1978, 370. 44 Vgl. dazu die eingehende und reich dokumentierte Darstellung der traditionellen Kriminologie bei Sack (N. 42). 45 Theodor Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie, in: Tilman Moser (Hrsg.), Psychoanalyse und Justiz, Frankfurt a. M. 1971, Originalausgabe Wien 1925. 46

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Reik 47 erklärte die Straftat wie auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft aus verdrängten Schuldgefühlen. Diese veranlaßten den Täter, sich durch eine verbotene Handlung eine Strafe zuzuziehen und dadurch sein Bedürfnis nach Bestrafung zu befriedigen, was den Konformen wiederum ermögliche, über eine Identifikation mit dem Täter an dessen Person eigene Bestrafungswünsche zu befriedigen. Obwohl mit diesem Ansatz die (Schuldgefühl-)Delinquenz gewisser Tätertypen plausibel erklärt werden kann,erscheint Reiks Anspruch, hiermit eine allgemeingültige Kriminalitätstheorie gefunden zu haben48 , aus heuti~ ger Sicht als zeitbedingte Übertreibung. Stärkere Beachtung, zum al in der neueren Literatur, fand die Auf~ fassung von Alexander und Staub49 über die Funktion der Strafe für die strafende Gesellschaft. Nach ihrer Ansicht stellt die Sozialisation des Menschen einen Prozeß dar, in welchem dieser zahlreiche verbotene Triebe zu verdrängen lernt, damit 'er einigermaßen normgemäß zu leben vermag. Das Verbrechen sehen sie als Durchbruch der Triebe, d. h. als Folge des Versagens von Verdrängungsmechanismen. Die Strafe diene dazu, die Verdrängungsleistungen der Konformen zu honorieren, indem das Gewährenlassen der Triebe mit einem übel beantwortet werde. Dieser Gedanke wurde von Reiwald 50 übernommen und zur Sünden~ bocktheorie erweitert. Danach benötigen die Konformen den Devianten als Sündenbock, um einerseits an diesem Triebe bestrafen zu können, die auch in ihnen wirksam sind und deren Verdrängung wesentlich erleichtert wird, wenn sie nach außen - d. h. auf den Sündenbock - projiziert werden können, und andererseits ermöglicht das Bestrafungszeremoniell, normalerweise verbotene Triebe - z. B. solche sadistischer Natur - in legitimer Weise auszuleben. Schon bei Reiwald und noch mehr bei Plack verbindet sich mit dieser Theorie eine heftige Polemik gegen das Strafrecht und die Strafjustiz51 • Ihre Dynamik verdankte diese Polemik vor allem der traditionellen Optik des Strafrechts und der Kriminologie: weil diese den Kriminellen als bösen Menschen und/oder als eine vom Konformen wesensverschiedene Persönlichkeit sahen, besaß schon die bloße Feststellung, daß die Konformen mit den gleichen Triebkonflikten konfrontiert sind oder gar ohne den Devianten als Sündenbock nicht konform bleiben könnten, eine erhebliche Sprengkraft. Auf diesen Vorwurf - "ihr seid alle auch nicht besser!" stützte sich denn auch seit jeher die moralische Forderung, auf das BeReik (N. 45) 133 f. Ebd. 120 ff. 49 N. 5, 383 ff. 50 Paul Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, Zürich 1948. 51 So auch beim psychoanalytisch orientierten Juristen Helmuth meyer, Strafunrecht, München 1971. 47

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strafen von Abweichlern zu verzichten und das Strafrecht abzuschaffen. Die Schwäche der psychoanalytischen Kriminalitäts- und Bestrafungstheorien liegt in der einseitigen Orientierung an einem Triebverdrängungs-Modell, das vor allem an Delikten, bei welchen eine sexuelle Komponente hineinspielen mag, entwickelt worden ist 52 und hier auch seine Berechtigung haben dürfte. Es vernachlässigt dagegen Straftatbestände, die Verhaltensweisen pönalisieren, die zumindest nicht ohne gewagte Rückschlüsse auf Triebe im Sinne der Psychoanalyse zurückgeführt werden können, wie z. B. zahlreiche Tatbestände im Wirtschafts~ strafrecht oder im Straßenverkehrsrecht. Unbefriedigend an den Straftheorien ist die implizite Annahme, daß die Strafe die einzige mögliche Reaktion der Gesellschaft auf abweichendes Verhalten darstelle, ja daß sich die Konformen geradezu danach sehnten, Abweichler bestrafen zu können. Damit gerät die subsidiäre Natur der Strafe - als ultima ratio neben den beschriebenen alternativen Formen der Enttäuschungsverar~ beitung - aus dem Blickfeld. Allerdings entsprach diese Optik der Psychoanalytiker der damaligen Rechtstheorie, die die Rechtsnorm ganz von der Sanktion her definierte 53 • Nachdem die Funktion der Sanktion bisher vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung sozialer Normen betrachtet wurde, soll im folgenden ihre Bedeutung für die Bewältigung sozialer Konflikte und die Kontrolle der damit verbundenen Aggressionen zur Sprache kommen. IV. Zur Bedeutung der Strafe für die Aggressionskontrolle

Die weitgehende Vernachlässigung des Problems der Strafe innerhalb der Sozialpsychologie einerseits und die spärliche Rezeption sozialpsychologischer Entwicklungen - auch und gerade im Bereiche der Aggressionsforschung - durch die Kriminologie andererseits verunmöglichen es, die folgenden Ausführungen auf spezifische empirische Forschungen zu stützen54• Wie schon bei der Diskussion der kognitiven Techniken zur Abwicklung normativer Enttäuschungen sind wir somit auch in diesem Abschnitt gezwungen, einschlägige sozialpsychologische Vgl. z. B. Alexander / Staub (N. 5) 324 ff. Vgl. Luhmann (N. 9) 100. 64 Vom Anspruch der Sozialpsychologie her, Wissen bereitzustellen über die Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft, muß es erstaunen, daß über das Problem der Strafe, wie auch über die Entstehung abweichenden Verhaltens (vgl. Irle, N. 10, 445), noch kaum empirische Forschungen vorliegen. In manchen Lehrbüchern wird dieses Thema sogar schlicht übergangen. 52

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Theorien daraufhin zu untersuchen, inwieweit sich aus ihnen Hypothesen über die Bedeutung der Strafe für die Aggressionskontrolle ableiten lassen.

1. Ist Bestrafung eine Form aggressiven Verhaltens? Die Definition aggressiven Verhaltens ist, soweit es sich um menschliches Verhalten handelt, außerordentlich schwierig und umstritten. Manche Aggressionsforscher neigen dazu, die Unrechtmäßigkeit einer Handlung als zusätzliches Kriterium in die Aggressions-Definition aufzunehmen. Danach gelten vorsätzliche Gewaltdelikte als Aggression, nicht aber die Handlungen, die im Anschluß daran von Angehörigen der sozialen Kontrollinstanzen ausgeführt werden, zumal diese nicht primär auf die Schädigung des Täters, sondern vor allem auf die Verteidigung der Rechtsordnung abzielten 55• Aus einer solchen AggressionsDefinition folgt allerdings auch, daß Kriege nur dann eine Form aggressiven Verhaltens sind, wenn sie nach den Vorstellungen der Forscher als illegitim anzusehen sind, womit man wieder bei der Unterscheidung zwischen "gerechten" und "ungerechten" - um nicht zu sagen: heiligen und unheiligen - Kriegen angelangt wäre. Diese Einschränkung des Aggressionsbegriffs auf illegale bzw. illegitime Verhaltensweisen, wie sie teilweise die bisherige Aggressionsforschung, noch mehr aber deren Popularisierung auszeichnete, hat viele Forscher an der Möglichkeit einer Aggressions-Definition zweifeln lassen, die die Interessen der beteiligten Subjekte ignoriert5s • Eine Aggressions-Definition, die diesen Bedenken Rechnung trägt, müßte demnach von folgenden Elementen ausgehen 57 • -

Aggressives Verhalten zielt auf die Schädigung des "Opfers", wobei die Definition der Schädigung von der Perspektive des "Opfers" auszugehen hat. Aggressives Verhalten schädigt das "Opfer" stets intentional. Dabei kann das Ziel des Handelnden in der Schädigung an sich liegen, er kann aber auch "rationale" Ziele verfolgen und die Schädigung des Aggressionsobjektes nur als notwendige Nebenwirkung in Kauf nehmen. Das Strafrecht ist mit den Begriffen der Absicht und des Eventualvorsatzes in der Lage, beide Formen von Intentionalität als vorsätzlich zu erfassen.

55 Vgl. die gute Zusammenfassung verschiedener Tendenzen innerhalb der sozialpsychologischen Aggressionsforschung bei Schmer! (N. 40) 108 ff. und 131 ff. 55 Ebd. 111 und 133. 57 In Anlehnung an Schmerl, ebd. 109 ff. und 133.

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Eine solche Definition der Aggression umfaßt somit nicht nur Handlungen, die sich als Folge von Wut, Ärger oder ähnlicher emotionaler Erregungszustände darstellen, sondern auch solche, die völlig affektlos und rein instrumentell zur Erreichung eines Zieles ausgeführt werden 58 • Maßgebend ist allein die Schädigung des Aggressionsobjekts (aus dessen Sicht) und die (Eventual-)Vorsätzlichkeit der Handlung, nicht aber deren moralische Bewertung als gut oder böse, legitim oder illegitim. Hält man sich dies vor Augen, so sollten sich allfällige Hemmungen überwinden lassen, die Bestrafung als aggressives Verhalten zu betrachten. Personen, die von Berufs wegen Strafen verhängen oder vollziehen, brauchen keineswegs "aggressive" Menschen zu sein, wie man vorschnell aus der Subsumtion der Strafe unter den Aggressionsbegriff schließen könnte. Dies soll weiter unten noch verdeutlicht werden.

2. Das Frustrations-Aggressions-Modell Dollard et al,59 entwickelten eine sozialps,ychologische Theorie der Aggression, die sie u. a. auch zur Erklärung von Delinquenz herangezogen 60 • Danach entsteht Aggression aus Frustration, d. h. als Folge der Unterbrechung einer zielgerichteten Handlung, bevor deren Ziel realisiert werden konnte. Kriminalität führten Dollard et al. als eine Form der Aggression folglich auf Frustration zurück, und sie versuchten zu zeigen, daß Kriminelle in der Tat häufiger und intensiver Frustrationserlebnissen ausgesetzt waren als Konforme. Diese Aggressionstheorie läßt sich auch zur Erklärung der Strafe heranziehen. Wie schon Dollard et al. 61 betont haben, stellt nicht nur das Verbrechen, sondern auch die Bestrafung des Täters eine aggressive Handlung dar. Ihre Ursache wäre damit die Frustration, die der Konforme durch die Enttäuschung seiner normativen Erwartung erleidet, indem der Abweichende sich nicht so verhält, wie er es (und mit ihm die Gesellschaft) erwartet und angestrebt hat. Mit dieser Erweiterung der Theorie von Dollard et al. wäre eine in sich geschlossene sozialpsychologische Theorie der Strafe gefunden. Die Schwierigkeit ist nur, daß die zwei grundlegenden Annahmen von Dollard et al., wonach jede Frustration Aggression erzeugt und Aggression stets die Folge von Frustration ist62 , nicht oder zumindest nur unter sehr einschränkenden Bedingungen zutreffen63 • Ebd.109. John Dollard / Leonhard W. Doob / Neal E. Miller / O. H. Mowrer / Robert S. Sears, Frustration und Aggression, Weinheim etc. 1972, Originalausgabe 1939. 80 Ebd. 128 ff. ~1 Ebd. 129 Anm. 1. 82 Ebd.9. 83 Vgl. die Nachweise bei Irle (N. 10) 268. 58

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3. Komplexere Aggressionstheorien Wie Berkowitz64 zeigen konnte, kann Frustration auch andere als aggressive Reaktionen auslösen. Je nach der kognitiven Verarbeitung der Situation, und zwar vor allem der Bedrohung durch die Frustrationsquelle, können Ärger- oder Furcht-Emotionen auftreten, wobei nur Ärger in eine aggressive Reaktion ausmündet. Aber auch bei Ärger tritt Aggression nur auf, wenn dieser eine gewisse Intensität erreicht und außerdem ein geeignetes Aggressionsobjekt vorhanden ist 66 • Bezogen auf das Problem der Strafe wäre also zu vermuten, daß das Opfer einer strafbaren Handlung nur dann die Verurteilung des Täters anstrebt, wenn es sich emotional einigermaßen engagiert, wenn ein Täter als Aggressionsobjekt greifbar ist, wenn dieser nicht über furchteinflößende Machtressourcen verfügt, die er zu Repressalien gebrauchen könnte, und wenn er sich als Aggressionsobjekt insofern eignet, als seine Bestrafung nicht andere Interessen des Opfers beeinträchtigt, z. B. solche familiärer oder finanzieller Art. Für diese Hypothese finden sich in der kriminologischen Literatur zahlreiche Belege66 • Auch erklärt diese sozialpsychologische Aggressionstheorie, warum Täter aus unteren sozialen Schichten, d. h. solche ohne Machtressourcen, und solche, die mit dem Opfer in keiner näheren Beziehung stehen, häufiger angezeigt werden als hochsituierte sowie dem Opfer nahestehende Täter. Die vorne beschriebene Selektionswirkung der kognitiven Prozesse der Enttäuschungsverarbeitung wird damit überlagert und verstärkt durch gleichgerichtete Mechanismen, die die emotionale Verarbeitung von Frustrationserlebnissen steuern. Aggressives Verhalten im oben definierten (weiteren) Sinn setzt jedoch, wie Laborexperimente gezeigt haben, durchaus nicht immer eine Frustration voraus. So konnte Milgram 67 experimentell nachweisen, daß unbeteiligte Personen zu massiven Aggressionen gegen ein Objekt imstande sind, das sie in keiner Weise frustriert hat, sofern diese Aggres84 Leonhard Berkowitz, Aggression: A Social Psychological Analysis, New York etc. 1962, 29 ff. 85 Berkowitz, ebd. 36 H.; vgl. auch Leonhard Berkowitz, Aggressions-Auslöser, aggressives Verhalten und Katharsis von Feindseligkeiten, in: Martin Irle (Hrsg.), Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie, Neuwied I Berlin 1969, 160 ff. 86 Vgl. Z. B. die übersicht bei Hans-Joachim Schneider, Viktimologie, Tübingen 1975, 32 f. 87 Stanley Milgram, Group Pressure and Action against Person, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 69 (1964) 137.

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sion einer sozialen Norm entspricht und damit legitimiert ist. Derartige Verhaltensmuster können, wie Bandura in zahlreichen Untersuchungen 68 gezeigt hat, ohne Frustration durch bloße Beobachtung gelernt werden. Einmal gelernt, werden sie später mühelos ausgeführt, sobald die beobachteten, z. B. durch Normen institutionalisierten Belohnungen für aggressives Verhalten erwartet werden können. über die Beobachtung lernt man somit nicht nur aggressive Techniken, sondern auch die - belohnenden oder bestrafenden - Konsequenzen, die dieses Verhalten unter variierenden Randbedingungen hat. Diese Mechanismen erklären, wieso unbeteiligte Dritte die Bestrafung des Täters fordern oder zumindest hinnehmen können, obwohl dieser sie in keiner Weise frustriert hat. Es mag zwar vorkommen, daß sich Dritte mit dem Opfer identifizieren und damit dessen Emotionen teilen, doch ist die Forderung nach Bestrafung des Täters keineswegs davon abhängig, wie das Beispiel der Delikte ohne Opfer - gewisse Sexualdelikte, viele Delikte gegen anonyme Organisationen wie den Staat oder Großkonzerne u. a. - zeigt. Gewiß enttäuscht jedes Delikt normative Erwartungen der Gesamtgesellschaft und frustriert damit auch unbeteiligte Dritte. Das Maß an Aggression, das von unbeteiligten Personen - namentlich von Richtern, Justizbeamten und, um ein abgegriffenes Extrembeispiel zu bemühen, vom Henker - gegen den Täter gerichtet wird, steht oft jedoch derart außer jedem Verhältnis zur Enttäuschungsfrustration, die diese Personen als nicht unmittelbar betroffene Angehörige der Gesellschaft erleiden mögen, daß ihre Reaktion ohne Rekurs auf die genannten Mechanismen nicht zu erklären ist. Was es der Gesellschaft im allgemeinen und den Angehörigen der genannten Justizberufe im besonderen ermöglicht, ohne Schuldgefühle und ohne affektive Beteiligung täglich Aggression in Form von Bestrafung zu üben gegen Personen, die ihnen selbst nichts angetan haben, ist die Institutionalisierung dieser Aggression in Form von Strafnormen69 • Damit soll nichts über die ethische Vertretbarkeit oder Verwerflichkeit des Strafrechts gesagt, sondern nur festgestellt werden, daß gerade die Institutionalisierung sozial legitimer Aggression u. a. in Form von Bestrafungsnormen den Personen, die von Berufs wegen Strafen verhängen oder vollziehen, ermöglicht, diese Tätigkeit ohne alle aggressiven Gefühle, ja oft mit besten Absichten gegenüber dem Täter auszuüben. 88 Bandura I Walter (N. 40); vgl. außerdem: Albert Bandura, Inftuence of Model's Reinforcement Contingencies on the Acquisition of Imitative Responses, in: Journal of Personality and Social Psychology 1 (1965) 589; ders., Social Learning Analysis of Aggression, in: E. Ribes-Inesta I A. Bandura (ed.), Analysis of Delinquency and Aggression, New York etc. 1976. 69 Vgl. Henry Clay Lindgren, Einführung in die Sozialpsychologie, Weinheim I Basel 1973 (Originalausgabe 1969) 477.

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4. Aggressionskontrolle durch Institutionalisierung der Bestrafung Die Funktion der Strafe erschöpft sich jedoch nicht in der Entlastung der Gesellschaft und der mit der Bestrafung betrauten Personen von Schuldgefühlen. Vielmehr dient die Strafe als sozial normierte Form von Aggression auch der Festlegung der sozial legitimen Objekte, gegen die sich die Aggression richten darf, der formalen Voraussetzungen, die dabei zu beachten sind, und schließlich der Formen und der Intensitätsstufen, innert welcher Aggression geübt werden muß und darf. In diesem Sinne sind etwa die Höchstpersönlichkeit der Strafe, d. h. die überwindung der Sippenhaft, ihre Bindung an kodifizierte Voraussetzungen - "nulla poena sine lege" - , der Zwang zur Beachtung eines bestimmten Verfahrens und die Festlegung bestimmter Aggressionsarten, wie das Verbot der Körperstrafe oder der Numerus clausus der Strafmittel mit einem deliktsabhängigen "Tarif", kulturelle Leistungen, die das Risiko einer sozial gefährlichen überreaktion, z. B. etwa in Form der Fehde oder Blutrache70 , vermindern. Denn ohne diese Normierung bestünde je nach Intensität des Ärgers die Gefahr, daß sich die Aggression ungehemmt auf nahezu beliebige greifbare Objekte entladen würde 71 • Insofern haben Befürchtungen ihre Berechtigung, daß ein Ausfallen der Strafjustiz unstrukturierte Reaktionen wie Lynchjustiz oder Progrome begünstigen könnte 72 • Unrichtig ist die gelegentlich vertretene Ansicht 73 , die Strafe ermögliche der Gesellschaft, anders nicht abführbare Aggressionen auf relativ unproblematische Weise loszuwerden, die sich sonst in Form von Kriegen oder in ähnlicher Weise entladen würden. Verschiedene Untersuchungen haben nachgewiesen, daß das Ausleben derartiger Bedürfnisse die Aggressivität zumindest auf längere Sicht nicht zu verringern vermag: eine "Katharsis" im Sinne eines reinigenden Gewitters findet also nicht statt74 • Soweit die Bestrafung des Täters die Aggressivität überhaupt vermindert, geschieht dies wohl nicht wegen der Abfuhr von Aggressionen, sondern wegen der sozialen Bewältigung einer Konfliktsituation, deren Nicht-Bewältigung neue Frustrationen produzieren und damit zusätzliche Aggressionen freisetzen würde. Wenn die Strafe eine 70 So sieht Stefan Trechsel (Die Entwicklung der Mittel und Methoden des Strafrechts, in: ZStrR 90 [1974] 278 ff.) die Funktion der Strafe in der übernahme der privaten Rache durch den Staat. 71 Vgl. Berkowitz (N. 65) 165. 72 Dies gilt zumindest so lange, als Normverletzungen spontan zu aggressiven Reaktionen führen. Ob sich dies mit der überwindung der Klassenstruktur der Gesellschaft ändern würde, wie Emilio Ribes-Inesta, Some Social Considerations on Aggression, in: Ribes-Inesta / Bandura (N. 68) Anm. 66, optimistisch annimmt, können wir einstweilen offenlassen. 73 So bei Alexander / Staub, Wien 1929, 394. 74 Berkowitz (N. 65) 166 ff.; weitere Nachweise bei Irle (N. 10) 268.

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auch ethisch vertretbare Funktion haben soll, so muß ihre Berechtigung in dieser Richtung gesucht werden 75 • V. Folgerungen für die Kriminalpolitik Es konnte gezeigt werden, daß der Gesellschaft mehrere Wege offenstehen, um Normverletzungen, d. h. Enttäuschungen normativer Erwartungen, zu verarbeiten. Allerdings sind diese verschiedenen Verarbeitungstechniken jeweils an bestimmte situative Voraussetzungen geknüpft und daher nicht beliebig austauschbar. Unter Umständen kann abweichendes Verhalten bei der konformen Mehrheit Aggressionen freisetzen, deren Entstehungsbedingungen beim jetzigen Stand der Aggressionsforschung innerhalb der Sozialpsychologie noch nicht völlig geklärt sind, die jedoch - zumindest vorläufig - in Rechnung gestellt werden müssen. Wie oben76 vermutet wurde, dient die Strafe vor allem der Kontrolle derartiger Aggressionen. Als eigentliche Kulturleistung ist sie damit abhängig von kulturellen und sozialen Wandlungsprozessen. Die Voraussetzungen, die Art und die "Schwere" der Strafe erweisen sich insofern als legitime Objekte einer ethisch orientierten Kriminalpolitik, wobei natürlich die Werthierarchie (Ethik) einer Kultur immer auch die Optik der Kriminalpolitik bestimmt. Die überwindung grausamer Todes- und Körperstrafen kann damit einerseits als Ergebnis einer zunehmenden Kontrolle manifester Formen von Aggression interpretiert werden77 , andererseits aber auch als Folge einer veränderten Bewertung des Lebens, der Freiheit und des Vermögens, wobei diese beiden Erklärungen einander nicht ausschließen. So mag früher, als das diesseitige Leben vor allem als Vorbereitungsphase auf das Jenseits aufgefaßt wurde, der Tod und damit auch die Todesstrafe als weniger dramatisch empfunden worden sein als heute 78 • Andererseits wäre unser heutiger Strafvollzug damals kaum als Strafe empfunden worden, waren doch die Entfaltungsmöglichkeiten selbst in der "Freiheit" außerordentlich gering: immerhin kämpften bis ins 19. Jahrhundert auch in Europa breite Bevölkerungskreise ums schiere überleben. Für die Geldstrafe im Sinne einer Lebensstandard-Beschränkungs-Strafe fehlten bis vor wenigen Jahrzehnten schlicht die sozialen Voraussetzungen, während heute das Erreichen eines bestimmten Konsumniveaus unerläßlich ist, wenn man nicht als sozial deklassiert gelten will. UmgeVgl. Herman Bianchi, Ethik des Strafens, Neuwied 1966, 69, 101. Abschnitt 4 d. 77 So bei Alexander Mitscherlich, Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität, Frankfurt a. M. 1969, 135. 78 Vgl. Jean Ziegler, Les Vivants et la Mort, Paris 1975. 75 78

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kehrt könnten uns heute gewisse Strafen, die einst sehr gefürchtet waren, überhaupt nicht mehr beeindrucken. Dies gilt vor allem für die Kirchenstrafen - wie Ausschluß vom Abendmahl u. a. -, von denen Carpzov im 17. Jahrhundert schrieb, sie seien mehr gefürchtet als gewisse weltliche Strafmittel wie Auspeitschung oder Turmhaft 79 • Die Frage der Austausch-Relation - welche Strafe ist die angemessene Sanktion für das Delikt X? - ist damit im Rahmen der jeweiligen kulturellen Randbedingungen nahezu beliebig normierbar. Auch die Frage nach den Wirkungen der verschiedenen Strafen auf den Verurteilten ist in diesem Rahmen zu diskutieren. Es steht nirgends geschrieben, daß die Freiheits- und Geldstrafe die einzigen denkbaren Sanktionen in einem zukünftigen Strafrecht sein müßten. Auch die verschiedentlich vorgeschlagene Sanktion der Wiedergutmachung SO erscheint in diesem Zusammenhang durchaus prüfenswert. Zu überlegen ist auch, wie die Interessen des Opfers - etwa durch eine staatliche OpferentschädigungS1 - besser gewahrt werden könnten, als dies beim heutigen Straf- und Haftpflichtrecht der Fall ist. Alle diese Gesichtspunkte - Spezialprävention, Wiedergutmachung, Opferentschädigung - sollten jedoch nicht dazu verleiten, die Bedeutung der Strafe für die Abwicklung von Enttäuschungen normativer Erwartungen und die Aggressionskontrolle zu übersehen. Diese Warnung darf nicht mit einer Aufforderung, mit dem Strafrecht hemmungslos Vergeltung zu üben, verwechselt werden. Die Leugnung der hier beschriebenen Funktionen der Strafe führt jedoch dazu, daß die Aggressionen unbewußt und unkontrolliert in die anderen Strafzwecke einfließen. Diese Gefahr zeigt sich heute am deutlichsten beim Maßnahmenvollzug, zumal die therapeutische Hilfe - sofern eine solche überhaupt vorgesehen wird - dem Täter in der Regel aufgezwungen werden muß82. Die einseitige Betonung der Spezialprävention trifft daher den Täter unter Umständen härter als eine reine Vergeltungs-Sanktion83 • Es erweist sich darum als notwendig, die Zwecke der Spezial79 Benedictus Carpzovius, Practica Nova Imperialis Saxonica rerum criminalium in partes 111 divisa, Wittebergae 1652, pars 11 qu. 69 n. 55. 80 Als einer der ersten hat Giorgio deI Vecchio die Wiedergutmachung zur Diskussion gestellt, Die Gerechtigkeit, 2. dt. Aufl., Basel 1950, 180 ff.; erste Veröffentlichung im "Osservatore Romano" 10. - 12. 1. 44. In neuerer Zeit wurde dieser Gedanke u. a. von Bianchi (N. 75) 101, Plack (N. 1) 323 ff., Eduard Naegeli, Das Böse und das Strafrecht, München o. J., 85, und Marie Boehlen, Ist Strafe unbedingt notwendig?, Aarau 1974, 59 ff., aufgegriffen. 81 Vgl. Schneider (N. 66) 157 ff.; Armin Schoreit, Entschädigung der Verbrechensopfer als öffentliche Aufgabe, Berlin 1973; Europarat, Compensation of Victims, Straßburg 1978. 82 Vgl. Hans Schultz, La riforma deI diritto penale, in: Repertorio di giurisprudenza patria 108 (1975) 16. Zur sozialen Inpflichtnahme des Täters im allgemeinen vgl. Heinz Müller-Dietz, Strafbegriff und Strafrechtspflege, Berlin 1968, 120.

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prävention nur im Rahmen der Schuld - in welche wiederum generalpräventive Momente einfließen84 - zuzulassen85 • Wie unentbehrlich die generalpräventive Funktion der Strafe ist, zeigt sich deutlich auch im Zusammenhang mit der Wirtschaftskriminalität, den Steuerdelikten und anderen Straftatbeständen des sog. Nebenstrafrechts. Kaum einem Verfechter der Abschaffung des Strafrechts käme es in den Sinn, bei derartigen Delikten den Verzicht auf eine aggressive Reaktion, d. h. eine Strafe, zu fordern und statt dessen eine Therapie zu empfehlen86 • Dieses Paradox läßt sich wohl so erklären, daß gesellschaftskritisch eingestellte Personen in hohem Maße bereit sind, die als illegitim empfundene soziale Ungleichheit für die Kriminalität der kleinen Leute mitverantwortlich zu machen und damit die Täter im gleichen Maße zu entlasten, wie sie die Gesellschaft als Ursachen quelle anklagen, während Täter aus der Mittel- und Oberschicht in dieser Optik gewissermaßen als doppelt "schuldig" erscheinen. Personen, die in dieser Weise reagieren, entwickeln bei Enttäuschungen normativer Erwartungen somit nicht weniger Aggressionen als andere; sie richten diese lediglich gegen andere Objekte als jene, die primär den individuellen Täter verantwortlich machen. Unberechtigt ist wohl die Hoffnung, die Gesellschaft werde in Zukunft mit immer weniger Strafnormen auskommen 87 • Wohl hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vor allem im Bereiche der Sexualdelikte eine solche Entwicklung stattgefunden, doch hat sich aufs ganze gesehen im gleichen Zeitraum die Zahl der mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen wohl auch in der Schweiz erheblich vermehrt88 • Da ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen ist, dürfte die Strafe als Mittel zur Abwicklung von Enttäuschungen normativer Erwartungen in Zukunft kaum an Bedeutung verlieren.

83 Vgl. z. B. Peter Aebersold, Die Verwahrung und Versorgung vermindert Zurechnungsfähiger in der Schweiz, BasellStuttgart 1972, 116, 123. 84 Jakobs (N. 34) 31 f. 85 Stratenwerth (N. 35) 27; Schultz (N. 82) 17. 8& Plack (N. 1) 272, meint allerdings, zivil- und verwaltungsrechtliche Sanktionen würden genügen, doch fragt sich, ob derartige Sanktionen nicht auch pönalen Charakter annehmen können, wie etwa die Schadenersatzpraxis im englischen Haftpflichtrecht oder die Ausgestaltung der römischen actio furti zeigen. 87 Wie Naegeli (N. 20) 88, Plack (N. 1) 291 ff., und Stratenwerth (N. 35) 47, annehmen. 88 Daten aus Deutschland finden sich hierzu bei Hans Jürgen Kerner, Verbrechenswirklichkeit und Strafverfolgung, München 1973, 188; Daten zur "Gesetzesflut" in der Schweiz vgl. Almanach der Schweiz, hrsg. vom Soziologischen Institut der Universität Zürich, Bern 1978, 199; zur Entwicklung des Strafrechts vgl. Schultz (N. 82) 10 ff.

c. Völkerrecht SOZIOLOGISCHE UND JURISTISCHE BETRACHTUNGSWEISE IM VÖLKERRECHT Von Max Huber* Max Huber wurde am 28. Dezember 1874 in Zürich als Sohn einer Industriellenfamilie geboren. Er studierte Rechtswissenschaft in Zürich und Berlin und promovierte 1897 in Berlin mit der Schrift "Staatensukzession. Völkerund staatsrechtliche Praxis im 19. Jahrhundert". Anschließend unternahm er Reisen in vier Kontinente, um neue Absatzmöglichkeiten für die schweizerische Industrie zu erkunden.

1902 übernahm er den Lehrstuhl für Staats-, Völker- und Kirchenrecht an der Universität Zürich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zum Rechtsberater des Bundesrates für auswärtige Angelegenheiten ernannt. 1921 wählte ihn der Völkerbund zum Mitglied des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. 1925 wurde er zu dessen Präsidenten berufen. 1930 trat er zurück, weil er sich mehr seinem Amt als Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes widmen wollte, das er von 1928 bis 1945 innehatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen seine vorwiegend kleineren Arbeiten als "Vermischte Schriften" (4 Bde. 1947 -1957) neu heraus. Er starb am 1. Januar 1960. Hanna Rabenseifner

Jede Rechtsnorm oder wenigstens jeder Komplex von Rechtssätzen läßt sich juristisch und soziologisch betrachten. Die fundamentalen Rechtsgebilde, wie z. B. Familie, Eigentum, Staatsgewalt, Gemeinde, entsprechen allgemeinen sozialen Phänomenen, das juristische und das soziologische Element stehen in diesen Erscheinungen in beständiger Wechselwirkung und in unlöslicher gegenseitiger Verbindung. Es liegt aber im Wesen des Rechts, sich loszulösen von dem sozialen Stoff, d. h. den gesellschaftlichen Tatsachen und Verhältnissen, deren äußere Form und Ordnung es darstellt. Dieser Verselbständigungsprozeß ist in der Hauptsache bedingt einerseits durch die mit steigender Zivilisation zunehmende Komplizierung der Lebensverhältnisse, welche eine volle und beständige übereinstimmung zwischen Regel und Einzelfall immer

* Aus: Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts (1910), Neudruck 1928, S. 8 - 14.

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weniger möglich macht, anderseits durch die Ausbildung gewillkürter, namentlich schriftlicher Rechtsetzung und durch berufsmäßige Rechtsanwendung und Rechtsauslegung. Die Jurisprudenz als Technik ist der vollkommenste Ausdruck der Verselbständigung des Rechts. Die aus den sozialen Tatsachen herauswachsenden Rechtsinstitute kristallisieren in der juristischen Technik Rechtsbegriffe aus, von welchen durch reine Begriffsoperationen neue Rechtssätze als Konsequenzen abgeleitet werden, sei es - und zwar vor allem - vom Richter und der juristischen Doktrin, sei es vom Gesetzgeber. Beim letzte rn allerdings ist das Motiv unabhängiger Rechtsbildung vorwiegend politische Zwecksetzung. Je größer die Autorität der Gesetzgebung und Rechtsprechung ist, um so größer ist auch die Selbständigkeit des Rechts den von ihm zu ordnenden sozialen Verhältnissen gegenüber. Gewiß, wenn die Selbständigkeit zur Verschiedenheit und schließlich zur Gegensätzlichkeit wird, so wird meist ein Punkt der Spannung erreicht werden, bei dem der Bruch eintritt und das ganze, den tatsächlichen Verhältnissen oder dem sich geltend machenden, von mächtig gewordenen Gesellschaftsklassen getragenen Rechtsideal widersprechende Recht zusammenfällt. Aber immer, trotz aller Freiheit der Rechtsprechung und aller volkstümlichen Gesetzgebung, wird jede einigermaßen entwickelte Rechtsordnung nur in allgemeinen Umrissen die Physiognomie ihres sozialen Substrates aufweisen, in manchen Punkten von diesem sogar abweichen, in manchen anderen, so den zahllosen technischen Einzelheiten des Rechts diesem Substrat gegenüber indifferent sein. Nicht jedes Rechtsgebiet weist diesen Dualismus von Recht und sozialem Rechtssubstrat in gleichem Maße auf; am stärksten das höchstausgebildete, das Privatrecht; ungleich weniger das Staatsrecht, weil hier ein sozialer Faktor: die Regierung bzw. die sie tragenden sozialen Gruppen in der Lage sind, das Recht beständig im Sinne der zur Zeit ausschlaggebenden Machtinteressen anzuwenden und zu gestalten. Das Privatrecht dagegen hat nicht wie das öffentliche Recht mit einem konstanten und so einflußreichen Rechtssubjekt, wie es die Verwaltung ist, zu tun; es findet auf die verschiedensten Subjekte Anwendung, und die Gerichte stehen den privatrechtlichen Streitigkeiten, welche sie beurteilen, viel neutraler gegenüber, als die Verwaltung ihren Verwaltungsaufgaben. Aber das sind nur graduelle Unterschiede, und es ist ganz unzutreffend, Staats- und Verwaltungsrecht nicht als Recht im gleichen Sinne wie das Privatrecht gelten zu lassen; im Rechtsstaate wenigstens vermag das öffentliche Recht eine bedeutende Selbständigkeit den politischen Machtzwecken gegenüber zu behaupten, ganz besonders, wo justizmäßige Organe (Staatsgerichtshöfe, Verwaltungsgerichte) als Organe des Rechtsschutzes bestehen. Wie verhält es sich nun mit dem Völkerrecht? Es kann wohl kaum fraglich sein, daß von allen Rechten dieses sich am engsten an seinen

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sozialen Unterbau anschließt und anschließen muß, weil hier die objektive Rechtsordnung unmittelbar auf dem Willen der Rechtssubjekte beruht und weil es hier an Organen fehlt, welche in der Lage wären, unabhängig vom Willen einzelner Rechtssubjekte die objektive Rechtsordnung zu verwirklichen. Die Möglichkeit, die hier, wenigstens für starke Staaten, besteht, die objektive Rechtsordnung im Einzelfalle einfach beiseitezusetzen, hat viele dazu verleitet, dem Völkerrecht die Rechtsnatur gänzlich abzusprechen. Während das Staats- und Verwaltungsrecht, trotz seiner Abhängigkeit von politischen Machtpositionen, immerhin unter dem konstanten, nach einem bestimmten Ziel orientierten Einfluß der präponderierenden Regierungsgewalt steht, entbehrt das zwischenstaatliche Recht eines solchen Regulators, und jedes konkrete Rechtsverhältnis scheint bedingt durch die Interessen und Machtverhältnisse der daran gerade beteiligten Staaten. Das Völkerrecht wäre unter diesem Gesichtspunkt dann nicht eine Rechtsordnung, welche der getreue Ausdruck der ihr zugrunde liegenden dauernden sozialen Machtverhältnisse und Interessen sein würde, sondern lediglich eine Summe von Konventionalregeln, die von jedem einzelnen Staat nach Maßgabe seiner momentanen faktischen Bewegungsfreiheit respektiert oder verletzt werden. Es wird weiter unten zu zeigen sein, daß diese Auffassung des Völkerrechts den Tatsachen nicht entspricht, daß das Völkerrecht vielmehr den rechtlichen Niederschlag dauernder Kollektivinteressen der Staaten darstellt. Weil diesen Kollektivinteressen keine wirksame Organisation entspricht, ist die Verletzung dieser internationalen Rechtsordnung leichter als diejenige der staatlichen; aber gleichwohl wirkt diese Ordnung im Staatenleben als selbständige Größe, und sie trägt die Garantie ihrer Geltung darin, daß sie, als autonomes Produkt aller beteiligten Rechtssubjekte, im wesentlichen der Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse ist. Das Völkerrecht ist eine Rechtsordnung, welche nicht den momentanen Verhältnissen zwischen zwei einzelnen Staaten, sondern dem durchschnittlichen und dauernden Wesen der Beziehungen aller Staaten zueinander entsprechen soll und auch entspricht. So bedeutet beispielsweise das Prinzip der Gleichheit der Staaten, großer und kleiner, einen krassen Widerspruch zu der Wirklichkeit, wenn man sich die Beziehungen einer Großmacht zu einem isolierten Kleinstaat vorstellt; es entspricht aber den sozialen Tatsachen, wenn wir die Totalität der internationalen Verhältnisse in Betracht ziehen. Diese Gleichheit ist der Ausdruck des Unvermögens der mächtigen Staaten, eine Herrschaft über die Gesamtheit der weniger starken durchzusetzen. Die Diskrepanz von Recht und einzelnen individuellen Tatsachen findet sich übrigens auf jedem Rechtsgebiet, wie die Existenz des Strafrechts zeigt, nur führt sie vielleicht nirgends so leicht zu Rechtsverletzungen wie im Völkerrecht; aber eine Diskrepanz von Recht und ge11 Rehbinder (Hrsg.)

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nerellen, sozialen Tatsachen ist in keinem Rechte so selten wie im Völkerrecht, weil eben dieses Recht mangels einer mit selbständiger Macht ausgestatteten Sozialorganisation sich nie gegenüber seiner sozialen Grundlage stark verselbständigen kann. Das positive, d. h. das effektiv geltende, die Rechtsauffassung der Regierungen darstellende Völkerrecht ist der sichere Maßstab des Durchdringens kollektiver Staateninteressen, während das staatliche Recht, dank der wirksam organisierten Sozialgewalt, die Formulierung einer Machtposition der im Staate ausschlaggebenden sozialen Gruppen ist. Aber auch die völkerrechtlich anerkannten Kollektivinteressen der Staaten beruhen auf einem in der Regel nur langsam sich verschiebenden Gleichgewichtszustand der in den einzelnen Staaten verkörperten Machtverhältnisse. Im Verhältnis der Großmächte zueinander liegt die Garantie der internationalen Rechtsordnung in der annähernden tatsächlichen Gleichheit dieser Staaten. Für die Kleinstaaten unter sich ebenso; in deren Beziehungen zu Großmächten als Berechtigten steht hinter dem Recht eine genügende Zwangsmacht; im umgekehrten Verhältnis beruht die materielle Bindung der Großmacht an ihre Pflicht auf dem Interesse an der Integrität der Rechtsordnung und auf den nie fehlenden Gegensätzen zu andern, mit dem berechtigten Kleinstaat solidarischen Großmächten. Nur soweit ein Interesse dauernd auf einem solchen Gleichgewichtszustand beruht, kann es zum Kollektivinteresse und zu gemeinem Rechte werden; und diese Voraussetzung wird nur bei Durchschnittsinteressen zutreffen, die sich von dem individuellen Interesse einzelner einflußreicher oder zahlreicher Staaten und Staatengruppen nicht erheblich entfernen. Nur soweit das Interesse an der Einheitlichkeit des Rechts oder an der dauernden übereinstimmung mit maßgebenden Staatengruppen besteht, kann die Differenz zwischen Kollektiv- und Einzelinteresse zugunsten des ersteren überwunden werden. Durch das Maß dieser Möglichkeit ist der Umfang des gemeinen Rechts bestimmt und notwendigerweise verhältnismäßig eng begrenzt. Aber das kollektive Durchschnittsinteresse an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ist die feste Grundlage des weiterentwickelten partikulären Rechts, das in der Form der Kollektivverträge von z. T. nahezu universellem Geltungsgebiet einen völligen Ersatz für das gemeine Recht bietet. Es wäre aber eine unzutreffende Annahme, das Völkerrecht nur als Ausdruck der Durchschnittsverhältnisse unter Staaten und der internationalen Kollektivinteressen zu betrachten. Auch dem Völkerrecht ist die Tendenz nach Selbständigkeit gegenüber dem sozialen Substrat immanent. Ja, das Völkerrecht ist zu einem großen Teil durch die Naturrechtslehre als völlig selbständiges Recht, wir würden sagen als Postulat, geschaffen worden, und die tatsächlichen Beziehungen haben sich diesem postulierten Rechte wenigstens teilweise angeglichen und es auf diese Weise zu positivem Recht gemacht. Gewiß fand dieser An-

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gleichungsprozeß nur statt, weil die naturrechtlichen Forderungen selbst der Ausdruck machtvoller sozialer Neubildungen und Umschich~ tungen waren; jedoch lagen diese Wandlungen weniger auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen als der innerstaatlichen Verhältnisse; das Naturrecht hat auf die zwischenstaatlichen Beziehungen wesentlich durch die Suggestivkraft gewirkt, welche dieses System zu einer Zeit besessen hat. Aber auch heute, wo diese naturrechtlichen Einflüsse zum größten Teil verschwunden sind, strebt das Völkerrecht gleichwohl nach Selbständigkeit. Es ist dies eine Reflexwirkung der andern Rechtsgebiete. Die Rechtstechnik, die, im Privatrecht ausgebildet, auf das Straf- und Prozeß- und dann auf das Staatsrecht übertragen wurde, wirkt nun auch auf das Völkerrecht hinüber, auf ein Gebiet, das, isoliert, abstrakte Rechtsbegriffe und ein System im gegenwärtigen Zustande noch nicht oder doch kaum hervorbringen könnte. Diese Reflexwirkung höher ausgebildeter Rechtsgebiete auf das Völkerrecht ist, abgesehen von dem Einflusse der Wissenschaft, eine Folge des Abschlusses komplizierter rechtsgeschäftlicher Verträge und normativer Vereinbarungen, welche nach den hauptsächlich dem Privatrecht entnommenen allgemeinen Prinzipien der Interpretation und Konstruktion betrachtet werden. Ganz besonders aber wird eine der heutigen Entwicklungsstufe des Völkerrechts an sich nicht zukommende Rechtstechnik in die internationalen Rechtsverhältnisse hineinprojiziert, wenn zwei Staaten ihre Streitigkeiten einem Schiedsgericht unterbreiten, welches in der Regel nur durch weitgehende Abstraktion zu den Normen gelangt, welche auf das konkrete Streitverhältnis anwendbar sind. Einen besonders typischen Fall der Verselbständigung des Völkerrechts bildet die jüngste Geschichte des Seerechts. Die Normen, welche das Verhältnis kriegführender Staaten zur Kauffahrteischiffahrt, insbesondere zur neutralen, betrafen, waren bestimmt durch die widerstreitenden kommerziellen und strategischen Interessen der verschiedenen Staaten und deshalb in vielen Punkten zweifelhaft1 • Durch die II. Friedenskonferenz (den Haag 1907) wurde ein internationales Prisengericht geschaffen, das bei Verletzung von Rechten Neutraler mangels partikulärer Verträge oder allgemein anerkannten gemeinen Völ~ kerrechts nach den "principes g€meraux de la justice et de l'equite"2 urteilen sollte. In Anbetracht der Unabgeklärtheit wichtiger Fragen des Seerechts bedeutete die Gewährung solch weitreichender freier Rechtsfindung - da ein allgemein anerkanntes Naturrecht nicht existiert eine zu große Verselbständigung des Völkerrechts gegenüber den ihm zugrunde liegenden staatlichen Interessen und Machtverhältnissen. Der Vgl. Niemeyer, Prinzipien des Seekriegsrechts, 1909. Convention relative a l'etablissement d'une cour internationale des prises vom 18. Oktober 1907, Art. 7. 1

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Hauptinteressent in allen Seefragen, Großbritannien, und zwei andere Großmächte, bei denen das militärische Interesse das kommerzielle überwiegt, Rußland und Japan, waren zu einer solchen Konzession nicht bereit. Deshalb wurde von der Londoner Seerechtskonferenz 1908/09, zu der nur die zehn für den Seekrieg aktiv am meisten in Betracht kommenden Staaten geladen waren, das vom internationalen Prisengericht anzuwendende materielle Recht vereinbart und damit die freie konstruktive Rechtsfindung der Richter auf ein mit den strategischen und kommerziellen Interessen der Staaten vereinbares Maß reduziert. Die Existenz eines nach den Regeln staatlicher Gerichte verfahrenden internationalen Tribunals hat aber eine Ausgestaltung des Seerechts (Regelung der Beweislast, Haftpflicht etc.)3 möglich gemacht, die sonst im Völkerrecht, als einem Recht für absolut isolierte und autonome Rechtssubjekte, unmöglich oder wenigstens unzweckmäßig wäre. Eine noch größere Selbständigkeit des Seerechts wird die Judikatur des Prisengerichts einmal herbeiführen, der immer noch in vielen Fragen von sekundärer Bedeutung eine große Freiheit zukommt4 • Die Existenz des Prisengerichts selber aber ist nicht eine Emanzipation des Rechts von seiner politischen Grundlage, sondern der Ausdruck der Tatsache, daß die Entwicklung der Weltwirtschaft für die drei wichtigsten Staaten: Großbritannien, das Deutsche Reich und die Union, ein Vorwiegen der kommerziellen, neutralen Interessen bewirkt und die gegensätzlichen strategischen Interessen relativ hat zurücktreten lassen. Die sozialen Vorgänge des Staatenlebens äußern sich im Völkerrecht rascher und unmittelbarer als die für die innerstaatliche Ordnung erheblichen Vorgänge im staatlichen Recht. Jurisprudenz und Soziologie weisen auf dem Boden des internationalen Rechts einen strengeren Parallelismus auf als im Staats- oder gar im Privatrecht, aber das Völkerrecht geht deshalb nicht in Geschichte und Politik auf, sondern strebt trotz aller Gebundenheit an sein soziales Substrat nach Hervorbringung selbständiger Rechtsbegriffe und eines aus diesen durch juristische Gedankenoperationen aufzubauenden Systems. 3 Declaration relative au droit de la guerre maritime vom 26. Februar 1909, namentlich Art. 30 - 36. 4 Was im Seerecht dank der Institution des Prisengerichts wohl möglich sein wird, ist für andere Gebiete des Völkerrechts unter Umständen bedenklich, und es sind deshalb Stimmen laut geworden gegen ein allzu starkes Hervortreten juristischer, speziell auch privat- und zivilprozeßrechtlicher Auffassungen im Völkerrecht. So ist Art. 3 der Convention concernant les sois et coutumes de la guerre sur terre vom 18. Oktober 1907, welcher eine Schadensersatzpflicht der Kriegführenden für Verletzungen des der Konvention angehängten Reglements statuiert, ohne eine richterliche Instanz wenig geeignet, den Geschädigten zu ihrem Rechte zu verhelfen, und wird eher eine Quelle von Streitigkeiten bilden. Vgl. Zorn, Zeitschrift für Politik, Bd. II, S. 334 f. Mit Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit sind ähnliche Gedanken geäußert worden, ebenfalls von Zorn, S. 360 f.; vgl. auch Nippold, Die zweite Haager Friedenskonferenz, 1908, I S. 206 ff.

ÜBER RECHTSSOZIOLOGISCHE BETRACHTUNGSWEISE INSBESONDERE IM VÖLKERRECHT Von Jacob Wackernagel* Jacob Wackernagel wurde am 2. Oktober 1891 als Sohn einer bekannten Gelehrtenfamilie in Basel geboren. Er studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten von Basel, Lausanne, Göttingen und Berlin und promovierte im Jahre 1915 in Basel als Schüler von Andreas Heusler mit "Untersuchungen über die Entwicklung der Grundherrschaft in geistlichen Stiften des deutschen Mittelalters". Bereits drei Jahre später erfolgte seine Habilitation aufgrund der Schrift: "über die schwyzerische Steuerverfassung in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts".

1924 wurde er zum Extraordinarius und zehn Jahre später zum Ordinarius für schweizerische und germanische Rechtsgeschichte, Völkerrecht sowie kantonales Staats- und Verwaltungsrecht und Steuerrecht ernannt. Nebenamtlich war er als Richter, als Mitglied des Großen Rates sowie als juristischer Experte und Mitarbeiter in zahlreichen Kommissionen tätig. Der Schwerpunkt seiner Publikationen liegt aus heutiger Sicht in der Rechtsgeschichte. Am 17. Juli 1967 verstarb er während eines Ferienaufenthaltes in Sardinien. Jolanta Kren

I. Es ist schon mehrfach hervorgehoben worden, daß gerade im Bereich des Völkerrechts eine rechts soziologische Betrachtungsweise besondere Bedeutung hat. Erwähnt sei etwa die Feststellung von Max Hubert, daß von allen Rechtsgebieten sich das Völkerrecht "am engsten an seinen sozialen Unterbau anschließt und anschließen muß", was die besondere Wünschbarkeit einer rechtssoziologischen Betrachtungsweise nahelegt. Auch F. W. Jerusalem hebt in seiner Schrift "Völkerrecht und Soziologie" den gleichen Gedanken nachdrücklich hervor. Dieses Angeschlossensein des Völkerrechts an seinen sozialen Unterbau ist vor allem deswegen vorhanden, weil das Völkerrecht in seinen hauptsächlichen Bestandteilen Gewohnheitsrecht darstellt, das unmittelbar aus diesem sozialen Unterbau herausgewachsen ist. Dabei ist vor allem in Betracht zu ziehen, daß einerseits die wichtigsten zwischen-

* Festgabe Max Gutzwiller, Basel 1958, S. 119 (125 - 133). I

Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts, 1928, S. 9.

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staatlichen Rechtsbeziehungen gewohnheitsrechtlich geregelt sind und daß andererseits das internationale Vertragsrecht letztendlich seine Grundlage im Gewohnheitsrecht hat2 • Das umfangreiche Völkervertragsrecht wäre ohne die festen gewohnheitsrechtlichen Normen über die Völkerrechtssubjekte, welche das Völkervertragsrecht als mögliche Vertragsparteien notwendig voraussetzt, wäre ohne die vielen sonstigen gewohnheitsrechtlichen Regeln über den völkerrechtlichen Vertrag gar nicht denkbar. Gewiß, dem äußeren Umfange nach überwiegt das Völkervertragsrecht das internationale Gewohnheitsrecht in weitem Maße. Jedoch sind im letzteren die Voraussetzungen für das Bestehen eines Völkervertragsrechts enthalten. Es steht also insofern auf einer höheren Stufe als dieses3 . Das bietet Veranlassung, im Rahmen dieser Untersuchung auf die oft erörterte Frage, wie Gewohnheitsrecht entsteht und in Geltung erhalten wird, erneut einzugehen. Bekanntlich bestehen darüber zur Hauptsache zwei Lehrmeinungen: Nach allgemeiner Auffassung wird das Bestehen eines Gewohnheitsrechtssatzes dann angenommen, wenn in einer Rechtsgemeinschaft eine bestimmte Verhaltensregel in der überzeugung, sie sei rechtlich verbindlich, längere Zeit hindurch gleichmäßig befolgt wird. Es muß m. a. W. mit Bezug auf diese Regel eine von einer opinio juris sive neeessitatis getragene eonsuetudo vorliegen. Jedoch gibt es bezüglich der Bedeutung dieses Satzes zwei Meinungen. Die eine sieht in dieser von Rechtsüberzeugung getragenen übung den eigentlichen Entstehungsgrund des Gewohnheitsrechts. Sie ist die wohl herrschende, im gemeinen Recht begründete Auffassung 4 • 2 Vgl. über die Bedeutung des gewohnheitlichen Völkerrechts vor allem Gouet, La eoutume en droit eonstitutionnel interne et en droit eonstitutionnel international, 1932, S. 2 ff. - über die Gewohnheitsrechtskonzeption des Internationalen Gerichtshofes orientiert die inhaltsreiche Abhandlung von Hagemann, Die Gewohnheit als Völkerrechtsquelle in der Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofes, in Schweiz. Jahrbuch für internat. Recht 10, 61 ff. 3 Vgl. dazu auch Vallindas, in FS Spiropoulos, 1957, S. 426. 4 Vgl. dazu etwa Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, 1899. Eine Frage, welche hier jedoch nicht näher behandelt werden soll, ist die, ob hinsichtlich des zwischenstaatlichen Gewohnheitsrechts auf das mit der eonsuetudo verbundene Kriterium der opinio juris sive neeessitatis verzichtet werden kann, wofür Guggenheim, S. 46 f., unter Hinweis auf die internationale Praxis eintritt. Es dürfte demgegenüber folgender Einwand erhoben werden: Wenn dieses Kriterium der opinio juris aufgegeben wird, dann unterscheidet sich das internationale Gewohnheitsrecht nicht mehr von den Regeln der eomitas gentium, der internationalen Sitte, eines für das zwischenstaatliche Dasein maßgeblichen Komplexes von Verhaltensregeln, dem aber die Anerkennung als rechtliche Ordnung fehlt. Darauf verweist auch Gouet (N. 2) S. 42 und S0rensen, Les soure es du droit international, 1946, S. 105 sowie Verdross, Völkerrecht, S. 119. Es ist zu bedenken, daß das Völkerrecht nur eine Teilordnung im internationalen Ordnungsgefüge darstellt, und

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Dieser in verschiedenen Abwandlungen und gelegentlich mit autoritärem Dogmatismus vertretenen Lehre wurde bekanntlich die andere Auffassung gegenübergestellt, daß die von opinio juris getragene consuetudo lediglich die Feststellung oder den Beweis eines schon bestehenden Rechtssatzes darstelle. Die Gewohnheit mache das Recht nicht, sie lasse es nur erkennen. Die Gewohnheit sei zwar die unzertrennliche Begleiterin des Gewohnheitsrechts, aber sie besitze keine irgendwie geartete rechtsschöpferische Bedeutungs. Zur überwindung dieses immer noch nicht beigelegten alten Schulenstreites können vielleicht die folgenden überlegungen beitragen6 : Die Theorie, daß auf Grund einer von Rechtsüberzeugung getragenen übung eine Verhaltensregel als Rechtsnorm zur Entstehung gelange, ist - wie schon verschiedentlich hervorgehoben wurde - in sich widerspruchsvoll. Denn diese übung setzt voraus, daß sich im sozialen Unterbau bereits eine bestimmte Verhaltens regel gebildet haben muß. Die consuetudo kann nicht eine Verhaltens regel mit dem und dem Inhalt selber schaffen und gleichzeitig zur Anwendung bringen, sondern die Verhaltensregel muß ihrem Inhalte nach schon vorher da sein, und zwar in einer Qualität, daß sie gleichzeitig die Rechtsüberzeugung, auf der ihre Befolgung ruht, herbeizuführen vermag. Wenn demgegenüber anzunehmen ist, daß der Ursprung des Gewohnheitsrechts, wie ja auch anderer außerrechtlicher Verhaltensregeln im Sinne der heutigen rechtssoziologischen Erkenntnis in der Gesellschaft selbst? zu suchen sei, so bedeutet das noch keineswegs, daß damit auch das Gewohnheitsrecht schon fertig da sei. Vielmehr ist dazu notwendig, daß es in der Rechtswirklichkeit konkretisiert und zum Ausdruck gebracht wird 8 • Und das geschieht nun in erster Linie durch die von der Rechtsüberzeugung getragene übung. Diese gewinnt damit auch ein Stück rechtsschöpferischer Funktion. Sie ist nicht nur "Beweis" oder "Feststellung" eines unabhängig davon schon bestehenden zwar nun eben die Teilordnung, welche im Bewußtsein ihrer rechtlichen Verbindlichkeit befolgt wird. 5 Puchta, Das Gewohnheitsrecht II, 1837, 151 ff. S Auf die von Hugo Grotius vertretene, in sich widerspruchsvolle sog. Willenstheorie, welche das Gewohnheitsrecht auf ein pactum tacitum zwischen den Staaten zurückführen will, soll hier nicht näher eingegangen werden. Sie schließt an die Lehre römischer Juristen an, welche das Gewohnheitsrecht als tacitus consensus populi bezeichneten, den sie dem suffragium, dem ausdrücklich erklärten Volkswillen zur Seite stellten. Vgl. Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 162; Verdross (N. 4). 7 Dabei darf man keineswegs an den mystischen Volksgeist im Sinne von Puchta oder Savigny denken. 8 In ähnlichem Sinne hält z. B. Gierke, Deutsches Privatrecht, I, S. 164 Puchta entgegen, er übersehe, "daß eine Rechtsüberzeugung kein Rechtssatz sein kann, bevor sie in die äußere Erscheinung getreten ist". Vgl. auch Regelsberger, Pandekten I, S. 93.

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Rechtssatzes, sondern die übung wirkt in dieser Weise an der Herstellung des Rechtssatzes mit. Die folgende Analogie wäre zulässig: Gleich wie ein Gedanke nur durch das Wort, durch die sprachliche Formulierung, gefaßt, konsolidiert und für unser Denken erst verwendbar gemacht wird, bedarf der Gewohnheitsrechtssatz einer solchen Perfektionierung in der Rechtswirklichkeit. Diese wird ihm dadurch zuteil, daß er aus Rechtsüberzeugung dauernd befolgt wird. über die verschiedenen Formen, wie diese dauernde Befolgung vor sich geht, sei hinsichtlich des internationalen Rechts vor allem auf Kopelmanas verwiesen 9 • Gleichzeitig aber darf die Meinung vertreten werden, daß neben dieser übung auch andere Formen einer solchen Konkretisierung von Gewohnheitsrecht denkbar sind. So etwa die Form einer internationalen Deklaration, wie z. B. die Londoner Seerechtsdeklaration vom 26. Februar 1909 mit der bezeichnenden Präambel: "Les puissanees signataires sont d'aeeord pour eonstater que les regles eontenues dans les chapitres suivants repondent en substanee aux principes generalment reeonnus du droit international."lo Es kann auch nicht geleugnet werden, daß einzelne Bestimmungen von Kollektivverträgen, an denen eine große Zahl von Staaten beteiligt sind, und die nun von den Vertragsstaaten fortdauernd befolgt werden, mit der Zeit über ihre bloß vertragliche Geltung gewissermaßen hinauswachsen und daß es auch auf diese Weise zu einer Konkretisierung von Gewohnheitsrecht kommen kann, das auch für Nichtvertragsstaaten Geltung gewinnt. Gouet l1 sagt: " ... qu'un traite puisse avoir, non eomme tel, mais eomme mode indirect de eonstatation d'une eoutume, une valeur positive vis-a-vis d'Etats autres que les signataires."

9 Custom and ereation of international law, in British Yearbook of International Law 1937, S. 129 ff. 10 Vgl. dazu Hold von Ferneek, Die Reform des Seekriegsrechts durch die Londoner Konferenz 1908/09, in Hdb. des Völkerrechts IV 6, S. 35 f.; Wackernagel, Beiträge zur Lehre von der Feststellung des Gewohnheitsrechts, in FS Karl Haff, 1950, S. 366 ff.; Verwaltungsentscheide der (schweizerischen) Bundesbehörden Heft 5 (1931) S. 54 ff., wo ein Rechtsgutachten des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements über die Bedeutung der völkerrechtlichen Deklaration in diesem spezifischen Sinne abgedruckt ist; de Visscher, Reeueil des Cours 1925, I S. 371 hebt hervor, daß entgegen der Präambel keineswegs alle in der Londoner Deklaration enthaltenen Sätze als bereits bestehendes Gewohnheitsrecht hätten betrachtet werden können. Es soll auch nicht verkannt werden, daß, jedenfalls bei der gegenwärtigen internationalen Lage, ein Kollektivvertrag (traite loi), in welchem sich die beteiligten Staaten auf die Beobachtung eines bestimmten Komplexes von Regeln, die an sich schon Gewohnheitsrecht darstellen, noch ausdrücklich verpflichten, in der Regel ein geeigneteres Mittel zur Fixierung von Gewohnheitsrecht darstellen dürfte, als eine Deklaration. 11

N. 2, S. 50.

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Im weiteren betont Kopelmanas l2 , daß die immer wieder erfolgende Aufnahme der gleichen Bestimmung in einer gewissen Zahl von Verträgen ebenfalls dazu führen könne, daß diese Regel schließlich als Gewohnheitsrechtssatz allgemeine Geltung gewinnt. Diese Feststellung gehört in den gleichen Zusammenhang.

ll. Was hat man sich nun aber speziell für das Völkerrecht als sozialen Unterbau vorzustellen, in dem die Wurzeln des internationalen Gewohnheitsrechts zu finden sind? Welches sind die sozialen Kräfte, die zu seiner Bildung und Erhaltung im völkerrechtlichen Zusammenleben der Staaten beitragen? Man wird zur Beantwortung dieser Frage namentlich auch an gewisse Wertvorstellungen und Willenshaltungen der einzelnen Staatsangehörigen bzw. der diese repräsentierenden Personenkreise zu denken haben l3 . Denn der Staat ist ja auch als Völkerrechtssubjekt "keine von den Menschen abzulösende Realität" 14. Das soll an einem Beispiel noch kurz erläutert werden. Unter den gewohnheitsrechtlichen Regeln des Völkerrechts tritt eine Gruppe in den Vordergrund, welche in besonderem Maße zu einer solchen rechtssoziologischen Untersuchung Anlaß bieten dürfte. Das ist der Komplex der sogenannten Grundrechte der Staaten. Die mehrfach erörterte Frage nach ihrer besonderen Rechtsnatur, ob es sich überhaupt um Völkergewohnheitsrecht und nicht um Völkernaturrecht handle, soll hier übergangen werden. Unerörtert bleibe auch die Frage, ob man sie als eigentliche subjektive Rechte der Staaten zu verstehen habe oder ob - was wohl richtiger ist - der Ausdruck Grundrechte in Wirklichkeit lediglich einen Komplex objektiver Völkerrechtsnormen bezeichnet, aus dem für die Staaten gewisse gegenseitige Berechtigungen bzw. Verpflichtungenerwachsen15 • Von dieser letzteren Auffassung sei hier ausgegangen. 12

N. 9, S. 132.

Umfangreiches Material dafür findet sich bei Blühdorn, Internationale Beziehungen, Einführung in die Grundlagen der Außenpolitik, 1956, ferner bei Stratton, Social psychology of international conduct, 1929. 14 M. Huber (N. 1), S. 83. 15 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, bemerkt S. 302: "Man hat einen Katalog völkerrechtlicher Grundrechte der Staaten aufgestellt, der aber nichts enthält als eine große Tautologie. Denn er besagt nichts Anderes, als daß der Staat das Recht habe, Staat zu sein und daß... kein Staat das Recht habe, einen andern an der Betätigung seiner notwendigen Funktionen zu hindern." Vgl. im übrigen die Abhandlung von Graf, Die Grundrechte der Staaten im Völkerrecht, 1948, und die dort zitierte Literatur. 13

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Die Völker rechts darstellungen enthalten häufig eigentliche Grundrechtskataloge, welche in ihrer Zusammensetzung gewisse Unterschiede aufweisen. Hergebrachtermaßen ist von einem Grundrecht auf Unabhängigkeit, auf Selbsterhaltung, auf Gleichheit, auf Achtung der Ehre, auf Verkehr die Rede 16 • Ein solcher Grundrechtskatalog scheint zu umfassend. Wenn man von der Tatsache ausgeht, daß den Grundrechtsnormen einzig die Aufgabe zukommt, die einzelne Staatsindividualität innerhalb der Staatengesellschaft in ihrer Existenz rechtlich zu sichern, so genügt eine Gruppierung der diesem Zwecke dienenden gewohnheitsrechtlichen Normen, einmal in ein Grundrecht der Staaten auf Respektierung ihrer politischen Unabhängigkeit, worin dann auch die Respektierung ihrer Gebietshoheit eingeschlossen wäre. Denn der territoriale Bereich, auf den sich die Gebietshoheit des Staates erstreckt, ist ein Teil seines Wesens. Dieses Recht auf Unabhängigkeit umfaßt gleichzeitig aber auch das sogenannte Recht auf Selbsterhaltung. Ob es ferner Rechtsnormen gibt, die man unter einem Grundrecht auf Gleichheit zusammenfassen könnte, ist verschiedentlich angezweifelt worden. Die sehr komplexe Frage soll hier nicht näher behandelt werden17 • Hingegen haben Völkerrechtsregeln, welche die Respektierung der Ehre der Staaten gewährleisten sollen, die man unter der Bezeichnung eines Grundrechts auf Achtung zusammenfaßt, im internationalen Dasein eine erhebliche praktische Bedeutung18 • Im weiteren kann von einem Grundrecht der Staaten auf Verkehr nicht die Rede sein. Denn es gibt keine unter dieser Bezeichnung zusammengefaßten Völkerrechtsnormen, die einem Staat einen Rechtsanspruch gegenüber andern Staaten verleihen, mit diesen in Verkehr, namentlich in Rechtsverkehr zu treten. Auf jeden Fall kommt den als Grundrechte bezeichneten Völkerrechtsnormen innerhalb der gesamten Völkerrechtsordnung eine gesteigerte Bedeutung zu. Es handelt sich um Rechtsnormen, in denen gewissermaßen die Persönlichkeitsrechte der Staaten niedergelegt sind19 • Jede Rechtsordnung, und so auch die Völkerrechtsordnung, bedarf der Rechtsträger. Sie sind ihre notwendigen Adressaten. Sie müssen desGraf, ebd. S. 14. Vgl. vor allem Schaumann, Die Gleichheit der Staaten, 1957; Dickinson, The Equality of States in International Law, 1920. Die Schwierigkeit liegt darin, daß keine einheitlichen Vorstellungen darüber bestehen, was mit Gleichheit gemeint ist. 18 Dabei wird auch in Erwägung zu ziehen sein, inwieweit nicht irgendeine Völkerrechtsverletzung, die ein Staat erleidet, gleichzeitig eine Verletzung der ihm im internationalen Verkehr geschuldeten Achtung bedeuten könnte. Vgl. dazu die Erörterungen im Carthage-Fall, Wörterbuch des Völkerrechts (1. A.) I, S. 183. 19 So sagt z. B. Oppenheim-Lauterpacht, International Law I, 7. A., S. 235, die Grundrechte ständen den Staaten zu "simply as international persons". 18

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halb primär in ihrer sozialen Gegebenheit durch die Rechtsordnung anerkannt und sichergestellt sein. Nur unter der Voraussetzung, daß solche Grundrechtsnormen gelten, kann deshalb die Völkerrechtsordnung eine zwischenstaatliche Ordnung sein2o • Die völkerrechtlichen Grundrechte sind "mit der Stellung der Staaten als Völkerrechtssubjekte unmittelbar verknüpft"21. Von diesen formalen überlegungen abgesehen, ist aber im weiteren zu sagen: Das Völkerrecht bedarf der Staaten und somit ihrer Sicherung durch Grundrechtsnormen auch deswegen, weil letztlich seine Geltungskraft von der Völkerrechtsbereitschaft der Staaten abhängt. Die Staaten sind in diesem Sinne einzeln oder in völkerrechtssichernde Organisationen zusammengefaßt Träger und Garanten der zwischenstaatlichen Rechtsordnung. Von einem andern Gesichtspunkt aus betrachtet stellen im weiteren die Grundrechtsnormen das theoretische Völkerrechtsminimum dar. An sich wäre ein - gewiß primitives und wenig entwickeltes - Völkerrecht denkbar, das sich auf diese die einzelstaatliche Existenz gegenüber den andern Staaten sichernden Regeln beschränken würde. Wenn wir uns nun fragen, welche sozialen Kräfte zur Bildung der Grundrechtsnormen des Völkerrechts beigetragen haben und sie als Völkergewohnheitsrecht lebendig erhalten, so liegt es nahe, solche Kräfte zu einem guten Teil in der Staatsgesinnung der Angehörigen der einzelnen Staaten zu erblicken 22 • Der Staat bedeutet für den Einzelnen ja nicht nur einen Betrieb oder ein Unternehmen zur Erreichung der jeweiligen Staatszwecke, wie Sorge für die äußere und innere Sicherheit, Rechts- und Wohlfahrtspflege, lediglich um damit gewisse Bedürfnisse seiner Einwohner zu befriedigen. Dies wurde namentlich von der Staatslehre des Rationalismus behauptet, als deren Exponent etwa Schlözer mit seinem 1793 erschienenen allgemeinen Staatsrecht zu nennen wäre23 • 20 Auch v. Kirchenheim, Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, I, S. 437, bemerkt, es könne von wirklichem Völkerrecht nur die Rede sein, wenn Grundrechte anerkannt seien. Vgl. ferner Baak, Der Inhalt des modernen Völkerrechts, 1926, S. 7. Wehberg bemerkt in Zs. f. Völkerrecht 15, S. 1, daß jede Kodifikation des Völkerrechts mit einer Kodifikation der Grundrechte beginnen müsse. 21 Verdross, Völkerrecht, S. 166. 22 Vgl. zum folgenden: Wackernagel, Der Wert des Staates, Untersuchungen zum Wesen der Staatsgesinnung, 1934, S. 76 ff. 23 Er sagt hier: "Der Staat ist eine Erfindung: Menschen machten sie zu ihrem Wohl, wie sie Brandkassen usw. erfanden. Die instruktivste Art, Staatslehre abzuhandeln, ist, wenn man den Staat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine, die zu einem bestimmten Zwecke gehen soll, behandelt." Zitiert nach Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft, Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, 1921, S. 27. Gerade gegen

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Der Staat ist mit anderen Worten nicht nur eine Einrichtung der politischen, wirtschaftlichen, wohlfahrtsfördernden, rechtsschöpfenden und rechtssichernden Technik, an welcher der einzelne Bürger als Mithandelnder und Mitempfangender lediglich aus sachlichen Gründen beteiligt ist. Sondern der Staatsbürger ist an seinem Staat auch innerlich beteiligt. Sein Selbstbewußtsein ist dadurch zu einem politischen Wirbewußtsein erweitert. Er identifiziert sich in gewissen Erlebensbereichen in unterschiedlichem Grade und in verschiedener inhaltlicher Ausprägung mit seinem Staat. Dieses den eigenen Staat mitumfassende Selbstbewußtsein kann je nach seiner konkreten Gestaltung als Staatsgesinnung oder als Patriotismus bezeichnet werden. Mitscherlich hat bezüglich der ausgesprochen nationalistischen Staaten die Formulierung geprägt, man sehe den Staat an "nicht mehr als etwas, das außerhalb der Lebenssphäre des Individuums steht ... , sondern als etwas, mit dem man selbst aufs innigste verflochten ist, das man als ein Stück seines Selbst betrachtet"24. Das gilt aber mit gewissen Abschwächungen für alle Staaten. Es ist im übrigen eine bekannte Erscheinung, daß solche inneren Haltungen der Staatsbürger durch ihr Mit- und Nebeneinander erhebliche Steigerungen erfahren können. Das individuelle Unabhängigkeitsbedürfnis, der Wille zur Freiheit findet für den staatsbewußten Bürger in der Behauptung des staatlichen Anspruchs auf Unabhängigkeit innerhalb der Staatenwelt seinen kollektiven Ausdruck. Im staatlichen Anspruch auf Respektierung der Ehre des eigenen Staates im internationalen Verkehr sieht er auf einer höheren Stufe sein persönliches Ehrbewußtsein ausgedrückt. Eine solche bewußtseinsmäßige Solidarisierung mit dem Staatsganzen bedeutet für den Einzelnen gleichzeitig eine Ausweitung seines Selbstgefühls, eine Befriedigung des eigenen Geltungsbedürfnisses, das er in der Enge des Alltags nicht immer findet. Er fühlt sich durch die Anerkennung der Selbstherrlichkeit und Unabhängigkeit des eigenen Staates innerhalb der Staatengesellschaft, durch das Ansehen und den Respekt, den dieser bei andern Staaten genießt, ebenso wie durch die innen- und außenpolitischen Erfolge des eigenen Landes in seinem persönlichen Wert gehoben. Diese Einbeziehung des Staates in das eigene Selbstgefühl manifestiert sich aber gleichzeitig auch in einem diesen staatstheoretischen Rationalismus richtet sich dann auch vorzüglich die romantische Staatslehre, als deren Vertreter vor allem Adam Müller zu nennen wäre. Vgl. Kluckhohn, S. 77. Zu erwähnen wäre auch eine Bemerkung von Burke in seinen von Gentz übersetzten Betrachtungen über die französische Revolution, zitiert nach Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 131. "Es wäre frevelhaft, den Staatenverein wie eine alltägliche Kaufmannssozietät ... zu betrachten, die man treibt, so lange man Lust hat, und aufgibt, wenn man seinen Vorteil nicht mehr absieht." 24 Mitscherlich, Der Nationalismus Westeuropas, 1920, S. 266.

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Verantwortungsbewußtsein für den Staat sowie in einer ihm entgegengebrachten, bis zum äußersten gehenden Opferbereitschaft. Die Staatsgesinnung, so wie wir sie hier kurz angedeutet haben, ist gewiß nicht in jedem Bürger in gleicher Weise lebendig. Oft ist sie vorzüglich bei repräsentativen Gruppen des Staatsvolks - um den schillernden Ausdruck Elite zu vermeiden -, ist sie namentlich bei den Personen besonders ausgeprägt, die mit den maßgeblichen Organfunktionen betraut als Willensträger zu fungieren haben. Es darf nun aufgrund des Gesagten die Vermutung ausgesprochen werden, daß gerade die Grundrechtsnormen von sozialen Kräften, die in einer so verstandenen Staatsgesinnung der Angehörigen der einzelnen Staaten enthalten sind, getragen und inhaltlich gestaltet werden. Die Staatsgesinnung bildet m. a. W. einen wesentlichen Bestandteil des sozialen Unterbaus, welcher die völkerrechtlichen Grundrechte trägt. Immer wieder läßt sich feststellen: Wenn irgendein wirklicher oder auch nur vermuteter Verstoß gegen ein Grundrecht eines Staates von seiten eines andern Staates erfolgt, dann reagiert die "öffentliche Meinung" des betroffenen Staates oft sehr empfindlich dagegen. Die öffentliche Meinung ist aber hier nichts anderes als die Meinung der einzelnen staatsbewußten Bürger, die sich durch einen solchen rechtswidrigen Eingriff in die Eigensphäre ihres Staates in ihrem individuellen, den Staat mitumfassenden Selbstbewußtsein betroffen und verletzt fühlen. Es will uns scheinen, daß gerade auch der staatliche Anspruch auf Respektierung der eigenen Ehre durch die andern Staaten in besonders ausgeprägtem Maße in dieser Staatsgesinnung verwurzelt ist. Gewiß, diese Staatsgesinnung ist in den einzelnen Ländern verschieden ausgeprägt. Sie ist auch starken emotionalen Schwankungen unterworfen. Gerade darüber Untersuchungen anzustellen, wäre auch vom völkerrechtlichen Standpunkt aus eine dankbare Aufgabe rechtssoziologischer Forschung. Denn die dabei gewonnenen Erkenntnisse könnten zu einem besseren Verstehen der Bedeutung und des im Laufe der Geschichte sich langsam umbildenden Inhaltes der Grundrechtsnormen als eines zentralen Bestandes der internationalen Rechtsordnung sehr wesentlich beitragen.