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German Pages [446] Year 2022
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Dennis Marten
Schuld und Sprache Hermeneutische Überlegungen zu einer schuld- und leidsensiblen Philosophie der Geschichte(n)
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495825532
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B
Dennis Marten Schuld und Sprache
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Band 14
Herausgegeben von Karl-Heinz Brodbeck Stephan Grätzel Bernd Schuppener
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Dennis Marten
Schuld und Sprache Hermeneutische Überlegungen zu einer schuld- und leidsensiblen Philosophie der Geschichte(n)
Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Dennis Marten Guilt and Language Hermeneutical Reflections on a Philosophy of (Hi)stories concerning its Dimensions of Guilt and Suffering The book articulates a concept of remembrance as it is possible in future times, when the survivors of National Socialists’ atrocities, who could bear witness to their and the murdered victims’ suffering, have ceased to exist. Philosophy of dialogue as the main approach merges with the dimension of historical guilt and aesthetics based on Emmanuel Levinas’ phenomenology. An analysis of Paul Celan’s poetry shows how the recipient becomes a witness on behalf of the absence of presence of the dead and murdered.
The Author: Studied philosophy and german philology in Mainz and Waterford (Ireland). Doctorate at the Department of Practical Philosophy of the Johannes Gutenberg-University Mainz. Main research interests: (Jewish) philosophy of religion, phenomenology, aesthetics, philosophy of the 20th century, intersections between theology and philosophy, philosophy and literature. Publications: Self-Evolution in the Strangeness of the Poem: Identity Formation in Paul Ricœur and Paul Celan. In: Anthology of the Conference Literary Interventions in the Discourse of Reconciliation. Transcript: Anticipated 2022. Between Asymmetry and Dialogue. Exteriority in Martin Buber and Emmanuel Levinas. In: Im Gespräch. Hefte der Martin-Buber-Gesellschaft. Issue 17. Edition AV 2018, pp. 89–116.
https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Dennis Marten Schuld und Sprache Hermeneutische Überlegungen zu einer schuld- und leidsensiblen Philosophie der Geschichte(n) Das Buch formuliert ein Konzept des Eingedenkens, das auch in Zukunft noch möglich ist, nämlich dann, wenn es keine Zeitzeug_innen der Verbrechen des Nationalsozialismus mehr gibt, die für ihre Leidensgeschichten und die der Ermordeten einstehen können. Grundlage ist die Dialogphilosophie, die um die Dimension geschichtlich tradierter Schuld erweitert und mit einer an Emmanuel Levinas’ Phänomenologie orientierten Ästhetik verbunden wird. Anhand der Dichtung Paul Celans wird aufgezeigt, wie die Praxis der Lektüre den Leser als Zeugen für die anwesende Abwesenheit der Toten und Ermordeten hervorbringt.
Der Autor: Studium der Philosophie und deutschen Philologie in Mainz und Waterford (Irland). Promotion am Arbeitsbereich für Praktische Philosophie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: (Jüdische) Religionsphilosophie, Phänomenologie, Ästhetik, Philosophie des 20. Jahrhunderts, Schnittstellen zwischen Theologie und Philosophie, Philosophie und Literatur. Veröffentlichungen: Selbstwerdung in der Fremdheit des Gedichts: Identitätsbildung bei Paul Ricœur und Paul Celan. In: Sammelband zur Tagung Literarische Interventionen im Versöhnungsdiskurs. Transcript: Voraussichtlich 2022. Zwischen Asymmetrie und Dialog. Exteriorität bei Martin Buber und Emmanuel Levinas. In: Im Gespräch. Hefte der Martin-Buber-Gesellschaft. Heft 17. Edition AV 2018, S. 89–116.
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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2020 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Die Arbeit wurde im Jahr 2018 mit einem Stipendium der Sibylle Kalkhof-Rose-Stiftung sowie im Jahr 2020 mit dem Preis der Gertrude Meyer-Jorgensen, geb. Salomon, und Paul Meyer-Stiftung ausgezeichnet.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2022 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Printed in Germany ISBN 978-3-495-49234-5 (Print) ISBN 978-3-495-82553-2 (ePDF)
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Danksagung
Diese Arbeit untersucht den Zusammenhang von Geschichten und Begegnungen. Die Begegnung von Philosophie und Dichtung ist dabei ein wichtiges Moment. Nur in ihrer Verschränkung können jene Kräfte wirksam werden, die es im Folgenden zu entfalten gilt. Primär sind es aber zwischenmenschliche Begegnungen, die Gedanken anstoßen, und Gespräche, in denen sich diese Gedanken vertiefen und entwickeln. Mein herzlichster Dank gilt daher zuallererst meinem Doktorvater Herrn Univ.-Prof. Dr. Stephan Grätzel, der mich die Jahre hindurch unermüdlich begleitet und unterstützt hat. Seine Seminare – vor allem die gemeinsam mit Studierenden und Mitdoktorand_innen verbrachten wertvollen Tage im Kloster Himmerod und später in Italien – haben mich mit der Dialogphilosophie bekannt gemacht, die zu einem Grundpfeiler meines Denkens und Arbeitens geworden ist. Weiterhin sind es seine Veröffentlichungen zu den Komplexen Sprache, Schuld und Versöhnung – Themen, die leider allzu selten in den Lehrplänen der Universitäten zu finden sind –, die meine Arbeit maßgeblich vorangebracht haben. Ohne diese Grundlagen und die persönlichen Gespräche hätte die vorliegende Arbeit nicht entstehen können. Ebenso herzlich danken möchte ich meinem Zweitbetreuer Herrn PD Dr. Peter Waldmann. Neben den zahlreichen konstruktiven Gesprächen über Erinnerungskultur, (Geschichts-)Politik und Literatur, verdanke ich ihm den Zugang zu einem lebendigen Judentum. Ohne diesen wäre mein Blick auf die maßgeblichen in der vorliegenden Arbeit behandelten Themen ein theoretischer geblieben – womit ich dem Anspruch einer auch praktisch relevanten und umsetzbaren Philosophie niemals hätte gerecht werden können. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang Herrn Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky, der es mir u. a. ermöglichte, meine Gedanken im Rahmen des Culture Clubs der Jüdischen Gemeinde Mainz zu teilen und so wichtige Impulse zu erhalten. Frau Birgit Meurer und dem Mar-
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Danksagung
tin-Buber-Haus in Heppenheim möchte ich für die jahrelange produktive Zusammenarbeit danken. Danken möchte ich außerdem der Heinrich-Böll-Stiftung sowie Frau Sibylle Kalkhof-Rose und ihrer Stiftung, die mir mit ihrer finanziellen Unterstützung die Umsetzung und Fertigstellung meines Projekts ohne ökonomische Zwänge gestatteten. Unverzichtbar war und ist die Hilfe und Solidarität meiner Freundinnen und Freunde: Jasmine und Steven haben mich – vor allem in der Abschlussphase des Schreibens – mit dem Korrekturlesen, hilfreichen Ratschlägen und der Zubereitung der Mahlzeiten über Wasser gehalten (alle, die jemals in einer ähnlichen Situation waren, wissen wie existentiell gerade der letzte Punkt ist). Ebenso wie Felix und Mias und all jene, die hier nicht genannt werden können, sind sie in Freude und Verzweiflung Teil und Stütze meines Lebens. Ihnen allen gilt meine tiefste Dankbarkeit. Dies alles wäre ohne die Liebe, Unterstützung und Geduld meiner Eltern Angelika und Hartmut Marten nicht möglich gewesen. Ihnen möchte ich diese Arbeit von ganzem Herzen und in Liebe und Dankbarkeit widmen.
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1.
Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n) .
33
1.1. Hegel: Geschichte der Herrschaft und Herrschaft der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
1.2. Schapp: In Geschichten verstrickt . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Das Wozuding . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Das In-Geschichten-sein des Menschen . . . . . .
50 51 53
1.3. Martin Bubers Philosophie des Dialogs . . . . . . 1.3.1. Ich-Du und Ich-Es . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Geist und Sprache . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Bubers Dialogik und das In-Geschichten-sein
. . . .
60 60 66 72
. . .
76 76 79
. . . .
. . . .
1.4. Franz Rosenzweigs sprachphilosophisches System in Der Stern der Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Zur Systematik – Ein Überblick . . . . . . . . . 1.4.2. Die Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3. Die Konstruktion des Sterns als In-Geschichtensein: Schöpfung – Offenbarung – Erlösung . . . 1.4.3.1. Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.2. Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.3. Benennung . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.4. Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4. Eine Geschichte – Zwei Narrative . . . . . . . . 1.5. Das Erzählen und die Erzählung
. 85 . 90 . 90 . 94 . 98 . 102
. . . . . . . . . . . . 108
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Inhalt
2.
Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
2.1. Karl Jaspers: Die Schuldfrage . . . . . . . . . . . . . .
123
2.2. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne . . . . . . 2.2.1. Ausgangspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Tortur und Ressentiments . . . . . . . . . . . . .
133 134 142
2.3. Zur Struktur des Schuldphänomens . . . . . . . . . . . 2.3.1. Die Betrachtung existentieller Schuld als Hinführung zur geschichtlichen Schuld . . . . . . 2.3.2. Von der existentiellen zur geschichtlichen Schuld . 2.3.2.1. Zur Bedeutung von Gegen-Erzählungen: Wessen Erinnerung zählt? . . . . . . . . . 2.3.2.2. Zum Konzept des Eingedenkens . . . . . . 2.3.2.3. Die Eucharistie als ein Beispiel ritualisierten Eingedenkens . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Geschichtliche Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1. Das Fundament der Schuldverstrickung: Die Konfrontation mit dem Nicht-Selbstischen . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2. Die Macht der Toten: Schuld und Mythos . 2.3.4. Die deutsche Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.1. Fallstricke deutscher Erinnerungskultur . . 2.3.4.2. Muttersprache – Mördersprache . . . . . . 2.3.4.3. Das fiendum und die Historisierung der Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
2.4. Zusammenfassung 3.
155 166 167 172 184 193
194 201 212 214 229 237
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache . . . . . . . . . .
248
3.1. Vom Sein zum Sein-für-den-Anderen: Die Offenbarung des Anderen als Antlitz . . . . . . . .
248
3.2. Vom Sein-für-den-Anderen zum Jenseits des Seins – désintéressement und Stellvertretung . . . . . . . . . .
254
3.3. Eine Ästhetik des Entzugs . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Nähe und Unterbrechung: Die Störung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Levinas und Celan: Stellvertretung als Zeugenschaft . . . . . . . . . 10 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
262 266 277
Inhalt
3.3.3. Die Obliteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Die Behauptung der Stellvertretung gegen die Absurdität der Geschichte . . . . . . . . . . . . . 3.4. Zusammenfassung 4.
313
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
4.2. Die lebendige Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die dreifache mimēsis . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Die Überkreuzung von Geschichte und Fiktion in der Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Selbstheit und Bezeugung . . . . . . . . . . . . 5.
298
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1. Der Text
292
. 329 . 331 . 338 . 341
Paul Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1. Paul Celans Poetik als Poetik des Dialogs? . . . . . . 5.1.1. Angereicherte Sprache und Begegnung . . . . 5.1.2. Das Mitsprechen des ganz Anderen im Gedicht 5.1.3. Die Atemwende . . . . . . . . . . . . . . . .
349
. . . .
350 351 368 379
5.2. Begegnungen mit dem Gedicht – Zwei Beispiele . . . . 5.2.1. Das Gedicht als Eingedenken: Schwarze Flocken . 5.2.2. Das Gedicht und die Neubeschreibung der Wirklichkeit angesichts der Ermordeten: Hüttenfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387 389
6.
. . . .
319
400
Abschließende Bemerkungen: Der Leser als Zeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
413
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429
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Einleitung Ein Blatt, baumlos für Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt? Paul Celan
Dieses Gedicht entstammt dem 1971 posthum veröffentlichten Band Schneepart. 1 Celan antwortet mit Ein Blatt auf die bekannten Verse aus Bertolt Brechts An die Nachgeborenen: »Was sind das für Zeiten, wo/ Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« 2 Anhand des Dialogs zwischen diesen beiden Gedichten lässt sich das Vorhaben der vorliegenden Arbeit umreißen. Denn sie stehen paradigmatisch für zwei unterschiedliche Auffassungen von Sprache. Brecht sieht immerhin die Möglichkeit eines Gesprächs über Bäume angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus. Freilich, dieses Gespräch ist fast ein Verbrechen, weil es in Anbetracht der Trivialität der Bäume notwendigerweise schweigen muss über die vielen Untaten, die jene Belanglosigkeit trüben könnten. Spricht man über Bäume, so lässt man die Untaten außen vor. Sie mögen dennoch bedrückend wirken oder das Gespräch unmoralisch erscheinen lassen und die Gesprächspartner beschämen. Aber die Bäume, über die man spricht, sind dennoch Bäume. Sie blühen und vergehen – in diesen Zeiten! Sie kümmern sich nicht um die beschädigte Welt um sie herum, ebenso wenig wie jene, die es noch wagen, über die Bäume zu sprechen. Für Celan allerdings, den jüdischen Dichter und Überlebenden der Shoah, gibt es diese Bäume nicht mehr. Es gibt nur noch ein Blatt, Vgl. Celan, Paul: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. u. kommentiert v. Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp 2020 (suhrkamp taschenbuch 5105), S. 502. Die Anordnung der Gedichte wurde von Celan zum Teil noch selbst bestimmt (vgl. ebd., S. 1131 f.). 2 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 9. Gedichte 2. Frankfurt: Suhrkamp 1990 (werkausgabe edition suhrkamp), S. 723. 1
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Einleitung
baumlos, welches er Brecht zueignet: Das Blatt, auf dem er schreibt, und das in seiner erbarmungslosen Materialität vor ihm liegt. Diesem Blatt kommen weder Trivialität noch Schönheit zu, wie es vielleicht für die Bäume der Fall ist. Während Brecht das Schweigen problematisiert und die Hinwendung der Sprache zum Unbedarften, wird für Celan die Sprache selbst zu einem Problem. Ein Gespräch ist beinah ein Verbrechen, nicht allein, weil es Dinge verschweigt, sondern weil es soviel Gesagtes mit einschließt. Ein unbedarftes Gespräch über Bäume ist nicht mehr möglich, weil es diese trivialen Bäume nicht mehr gibt. Spricht man über sie (oder über irgendetwas anderes), so ist in diesem Sprechen die Untat (als, wenn auch unausgesprochenes, Mit-Gesagtes) bereits eingeschlossen. Das auf das Blatt geschriebene Gedicht deckt die geschichtlichen Bezüge der Sprache auf. Wenn, wie oben, von erbarmungsloser Materialität die Rede ist, bedeutet dies, dass das Gedicht im Prozess des Schreibens und des Lesens die in der Sprache enthaltenen Verweise in die Lebenswelt von Dichter und Leser einschreibt. Einen Fluchtpunkt aufzusuchen, der jenseits des MitGesagten stünde, ist nicht möglich. Das Gedicht ist »historische[s] Material«, 3 das auch das »Immaterielle« 4 der geschichtlichen Überlieferung umfasst und dieses in der Gegenwart markiert. Es wird selbst zum »Akteur«, 5 insofern es der Geschichte eingedenk ist und das Eingedenken des Lesers fordert. Es ist Zeugnis oder Spur dessen, was nicht mehr da ist: Zeugnis und Spur der Ermordeten und ihrer Geschichten. Das Gedicht ruft die Sprechenden nicht nur dazu auf, das zu reflektieren, was die Sprache verschweigt. Sondern ebenso all das, was in ihrem Sprechen und dem daraus resultierenden Gesagten bereits enthalten ist – mithin die Geschichten, die die Sprache transportiert. Für die deutsche Sprache, um die es in dieser Arbeit in erster Linie geht (und in der diese Arbeit geschrieben ist), gilt damit in spezifischer Weise, was grundsätzlich für alle Sprachen gilt: Sie kann nicht (mehr) unschuldig sein. Freilich: In ihr kann geschwiegen, in ihr kann vergessen und verdrängt werden. Aber die Ermordeten sprechen in ihr mit, sie sprechen auch im Schweigen mit. Die deutsche Sprache ist von ihrem Leiden und der Schuld an diesem Leiden wei-
Im Sinne der Ausführungen von Achim Landwehr zum Material und zur Materialität (Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt: Fischer 2016, S. 56–78. Hier: S. 71). 4 Ebd., S. 71, S. 73. 5 Ebd., S. 74. 3
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Einleitung
terhin durchdrungen. Das Vorhaben dieser Arbeit ist es nun, einen Weg aufzuzeigen, die Ermordeten und ihre Geschichten durch alles Verdrängen und Verschweigen hindurch hörbar zu machen – die Kraft des Eingedenkens, die jeder Sprache mitgegeben ist (und die vielleicht das konstitutive Element der Sprache ist), zu realisieren. Eingedenken und mit ihm die Möglichkeit und Notwendigkeit von Versöhnung 6 scheinen gegenwärtig im öffentlichen Bewusstsein keinen sonderlich hohen Stellenwert zu genießen. In einer Zeit, in der die letzten Überlebenden der Shoah bald nicht mehr selbst werden sprechen können und das kommunikative Gedächtnis oder Generationengedächtnis 7 somit eine erhebliche Wandlung erfährt, 8 wiegt dies umso schwerer. Wie sollen Erinnern und Gedenken in Zukunft möglich sein? Welche Probleme ergeben sich durch die baldige Abwesenheit der letzten lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen? Bereits seit Jahrzehnten gibt es eine lebhafte Debatte über die gegenwärtige und zukünftige Gestaltung erinnerungskultureller Praktiken. Was einst mühsam errungen wurde, wird hinterfragt – sowohl vonseiten jener, denen daran gelegen ist, eine zeitgemäße Erinnerungskultur zu entwickeln und die in ihrer Kritik auf mögliche Schwachstellen oder blinde Flecken der bisherigen Praktiken hinweisen möchten (Kap. 2.3.4., insbesondere 2.3.4.1.). Es melden sich jedoch auch Stimmen zu Wort, die mit dem Erinnern gänzlich ab-
Vgl. Grätzel, Stephan: Versöhnung. Die Macht der Sprache – ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs. Freiburg: Herder 2018. 7 Das kommunikative Gedächtnis oder Generationengedächtnis umfasst den »durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete[n] Erinnerungsraum« und ist also an seine Träger gebunden (Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1999 (Beck’sche Reihe; Bd. 1307), S. 50). Es umfasst einen Zeitraum von 80–100 Jahren (vgl. ebd., S. 56). 8 Jan Assmann stellte bereits vor mehr als 20 Jahren fest: »Was heute noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein.« (Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, S. 51) Bei Aleida Assmann heißt es: »Mit jedem Generationswechsel, der nach einer Periode von ca. dreißig Jahren stattfindet, verschiebt sich das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft merklich. Haltungen, die einst bestimmend oder repräsentativ waren, rücken allmählich vom Zentrum an die Peripherie. […] Der Generationswechsel ist von großer Bedeutung für den Wandel und die Erneuerung des Gedächtnisses einer Gesellschaft und spielt gerade auch bei der späten Verarbeitung traumatischer oder beschämender Erinnerungen eine große Rolle.« (Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2014, S. 27). 6
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Einleitung
schließen wollen. Diese reaktionäre Tendenz möchte ich unten anhand zweier Beispiele aufzeigen (ebenso in Kap. 2.3.4.3.). Dass vermeintlich Gutgemeintes zum Problem werden kann, verdeutlicht der Literatur- und Kulturwissenschaftler Peter Waldmann. Er hinterfragt die Rolle, die Jüdinnen und Juden in Deutschland von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft oftmals zugesprochen bekommen, und stellt dies anhand literarischer Werke jüdischer Autor_Innen dar. Er spricht dabei von »Gedächtniskerzen« 9 oder »Gedenkkerzen.« 10 Diese »bestätigen das vermeintliche, ja imaginäre Selbstbild der Nachkriegsgesellschaft als Bewahrerin der demokratischen, antifaschistischen Ordnung.« 11 Durch diese ihnen zugeschriebene Bestätigungs- und Erlösungsfunktion werden die Betroffenen ihrer Individualität und Identität beraubt. 12 Sie werden auf einen Opferstatus reduziert. Die Mehrheitsgesellschaft erwartet von ihnen, dass sie sich dementsprechend verhalten: Jüdinnen und Juden hätten moralisch absolut integer zu sein. Sind sie dies nicht – und wer ist das schon? –, werden sie oftmals in überzogener, häufig antisemitischer Weise angegriffen. Jene, die dies tun, inszenieren sich als Tabubrecher. 13 Die von der Mehrheitsgesellschaft erwartete und geforderte Rolle macht Jüdinnen und Juden also im schlimmsten Fall zu Objekten des Hasses. Eine derart personalisierte Erinnerungskultur bewirkt dann genau das, was sie eigentlich verhindern soll. Ihre Verfallsform, die, so lässt sich aus den Ausführungen Waldmanns schließen, bereits in ihr angelegt ist, verdeutlicht, auf welch fragilem Fundament das politische Selbstverständnis des post-nazistischen Deutschland gebaut ist. Demokratie, Menschenrechte und eine mit Waldmann, Peter: Wie Fremde Fremde sehen. Selbstreflexion und Selbstverortung jüdischer Identität in der Literatur. Wien: mandelbaum 2018, S. 268. 10 Ebd., S. 270. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 273 ff. 13 Vgl. ebd., S. 241. Eine umfassende Tabuisierung antisemitischer Äußerungen habe es, so der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft niemals gegeben. In der Öffentlichkeit seien derartige Auslassungen zwar verpönt gewesen, »halb-öffentlich – etwa am Stammtisch« allerdings nicht (Salzborn, Samuel: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Berlin: Hentrich & Hentrich 2020, S. 23). Salzborn spricht hinsichtlich dieser »Differenz von privater Toleranz für Antisemitismus und öffentlichem Anti-Antisemitismus« von einer »Kommunikationslatenz von antisemitischen Einstellungen […].« (Ebd., S. 72) Mittlerweile wird Antisemitismus zunehmend auch öffentlich geäußert. Salzborn nennt als Wendepunkt die Paulskirchen-Rede Martin Walsers 1998 (vgl. ebd., S. 23). 9
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Einleitung
ihnen verbundene Auffassung von Geschichte sind keine Selbstläufer, deren rituelle Beschwörung zu festgelegten Zeiten allein genügen würde. Es kann nun keinesfalls darum gehen, sich von allen Akten des Gedenkens zu verabschieden. Wenn die Opfer des Nationalsozialismus und ihre Nachkommen Partner des Gedenkens sein sollen, müssen sie jedoch selbst sprechen dürfen, ohne zuvor auf eine zur Befriedigung der Mehrheitsgesellschaft dienende Rolle verpflichtet worden zu sein. Darüber hinaus müssen Möglichkeiten erarbeitet werden, die Kraft des Eingedenkens und der Versöhnung im Alltag produktiv werden zu lassen, d. h. über feste Gedenkzeiten und Gedenkorte hinaus. Mittlerweile lässt sich zunehmend beobachten, wie die Erosion des bundesrepublikanischen erinnerungskulturellen Selbstverständnisses mit geschichtspolitischen Interventionen korrelieren kann. Dies geschieht sowohl im Feuilleton und auf dem Buchmarkt als auch auf der politischen Bühne und beeinflusst dadurch einen, zumindest hinsichtlich seiner diskursiven Einflussmöglichkeiten und des damit verbundenen Erregungspotentials, nicht unerheblichen Teil der Öffentlichkeit. So sprach Björn Höcke, ein extrem rechter Politiker der AfD, in Bezug auf das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas bereits 2017 von einem »Denkmal der Schande«, durch welches »die deutsche Geschichte […] mies und lächerlich gemacht« werde, und forderte eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad […].« 14 Darunter versteht er eine »lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt.« 15 Dies ist keine Kritik an einer eingefahrenen Erinnerungskultur, sondern die Forderung, die Stimmen der Opfer des Nationalsozialismus zum Schweigen zu bringen. Jene, die weiterhin dafür eintreten, dass diese Stimmen – in welcher Weise auch immer – gehört werden müssen, sind für Höcke zwangsläufig Teil einer »dämliche[n] Bewältigungspolitik«, die das deutsche Volk »lähmt«. 16 Der Historiker Rolf Peter Sieferle macht dieses Feinddenken in seiner 2017 posthum im neurechten Antaios-Verlag erschienenen Schrift Finis Germania, 17 die Der Tagesspiegel dokumentiert diese Rede im Wortlaut (aufgerufen am 21. 05. 2021): https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-weizsaeckersrede-zum-8-mai-1945-war-gegen-das-eigene-volk/19273518-3.html 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Sieferle, Rolf Peter: Finis Germania. Schnellroda: Antaios 2017 (kaplaken 50). 14
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Einleitung
seinerzeit für Aufruhr in den Feuilletons sorgte, 18 explizit. Sieferles Ausführungen bestätigen Waldmanns Analyse. Für Sieferle sind Jüdinnen und Juden, die er offensichtlich als homogenes Kollektiv auffasst, jedoch keine Gedenkkerzen, denen die von Waldmann problematisierte Erlösungsrolle zugesprochen wird. Er sieht sie vielmehr als Antagonisten zu den nicht-jüdischen Deutschen, die durch die Erinnerung an die Shoah ohne die Möglichkeit von Erlösung zum »ewige[n] Nazi« 19 gemacht worden seien. Die Erinnerungskultur besitze »Züge einer veritablen Staatsreligion […]«, 20 die an der untilgbaren Schuld festhalte, womit die Deutschen »für immer aus dem normalen Gang der Geschichte herausgehoben […]« 21 seien. Sieferle betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr, wenn er schreibt: »Die Juden, denen ihr Gott selbst die Ewigkeit zugesichert hat, bauen heute ihren ermordeten Volksgenossen in aller Welt Gedenkstätten, in denen nicht nur den Opfern die Kraft der moralischen Überlegenheit, sondern auch den Tätern und ihren Symbolen die Kraft ewiger Verworfenheit zugeschrieben wird.« 22
Sieferle sieht »die Juden« als Profiteure der Shoah, die sich mit ihren Gedenkstätten eine höhere Moral zusprächen und sich über alle anderen Menschen, insbesondere über die Deutschen, erheben würden. Ihre Mörder bzw. deren Nachkommen würden demzufolge zu ihren Opfern, die aufgrund eines ›Schuldkults‹ zur Geschichtslosigkeit verurteilt seien. Die Deutschen seien, parallel zum Antisemitismus, einem »Antigermanismus« ausgesetzt. 23 Mit dieser Parallelisierung Das »nach Einschätzung des Berliner Politologen Herfried Münkler ›zutiefst von antisemitischen Vorstellungen getränkt[e][…]‹ Buch […]« (Weiß, Volker: Rolf Peter Sieferles »Finis Germania«. Der Antaios Verlag und der Antisemitismus. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 28. Herausgegeben von Stefanie Schüler-Springorum für das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Berlin: Metropol 2019, S. 123–146. Hier: S. 124) erschien unter den von NDR und Süddeutscher Zeitung aufgelisteten ›Sachbüchern des Monats‹. Verantwortlich für die Nominierung war Johannes Saltzwedel, Kulturredakteur von Der Spiegel, der »seine Bewertungspunkte über drei Monate ausschließlich auf Sieferles Text kumuliert [hatte], statt diese wie die anderen Juroren auf mehrere Bücher zu verteilen […]« (ebd.), woraufhin es zu Rücktritten aus der Jury kam und Der Spiegel sich letztendlich dazu entschloss, Finis Germania von seiner Bestsellerliste zu streichen (vgl. ebd.). 19 Sieferle: Finis Germania, S. 63, S. 69. 20 Ebd., S. 70. 21 Ebd., S. 71. 22 Ebd., S. 77. 23 Ebd. Dieser Begriff ist, wie Weiß darlegt (vgl. Weiß: Rolf Peter Sieferles »Finis 18
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Einleitung
betreibt Sieferle eine Relativierung der Shoah und reproduziert zugleich das alte antisemitische Ressentiment der rachsüchtigen Juden. Der konstruierte Antagonismus Juden vs. Deutsche ist schließlich die Grundlage für ein weiteres Verschwörungsideologem Sieferles. Die maßgeblich von den ›denkmalbauenden Juden‹ vorangetriebene »Staatsreligion« und der darauf gründende »Antigermanismus« zögen als »wichtige programmatische Forderung« das Konzept der »Multikulturalität« 24 nach sich. Dieses ziele »darauf, daß eine kulturelle Formation, nämlich das indigene Volk, zugunsten anderer Volksgruppen auf seine spezifische Identität verzichten soll.« 25 Diesen Prozess sieht Sieferle »mit der realen Masseneinwanderung in die industriellen Wohlstandszonen« 26 bereits in vollem Gange. Das Phantasma, dass es quasi-gesteuerte Migrationsströme gebe, durch die die europäische Bevölkerung ersetzt werden solle, 27 firmiert in rechten Kreisen unter dem Schlagwort ›Großer Austausch‹. 28 Diese ohnehin ethnozentrische und rassistische Fantasie ist häufig, wie Germania«. Der Antaios Verlag und der Antisemitismus, S. 135 ff.), ein zentrales Element des deutsch-nationalen Antisemitismus und geht bis zu Wilhelm Marrs Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet (1879) zurück, der dort von »Germanenhatze« schreibt, die er den Juden anlastet (vgl. Weiß: Rolf Peter Sieferles »Finis Germania«. Der Antaios Verlag und der Antisemitismus, S. 136). 24 Sieferle: Finis Germania, S. 83. 25 Ebd., S. 84. 26 Ebd. 27 Im Nachwort zu Finis Germania schreibt Raimund Th. Kolb, dass Sieferle sich dem zugrundeliegenden Text »vermutlich […] unter dem Eindruck der international von langer Hand geplanten und im Herbst 2015 von der deutschen Kanzlerin putschartig ausgelösten akuten Migrationskrise […] erneut zugewandt« habe und aus Korrespondenz und Gesprächen mit Sieferle »wohlbegründet und klar hervor[geht], daß wir nach seiner Überzeugung den Folgen einer demographischen Überwältigung der ethnisch-deutschen Bevölkerung zugunsten einer Multikulti-Gesellschaft […] entgegensehen und alles, was uns heute noch lieb und teuer ist, in absehbarer Zeit verschwunden sein wird.« (Kolb, Raimund Th.: Persönliche Confessio. Ein Nachwort. In: Sieferle, Rolf Peter: Finis Germania. Schnellroda: Antaios 2017 (kaplaken 50), S. 100– 104. Hier: S. 102). 28 Für den französischen Schriftsteller Renaud Camus, der diesen Begriff geprägt hat, handelt es sich dabei um eine »Gegen-Kolonisation« (Camus, Renaud: Der Große Austausch oder: Die Auflösung der Völker. In: Ders.: Revolte gegen den Großen Austausch. Zusammengestellt und übersetzt von Martin Lichtmesz. Schnellroda: Antaios 2017, S. 44–136. Hier: S. 48), durch die das ›indigene‹ Volk (in seinem Fall das französische) durch »ein anderes Volk oder mehrere andere Völker« sowie dessen Kultur »durch die multikulturalistische Antikultur« (ebd., S. 95) ersetzt werde.
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auch bei Sieferle, zusätzlich antisemitisch grundiert, insofern obskure, oft als jüdisch identifizierte Mächte, wenn sie nicht im Hintergrund die Strippen zögen, zumindest vermeintliche Profiteure des Bevölkerungsaustauschs seien. 29 Die Beispiele Höcke und Sieferle verdeutlichen den Zusammenhang von Geschichtsauffassung und Sprache. Durch eine Art alternativer Zurichtung von Geschichte wird ein wesentliches Moment von Sprache bewusst ausgeklammert, nämlich der der deutschen Sprache inhärente Verweis auf das im Gesagten eingeschlossene Mit-Gesagte eines geschichtlichen Schuldverhältnisses, auf das Celan mit seinem Gedicht hinweist. Besonders perfide ist dabei, dass sowohl Höcke als auch Sieferle dies nicht durch Verschweigen tun – in einem Gespräch über Bäume in etwa –, sondern durch die bewusste Thematisierung der Shoah. Ex negativo zeigen sie damit, dass eine Entbindung der deutschen Sprache und der deutschen Geschichte von der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus offensichtlich nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Bei Sieferle fällt dies besonders auf: Er schreibt nicht einfach, dass er mit der Erinnerung an die Shoah nichts mehr zu tun haben möchte. Vielmehr reproduziert er durch seinen Rückgriff auf Versatzstücke des Antisemitismus jenes Denken, das zur Shoah geführt hat, und baut ›die Juden‹ als feindliches Gegenstück zu ›den Deutschen‹ auf. 30 Dadurch wird der Raum des Einige Beispiele erwähnt Samuel Salzborn (vgl. Salzborn, Samuel: Antisemitisches Verschwörungsdenken im Rechtsextremismus. In: Ders. (Hrsg.): Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen. Baden-Baden: Nomos 2019, S. 151–164. Hier: S. 156 ff.). Die Wahnvorstellung einer die Weltgeschicke bestimmenden, personalisierbaren Macht ist letztendlich ein wesentlicher Bestandteil antisemitischen Denkens überhaupt. Sie findet sich dementsprechend auch in dessen islamistischen und linken Artikulationen. Auch hierzu gibt Salzborn an anderer Stelle eine Übersicht (vgl. Salzborn, Samuel: Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster. Weinheim: Beltz Juventa 2020). So versuchen in etwa Teile der globalisierungskritischen Bewegung ein komplexes ökonomisches System und dessen tatsächliche Ausbeutungsstrukturen fassbar zu machen, indem sie konkrete Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen moralisch attackieren, denen sie die maßgebliche Verantwortung für die Ungerechtigkeiten zuschreiben – eine Rolle, die im antisemitischen Denken traditionell ›den Juden‹ unterstellt wird (vgl. ebd., S. 104 f.). 30 Mit Adorno lässt sich hier von einem »Schuld- und Erinnerungs-Abwehr-Antisemitismus« sprechen (Adorno, Theodor W.: Schuld und Abwehr: Eine qualitative Analyse zum ›Gruppenexperiment‹. In: Ders.: Soziologische Schriften II: Gesammelte Schriften Bd. 9.2. Hrsg. v. Susan Buck-Morss und Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1975, S. 121–324. Zitiert nach: Bergmann, Werner: ›Störenfriede der Er29
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Sagbaren auf der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Diskurses entgrenzt. Immerhin wurde Sieferles Buch aufgrund der genannten Initiative des Journalisten Johannes Saltzwedel auch weit außerhalb der neurechten Nische, in der es erschienen ist, rezipiert. Es ist besorgniserregend, wenn eine prominente Person des öffentlichen Lebens wie Rüdiger Safranski den Antisemitismus in Finis Germania nicht erkennt und das Buch verteidigt. 31 All dies bereitet den diskursiven Boden für antisemitische und rassistische Beleidigungen, Attacken, Anschläge und Morde, wie an Jom Kippur 2019 auf die Synagoge in Halle oder am 20. Februar 2020 in Hanau. Was in der vorliegenden Arbeit also untersucht werden soll, ist der Komplex von Sprache, Geschichten und Geschichte, und das darin involvierte Schuldverhältnis, womit sich die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Weltwahrnehmung stellt. Der Dialog der Gedichte von Brecht und Celan hat gezeigt, dass beides miteinander korreliert. Es gibt keine Welt, die vor der Sprache bereits da wäre – es gibt nicht den Baum als reines Objekt einer sprachlosen Wahrnehmung, dem dann im Nachhinein der Zettel mit der Bezeichnung ›Baum‹ aufgeklebt wird. 32 Vielmehr ist das Dasein immer schon in Geschichten eingebunden, aus denen heraus dann die Dinge erscheinen und deren Teil sie sind. Alles, was wahrgenommen wird, ist dann mit diesen Geschichten belegt oder sogar belastet, es ist in diese Geschichten verstrickt. 33 Deshalb kann es für Celan auch kein Gespräch geben, das die Leidensgeschichten der Opfer der Shoah nicht schon mit enthält. Dies ist dann auch die Ausgangsthese: innerung‹. Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland. In: Bogdal, KlausMichael; Holz, Klaus; Lorenz, Matthias N. (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus in Deutschland nach Auschwitz. Stuttgart: Metzler 2007, S. 13–35. Hier: S. 13), der ›die Juden‹ als ein Kollektiv sieht, »das durch seine bloße Existenz die Erinnerung an Verbrechen wach hält« (ebd.), und damit für ›die Deutschen‹, wie Sieferle sie sieht, zum Stein des ständigen Anstoßes wird (vgl. hierzu ebenso Salzborn: Kollektive Unschuld, S. 24 f., S. 74). 31 Vgl. Rüdiger Safranski im Gespräch mit Joachim Scholl bei Deutschlandfunk Kultur vom 25. 6. 2017 (aufgerufen am 21. 05. 2021): Safranski, Rüdiger: Rolf Peter Sieferle und sein »Finis Germania«. Eine »fahrlässige und hysterische« Debatte. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/rolf-peter-sieferle-und-sein-finis-germaniaeine.2162.de.html?dram:article_id=389507 (vgl. Weiß: Rolf Peter Sieferles »Finis Germania«. Der Antaios Verlag und der Antisemitismus, S. 125). 32 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 67. 33 Vgl. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt: Klostermann 2012 (KlostermannRoteReihe; 10).
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1) Dasein ist In-Geschichten-sein. Das Dasein ist in Geschichten verstrickt und ›strickt‹ von diesen Geschichten aus seine eigene Lebensgeschichte. Es ist somit nicht der ›einen‹ Weltgeschichte unterworfen, sondern bewegt sich innerhalb einer Pluralität von Geschichten. Dies soll anhand der Geschichtsphilosophie Hegels (vgl. Kap. 1.1.) sowie der Geschichten-Philosophie Wilhelm Schapps dargestellt werden (vgl. Kap. 1.2.). 2) Dasein ist dialogisch. Der Dialog ist die Voraussetzung der Aufnahme und Ausgestaltung einer Geschichte, unterbricht die Geschichte aber auch immer wieder und führt zu einer Neuausrichtung des Daseins. Die Geschichten sind dialogisch verfasst und werden im Dialog mit Anderen verändert, korrigiert und ergänzt. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann nur im Dialog mit Anderen erfolgen. Das Ich ist demnach nicht ›für sich‹ in seiner Geschichte, sondern es ist zunächst ein Du, welches angesprochen wird und sich im Verhältnis von Ich und Du seiner eigenen Geschichte öffnet und in ihr handelt. Seine Geschichte wird ihm also zunächst von Anderen eröffnet, bevor es sie selbst gestalten kann. Hierfür ist die Dialogphilosophie Martin Bubers und Franz Rosenzweigs maßgeblich (Kap. 1.3. & 1.4.). Letzter entfaltet in Der Stern der Erlösung ein dialogisches System, 34 in welchem das gesamte Sprachgeschehen als Schöpfung-Offenbarung-Erlösung geschieht und damit ebenfalls einen Geschichten-Horizont erhält. Die Offenbarung als zentraler Begriff der Philosophie Rosenzweigs macht die Vergangenheit gegenwärtig und öffnet den Weg in die Zukunft. Wir werden sehen, dass Geschichten im und mit dem Leben bewährt werden müssen, was wiederum ethische Fragestellungen aufwirft. Von Bedeutung ist hierfür der Zusammenhang, aber auch die Differenz von Geschichte und Erzählung (vgl. Kap. 1.5.). Beide Begriffe ähneln sich und werden oft synonym gebraucht. In dieser Arbeit ist von Geschichte jedoch eher dann die Rede, wenn das ›Material‹ gemeint ist, aus dem sich dann die Erzählung ergibt. Geschichte ist also eher die Story, während Erzählung eher die Ausgestaltung der Geschichte als Plot bedeutet.
Vgl. Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem. Frankfurt: Suhrkamp 1988 (Bibliothek Suhrkamp; 973).
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Mit der Gestaltung zur Erzählung werden die Geschichten in die eigene Lebensgeschichte integriert und in ihrer Wahrheit behauptet. Mit ihrer Ausformung zur Erzählung erhalten sie erst ihre orientierende und sinnstiftende Bedeutung. Es wird sich zeigen, dass Sprache immer schon zu dieser Erzählung drängt und ihr damit sowohl das Eingedenken als auch die Versöhnung inhärent sind. 35 Dies verweist bereits auf die später thematisierte Theorie der narrativen Identität Paul Ricœurs. 3) Sprache konfrontiert das Dasein mit (geschichtlicher) Schuld. Aufgrund der Inhärenz von Eingedenken und Versöhnung konfrontieren Sprache, Geschichte und Erzählung je schon mit Schuld. Dies ist keine Besonderheit der deutschen Sprache, weshalb die Ausführungen zu Sprache, Geschichte, Dialog und Erzählung Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Geschichtliche Schuld meint zunächst die Konfrontation des Daseins mit seiner Vor-Geschichte und seinen Vor-Geschichten, welche das Dasein herausfordern und denen das Dasein antworten muss. 36 Die geschichtliche Schuld, die sich aufgrund der Geschichten-Verstrickung aufdrängt, wird dann allerdings aus deutscher Perspektive betrachtet und dementsprechend angeschärft. Die Basis dafür bieten die Überlegungen von Karl Jaspers und Jean Améry (vgl. Kap. 2.1. & 2.2.). 37 Der Begriff geschichtlicher Schuld wird also durch eine historische Annäherung näher bestimmt. Mit Stephan Grätzel wird sodann die Struktur des Schuldphänomens untersucht (vgl. Kap. 2.3.1.). Schuld zeigt sich als conscientia, als Mitwissen um die gestörte Ordnung, und verpflichtet so zu Dank und Gabe. 38 Sie verlangt also eine Rechtfertigung. Schuld ist ursprünglich und allgemein eine Schuld gegenüber den Ahnen, womit sich geschichtliche und existentielle Schuld überkreuzen.
Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 26. Vgl. Grätzel, Stephan: Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Pespektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 128. 37 Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. München: Piper 1987 (SeriePiper; Bd. 698); Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Ders.: Werke Band 2. Hrsg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 11–177. 38 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 32. Sowie: Ders.: Versöhnung, S. 123, S. 201. 35 36
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4) Schuld ist Schuld gegenüber Anderen und wird weitergegeben. Individuelle wie kollektive Narrative sind von Gegen-Geschichten durchdrungen. Daraus ergibt sich ein geschichtliches Schuldverhältnis. Worauf wir mit Jaspers, Améry und Grätzel hingearbeitet haben, wird nun explizit: Das Schuldverhältnis bezeichnet immer eine Schuld gegenüber Anderen. Dieses Schuldverhältnis wird tradiert und damit geschichtlich. Es ist in diesem Sinne keine subjektive Schuld, die vom Individuum moralisch zu verantworten wäre – was freilich nicht heißt, dass die Tatsache, für die Schuld nicht selbst aufgrund einer eigenen Fehlleistung verantwortlich zu sein, von moralischen Fragestellungen suspendiert. In gesellschaftliche Narrative sind immer schon Gegen-Geschichten, die die Narrative herausfordern, eingewoben. Im deutschen Kontext sind dies vor allem die Leidensgeschichten der Opfer der Shoah, aber auch die des Kolonialismus. Bei der Analyse gesellschaftlicher Narrative stellt sich also die Frage: Wessen Erinnerung zählt (Kap. 2.3.2.1.)? 39 Eine schuld- und leidsensible Hermeneutik, die in dieser Arbeit entworfen werden soll, muss diese Gegen-Geschichten anerkennen und gegenüber den herrschenden Narrativen behaupten. Wie dies gelingen kann, zeigt eine detailliertere Entfaltung eines Konzepts des Eingedenkens, welches sich vor allem an Walter Benjamins Überlegungen orientiert (Kap. 2.3.2.2.). 40 Dieser schließt an Rosenzweig an, insofern im Eingedenken das Vergangene gegenwärtig wird, so für einen Perspektivwechsel im Blick auf die Geschichte sorgt und es ermöglicht, diese von den Opfern der Geschichte aus zu betrachten. 41 Mithilfe der Gegen-Geschichten kann dann die Geschichte »gegen den Strich« gebürstet werden. 42 Derart wird ein neuer beziehungsweise anderer Er-
Terkessidis, Mark: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg: Hoffmann und Campe 2019. 40 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften I,2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931), S. 693–704. 41 Zu einer solchen Perspektive vgl. die grundlegende Arbeit von Caroline Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte. Wien: Passagen Verlag 2004 (Passagen Philosophie). Sowie: Dies.: Über den Anspruch der Vergangenheit und das Recht auf Gegenwart. In: Schröder, Thomas; Engelmann, Jonas (Hrsg.): Vom Ende der Geschichte her. Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen. Mainz: Ventil Verlag 2017, S. 53–74. 42 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 697. 39
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zählzusammenhang eröffnet, der als kritisches Korrektiv gegenüber den herrschenden Narrativen gelten kann. Geschichtliche Schuld ist demnach grundsätzlich eine Auseinandersetzung mit dem Nicht-Selbstischen des Daseins (Kap. 2.3.3.1.). Sie verlangt eine Integration des Unabgeschlossenen der Vergangenheit, das in der Gegenwart weiterhin wirksam ist, in die eigene Geschichte. 43 Die Ansprüche der Toten üben einen Einfluss auf Gegenwart und Zukunft aus, sie sprechen gewissermaßen noch mit (in etwa in den Gegen-Geschichten). Eine Annäherung an die Schuld gegenüber den Toten kann über eine Betrachtung der Struktur des Mythos erfolgen. Letztendlich liegt jeder Erzählung eine solche mythische Struktur zugrunde. Die Struktur mythischer (oder tragischer) Schuld kann mit Ingo Gerhartz als Miasma-Ursprung-Ekstase bezeichnet werden (Kap. 2.3.3.2.). 44 Das Miasma ist die Befleckung oder die Pest, auf jeden Fall eine Verunreinigung, die mit der schuldhaften Tat in die Welt kommt, in der Welt bleibt und über Generationen weitergereicht wird. Das Miasma konfrontiert so mit dem Ursprung der Schuld, d. h. mit den Verbrechen, die ihr zugrunde liegen, deren Spur oder Zeichen das Miasma ist. Damit ist der ekstatische Bezug gesetzt, insofern der Ursprung der Schuld außerhalb des Selbst liegt. 45 Schuld als Miasma ist der Ausgangspunkt für die Betrachtung der deutschen Schuld (Kap. 2.3.4.). Deutsche Sprache und Kultur sind durch die nationalsozialistischen Verbrechen befleckt und belastet. Wie wir mit Celans Gedicht festgestellt haben, ist ein unbedarfter Umgang mit der deutschen Sprache problematisch. Die deutsche Schuld wird im Folgenden unter dem Aspekt der Erinnerungskultur untersucht (Kap. 2.3.4.1.). Hierbei wird es um die Frage gehen, welche Formen des Erinnerns überhaupt angemessen sein können und vor welche Probleme ein kollektives Erinnern stellen kann.
Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 126 ff. Sowie: Ders.: Versöhnung, S. 71 f. Vgl. Gerhartz, Ingo Werner: Tragische Schuld. Philosophische Perspektiven zur Schuldfrage in der griechischen Tragödie. Freiburg: Alber 2016 (Alber-Reihe Thesen; 66), S. 150 ff. 45 Es geht wohlgemerkt um die Struktur mythischer Schuld als Paradigma zum Umgang mit geschichtlicher Schuld, insofern dieses Paradigma der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte zugrunde liegt. Dieser Zugang darf nicht dahingehend missverstanden werden, den Ursprung der Schuld, ergo die nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere die Shoah, selbst zum Mythos zu (v)erklären! 43 44
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5) Die Anerkennung der Andersheit des Anderen ist die Grundlage jedes ethischen Verhältnisses. Die Subjektivität konstituiert sich in der Stellvertretung für den Anderen. Das, was wir in den vorhergehenden Kapiteln hermeneutisch und diskursanalytisch feststellen werden, wird im Anschluss noch einmal phänomenologisch untermauert. Hierfür betrachten wir Emmanuel Levinas’ Ethik des Antlitzes (Kap. 3.). Es wird sich zeigen, dass sich die Andersheit des Anderen phänomenologisch nicht einholen lässt. Die Offenbarung des Anderen als Antlitz konstituiert ein asymmetrisches Verhältnis zum Subjekt und eröffnet dadurch einen ethischen Horizont. Der Andere erscheint als Transzendenz oder Exteriorität, die das Subjekt in dessen Sein unterbricht und herausfordert. 46 Dies soll anhand der Sprachauffassung Levinas’ dargestellt werden. Die Herausforderung durch den Anderen führt dazu, dass der Selbe als nunmehr nicht mehr egoistisches Subjekt, sondern als zum Anderen geöffnete ethische Subjektivität absolut für den Anderen einstehen muss. Er wird somit zu dessen Stellvertreter und hat den Anderen in seiner Haut (vgl. Kap. 3.2.). 47 Diese Stellvertretung bleibt bei Levinas zunächst auf die Gegenwart beschränkt. Es ist der unmittelbar begegnende Andere, der in das Sein des Subjekts einbricht. Es finden sich allerdings in den späteren Schriften Levinas’ durchaus Ansätze, die auf einen möglichen geschichtlichen Horizont hindeuten. Es sind in erster Linie ästhetische Überlegungen, die hierfür eine Rolle spielen. Ausgehend von Levinas’ Konzept einer Obliterations-Kunst, 48 lässt sich die Stellvertretung auch auf einen Anderen übertragen, der aus dem Gedicht spricht (Kap. 3.3.). Daraus ergibt sich die nächste These: 6) Die Stellvertretung bezeugt die Abwesenheit des Anderen. Der Stellvertreter tritt für die Geschichten der Anderen ein. Der Leser wird zum Zeugen für die abgebrochenen Geschichten der Ermordeten, indem er ihre Wahrheit in seiner Wirklichkeit bezeugt und beDies ist der Grundgedanke, den Levinas in Totalität und Unendlichkeit ausführt (vgl. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg: Alber 2008 (Alber Studienausgabe). 47 Vgl. Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Alber 2011 (Alber Studienausgabe), S. 254. 48 Vgl. Levinas, Emmanuel: Die Obliteration. Gespräch mit Françoise Armengaud über das Werk von Sacha Sosno. Mit einem Vorwort von Johannes Bennke und einem Nachwort von Dieter Mersch. Zürich: Diaphanes 2018 (Reihe Denkt Kunst). 46
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währt. Auf diese Weise kann er die geschichtliche Schuld übernehmen. Die Ästhetik, die im Anschluss an Levinas formuliert wird, lässt sich als Ästhetik des Entzugs bezeichnen (Kap. 3.3.). Das ›begegnende‹ Gedicht durchbricht den Diskurs des verstehenden Logos, womit sich die herkömmlichen Bedeutungen auflösen. Dadurch wird auch der Leser seiner Subjekthaftigkeit zunächst enthoben – er steht als ›Niemand‹ dem Gedicht gegenüber und wird vom Anderen, der aus dem Gedicht spricht, beauftragt, die Abwesenheit des Anderen in der Welt zu bezeugen. Das Gedicht erhält so den Charakter einer Spur, 49 deren Urheber nicht einzuholen ist. Hieran schließen die Überlegungen zur lebendigen Metapher und zur narrativen Identität Paul Ricœurs an (Kap. 4.), welche sodann auf die Poetik und die Dichtung Paul Celans übertragen werden (Kap. 5.). Diese sind primär dialogisch orientiert. Nach der Darstellung seiner Poetik, die sich im Konzept der »Atemwende« manifestiert (Kap. 5.1.3.), 50 wenden wir uns Celans Dichtung zu. Am Beispiel zweier Gedichte wird der Prozess des Eingedenkens sowie der Neubeschreibung der Wirklichkeit durch das Gedicht beschrieben (Kap. 5.2.). Es findet eine Begegnung der Wirklichkeit des Lesers mit der Wirklichkeit des Gedichts statt. Die Subjekte der Wirklichkeit des Gedichts entziehen sich jedoch wieder. Der Leser wird sich damit der anwesenden Abwesenheit der Personen des Gedichts über das Gedicht hinaus in seiner Lebenswelt bewusst. 51 Er wird, wie bei Levinas, Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt: Suhrkamp 2016 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417), S. 82. 50 Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien. Tübinger Ausgabe. Hrsg. v. Bernhard Böschenstein und Heino Schmull. Frankfurt: Suhrkamp 1999 (Tübinger Celan-Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Wertheimer), S. 7. 51 Uta Werner spricht davon, dass einige Gedichte Celans, angeschlossen an die Kenotaph- oder Scheingrab-Tradition, »die abwesende Anwesenheit der Toten« herstellten (Werner, Uta: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik. München: Fink 1998, S. 88. Zitiert nach: Emmerich, Wolfgang: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Göttingen: Wallstein 2020, S. 338). Ein früher Beleg dieser Formulierung findet sich beim weitgehend in Vergessenheit geratenen Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg, der 1944 von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Er legt eine phänomenologische Analyse der Erfahrung des Todes vor, der für ihn vor allem der Tod des anderen Menschen als Tod des Nächsten ist (vgl. Landsberg, Paul Ludwig: Die Erfahrung des Todes. Hrsg., mit einer Einleitung und einem Nachwort versehen von Eduard Zwierlein. Berlin: Matthes & Seitz 2009, S. 33 ff.). Der Nächste bleibe als Leichnam, da er keine »geistige[…] Person« mehr sei, »abwesend in Anwesenheit.« (Ebd., S. 36) Die Gemeinschaft mit ihm, die sich als einmalige Beziehung in einem – 49
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zum Zeugen dieser Abwesenheit. Die Geschichten der abwesenden Anderen stehen dann als Gegen-Geschichten in seine Geschichte hinein. Die Gegen-Geschichten hat der Leser mitzutragen und mitzubewähren. Das Selbst des Lesers bezeugt sich als handelndes Subjekt seiner Erzählung, in die die Geschichten der (ermordeten) Anderen verwoben sind. Das Selbst bestätigt sich mit der Erzählung zugleich als zum Anderen geöffnete, ethische Subjektivität. Dies ist integraler Bestandteil eines nicht abzuschließenden Versöhnungsprozesses, der unsere Gegenwart mit der Vergangenheit, wie sie uns in den Geschichten der Ermordeten entgegentritt, verbindet. Das Gedicht eröffnet die Möglichkeit der Neubeschreibung der gegenwärtigen Wirklichkeit. Die dichterische Sprache ist ein Korrektiv zur philosophischen Rede, mit der allein Neubeschreibung und Neubedeutung nicht zu leisten sind. 52 Mit der Neubeschreibung wird eine Schuld man kann sagen: dialogischen – Wir konstituiert habe, sei zerbrochen, womit auch das überlebende Ich in seiner Personalität direkt betroffen sei (vgl. ebd., S. 40). Die Wendung »anwesend in Abwesenheit« (ebd., S. 29) oder »anwesende Abwesenheit« (ebd., S. 56) indessen verwendet Landsberg in Bezug auf den Tod selbst, nicht aber in Bezug auf die Gestorbenen. Meines Erachtens lässt sich jedoch aus der existentiellen Erschütterung, die der Tod des Nächsten bewirkt, ableiten, dass auch dieser durchaus in der Lebenswelt des ihn Überlebenden anwesend in Abwesenheit ist, nämlich dann, wenn es keinen Zugriff auf die abwesende Anwesenheit der geistigen Person über den Leichnam mehr gibt. Landsbergs Ausführungen zum vierten Buch der Konfessionen des Augustinus (vgl. ebd., S. 55 f.) möchte ich in dieser Hinsicht interpretieren: Augustinus beklagt dort den Tod seines engsten Freundes und sieht gleichsam seine gesamte Wirklichkeit von der Wahrnehmung der Abwesenheit seines geliebten Nächsten durchdrungen. Die Vorstellung, dass dieser noch in irgendeiner Weise anwesend sei, lässt sich als imaginäre Variation seiner fundamentalen Abwesenheit begreifen und als Versuch die unschließbare Lücke, die er hinterlassen hat, auszufüllen. Ich entscheide mich also dafür, von anwesender Abwesenheit zu sprechen, ein Begriff, den, neben dem bereits zitierten Achim Landwehr (vgl. Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit), auch Axel Dunker verwendet (Dunker, Axel: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München: Fink 2003). Dieser untersucht in seiner Arbeit literarische »Beispiele, in denen in den meisten Fällen die Leerstellen, die Anwesenheit des Abwesenden, einen konstruktiven Bestandteil der Werkstruktur bilden.« (Ebd., S. 31) Er weist darauf hin, dass diese Leerstellen als Ausdruck eines Traumas eine »ebenso notwendige wie unmögliche Information [repräsentieren].« (Ebd., S. 32) Die Formulierung lässt sich außerdem von Derridas Spurbegriff herleiten. Er schreibt, dass sich »in der Anwesenheit der Spur« die »irreduzible Abwesenheit« eines »anderen Hier-und-Jetzt, einer anderen transzendentalen Gegenwart, eines anderen Ursprungs der Welt« gegenwärtige (Derrida: Grammatologie, S. 82; hierzu Kap. 1.5.). 52 Um produktiv sein zu können, müssen Dichtung und »spekulative[s] Denken« der
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Einleitung
aufgenommen und übernommen, die dadurch entsteht, da zu sein, wo Andere nicht mehr sind/nicht mehr sein können. Die Versöhnung ist daher durch eine gewisse tragische Dialektik gekennzeichnet, da sie die Entfremdung von den Ermordeten und das Entgleiten ihrer Geschichten konstitutiv in sich trägt. Jede Neubeschreibung, die die Geschichten der Ermordeten in die Gegenwart einschreibt, schlägt um in eine unüberwindbare Distanz und ein Verstummen oder Verschwinden der Ermordeten, was wiederum eine erneute Neubeschreibung motiviert. Die Ungleichzeitigkeit bleibt bestehen und die Bezeugung des Selbst als handelndes Subjekt innerhalb einer Diskontinuität von Geschichte(n) muss immer wieder neu errungen werden. Die Methode der vorliegenden Arbeit, so sollte anhand der Thesenentwicklung deutlich geworden sein, orientiert sich an ihrem Gegenstand. Diese Methode ist in erster Linie der Dialogik sowie der Hermeneutik Ricœurs verpflichtet. Sie fragt also nach den Bedingungen und den Möglichkeiten von Begegnungen und ihrer Entfaltung zu Geschichten und Erzählungen. Die Überzeugung, dass wir gar nicht anders können, als das Material an Geschichten, das uns begegnet, in irgendeiner Weise in die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte aufzunehmen und zum Teil unseres Daseinsentwurfs zu machen, wird vorausgesetzt. Die Primordialität des Du oder des Anderen ist dabei ausschlaggebend. Wir stülpen ihm nicht einfachhin unseren Sinn über, sondern lassen uns durch die Perspektive, die er uns eröffnet, zum kritischen Hinterfragen unserer Verstehensweisen anregen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Sinngebung und Verständnis durch das Verschwinden des Anderen oder den Einbruch des Absurden zertrümmert werden, wie es durch die Zeugnisse von Überlebenden der Shoah geschieht. Ganz grundsätzlich gilt für jede Begegnung, sei diese unmittelbar oder vermittelt durch das Medium des Textes, dass sich der Entzug des Sinnes, aber auch der Sinnüberschuss als Konstituierung eines anderen Sinnes, der das egoistische Verständnis des Selben transzendiert, aus dem Dialog mit dem Anderen entwickeln. Mein Anspruch ist daher, nicht lediglich mit Fragen an einen Text heranzutreten, sondern mich ebenso vom Text bePhilosophie aufeinander bezogen werden (Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher. München: Fink 1986 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels; Bd. 12), S. 298). Die von der Dichtung offenbarte Wirklichkeit kann somit wiederum von der Philosophie reflektiert werden, die damit nicht selbst zur Dichtung wird, ohne diese aber unfruchtbar wäre.
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Einleitung
fragen, irritieren und herausfordern zu lassen. 53 Introspektion als wesentliches Element einer philosophischen Arbeit ist daher ebenfalls als innerer Dialog zu verstehen: Die von der Begegnung mit dem Anderen (auch und gerade in seiner anwesenden Abwesenheit) aufgeworfenen Fragen sind an das Selbst zu richten, sein Umgang damit ist wiederum in die weiteren Überlegungen mit einzubeziehen. So soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Perspektive auf die Thematik die eines nicht-jüdischen Deutschen ist. Die Auseinandersetzung mit den Gegen-Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus als Korrektiv zur familiären Überlieferung war und ist mir also auch eine ganz persönliche Angelegenheit. Das ›Familienalbum‹, in dem das Familiengedächtnis aufbewahrt ist und tradiert wird, ohne eine etwaige Verstrickung in die Verbrechen zu thematisieren (vgl. Kap. 2.3.4.), 54 ist mir aus meiner Kindheit bekannt. Diese Perspektive ist bei der Lektüre der vorliegenden Arbeit zu berücksichtigen. Die Reflexion der die deutsche Sprache und Kultur durchdringenden geschichtlichen Schuld ist zweifelsohne Sache aller, die in irgendeiner Weise mit dieser Sprache und dieser Kultur zu tun haben. Zugleich unterscheiden sich die Narrative, in die die Individuen verstrickt sind, fundamental, je nachdem, ob sie oder ihre Vorfahren zu den Tätern oder zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten. Auch jene, die ›von außen‹ in die Geschichten-Verstrickung hinein geraten, was in etwa für Nicht-Muttersprachler gilt, die die deutsche Ein Verfahren, das je nach Art des Textes variiert. Der Dialog mit einem wissenschaftlichen Text gestaltet sich anders als der Dialog mit literarischer Prosa oder Dichtung. Ebenso gibt es Texte – wie etwa derjenige Ernst Noltes in Kap. 2.3.4.3. oder die Texte Höckes und Sieferles –, denen sich der bewusste Leser entgegenstellen muss, um sie ganz eindeutig zu widerlegen. 54 Vgl. Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschugnall, Karoline: »Opa war kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 2002 (Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe. Hrsg. v. Walter H. Pehle), S. 10 f. Salzborn sieht eine »emotional[e] und symbolisch[e]« Dauerpräsenz der Täterschaft der Eltern und Großeltern im Alltag in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, »etwa in Familienfotoalben mit Wehrmachts- und SSUniformen«, ohne dass dabei die Verbrechen thematisiert worden wären (Salzborn: Kollektive Unschuld, S. 18). Die Identifikation konkreter Relikte mit den Taten persönlich bekannter Familienangehöriger (bzw. gerade deren Nicht-Identifikation, obwohl sie beispielsweise auf Fotos eindeutig als Täter markiert sind) wird für die gegenwärtigen jüngeren Generationen, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, immerhin handelt es sich in vielen Fällen bei den Tätern mittlerweile um Angehörige der Urgroßelterngeneration. Die mit den Relikten assoziierten Narrative indessen werden weiterhin tradiert. 53
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Einleitung
Sprache als Fremdsprache erlernen, werden sich mit der Schuldbehaftetheit auseinandersetzen müssen, auch ohne Verstrickung ihrer Familien. Weiterhin sind die Verfolgungssituationen der verschiedenen Opfergruppen zu unterscheiden. Antisemitismus war der zentrale Bestandteil der Ideologie des Nationalsozialismus. Jüdinnen und Juden wurden systematisch diskriminiert, verfolgt und schließlich massenhaft vernichtet – weil sie Jüdinnen und Juden waren. Dies ist der Grund, weshalb die Shoah als singuläres Verbrechen betrachtet werden muss. Zugleich gilt es, eine Hierarchisierung der Opfer zu vermeiden. Ich möchte mich daher dem Historiker Stephan Lehnstaedt anschließen, der vor der Gefahr warnt, »sich nationalsozialistische Kategorien der Entmenschlichung zu eigen zu machen.« 55 Stattdessen sollte »[d]as Opfergedenken […] die Universalität von Menschlichkeit und menschlichen Rechten betonen, die schlussendlich allen Lagerinsassen gleichermaßen aberkannt worden waren. Zugleich müssen aber differenzierte Beurteilungen anhand des historischen Kontextes erfolgen. Es geht nicht um erneute Hierarchisierungen oder Opferkonkurrenz, sondern ganz im Gegenteil darum, Gruppen ebenso wie Individuen – denen Leid aufgrund von ideologischen Zuschreibungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft widerfuhr – durch die Erzählung ihrer Geschichten und die Bewahrung ihres Andenkens gerecht zu werden.« 56
All jenen, die »aufgrund von ideologischen Zuschreibungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft« ermordet wurden, schuldet diese Mehrheitsgesellschaft auch heute noch ihre Aufmerksamkeit. Sie alle haben Leerstellen hinterlassen, die auf ihre anwesende Abwesenheit verweisen und die im Eingedenken sichtbar gemacht werden können. Die Fokussierung auf jüdische Zeugnisse und Schicksale, mit der die Besonderheit der Shoah innerhalb des geschichtlichen Schuldverhältnisses ausgedrückt wird, soll die anderen Opfer daher keinesfalls verdrängen. Der Weg, den es nun zurückzulegen gilt – in der Lektüre wie im Leben –, ist ein Weg der Bewährung. Diese vollzieht sich nicht ausschließlich am Eigenen, sondern auch gerade in Hinblick auf An-
Lehnstaedt, Stephan: Gegen eine Hierarchie der Opfer. Herausforderungen beim Erinnern an sexuelle Minderheiten. In: Ostrowska, Joanna; Talewicz-Kwiatkowska, Joanna; Van Dijk, Lutz: Erinnern in Auschwitz: auch an sexuelle Minderheiten. Berlin: Querverlag 2020, S. 31–38. Hier: S. 37. 56 Ebd. 55
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Einleitung
dere. 57 Die Ideen und Thesen dieser Arbeit waren dementsprechend weder der Beginn dieses Weges noch sind sie dessen Abschluss. Neben den unersetzlichen persönlichen Begegnungen sind es die Veröffentlichungen Stephan Grätzels, vor allem Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive und Versöhnung. Die Macht der Sprache – Ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs, auf denen diese Arbeit aufbaut und ohne die sie nicht möglich gewesen wäre. Hinzu kommen die Dissertationen von Caroline Heinrich Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte und Ingo Gerhartz Tragische Schuld. Philosophische Perspektiven zur Schuldfrage in der griechischen Tragödie, die mir wichtige Einblicke gewährt haben. 58 Der Weg der Bewährung, der Weg hin zu einer schuld- und leidsensiblen Hermeneutik, ist ein Weg, der letztendlich kein Ende finden wird und immer neue Umwege wird gehen müssen. Er ist aber sicherlich ein Weg des Bezeugens und im Anschluss an Emmanuel Levinas (Kap. 3.3.2.) und Paul Ricœur (Kap. 4.3.3.) ließe er sich auch als Weg hin zu einer Hermeneutik der Zeugenschaft bezeichnen. Leserinnen und Leser sind nun eingeladen, diesen Weg mitzugehen.
Wie es Rosenzweig gegen Ende von Der Stern der Erlösung für die Wahrheit von Judentum und Christentum formuliert (vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 438 f.). 58 Diese Arbeiten sind oben bereits zitiert. 57
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1. Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
Der titelgebende Komplex dieser Arbeit, der Zusammenhang von Sprache, Schuld und Geschichte(n), wurde in der obigen Einleitung skizziert. Bereits die grammatische Ebene der Sprache und des Sprechens greift auf Strukturen des Eingedenkens und der Versöhnung zurück, wie sich mit Rosenzweig zeigen wird. Diese sind wiederum die Fundamente des Erscheinens und Ausgestaltens von Geschichte in der Erzählung. Wenn wir uns nun, gewissermaßen in umgekehrter Reihenfolge, bestimmten Auffassungen von Geschichte und Geschichten zuwenden, und von dort aus zur dialogischen Verfasstheit der Sprache vordringen, hat dies methodische Gründe. Zum einen ist die im engeren Sinn dialogisch-grammatische Ebene für die Auseinandersetzung mit Hegel und Schapp von untergeordneter Bedeutung. Sie zeigt sich sogar eher in Abgrenzung dazu. Zum anderen baut Rosenzweigs Entwurf auf Hegels Philosophie bzw. der Kritik an dieser auf. Eine Philosophie der Geschichte(n), wie ich sie in dieser Arbeit darstellen möchte, betont die Pluralität von Geschichten, aus der heraus sich so etwas wie Geschichte als paradigmatischer Zugriff auf Vergangenes überhaupt erst ergibt. Sie steht damit im Gegensatz zu einer an Hegel orientierten Geschichtsphilosophie. Diese versucht, so führt Paul Ricœur aus, orientiert an der »Idee der Freiheit« »der Geschichte eine Einheit zu geben« und sie damit als »Weltgeschichte« zu begreifen und zu überblicken. 1 Eine solche Geschichte erscheint als linearer Prozess der sich fortentwickelnden Verwirklichung der Freiheit. In diesem Prozess fallen Vernunft und Wirklichkeit zusammen, was sich in der einfachen Gleichung ausdrückt: »Was ist, ist vernünftig – und was vernünftig ist, ist.« 2 Was hierbei aber zwangsläufig verVgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. München: Fink 1991 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels; Bd. 18/III), S. 313. 2 Ebd., S. 315. Ricœur nimmt hier Hegels Formel aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts auf (vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammel1
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
harmlost oder übersehen wird, ist das Leiden derjenigen, die die Kosten für die vermeintliche Verwirklichung der Freiheit in der Geschichte zu tragen haben. Dieses Leiden wird, wenn es überhaupt der Betrachtung wert erscheint, durch den vermeintlichen Fortschritt legitimiert. Die Problematik einer solchen Geschichtsauffassung ist, dass die Leidenden nur noch in Hinblick auf einen eventuell später stattfindenden Sieg betrachtet werden, aber nicht länger als Personen mit individueller Geschichte. 3 Die Erkenntnis des Philosophen, dass die Weltgeschichte vernünftig verlaufe, berücksichtigt das Leiden und Sterben des Einzelnen nicht. Bereits Franz Rosenzweig formuliert ganz zu Beginn von Der Stern der Erlösung eine Kritik an der Verdrängung des Todes des Einzelnen. Die (in der Tradition Hegels stehende idealistische) Philosophie vermesse sich, »dem Tod seinen Giftstachel« 4 zu nehmen. Dies tue sie, indem sie ein All konstruiere, das schlichtweg alles in sich aufnehme und keinen Platz für das Besondere, d. h. für den einzelnen Menschen und seine Todesangst lasse. 5 Dieses All können wir vorläufig, bezogen auf die Geschichtsphilosophie Hegels, mit der Einheit der Weltgeschichte identifizieren. Das Einzelne ist irrelevant, der Tod ist Nichts, weil das All selbst nicht sterben kann, 6 bzw. die Weltgeschichte vom Tod des Einzelnen unberührt bleibt. Dies widerspricht jedoch fundamental der menschlichen Erfahrung. Denn der individuelle Mensch kennt kein All, das seinen Tod zu einem irrelevanten Nichts machte. Für ihn ist der Tod ein Etwas, das hineinragt in sein Leben. 7 Mit seiner »nicht aus der Welt zu bannende[n] Wirklichkeit […], die sich in dem nicht zu schweigenden Schrei seiner Opfer verkündet«, macht der Tod »den Grundgedanken der Philosophie, den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist.« 8 Übertragen auf die Vorstellung einer einheitlichen Weltgeschichte heißt das, dass sie ten Werken Band 14. Hrsg. v. Klaus Grotsch. Hamburg: Meiner 2017 (Philosophische Bibliothek; Bd. 700), S. 18). 3 Eine Ausnahme mögen die sogenannten »welthistorischen Individuen« sein, durch deren Streben sich die Idee der Freiheit realisiere (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Bd. 12. Frankfurt: Suhrkamp 2019 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 612), S. 45 ff.; vgl. hierzu Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 319 sowie Kap. 1.1. dieser Arbeit). 4 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 3. 5 Vgl. ebd., S. 4. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. ebd., S. 5. 8 Ebd.
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
angesichts des Todes des Einzelnen nicht als vernünftig verlaufende erkannt werden kann. Tod und Leiden der Menschen stehen der Annahme einer Vernunft, die den Gang der Geschichte durchwirkt und bewirkt, entgegen. Das All ist für den Menschen, der mit dem Tod konfrontiert ist, zerschlagen. Er erfährt, dass er nicht einfach nur ein dem All oder der Geschichte untergeordneter ist, keine »quantité négligeable«, sondern »Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein […].« 9 Erfährt sich der Mensch derart als Eigenwesen, so treten ihm zwei andere Elemente aus dem nun zerschlagenen Einen All der idealistischen Philosophie entgegen: die Welt 10 und Gott. 11 Wie dieser Prozess und das Verhältnis der Elemente zueinander geschehen, wird noch Gegenstand der Untersuchung sein (Kap. 1.4.). Wichtig ist vorerst, dass das Zueinander von Mensch, Welt und Gott ein Verhältnis ist, das der Erzählung bedarf, und zwar der Erzählung desjenigen Menschen, der unmittelbar in dieses Verhältnis involviert ist. Rosenzweig hat seine Philosophie entsprechend als »erzählende Philosophie« bezeichnet. 12 Der je einzigartige Mensch und mit ihm die beiden anderen Elemente werden durch sie in ihr Recht gesetzt. Das All lässt sich nicht als ewiges und eines erkennen. Wahrheit muss als Geschehen zwischen den Elementen in der Erzählung immer wieder errungen werden. Mithin gibt es keine letzte oder äußere Instanz, keinen Weltgeist, der eine allgemeine Wahrheit als Geschichtstotalität, die sich als vernünftige zeigt, vermitteln könnte. Die Elemente bleiben in ihrer Dreiheit bestehen. Das Geschehen zwischen ihnen ist sprachlich und entfaltet mit der Sprache die dem Menschen wahrnehmbare Zeit. 13 Zeit und Sprache korrelieren also miteinander. Im Sprechen miteinander oder über die Welt zeigt sich bereits ein Erzähl- und damit auch ein Zeithorizont. 14 Zeit wird sprachlich erfahEbd., S. 10. Vgl. ebd., S. 12 ff. 11 Vgl. ebd., S. 16 ff. 12 Rosenzweig, Franz: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹ (1925). In: Ders.: Mein Ich entsteht im Du. Ausgewählte Texte zu Sprache, Dialog und Übersetzung. Freiburg: Alber 2013 (dia-logik Band 5. Hrsg. v. Karl-Heinz Brodbeck; Stephan Grätzel; Bernd Schuppener), S. 96–120. Hier: S. 105 f. 13 Vgl. ebd., S. 106 ff. 14 Stephan Grätzel bezeichnet die zu unterscheidenden Formen des Sprechens als trinitarisches Sprechen und orientiert sich dabei an Rosenzweigs Ansatz. Die drei Elemente werden in unterschiedlicher Weise performativ angesprochen: Wir sprechen zu (im Verhältnis zu Gott), mit (im Verhältnis zu den Menschen) oder über (im 9
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ren. Das Vergangene wird erzählt und damit in ein Verhältnis zur Gegenwart gebracht, womit beide auf die Zukunft hin verpflichtet werden, da die Erzählung weiterhin wirksam bleibt. 15 Die drei Zeitebenen bedingen sich also gegenseitig, ohne dass sie sich dabei aufheben oder zu einer unterschiedslosen ewigen Gegenwart verschmelzen würden. 16 Das Vergangene kann in der Gegenwart aufgerufen werden, ohne dass es zu einer Vorform des Gegenwärtigen degradiert wird. Es wirkt weiter in der Gegenwart und kann diese verändern, ebenso wie das Gegenwärtige verändernd auf das Vergangene einwirken kann, je nachdem, welche Perspektiven (ergo Geschichten) aufgenommen und (weiter-)erzählt werden. Auch der Blick auf die Zukunft ergibt sich aus dieser Dynamik und wirkt damit wiederum auf die Gegenwart ein. So können Erwartungen und Hoffnungen, die auf die Zukunft bezogen sind, die Wahrnehmung der Gegenwart und das Handeln in ihr beeinflussen und auch die Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen. Der Mensch bewegt sich also in der aus Geschichten bestehenden Geschichte und kann diese gestalten, er ist nicht nur ihr passives Objekt. Geschichte ist die »Zeit, die durch den Menschen geschieht,« 17 wie Bernhard Casper mit Hinweis auf einen frühen Brief Rosenzweigs bemerkt. Dort begreift Rosenzweig
Verhältnis zur sachlichen Welt) jemanden oder etwas. Dabei realisieren sich die verschiedenen Zeitebenen: Sprechen-zu und Sprechen-mit finden in der Gegenwart statt, über jemanden oder etwas sprechen in der Vergangenheit (vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 139). Es ist allerdings festzuhalten, dass auch das gegenwärtige Sprechen immer wieder Brücken zum Vergangenen und zum Zukünftigen schlägt, wenn in etwa im Gespräch mit jemandem über etwas Drittes geredet wird, welches wiederum Auswirkungen auf die gegenwärtige Gesprächssituation haben kann (wenn in etwa gemeinsame Erinnerungen aufgerufen werden). 15 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 217: »Die Erzählung bildet also eine Zeitbrücke zwischen den Zeiten und schafft damit eine Grundlage für den Sinnzusammenhang.« Dies ist bei der literarischen Erzählung augenfällig, gilt aber ebenso für eine einfache Verabredung, die in der Gegenwart auf etwas Vergangenes Bezug nimmt und einen Weg in die Zukunft eröffnet (hierzu Kap. 1.5). Rosenzweig bestimmt das Geschehen zwischen Gott, Welt und Mensch als Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, wobei die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft involviert sind, insofern mit der Offenbarung das Vergangene der Schöpfung in der Gegenwart erneuert und auf die Erlösung als zukünftigen Horizont bezogen wird (Kap. 1.4.3). 16 So wie bei Hegel (vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 105. Zur Kritik: Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 327 ff.). 17 Casper, Bernhard: Zeit – Erfahrung – Erlösung. In: Ders.: Religion der Erfahrung. Einführungen in das Denken Franz Rosenzweigs. Paderborn: Schöningh 2004 (Studien zu Judentum und Christentum. Hrsg. v. Josef Wohlmuth), S. 13–25. Hier: S. 15.
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
Geschichte »als Tat des Täters«, 18 die von diesem verantwortet werden muss. 19 Geschichte ist das, was der Mensch an der Welt und an seinen Mitmenschen tut beziehungsweise erleidet. Sie ist nicht schon im Vorfeld von Gott (oder der Vernunft) gerechtfertigt, eben weil Gott, wie Mensch und Welt, lediglich ein Teil des Geschehens selbst ist. 20 Geschichte als Tat des Täters anzunehmen impliziert, sich der Wirksamkeit dieser Tat auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewusst zu sein, auch wenn die Wirkungen selbst nicht überblickt werden. Würde man nur das als Geschichte auffassen, was eine eindeutig bestimmbare Auswirkung auf die Gegenwart zeigt, würde das Leiden jener, die nicht als epochale Subjekte der Geschichte in den Annalen verzeichnet sind, untergehen. Geschichte würde zu einer kausalen Verkettung im Schema von Ursache und Wirkung. Das Bewusstsein von Geschichte als Tat des Täters hat daher selbst schon Auswirkungen auf den Zugriff auf Geschichte. Ein solches Bewusstsein lässt kein Geschichtsbild mehr zu, das durch eine abgeschlossene Theorie einholbar wäre. 21 Vielmehr ist Geschichte ein Verhältnis des Gegenwärtigen zum Vergangenen. In diesem Sinne baut eine gegenwärtige Tat eine diachrone Verbindung zu den Taten der Vergangenheit auf. D. h. wir können heute bestimmen, welche Perspektive wir auf Vergangenes einnehmen und damit dazu beitragen, dass marginalisierte oder vergessene Stimmen nicht im Geschichtsverlauf untergehen, sondern auch heute noch ihre Ansprüchen geltend machen können. Dies ist das Kernanliegen von Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte. »Die Vergangenheit«, heißt es dort, »führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung
Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg vom 26. 09. 1910 (In: Rosenzweig, Franz: Briefe. Unter Mitwirkung von Ernst Simon. Ausgewählt und herausgegeben von Edith Rosenzweig. Berlin: Schocken 1935, S. 55). 19 Vgl. Casper: Zeit – Erfahrung – Erlösung, S. 15. 20 »Wir sehen Gott in jedem ethischen Geschehen, aber nicht in dem fertigen Ganzen, in der Geschichte; – denn wozu brauchten wir einen Gott, wenn die Geschichte göttlich wäre, wenn alle Tat, in dieses Becken fließend, ohne weiteres göttlich, gerechtfertigt würde. Nein, jede Tat wird sündig, wenn sie in die Geschichte tritt (der Täter wollte nicht, was wurde) […].« (Brief an Hans Ehrenberg: In: Rosenzweig: Briefe, S. 55). In Der Stern der Erlösung legt Rosenzweig dar, dass die drei Elemente zusammenwirken müssen, damit Erlösung geschehen kann. 21 Vgl. ebd. Sowie: Casper: Zeit – Erfahrung – Erlösung, S. 15. Und: Ders.: Offenbarung in Franz Rosenzweigs »erfahrendem Denken.« In: Ders.: Religion der Erfahrung, S. 117–129. Hier: S. 118. 18
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verwiesen wird.« 22 Diesen »heimlichen Index« gilt es in der Betrachtung der Vergangenheit aufzuhellen. Er ist vernehmbar »in den Stimmen, denen wir unser Ohr schenken,« als »ein Echo von nun verstummten […].« 23 Durch dieses Echo der verstummten Stimmen erhebt die »Vergangenheit Anspruch« auf eine »schwache messianische Kraft«, die »jedem Geschlecht […] mitgegeben« ist. 24 Das bedeutet, dass die Verstummten, die Vergessenen, die ungehörten Opfer der Geschichte einen Anspruch darauf haben, in der Gegenwart gehört und in die Zukunft mitgenommen zu werden. Erlösung kann nur geschehen, wenn die Geschichten der Opfer vollständig dem Vergessen entrissen sind, denn »nichts was sich jemals ereignet hat, [ist] für die Geschichte verloren zu geben […].« 25 Dies ist freilich unmöglich, denn »erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.« 26 Doch ist das Aufmerken und Sammeln von Geschichten der Vergessenen als eschatologischer Auftrag an den Menschen zu verstehen, seinen Teil am Erlösungsgeschehen beizutragen. Siegfried Kracauer greift diesen Gedanken in seinem »theological argument« auf, demnach der Sinn von Geschichte nur gerettet werden könne, wenn auch die »smallest facts« vollkommen versammelt würden. 27 Dementsprechend wird der letztgültige Sinn von Geschichte durch diejenigen, die nur in ihrer Abwesenheit versammelt werden können, immer wieder aufgeschoben. Dieser Aufschub von Sinn durchbricht abermals die Vorstellung einer übergeordneten Weltgeschichte. Er bedingt aber auch auf individueller Ebene ein Einhalten und Neujustieren der Erzählung der Lebensgeschichte. Der Einbruch der Vergangenheit, durch den der Sinn aufgeschoben wird, ist für Benjamin ein bildhaftes vorbei Huschen, ein Aufblitzen. 28 Dies hat allerdings nichts mit jenem statischen Geschichtsbild zu tun, das durch eine Theorie bereits präformiert ist, wie es auch Rosenzweig kritisiert, und das Benjamin dem Historismus zuschreibt. 29 Vergangenheit, die als Bild erscheint, Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 693. Ebd. 24 Ebd., S. 694. 25 Ebd., S. 694. 26 Ebd. 27 Kracauer, Siegfried: History. The Last Things Before the Last. Princeton: Markus Wiener Publishers 1995, S. 136. 28 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 695. 29 Vgl. ebd., S. 695, S. 702. 22 23
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meint, dass sie im Moment ihres Aufblitzens aus dem Geschichtsoder auch Erzählverlauf, aus dem »Kontinuum der Geschichte« 30 herausgesprengt wird. Das, was als Vergangenes in der Gegenwart begegnet, ist zunächst Fragment und noch keine ausgeformte Erzählung, auch wenn es wieder in eine solche eingeht. Benjamin spricht davon, dass dieses Bild gerettet werden muss, 31 d. h. der Betrachter muss sich jener Elemente des Vergangenen bemächtigen und sie in die Gegenwart tragen, die einem kontinuierlichen Geschichtsverlauf entgegen stehen – die Brüche und Diskontinuitäten der Geschichte also – und die deshalb in der Überlieferung, so diese als Herrschaftsgeschichte verstanden wird, übergangen werden. 32 Die Aufgabe des materialistischen Historikers (im Unterschied zum Historiker des Historismus) ist es also, den Geschichtsverlauf einer »Destruktion« auszusetzen, 33 um sodann ein Verhältnis zum Vergessenen, zur »unterdrückte[n] Vergangenheit« 34 einzugehen, welches Benjamin als »Konstruktion« bestimmt, 35 die im Gegensatz zur »Rekonstruktion« 36 oder zur »Einfühlung« 37 des Historismus die unmittelbare Gegenwart der Beziehung zur Vergangenheit betont. Entgegen der von Benjamin geäußerten Skepsis gegen einen narrativen Zugang zur Vergangenheit, 38 möchte ich – in Anlehnung an Rosenzweig und das bereits Ausgeführte – am Begriff der Erzählung als Mittel der »Konstruktion« festhalten (hierzu Kap. 1.5.), wobei zu beachten ist Ebd., S. 701. Vgl. Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V,1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 935), S. 592 [Frgm. N 9,7]. 32 Vgl. ebd., S. 592 [Frgm. N 9 a, 5.]. 33 Ebd., S. 587 [Frgm. N 7, 6]. 34 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703. 35 Ebd., S. 701. Sowie: Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 587 [Frgm. N 7, 6]. 36 Ebd. 37 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 696. 38 Benjamin schreibt, der historische Materialismus müsse »das epische Element der Geschichte preisgeben.« (Benjamin: Passagen-Werk, S. 592 [Frgm. N 9 a, 6]) Denn dieses Element korreliert für ihn mit der Kontinuität der Geschichte, die es aufzusprengen gilt. Deshalb weist er als zweiten Satz der »Elementarlehre des historischen Materialismus« (ebd., S. 595 [Frgm. N 11, 4]) aus, dass Geschichte in Bilder zerfalle und nicht in Geschichten (vgl. ebd., S. 596). Denn Geschichten, so ließe sich folgern, historisieren das Vergangene und heben dessen Wirksamkeit in der Gegenwart auf. Dies entspricht gerade nicht dem Geschichten- und Erzählungsbegriff dieser Arbeit, der von der Wirksamkeit des Vergangenen in der Gegenwart durch die Materialisation in der Erzählung ausgeht (hierzu Kap. 1.5). 30 31
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(was bereits deutlich geworden sein sollte), dass die Erzählung anhebt von den Elementen, die sich ihr immer wieder entziehen und sie in Frage stellen. Diese Elemente zuzulassen und sie aufzunehmen macht den Zugriff auf Geschichte zum solidarischen Engagement für die Toten, Ermordeten und Vergessenen. Die Verortung im ›Hier und Jetzt‹ wird verändert, indem der Anspruch der Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft ernst genommen wird. Dieses – man kann sagen: fluide – Verständnis von Geschichte als Geschichten ist die epistemologische Grundlage dieser Arbeit. Damit ist keineswegs ein erkenntnistheoretischer (oder gar ethischer) Relativismus impliziert. Vielmehr ist die Ausrichtung an den Leidensgeschichten ein Korrektiv, das davor bewahrt, Geschichte als gleich-gültige zu betrachten bzw. ins Ideologische oder Reaktionäre (wie Höcke und Sieferle) abzugleiten. Die Erzählung der eigenen, aber vom Anderen beeinflussten und vor ihm bezeugten Geschichte kann so durchaus ein festes ethisches Fundament bilden, das sich allerdings immer wieder irritieren und befragen lassen muss. Ein narratives Bewusstsein tritt mit Alterität und Differenz in Beziehung, aus denen heraus es seine Identität entwickelt. Dies möchte ich im Folgenden, ausgehend von Hegel und dem bereits angeschnittenen Komplex, an den Überlegungen von Schapp, Buber, Rosenzweig und (ferner) Benjamin weiterentwickeln. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, Hegel zu widerlegen. Ich möchte lediglich die bereits skizzierte Problematik ausführen und um ein narratives wie dialogisches Moment erweitern. 39
1.1. Hegel: Geschichte der Herrschaft und Herrschaft der Geschichte Nach Hegel lässt sich die gegenwärtige Wirklichkeit als Resultat eines als vernünftig erscheinenden Geschichtsverlaufs erst von einem Standpunkt aus erkennen, der selbst schon die Verwirklichung geschichtlicher Möglichkeiten ist, sprich, der die Geschichte als abgeschlossenes Faktum umfasst. 40 Die Geschichte erscheint aus dieser Zum Zusammenhang von Dialektik und Dialogik vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 46 ff., insbesondere S. 51. 40 Hegel begreift seine Überlegungen als »ein Resultat, das mir bekannt ist, weil ich bereits das Ganze kenne. Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen […].« (Hegel: Vorlesungen über die Phi39
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Hegel: Geschichte der Herrschaft und Herrschaft der Geschichte
Perspektive als »Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist,« 41 das sich auf jeder Stufe mehr und mehr realisiert. Dieses zugrundeliegende Prinzip ist die Vernunft, die »ihre eigene Voraussetzung« und in ihrem »Zweck der absolute Endzweck ist« sowie zugleich »dessen Betätigung und Hervorbringung aus dem Inneren in die Erscheinung nicht nur des natürlichen Universums, sondern auch des geistigen – in der Weltgeschichte.« 42 Die Vernunft ist also nicht lediglich die Kraft, die das Hervortreten der Freiheit bewirkt, sondern ebenso die Voraussetzung dafür, dass diese Wirkung überhaupt geschehen kann. Sie ist Anlage, tätiger Vollzug und Ergebnis, Potential, Aktualität und Telos. Sie ist in allem bereits keimhaft und in sich vollkommen angelegt, aber – in der retrospektiven Betrachtung des Philosophen – noch nicht in ihrer Vollkommenheit in die Wirklichkeit getreten. Damit sie dies kann, d. h. damit Weltgeschichte geschehen kann, muss sich der Geist quasi als Subjekt der Vernunft ihrer bemächtigen, sie erkennen und zum Vorschein bringen. Auf der Ebene des menschlichen Bewusstseins geschieht dies im Denken. Der Mensch erkennt in der Vernunfttätigkeit die »ursprüngliche Identität des Ich im Denken.« 43 Er ist bei sich selbst, er entwickelt ein Selbstbewusstsein und mit diesem eine zumindest »abstrakte Freiheit […].« 44 Die Freiheit ist abstrakt, weil die Erkenntnis des Selbst als denkendes Bewusstsein nicht bedeutet, auch äußerlich frei zu sein. Das Selbstbewusstsein erfährt sich als seine Freiheit als »reine Idealität […]« und damit »ohne Realität«, 45 d. h. ohne eine äußere Entsprechung. Dies ist der erste Schritt zur Realisierung der Freiheit im Subjektiven, »denn der Geist weiß sich selbst, er ist das Beurteilen seiner eigenen Natur, und er ist zugleich die Tätigkeit, zu sich zu kommen und so sich hervorzubringen, sich zu
losophie der Geschichte, S. 22). Später schreibt er: »Der philosophischen Betrachtung ist es nur angemessen und würdig, die Geschichte da aufzunehmen, wo die Vernünftigkeit in weltliche Existenz zu treten beginnt, nicht wo sie noch erst eine Möglichkeit nur an sich ist, sondern wo ein Zustand vorhanden ist, in dem sie in Bewußtsein, Willen und Tat auftritt.« (Ebd., S. 81). 41 Ebd., S. 77. 42 Ebd., S. 21. 43 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Hrsg. v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg: Meiner 2011 (Philosophische Bibliothek; Bd. 33), S. 70. 44 Ebd., S. 349. 45 Ebd.
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dem zu machen, was er an sich ist.« 46 Hegel beschreibt hier den dialektischen Prozess des Denkens. Das Bewusstsein erkennt sich als Selbstbewusstsein und damit seine Freiheit schrittweise. Die abstrakte Freiheit des Selbstbewusstseins wird durch ein (äußeres) Objekt eingeschränkt und versucht es in der Negation aufzuheben. Dabei erscheint das Objekt als »subjektiv gesetzt«, die Subjektivität des Selbstbewusstseins aber »entäußert« sich und wird »objektiv«. 47 So kann sich das Selbstbewusstsein sozusagen im Äußeren erkennen und sich an diesem Äußeren befriedigen, dieses also seinem (egoistischen) Zweck nach benutzen und es aufzehren. 48 Die Dialektik führt schließlich zur Anerkennung des Anderen und zur Einheit des Begriffs und der Realität, 49 ergo zur Erkenntnis der Allgemeinheit als Realisierung der Freiheit. Die Weltgeschichte ist nun die überindividuelle Darstellung dieses Erkenntnis- und Freiheitsprozesses des Geistes, »die Darstellung des Geistes […], wie er sich das Wissen, was er an sich ist, erarbeitet […].« 50 Ergo: Wie er den »Endzweck der Welt« als Bewusstsein und »Wirklichkeit seiner Freiheit« 51 verwirklicht. Die Geschichte ist, wie das subjektive Denken, vom Fortschritt des Besonderen oder Bestimmten zum Allgemeinen gekennzeichnet. Der Geist realisiert sich in ihr als bestimmter »Volksgeist«. 52 Dieser sogenannte Volksgeist ist deshalb bestimmt und (noch) nicht allgemein, so Hegels schematische und heute als kulturalistisch aufzufassende Kategorisierung, weil sich die Freiheit nicht vollständig in ihm realisiert habe. 53 Der jeweils herrschende Volksgeist ist somit eine Ausformung des »Weltgeistes«, in der dieser nur teilweise zu sich gekommen ist. 54 Dessen in der Geschichte wirkende »Werkzeuge« seien herausragende Einzelne, 55 die sogenannten »welthisHegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 30 f. Hegel: Enzyklopädie, S. 350. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd., S. 353 f. 50 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 31. 51 Ebd., S. 32. 52 Vgl. ebd., S. 73; ebenso: Hegel: Enzyklopädie, S. 426. 53 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 32. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sind dementsprechend aufgeteilt in die orientalische Welt, die griechische Welt, die römische Welt und schließlich die germanische Welt, der er die höchste Verwirklichung der Idee der Freiheit zuspricht. 54 Der »Weltgeist« ist die letzte Entwicklungsstufe des Geistes in seiner Vollkommenheit (vgl. Hegel: Enzyklopädie, S. 426). 55 Ebd., S. 430. 46 47
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torischen Individuen«, 56 die den Willen des Weltgeistes in ihrem Tun verwirklichten und ein Werk hervor brächten, das ihr eigenes zu sein scheine, jedoch ein weiterer Schritt hin zur Herausbildung des Weltgeistes sei, was die welthistorischen Individuen jedoch selbst nicht hätten wissen können, da sie aus ihrer unvollkommenen Perspektive noch keinen Überblick über die Weltgeschichte gehabt hätten. 57 Sei ihr Werk zur Realisierung der Freiheit getan, vollende sich das Schicksal dieser »Geschäftsführer des Weltgeistes« 58 in ihrem Untergang. Hegel nennt hier Alexander, Cäsar und Napoleon. 59 Die Verwirklichung der Freiheit im Zu-sich-Kommen des Geistes als Weltgeist geschieht also im Kampf, 60 in Eroberung, Niederlage und Untergang, das heißt dialektisch in der fortschreitenden Aufnahme des Besonderen in das Allgemeine. Das subjektive Streben des welthistorischen Individuums (und des Volkes, das ihm in die Auseinandersetzung folgt) objektiviert sich im Resultat seines Kampfes mit jenen Volksgeistern, die es zu überwinden gilt, welche also eine alte Ordnung repräsentieren. 61 Im geschichtlichen Kampf werde nun ausschließlich das Besondere auf der Subjektseite »zugrunde gerichtet«, die allgemeine Idee selbst allerdings halte sich »unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund.« 62 Dies sei »die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben.
Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 45. Vgl. ebd., S. 45 f. 58 Ebd., S. 46. 59 Vgl. ebd., S. 47. 60 Wie es nach Hegel für das intersubjektive Verhältnis im »Kampf des Anerkennens« überhaupt der Fall sei (vgl. Hegel: Enzyklopädie, S. 351 f.). 61 In der Enzyklopädie heißt es dazu: »Das Selbstbewußtsein eines besondern Volks ist Träger der diesmaligen Entwicklungsstufe des allgemeinen Geistes in seinem Dasein und die objektive Wirklichkeit, in welche er seinen Willen legt. Gegen diesen absoluten Willen ist der Wille der andern besondern Volksgeister rechtlos, jenes Volk ist das weltbeherrschende; ebenso aber schreitet er über sein jedesmaliges Eigentum als über eine besondere Stufe hinaus und übergibt es dann seinem Zufall und Gericht.« (Hegel: Enzyklopädie, S. 430) Hier zeigt sich in nuce, dass die einzelnen Volksgeister für Hegel lediglich Spielsteine auf dem großen Brett der Weltgeschichte darstellen, die mit ihrem Untergang zur Verwirklichung der Idee der Freiheit beitragen. 62 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 49. 56 57
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Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.« 63
Die Idee hält sich unbeschädigt durch, ganz egal, was auf den Schlachtfeldern der Geschichte geschieht. Die Geschichte entscheidet also mit dem Ausgang des Kampfes, was negiert und was affirmiert wird. Durch die Negation der individuellen Bestrebungen verwirklicht sich das Allgemeine, also der Weltgeist, ein Stückchen mehr. Die vom Kampf hervorgebrachten Resultate involvieren wiederum die Subjektseite im Bewusstsein der Einzelnen, die das objektive Allgemeine in ihr Besonderes und Bestimmtes wiederaufnehmen, welches im weiteren Verlauf der Geschichte wieder »zugrunde gerichtet« wird. Der Prozess der Objektivierung entwickelt sich weiter, insofern der »subjektive[…] Zweck durch die Vermittlung der Tätigkeit und eines Mittels in die Objektivität« 64 übersetzt wird. Die hier genannte Tätigkeit ist die Tätigkeit des Willens. Ohne die Konzeption des Willens en detail darzulegen, die Hegel in den Paragraphen § 4–§ 33 der Grundlinien der Philosophie des Rechts vornimmt, 65 lässt sich festhalten, dass der Wille auf der Subjektseite des Bewusstseins die formale (man kann auch sagen: angewandte) Entsprechung des bereits objektiven, das heißt in der äußeren Wirklichkeit vorfindbaren Geistes ist, und somit den Widerspruch zwischen Subjektivität (das individuelle Streben) und Objektivität (das äußere System) aufhebt. 66 Grob vereinfacht heißt das, dass dem Bewusstsein die objektive Seite des Geistes als abstraktes Recht erscheint, auf dem sich, als reflektierter Wille wieder ins Subjektive hineingenommen, die Moralität gründet, welche als individuelle, aber dennoch am Allgemeinen teilhabende, die Sittlichkeit als höchste Objektivierung beeinflusst. 67 Die Ebd. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band 14. Hrsg. v. Klaus Grotsch. Hamburg: Meiner 2017 (Philosophische Bibliothek; Bd. 700), S. 42. 65 Vgl. ebd., S. 37–59. 66 Vgl. ebd., S. 54. 67 Vgl. hierzu Hegels Einteilung der Sphären des objektiven Geistes (ebd., S. 58 f.): A) Abstraktes oder formelles Recht; B) Moralität; C) Sittlichkeit. Das abstrakte Recht umfasst jene Rechtsgüter, die sich durch den freien Willen selbst ergeben: Die Rechtsfähigkeit des Individuums als Person inklusive der Anerkennung des Anderen als ebensolche Person (vgl. ebd., S. 62); das Eigentum sowie die Möglichkeit, einen Vertrag mit Anderen zu schließen (vgl. ebd., S. 63); als Resultat die Möglichkeit von Unrecht und Verbrechen und deren Verfolgung (vgl. ebd., S. 64). Moralität ist die »Reflexion des Willens in sich«, womit sich »die Person zum Subjekte [bestimmt].« 63 64
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Synthesetätigkeit des Willens führt schließlich zur Herausbildung bzw. Weiterbildung des Staates, der »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« 68 ist. Im Staat und in seinen Institutionen hat sich der Wille vollkommen ins Äußere gebracht: »Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens […] das an und für sich Vernünftige.« 69 Die Idee der Freiheit ist im Staat allgemein und erkennbar geworden. Somit ist der Staat der Garant für die Freiheit des Einzelnen. 70 Der Geist realisiert sich also durch die Vermittlung der welthistorischen Individuen als Staat. Dass es dabei im Lauf der Geschichte zur Ablösung unterschiedlicher Staatengebilde (in etwa durch Revolutionen) kommt, ist nicht als Diskontinuität zu betrachten, sondern, analog zum schicksalhaften Untergang der welthistorischen Individuen, als die Bestätigung des kontinuierlichen Zu-sich-Kommen des Geistes. 71 Denn das Alte, das überwunden zu sein scheint, wird in seiner Negation aufgenommen und zu etwas Neuem, das nicht bloß der positive Gegensatz zum Alten ist, sondern in der dialektischen Aufhebung eine nähere Bestimmung des Geistes selbst. Retrospektiv ist also auch das Überwundene gerechtfertigt. Die Vorstellung einer diskontinuierlichen Geschichte, die kein Ausdruck der Selbstwerdung des Geistes ist, muss dieser Deutung notwendig fremd erscheinen – zumindest aus der ›großen‹ und ›totalen‹ Perspektive des Geistes selbst. Denn die (im Konflikt gewaltsam aufgelösten) Gegensätze sind die Realisierungen der Geschichte, also ihres (vernünftigen) Fortschreitens. 72 (Ebd., S. 117) Hieraus ergeben sich Vorsatz und Schuld, Absicht und Wohl sowie die Einsicht in das Gute und das Böse (vgl. ebd., S. 122). Sittlichkeit umfasst die objektiven Ausformungen des abstrakten Rechts und der Moralität, m. a. W. die Institutionen: Familie, bürgerliche Gesellschaft inklusive Rechtsverfassung sowie den Staat und dessen Gewalten (vgl. ebd., S. 168 f.). 68 Ebd., S. 237. 69 Ebd. 70 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 55. Der Staat könne die Freiheit deshalb garantieren, weil er die Triebe, Begierden und Leidenschaften sowie die Willkür beschränke, die ungehemmt zur Herrschaft des Unrechts und der Gewalt, ergo zum Vorrecht des Stärkeren, führten (vgl. ebd., S. 59). 71 Die Perspektive des Geistes nivelliert die Brüche der Geschichte, insofern sie es erlaubt, »eine einzige vernünftige Entwicklungslinie durch die scheinbar unversöhnlichen Konflikte und Diskontinuitäten der Geschichte hindurch zu finden.« (Rosen, Michael: Hegel und die idealistische Geschichtsauffassung. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Handbuch Deutscher Idealismus. Stuttgart: Metzler 2005, S. 238–239. Hier: S. 239). 72 Vgl. Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 93 f.
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Dies ist das fundamentale Problem, mit dem sich diese Arbeit konfrontiert sieht. Denn die Opfer der Geschichte werden hierbei übergangen, ja sogar gerechtfertigt. Schließlich seien sie für den Fortschritt der Geschichte, für die Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte gestorben. Sie werden nicht als Opfer (victims) betrachtet, deren sinnloses Sterben zu betrauern wäre, sondern als ein Opfer (sacrifice), das bejubelt und dem ein glorifizierender Sinn zugeschrieben wird. 73 Eine so verstandene Geschichte kann aber nicht als Schuldgeschichte reflektiert werden. Zwar können die Individuen durchaus schuldhaft handeln, wie Hegel schreibt, insofern sie ihrer Freiheit anheimgegeben sind und wissen, was gut und böse sei. 74 Diese Schuld beschränkt sich allerdings auf die Schuld »an dem sittlichen und religiösen Verderben und an der Schwächung der Sittlichkeit und Religion«, 75 und ist somit auf die Mittel zur Verwirklichung der Idee der Freiheit reduziert, keineswegs aber auf die unschuldig leidenden Opfer bezogen. Johann Baptist Metz kritisiert diese Vorstellung eines Homo Emancipator, der sich nicht zugleich als Homo Peccator verstehe: Die Opfer blieben unbeachtet und somit unerlöst. 76 Wenn Hegel auf die Doppelbedeutung des Begriffs ›Geschichte‹ hinweist, welcher »in unserer Sprache die objektive sowohl als die subjektive Seite [vereinigt] und […] ebenso die historium rerum gestarum als die res gestas« 77 bedeute, also sowohl das »Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung« 78 umfasse, die im Begriff zusammen fallen und historisch gleichzeitig erscheinen, 79 so muss gefragt werden, welche Taten (res gestae) es sind, die mit ihrem Wirklich-werden bereits Geschichte schreiben. Es sind dies einerseits die vom Staat erlassenen Gebote und Gesetze, die mit ihrer Formulierung und Verabschiedung geschichtlich wirksam werden. 80 Ebenso sind es aber jene Aufzeichnungen vermeintlicher Heldentaten, die die GeschichtsZur Unterscheidung von victim und sacrifice: vgl. ebd., S. 30 ff. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 50 f. Sie haben Einsicht in ihre Moralität (vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 122). 75 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 50. 76 Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz: Grünewald 1977, S. 110 f. 77 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 83. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd. 80 Vgl. ebd. 73 74
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Hegel: Geschichte der Herrschaft und Herrschaft der Geschichte
schreibung präformieren und retrospektiv einem Geschehen historischen (oder auch mythologischen) Sinn zuschreiben und somit eine bestimmte Herrschaft legitimieren: Idealisierende Chroniken, Heldenlieder, Chansons de geste. Auch in ihnen werden die unschuldigen Opfer, so sie erwähnt werden, zumeist einem höheren Zweck unterworfen. Dies führt zwangsläufig zu einer Geschichte ›von oben‹, die nur Sieger und Helden kennt. Zweifelsohne gibt es jene ›Heldentaten‹ an die zu erinnern ist: Die Geschichten jener, die aus einer Überzeugung heraus beispielsweise für eine demokratische Gesellschaftsordnung fochten; oder jener, die dem Nationalsozialismus Widerstand leisteten, in etwa die Kämpferinnen und Kämpfer des Warschauer Ghettos. Doch selbst wenn diese Geschichten im Sinne Hegels als Geschichten welthistorischer Individuen betrachtet würden, bliebe ihr besonderes Leiden und Handeln im Allgemeinen, das durch sie verwirklicht würde, aufgehoben und würde seiner Eigenheit und Einmaligkeit enthoben werden. Sie wären bloß das Mittel für den höheren Zweck des Weltgeistes, dessen Zu-sich-Kommen obendrein die Geschichten jener ungezählten Opfer verdrängen würde, deren Leiden und Tod keinen ›höheren Sinn‹ hatte, die allerdings gerade deshalb in die Geschichtsbetrachtung mit einbezogen werden müssen. Für Hegel zählen allerdings nur jene ›Helden‹, die gesiegt haben. Ohne die Grundzüge seiner Dialektik, die Hegel in seinem früheren Werk Phänomenologie des Geistes (1807) darlegt, wäre allerdings eine Kritik an der hier umrissenen Problematik einer Geschichte ›von oben‹ (die sich auf Schriften einer späteren Phase der 1820er Jahre bis zu seinem Tod bezieht) kaum möglich. Zwar hat Hegel mit der Phänomenologie das Fundament seiner späteren Lehre geschaffen. Zugleich hat er damit jedoch die Möglichkeit einer Kritik an dieser eröffnet. Hegel legt dar, dass das erkennende Subjekt sich in seiner Verstandestätigkeit bereits auf seine Negation bezieht, ohne die Erkenntnis und Wissen nicht erlangt werden können. 81 Damit gewinnt im Denken des Ich das von ihm ›Gedachte‹ »ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit«, 82 was wiederum in epistemologischer Hinsicht die Bedingung für die Begriffsbildung und damit für die Wissenschaft
Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3. Frankfurt: Suhrkamp 1986 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 603), S. 36. 82 Ebd. 81
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
ist. 83 Mit anderen Worten: Wissenschaft und somit das Nachdenken über Geschichte sind ohne eine solche Anerkennung des Anderen als ein vom Subjekt getrenntes Dasein unmöglich. Dass dies von höchster ethisch-sozialer Relevanz ist, macht Hegel in seinen berühmten Ausführungen zu Herrschaft und Knechtschaft deutlich. 84 Es ist gerade die (gewaltsam hergestellte) Position des Knechtes – des Unterlegenen, des Leidenden also –, die die Geschichte voranbringt. Die Geschichte voranzubringen heißt, die Welt der Dinge zu verändern. Während der Herr durch seinen Genuss die Dinge aber lediglich aufzehrt, 85 schafft der Knecht durch seine Arbeit aus den Dingen ein Bleibendes. 86 Dies ist zunächst ein bloß formierender Akt, der unter der Gewalt des Herrn geschieht, dem der Knecht die umgeschaffenen Dinge zur Verfügung stellt. Erst wenn der Knecht die Furcht vor seinem Herrn überwindet und sich die Dinge gewissermaßen aneignet, findet er seinen eigenen, nicht mehr von der Herrschaft abhängigen Sinn. 87 Er kommt sich selbst zu Bewusstsein, er verwirklicht seine Freiheit aus seiner zunächst inferioren Position heraus und festigt seinen Subjekt-Status. Geschichtlicher Fortschritt ist also der ständige Wechsel des Herr-Knecht-Verhältnisses: Das Bleibende wird fortlaufend umgeschaffen, sodass mit ihm und aus ihm heraus Neues entsteht. 88 Man darf nicht vergessen, dass das Paradigma einer derartigen Fortschrittsgeschichte eine durchaus emanzipatorische Errungenschaft gegenüber jener Vorstellung des Ancien Régime war, dass alles immer ›beim Alten bleibe‹ und Knechte immer Knechte bleiben würden. Dennoch: Ihre Leiden bleiben gerechtfertigt, zumal es nach Hegel der Gewalt des Herrschers bedürfe, damit die Arbeit Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 145–155. 85 Vgl. ebd., S. 151. 86 Vgl. ebd., S. 154. 87 Vgl. ebd. 88 Grätzel stellt den Unterschied zwischen logischer Verneinung und dialektischer Negation heraus. So trennt und entzweit die Dialektik zwar, lässt das Negierte jedoch nicht einfach zurück, sondern wendet es dem Neuen zu: »Entzweiung und Trennung« sind »dialektisch gesehen […] Geschichten, die mit dem Alten zu tun haben, die aber schon dem Neuen und Unbekannten, das geistig schon disponiert ist, zugewandt sind. Die Geschichten sind nicht nur Fakten, sie verbinden immer Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft. Diese Verbindungen sind der Kitt, aber auch der Nerv der Geschichte, deren Ziel der Versöhnung schon jetzt erkennbar wird, auch wenn die Versöhnung in ihrer konkreten Gestalt noch unbekannt ist.« (Grätzel: Versöhnung, S. 43 f.). 83 84
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Hegel: Geschichte der Herrschaft und Herrschaft der Geschichte
des Knechtes geschichtlich überhaupt wirksam werden könne. 89 Schließlich werden die Knechte zu neuen Herrschern, womit die Geschichte als Siegergeschichte fortgeschrieben wird und sich die Frage stellen lässt, ob die Verlierer der Geschichte nicht erst dann als solche anerkannt werden, wenn sie schon keine mehr sind. Einer Geschichte ›von oben‹, die als Geschichte der Herrschaft erzählt wird und damit zu einer Herrschaft der Geschichte über ihre Opfer wird, muss daher eine Geschichte ›von unten‹ entgegen gesetzt werden, die das (oftmals) Ungeschriebene mit einbezieht beziehungsweise auch im Geschriebenen (sowie, wie gezeigt werden soll, in der Lebenswelt überhaupt) die Spuren einer »unterdrückte[n] Vergangenheit« 90 vernimmt und aufnimmt. Denn es ist nun keinesfalls so, dass es – zumindest was die Geschichte des Nationalsozialismus angeht, um die es in dieser Arbeit in erster Linie gehen soll – keine Zeugnisse der Leidenden geben würde. Sie sind durchaus überliefert. Die Aufgabe, die allerdings nach wie vor besteht, ist, diese Zeugnisse zum Ausgangspunkt nicht lediglich der wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung zu bestimmen, sondern zu fragen und zu untersuchen, wie diese Leidensgeschichten im Alltag wirksam sind oder wirksam sein können. Vergangenheit entgleitet, orientiert an diesen Leidensgeschichten, der souveränen Verfügbarkeit durch die Gegenwart. Sie erscheint als Reservoir verpasster Möglichkeiten, 91 die ihren Anspruch auf Aufnahme und Verwirklichung artikulieren und jenes Negative behaupten, das Hegel im Geschichtsprozess legitimiert und versöhnt sieht. 92 Die Vergangenheit zählt dann nicht allein deshalb, weil aus Insofern der Knecht in der Arbeit seine Furcht vor dem Herrn überwindet, etwas Bleibendes schafft und mit dieser Objektivierung – man kann sagen im Willen zum Bilden oder Gestalten – seine Wahrheit und seinen Sinn findet, ergo in die Geschichte eintritt (vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 153 ff.). 90 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703. 91 Hierzu Heinrich in ihrer Kritik an Hegel: »Der Gedanke einer Veränderlichkeit des Geschichtlichen durch den Blick auf das Geschichtliche ist Hegel deshalb auszuschließen bemüht, weil er sich als Subversivität gegenüber einer Herrschaft des Endes zeigt. Mit dem Gedanken, daß die Vergangenheit zum festen Besitz wird, über den souverän und frei zu verfügen ist, gibt es keinen Raum für ein Bedenken verpaßter Möglichkeiten. Und nur dieses untergräbt die Legitimation von Herrschaft in der Jetztzeit, die das Gewesene für schicksalhaft halten will.« (Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 95 f.). 92 Heinrich kritisiert diese Versöhnung mit dem Negativen (vgl. ebd., S. 93 ff.), mit der letztlich der Geschichtsverlauf geheiligt und »die Opfer der Geschichte ein zweites 89
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
ihr in irgendeiner Weise die Gegenwart hervorgegangen ist. Vielmehr bewirkt die Gegenwart ebenso die Vergangenheit. Das Vergangene ist nicht einfach vergangen und im ›Produkt‹ der Gegenwart abgeschlossen aufgehoben. Es wirkt weiterhin im Gegenwärtigen und ist unabgeschlossen, sodass, je nachdem, wie wir mit dieser Unabgeschlossenheit umgehen, das Vergangene verändert wird und die Stimmen und Schreie der Opfer Gehör finden können.
1.2. Schapp: In Geschichten verstrickt Mit In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (Erstveröffentlichung 1953) legt Wilhelm Schapp eine phänomenologisch orientierte Theorie vor, 93 die, im Gegensatz zu Hegels spekulativer Geschichtsphilosophie, kein übergeordnetes Wirken einer transzendentalen Instanz retrospektiv festzustellen versucht, sondern bei der praktischen Alltagserfahrung des Menschen ansetzt und dessen Wahrnehmungsweisen untersucht. 94 Wenn es so etwas wie eine Weltgeschichte gebe, so Schapp, »stehen Einzelgeschichten in engstem Zusammenhang« mit dieser: Mal« eliminiert würden (vgl. ebd., S. 96). In der Tat begreift Hegel die Weltgeschichte, wie er ganz am Ende seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte betont, als Theodizee: »Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten [welche als Leidensgeschichten eben keine Rolle spielen. Anm. D. M.] – dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.« (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 540) Eine Passage bei Benjamin kann als antithetische Antwort auf Hegels Formulierung gelesen werden, wobei er die Aufgabe des Geschichtsschreibers als »Täter der Geschichte« (Rosenzweig) betont, der den Anspruch der Toten aufnimmt und einzulösen versucht: »Nur dem Geschichtsschreiber [Betonung analog zu »[n]ur die [kursiv] Einsicht …« bei Hegel. Anm. D. M.] wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« (Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 695). 93 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt: Klostermann 2012 (Rote Reihe; 10). 94 Wobei mit Wahrnehmung keine isolierbare Wahrnehmung einzelner Sinnesdaten durch die verschiedenen Sinnesorgane gemeint ist, sondern eine ›Wahrnehmungsganzheit‹, die bereits auf die Verstrickung in Geschichten rekurriert (vgl. ebd., S. 72 ff.).
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Schapp: In Geschichten verstrickt
»Eine Weltgeschichte, die nicht als wesentlichen Ausgangspunkt Geschichten hätte, läßt sich kaum vorstellen.« 95 Eine derartige Weltgeschichte wäre keine lineare, in der sich der Weltgeist als Subjekt stufenweise verwirklicht, sondern ein Netz aus Geschichten, denen ihr eigener, unabkömmlicher Sinn zugesprochen wird, und die sich nicht zwangsläufig einem übergeordneten Weltgeschehen unterordnen müssen, welches über sie urteilt. Der Mittelpunkt einer Geschichte, sei diese überliefert oder selbst erlebt, ist der in diese Geschichte Verstrickte und kein un- und überpersönlicher Geist. 96 Das heißt: Jeder Mensch hat seine Geschichte und ist seine Geschichte, in der wiederum Geschichten Anderer auftauchen. Geschichte degradiert den Menschen nicht zum bloßen Mittel zur Realisierung eines Zweckes, sondern entfaltet sich mit dem Menschen, der das Subjekt seiner Geschichte ist. Schapps Ansatz ist holistisch: Nicht nur Menschen begegnen sich als In-Geschichten-Verstrickte, die reziprok in die Geschichte des jeweils Anderen mitverstrickt sind. Auch unbelebte Dinge tauchen als Wozudinge im Horizont von Geschichten auf. Im Folgenden möchte ich Schapps Ansatz darstellen und auf gewisse blinde Flecken hinweisen, die einer dialogischen Erweiterung bedürfen.
1.2.1. Das Wozuding Die »Wozudinge« sind die »Nahtstelle« zwischen den Geschichten und der »Außenwelt«. 97 Das heißt, die Außenwelt ist weder ein theoretischer Raum, in dem sich das Innenleben des Menschen spiegelt, noch unveränderliches und zeitloses Material, das an sich ohne den Menschen existieren würde. Die Außenwelt ist der Gesamtzusammenhang der Wozudinge, die nach und nach auftauchen und in die Geschichte integriert werden. 98 Mithin ist sie nur zu erfahren in der Konkretheit der benannten Wozudinge sowie ihrer Potentialität als ›Speicher‹ noch nicht in die Geschichte integrierter Wozudinge, die sich an ihrem Horizont undeutlich abzeichnen. 99 Ebd., S. 1. Vgl. ebd. 97 Vgl. ebd., S. 3. 98 Vgl. ebd., S. 37. 99 Vgl. ebd. Der Einfluss Husserls wird hier deutlich. Auch er geht in seiner Wahrnehmungsanalyse von einem sich verschiebenden Horizont aus, auf den die im Be95 96
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
Gemeinhin erscheint jedes Wozuding in seiner Wozudingbestimmtheit, durch die es bereits in einen Horizont eingebunden ist und mit anderen Wozudingen zusammenhängt. Es hat einen spezifischen Zweck oder eine Bestimmung und ist nicht losgelöst davon zu betrachten. 100 Ebenso verweist es auf seine Herstellungsgeschichte, seine Erfindung und schließlich auf den Menschen, der es entwickelt hat. Ein Wozuding ist damit nicht lediglich punktuell gegenwärtig, sondern gegenwärtig mit seiner Vergangenheit. 101 Durch das Einsetzen eines Wozudings nach dessen Wozudingbestimmtheit tritt der Mensch nun in Beziehung zu seiner weiteren Außenwelt. Der tätige Mensch erarbeitet sich durch sein Tätig-sein gewissermaßen seine Welt. Der Stoff, den er bearbeitet, wird zum Teil seiner Geschichte. Dies sei der primäre Zugang. Der Stoff tauche erst über das Werk auf. 102 Es lässt sich fragen, ob hier nicht ein utilitaristisches Verständnis vorliegt, insofern der Stoff nur zur Geschichte werden kann, wenn er eine Funktion für den Menschen hat, die einen konkreten Nutzen nach sich zieht. Zumindest für die unbelebte Welt scheint dies der Fall zu sein. 103 Es gibt jedoch noch einen schwerwiegenderen wusstsein auftauchende Erscheinung Bezug nimmt, und der sich von dieser her weiter und weiter entfaltet. Auch wenn die Erscheinung wieder im ›Unsichtigen‹ verschwindet, bleibt sie retentional einholbar und präformiert so die weitere Horizontentfaltung, sodass der Erscheinung, auch wenn sie nur partiell als Phänomen im Bewusstsein realisiert ist, ein Sinn gegeben werden kann (vgl. Husserl, Edmund: Analyse der Wahrnehmung. In: Ders.: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Held. Stuttgart: Reclam 2007 (RUB 8085), S. 55–79. Hier: S. 65). Bei Schapp geschieht dies analog mit den Wozudingen und den zu ihnen gehörenden Geschichten. Auch wenn das einzelne Wozuding sich wieder im Horizont verliert, bleibt es Teil der Geschichte und beeinflusst auf diese Weise die weitere Entfaltung des Horizonts. Ebenso ist das Wozuding nicht einfach von seinem Geschichten-Horizont zu trennen, der letztendlich dessen Zweckhaftigkeit ausmacht. 100 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 14 ff. Hier gibt es eine Parallele zu Heideggers Zeugganzheit, nach der das Zeug – also die Wozudinge – Teil eines über sie hinausgehenden Verweisungszusammenhangs sind (vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 68). Die Verweisung wird ausdrücklich, wenn das Zeug versagt, also nicht mehr seinem Um-zu entspricht (vgl. edb., S. 74 f.). Dadurch wird aber auch der Horizont erweitert, da, um mit Schapp zu sprechen, das Wozuding an ihm zuvor nicht zugehörige Geschichten rührt. 101 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 17. 102 Vgl. ebd., S. 20 f. 103 Schapp kritisiert die gewaltsame Zurichtung der Natur und ihre Unterordnung unter menschliche Zwecke, bezieht dies allerdings ausschließlich auf Tiere und Pflanzen (vgl. ebd., S. 136).
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Schapp: In Geschichten verstrickt
Einwand: Zwar schließe die Geschichte eines Wozudings dessen Entstehungsgeschichte mit ein. Schapp lässt die Leidensgeschichten von Menschen, die beispielsweise die Rohstoffe zur Herstellung eines Wozudings abgebaut haben oder ausgebeutet wurden, um ein Gebäude zu errichten, allerdings unbeachtet. Nichtsdestoweniger ermöglicht die Ansicht, dass mit jedem Wozuding qua seiner Geschichte ein Zeithorizont auftaucht, die Dinge und ihre Geschichten zumindest potentiell in ihrer Individualität zu betrachten. Da das Wozuding und seine Geschichte wiederum in andere Geschichten verstrickt sind, 104 lässt sich die Perspektive auf die Vergangenheit prinzipiell variieren, je nachdem, auf welchen Strang der Geschichtenverstrickung achtgegeben wird. Weil alles in Geschichten verstrickt und jedes Wozuding »geschichtsbeladen« 105 ist, lässt sich zunächst einmal keine Geschichten-Hierarchie ausmachen. Es gibt keine Geschichte, die per se wichtiger oder gültiger wäre als eine andere. Letztendlich muss der In-Geschichten-Verstrickte entscheiden, welche Geschichte er weiter erzählt. Jeder in Geschichten Verstrickte ist Mittelpunkt und Herr seiner Geschichte, weil sich das Gewebe der Geschichten von ihm aus knüpft. 106 Im Vergleich zur Geschichtsphilosophie Hegels kommt dies einer Emanzipation des Einzelnen von Weltgeist und Weltgeschichte gleich.
1.2.2. Das In-Geschichten-sein des Menschen Der Mensch ist in Geschichten eingebunden. Geschichten sind, wie wir anhand der Wozudinge sehen konnten, keine klar abgrenzbaren Gegenstände, sondern vielschichtige »Gebilde«, 107 aus denen heraus Wozudinge, Menschen und Tiere hervortreten. 108 Das Verstricktsein lässt sich nicht aus der Geschichte lösen, weder gibt es eine Geschichte ohne Verstrickten noch einen Verstrickten ohne Geschichte. 109 Daraus lässt sich folgern, dass der Mensch zunächst passiv – eben als Verstrickter – den Geschichten, in die er verstrickt ist, Vgl. ebd., S. 56 ff. Ebd., S. 80. 106 Dies wird sich am Ende ergeben, auch wenn Schapp bemerkt, dass sich Eigen- und Fremdgeschichte nicht klar voneinander scheiden lassen (vgl. ebd., S. 86 f.). 107 Ebd., S. 85. 108 Vgl. ebd. 109 Vgl. ebd., S. 85 f. 104 105
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ausgesetzt ist. Die Geschichten sind schon da, sie sind bereits erzählt, bevor das Individuum sie weiter erzählen kann. Damit beeinflussen sie die individuelle Geschichte des Verstrickten schon, bevor er sie sich als handelndes Subjekt bewusst aneignet. Die Geschichten sind in einer reziproken Passivität aufeinander bezogen und bilden ihren Horizont aus dieser Passivität heraus. Selbst wenn das Auftauchen von Geschichten im Horizont des Verstrickten von diesem intendiert zu sein scheint und in etwa in der Absicht geschieht, sich mit einer bestimmten Geschichte, einem bestimmten Gebilde auseinandersetzen zu wollen, er dieses eine Gebilde bewusst thematisiert und heraus filtern möchte aus der Ganzheit an Geschichten, ist diese Passivität nicht aufgehoben, da auch eine bewusst fokussierte Geschichte zunächst vom Verstrickten gehört wird und überdies in weitere Geschichten verstrickt ist, die schlechterdings nicht vollständig zu übersehen sind und immer wieder über den Verstrickten hereinbrechen. 110 Eigengeschichte, Fremdgeschichte und Wirgeschichte sind »eine untrennbare Einheit […].« 111 So wird der Verstrickte mit immer weiteren Geschichten konfrontiert, die wiederum ihre Vorgeschichten haben, sodass weder ein absoluter Anfang noch ein absolutes Ende festzustellen sind. 112 Schapp geht zunächst von der »erzählte[n]
Die Passion des Ausgesetztseins oder Befallenseins von einem Anderen und dessen Geschichte(n) wird uns in dieser Arbeit immer wieder begegnen. Es ist ein, ja sogar das dialogische Grundmoment, das Schapp allerdings, wie sich zeigen wird, verkennt, weshalb er auch nicht zu den Dialogphilosophen zu zählen ist: Bevor wir uns selbst benennen und unsere Geschichte erzählen können, werden wir von einem Anderen benannt, der uns mit seiner Benennung Geschichten zuträgt, an die wir anknüpfen und die wir weiter erzählen können. Wir sind zunächst Hörer, bevor wir Sprecher und Erzähler sind. Der Dialogphilosoph Eugen Rosenstock-Huessy bringt dies auf den Punkt: »Das Hören, daß wir für andere da sind und etwas bedeuten, daß sie etwas von uns wollen, geht also dem Aussprechen dessen, daß wir selber sind und was wir selber sind, vorauf. Daß wir Befehle von außen erhalten und von außen beurteilt werden, gibt uns Selbstbewußtsein [wobei dieses Außen ein Außerhalb des Ich ist und kein Außerhalb der Sprache oder, auf Schapp bezogen, kein Außerhalb von Geschichten ist. Anm. D. M.]. Denn nun empfinden wir uns als Etwas und Besonderes gegenüber diesem Befehl und diesem Urteil. Etwas anderes oder etwas Besonderes zu sein ist das Grunderlebnis des Ich.« (Rosenstock-Huessy, Eugen: Angewandte Seelenkunde (Auszug). In: Ders.: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie. Freiburg: Alber 2012 (dia-logik Band 1. Hrsg. v. Karl-Heinz Brodbeck; Stephan Grätzel; Bernd Schuppener), S. 19–50. Hier: S. 21. 111 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 87. 112 Vgl. ebd., S. 88. 110
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Fremdgeschichte« 113 aus, wie sie uns im Märchen, im Roman, aber auch in der oralen Tradition begegnet. Die Struktur ist allerdings ebenso für die Lebensgeschichte und Lebensbetrachtung des Einzelnen gültig, die ja, zumindest retrospektiv, ebenfalls erzählt wird. Auch in ihrem Horizont tauchen weitere Geschichten von Wozudingen und anderen Menschen auf, die potentiell weiter verfolgt werden können, auch wenn sie scheinbar lediglich eine Randerscheinung darstellen und in der Kerngeschichte selbst nicht erzählt werden. 114 Eigen- und Fremdgeschichte(n) sind also auch in der Lebensgeschichte miteinander verbunden. Wenn die Geschichte eines Anderen in meiner Geschichte auftaucht, wird sie zu einem Teil der meinen und vice versa. Was die eigene Lebensgeschichte betrifft, scheint ein Anfang gesetzt, insofern wir geboren werden und ab der Geburt die individuelle Geschichte beginnt. Wir werden aber nur deshalb geboren, weil es vor der Geburt schon eine Geschichte gab, die Geschichte unserer Eltern, Großeltern, unserer Vorfahren. Diese Geschichten sind dann unsere Vorgeschichten, die in unserer Geschichte unabgeschlossen vorliegen und in diese hineinwirken. Die Biographien unserer Vorfahren betreffen uns mit (Kap. 2.3.3.). 115 Der Anfang des eigenen Lebens als Erzählung ist, wie bei der erzählten Geschichte, daher ein relativer. Ebenso ist mit dem physischen Ableben kein absolutes Ende gesetzt. Der Einzelne lebt über Andere, die er beeinflusst hat, sowie über Dinge, die er geprägt hat, weiter. Eine eindeutige Trennung zwischen je aktuellen Geschichten und ihren Vorgeschichten ist daher kaum möglich. Es verwundert daher nicht, dass für Schapp auch der andere Mensch aus diesem Gesamt-Verstrickt-sein mit seiner und als seine Geschichte auftaucht: »Die Geschichte steht für den Mann.« 116 Selbst seine leibliche Erscheinung sei ein Auftauchen seiner Geschichte. 117 Ebd. Vergleichbar mit den Geschichten und Vorgeschichten der Personen in einer schriftlichen Erzählung (vgl. ebd., S. 89 f.). Diese gehen in die Story mit ein und sind deren Hintergrund, auch dann, wenn sie im Plot der Erzählung nicht detaillierter entfaltet werden. Man kann sie aber durchaus weiter ›spinnen‹, weiter erzählen, sich Gedanken machen über die Personen und ihre Handlungen über die Story hinaus, was wiederum das Verständnis der Erzählung beeinflussen kann. Ein Unterschied ist freilich, dass die real begegnenden Personen ihre Geschichten unmittelbar erzählen können. 115 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 126 ff. 116 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 100. 117 Vgl. ebd. 113 114
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Erst durch die Geschichte eines Menschen »kommen wir mit einem Selbst in Berührung. Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.« 118 Natürlich lernen wir einen Menschen erst dann kennen, wenn er etwas über sich erzählt, wenn wir mit ihm reden und die Geschichten über ihn, die wir von einem Dritten zuvor vernommen haben mögen, im unmittelbaren Gespräch mit ihm hinterfragen oder bestätigen können. Schapp übersieht jedoch, dass das Auftauchen eines Menschen in seiner Leiblichkeit nicht in der Art und Weise von über Dritte vermittelte Geschichten oder gar in Art der Geschichten von Wozudingen geschieht. Jean-Paul Sartre beschreibt in Das Sein und das Nichts das Auftauchen des Anderen als die Erfahrung, seinem Blick ausgesetzt zu sein. In seinem Blick erfahre ich die Freiheit des Anderen als Tod meiner Möglichkeiten. 119 Über den Anderen entfremde ich mich von mir selbst. Meine Welt, die die Welt meiner Möglichkeiten ist, entgeht mir. 120 Freilich wird diese Erfahrung dann auch zu einer Geschichte. Nähere ich mich dem Anderen an, werden weitere Geschichten aus dem Geschichten-Horizont wirksam. Es ist jedoch fraglich, ob das Auftauchen des Anderen als Leib oder Antlitz selbst schon den Charakter einer Geschichte hat. 121 Ohnehin weist Schapp dem Auftauchen des Anderen und seiner Geschichte eine untergeordnete Rolle zu. Zwar ist der Verstrickte den Geschichten, die ihm begegnen, in Schapps Konzeption zunächst passiv ausgesetzt. Aktiv werde er erst, wenn er die Geschichte, die er hört (oder liest), irgendwie bearbeitet. 122 Und auch dann werde sie »nicht Ebd., S. 105. Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hrsg. v. Traugott König. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Begründet von Traugott König, hrsg. v. Vincent von Wroblewski. Philosophische Schriften Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2007, S. 487. 120 Vgl. ebd., S. 475. 121 Zum Auftauchen des Anderen als Antlitz vgl. Kap. 3., insbesondere 3.1. und 3.2. Stephan Grätzel schreibt in Bezug auf Paul Ricœur, was auch als Kritik an Schapp zu lesen ist: »Die wirkliche Welt ist eine gelebte, sie erscheint zunächst nicht wie eine erzählte Geschichte. Daran muss festgehalten werden. Zur erzählbaren Geschichte wird sie erst, wenn das gelebte Ereignis Erfüllung und Bedeutung bekommt. Das gelebte Ereignis ist zwar die Fülle, die dichte Fülle eines Da-seins, es ist allerdings noch nicht bedeutet. Die Erlebnisse erhalten das volle Maß ihrer Ereignishaftigkeit erst in und mit der Erzählung. Sie ist das Ferment, das dem Erlebten erst die Gestalt einer gelebten Geschichte gibt.« (Grätzel: Versöhnung, S. 223 f.; Näheres zu diesem Zusammenhang in Kap. 1.5.). 122 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 107 f. 118 119
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ohne weiteres zur Eigengeschichte des Mannes […], der sie bearbeitet.« 123 Geschichten tauchen unter Umständen »anscheinend […] gleichsam selbsttätig« 124 auf, auch als Bruchstücke, Erinnerungsfetzen oder auf ein Stichwort hin. 125 Sie erzählen sich nach der ihnen eigenen Ordnung selbst. 126 Die Voraussetzung dafür sei allerdings, unabhängig davon, ob wir sie als Eigen- oder Fremdgeschichten begreifen, dass sie uns irgendwie bereits bekannt sind. Das, was an ihnen fremd erscheint, werde abgestoßen, »bis sich ein roter Faden ergibt, um den die Geschichte sich aufbaut.« 127 Alle Geschichten, die im Horizont des Verstrickten auftauchen, trügen letztendlich »das letzte Stigma, daß sie meine Geschichten sind.« 128 Zwar gebe es eine Distanz zu den fremden Geschichten, »eine unübersteigbare Mauer«. 129 Dieser scheint jedoch kein irritatives Moment innezuwohnen, keine Hemmnis oder Entfremdung wie bei Sartre im Blick des Anderen. Wird die Vorstellung eines nachvollziehbaren »roten Fadens« als die einzige Möglichkeit einer Beziehung zu Geschichten Anderer verstanden, müssen die Fremdgeschichten als Erweiterungen der Eigengeschichte und der ihr inhärenten Verstehensmuster in den Horizont des Anderen erscheinen. Die Emanzipation des Menschen von einer ihm übergeordneten Weltgeschichte als Herr seiner Geschichte führt deshalb zu einer anderen Hybris, die die eigene Geschichte über alle anderen erhebt. Es ist zwar richtig, dass meine Geschichte die meine bleibt und nur ich das, was ich erlebt habe, als meine Geschichte erzählen kann. Ebenso muss ich die Geschichten Anderer in diese meine Geschichte einbinden, damit sie für mich wirksam werden können. Doch kann dies nicht gelingen, wenn ich das, was ich ohnehin schon weiß, in die Geschichten Anderer projiziere und damit mein Weltverständnis schlicht perpetuiere. Das ist nicht nur ethisch problematisch, sondern würde auch jeden Erkenntnisfortschritt verstellen. Es bedarf vielmehr einer Umkehr, einer Verschiebung des Horizonts von mir zum Anderen hin. Mag der Andere zunächst am Horizont der Eigengeschichte auftauchen: Sein (leibliches) Auftauchen bewirkt eine Erschütterung der Eigengeschichte. Man kann sagen, dass zumindest 123 124 125 126 127 128 129
Ebd., S. 108. Ebd., S. 112. Ebd. Vgl. ebd., S. 115. Ebd., S. 113. Ebd., S. 126. Ebd.
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für den Moment der unmittelbaren Begegnung das Netz aus Geschichten aufgelöst wird und der Andere als absolut Anderer erscheint, der sich dem Zugriff über (m)eine Geschichte entzieht. Erst dann ist es möglich, im Dialog mit dem Anderen Anknüpfungspunkte zu finden, eine gemeinsame Geschichte zu erzählen und eine Identität auszubilden bzw. weiterzuentwickeln. Der Andere organisiert die mir begegnenden Geschichten und damit auch den Zugriff auf die Dinge meiner Welt um. 130 Diese Beanspruchung meiner Welt durch einen Anderen stiftet so erst einen Sinn, der nicht auf eine redundante Selbstaffirmation hinaus läuft, die einer unauflösbaren Determiniertheit des Selbst durch sich selbst gleichkäme. Dass Schapp diesen Einbruch des Anderen übersieht, mag daran liegen, dass er neben der Leiblichkeit des Anderen die Sprache nicht würdigt. Zwar sieht er eine Korrelation von Geschichten und Sprache, die er nicht zu klären vermag – und die womöglich auch nicht abschließend geklärt werden kann: »Wie aber die Sprache die Kraft hat, Geschichten hervorzuzaubern, darauf haben wir keine Antwort gefunden.« 131 Er schreibt aber auch: »Das Auftauchen der Geschichte ist aber nicht an die Sprache gebunden.« 132 Vielmehr könnten Geschichten »auf die mannigfaltigste Art auftauchen« und »sich selbst erzählen […].« 133 Schapp geht also davon aus, dass Geschichten zwar im Besonderen aus der Sprache heraus auftauchen könnten, es aber auch nicht-sprachliche Horizonte gebe. Dabei übersieht er, dass auch andere ›Gebilde‹, die gemeinhin nicht als sprachlich verfasst betrachtet werden, in etwa Bilder oder sonstige plastische Kunstwerke (einzig Musik mag hier eine Ausnahme darstellen), bereits der Sprache bedürfen, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Sprache wiederum ist in ihrer ersten ›Funktion‹ ein Medium, das bereits gegeben ist und mit anderen Menschen und ihren Geschichten verbindet. Sprache ist dem Subjekt transzendent und ermöglicht ihm, sich selbst, die Welt und andere Menschen zu erfahren. Schapps Geschichten-Philosophie ist demnach, obwohl sie diesen Eindruck erwecken mag, nicht dialogisch. Zwar kommt er auch auf das Verhältnis von Ich und Du zu sprechen, 134 und bemerkt, dass Ähnlich wie Sartre es für die Organisation der Utensilien feststellt, welche zum Anderen hin abfließen (vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 522 ff.). 131 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 178. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Vgl. ebd., S. 190 f. 130
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Schapp: In Geschichten verstrickt
das Ich qualitätslos sei beziehungsweise die Qualität des Ich in den Geschichten liege, 135 es also kein Ich an-sich jenseits seiner Geschichte(n) gebe, thematisiert aber nicht die Vorgängigkeit des Du. Im Gegenteil: Für Schapp steht das Ich im Zentrum, es ist weiterhin erste Person: »Zu jedem Ich gibt es viele Dus. Das Du setzt immer ein Ich voraus.« 136 Dieses Ich betrachtet jedes Du als schon in seiner Geschichte vorhanden und (vor-)verstanden, sodass es nichts Neues, Ungewohntes, Befremdendes mit sich bringen kann. Das Ich oder seine Erweiterung in einem Wir, das eo ipso keine Differenz zulässt, orientiert sich an einer schon vorgegebenen Richtung. 137 Die Richtung ist von der eigenen Verstehensweise vorgegeben. Es ist keine Rede davon, dass ein Verstehen der Geschichten der Anderen womöglich gerade deshalb geschehen kann, weil sie nicht in die vorgegebene Richtung passen, und derart erst ein neues Verstehen auch der Eigengeschichte gelingt. Was Schapp mit seiner Geschichten-Philosophie vorlegt, ist letztendlich keine Anerkennungs-, sondern eine Beherrschungshermeneutik. 138 Er liefert am Ende von In Geschichten verstrickt ein vielsagendes Beispiel für eine solche Beherrschungshermeneutik aus der Geschichte des Christentums: »Die Kunst des Erzählens und insbesondere auch die Kunst der Apostel und Missionare besteht darin, solche Anknüpfungspunkte [die in der vorgegebenen Richtung der eigenen Verstehensweise liegen. Anm. D. M.] zu finden oder, anders ausgedrückt, Brücken zu schlagen für einen Zugang zu der Weltgeschichte, die sie verkünden. […] In der Lehre mag der Apostel wie Paulus bei den Athenern anknüpfen an den unbekannten Gott.« 139
Was hier recht harmlos klingt, ist kein dialogischer, sondern ein persuasiver Sprechakt: Es wird nach dem Gleichen und Passenden im Weltbild des Anderen gesucht – beziehungsweise wird dieses Gleiche, an das es anzuknüpfen gilt, erst konstruiert –, um ihn von der eigenen Lehre zu überzeugen und nicht, um das eigene Weltbild kritisch zu überprüfen. Letztendlich wird die Eigengeschichte somit in den Rang der Weltgeschichte erhoben. Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 191. 137 Vgl. ebd., S. 205. 138 Diese Unterscheidung geht auf Johann Baptist Metz zurück (vgl. Metz, Johann Baptist: In der Krise des europäischen Geistes. In: Ders.: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967–1997. Mainz: Grünewald 1997, S. 142–148. Hier: S. 147). 139 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 205 f. 135 136
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1.3. Martin Bubers Philosophie des Dialogs Um Sprache nicht primär als Werkzeug der Persuasion, der Überredungskunst, zu begreifen, bedarf es eines Sprachkonzepts, in dem nicht allein das Ich der Ausgangs- und Mittelpunkt des Sprechens (und mithin: der Geschichten) ist. Das Axiom, nach dem das Du und nicht das Ich die erste Person sei und das Ich sich erst aus dem Du heraus bilde, findet sich bei den Dialogphilosophen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy, die darüber miteinander im Austausch standen, in ähnlicher Formulierung. 140 Auch Martin Buber greift diesen Gedanken in Ich und Du (1923) auf, wenn er das Dasein des Menschen in zwei Seinsweisen unterteilt, die er Grundworte nennt. Diese Grundworte sind die Wortpaare IchDu und Ich-Es. 141 Diese sollen im Folgenden dargestellt werden, um dann mit ihrer Hilfe ein dialogisches In-Geschichten-sein entfalten zu können.
1.3.1. Ich-Du und Ich-Es Der Mensch ist immer in Beziehung. Dies ist der Grundgedanke Bubers. Es gibt kein Ich außerhalb »der Zwiefalt der Grundworte« 142 Ich-Du und Ich-Es. Das Ich ist also entweder in einem Verhältnis zum begegnenden Du oder zum gegenständlich erfahrenen Es, wobei die Ich-Du-Beziehung die konstituierende ist, an der sich schließlich auch die dialogische Vorgängigkeit des Du vor dem Ich zeigt. Das Ichbewusstsein bildet sich aus den Begegnungen mit dem Du, mit jeder neuen Begegnung verändert es sich, findet es nach und nach zu sich selbst, bis »das Ich sich selbst, dem [vom äußeren Du. Anm. D. M.] abgelösten, einen Augenblick lang wie einem Du gegenübersteht, um alsbald von sich Besitz zu ergreifen und fortan in seiner Bewußtheit in die Beziehungen zu treten«. 143 Auch die Selbsterkenntnis des Subjekts beziehungsweise der Subjektivität 144 ist demVgl. Rosenzweig: Briefe, S. 254 (Brief Rosenzweigs an Rosenstock v. 19. 10. 1917); Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde (Auszug), S. 20 f. 141 Vgl. Buber, Martin: Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, S. 7–136. Hier: S. 7. 142 Ebd., S. 7. 143 Ebd., S. 32. 144 Buber unterscheidet die ›Ich-Anteile‹ der jeweiligen Grundworte Ich-Du und Ich140
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Martin Bubers Philosophie des Dialogs
nach dialogisch vermittelt. Das Ich, das sich wie einem Du gegenübersteht, ist kein Alter-Ego und auch keine objektivierte Spiegelung des Ich, sondern eine Beziehung zu einem Nicht-Ich. Auch dieses ›innere‹ Ich hat den Zugang zu sich nur über das Du, das ein anderes ist. Das Ich entpuppt sich demnach nicht letzten Endes doch noch als Monade, sondern bleibt auch als Selbstbewusstsein immer in einer Beziehung. Dies lässt sich nicht mit den üblichen Begriffen der Individuation erklären, wie sie in den modernen Subjektphilosophien bis zu den Ideenschriften Husserls begegnen. Das Ich ist kein transzendentales Ich, in dem der Andere, das Du, oder die gegenständliche Welt als Bewusstseinskorrelat innerhalb eines geschlossenen Systems erscheinen würden, 145 womit sie bloße Konstrukte des Egos wären. Es ist aber auch nicht, im materialistischen Sinne, über Erfahrung und Erkenntnis der Welt vermittelt und ein bloßes Produkt dieser Welt. 146 Es handelt sich bei der Dialogphilosophie insgesamt, wie Marco PajeEs voneinander. Während sich das Ich des Grundworts Ich-Es bewusst werde als Subjekt des Erfahrens und Gebrauchens, von dem also ein Objekt abhängt, werde sich das Ich des Grundworts Ich-Du als Subjektivität ohne abhängigen Genitiv bewusst (vgl. ebd., S. 65). Buber spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Eigenwesen«, das sich auf sein »Sondersein« und seinen »Besitz« beziehe, sowie von der »Person«, die als »Selbst« offen zum Anderen sei. Beide Seinsweisen gebe es in jedem Menschen, allerdings in wechselnden Anteilen (vgl. ebd., S. 66 f.). Zwischen den Menschen, die diese Anteile in je verschiedener Gewichtung realisiert haben, trage sich »die wahre Geschichte« aus: »Je mehr der Mensch, je mehr die Menschheit vom Eigenwesen beherrscht wird, um so tiefer verfällt das Ich der Unwirklichkeit. In solchen Zeiten führt die Person im Menschen und in der Menschheit eine unterirdische, verborgene, gleichsam ungültige Existenz – bis sie aufgerufen wird.« (Ebd., S. 68) Bubers Dialogphilosophie ist aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs heraus entstanden. Man kann also annehmen, dass diese Zeit von Buber als Phase der Abgrenzung zu anderen (auch zu anderen Nationen) und des technizistischen Zugriffs auf die Welt verstanden wurde. Aus solchen Zeiten der »Unwirklichkeit« des Ich, das kein Du zulässt, muss die Person als zum Anderen offene herausgerufen werden, um sozusagen den Lauf der Weltgeschichte als »Täter der Geschichte« (Rosenzweig) zu unterbrechen und umzuwenden. 145 Vgl. Husserl, Edmund: Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung. In: Ders.: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Mit einer Einleitung hrsg. v. Klaus Held. Stuttgart: Reclam 2010 (RUB 8084), S. 131–195. Hier: S. 188 f. 146 Buber kritisiert sowohl die materialistische als auch die idealistische Reduktion: »Da sieht er [der Mensch im materialistischen Weltbild. Anm. D. M.], daß das Ich in der Welt steckt und daß es das Ich eigentlich gar nicht gibt, also kann die Welt dem Ich nichts anhaben, und er beruhigt sich; oder er sieht [der Mensch im idealistischen Weltbild. Anm. D. M.], daß die Welt im Ich steckt und daß es die Welt eigentlich gar nicht gibt, also kann die Welt dem Ich nichts anhaben, und beruhigt sich.« (Buber: Ich und Du, S. 75).
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vic betont, »um eine Gegenbewegung zur, beziehungsweise um eine Kritik der modernen Transzendentalphilosophie mit der von ihr vertretenen Vorstellung einer Konstituierung des Seienden aus der Subjektivität heraus.« 147 Die Sphäre des Wirklichen ist für Buber vielmehr jenes dynamische Verhältnis von Ich und Du, das einzigartig ist und je wieder neu errungen und gestaltet werden muss. 148 Wenn nun schon das Bewusstsein des Ich als Subjektivität dieser Beziehung abkünftig ist, gilt dies umso mehr für die gegenständliche Dingwelt des Grundworts Ich-Es. Das verdinglichte Es hat zwar nicht den gleichen Charakter wie das Du des Ich-Du, denn es begegnet nicht und es antwortet nicht, sondern erscheint in der dritten Person. Dennoch ist auch das Ich-Es relational. Es handelt sich beim Es der Ich-Es-Relation also ebenfalls nicht um ein Konstrukt eines isolierten Ich. Mit dem Ich-Es findet die distanzierende Gegenbewegung zum begegnenden Ich-Du statt. Als Grundwort der Erkenntnis und Erfahrung verbindet es nicht mit der Gegenwart eines Anderen, sondern schafft eine Distanz zu einem unpersönlichen Etwas. 149 Das Ich-Es bindet das Es in einen Zusammenhang ein. Es grenzt an ein anderes Etwas, an andere Gegenstände. 150 Das Ich-Es schafft also eine Eswelt, es schafft ein Gefüge aus Raum und Zeit und damit ein Koordinatensystem, in dem sich der Mensch orientieren kann. 151 Im Gegensatz dazu kennt das Ich-Du einen solchen Zusammenhang, der das Du in die Welt nebst anderem einbinden würde, nicht. Es ist ausschließlich, dem Ich tritt nur dieses eine gegenwärtige Du entgegen, welches Pajevic, Marko: Poetisches Denken und die Frage nach dem Menschen. Grundzüge einer poetischen Anthropologie. Freiburg 2012 (dia-logik; Bd. 4. Hrsg. v. Karl-Heinz Brodbeck; Stephan Grätzel; Bernd Schuppener), S. 193. 148 Stephan Grätzel schreibt dazu: »So gesehen gibt es kein Ich und gibt es kein Du, es gibt nur die Beziehung zwischen Ich und Du, die aber alles andere als statisch ist. Sie muss ständig erzeugt werden, indem die geradezu unendliche Distanz und Trennung zwischen Ich und Du überbrückt und versöhnt wird.« (Grätzel: Versöhnung, S. 53). 149 Auch dem Ich-Du liegt eine Trennung zugrunde. Das Ich kann nicht mit dem Du verschmelzen. Der Unterschied zwischen der Trennung von Ich-Du und Ich-Es ist, dass sie sich im Ich-Es überwiegend universal, im Ich-Du überwiegend personal realisiert, wie Buber in seinem späten Aufsatz Urdistanz und Beziehung beschreibt (vgl. Buber, Martin: Urdistanz und Beziehung. Heidelberg: Lambert Schneider 1960, S. 20). Die Universalität bleibt bestehen, das Ding kann immer wieder mit seinem Begriff identifiziert werden. Es steht zum Gebrauch. Die personale Trennung ist im Gegensatz dazu keine, die unverändert immer wieder aufgenommen werden kann. Sie muss jedes Mal neu anerkannt werden. 150 Vgl. Buber: Ich und Du., S. 8 f. 151 Vgl. ebd., S. 34. 147
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»kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend« 152 ist. Zwar hebt es die Existenz von anderem nicht auf, wie Buber betont, »aber alles andre lebt in seinem Licht.« 153 Das Gefüge von Raum und Zeit wird so transzendiert. Das Du schafft im gegenständlichen Gefüge seine eigene Sphäre, seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit. 154 Es ist »bloße[…] Gegenwart«. 155 Das begegnende Du kann demnach nicht beschrieben werden, da eine Beschreibung einen Vergleich mit anderen Dingen impliziert, der nur post festum in der Vergangenheit gezogen werden kann, dann, wenn die Gegenstände wieder aneinander grenzen. Daher gibt es einen ständigen Wechsel zwischen den beiden Grundworten Ich-Du und Ich-Es. Sobald ich einen Menschen phänomenal erkenne, seine Gesichtszüge oder seine Augenfarbe wahrnehme, ist er bereits Teil der Eswelt. Das Ich-Du ist also immer ein flüchtiger Augenblick: Jedes Du muss wieder zum Es werden. Jedes Es ist aber auch – zumindest potentiell – ein Du. 156 Das Leben des Menschen ist »seinem Wesen nach ein Schwingen zwischen Du und Es […].« 157 Trotz dieses unaufhörlichen Schwingens bleibt das Verhältnis zum Du primordial. Buber spricht hierbei vom »Apriori der Beziehung« 158 und vom »eingeborene[n] Du.« 159 Der Mensch, der immer schon als Du angesprochen ist, verwirklicht sein Dasein zunächst primär als Du-Verhältnis, noch bevor er seinerseits ein Beziehungs-Ich herausgebildet hat. Buber beschreibt das Ich-Du deshalb als »vorichhaft«, das Ich-Es hingegen als »nachichhaft«. 160 Die Beziehung zum Du findet also zunächst ohne bewusstes Ich statt, findet dann als Ich-Du seine Bestimmung, von wo aus ihm die Eswelt eröffnet wird. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass das Du, egal ob es sich um das eingeborene oder ein aktuell begegnendes handelt, 161 mehrere Bedeutungen hat, die Buber nicht ganz eindeutig voneinanEbd., S. 12. Ebd. 154 Vgl. ebd., S. 34. 155 Ebd., S. 38. 156 Vgl. ebd., 21. 157 Ebd., S. 55. 158 Ebd., S. 31. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 26. 161 »Die erlebten Beziehungen sind Realisierungen des eingeborenen Du am begegnenden; daß dieses als Gegenüber gefaßt, in der Ausschließlichkeit aufgenommen, endlich mit dem Grundwort [Ich-Du. Anm. D. M.] angesprochen werden kann, ist im Apriori der Beziehung begründet.« (Ebd., S. 31). 152 153
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der unterscheidet, zumal sie einander bedingen: Zunächst ist es das gehörte, das zugesprochene Du. Mit diesem konstituieren sich bereits zwei Pole der Beziehung, allerdings noch kein Ich. Dieses Du bedeutet also denjenigen, der als Du erscheint, sowie denjenigen, der als Du angesprochen wird: Eine Begegnung zwischen Du und Du, ein DuDu. Erst dann bildet sich auf der einen Seite ein Ich: Die Beziehung wird zum Du-Ich, von der aus die Umwendung zum Ich-Du geschieht, wenn dann das Ich selbst Du sprechen kann. 162 Eine Ich-IchBeziehung aber kann es nicht geben, da der begegnende Andere nicht als ein Ich durchsichtig wird, denn dies würde seine Andersheit aufheben. Ein Ich-Ich wäre also bereits ein Ich-Es. Buber nennt nun drei »Sphären«, 163 in denen ein Du begegnen könne und der skizzierte Prozess der Konstituierung des Ich-Du stattfinde, auch wenn dies nicht immer vollkommen geschehe. Die erste Sphäre ist »das Leben mit der Natur«, die zweite Sphäre »das Leben mit den Menschen«, die dritte Sphäre »das Leben mit den geistigen Wesenheiten.« 164 Die dritte Sphäre umfasst, was für diese Arbeit besonders wichtig ist, Kunst und Literatur. In all diesen Sphären könne ein Du aufscheinen, die Beziehung erfülle sich jedoch in erster Linie in der Begegnung mit anderen Menschen, da nur dort das Du gegeben und empfangen werden könne. 165 Mit jedem begegnenden Du werde nun das Du Gottes angeredet (und vice versa vernommen). 166 Dieses muss – und an dieser Stelle ist Bubers Konstruktion metaphysisch – als jenes Du identifiziert werden, das vor jeder weiteren Begegnung das eingeborene Du als Urbeziehung stiftet. Ihm ist eigen, dass es, im Unterschied zum Du der Natur, des Menschen oder der geistigen Wesenheiten, niemals zum Es werden könne. 167 Unter den drei Sphären ist die Beziehung zum Menschen besonders ausgezeichnet, denn Buber begreift sie als »das eigentliche Gleichnis der Beziehung zu Gott: darin wahrhafter Ansprache wahrhafte Antwort zuteil wird.« 168 Mit jedem wahrhaft begegnenden Du und dessen Verweis auf das göttDies ist als zunehmende Selbstwerdung oder auch Emanzipation zu begreifen: Durch jedes begegnende Du wird sich das Ich bewusster, wie wir oben an der Herausbildung der Subjektivität sehen konnten. 163 Buber: Ich und Du, S. 10. 164 Ebd. 165 Vgl. ebd. 166 Vgl. ebd. 167 Vgl. ebd., S. 76. 168 Ebd., S. 104. 162
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liche Du offenbart sich die gesamte Schöpfung in der Gegenwart der Begegnung. Sie wird in diesem Moment der Ausschließlichkeit, die keine Einbindung in die Eswelt mehr kennt, zur einzigartigen und dem angesprochen Sprechenden anheimgegebenen Wirklichkeit. Ihm ist, wie Buber in Zwiesprache (1929) schreibt, das »Weltkonkretum« zugereicht. 169 Damit wird er zu Gottes »Helfer und Gefährten«, 170 dem durch die Ansprache Sinn und Auftrag als Möglichkeit der Veränderung zugesprochen sind. Buber betont, dass die Gottesbegegnung dem Menschen nicht widerfahre, »auf daß er sich mit Gott befasse, sondern auf daß er den Sinn an der Welt bewähre.« 171 Eine Rückbindung nur auf Gott, die nicht auch die Schöpfung, also Mensch und Welt, mit umfasst, ist ihm bereits eine Verfallsform der Religion. Es gelte »all die Welt mit im Du [zu] begreifen, der Welt ihr Recht und ihre Wahrheit [zu] geben, nichts neben Gott, aber auch alles in ihm [zu] fassen, das ist vollkommne Beziehung.« 172 Dabei ist der Mensch weder »Sprachrohr« noch »Werkzeug« Gottes, »sondern Organ, eigengesetzliches lautendes Organ, und lauten heißt umlauten.« 173 Umlauten meint hier in erster Linie den Durchgang des IchEs zum Ich-Du und die Umbildung des Ich mit jeder Begegnung, was wiederum Auswirkungen auf die Eswelt hat. 174 Die Beziehung zum Du ist zwar dialogisch, d. h. auf Gegenseitigkeit angelegt. Da der Mensch aber immer schon angesprochen ist vom Vgl. Buber, Martin: Zwiesprache. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, S. 137–196. Hier: S. 156. 170 Vgl. Buber: Ich und Du, S. 84. 171 Ebd., S. 117. 172 Ebd., S. 80. 173 Ebd., S. 118. 174 Nebenbei sei bemerkt, dass die hebräische Schrift eine Konsonantenschrift ist und die diakritischen Zeichen, welche die Qualität der Vokale bezeichnen, hinzugesetzt werden und variieren können. Dementsprechend können die Worte, je nach Vokalisierung, unterschiedliche Bedeutungen erhalten. Als kanonisch gilt das im 10. Jahrhundert von den Masoreten eingesetzte tiberische Punktuationssystem (vgl. Krause, Martin: Hebräisch. Biblisch-hebräische Unterrichtsgrammatik. 3. Auflage. Hrsg. v. Michael Pietsch und Martin Rösel. Berlin: De Gruyter 2012 (De Gruyter Studium), S. 11). Buber und Rosenzweig sind in ihrer Übersetzung (Verdeutschung) der Hebräischen Bibel häufig von dieser masoretischen Punktuation abgewichen. Legt man dies zugrunde und bildet eine Analogie, kann mit Umlautung auch gemeint sein, die Zeichen Gottes (nicht nur in der Bibel, sondern überhaupt) wahrzunehmen und immer wieder neu auszulegen, ihnen immer wieder neue Bedeutungen zu geben und so als Mensch an ihnen tätig zu werden, was, bezogen auf die Thora, der talmudischen Tradition entspricht. 169
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Du des Anderen (also sowohl vom Du Gottes als auch vom Du des anderen Menschen) und, wie sich gezeigt hat, er erst vom Du-Ich zum Ich-Du kommt, muss das Verhältnis zum Du als horizontal-vertikales bestimmt werden. Die Reziprozität ergibt sich erst im Laufe des Verhältnisses und meint vor allem ein wechselseitiges Aneinander-Wirken und weniger eine symmetrische ethische Verpflichtung. Eingesetzt wird das Verhältnis anfänglich als vertikales, welches das Ich gegenüber dem Du verpflichtet, ohne dass jenes davon ausgehen kann, dass das Du in gleicher Weise ihm gegenüber verpflichtet wäre. 175 Somit unterbricht das Du den Weltlauf und seine alltägliche Ordnung und Orientierung. Die Welt wird zur Schöpfung umgestaltet. Das, was im Ich-Es als vergangen erscheint, wird gegenwärtig im Ereignis der Begegnung. Zwar liegt auch dem Ich-Du eine Trennung zugrunde – denn der begegnende Andere bleibt ja immer noch ein Du. Dieses bleibt jedoch, im Unterschied zum Es des Ich-Es, undefiniert und fordert eine Anerkennung seiner Andersheit. 176 Es lässt sich nicht auf den Begriff bringen, sondern überschreitet diesen. Der Begriff bezieht sich auf etwas Vergangenes, schon Festgestelltes, welches zwar gebrauchend aktualisiert wird, zu dem sich das Verhältnis aber sui generis nicht verändert. Es geschieht das immer Gleiche. Etwas Neues kann nur in der Begegnung mit einem Du geschehen, das die weltlich-operative Kausalität aufsprengt. Diese Verstrickung in das Ewig-Gleiche und Bekannte war das Manko bei Schapp, das mit der Dialogik Bubers überwunden werden kann.
1.3.2. Geist und Sprache Ein Schlüsselwort zum Verständnis Bubers und seiner Auffassung von Sprache ist Geist. 177 Der Geist verbindet das Ich-Du mit der EsVgl. hierzu: Rauscher, Josef: Sprache und Ethik. Die Konstitution der Sprache und der Ursprung des Ethischen in der Grundkonstellation von Antwort und Verantwortung. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001, S. 264 f.; sowie: Marten, Dennis: Zwischen Asymmetrie und Dialog: Exteriorität bei Martin Buber und Emmanuel Levinas. In: Martin Buber-Gesellschaft e. V. (Hrsg.): Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft Nr. 17. Bodenburg: Verlag Edition AV 2018, S. 89–116. Hier: S. 110 ff. 176 Vgl. Buber: Urdistanz und Beziehung, S. 30. 177 Folgende Ausführungen zum Geist orientieren sich an: Marten: Zwischen Asymmetrie und Dialog, S. 89–116, insbesondere Absatz 5: Die Exteriorität des Zwischen bei Buber, S. 106–110. 175
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welt. Er ermöglicht deren kreative Umgestaltung. Buber spricht der Eswelt eine eigene und notwendige Geltung zu. Es bedürfe durchaus Strukturen der Ökonomie und der Verwaltung, um das gemeinschaftliche Leben der Menschen zu organisieren. 178 Allerdings sollten diese »am Geist teilhaben […]«, 179 damit sie nicht zum eigentlichen Zweck werden, dem die Menschen und die Welt zu unterwerfen sind. Der Geist schafft also eine Relation, die nicht mit der Unmittelbarkeit des Ich-Du zusammenfällt, aber auch nicht die klare und statische Ordnung des Ich-Es reproduziert. Vielmehr zeigt er sich als Wirkung des Du an der Eswelt, als diese »durchdringende[…] und verwandelnde[…] Gewalt.« 180 Der Geist scheint also das Geschehen zu sein, welches das menschliche Leben als »Schwingen zwischen Du und Es« 181 bestimmt und ihm einen Sinn gibt. Ist er also die Sprache selbst, die das Sprechen des Ich-Du bzw. des Ich-Es überhaupt erst ermöglicht, die also den beiden Grundworten vorgängig sein muss? Sprache sei für Buber, so Bernhard Casper in seinem Standardwerk zum dialogischen Denken, »das höchste Zeugnis für den Akt der Begegnung.« 182 Damit ist sie nicht die Begegnung selbst, sondern ein besonderer – der besondere! – Ausdruck dieser Begegnung. Die Begegnung ist allerdings noch von etwas anderem durchweht, was der Sprache transzendent zu sein scheint, nämlich eben vom Geist als der »unaussagbare[n] Wirklichkeit des Zwischen.« 183 Das Zwischen wiederum ist die eigentümliche Sphäre, in der die Begegnung stattfindet. 184 Die an der Begegnung beteiligten Pole werden in das ZwiVgl. Buber: Ich und Du, S. 49 ff. Ebd., S. 51. 180 Ebd., S. 53. 181 Ebd., S. 55. 182 Casper, Bernhard: Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. Um einen Exkurs zu Emmanuel Levinas erweiterte Neuausgabe. Freiburg: Alber 2017 (dia-logik Band 12. Hrsg. v. Karl-Heinz Brodbeck; Stephan Grätzel; Bernd Schuppener), S. 286. 183 Ebd. 184 Begegnung und Beziehung seien, so Buber in Das Problem des Menschen (1948), nicht »in den Innerlichkeiten der Einzelnen oder in einer sie umfassenden und bestimmenden Allgemeinwelt lokalisiert, sondern faktisch zwischen ihnen. Das Zwischen ist nicht eine Hilfskonstruktion, sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens; es hat die spezifische Beachtung nicht gefunden, weil es zum Unterschied von Individualseele und Umwelt keine schlichte Kontinuität aufweist, sondern sich nach Maßgabe der menschlichen Begegnungen jeweils neu konstituiert […].« (Buber, Martin: Das Problem des Menschen. Heidelberg: Lambert Schneider 1948, S. 165 f.). 178 179
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schen hineingerufen. Dem »Sein des Zwischen« muss daher »eine Priorität vor dem Sein der einander Begegnenden zugeschrieben werden […].« 185 Die Möglichkeit in das Zwischen gerufen zu werden und dort an der Wirklichkeit des Geistes teilzuhaben, ist durch das bereits genannte eingeborene Du gegeben, das sich am konkreten begegnenden Du verwirklicht. Hier zeigt sich ein Zirkelschluss: Das Du ist als eingeborenes immer schon gesprochen und angesprochen. Die ›Keimzelle‹ des Zwischen ist schon angelegt. Es ist jedoch noch nicht voll entfaltet. Es entfaltet sich erst mit dem konkreten begegnenden Du und konstituiert sich von dort aus neu. Es ist also sowohl die Bedingung des Du-Sprechens als auch dessen Folge. 186 Die Sphäre des Zwischen ist den Begegnenden gemeinsam, greift jedoch über ihre jeweiligen Eigenbereiche hinaus. In ihr konstituiert sich die menschliche Wirklichkeit, deren »Urkategorie« 187 die Sphäre des Zwischen ist. Das Zwischen ist gewissermaßen urgründiger als die Sprache, die ihm »nur Zeichen und Medium« 188 sei. Es müssen also das Zwischen als Sphäre der Begegnung, die Sprache als das, was in ihr geschieht, aber, da auch das Ich-Es eine sprachliche Setzung ist, über das Zwischen hinausgeht, 189 und Geist als die Wirklichkeit des Zwischen voneinander getrennt werden. Zum Geist heißt es in Ich und Du: »Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. Der Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer, Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem Geheimnis ansprechende Du. Geist ist Wort.« 190 Geist ist Wort. Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Ant-wort. Geist erscheint hier als das Wechselspiel zwischen einem Ruf oder einer Anrede und der darauf erfolgenden Reaktion. Damit kann nur das Ich-Du gemeint sein. Dieses liegt den »Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung« zugrunde. Sprache, Kunst und Handlung sind wesenhaft in der BeCasper: Das Dialogische Denken, S. 272. Vgl. Marten: Zwischen Asymmetrie und Dialog, S. 107 f. 187 Buber: Das Problem des Menschen, S. 165. 188 Ebd. 189 Die Sprache selbst ist also, wie die Grundworte Ich-Du und Ich-Es, zwiefältig. Es gibt eine Sprache der Begegnung und eine Sprache der Erfahrung. Casper weist zu Recht darauf hin, dass das Phänomen Sprache bei Buber nicht im Mittelpunkt stehe und nicht klar werde, ob das Sein als Sprache oder Gespräch verstanden werde (vgl. Casper: Das Dialogische Denken, S. 286). Diese Problematik, die mit der Antinomie von Ich-Du und Ich-Es gegeben ist, wird in Kap. 1.3.3. thematisiert. 190 Buber: Ich und Du, S. 41. 185 186
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gegnung begründet, greifen jedoch auf die Eswelt über. Der Geist als die Wirklichkeit der Begegnung ist ihnen deshalb übergeordnet. Hier zeigt sich erneut jener oben erwähnte Zirkelschluss: Das (Grund-) Wort wird zur Sprache. Es muss allerdings bereits in der Sprache sein, um gesprochen werden zu können. Weiterhin heißt es dann auch: »Und wie die sprachliche Rede wohl erst im Gehirn des Menschen sich worten, dann in seiner Kehle sich lauten mag, beides aber sind nur Brechungen des wahren Vorgangs, in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr, – so alles Wort, so aller Geist. Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. Vermöge seiner Beziehungskraft allein vermag der Mensch im Geist zu leben.« 191
Zwar bleibt das Wort dem Geist zugeordnet: »[…] so alles Wort, so aller Geist.« Doch sind beide der Sprache als das sie Umgebende und Durchdringende abkünftig. Dies ist meines Erachtens kein Widerspruch zum vorhergehenden Zitat, sondern markiert das zirkuläre Verhältnis von Geist-als-Wort und zwiefältiger Sprache als schon geschehener und tendenziell immer geschehender Anrede und der sich daraus realisierenden Antwort, durch die das Ich-Es zum Ich-Du wird, sich also der Begegnung zuwendet und sich auf eine mögliche Beziehung einlässt, mit der Antwort das Du jedoch schon wieder von sich distanziert. 192 Gleiches gilt für das Zwischen: Es ist urgründiger als die Sprache, wird dem Menschen aber erst mit dem Sprechen des Ich-Du eröffnet. 193 Weil nun der Geist die »unaussagbare Wirklichkeit des Zwischen« ist und als diese Wirklichkeit »nur als paradoxe Einheit von Aktion und Passion zu denken ist«, 194 kann Buber schreiben: »Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag.« 195 So begegnet der Geist in der Verwirklichung der Beziehung zum Du im Zwischen, hängt also von der Sprachfähigkeit des Menschen ab, und ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit dafür, Ebd. Vgl. ebd., S. 41 f. 193 Hierbei ist zu beachten, dass Buber die Grundworte jeweils als »Haltung« bezeichnet (vgl. ebd., S. 7). D. h. das Sprechen der Grundworte kann auch non-verbal stattfinden. 194 Casper: Das Dialogische Denken, S. 286. Vgl. Buber: Ich und Du, S. 15, S. 78. 195 Vgl. ebd., S. 41. 191 192
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dass der Mensch überhaupt sprechen kann. Es ist daher davon auszugehen, dass Geist auch Wort ist, das sich dem Menschen aus der Sprache formt. Er ist aber nicht ausschließlich Wort. Bedenkt man dies, ist es kein Paradoxon, wenn Buber die Sprache als den »Urakt« 196 des Geistes bezeichnet. Der Geist aktiviert die latent immer vorhandene Sprachfähigkeit des Menschen, er macht ihn zum Handelnden – er inspiriert ihn. Aus dem Geist als Wirklichkeit der Begegnung formt sich die menschliche Sprache zu Worten, aus ihm drängt das Wort hinaus in die Welt. 197 Das Wort ist somit eine Art Emanation oder Hypostase des Geistes. Nur eben nicht die einzige. Der Geist ist nicht auf das Wort zu reduzieren, auch wenn das Wort der einzige Zugang zum Geist ist, der dem Menschen gewährt wird. Der Geist steht wie der Mensch in der Sprache, weil er überall steht (auch wenn er nicht immer und überall verwirklicht werden kann) und daher nicht vom genuin menschlichen Wahrnehmungshorizont, der nun einmal sprachlich ist, getrennt werden kann. Geist ist das, was mir begegnet, wenn ich dem »Unbesprechbaren« 198 begegne, auf das hin sich die Sprache wortet und auf das hin das Du gesprochen werden kann. Um diese etwas komplizierte Exegese noch einmal zusammenzufassen: Es sind drei ›Begriffe‹ voneinander zu trennen, die jedoch in einem Verhältnis zueinander stehen und gewissermaßen ineinander verschachtelt sind: Sprache, Geist und Zwischen. Die Sprache ist der Horizont des Menschen, das Medium, in dem er sich bewegt, in dem er begegnen, handeln, erkennen und verstehen kann. Dies heißt nicht, dass schlechterdings ›alles Sprache sei.‹ Doch formt sich dem Menschen alles in der Sprache. Sie ist der spezifisch menschliche Wahrnehmungshorizont, was nicht bedeutet, dass es nicht noch weitere Horizonte geben könnte. Doch sind diese dem Menschen nicht zugänglich. Deshalb muss auch die Begegnung, die selbst nicht Sprache ist, dem Menschen in der Sprache und als Sprache geschehen. Dies gilt nun ebenso für den Geist. Auch er steht dem Menschen in der Sprache, er ist aber nicht in ihr begrenzt. Entfaltet und verwirklicht, also für den Menschen in seine Wirklichkeit tretend, wird er im Grundwort Ich-Du: Als Wirklichkeit der Begegnung im ZwiEbd., S. 97. Die »Wirklichkeit des Zwischen«, also der Geist, will »Sprache werden« und zeichnet sich durch »Sprachstrebigkeit« aus (Casper: Das Dialogische Denken, S. 286). 198 Buber: Ich und Du, S. 96. 196 197
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schen, allerdings nicht als dieses Zwischen selbst, das der Raum oder die Sphäre ist, in dem der Geist begegnend dem Menschen wirklich wird. Er formt sich zum Ich-Du und zur Antwort – alles, was der Geist darüber hinaus umspannen oder in sich tragen mag, entzieht sich dem Menschen und bleibt ihm letztendlich Geheimnis. 199 Buber schreibt dementsprechend: »Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du [Hervorhebung D. M.].« 200 Es mag darüber hinaus noch weitere Kundgebungen des Geistes geben, die nicht menschlich sind. Von der Antwort des Menschen an sein Du jedenfalls, mit der sich die Sphäre des Zwischen entfaltet, durchwirkt der Geist potentiell das gesamte Leben, das auch die Eswelt mit einschließt. »Der Geist ist wahrhaft ›bei sich‹«, schreibt Buber, »wenn er der ihm [vom Menschen. Anm. D. M.] erschloßnen Welt gegenübertreten, sich ihr hingeben, sie und an ihr sich erlösen kann.« 201 Dies kann als Volte gegen eine in der Tradition Hegels stehende Geschichtsphilosophie interpretiert werden. Denn die Erschließung der Welt, womit die Eswelt gemeint ist, geschieht nicht linear fortlaufend durch eine Dialektik, die das Besondere negiert (vgl. Kap. 1.1.), sondern durch das Dusagenkönnen und dessen Kraft, die Präsenz des Geistes noch in der Eswelt zu vernehmen und diese an ihm auszurichten, ohne ihn aus der Welt zu verbannen. Die Eswelt wird damit nicht permanent zum Du, was gar nicht gelingen könnte, aber als von der Möglichkeit zum Du durchwirkte verstellt sie mit ihren Objektivationen nicht länger die Beziehungsfähigkeit der Menschen. Dies zu erreichen, so der Appell Bubers, ist die Aufgabe eines jeden Menschen. Jedem Menschen ist im Augenblick der Begegnung ein »Weltkonkretum« gegeben, 202 welches vom Du durchwirkt ist. Nehmen nun alle Menschen ihren Auftrag und ihre Sendung an und ver-antworten dieses Weltkonkretum auch dann, wenn es wieder zur Eswelt wird, weht über ihr die Präsenz des Geistes. Die Erlösung der Welt durch den Geist geschieht so quasi Stück für Stück. Sie geschieht, wenn sich Deshalb ist der Geist auch nur im »Schweigen aller Zungen« (ebd., S. 42); dort ›existiert‹ er in seiner Ganzheit, über die keine Aussage getroffen werden kann (dies mag das Erbe einer mystischen negativen Theologie sein). In Wort und Antwort ›ist‹ er nicht in diesem Sinne, sondern tut sich kund (vgl. ebd.), das heißt er offenbart sich in der für den Menschen zugänglichen Form. 200 Ebd., S. 41. 201 Ebd., S. 53. 202 Buber: Zwiesprache, S. 156. 199
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der Einzelne seiner Besonderheit bewusst ist und mit dem Ich-Du das Zwischen betritt, aus dem heraus er die Welt verändern und die Geschichte beeinflussen kann. Ist die gesamte Welt dann derart umgewendet, dass der Geist überall erscheinen kann, kann er sich schließlich selbst erlösen. Dafür bedarf es dieser ›Vorarbeit‹ des Menschen. Dies ist letztendlich ein messianischer Gedanke. Buber betont dieses dialogische Aufeinander-angewiesen-sein, wenn er Ich und Du mit den Worten schließt: »Und die Theophanie wird immer näher, sie nähert sich immer mehr der Sphäre zwischen den Wesen: nähert sich dem Reich, das in unsrer Mitte, im Dazwischen sich birgt. Die Geschichte ist eine geheimnisvolle Annäherung. Jede Spirale ihres Wegs führt uns in tiefres Verderben und in grundhaftere Umkehr zugleich. Das Ereignis aber, dessen Weltseite Umkehr heißt, dessen Gottesseite heißt Erlösung.« 203
Das Verderben wird hier nicht, wie es bei Hegel der Fall ist, gerechtfertigt. Es wird zum Auftrag erklärt, es in der Umkehr zu überwinden.
1.3.3. Bubers Dialogik und das In-Geschichten-sein Ich möchte im Folgenden versuchen, die bei Schapp und Buber herausgearbeiteten Strukturen miteinander zu verbinden. Wir hatten festgestellt, dass Schapps Geschichten-Philosophie des dialogischen Moments entbehrt, die Primordialität des Anderen übersieht und die Verstrickung in Geschichten letztendlich auf einer Perpetuierung der Eigengeschichte beruht und damit keinen wirklichen Perspektivwechsel, keine Umkehr hin zum Anderen zulässt. Buber indessen entwickelt in seiner Dialogphilosophie keinen explizit narrativen Ansatz. Wir müssen uns an dieser Stelle daher mit Spekulationen zufrieden geben, die meines Erachtens dennoch ein gewisses Fundament in Bubers Texten beanspruchen können. Ein solches ist bereits mit den beiden Grundworten Ich-Du und Ich-Es gegeben, die nicht nur verschiedene Modi des Verhältnisses zum Anderen bedeuten, sondern auch unterschiedliche Zeiträume realisieren: Die Gegenwärtigkeit des Ich-Du wird im Ich-Es zur Vergangenheit. Damit sind die Grundlagen der Narration gegeben. Denn diese nimmt Vergangenes auf und bringt es zur Gegenwart. Dies ge203
Buber: Ich und Du, S. 121.
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schieht bereits, sobald ich mit jemandem spreche. Denn dann beziehe ich mich nicht mehr ausschließlich auf ihn, sondern auch auf etwas ihm Äußeres, nämlich auf die durch die Sprache mit ihm geteilte Welt. Mir scheint hier eine Modifikation des bipolaren Ansatzes Bubers notwendig zu sein. Denn die Welt, die aus dem Zwischen des Gesprächs erwächst, ist nicht schon die gegenständliche Eswelt, die dem objektiven Gebrauch unterworfen ist. Ich möchte für diese Welt, die noch keine Eswelt ist, in der die Unmittelbarkeit der Begegnung jedoch bereits überwunden ist, den Begriff Zwischen-Welt vorschlagen. Diese ist das gemeinsame ›Produkt‹ von Ich und Du. Die Zwischen-Welt fällt nicht zusammen mit dem Zwischen Bubers, welches in diesem Sinne gar keine Welt kennt, weil es die Sphäre des Ich-Du ist. Die Zwischen-Welt ist vielmehr die vom Geist umfangene und verlebendigte Welt. Sie ist nicht eigenständig in ihrer Gegenständlichkeit, sondern von Beziehungen durchwirkt. Zur Gegenständlichkeit kommt sie erst dann, wenn sie diesem lebendigen Beziehungsgeflecht enthoben wird. Erst dann kann von der Eswelt gesprochen werden, in der das Ich als Ich-Es die Dinge ihrem funktionalen Zweck gemäß gebrauchen kann. In diesem Moment ist die Eswelt ganz Teil der Ichwelt. Sobald allerdings wieder eine Begegnung mit einem Du stattfindet, werden die Dinge der Ichwelt entrissen. Schwillt die Unmittelbarkeit der Begegnung wieder ab, hinterlässt sie eine reorganisierte Welt, in der nun Geschichten als Beziehungsgeflecht wirksam werden können. Die Zwischen-Welt ist eine mit Geschichten beladene Welt – Geschichten, die, anders als bei Schapp, nicht ausschließlich in einer Eigengeschichte, die Fremdes ausschließt, organisiert sind. Bubers Appell, den »Panzer«, der uns vom »Wagnis« der Begegnung trennt, abzulegen, 204 und in der »Umkehr« als »Wesenstat« die »verschüttete Beziehungskraft des Menschen« auferstehen zu lassen, 205 würde, derart modifiziert, darauf hinauslaufen, das geschichtliche Potential auch in der Eswelt offenzuhalten und diese immer wieder davon überformen zu lassen, 206 das heißt mit dem Du des Anderen und dem Wirken des Geistes die Eswelt zur Zwischen-Welt zu machen, in der die Geschichte gegenwärtig wird, erzählt und weiter erzählt werBuber: Zwiesprache, S. 153. Buber: Ich und Du, S. 102. 206 Buber spricht davon, dass die Aktualität des Du zur Latenz werde, in der »die Gegenwart, nicht aber die Urpräsenz« abnehme, wenn die Begegnung vorüber ist (ebd., S. 115). Die Latenz sei »nur das Atemholen der Aktualität, darin das Du präsent bleibt.« (Ebd., S. 101) 204 205
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den kann. Die Dinge bekommen in der erzählten und erzählbaren Zwischen-Welt eine andere Bedeutung, sie sind nicht länger dem egoistischen Gebrauch des Ich unterworfen. 207 Durch den Anderen bekommen sie unter Umständen eine Bedeutung, die dem Ich zuvor nicht geläufig war, und werden in einen anderen Geschichten-Zusammenhang gerückt. Sie können gar zum Skandalon, zum Stolperstein werden, wenn ihnen eine Bedeutung zugesprochen wird, die dem gewohnten Verständnis diametral entgegengesetzt ist. Die Dinge werden aus ihrer Passivität erlöst, insofern sich durch ihre Umdeutung ganz neue Dynamiken ergeben können, die losgelöst vom begegnenden menschlichen Du geschehen. 208 Der Zwischen-Welt kommt so eine Scharnierfunktion zwischen Ich-Du und Ich-Es zu. Es-Anteile enthält sie, insofern der Zugriff auf sie durch die Erzählung retrospektiv ist und auf Vergangenes rekurriert. Dies ist aber nur die eine Seite. Denn das Vergangene der Erzählung ist nicht konserviert, sondern bleibt durch die ›Tat‹ des Erzählens als Teil der Gegenwart erhalten. Mit Erzählung ist also nicht ausschließlich die literarische Form gemeint. Sie ist vielmehr der Modus des Verstehens des Daseins als In-der-Welt-sein, welches, wie uns Schapp gezeigt hat, ein In-Geschichten-sein ist. Als solche Lebenserzählung ist das In-Geschichten-sein weder ganz vergangen noch ganz gegenwärtig oder ganz zukünftig. Es entwirft sich, indem es im Erzählen diese Zeitebenen zusammenschließt. Das Erzählen findet sein Material einerseits in den Es-Anteilen der Zwischen-Welt, die als bereits Erzähltes der Erzählung Vergangenes sind, durch das ErDie Dinge der Zwischen-Welt sind dem sehr ähnlich, was Giovanni Tidona in Hinblick auf Heidegger und Celan als »Grenz-Objekte« beschreibt, denen als »versammlungsschaffende und beziehungssetzende Objekte« eine »anthropologische Rolle« zukomme (Tidona, Giovanni: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken. Freiburg: Alber 2014 (dia-logik Band 7. Hrsg. v. Karl-Heinz Brodbeck; Stephan Grätzel; Bernd Schuppener), S. 214 ff.). Sie sind nicht mehr dem Gebrauch unterworfen, sondern Teil einer lebendigen Welt, in der sie eigens begegnen können und damit auch Einfluss auf die menschlichen Beziehungen nehmen. Die Zwischen-Welt kann mithin als Netz aus jenen »Grenz-Objekten« begriffen werden (Kap. 5.1.1.). 208 Vgl. hierzu Grätzels Hinweise zur Aufwertung der Eswelt in Bezug auf Tidona und zur Resonanztheorie Hartmut Rosas: Natur, Landschaften, Plätze (also umfassendere ›Dingzusammenhänge‹) können quasi eigenständige Dialogpartner werden. Zugrunde liegen ihnen jedoch immer Geschichten, die ursprünglich in einem mensch-menschlichen Dialog entstanden sind (vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 256 f.). Die Eswelt wird also zunächst von einem Dritten, dem anderen Menschen, vorgestellt, bevor sie ein dialogisches ›Eigenleben‹ führen kann (vgl. ebd., S. 258 ff.). 207
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Martin Bubers Philosophie des Dialogs
zählen aber wieder gegenwärtig, lebendig und wirksam werden. Andererseits schöpft das Erzählen ebenso aus dem Gegenwärtigen der aktuellen Begegnung, welches noch nicht zu einer Erzählung geworden ist. 209 Die Betrachtungen haben gezeigt, dass Bubers Schema zu starr ist, um das narrative Element in seiner Relevanz für das menschliche Dasein adäquat zu würdigen. 210 Eine Kritik an der Unzulänglichkeit von Bubers Ich-Du und Ich-Es kommt in einem Brief Rosenzweigs vom September 1922 zur Sprache. 211 Rosenzweig wirft Buber vor, dem Ich-Du mit dem Ich-Es einen »Krüppel zum Gegner« 212 zu geben. Das Ich-Du sei dermaßen übermächtig, dass alles andere – also das Es – »zu den Toten« 213 geworfen werde. Das Es jedoch, von Buber reduziert auf die Welt der gegenständlichen Erfahrung und des instrumentellen Gebrauchs, sei nicht (nur) tot, denn es sei von Gott geschaffen. 214 Dieser spreche nun »Eingangs«, also mit dem Schöpfungsgeschehen, ein Er-Es, das neben dem Ich-Du als weiteres wesenhaft gesprochenes Grundwort 215 aufgefasst werden müsse. Er, Gott, sei in einem lebendigen Verhältnis zur Schöpfung. Diese werde dann vom Menschen aufgenommen, indem dieser Wir-Es spreche – also nicht als Einzelner, sondern als gemeinsam sprechende Gemeinschaft
Entsprechungen finden sich in produktionsästhetischer Hinsicht: Der Schriftsteller nimmt im Prozess des Schreibens auf bereits Geschriebenes, Erzähltes und Gehörtes Bezug, erneuert diese Bezüge durch die Aufnahme in seine Erzählung, geht also einen Dialog mit dem ›gegenwärtigen Vergangenen‹ ein, aus dem etwas Neues entstehen kann. Ähnliches gilt für die Rezeptionsästhetik der Lektüre, die mit Bubers Worten eine Begegnung mit dem Du der ›geistigen Wesenheiten‹ involviert: Die Erzählung wird gelesen, ihr Vergangenes drängt in die Gegenwart und eröffnet dort die Zwischen-Welt, in welcher ein Dialog des Lesers mit dem Du oder dem Anderen des Textes stattfindet. 210 Buber vermag diesen Prozess auch dann nicht gänzlich zu fassen, wenn er zwischen »lyrisch-dramatische[n] Episoden« der Du-Momente und der »festen und zuträglichen Chronik« der Eswelt unterscheidet (Buber: Ich und Du, S. 37), da er hier in der Dichotomie von Ich-Du und Ich-Es verbleibt. 211 Dieser Brief findet sich bei Casper (vgl. Casper, Bernhard: Franz Rosenzweigs Kritik an Bubers »Ich und Du.« In: Ders.: Religion der Erfahrung, S. 101–116. Hier: S. 113–116). 212 Ebd., S. 113. 213 Ebd., S. 114. 214 Vgl. ebd. 215 Ein Grundwort sei wesenhaft gesprochen, wenn der Begegnende in seiner Ganzheit und die Beziehung in ihrer Gegenseitigkeit bejaht werden (vgl. Buber: Ich und Du, S. 20). Für Buber ist dies nur im Ich-Du, nicht aber im Ich-Es der Fall. 209
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mit der geschaffenen Schöpfung in eine Beziehung trete. Man kann sagen: Im gemeinsamen Sprechen (hiermit ist wohl das Gebet gemeint) verlebendigen und vergegenwärtigen die Menschen die gesamte Schöpfung. Es gebe, so Rosenzweig, also statt nur einem wesenhaft gesprochenen Grundwort derer drei: Er-Es, Wir-Es und IchDu. 216 Die Welt als lebendige, und nicht als tote und zu gebrauchende, werde erst im gemeinsamen Wir-Es-sprechen konstituiert. 217 Mit dem Sprechen (oder Beten) des Wir-Es wird der Schöpfungsvorgang wiederholt und die Vergangenheit, welche, wie Casper bemerkt, 218 von Buber nicht wirklich ernst genommen wird, bekommt ihr Recht zugesprochen. Das Erzählen und die Erzählung spielen daher für Rosenzweigs Philosophie eine ausschlaggebende Rolle.
1.4. Franz Rosenzweigs sprachphilosophisches System in Der Stern der Erlösung Das für diese Arbeit grundlegende dialogische Moment konnten wir anhand der Texte Bubers herausarbeiten. Es hat sich allerdings gezeigt, dass seiner Philosophie der narrative Ansatz fehlt, welcher das epistemologische, anthropologische und letztendlich auch ethische Grundgerüst des menschlichen Daseins ist. Die spekulativen Überlegungen zum Erzählen und zur Erzählung als konstitutivem Element einer Philosophie des Dialogs sollen im Folgenden anhand von Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung und anderer in dessen Umfeld entstandener Arbeiten Rosenzweigs gefestigt werden. Letztendlich kann das dynamische Geschehen des Sterns, wie ihn Rosenzweig zu konstruieren versucht, als In-Geschichten-sein verstanden werden.
1.4.1. Zur Systematik – Ein Überblick Um ein Verständnis von Rosenzweigs Sprachphilosophie zu bekommen, ist es hilfreich, zunächst die Struktur von Der Stern der ErVgl. Casper: Franz Rosenzweigs Kritik an Bubers »Ich und Du«, S. 114. So Casper in seinem Kommentar zum besagten Brief Rosenzweigs (vgl. ebd., S. 107). 218 Vgl. ebd. 216 217
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lösung in den Blick zu nehmen. Dies soll keine tiefgehende Untersuchung dieses Werkes sein oder eine solche ersetzen, was die Arbeit aufgrund der Komplexität des Sterns sprengen würde. Allerdings sind die Einzelheiten, denen wir uns in den nachfolgenden Abschnitten widmen werden, nur innerhalb ihrer kontextualen Einbindung zu verstehen. Der Stern ist in drei Teile gegliedert, die wiederum aus jeweils drei Büchern samt einer jeweiligen Einleitung bestehen. Der erste Teil behandelt die bereits erwähnten Elemente oder Urphänomene Gott, Welt und Mensch. Diese werden unabhängig voneinander untersucht. Alles andere außerhalb des jeweiligen Urphänomens wird ›ausgeschaltet‹, weshalb man mit Casper von einer transzendentalen Reduktion sprechen kann, der eine eidetische Reduktion folgt, insofern durchaus nach dem jeweiligen ›Wesen‹ der Urphänomene gefragt wird, welches sich allerdings antinomisch und mit einer inneren Dynamik zeigt, also nicht mit einer Substanz zusammenfällt. 219 Der zweite Teil behandelt die Bahn, also jenes Geschehen, welches zwischen den Elementen geschieht, wenn sie in eine Beziehung zueinander treten: Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Dies ist der ›Modus‹, in dem sich die Elemente für gewöhnlich zeigen: In der wirklichen und lebendigen Sprache. 220 Die phänomenologische Untersuchung im ersten Teil ist schon ein Zurücktreten oder eine Stillstellung dieses Geschehens. Der dritte Teil behandelt nun die Gestalt des Sterns der Erlösung selbst. Mit ihr entfaltet sich das Dasein, so möchte ich konstatieren, als In-Geschichten-sein. Hier findet es Ordnung und Orientierung. Das Symbol des Sterns, seine Elemente und Bahnen, steht für das dialogische, weltschaffende und sie durchdringende Geschehen der Sprache. Wir können und müssen uns hier den Davidstern, das Symbol des Judentums, vorstellen. Der Stern ist Werk und Symbol, 221 System und Offenbarung. 222
Vgl. Casper, Bernhard: Transzendentale Phänomenalität und ereignetes Ereignis. Der Sprung in ein hermeneutisches Denken. In: Ders.: Religion der Erfahrung, S. 27– 38. Hier: S. 29 f. 220 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 121. 221 Im Folgenden wird, wie bereits zuvor, wenn vom Werk die Rede ist, Stern kursiv gesetzt. Recte bezeichnet das Symbol, den Davidstern. 222 So der Titel der Monographie von Stéphane Mosès (vgl. Mosès, Stéphane: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs. München: Fink 1985 (Über219
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Die Argumentation des Sterns folgt einer strengen Systematik, die von der lebendigen Sprache, dem Erleben und Erfahren der Subjektivität ausgeht. Die Grundlage des Sterns, sowohl des Werks als auch des Symbols, ist die immer wieder erneut stattfindende Offenbarung, die empirisch im Alltag verwurzelt ist und auch immer wieder in diesen zurück findet. 223 Leben und Sprache durchdringen also den Stern. Selbst im ersten Teil, in dem der Erlebnisstrom gewissermaßen stillgestellt wird, um die transzendentalen Voraussetzungen zu klären, ist die Dialogizität des Geschehens keimhaft angelegt, auch wenn jene Sprachkeime, die Rosenzweig »Urworte« nennt, 224 noch nicht die Schale hin zum Gespräch durchbrochen haben. Der Durchbruch zur lebendigen Sprache geschieht im zweiten Teil. Hier zeigt sich das Grundgerüst der Erzählung, hier werden Anfang (Vergangenheit = Schöpfung), Mitte (Gegenwart = Offenbarung) und Ende (Zukunft = Erlösung) gesetzt. Ihre Erfüllung erfahren Sprache und Erzählung schließlich im dritten Teil, der als beispielhafte Darstellung des sprachlich-narrativ erfahrenen Lebens gelesen werden kann – eingebettet in den Stern artikulieren sich die beiden großen ›Erzählungen‹ des Judentums und des Christentums. Das mag nun sehr spezifisch erscheinen. Jenseits jeder Konfession, jeder Kultur und jeder sonstigen Glaubensüberzeugung zeigt sich jedoch: 225 Das Geschehen des Sterns, Sprache und Leben, drängen, von ihren rudimentären Vor-Formen aus sich immer weiter ausformend, letztendlich zur Erzählung, die das Leben als Geschichte und Geschichten strukturiert. Das Leben kann also letztendlich nur als Lebensgeschichte gelebt werden, nur in ihr erfüllt sich die Verheißung des Sterns, nur in ihr findet das Leben Bedeutung und mit ihr schließlich
gänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels; Bd. 11). 223 Rosenzweig spricht in seinen nachträglichen Bemerkungen zum Stern der Erlösung von »erfahrende[r] Philosophie« (vgl. Rosenzweig, Franz: Das neue Denken, S. 101). 224 Es sind dies die in jedem Element jeweils verschieden zur Geltung kommenden drei Worte ›Ja‹, ›Und‹, ›Nein‹. Jedes Element wird in sich bejaht und verneint. Das ›Und‹ verbindet Affirmation und Negation miteinander, ohne sie aufzuheben (vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 34 f.). 225 Rosenzweig unterstreicht, dass es sich beim Stern nicht ausschließlich um ein jüdisches Buch handle, ja noch nicht einmal um Religionsphilosophie, sondern »bloß [um] ein System der Philosophie.« (Rosenzweig: Das neue Denken, S. 97) Damit formuliert er einen universalen Anspruch.
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Franz Rosenzweigs sprachphilosophisches System in Der Stern der Erlösung
Erlösung. Damit nimmt Rosenzweig grundlegende Gedanken der späteren Hermeneutik Schapps und Ricœurs vorweg.
1.4.2. Die Elemente Obwohl die phänomenologische Analyse der Elemente Gott, Welt und Mensch für die Ausgestaltung des In-Geschichten-seins von untergeordneter Bedeutung ist, möchte ich dennoch auf sie eingehen, da sie, wie bereits in den einleitenden Bemerkungen zu diesem Kapitel angemerkt, die Grundlage von Rosenzweigs Idealismus-Kritik darstellt. In seinem ›nachträglichen Vorwort‹ zum Stern unterscheidet Rosenzweig zwei Arten des Denkens voneinander, die er altes und neues Denken beziehungsweise »Denkdenken« und »Sprachdenken« nennt. 226 Das alte Denken ist jenes, das er im ersten Teil des Stern ›zerschlägt‹ und von dessen Trümmern sich das neue Denken erhebt. Somit ist der erste Teil die Schnittstelle zwischen altem und neuem Denken. Denn das alte Denken, das klassischerweise das Denken der Philosophie gewesen sei, »frug nach dem ›Wesen‹«, nach dem, »was ein Ding ›eigentlich‹ sei.« 227 Von dieser Frage geht Rosenzweig im ersten Teil selbst aus, auch wenn er zu einer anderen Antwort kommt. Denn das Problem des alten Denkens sei es gewesen, dass es das Wesen eines Dings, und auch der Urphänomene, immer in einem anderen sah, Welt dürfe nicht Welt sein, Gott nicht Gott, der Mensch nicht der Mensch, sondern müsse ›eigentlich‹ etwas ganz anderes sein. 228 Solche intellektualistischen Rückführungen kennzeichneten die drei Epochen der europäischen Philosophie: »die kosmologische Antike, das theologische Mittelalter, die anthropologische Neuzeit.« 229 Rosenzweig meint damit, wobei sein Denken an dieser Stelle etwas schematisch erscheint, dass in der Antike die beiden Elemente Gott und Mensch auf die Welt, den Kosmos, zurückgeführt worden seien, im Mittelalter die Elemente Welt und Mensch auf Gott, und in der Neuzeit die Elemente Gott und Welt auf den Menschen, das Subjekt, das Ich. Allem sollte eine einheitliche Substanz zu Grunde lie226 227 228 229
Vgl. Rosenzweig, Franz: Das neue Denken, S. 109 f. Ebd., S. 100. Vgl. ebd. Ebd.
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gen – alles sollte Eines sein. Alles, was ist, sollte denkbar sein. Dafür musste es durch ein solches Substanz-Denken aber erst denkbar gemacht werden. Die zwanghafte Vorstellung einer Identität von Sein und Denken zog sich so, seit Parmenides, durch die Philosophiegeschichte. 230 Problematisch daran ist, dass die Philosophie damit die Unterschiedlichkeit und die Vielfältigkeit des Existierenden leugnete und sich eine Metaphysik entwarf, die losgelöst von jedweder menschlichen Erfahrung sein musste, denn »[d]ie Erfahrung entdeckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder nur Menschliches, in der Welt nur Weltliches, in Gott nur Göttliches. Und nur in Gott Göttliches, nur in der Welt Weltliches, nur im Menschen Menschliches.« 231 Die Erfahrung entdeckt also nicht das Eine, nicht das All, das sich das alte Denken erdacht hatte. Versucht der Mensch nun, aus seiner Erfahrung heraus, das All zu denken, so zersplittert es ihm – eben in die Elemente Gott, Welt und Mensch. 232 Doch wie zeigen diese sich ihm, wenn sie nicht auf eine einheitliche Substanz zurückzuführen sind? Sie zeigen sich dem Bewusstsein, das sie zu denken versucht, zunächst als Nichts. 233 Dies ist alles, was vorausgesetzt werden kann, wenn man nicht schon eine zuvor definierte Qualität von Etwas auf die Elemente übertragen will, ein ›Vorurteil‹, das Rosenzweig ja gerade kritisiert. Dieses Nichts ist jedoch kein allgemeines, kein negatives Gegenstück zu einem Sein, welches als totalisierendes nur das absolute Nichts außer sich kennt – und mit ihm die absolute Nichtung jeder Andersheit –, sondern das jeweilige Nichts des jeweiligen Elements. 234 Muss man also bei einer negativen Theologie, einer negativen Ontologie sowie einer negativen Anthropologie verbleiben? Rosenzweig geht einen anderen Weg. Er ›leiht‹ sich die Sprache der Mathematik 235 – denn die Vorwelt der Elemente kennt noch keine Sprache, da die Sprache ein Geschehen zwischen den Elementen ausdrückt. Diese ›geliehene‹ Sprache besteht aus Verneinung und Bejahung, die auf das Nichts bezogen werden: Die Verneinung des Nichts und die Bejahung dessen, was nicht Nichts ist. 236 Der Begriff Mathematik sollte allerdings nicht in die Irre 230 231 232 233 234 235 236
Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 12 f. Rosenzweig: Das neue Denken, S. 101. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 21. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 26.
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Franz Rosenzweigs sprachphilosophisches System in Der Stern der Erlösung
führen, mit ihm ist eine formale Bestimmung von Rosenzweigs Vorgehen gemeint: Bejahung und Verneinung werden auf die zu ermittelnde ›Größe‹ (Gott, Welt, Mensch) bezogen, um diese näher bestimmen zu können. Das Resultat ist dann allerdings nicht eindeutig, sondern widersprüchlich. Affirmation und Negation werden nicht dialektisch aufgehoben, die Elemente verbleiben in ihrem Widerspruch – man könnte auch sagen: Die Elemente bleiben ›rein für sich‹ unerlöst, weshalb sie schließlich auch ›nach außen‹ zu den anderen Elementen dringen müssen, beziehungsweise als voneinander losgelöste eben nur in der theoretischen Reflexion erscheinen, aber nicht ›in Wirklichkeit‹ existieren. Im Fall des Elements Gott wird dessen Unendlichkeit bejaht. Da Gott ›für sich‹ aufgrund dieser Unendlichkeit nun aber nichts außer sich kennt, kann es nur Gottes Wesen sein, seine Physis, die als unendliche bejaht wird. Dieses Ja ist ganz »im Anfang«, da es eben außer der Unendlichkeit nichts gibt, was bejaht werden könnte, weshalb Rosenzweig das Ja auch als ein Urwort der Sprache bestimmen kann. 237 Dieses »im Anfang« ist eine klare Referenz auf den Beginn der Hebräischen Bibel, die mit eben diesen Worten einsetzt. Rosenzweig bereitet hier also bereits das Schöpfungsgeschehen (als creatio ex nihilo) vor, welches sich allerdings erst im Verhältnis zur Welt – also im zweiten Teil des Stern – vollenden kann. 238 Das Ja ist als Urwort das Merkmal der Urbestimmung Gottes: Gottes Unendlichkeit wird bejaht als »So«. 239 Grammatisch gesehen tritt aus der Bejahung also das Prädikat hervor: 240 Gott ist so (nämlich unendlich). Hier zeigt sich, wie Rosenzweig eine Art theologische Grammatik erarbeitet, die er dann im Verlauf des Stern entfaltet. Es bleibt allerdings nicht bei der Urbestimmung von Gott als »So«. Der Bejahung des Nichtnichts tritt die Verneinung des Nichts entgegen. Die Verneinung bezieht sich indes nicht auf das ›Wesen‹, sondern auf dessen »Bewegung«. 241 Denn würde bloß die Unendlichkeit Gottes bejaht, müsste er immer ›für sich‹ bleiben. In ihm ist jedoch, wie in den anderen beiden Elementen, sein Nach-außen-Drängen bereits angelegt. Aus der Verneinung des Nichts wird Gottes Freiheit ge-
237 238 239 240 241
Vgl. ebd., S. 28 f. Vgl. ebd., S. 131 ff. Ebd., S. 29. Vgl. ebd. Ebd., S. 30.
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boren. 242 Diese steht in einem Spannungsverhältnis zur Physis, weil sie als Verneinung auf etwas anderes geht – eben auf das, was sie verneint. Sie setzt sich nicht selbst als nähere Bestimmung des ›Wesens‹ im ›so‹, sondern als »nicht anders« ohne wesenhafte Bestimmung. 243 Wenn nun die Physis Gottes mit dem ›so‹ als »unbewegtes, unendliches Sein […]« gesetzt ist, 244 so wird mit dem Nein der unbeschränkten Freiheit über alles andere das ursprüngliche Subjekt gesetzt, das in seiner Handlung über sich hinaus geht. 245 Dieser Widerspruch zwischen Wesen und Tat, zwischen Physis und Freiheit ist einerseits antinomisch und ein Kampf Gottes mit sich selbst. Auf der anderen Seite macht er aber auch die Lebendigkeit Gottes aus. In ihm sind »Willkür« und »Macht« der göttlichen Freiheit und »Müssen« und »Schicksal« des göttlichen Wesens in einer antinomischen Dynamik zusammengeschlossen: Gott muss sich aus einer »unendlichen Bewegung« selbst gestalten. 246 Dies lässt sich semiotisch ausdrücken (auch hieran sehen wir, dass das Sprachdenken, das erst im zweiten Teil des Stern umgesetzt wird, schon angelegt ist): Die prädikativische Sinnaussage des bejahten »So« der göttlichen Physis schreitet zur Bedeutung voran, die sich in der Verneinung des Nichts als göttliche Freiheit ausdrückt. 247 Gott ist nicht nur ein fester Sinn, er bedeutet auch etwas über diesen Sinn hinaus, in seinem Fall die (hier noch selbst-schöpferische) Freiheit seiner Tat. Mit der Selbstgestaltung (man kann nun sagen: Gott gibt seinem Sinn selbst eine Bedeutung) tritt das dritte Urwort zwischen die beiden anderen Urworte ›Ja‹ und ›Nein‹ : Das ›Und‹ der inneren Dynamik Gottes. Das, was sich nun über Gott aussagen lässt, ist: »So und Nichtanders«. 248 Der Gott, der hier erscheint, ist zwar lebendig. Sein Nach-außen-Drängen ist, wie wir gesagt haben, bereits in ihm angelegt. Noch behält er seine Lebendigkeit allerdings für sich, da er sich nur selbst gestaltet. Der Gott, den wir hier erblicken, ist der Gott des (antiken) Mythos. Lebendig, aber nicht an den Menschen oder der
242 243 244 245 246 247 248
Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 31 f. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 32 f. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 34 ff. Vgl. ebd., S. 35.
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Welt interessiert, ergo beziehungslos. Mit anderen Worten: »das Metaphysische«. 249 Den gleichen Prozess führt Rosenzweig nun an den beiden anderen Elementen Welt und Mensch durch. Auch ihr jeweiliges Nichts wird zugleich bejaht und verneint, ohne dass dabei eine Synthese stattfinden könnte. Am Element Welt ist nun besonders interessant, dass sich an ihm die Nichtidentität von Sein und Denken zeigt, 250 wie am Element Gott die Nichtidentität von Wesen und Tat. Schon in der Einleitung zum ersten Teil des Stern stößt Rosenzweig auf das Paradoxon »wie die Welt zufällig sein kann, obwohl sie doch als notwendig gedacht werden muß.« 251 Hier zeigt sich Rosenzweigs Kritik am Logozentrismus am deutlichsten – also an jener bereits dekonstruierten Vorstellung, dass das All als solches dem Denken widerspruchslos zugänglich wäre. Er stellt heraus, dass die postulierte Einheit von Sein und Denken lediglich ein Konstrukt des Denkens selbst sei und diesem Denken bereits eine innere Nichtidentität zugrunde liege. Was der Mensch also als Einheit denke, sei die Einheit seines Denkens, von der aus allerdings keine Rückschlüsse auf das Sein gezogen werden könnten. 252 Was ist es also, was am Element Welt, das zunächst ebenfalls als Nichts erscheint, bejaht wird? Welches ist die Urbejahung, die Uraussage von der Welt? Wie wir bereits am Element Gott gesehen haben, kann vom Nichts aus nur ein Unendliches als Nichtnichts bejaht werden, da es noch keinerlei Bestimmung eines Etwas gibt. Dieses Unendliche ist hinsichtlich der Welt ihr »Überall und Immer«, 253 als das sie (dem Denken) erscheint. Es ist ihr »Logos«, 254 ihre allgemeine Ordnung, mithin: der Hegelsche Weltgeist oder die romantische »Weltseele.« 255 »So« erscheint die Welt. Hier haben wir also wieder die positive Urbestimmung. Allerdings ist die Welt eben nicht Geist, sie ist keine logische Ordnung, auch wenn sie dem Denken so erscheinen mag. Vielmehr »ist etwas andres noch in ihr, etwas Neues, Drängendes, Überwältigendes.« 256 Der Bejahung wird also auch hier 249 250 251 252 253 254 255 256
Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 13 f. Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 46. Ebd. Ebd., S. 48. Ebd., S. 48.
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eine Verneinung entgegengesetzt, die – wie die göttliche Freiheit Gottes Physis – die ruhende Ordnung der Welt erschüttert. Das Nichts der Welt wird verneint von der »Fülle der Besonderheit«, vom »unerschöpfliche[n] Brunnen der Erscheinung.« 257 Die Tatsache, dass immer wieder etwas Neues geboren wird, die Welt einer ständigen Veränderung unterworfen ist, es mithin vieles Einzelne und Besondere gibt, das nicht mit der Logik des (Welt-)Geistes im Denken einzuholen ist, ist das »nicht-anders« des Weltphänomens – alles Besondere ist, da einmalig, nicht wie sein anderes. 258 Auch hier verbleiben beide Urworte in ihrer antinomischen Spannung zueinander und werden mit dem ›Und‹ überbrückt: ›So und nicht-anders.‹ Aber auch dieser Widerspruch bleibt noch unerlöst und die Welt zeigt sich als »gestaltete«, jedoch nicht als »geschaffene«, 259 da sie weder zu Gott noch zum Menschen in Beziehung steht. Sie trägt ihren Grund (als Logos) in sich und prangt in »eigner Fülle«: Sie ist das »Metalogische«, 260 der beziehungslose, plastische Kosmos. Von den Urworten lässt sich nun sagen: Das ›Ja‹ ist das schaffende Urwort, das mit dem Nichtnichts die bewegungslose Physis des (antiken) Gottes und den ordnenden Logos der Welt schafft. Das ›Nein‹ ist als Verneinung des Nichts das zeugende Urwort, es zeugt bewegende Freiheit und die Fülle des Besonderen. Das ›Und‹ ist das gestaltende Urwort, es führt den Widerspruch zusammen, ohne ihn aufzulösen. 261 Die Bejahung, so haben wir gesehen, ist immer eine (positive) Urbestimmung oder Uraussage: Sie betrifft das Sein des jeweiligen Phänomens, welches für Gott das Sein im Unbedingten (seiner unendlichen Physis) und für die Welt das Sein im Allgemeinen (des Logos) ist. Der Mensch aber bejaht sein Sein im Besonderen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, denn er kennt ja nur sich: sein »Eigensein«. 262 Dieses ist zwar endlich, denn der Mensch ist sterblich. Er sieht sich dennoch ins Unendliche gesetzt, insofern er seine eigenen Maßstäbe setzt, ohne sich von anderen darin einschränken zu lassen. 263 Er be-
257 258 259 260 261 262 263
Ebd., S. 49. Vgl. ebd. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Vgl. ebd.
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zieht sich in seinem »persönlichen Ethos« 264 nur auf sich. Dieses ist seine positive Urbestimmung: Das »So« der grenzenlosen Selbstbejahung. Doch der Mensch strebt in seiner Hybris nach ›draußen‹. Er will sich entwerfen. Dies tut er in der Verneinung seines Nichts, in der Überwindung der Leere durch den Willen. 265 Auch hier zeigt sich, dass das Spannungsverhältnis im Inneren des Elements eine Dynamik auslöst, der Sinn zur Bedeutung wird: Der Mensch überschreitet sich in seinem So-sein, seine Sterblichkeit drängt ihn zum Entwurf. Der Mensch wird im Zusammenschluss von ›Ja‹ und ›Nein‹ im ›Und‹ zum Selbst, aber noch nicht zur »Persönlichkeit«, die eine Beziehung zu anderen Menschen impliziert. 266 Der Archetyp, der sich hieraus ergibt, ist der antike tragische Held, 267 der zum Untergang und damit zur Unsterblichkeit (im mythologischen Sinn) strebt. 268 Er kümmert sich in seinem Entwurf nur um sich. Ethos ist nicht mit Ethik, die Zwischenmenschliches impliziert, zu verwechseln: »Das Selbst lebt in keiner sittlichen Welt, es hat sein Ethos. Das Selbst ist metaethisch.« 269
1.4.3. Die Konstruktion des Sterns als In-Geschichten-sein: Schöpfung – Offenbarung – Erlösung Nun stehen also die drei Elemente vor uns. Es gibt kein All mehr, keine einheitliche Substanz, sei sie göttlich, weltlich oder menschlich, die allen Elementen zu Grunde liegen würde. Was sich zeigt, ist in sich widersprüchlich, aber allein aufgrund dieser Widersprüchlichkeit von einer Dynamik durchdrungen, die sich im ›Und‹ von ›Ja Und Nein‹, in dieser doppelten Überwindung ihres jeweiligen Nichts, gestaltet. Die Unerlöstheit und Erlösungsnotwendigkeit der voneinander losgelösten Elemente zeigt sich am deutlichsten im metaethischen Selbst des tragischen Heros. Stumm und allein bleibt ihm als ›Selbstverwirklichung‹ nur der Untergang. Aber auch der Gott, so ruhend und befriedigt er erscheinen mag, strebt durch seine Freiheit zu etwas 264 265 266 267 268 269
Ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 73 f. Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 85 ff. Ebd., S. 79.
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Anderem. Er will sich offenbaren, er will schöpferisch sein. Er will aus den noch stummen und geliehenen Urworten, aus der »Sprache vor der Sprache« 270 in die Sprache kommen, die aber nur zwischen den Elementen geschehen kann. 271 Diese drängen ins Wirkliche, indem sie einen Anfang setzen und nicht mehr nur als Ergebnis einer phänomenologischen Analyse erscheinen. 272 Die Vorwelt der isolierten Elemente wird zur Bahn ihrer Wirklichkeit. Das Erkennen wird zum Erleben. 273 Was nun erlebt wird, ist das Verhältnis der Elemente zueinander. Das philosophische Propädeutikum des ersten Teiles war notwendig, um dieses Geschehen verstehen zu können. Eine philosophische Stillstellung bringt uns jedoch nicht weiter. Zwar hat sie uns eines subjektiven Standpunktes versichert: Der des »in sich selbst versenkte[n] Selbst«, 274 welches in der Betrachtung das ihm sich zeigende Nichts überwinden konnte. Dies gelang jedoch nur, weil sich dieses Selbst aus der Wirklichkeit zurückgezogen hatte. Es bedarf aber eines neuen Vertrauens in die Wirklichkeit, welches vom philosophischen Fragen allein nicht begründet werden kann. 275 Es bedarf eines Übergangs vom alten in das neue Denken, wofür der Offenbarungsbegriff von zentraler Bedeutung ist. Die Offenbarung ist das Wunder, das nicht erkannt (im Sinne der Erkenntnis der Elemente), sondern erlebt wird. Der Inhalt der Offenbarung ist der Philosophie bereits durch ihre Vorarbeit (im ersten Teil des Stern) bekannt. 276 Doch ist dieser Inhalt noch nicht in das lebendige Geschehen der Wirklichkeit getreten und hat deshalb noch keinen Charakter der Offenbarung, die die SchöpEbd., S. 121. Hier zeigt sich, was Grätzel feststellt: Versöhnung (beziehungsweise Erlösung) ist das Ziel der Sprache (vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 26). 272 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 97. 273 So die in den Überschriften der Einleitungen des ersten und zweiten Teils genannten Modi der jeweiligen Untersuchung: »Über die Möglichkeit das All zu erkennen« (ebd., S. 3); »Über die Möglichkeit das Wunder zu erleben« (ebd., S. 103). 274 Ebd., S. 117. 275 Die Konsequenzen eines Verharrens im Denken der ›philosophischen‹ Methode, die diesem Vertrauen entsagt, beschreibt Rosenzweig anschaulich in Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand (vgl. Rosenzweig, Franz: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand (1921). In: Ders.: Mein Ich entsteht im Du. Ausgewählte Texte zu Sprache, Dialog und Übersetzung. Freiburg: Alber 2013 (dia-logik Band 5. Hrsg. v. Karl-Heinz Brodbeck; Stephan Grätzel; Bernd Schuppener), S. 25–80). Der Mensch wird vom ständigen Fragen nach der ›Eigentlichkeit‹ gelähmt und findet sich schließlich in seinem Leben nicht mehr zurecht. 276 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 120. 270 271
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fung mit ihrer Verheißung auf die Erlösung bezieht 277 und das Geschehen als zeitliches und geschichtliches konstituiert. Mit der Betonung des dynamischen Verhältnisses der Elemente zueinander ist eine Erkenntniskritik und eine Revision des philosophischen Wahrheitsbegriffs verbunden. So wenig sich die Elemente auf ein eindeutiges und widerspruchsfreies Wesen reduzieren lassen, ist die Wahrheit als letztgültige dem Dasein zugänglich. Vielmehr muss sich »›die‹ Wahrheit in unsre Wahrheit« wandeln und somit aufhören »zu sein, was wahr ›ist‹« und das werden, »was als wahr – bewährt werden will.« 278 Bewähren aber kann sich Wahrheit nur im Verlauf des Lebens selbst und nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – in der theoretischen Auseinandersetzung. Sie ist immer »Wahrheit für jemanden«, 279 der diese wiederum in der Begegnung mit anderen Menschen, Gott und Welt vertritt und unter Umständen revidieren muss. Auch in der Bewährung bleibt die Wahrheit dem Menschen unvollständig, wofür Rosenzweig den Begriff der »messianische[n] Erkenntnistheorie« 280 verwendet. Erkenntnis sei erst am Ende, »bei Gott […], nur vor ihm ist die Wahrheit Eine.« 281 Die »[i]rdische Wahrheit« aber bleibt »gespalten […].« 282 Rosenzweig bezieht diese irdische Wahrheit auf die beiden Glaubenswahrheiten von Judentum und Christentum. Beide sind gleich-gültig, beide führen zu Gott, vor dem sich die Eine Wahrheit zeigt – jedoch erst dann, wenn die Schöpfung erlöst ist. Die Ansicht, dass Wahrheit im und mit dem Leben bewährt werden müsse, dass der Mensch sich die Wahrheit »etwas kosten lässt« und sogar sein Leben für sie einsetze, 283 darf nicht als Ausdruck eines religiösen Fundamentalismus gewertet werden, sondern ist m. E. anschlussfähig an eine Annäherung an Wahrheit durch die Narration, die wiederum Auswirkungen auf die Lebensgestaltung und die ethische Ausrichtung des Lebens hat. Das, was als Wahrheit im Leben erkannt wird und dementsprechend in die Erzählung des eigenen Lebens eingeht, dient der Orientierung. Wahrheit wird im Zwischenmenschlichen gestiftet und stiftet ihrer-
277 278 279 280 281 282 283
Vgl. ebd. Rosenzweig: Das neue Denken, S. 117. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.
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seits ein Band »unter den Menschen […].« 284 Ihr Offenbarungscharakter besagt, dass die Wahrheit nicht allein vom Einzelmenschen konstruiert wird, sondern Andere ebenso teilhaben an ihr und auch ein Recht auf sie haben. Sie ist damit auch immer etwas Fremdes, eine Gegenposition zu dem, was bereits als Wahrheit ausgemacht wurde. Sie verpflichtet allerdings zugleich dazu, unter Umständen gegen Andere verteidigt zu werden. Übertragen auf die Systematik des Stern heißt das: Die Wahrheit, die in der Wirklichkeit zählt, ist nicht die elementare, die im Denken, wenn auch paradox, erkannt wird. Sie ist existentiell, wie Stéphane Mosès den Übergang des ersten zum zweiten Teil des Stern benennt. 285 Die Elemente treten nicht so in Erscheinung, wie sie sich dem Denken zeigen. Die Offenbarung der Elemente zeigt nicht ihren elementalen Charakter, sondern ihre existentielle Beziehung. 286 Die Methode des zweiten Teils kann deshalb auch nicht mehr die Mathematik sein, deren geliehene Worte zwar schon Sinn und Bedeutung vorkonstruiert haben, aber noch nicht wirken konnten. Wirken kann nur das Erzählen, das sich bekanntermaßen nicht einzelner Worte, sondern ganzer Sätze, die überdies auch nicht voneinander isoliert sein können, bedienen muss. Zentral für die »Methode des Erzählens« 287 ist das Verbum, das Zeit-Wort, 288 das nicht feststellt, sondern ein wechselhaftes und dynamisches Verhältnis herstellt. Schließlich schreitet das Leben wie das Erzählen voran. Im Leben, in der Existenz des Daseins spielt sich nichts vor dem Hintergrund einer vermeintlich zeitlosen Wirklichkeit ab. Die Zeit selbst geschieht. 289 Damit ist auch das »Sprechen […] zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es lässt sich seine Stichworte vom Ebd. »Vom Elementaren zur Existenz: das System der Umkehrungen« (Mosès: System und Offenbarung, S. 71). 286 »Während das erste Buch an das Wirkliche (die drei Elementarsubstanzen) von außen herangeht, wird es im zweiten von innen beschrieben. Das erste Buch entfaltet sich in einem abstrakten Raum, in dem die drei Substanzen (wenn auch aufgrund einer ursprünglichen Intuition des Wirklichen) nach einer rein begrifflichen Logik abgeleitet werden, während das zweite Buch die Existenz beschreibt, wie sie sich in der konkreten Realität der Sprache, der Zeit und der Vielheit der Personen entwickelt.« (Ebd., S. 71 f.). 287 Rosenzweig: Das neue Denken, S. 105. 288 Vgl. ebd., S. 106. 289 Vgl. ebd. 284 285
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andern geben.« 290 Dies geschieht schon im einfachen Gespräch. Denn vom Gespräch, zumindest dann, wenn es ein Hören und Antworten ist, weiß ich ja noch nicht, welchen Verlauf es nehmen wird oder was ich sagen werde oder was der Andere sagt. 291 Wenn das Gespräch keine Propaganda ist und auch keine dogmatische Überzeugungsarbeit sein soll, gehen die Gesprächspartner nicht von etwas aus, was sie immer schon wissen. Vielmehr erlangen sie ihr Wissen erst im Gespräch und in der Zeit, die es dauert. Das, was sie an Wissen vorher mit eingebracht haben mögen, wird im Gespräch erweitert, modifiziert oder vielleicht sogar erst richtig verstanden. So liege der Unterschied zwischen logischem (altem) und grammatischem (neuem) Denken »im Bedürfen des andern, und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit: denken heißt hier für niemanden denken und zu niemandem sprechen […], sprechen aber heißt zu jemandem sprechen und für jemanden [und damit auch immer mit jemandem. Anm. D. M.] denken; und dieser Jemand ist immer ein ganz bestimmter Jemand und hat nicht bloß Ohren wie die Allgemeinheit, sondern auch einen Mund.« 292
Das heißt dieser Jemand hört nicht bloß, er antwortet auch – und spricht schon, bevor ich sprechen kann (wie wir bereits bei Buber gesehen haben). Dies gilt nun nicht nur für die Menschen untereinander, sondern auch für die drei Elemente Gott, Welt und Mensch. Hier zeigt sich noch einmal in nuce die Methode von Rosenzweigs Vorgehen: Zuerst ist die Erfahrung, und zwar die des menschlichen Sprechens, des Gesprächs. Davon ausgehend stellt Rosenzweig seine Überlegungen zu den isolierten Elementen an, die er, im zweiten Teil des Stern, nun wieder ›ins Gespräch bringt‹. Er lässt sie sprechen in Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Die drei Elemente sind sich die jeweils Anderen, sie bedürfen einander, geben sich Zeit. Aus dem, was sie aneinander tun, ergibt sich die übergeordnete ›Erzählung‹, die der Mensch in seiner alltäglichen Interaktion mit einem Partner, sei dieser göttlich, weltlich oder menschlich, aufnimmt. 293 Ebd., S. 109. Vgl. ebd. 292 Ebd., S. 110. 293 Rosenzweig unterscheidet drei Modalitäten (vgl. Mosès: System und Offenbarung, S. 75). Die Modalität der Erzählung kommt genau genommen nur der Schöpfung zu, während die Offenbarung im Dialog beziehungsweise Zwiegespräch und die Erlösung im Gesang geschieht. Ich möchte dennoch sagen, dass das Gesamtgeschehen 290 291
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1.4.3.1. Schöpfung Die Interaktion zwischen Gott und Welt ist die Schöpfung. Gott tritt aus seinem In-sich-selbst-ruhen mit seiner Freiheit heraus und bejaht die Welt. Die göttliche Freiheit, die ursprünglich die Negation des Nichts war, wird zur Affirmation. 294 Gott wird vom Gott des Mythos zum Schöpfergott. Die Schöpfung ist somit bereits die erste Offenbarung Gottes an der Welt. 295 Die Welt indes ist keine gestaltete, wie sie für sich erschien, sondern eine geschaffene, womit auch ihr Geheimnis offenbar wird. 296 Im Medium der Sprache – also hier: des Erzählens – heißt dies: Die Welt als Schöpfung ist (zunächst) Vergangenheit. Denn sie ist ›da‹, von Gott geschaffen. 297 Wird auf sie Bezug genommen, geschieht dies in der Vergangenheitsform. Gott schuf die Welt, so heißt es im ersten Buch Mose, und befindet sie retrospektiv für gut. 298 Traditionell ist die Tempusform der Erzählung das Präteritum. Etwas Vergangenes wird erzählt. So geschieht es, wenn wir über die Schöpfung reden. Die Erzählung ist also die »Modalität« der Schöpfung. 299 1.4.3.2. Offenbarung Die Offenbarung bezeichnet das Geschehen zwischen Gott und Mensch. Zwar hat sich Gott bereits mit der Schöpfung offenbart und damit auch etwas an sich selbst getan: Er wurde zum Schöpfergott. Doch dies tat er durch seine bloße Tat, gesprochen hat er nur zu sich selbst, nicht aber zur Welt. Dies tat er erst mit der Schöpfung des Menschen. Doch sein Sprechen blieb noch ohne Antwort. 300 Um sich selbst vollkommen zu offenbaren, braucht er einen Partner, der auch zu ihm spricht. ebenso als Erzählung zu fassen ist, insofern in ihm die drei Modalitäten zusammen geschlossen sind, und, wie wir sehen werden, im dritten Teil des Stern in der Liturgie als Plot ihre spezifische narrative Gestaltung erhalten. 294 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 125 ff. Eine Übersicht der Umkehrungen von Negation und Affirmation zu jedem Element findet sich als Tabelle bei Mosès (vgl. Mosès: System und Offenbarung, S. 73). 295 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 128. 296 Vgl. ebd., S. 131 f. 297 Vgl. ebd., S. 146. 298 Vgl. ebd., S. 144. 299 Vgl. Mosès: System und Offenbarung, S. 76. 300 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 172.
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Während im Schöpfungsprozess die göttliche Freiheit von der Negation zur Affirmation sich umkehrte und mit dem Bejahen die Welt schuf, ist es jetzt das ewige Wesen Gottes, das sich dem Menschen zeigt. Im Urwort noch Affirmation, verneint Gott nun seine wesenhafte Verborgenheit, er kehrt zum Menschen um und offenbart sich »als augenblicksentsprungenes Geschehen, als ereignetes Ereignis«. 301 Dies tut er als Liebe – und zwar als solche, die »vergangenheitslos« ist und sein Geschöpf daher vorbehaltlos liebt. 302 Die Offenbarung des Liebenden lässt nicht nur den Menschen, sondern die gesamte Schöpfung aus der Vergangenheit in die Gegenwart treten. 303 Das Liebesgeschehen erfüllt sich dialogisch jedoch nicht an der Welt. Denn die Welt antwortet nicht. Auch der Mensch ist als Geliebte(r) zunächst passiv. Durch die Liebe des Liebenden öffnet sich das tragische und selbstbezügliche Selbst zur Seele. 304 Der Mensch verändert sich: Was ihm Negation des Nichts war, sein freier Wille, kehrt sich um zu Gott und bejaht ihn in Demut. 305 Dies ist die Voraussetzung für den ›eigentlichen‹ Beginn des Sprechens. Ich und Du, das haben wir bereits gesehen, bedürfen beider, um ›wirklich‹ zu sein: Wort und Antwort. Indem der Hörer zum Sprecher wird, bezeugt er schließlich denjenigen, der ihn angesprochen hat. So musste auch das eingeborene Du Bubers am begegnenden Du realisiert werden (Kap. 1.3.1.). Gott bedarf auch bei Rosenzweig des Menschen, um wahrhaft sprechen zu können, um sein Ich zu offenbaren. 306 Die bloße Negation seiner Verborgenheit reicht nicht für den Dialog. Er muss den Anderen, seinen Anderen – den Menschen – finden. Der aber versteckt sich und antwortet erst, wenn er, wie Adam im Paradies, mit seinem Eigennamen angerufen wird und als Einzelner, Einmaliger und Besonderer benannt wird. Er antwortet: »Hier bin ich«. 307 Damit kann er nun das höchste aller Gebote zugesprochen bekommen: »Du sollst lieben« 308 bzw. »Liebe mich.« 309 Dieser Befehl könne dem Menschen nur deshalb gegeben werden, 301 302 303 304 305 306 307 308 309
Ebd., S. 178. Ebd. Vgl. ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 195. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 197.
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weil Gott ihn zuvor und weiterhin bedingungslos liebe. Der Imperativ des Gebotes ist »reine, vorbereitungslose Gegenwart.« 310 Dieser gegenwärtige Imperativ ist von einiger Bedeutung. Denn er scheint immer dann auf, wenn der Mensch angerufen wird, auch von einem anderen Menschen (sozusagen als ein ›Echo‹ des göttlichen Gebots). Dies werden wir im Kapitel über Levinas näher betrachten. Ebenso bedeutsam ist allerdings, dass mit der Offenbarung das Vergangene zur Gegenwart wird, wie es für alle geschaffenen Dinge der Schöpfung der Fall ist. Der Dialog ist ein wesentlicher Modus des Erzählens. Während die Erzählung selbst das Vergangene ist, wird dieses im Sprechen aktualisiert. Die Eswelt wird im Erzählen belebt. Rosenzweigs Ansatz bietet die Möglichkeit einer Ausgestaltung dieser Überlegung, der dann auch ein ethischer Gehalt zukommt. Denn Gott bindet mit seiner Antwort auf die Bereitschaft der Seele die Beziehung zum Menschen in die Welt. Das »Hier bin ich« wird mit dem Liebesgebot und der Bestätigung Gottes als Dialogpartner auf Seite des Menschen zum »Ich bin dein.« 311 Worauf Gott seinerseits antworten kann: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.« 312 Dies ist keine bloße Tautologie. Gott greift hier in der Gegenwärtigkeit seiner Antwort auf das Vergangene zurück, auf die ursprüngliche Nennung und Schöpfung seines menschlichen Partners. 313 Er bestätigt dessen Geschaffensein und mithin sein In-derWelt-sein. Das »Du bist mein« stellt »eine Beziehung in die Welt der Dinge hinein.« 314 Man kann sagen, dass Gott den Menschen zum Handeln aufruft. Der Imperativ muss in der Welt verwirklicht werden. Die Demut der reinen Gegenwärtigkeit, in der der Angerufene nur Gott als den ihn Liebenden sah, wird umgewandelt in den Glauben. 315 Glauben aber ist ein Bewähren der Wahrheit – also des Liebesgebots – in der Welt. Rosenzweig beschreibt hier nichts anderes als ein mystisches Erlebnis. Der Glaube übernimmt die ›Gottesschau‹ in die Welt: »Jetzt darf er [der in der unmittelbaren Offenbarung erlebte Glaube. Anm. D. M.] ruhig die Augen öffnen und um sich schauen in die Welt
310 311 312 313 314 315
Ebd. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 203 f. Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 204 f.
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der Dinge; es gibt kein Ding, das ihn von Gott scheiden könnte; denn in der Welt der Dinge erblickt er in der unverrückbaren Tatsächlichkeit eines geschichtlichen Ereignisses den gegenständlichen Grund seines Glaubens. Die Seele kann mit offenen Augen und ohne zu träumen sich in der Welt umtun; immer bleibt sie nun in Gottes Nähe.« 316
Die Seele erinnert sich im Glauben an die Offenbarung, die an ihr geschehen ist, und die ihr auch die Dinge zur lebendigen Schöpfung gemacht hat. Sie nimmt also die Erzählung, die ihr mit der Offenbarung gegenwärtig geworden ist, in ihr Leben, welches über die reine Gegenwärtigkeit Gottes hinausgeht, auf. Die Welt hat sich ihr umgekehrt. Dieser Glaube mit offenen Augen sieht das Potential der Welt, sie zu Gott zu heben, also zum Du zu machen, wie wir es an der Zwischen-Welt bei Buber gesehen haben (Kap. 1.3.3.). Dies führt die Seele, so Rosenzweig weiter, zum Gebet – und zwar zum Gebet um das Kommen des Reichs, »um die künftige Wiederholung des Wunders, um die Vollendung des einst gegründeten Baus und um nichts weiter.« 317 Es ist ein Gebet, das um Erlösung des Vergangenen bittet, um dessen Aufnahme in die Ewigkeit Gottes. Doch ist dieses Gebet des Einzelnen nicht genug, es bricht ab und bleibt ein Stoßgebet. 318 Beziehen wir dies wieder auf die Modalitäten der Erzählung (Schöpfung) und des Dialogs oder Zwiegesprächs (Offenbarung), heißt das, dass die Beziehung der Zeiten zueinander – und damit auch der Elemente zueinander – hier noch unvollständig ist. Das Licht der Gegenwart leuchtet in die Vergangenheit, aus der sich die Verheißung ihr offenbart 319 – so wie umgekehrt die Urworte der wirklichen Sprache harrten und zum Sprechen drängten. Die Vergangenheit verwandelt sich also im Licht der Gegenwart – es gibt nicht die eine feststehende Vergangenheit, sondern nur die Wandlung der Schöpfung im jeweilig geschehenden Offenbarungsereignis. Was hier noch fehlt, ist die Verstetigung des Imperativs und sein Entwurf in die Zukunft. Denn die Offenbarung nimmt zwar Bezug auf die Vergangenheit und macht sie gegenwärtig. Die reine Gegenwart verbleibt allerdings im Ich-Du, wie wir auch schon bei Buber festgestellt haben. Verbliebe das Geschehen in diesem Modus, käme die Erzählung nicht über ihre Gegenwart im Erzählen (oder im Leseakt) hinaus. Damit sie vom Sinn zur Be316 317 318 319
Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 207.
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deutung werden kann, muss sie aber gewissermaßen in die Welt eingeschrieben werden. Nur so kann sie letztendlich Orientierung bieten. Der Mensch darf also nicht im Wunder der Offenbarung sich verschließen. Sein Stoßgebet um das Kommen des Reichs war der Anfang der Bewährung, der allerdings noch im Privaten stattfand. Das Wunder bedarf der Veröffentlichung, um eine Zukunft zu haben. Die Wahrheit muss existentiell bewährt werden. Der Bund zwischen Gott und Mensch muss in eine »weltlich daseiende[…] Gemeinschaft« 320 übertragen werden. Diese wird nicht von der »Liebe des Liebenden« gestiftet, in der sich die geliebte Seele geborgen, aber auch vereinzelt sah. 321 Vielmehr »muß die geliebte Seele den Zauberkreis der Geliebtheit überschreiten, des Liebenden vergessen und selber den Mund öffnen, nicht zur Antwort mehr, sondern zum eigenen Wort. Denn in der Welt gilt nicht das Geliebtsein, und das Geliebte darf es hier nicht anders wissen, als wäre es allein auf sich angewiesen und ungeliebt, und alle seine Liebe wäre nicht Geliebtheit, sondern ewig – Lieben.« 322
Der Mensch muss also aus seiner demütigen Passivität heraustreten und den anderen Menschen so lieben, wie Gott ihn liebt. Die Gottesliebe (genitivus subjectivus) wird an der Menschenliebe (genitivus objectivus) realisiert. Liebe ist hier nicht sentimental zu verstehen. Sie bedeutet, die Menschen (und letztendlich die gesamte Schöpfung) zum Teil einer Geschichte zu machen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zusammengeschlossen sind. Sie bedeutet mithin Anerkennung der Andersheit und des Besonderen. 1.4.3.3. Benennung Ein erster Schritt – und gleichsam das Fundament – dieses Prozesses ist die Benennung von Menschen und schließlich auch von Dingen mit ihren Namen – und zwar mit Namen, die ihnen entsprechen, die also nicht nur Begriffe des objektiven Gebrauchs sind. Grätzel schreibt über die Eigennamen von Menschen: Ebd., S. 228. Rosenzweig legt dem eine sprachphilosophische (grammatische) Analyse des Hohen Lieds der Hebräischen Bibel zugrunde (vgl. ebd., S. 221–228). 322 Ebd., S. 228. 320 321
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»Sie beziehen sich […] auch im Selbst auf das Selbst und sind von daher reflexiv. Der Name ist zunächst ein Sich, ein Reflexivum, und erst in weiterer Hinsicht ein Zeichen oder ein ›Täfelchen‹. Als Reflexivum hat der Name die Intention und Aufgabe der Selbstbindung, also der Identität, aber auch der Einbindung in die Gemeinschaft.« 323
Der Eigenname verpflichtet also. Er tut dies weit mehr als das bloße Du, wie auch Rosenzweig festgestellt hat. Der mit dem Du Angesprochene kann sich noch verstecken. 324 Erst die Anrede mit dem Eigennamen nimmt ihn aus dem Allgemeinen heraus und bindet ihn in eine Geschichte ein, die mit seinem Namen auch schon zu seiner Geschichte wird. Der Eigenname schafft so eine personale und damit neue Wirklichkeit, 325 die nicht mehr die einer anonymen und zu gebrauchenden Welt ist. Strukturell gilt dies schon für die Benennung eines Dings. Namen verbinden auch hier die Gegenwart mit dem Vergangenen und öffnen beides hin zur Zukunft. Rosenzweig schreibt in seinem Büchlein, dass die Dinge einmal ursprünglich benannt sind, aber auch immer wieder neu benannt werden können und müssen: »Und das Recht des Dings auf diesen seinen Namen, den es hat, ist nicht geringer als das andre, mit neuen Namen benannt zu werden. Die Geber des alten Namens sind abwesend, vielleicht längst gestorben. Trotzdem bleibt der alte Name, den sie gaben, an dem Ding hängen. Ja jeder neue Name muss sich mit den alten irgendwie auseinandersetzen. Das Ding wird immer benannter. Und verliert doch nicht seine Fähigkeit, neu benannt zu werden. Neue Namen zu nennen, ist des Menschen gutes Recht. Die alten zu nennen, ist ihm Gebot. Er muss es, auch wenn er nicht will. Durch die alten und durch die Pflicht, sie überliefernd fortzusetzen und in die eigenen zu übersetzen, wird letzthin der Zusammenhang der Menschheit geschaffen. Menschheit ist immer abwesend. Anwesend sind nur Menschen, nur der und der und der. Aber die Sprache und das über sie gehängte Gesetz des Überlieferns und Übersetzens, der ständigen Auseinandersetzung jedes neuen mit jedem alten Wort, bindet das Ding an diese ganze Menschheit. Wo ist sie anwesend? Im Wort des Menschen freilich nicht. Aber eben im Wort Gottes.« 326
Was Rosenzweig hier beschreibt, ist, dass die Einbindung eines Dings in die Geschichte immer wieder aktualisiert werden muss. Dies ge323 324 325 326
Grätzel: Versöhnung, S. 68. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 195. Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 69. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S. 54 f.
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schieht nicht willkürlich, sondern durch die Rekurrenz der Benennung auf den »alten Namen« mit dem die Geschichte des Dings transportiert wird. Eine Neubenennung ist eine Weiterführung dieser Geschichte. Wir dürfen nicht vergessen, dass hier jener Autor schreibt, der Gedichte des mittelalterlichen Gelehrten Juda ha-Levi sowie in Zusammenarbeit mit Martin Buber die Hebräische Bibel ›verdeutscht‹ hat. Damit hat er an die Überlieferung des Hebräischen angeknüpft und die Worte aus dem Hebräischen im Deutschen nachzuformen versucht. 327 Hier musste er die ursprünglichen Bedeutungen berücksichtigen und diese im Deutschen verständlich zu machen versuchen. Die neuen Namen mussten sich mit den alten auseinandersetzen. Was daraus entstand war, wie es grundsätzlich bei jeder guten Übersetzung der Fall ist, nicht eine bloße Kopie, sondern gleichsam eine Umwandlung und Mehr-Bedeutung des Wortes als ein Echo des Hebräischen im Deutschen. Dies lässt sich par excellence an der Übersetzung des hebräischen tohuwabohu zeigen. Die wörtliche Entsprechung von tohu wäre ›das Nichtige‹, ›Leere‹ oder auch ›Wüste‹ oder ›Einöde‹. 328 Die wörtliche Entsprechung von bohu wäre ›das Leere‹. 329 Wa ist ›und‹. Rhetorisch haben wir es hier also mit einem Pleonasmus zu tun. In der Lutherbibel ist dies durchaus ›richtig‹ übersetzt, insofern sie nahe am Sinn der hebräischen Wörter bleibt: »Und die Erde war wüst und leer […].« 330 Buber und Rosenzweig übersetzen tohuwabohu mit: »Irrsal und Wirrsal.« 331 Dies scheint nun überhaupt nicht dem ›Original‹-Sinn zu entsprechen. Zunächst wird der Laut ›nachgeformt‹, es wird nach einer Entsprechung im Deutschen gesucht: »Deutsche Lautgestalt kann nie hebräische Lautgestalt reproduzieren, aber sie kann, aus analogem Antrieb wachsend und analoge Wirkung übend, ihr deutsch entsprechen, sie verdeutschen.« 332 Genau das ist hier geschehen: to- und bo- korresVgl. Buber, Martin: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. In: Dies.: Die Schrift 1: Die fünf Bücher der Weisung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1992, Anhang S. 1–44. Hier: S. 8. 328 Vgl. Matheus, Frank: Kompaktwörterbuch Althebräisch. Althebräisch – Deutsch. Stuttgart: Pons 2006, S. 358. 329 Vgl. ebd., S. 32. 330 Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1985, S. 3. 331 Buber, Martin; Rosenzweig, Franz: Die Schrift 1: Die fünf Bücher der Weisung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1992, S. 9. 332 Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, S. 8. 327
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pondieren mit Irr- und Wirr-. Hu- und -hu mit den auch im Deutschen gleichlautenden -sal und -sal. Zudem wird eine (Mehr-)Bedeutung geschaffen, die bei »wüst und leer« überhaupt nicht mitschwingt. Nämlich eine Dynamik. »Irrsal und Wirrsal« klingt nach Bewegung. Mit der Schöpfung wird Gott also in ein Geschehen hineingezogen. Die Schöpfung ist ein reziproker Prozess zwischen Gott und Welt – so die Übersetzung Bubers und Rosenzweigs. Hier ist eine gewisse Nähe zum (weitaus sprachkritischeren) Walter Benjamin zu erkennen, der in der Übersetzung eine Befruchtung sowohl der Sprache, aus der übersetzt wird, als auch der Sprache, in die übersetzt wird, sieht. 333 Es gilt nicht, bloß etwas mitzuteilen, was schon da ist, sondern dieses Da-Seiende derart umzuwandeln, so dass es (zumindest potentiell) für alle Menschen verständlich sein kann, indem es sich der ›reinen Sprache‹, die die Sprache Gottes ist, annähert. 334 Und der Weg hin zu dieser Sprache geht nun eben durch die Einzelsprachen hindurch und bedarf der ständigen (kreativen) Auseinandersetzung der neuen mit den alten Namen. Dabei muss nicht immer ein Neologismus entstehen, was sowohl in der literarischen Übersetzung als auch im Alltag eher selten geschieht. Wichtig ist, dass das Wie des Meinens in der Übersetzung berücksichtigt wird und nicht nur das materielle Was, auf das das Meinen zielt. 335 Das Wie des Meinens übersteigt die Materialität. 336 Eine Übersetzung findet deshalb auch in ein und derselben Sprache statt, oftmals sogar, Vgl. Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Kleine Prosa: Baudelaire-Übertragungen. Gesammelte Schriften Band IV,1. Hrsg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 934), S. 9–21. 334 Vgl. ebd., S. 16, S. 19. 335 Vgl. ebd., S. 14; sowie: Grätzel: Versöhnung, S. 310 ff. 336 Auch Buber sieht das Problem vieler Übersetzungen darin, dass sie das bezeichnete Was vom Wie der Aussage isolieren zu können meinen: »Als ob eine echte Botschaft, ein echter Spruch, ein echter Gesang ein von seinem Wie ohne Schaden ablösbares Was enthielte, als ob der Geist der Rede anderswo als in seiner sprachlichen Leibesgestalt aufzuspüren und anders als durch deren zugleich treue und unbefangene Nachbildung den Zeiten und Räumen zuzutragen wäre, als ob eine auf Kosten der ursprünglichen Leiblichkeit gewonnene Gemeinverständlichkeit nicht notwendigerweise eine Mißverständlichkeit wäre oder doch werden müßte!« (Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, S. 6.) Benjamin indes kritisiert Übersetzungen, die sich dem Sinn des Originals ähnlich machen wollen (vgl. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 18). Doch ist dies auch nicht die Vorgehensweise, die Buber hier vorschlägt. Den ›Geist‹, also das Wie des Meinens zu suchen, bedeutet, die Dynamik des zu Übersetzenden in die Übersetzung mit einzubeziehen und mithin in der Übersetzung eine Lebendigkeit spürbar zu machen, die aus dem Dialog der Sprachen mit333
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ohne dass ein Wort ausgetauscht oder auch nur verändert wird. Eine Übersetzung ist schon, wenn man sich mit Anderen darüber verständigt, wie denn ›Brot‹ oder ›Baum‹ gemeint sind. Das, was gemeint ist, ist dasselbe. Es ist jedoch ein Unterschied, ob ich den Baum als Holzlieferanten meine oder als Teil eines Ökosystems. Beide Wies binden den Baum in eine andere Geschichte ein und müssen deshalb übersetzt werden. Je nachdem, wie ›Baum‹ also gemeint ist, gestaltet sich auch dessen Zukunft und dessen Bedeutung für die Geschichten jener, die ihn in ihre jeweiligen Erzählungen einbinden. Übersetzt werden muss also jenes Mehr-an-Bedeutung und Mehr-als-Bedeutung. Übersetzt werden muss die Subjektbeziehung zum Benannten, das jeweilige Ich-Du, 337 mithin die Geschichte des Anderen mit dem von ihm Benannten. Was den benannten Dingen im Unterschied zu den Menschen und ihren Eigennamen freilich fehlt, ist ihre Reflexivität. Zwar können sie, vermittelt über die ihnen zugesprochenen Benennungen, selbst anfangen zu ›sprechen‹, also eine ›eigene‹ Dialogsphäre schaffen, und zum Skandalon werden (vgl. Kap. 1.3.3.). Sie sind jedoch nicht aktiv verpflichtet. Nur der Mensch wird mit seinem Eigennamen in der Gegenwart wachgerufen und mit diesem Ruf auf seine Vergangenheit verpflichtet, diese in Zukunft zu erfüllen. 338 1.4.3.4. Erlösung Wir sind nun also mit der Benennung des Menschen mit seinem Eigennamen und der Benennung der Dinge durch den Menschen einen Schritt auf dem Weg hin zur Erlösung gegangen. Mit der Benennung, so sie nicht nur auf den Begriff zielt, der die Dinge dem objektiven Gebrauch unterordnet, sie damit aber ihrer geschichtlichen Bedeutsamkeit beraubt, offenbart sich dem Menschen mit den Worten Bubers ein Weltkonkretum. Er hebt die aus der Eswelt zur ZwischenWelt umgeschaffenen Dinge zu Gott. 339 Er spricht sein eigenes einander erst entsteht, wovon die oben genannte Übersetzung von tohuwabohu mit Irrsal und Wirrsal ein eindrückliches Beispiel liefert. 337 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 313. 338 Vgl. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S. 62 ff. 339 Hier sei auf die chassidische Vorstellung verwiesen, nach der die Schöpfung aus den Buchstaben der Hebräischen Bibel bestehe (Gott also alles erfüllt und potentiell überall anwesend ist), die allerdings in Unordnung geraten seien, und vom Menschen
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Wort 340 und handelt in der Welt. Man kann sagen, dass er sich derart als Subjekt seiner Geschichte behauptet. Wurde seine elementale Freiheit, welche sich aus der Negation des Nichts ergab, umgekehrt zur Affirmation Gottes in gläubiger Demut, betrifft die Umkehrung nun das Wesen selbst, welches sich als verschlossenes Selbst, ursprünglich bejaht als Nichtnichts, verneint. 341 Es ist nicht mehr Freiherr des von ihm selbst gesetzten Ethos, sondern schreitet voran zur Tat – zum Täter der Geschichte –, insofern der Angesprochene das ihm aufgetragene Gebot erfüllt. Die Liebe wird einerseits je wieder mit jeder Begegnung erneuert und ist insofern immer neu und einmalig. Da sie allerdings nicht ausschließlich auf den vereinzelten Anderen gerichtet ist, sondern über ihn hinaus die ganze Welt meint, 342 ist sie Teil eines geschichtlichen Zusammenhangs und eines Auftrags. An der Welt antizipiert der Mensch durch seine Tat das Reich Gottes. 343 Und dies geschieht genau so, wie wir es eben anhand der Benennung zeigen konnten: Die Benennung erst macht die Welt zur lebendigen, schafft die Wirklichkeit um. Anstatt lebloser Dinge offenbart sich die lebendige Schöpfung. Der Auftrag des Menschen ist die Verlebendigung der unfertigen Welt. 344 Auf die Erzählung bezogen heißt das: Das Mit-Tragen des Vergangenen durch die Gegenwart in die Zukunft. Die Erlösung ist zwar ein Prozess des Wachstums: Das Reich ist immer am Kommen. 345 Erlöst werden kann aber nicht dieses oder jenes. Erlöst werden kann nur Alles. Dies schließt, auch wenn dies nicht Rosenzweigs Thema ist, die Opfer der Geschichte mit ein. Auch ihnen und ihren abgebrochenen Geschichten, die durch die Erzählung in der Vergangenheit bewahrt werden und durch das Zwiegespräch ihre anwesende Abwesenheit in der Gegenwart behaupten, muss also die Zukunft verheißen sein. Das Dasein muss ihre Geschichten mit-tragen. Die Liebestat schließt also vergegenwärtigendes Erinnern – Eingedenken (Kap. 2.3.2.2.) – mit ein.
mit ihrer göttlichen Wurzel verbunden werden müssten, um zur Erlösung zu gelangen. Es geht dabei sozusagen um die Restauration der alten Namen (vgl. Talabardon, Susanne: Chassidismus. Tübingen: Mohr Siebeck 2016 (UTB; 4676), S. 52). 340 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 228. 341 Vgl. ebd., S. 237. 342 Vgl. ebd., S. 243. 343 Vgl. ebd., S. 244. 344 Vgl. ebd., S. 249. 345 Vgl. ebd., S. 250.
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Rosenzweig betont, dass niemand wissen könne, welches ›Volk‹, welche Epoche, welcher Mensch letztendlich zu unsterblichem Leben (ergo: zur Erlösung) kommen könne. Dennoch: »[E]inen Zuwachs an Leben, wenn auch nicht ewigem Leben, bedeutet selbst die am Ende doch wieder versinkende Gestalt. Denn in der Erinnerung bleibt auch sie und in Wirkungen, die schließlich doch wieder irgendwann einmal und irgendwo ins Reich eingehen.« 346 Rosenzweig schließt also in die zu verwirklichende Liebestat die vorangegangenen Generationen mit ein. Die Modalität, die der Erlösung angemessen ist, kann also nicht das Zwiegespräch zwischen Ich und Du sein. Auch der rein auf die Gegenwart gerichtete Imperativ genügt nicht mehr. Rosenzweig setzt stattdessen den Kohortativ als Modus, die Selbstaufforderung des Wir: »Laßt uns danken.« 347 Auf diese Aufforderung folgt als Modalität der Erlösung der Gesang. In ihm sind »[a]lle Stimmen […] selbständig geworden, jede singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele, doch alle Weisen fügen sich dem gleichen Rhythmus und binden sich zur einen Harmonie.« 348 Das Wir des Gesangs ist kein Plural, sondern eine »aus dem Dual entwickelte Allheit«. 349 Diese Unterscheidung ist bedeutsam, da der Einzelne im Plural aufgehoben ist, in der Allheit, gleichwohl in Gemeinschaft, aber fortbesteht. Im Wir der Allheit wird die Erlösung vorweggenommen. Die Allheit verweist auf die Zukunft, auf »die einstige messianische Gemeinde der Menschheit […].« 350 Da die Erlösung aber die Zeit in der Ewigkeit aufhebt, sind auch die Toten miteinbezogen. Diese können zwar selbst nicht mehr mit einstimmen in den Lobgesang: »Nicht die Toten, wahrhaftig nicht […].« 351 Doch das Wir singt für die Toten, man kann sagen, es stimmt den Gesang auch im Namen der Toten an – und nimmt die ungezählten Eigennamen der Toten mit zu Gott, zur Erlösung, auf dass auch sie einen Platz im kommenden Reich Gottes haben: »Die Wir sind ewig; vor diesem Triumphgeschrei der Ewigkeit stürzt der Tod ins Nichts. Das Leben wird unsterblich im ewigen Lobgesang der Erlösung.« 352
346 347 348 349 350 351 352
Ebd., S. 251. Ebd., S. 259. Ebd., S. 264. Ebd. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd.
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Im Durchgang durch das Geschehen Schöpfung-OffenbarungErlösung haben sich uns jene Grundworte gezeigt, die Rosenzweig in seinem Brief an Buber erwähnt: 353 Das Er-Es der Schöpfung, das Ich-Du der Offenbarung und das Wir-Es der Antizipation der Erlösung (und in ihm das Wir-Sie, das die Toten einbezieht). Ihnen entsprechen die drei Modalitäten innerhalb der ›großen‹ Erzählung des Gesamtgeschehens: Das Er-Es wird in der Erzählung aufgenommen und im Ich-Du des Zwiegesprächs vergegenwärtigt, sodann im Gesang des Wir-Es verstetigt oder verewigt. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass sich der gesamte Prozess von Schöpfung-Offenbarung-Erlösung in der mit dem Wir-Es gestifteten Gemeinde wiederholt. Man muss dies nicht zwangsläufig in einem religiösen Sinn interpretieren. Von Bedeutung sind vielmehr die Strukturen, die sich daran zeigen. Das Schon-da-sein der Schöpfung heißt, dass wir uns immer schon in den Strukturen einer Erzählung befinden, gleichwohl das Erleben in seiner reinen Gegenwärtigkeit nicht als Erzählung erlebt wird. Aber sobald wir zu sprechen beginnen, wenn dies auch nur mit uns selbst in einem inneren Dialog geschieht, greifen wir auf das zur Erzählung gewordene Erlebnis zurück. In Form von historischer Tradierung und gesellschaftlichen Narrativen liegt das Vergangene auch je schon als Erzählung vor und beeinflusst, auch wenn wir es im Moment des Erlebens nicht reflektieren können, unser Erleben. Er-Es und Ich-Du sind somit genau genommen untrennbar miteinander verbunden bzw. werden sie, wenn man das Ich-Du als reine, übersprachliche Gegenwärtigkeit begreift, zusammengeschmolzen zu dem, was wir die Zwischen-Welt nannten. Denn sobald uns das Vergangene entgegentritt, werden zumindest gewisse Elemente von ihm gegenwärtig. Sobald wir zu lesen beginnen, befinden wir uns schon im Zwiegespräch mit der Erzählung beziehungsweise dem Erzählten. Dieses wirkt dann, wenn wir das Zwiegespräch verlassen oder dieses abbricht, auf die Welt außerhalb der Gegenwärtigkeit. Es wird in sie eingeschrieben, wandelt sie um, und führt dazu, dass sich das Erleben wiederholen kann, und zwar immer in einmaliger Weise. Es führt zu einer Mehr-Bedeutung der Lebenswelt. Das Vergangene der Erzählung wird mit-getragen in Gegenwart und Zukunft. Es bleibt so, zumindest potentiell, ›lebendig‹. Es wird Teil der eigenen Identität und muss mit ihr immer wieder behauptet werden. So ist auch der Kohortativ des Gesangs zu verstehen: Im Gegensatz zum Imperativ des 353
Bei Casper: Franz Rosenzweigs Kritik an Bubers »Ich und Du«, S. 113–116.
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Zwiegesprächs handelt es sich bei ihm um eine (gemeinschaftliche) Selbstaufforderung. Die Aufforderung kommt mithin nicht mehr von außen, sondern eben vom eigenen Selbst, aus der eigenen Identität heraus, auch wenn ihre Stiftung freilich von außen – von einer Transzendenz oder Exteriorität – eingesetzt wurde und sie immer auf dieses Außen bezogen bleibt. Das Wir, in dem die Liebestat des Einzelnen schließlich aufgeht, darf nicht mit einem Kollektiv verwechselt werden, in dem der Einzelne untergeht und dem er sich zu unterwerfen hat. Es bedeutet vielmehr, dass die Liebestat, auf die Erlösung gerichtet, den Menschen zwar als Einzelnen, aber nicht vereinzelt sein lässt. Sie stiftet ein Band. Sie stiftet, so möchte ich mit Blick auf die Opfer der Geschichte behaupten, auch ein Band mit den Toten und den Ermordeten, die allerdings, zumindest nicht aus nicht-jüdischer Perspektive (bezogen auf die Opfer der Shoah), nicht einfachhin in ein Wir eingemeindet werden können, was dann zu einer Nivellierung ihrer Leidenserfahrungen führen würde. Dennoch prägen ihre Geschichten die Identitäten der Gegenwärtigen, ob jüdisch oder nicht, dennoch müssen ihre Wahrheiten von uns bewährt werden.
1.4.4. Eine Geschichte – Zwei Narrative Die Gemeinden, denen Rosenzweig nun den Auftrag zur Erlösung zuspricht, sind allerdings religiös verfasst: Das Judentum und das Christentum. Von ihrem jeweiligen Auftrag handelt der dritte Teil des Stern. Sie beide haben nach Rosenzweig zu gleichen Teilen an einer Geschichte teil: Das Reich Gottes zu bereiten. Allerdings geschieht dies auf zwei verschiedene Weisen, mithin: In zwei Narrativen. Die Story ist eine, während der Plot zweigeteilt ist. Das Judentum schafft sich seine eigene Zeit, die letztendlich von der Ewigkeit überstrahlt wird, wie in den obigen Ausführungen zum Wir der Allheit dargestellt. In seiner Tradition, seiner kulturellen und familiären Gemeinschaft, 354 verbindet das Judentum die Generationen. Damit sichert es sozusagen die Basis oder das Fundament der Erlösungserzählung: Es repräsentiert das Feuer des Sterns oder das Ewige
Rosenzweig spricht hier von einer »Gemeinschaft des Bluts« (Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 331), also einer Verwandtschaft durch die Zeiten hindurch.
354
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Leben. 355 Das Narrativ des Christentums hingegen wirkt nicht in die Tiefe, sondern entfaltet sich in der Breite der Welt und der weltlichen Geschichte. Das Christentum repräsentiert daher die Strahlen des Sterns oder den Ewigen Weg. 356 Das Organon des dritten Teils ist, entsprechend der Mathematik im ersten und der Grammatik im zweiten Teil, die Liturgik. 357 Während im ersten Teil die Sprache entliehen war und stumm sein musste, kommt sie hier zu ihrem Ende und wird stumm. Die Sprache geht in der Liturgie und der dort stattfindenden gemeinsamen Gebärde auf. 358 Freilich muss man sagen, dass die Liturgie auch nur innerhalb ihres jeweiligen Erzählzusammenhangs verständlich ist, und daher weiterhin der Sprache bedarf. Was Rosenzweig sagen möchte, ist, dass das Trennende der Sprache im gemeinsamen Singen und Beten aufgehoben ist und die versammelte Gemeinde schließlich im Hören des Schriftworts gemeinsam schweigt, um – so gelte es zumindest für das Judentum – die Ewigkeit zu antizipieren, die von keinem menschlich-weltlichen Wort unterbrochen werden kann, sondern einzig im Wort Gottes besteht. 359 In der Liturgie erfüllt sich also der Sinn der Gesamterzählung von Schöpfung-Offenbarung-Erlösung. Was in der Erzählung der Schöpfung verheißen war, im Zwiegespräch der Offenbarung gegenwärtig ist, wird im Gesang beziehungsweise im Schweigen zur Ewigkeit. Die jüdische wie die christliche Liturgie sind Manifestationen der jeweiligen ›Arbeit‹, ihrer ›Tat‹ (ihres Handlungsablaufs, ihres Plots also; Liturgie und das an sie anschließende und auf ihr gründende Leben der Gläubigen sind also je verschiedene narrative Ausgestaltungen): Das Judentum vergegenwärtigt und verewigt seine Geschichte wieder und wieder, Woche für Woche, Jahr für Jahr. In der ständigen Wiederaufnahme erzeugt es seine eigene Zeit, 360 die aus der Weltzeit heraus gesprengt ist – jenseits der Zeitlichkeit (auch wenn sie wieder in diese zurück finden muss). Die eigene Zeit geschieht in der Generationenfolge, die eine ewige Gemeinschaft stiftet, 361 ein Bündnis zwischen Enkel und Ahn, das nicht bloß intergenerationell 355 356 357 358 359 360 361
So der Titel des ersten Buchs des dritten Teils des Sterns (vgl. ebd.). So der Titel des zweiten Buchs des dritten Teils des Sterns (vgl. ebd., S. 373). Vgl. ebd., S. 327. Vgl. ebd., S. 327 ff. Vgl. ebd., S. 343 f. Vgl. ebd., S. 331. Vgl. ebd.
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zwischen den noch lebenden Generationen besteht, sondern ebenso »den spätesten Enkel und den ersten Ahn« 362 mit einbezieht. Die jüdische Liturgie ist demnach immer auch ein Eingedenken, welches durch die Zeiten hindurchgeht. Die kulturelle Manifestation der eigenen Zeit des Judentums, die es über die Jahrtausende hinweg möglich gemacht hat, die jüdische Identität auch in einer mehrheitlich nicht-jüdischen Umwelt zu erhalten und immer wieder an die Zeit jenseits der Zeit anzuknüpfen, ist die Thora. Dadurch, dass sie den jüdischen Kalender bestimmt und die Feste vorgibt, konstituiert sie die Zeit als eigene Zeit und macht sie so für die Gemeinde überhaupt erst erfahrbar. Das Geschehen Schöpfung-Offenbarung-Erlösung wiederholt sich an jedem Schabbat in der Liturgie und erfüllt sich im Lauf des jüdischen Jahrs im Begehen der Festtage sowie in der vollständigen Lesung der Thora. 363 Die Konstitution oder Konfiguration einer eigenen Zeit, ein Charakteristikum, das jeder Erzählung zuzuschreiben ist, kommt aufgrund der sakralen Bedeutung der Thora besonders zum Ausdruck. Sie schafft einen Erzählungs- und Erinnerungszusammenhang, eine überzeitliche Lehre und ein überzeitliches Gesetz, das »das Volk aus aller Zeit- und Geschichtlichkeit des Lebens heraushebt«. 364 Die Erinnerung, die die Thora transportiert, »ist kein fester Punkt in der Vergangenheit, der jedes Jahr um ein Jahr vergangener wird, sondern eine immer gleich nahe, eigentlich gar nicht vergangene, sondern ewig gegenwärtige Erinnerung: jeder einzelne soll den Auszug aus Egypten so ansehen, als wäre er selbst mit ausgezogen […].« 365 Die Wirklichkeit der Thora ist somit die ›eigentliche‹ Wirklichkeit, in der die jeweils ›außerhalb‹ geschehene Weltgeschichte keine Rolle spielt. Damit bietet sie eine Orientierung, die keiner weiteren weltlichen Legitimation bedarf, eine solche würde die eigene Zeit sogar zunichtemachen. Raum und Zeit werden überschritten, das jüdische Volk, das in ›seiner Zeit‹ zum ewigen Volk wird, ist tief verwurzelt in sich selbst, 366 es macht den Augenblick zur Ewigkeit, insofern Schöpfung, Offenbarung und Erlösung in ihm zusammenfallen. 367 Es hält das Feuer im Kern des Sterns am Brennen. Es tut dies jenseits der Zeit und jenseits der Welt, aber letztendlich für die 362 363 364 365 366 367
Ebd., S. 384. Vgl. ebd., S. 347 f. Ebd., S. 337. Ebd. Vgl. ebd., S. 339. Vgl. ebd., S. 364.
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Zeit und für die Welt, auf dass die vorweggenommene Erlösung alles andere mit einbeziehe. Im Gegensatz dazu wirkt das Christentum in die Welt hinein. Der Weg, den das Christentum beschreite, so Rosenzweig, sei selbst kein zeitlicher, doch führe er durch die Zeit hindurch. 368 Anstatt jenseits der Zeit die Ewigkeit vorweg zu nehmen, müsse der Weg »der Zeit Herr werden.« 369 Das Christentum dringt demnach nicht tief in die eigene Zeit ein, es schmiedet kein Bündnis zwischen Enkel und Ahn und macht damit auch keine Erinnerung gegenwärtig. Vielmehr strukturiert es durch seinen Weg die Zeit in der Welt und macht sie zur Weltzeit – man kann auch sagen zur Weltgeschichte, insofern es »[o]hne Staat keine Weltgeschichte« 370 gebe und die »Völker der christlichen Weltzeit« 371 Herrschaftsräume begründeten und Kriege führten, um alle Völker in Christus zu einen. Dass die christliche Welt über Jahrhunderte brutale Kriege (vor allem auch gegen die jüdischen Gemeinden im mittelalterlichen Europa) führte und diese theologisch legitimiert sah, steht außer Frage. Rosenzweig scheint es bei seinen Ausführungen über das Christentum jedoch weniger um eine Kritik an der christlichen Vor- und Gewaltherrschaft zu gehen, als vielmehr um die Darstellung des vom jüdischen Zeitverständnis divergierenden christlichen. Durch seine Ausbreitung in der Welt mache das Christentum die Gegenwart zur Epoche, die sich an Geburt und Wiederkunft Christi orientiere, zu einer »einzige[n] große[n] Gegenwart,« 372 zu einem Stillstand, in der die Zeit ihre Macht verloren hat und »bloße Zeitlichkeit […]« 373 ist. Im Gegensatz zum Judentum, das in der lebendigen Vergangenheit der ewigen Erinnerung wurzelt, entwertet das so verstandene Christentum die (vorchristliche) Vergangenheit, indem es danach trachtet, die Gegenwart von Christus aus zu definieren: »Vergangenes, ein für alle Mal Stillstehendes, ist nun alles, was vor Christi Geburt liegt, sind Sybillen und Propheten.« 374 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die im jüdischen Jahr und in der Liturgie der Synagoge in ihrem dynamischen Verhältnis zueinander die Ewigkeit des Judentums aus368 369 370 371 372 373 374
Vgl. ebd., S. 374. Ebd. Ebd., S. 371. Ebd., S. 367. Ebd., S. 375. Ebd. Ebd., S. 377.
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machen, werden vom Christentum zur »christliche[n] Weltzeit« verschmolzen, »in der alles Mitte, alles gleich taghell ist.« 375 Erinnert diese Abwertung des Vorchristlichen nicht frappierend an Friedrich Schleiermachers Rede vom »Judaismus«, der »eine tote Religion« sei und eine »unverwesliche[…] Mumie«? 376 Ist das Christentum, das Rosenzweig beschreibt, also zwangsläufig anti-jüdisch? Ein Blick auf die Historie mag diesen Befund bestätigen. Die Abschnitte 446–448 gegen Ende des Sterns widmen sich diesem Spannungsverhältnis zwischen Judentum und Christentum, der Abschnitt 448 trägt gar den Titel »Der ewige Judenhaß des Christen.« 377 Doch schließlich kann und soll dieser historisch unzweifelhaft evidente Hass der Christen gegenüber den Juden überwunden werden. Dies, so Rosenzweigs Argumentation, sei schließlich auch im Sinne des Christentums. Denn die Tatsache, dass es weiterhin ein lebendiges Judentum gibt, verbürgt den Christen die Lebendigkeit auch ihres Glaubens, die Lebendigkeit der Hebräischen Bibel als Grundlage des zweiten Testaments, und verhindert damit letztendlich, dass Jesus idealisiert wird, womit er irrelevant für einen existentiell das Dasein angehenden Glauben wäre, der nicht ausschließlich im Geistigen oder in Büchern, sondern im Leben selbst wurzeln muss. Die Juden sind somit für die Christen das »eigentlich Unbezweifelbare. […] An uns können die Christen nicht zweifeln. Unser Dasein verbürgt ihnen ihre Wahrheit.« 378 Die lebendige Zeugung durch die Anknüpfung und Weitergabe der jüdischen Tradition und die damit einhergehende Bezeugung müssen dann von den Christen als der »Eine Kern« des Sterns der Erlösung wahr- und angenommen werden, »von dessen Glut die Strahlen unsichtbar genährt werden, die im Christentum sichtbar und vielgespalten in die Nacht der heidnischen Vor- und Unterwelt brechen.« 379 Beide, Juden und Christen, sind derart »Arbeiter am gleichen Werk […]«, welches das Werk der Erlösung ist. Während das Judentum die vergangenen und zukünftigen Generationen im Eingedenken zu Gleichzeitigen macht, vereint das Christentum alle Gegenwärtigen im »Band der Brüderlichkeit.« 380 Juden wie Christen haben Ebd. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Stuttgart: Reclam 2007 (RUB 8313), S. 190 f. 377 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 460 ff. 378 Ebd., S. 461. 379 Ebd., S. 462. 380 Ebd., S. 382. 375 376
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so teil an der ganzen Wahrheit, je nach der Art ihres je eigenen Daseinsmodus und der damit verbundenen Zugangsweise. Die unmittelbare Schau der ganzen Wahrheit jedoch, ist erst jenseits dieses Lebens, in Gott, möglich. 381 Bis dahin muss der jeweilige Teil im Dialog mit dem jeweils anderen bewährt werden. Dass ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Sterns die Nationalsozialisten gewählt wurden und mit der systematischen Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung begannen, die schließlich zur Massenvernichtung führte, ist die große Tragik (nicht nur) dieses Buches. Ebenso muss konstatiert werden, dass christlicher Antijudaismus und Antisemitismus auch im 21. Jahrhundert keineswegs überwunden sind. Weiterhin drängt sich die Frage auf, ob die Ausbreitung des Christentums als Strahlen des Sterns in »schlechthin alles Außen« 382 nicht letztendlich die Hegelsche Auffassung einer Weltgeschichte reproduziert, zumal die Ausbreitung über die Mission geschehen soll. 383 Von dieser Kritik abgesehen, zeigt Rosenzweig anhand der beiden Liturgien, dass sich Leben und Erleben nur dann mit Bedeutung erfüllen, wenn ihnen die Form einer Erzählung gegeben wird. Erst dann wirkt der Imperativ des Liebesgebots verpflichtend und wird Teil der Identität des Einzelnen sowie seiner Gemeinschaft. Zentral ist hierbei die Zusammenführung von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung im Eingedenken, wie Rosenzweig es in seinen Ausführungen über Liturgie und Tradition des Judentums darstellt. Das lebendige Judentum ist ein Vorbild für den Prozess des Eingedenkens, dessen Konzept es allerdings zu universalisieren gilt (Kap. 2.3.2.2.). Vgl. ebd., S. 462. Hierzu Mosès: »Judentum und Christentum stellen die beiden Grundmodalitäten der menschlichen Erfahrung dar und zeugen von der letztgültigen Dualität der Wahrheit, wenn sie sich in der Realität der erlebten Existenz bricht. Es kann nicht die Rede davon sein, daß eine von beiden wahrer ist als die andere; sie sind vor der Transzendenz der Einen Wahrheit absolut gleich.« (Mosès: System und Offenbarung, S. 185). 382 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 386. 383 Rosenzweigs Ausführungen zur Selbsterhaltung von Judentum und Christentum wirken dementsprechend martialisch und sind aus heutiger Sicht hinsichtlich ihrer Diktion zu problematisieren: »Die Christenheit muß missionieren. Das ist ihr so notwendig wie dem ewigen Volk seine Selbsterhaltung im Abschluß des reinen Quells des Bluts vor fremder Beimischung. Ja das Missionieren ist ihr geradezu die Form ihrer Selbsterhaltung. Sie pflanzt sich fort, indem sie sich ausbreitet. Die Ewigkeit wird Ewigkeit des Wegs, indem sie nach und nach die Punkte des Wegs alle zu Mittelpunkten macht.« (Ebd., S. 379). 381
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1.5. Das Erzählen und die Erzählung Wir haben die Bedeutung des Erzählens und der Erzählung in den vorigen Kapiteln kennengelernt. Erzählen bedeutet die Aufnahme von Geschichten oder auch bereits ausgestalteten Erzählungen in die eigene Lebensgeschichte, in der sie dann einen für das Individuum gültigen Sinn bekommen. Im Erzählen arbeitet es an seiner Erzählung, es reiht die ihm begegnenden Geschichten sinnvoll in die Erzählung seines eigenen Lebens ein. Die literarische Erzählung ist hierbei lediglich ein besonderer Fall. Das Erzählen selbst findet im alltäglichen Geschichten-Zusammenhang statt. Dabei bezieht sich der Erzähler auf schon vorliegende Geschichten (stories), wie es auch der Schriftsteller tut, welcher Handlungen, die geschehen oder bereits geschehen sind, zu einer Erzählung, also zu einer Sinneinheit (plot), zusammenfasst. Menschliche Handlungen sind also schon potentielle Erzählungen. Sie werden zwar nicht als solche erlebt. 384 Spätestens in der Reflexion allerdings fügen sie sich in eine über die einzelnen isolierten Handlungen hinausgehende Erzählung ein. Nur so werden sie verständlich. Das Erzählen von Geschichten ist ein existentielles Konstituens des menschlichen Daseins. Paul Ricœur, dessen narrative Theorie in diesem Kapitel etwas vorweg genommen wird, unterscheidet die Ebene der Präfiguration von denen der Konfiguration und der Refiguration (Kap. 4.3.1.). Die Präfiguration ist die Ebene vor der eigentlichen Erzählung. Man kann auch sagen: Die Lebenswelt, in der der Mensch erlebt. Das Erleben ist aber nur unmittelbar in dem, was Buber als Ich-Du-Begegnung beschreibt. Sobald aus der Begegnung eine Beziehung wird, taucht der Mensch in die präfigurative Ebene ein und wird sich der »symbolischen Vermittlung« seiner Interaktionen bewusst. 385 So können wir Gesten, in etwa eine Begrüßung, nur deshalb verstehen und erwidern, weil wir über »symbolische[…] Ressourcen« verfügen, 386 die diese Gesten verständlich machen. Wir befinden uns also je schon in einer Erzählung vor der Erzählung. Unsere Lebenswelt ist von einem Symbolnetz durchwachsen. Ihr ist also bereits, wie Schapp deutlich
Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 223. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung. München: Fink 1988 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels; Bd. 18/I), S. 94. 386 Ebd. 384 385
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Das Erzählen und die Erzählung
gemacht hat, eine narrative Struktur inhärent. Aus ihr heraus handeln wir, auch wenn sie für den flüchtigen Moment der Begegnung im Ich-Du überschritten wird. Das Ich-Du steht damit keineswegs im Widerspruch zum Erzählen und zur Erzählung. Vielmehr bestätigt es diesen primären Zugang zu uns selbst und zum Anderen, insofern es wieder in das Symbolnetz zurückkehrt und dieses befruchtet und erweitert. Das Ich-Du macht die Lebenswelt erzählbar, weil es jenseits des Erzählens geschieht. Die unmittelbare Begegnung kann nicht in Worte gefasst werden. Dennoch zeigt sie auf, dass die Wirklichkeit eine gemeinsame ist, an der das Ich zwar seinen Anteil hat, diesen jedoch nur im Bewusstsein des Miteinanderseins verstehen und gestalten kann. Damit geht einher, dass die Geschichten, in die das Ich verstrickt ist, zunächst Geschichten Anderer sind, in denen sich das Ich verorten muss. Die Erzählung als vorliegende Eswelt ist vom Erzählen durchdrungen, insofern vergangene Ich-Du-Begegnungen in sie eingegangen sind und in erneuten Begegnungen vergegenwärtigt werden. Das Erzählte wird immer wieder neu erzählt. Die Erzählung als in der Eswelt vorliegende und am Du erneuerte entspricht also in etwa der Präfiguration Ricœurs. Sie ist noch eine Erzählung vor der Erzählung. Die Eswelt aber drängt zur Erzählung, weil der Andere als in sie hereinbrechendes Du sie dem egoistischen Gebrauch des Subjekts entfremdet. Sie muss nun geteilt, das heißt mitgeteilt, das heißt erzählt werden. Der Einbruch einer anderen Zeit, die die Chronologie des Gewohnten in der Eswelt, in der sich das Subjekt, diese gebrauchend, eingerichtet hat, aufbricht, offenbart die die Lebenswelt durchdringende Zeitstruktur der Erzählung, insofern sie das Vorliegende als etwas Geschehenes markiert, das nicht einfach wertund subjektlos da ist, sondern andere, vergangene oder noch stattfindende Ich-Du-Beziehungen involviert. 387 Wir haben für diese vom Hilfreich sind hierfür die Ausführungen Stephan Grätzels zur Erzählung. Er legt dar, dass die Erzählhandlung, in der sich grundsätzlich jedes menschliche Leben darstellt, sowohl horizontal als auch vertikal strukturiert ist. Die horizontale Struktur ist chronologisch oder teleologisch, sie bringt die Fakten in eine bestimmte Reihenfolge. Die horizontale Struktur ist also zum Beispiel die Ordnung eines bestimmten Lebens, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Die vertikale Struktur hingegen bindet den Geschehensverlauf in die Geschichte ein, die über ihn hinausgeht, ihm vorund auch nachgängig ist. Diese geschichtliche Einbindung ist aus der logischen horizontalen Anordnung nicht direkt erkennbar. Sie ist jedoch notwendig, damit die erzählten Ereignisse bedeutsam werden. Die vertikale Struktur transzendiert in gewisser Weise die Handlung, entfaltet, wie Grätzel schreibt, eine mythologische Ordnung in der Narration. Die Erzählung geht damit über das Eigene und Einzelne hinaus in
387
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
Du umgewendete Eswelt die Bezeichnung Zwischen-Welt eingeführt, da uns Bubers Zwiefalt von Ich-Du und Ich-Es zu starr erschien. Die andere Zeit, die die Eswelt zu einer Zwischen-Welt macht, befreit von der Herrschaft des Objektiven, die eine Verwertbarkeit der Dinge, der anderen Menschen und schließlich des eigenen Selbst verlangt. Sie offenbart mithin die geschichtliche Dimension des Daseins. Ihr Wirken ist jedoch paradox. Denn einerseits wird mit dem Einbruch der anderen Zeit, die die Zeit der Anderen ist, deren Geschichten vielleicht schon lange zurück liegen, die alltäglich ablaufende Zeit überhaupt erst bewusst. Auf der anderen Seite irritiert die andere Zeit die alltägliche Zeit, die gemeinhin linear wahrgenommen wird, insofern sie in ihr die Elemente des Heterogenen aufdeckt – also jene Splitter der Geschichte(n), die der alltägliche Lebens- und Zeitvollzug verdrängt, weil sie seiner Gewalt widerstreben. Die zeitliche Kontinuität wird als Fülle von Diskontinuitäten bewusst, die zwar alle – man denke nur an das In-Geschichten-verstrickt-sein Schapps – miteinander in irgendeiner Weise verbunden sind oder zumindest potentiell verbunden werden können, aber unter Umständen auch in einer unüberwindbaren Spannung zueinander stehen. Die Unterbrechung des Gewohnten, die tendenziell mit jeder Begegnung geschieht, freilich aber besondere Ausformungen kennt, wie in etwa das Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit oder, für uns von besonderer Bedeutung, die Leidensgeschichten Anderer, motiviert erst eigentlich das Erzählen 388 – das heißt, das Zusammenbringen der Dissonanzen zu einer sinnvollen Ganzheit, wobei auch das Anerkennen des Sinnlosen oder Sinnwidrigen, des Absurden als solchem, Teil einer solchen Sinngebung durch das Erzählen sein kann. Gelungene Erzählungen zeichnen sich vielleicht gerade dadurch aus, dass sie diese Brüche nicht zu nivellieren versuchen. Ricœur spricht deshalb hinsichtlich der Konfiguration von einer »dissonante[n] Konsonanz« oder von
die allgemeine Geschichte ein und kann von Anderen angenommen werden und eine Orientierung bieten (Grätzel, Stephan: Erzählung: I. allgemein. In: Kolmer, Petra; Wildfeuer, Armin (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe Bd. 1. Absicht-Gemeinwohl. Freiburg: Alber 2011, S. 725–738. Hier: S. 726 f.). Im Kleinen und im Alltag geschieht dies durch den Einbruch der anderen Zeit des Du. Das Leben des Ich wird auch hier in einen ihm transzendenten, es involvierenden Gesamtzusammenhang gebracht, der die Zeiten miteinander verbindet. 388 Grätzel weist auf die Bedeutung der Krisen für die Wirksamkeit von Geschichten hin: vgl. Grätzel: Erzählung I. allgemein, S. 731.
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Das Erzählen und die Erzählung
einer »Synthesis des Heterogenen.« 389 Die Konfiguration gestaltet die pränarrativ auf der präfigurativen Ebene bewusst gewordenen Handlungen. Dies kann in den traditionellen Gattungen als Roman, Drama oder Gedicht geschehen. Es geschieht jedoch ebenso unliterarisch oder vorliterarisch, nämlich dann, wenn wir unsere Lebensgeschichte erzählen, unserem Leben also (bestenfalls mitsamt Brüchen) eine uns sinnvolle Form geben, die in der Autobiographie oder im Tagebuch dann durchaus wieder literarisch werden kann. Aber auch dann, wenn wir im Gespräch (sei es mit uns selbst oder mit Anderen) unsere Lebensgeschichte erzählen, geschieht formal dasselbe. Der Verstehensprozess korreliert mit der grundsätzlichen Narrativität des Lebens, er ist bereits Narration und in dieser geschehende Sinngebung des isoliert sinnlos Erscheinenden. Was nicht erzählt werden kann, kann auch nicht verstanden werden. Die Erzählung gewährleistet den Nachvollzug der Handlungen in ihrer Gesamtheit. Es liegt kein Widerspruch darin, zu behaupten, dass das Erzählen, das zum Verständnis von Welt, dem anderen Menschen und dem Selbst führt, an die Grenze des Verstehens reicht und sogar den Verstehensprozess zum Abbruch bringen kann. Man denke nur an moderne oder postmoderne Erzählungen oder Gedichte. An ihnen wird besonders deutlich, dass die Aufgabe der Konstruktion eines sinnvollen Zusammenhangs ganz auf der Seite des Lesers liegt und diesen überfordern kann. 390 Die Dissonanzen durchbrechen dann wieder die angestrebte Konsonanz, das Heterogene lässt sich nicht zu einer Synthesis bringen. Der Versuch, dies zu erreichen, ist aber bereits der Beginn des Verstehens. Bricht es ab, fordert der Text geradezu dazu auf, einen neuen Versuch zu wagen. Mit der Erzählung schaffen wir eine »Zeitbrücke zwischen den Zeiten« 391 und verbinden das Vergangene (das, was erzählt wird; die erzählte Zeit) mit dem Gegenwärtigen (die Zeit, aus der heraus erzählt wird; die Situation/Perspektive des Erzählers; die Erzählzeit). Ebenso eröffnet die Erzählung eine zukünftige Dimension. Sie ermöglicht es dem Leser oder Hörer an sie anzuknüpfen und, wenn wir an eine persönliche Gesprächssituation denken, sie prospektiv mitzugestalten. 392 Deshalb ist bereits die dialogische Identität, wie 389 390 391 392
Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 106. Ricœur stellt dies bezüglich James Joyces Ulysses fest (vgl. ebd., S. 122). Grätzel: Versöhnung, S. 217. Vgl. ebd.
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
sie sich im Ausgang vom Ich-Du bildet und von diesem aus auf die Eswelt wirkt, eine narrative Identität. 393 Grätzels Formulierung einer »Zeitbrücke zwischen den Zeiten« gibt zu verstehen, dass es sich bei der Verbindung und Gestaltung der verschiedenen Zeiträume durch eine andere Zeit um ein komplexes Geschehen handelt. Denn die Zeitbrücke, die die Zeiten miteinander verbindet, ist wiederum Zeit – jene andere Zeit, die in das gewohnte Zeitverständnis einbricht und mit der Erzählung eine Gestalt bekommt. Bevor die Zeiten durch die gestaltete Zeit miteinander verbunden werden, steht ihnen die andere Zeit als fremde gegenüber – oder besser: überwölbt sie. Die Wölbung formt sich erst im Verlauf der Lektüre zur Brücke und schlägt erst dann ihre Pfeiler in die sonst als voneinander getrennt wahrgenommenen Zeiträume. Besonders deutlich wird dieses Geschehen der Gestaltung der Zeit durch eine andere Zeit in der Konfiguration der Erzählung in der Literatur, da hier der umschriebene Zeitraum mit seinem Anfang und seinem Ende als Manifestation der anderen Zeit hervortritt, wobei der Schluss einer Geschichte kein logischer Schluss ist, der ein absolutes Ende setzen würde. Der Schluss einer Geschichte ist durch eine relative Offenheit geprägt, die einen Anschluss und damit die Nachwirkung der Geschichte außerhalb ihrer selbst ermöglicht, 394 wobei das Nachwirken der Geschichte in der letzten Phase der Lektüre geschieht, wenn die Zeitbrücke die Zeiten miteinander verbindet und das Moment der vollkommenen Entfremdung bereits überwunden ist. Die Konfiguration bereitet die Refiguration vor. Erst dieses Zusammenwirken gewährleistet die Nachvollziehbarkeit einer Geschichte. 395 Die Zeiten sind erst in der Nachwirkung vollständig miteinander verbunden, nämlich dann, wenn das in der Erzählung erzählte Vergangene seine Wirkung in der Gegenwart des Lesers entfaltet. Dementsprechend geht die Lektüre über das Lesen oder Hören einer Geschichte hinaus. Die Lektüre ist erst abgeschlossen (und dies auch nur vorläufig), wenn sie vom Leser in dessen Wirklichkeit angeeignet, das heißt verstanden wird. Mit diesem Verständnis geht eine Verwandlung dieser Wirklichkeit einher. Ähnliches gilt für den Beginn. Die Geschichte beginnt nicht mit dem Anfang der Erzählung. Vielmehr gestaltet die Erzählung eine Geschichte, die ihr als erlebte Handlung vorausgeht (als das, was Ri393 394 395
Vgl. ebd., S. 218. Vgl. Grätzel: Erzählung I. allgemein, S. 733. Vgl. ebd.
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Das Erzählen und die Erzählung
cœur Präfiguration nennt). Dies darf jedoch nicht zu der hermeneutisch fragwürdigen Vorstellung führen, dass der Leser in irgendeiner Weise in einen direkten Kontakt zu den Erlebnissen, die der Erzählung zu Grunde liegen, treten könnte, oder in einen intersubjektiven Dialog mit dem Autor. 396 Was der Leser vor sich hat, ist der Text als poetischer Ausdruck gelebten Lebens. Er tritt in Kontakt nur mit der in diesem Text entfalteten Welt, die allerdings die Welt eines Anderen ist, der immer mitspricht, ohne dass er vom Leser vollständig eingeholt werden könnte (Kap. 5.1.2.). Hier zeigt sich nun ein fundamentaler Unterschied zur Erzählsituation im Gespräch mit einem Anderen. Wenn ich einem Anderen meine Lebensgeschichte erzähle oder er mir die seine, so ist die Möglichkeit des Nachfragens gegeben. Ebenso findet ein direkter Weltbezug statt als ein Bezug zu der gegenwärtigen Wirklichkeit, in der beziehungsweise als die das Gespräch geschieht. Diese Referenzen sind im Text jedoch suspendiert. 397 Ich erhalte von ihm keine direkten Antworten auf meine Fragen und er ist zunächst abgehoben von meiner Wirklichkeit, in ihm konstituieren sich eine für mich andere Welt und eine für mich andere Zeit. Diese sind zwar, wie wir gesehen haben, jedem Gespräch und jeder Begegnung inhärent und führen auch immer zu Zeit und Welt einmal mehr und einmal weniger irritierenden Unterbrechungen. Da der Text aber, anders als das Gespräch, keinen Repräsentanten außer sich hat und hier auf eine Dunkelheit oder eine Leerstelle verweist, ist der Bruch in gewisser Weise fixiert. Die Wirklichkeit des Textes tritt dann als gleich-gültige neben oder über die lebensweltliche Wirklichkeit des Lesers. Gleich-gültig heißt hier, dass die Welt des Textes nicht von der Wirklichkeit außerhalb des Textes relativiert wird. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass beide Sphären schließlich wieder in ein Gespräch zueinander treten können, sich überschneiden und wechselseitig hinsichtlich ihrer Bedeutungen erweitern können. Dies könnte nicht geschehen, wenn der Vgl. hierzu Ricœurs Umdeutung der romantischen Vorstellung eines hermeneutischen Zirkels (Ricœur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Hamburg: Meiner 2005 (Philosophische Bibliothek Bd. 570), S. 109–134. Hier: S. 128 ff. Sowie: Ders.: Die lebendige Metapher. München: Fink 1986 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels; Bd. 12), S. 214 f.). 397 Vgl. Ricœur, Paul: Was ist ein Text? In: Ders.: Vom Text zur Person, S. 79–108. Hier: S. 80 ff. 396
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
Text sich nicht zuvor als eigene Zeit und als eigener Welt-Raum, als Kosmos, absolut entfalten würde. Um zu verstehen, was so innerhalb des Textes geschieht, sind Jacques Derridas Überlegungen zur Schrift hilfreich, die er in seiner Grammatologie dargelegt hat. Dort wird auch deutlich, in welcher Weise Schrift und Text kreative Produktivkräfte entwickeln. In seiner der Wirklichkeit enthobenen Absolutheit ist der Text ein Signifikant (oder ein Signifikanten-Gewebe) absoluter Exteriorität. Das heißt, ihm kommt kein vom Leser einzuholendes intelligibles oder lebensweltlich vorhandenes Signifikat zu. 398 Wenn man so will, ist die Signifikant-Signifikat-Relation nur innerhalb des Textes zu finden. Sie ergibt sich aus der textspezifischen Umwelt der einzelnen Zeichen. So kann ein Text, der die außertextlichen Referenzen abbricht, trotzdem eine Bedeutung bekommen, die sich allerdings aus dem Inneren des Textes und seiner je einmaligen Komposition ergibt. Das Signifikat ist nicht schon vorher da, sondern bildet sich mit dem Signifikanten-Gewebe, welches wiederum der Resonanzraum für die Stimme des Anderen ist, die im Text zur Sprache kommt. Der Andere, der im Text mitspricht, ist in der außertextlichen Welt abwesend. Seine Stimme, die durch den Text hindurch tönt, hat deshalb den Charakter einer Spur. Die Spur zeigt, so heißt es bei Derrida, »[d]ie Abwesenheit eines anderen Hier-und-Jetzt, einer anderen transzendentalen Gegenwart, eines anderen Ursprungs der Welt, der als solcher erscheint und sich als irreduzible Abwesenheit in der Anwesenheit der Spur gegenwärtigt […].« 399 Die Schrift 400 als Träger der Spur, die wiederum die Spur einer anderen Spur ist, zeigt diese Abwesenheit des Anderen in der Welt an. Dessen Stimme kann als Laut in der Welt nicht mehr sprechen – das lässt sofort an die Stimmen der Toten und Ermordeten denken. Sie verdunkelt sich jedoch auch immer wieder im Text, in der Erzählung, im Gedicht, und ist in ihrem Ursprung selbst dort nicht einzuholen. 401 Wir können hier nicht So Jacques Derrida über die Schrift: vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt: Suhrkamp 2016 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417), S. 28 f. 399 Ebd., S. 82. 400 Die Schrift ist für uns bereits der Text der Erzählung. 401 Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 108. Celan spricht von einer Dunkelheit, die dem Gedicht mitgegeben sei. Diese Dunkelheit ›markiert‹ die Ursprungslosigkeit des Gedichts, entbindet es also von jeder Repräsentations-Funktion. »Jedes Gedicht hat sein Hier und Jetzt« (Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hrsg. v. Bernhard Böschenstein und Heino Schmull (Tübinger Celan-Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Wertheimer). Frankfurt: Suhrkamp 1999, S. 93.), das, wie bei Derrida, seine 398
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Das Erzählen und die Erzählung
näher auf Derridas Konzept einer Urschrift, die jedem anderen sprachlichen Zeichen, auch dem Phonem, voraus gehe, eingehen. 402 Was wir jedoch festhalten möchten, ist die absolute und irreduzible Eigenständigkeit der Schrift. Denn diese hat schwerwiegende Konsequenzen: Das zur Erzählung gewordene gelebte Leben ist diese Erzählung. Das heißt, der Text ist keine Repräsentation, sondern im ontologischen Sinn eine autonome Entität – eben seine eigene Welt. Nicht trotz, sondern wegen seiner schriftlichen Fixierung bedarf er daher einer unablässigen und unabschließbaren Interpretation, die vom Text selbst immer wieder durchkreuzt, verdunkelt, zunichte gemacht wird. Der Text ist dem Verständnis deshalb immer voraus. Er produziert, da er auf eine ursprungslose, ›reine‹ Spur in sich selbst (und nicht als referentielles Zeichensystem) verweist, unaufhörlich différance. 403 Die ›reine‹ Spur kann in unserem Sinne als das oder der absolut Andere verstanden werden, der zwar seinerseits Spuren hinterlässt, selbst jedoch nicht sinnlich erfahrbar in Erscheinung tritt. Nähert man sich einem Verständnis, so ist dieses nur vorläufig und aus ihm bricht sein Anderes hervor, das sich dem Verstehen entzieht usw. Der französische Neologismus différance »bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne dieses Wortes«, nämlich als aufschieben und (voneinander) verschieden sein. 404 Was zunächst aufgeschoben wird, ist, wie wir gesehen haben, das Verständnis, das als das immer Andere und vom Verständnis des Lesers verschiedene Verständnis erscheint. Bezogen auf das, was wir über die Erzählung gesagt haben, wird ebenso die Zeit aufgeschoben und verwandelt (differiert). Dies geschieht im Prozess des Schreibens ebenso wie in dem des Lesens. Schreibe oder lese ich, so schiebe ich meine Zeit zugunsten der Zeit eines Anderen auf. Das zeigt sich augenscheinlich bereits darin, dass ich Zeit brauche, um zu schreiben oder zu lesen. Zeit, die ich nicht für mich verwenden kann. Ich nehme mir Zeit, indem ich Zeit aufschiebe. Die Schrift macht mich dabei passiv, sie nimmt mir die Zeit. Die andere Zeit oder die Zeit des Anderen wird, während ich lese, zu meiner Zeit. Die Überbrückung kann grammatikalisch gestaltet sein, entweder derart, dass, wie es für die klassische Erzählung
Anwesenheit aus der weltlichen Abwesenheit und der diese Abwesenheit noch im Gedicht tragenden Dunkelheit schöpft (Kap. 5.1.). 402 Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 105 ff. 403 Vgl. ebd., S. 109. 404 Ebd., S. 44.
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
der Fall ist, die vergangene Zeit im Präteritum erzählt wird und sich der Leser dann in dieser Vergangenheit wiederfindet. Der Übergang beispielsweise ins historische Präsens verdeutlicht die Vergegenwärtigungstendenz. Im Drama ist dies noch deutlicher: Der Leser oder Zuschauer findet sich auf derselben Zeitebene mit dem Dargestellten, mag diese auch, wie es im modernen Theater oft der Fall ist, verfremdet oder verzerrt inszeniert sein und so den Bruch in der Zeit erfahrbar machen. Was das Gedicht angeht, werden wir mögliche Formen der Zeitgestaltung in der Dichtung Paul Celans kennenlernen (Kap. 5.). Mit der différance aber unterbricht die Zeit des Anderen diese meine Zeit immer wieder, sodass der Prozess des Aneignens nicht abzuschließen ist. Er ist vielmehr durchdrungen von einer Fremdheit, die mir die Zeit je wieder entfremdet, bevor ich sie mir erneut aneignen kann. Die Zeitbrücke zwischen den Zeiten ist daher fragil. Dennoch: Sie schafft zumindest für einen Augenblick eine Verbindung, in der die Trennung zwischen der Welt des Textes und der außertextlichen Wirklichkeit aufgehoben scheint. Eine Verbindung zwischen den Zeiten durch die als Erzählung gestaltete Zeit eines Anderen – und auch der Autor schafft sich diesen Anderen, er schreibt nie nur über sich selbst –, die stets in Gefahr ist, wieder abzubrechen, ist für meine Zeit jenseits des Textes wahrscheinlich weit prägender als eine Verbindung, die aufrechterhalten bliebe. Sie schreibt sich als Bruch in der Zeit in die Wirklichkeit ein. Die différance ist also nur ein, wenn auch (mit)bestimmendes, Moment der Lektüre. In dieser Hinsicht muss Derrida vielleicht etwas entschärft werden. Auch die Rolle des Vor und Nach des Textes wird noch zu verhandeln sein (Kap. 4. & 5.). Welchen Stellenwert man Aufschub und Verschiedenheit der différance in der Lektüre zusprechen mag: Allein die Konfrontation mit der Andersheit durch den Text mit dem, was über das Selbst des Lesers hinausgeht, und der Versuch, das Dissonante oder Nicht-Identische innerhalb einer narrativen Synthesis, in der jenes nicht aufgehoben, aber gestaltet wird, zu verstehen – mag das Verstehen auch niemals zu einem Abschluss gelangen –, macht die Erzählung zu einem Ausdruck eines Schuldverhältnisses, das den Leser nötigt, etwas zurück zu geben. Diese Gabe ist zunächst die Zeit und die Aufmerksamkeit für das/den oder die Anderen. Im weiteren Sinn gibt man ihm/ihnen die Möglichkeit zu sprechen zurück. Man behauptet – mit ihnen! – metaphorisch ihre unter Umständen vergangene oder 116 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Das Erzählen und die Erzählung
gar zerstörte und vernichtete Welt. Eine Lektüre, die sich dies bewusst macht und dementsprechend sensibel ist, ist daher die Voraussetzung für eine Solidarität, die die Toten mit einbezieht und auch über den Text hinaus in der Lebenswelt des Lesers wirken lässt. Ähnlich sieht es Stephan Grätzel: »Durch und in den Erzählungen sind die Toten lebendig und können erkannt und beachtet werden.« 405 Es geschieht eine, wenn auch nicht bruchlose, Integration der Geschichten der Toten, wie sie sich in der Erzählung oder im Gedicht entfalten, in die Wirklichkeit des Lesers, die eine mit anderen Menschen geteilte gemeinsame Wirklichkeit ist. Das Erkennen und Beachten der Toten kann also im besten Fall zu einer Fortsetzung ihrer (gewaltsam) abgebrochenen Geschichten führen. Diese werden wieder und weiter erzählt und bleiben im individuellen und kulturellen Gedächtnis. Die Wirklichkeit wird um die Perspektive der Toten und Ermordeten erweitert, deren Geschichten die überlieferte Geschichte aufsprengen, womit die Überlieferung von einer Herrschafts- zu einer Leidensgeschichte wird. 406 Wir werden diesen Vorgang, die Refiguration als das Nachwirken der Erzählung auf Identität und Lebenswelt des Lesers, noch eingehender betrachten (Kap. 4.3.1). Doch wir können festhalten, dass die différance nicht lediglich in jener Phase der Lektüre stattfindet und ›arbeitet‹, in die wir mit dem Lesen oder Hören treten, sondern auch darüber hinaus weiterhin Aufschub und Verschiedenheit produziert. Indem die Erzählung nachwirkt, schiebt sie die gewohnte Geschichtsauffassung auf, sie stellt, wie Walter Benjamin es über den geschichtlichen Gegenstand im Blick des historischen Materialisten formuliert, das Geschehen der Geschichte still und differiert sie, indem sie die unterdrückte Vergangenheit hervortreten lässt. 407 Grätzel: Versöhnung, S. 217. Vgl. hierzu Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte. In These VI heißt es: »In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.« (Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Bd. I,2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931), S. 691–704. Hier: S. 695). 407 Vgl. ebd., S. 703. Ich möchte diese Struktur auf die Erzählung übertragen, obwohl Benjamin an anderer Stelle explizit betont, dass, seiner Interpretation des historischen Materialismus nach, die Geschichte in Bilder und nicht in Geschichten zerfalle (vgl. Benjamin Walter: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften Band V,1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 935), S. 596). Dies ist meines Erachtens der monadologischen Theorie Benja405 406
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
Man kann sagen, dass die horizontal-vertikale Struktur der Erzählung, wie sie Grätzel herausstellt, auf Wahrnehmung und Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit überhaupt übertragen wird. Die Linearität der einzelnen Ereignisse wird von der Vertikalen des geschichtlichen Einbruchs neu angeordnet. So wird das einzelne Ereignis von seiner Überlieferung innerhalb der Siegergeschichte befreit und »aus dem homogenen Verlauf der Geschichte« 408 heraus gesprengt. Damit verliert das Ereignis seine Historizität und tritt in ein unvermitteltes Verhältnis zur Gegenwart, in die mit ihm »die Zeit einsteht […].« 409 Das Verhältnis des Gegenwärtigen zum Vergangenen kann neu verhandelt werden. Es entsteht ein Wechselverhältnis zwischen den Zeitebenen, wobei die Verbindung zwischen den Zeiten das Ereignis oder der geschichtliche Gegenstand selbst ist, in dem seine Vor- und Nachgeschichte in Erscheinung treten, die von der Aktualität des gegenwärtigen Blickes des historischen Materialisten polarisiert werden. 410 Benjamin geht es in seinen Thesen freilich nicht um die Erfahrung der Lektüre. Meines Erachtens lässt sich jedoch gerade in der Lektüre ein sehr ähnliches Geschehen beobachten. Die Lektüre stellt still, löst die gegebenen Verbindungen auf, sodass sich in der Erzählung Ereignisse entfalten können, die in einem Spannungsverhältnis zum homogenen Verlauf der Geschichte stehen und die vorgegebene und tradierte historische Interpretation in Frage stellen. Die Erzählung bildet eine Zeit in der Zeit, eine Zeitbrücke, und erfüllt die Vergangenheit als das, was in der Erzählung erzählt wird, mit »Jetztzeit«, 411 aktualisiert das Vergangene also vom Standpunkt des Lesers aus, dem die Rolle des historischen Materialisten zukommt. Vice versa wird auch der Standpunkt des Lesers verändert, da die heraus gesprengte Zeit in dessen Gegenwart einsteht. Dies ermöglicht ihm, die Geschichte anhand des ›Gegenstands‹ der Erzählung zu konstruieren, 412 das heißt den gesamten Geschichtsverlauf mins geschuldet. Ich möchte jedoch behaupten, dass spätestens mit der Reflexion über den geschichtlichen Gegenstand das Bild zu einer Geschichte werden muss. Nur so ist schließlich gewährleistet, dass die Vergangenheit »die Gegenwart in eine kritische Lage […] bringen« kann (ebd., S. 588), insofern die Verbindung der Zeiten, wie wir gesehen haben, nur narrativ geschehen kann. 408 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703. 409 Ebd., S. 702. 410 Vgl. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 587. 411 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 701. 412 Vgl. ebd., S. 701.
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Das Erzählen und die Erzählung
in die Erzählung hineinzuziehen und ihn lebendig zu machen. 413 Und zwar aus einer Perspektive, die nicht die der ›Herrschenden‹ ist. 414 Wenn die zur Erzählung gewordenen Leidensgeschichten nun den gesamten Geschichtsverlauf zu sich hin orientieren, hat dies potentiell Auswirkungen auf jeden geschichtlichen Gegenstand, auf jedes Wozuding (Schapp), dessen Wozubestimmtheit irritiert wird, da es sowohl hinsichtlich seiner Genese als auch seiner zukünftigen Verwendbarkeit neu bestimmt werden muss, neben seiner geschichtlichen also auch eine ethische Dimension zugesprochen bekommt. Damit ist das Kulturgut »niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« 415 Durch die eingesprengte und in der erzählenden Übernahme integrierte Vertikale zeigt sich der geschichtliche Sinn der Wozudinge, die als Kulturgüter den Geschichtsverlauf und dessen Dialektik von Herrschafts- und Unterdrückungsgeschichte aufbewahren. Eine Sinngebung, das heißt ein Verständnis der Gegenwart inklusive ihrer Anteile einer nicht vergangenen Vergangenheit, muss in erster Linie den Leidens- und Schuldanteil am Zustandekommen dieser Gegenwart berücksichtigen, die Geschichten der Toten und Ermordeten in ihr erkennen und beachten. Zusammenfassend lässt sich zur Erzählung, im Besonderen zur Erzählung in ihrer schriftlichen Form, folgendes festhalten: Die ErVgl. ebd., S. 703. Man darf nicht außer Acht lassen, dass Benjamins Thesen eine Reaktion auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt (den sog. Hitler-Stalin-Pakt) waren (so berichtet Gershom Scholem. Vgl. Benjamin: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I,3. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931), S. 1228), und sich seine Kritik gegen eine progressistische Geschichtsauffassung richtet, die dem Pakt mit dem Nationalsozialismus »im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm« (Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 697) begegnete und ihn so zu legitimieren versuchte. Grundsätzlich kommt es immer auch auf den Standpunkt des Betrachters an, wen er als die ›Herrschenden‹ identifiziert und welche Überlieferung er ihrer Seite zuschlägt. Die Konstruktion von Geschichte kann somit auch immer anti-emanzipatorischen Zwecken dienen, wie es in etwa gegenwärtig geschieht, wenn sich ein völkisch-nationalistisch konstruiertes Kollektiv gegen eine vermeintlich herrschende linke Politiker- und Medienmacht in Stellung bringt und sich dabei ebenfalls auf Seiten der Unterdrückten verortet. Geschichte muss daher immer beides sein: sowohl Wissenschaft, die auf Fakten beruht, als auch Eingedenken, das Erzählungen aufgreift. Beide Zugänge müssen sich gegenseitig korrigieren (wie Benjamin selbst feststellt: vgl. Passagen-Werk, S. 589). 415 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 696. 413 414
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Geschichtsphilosophie vs. Philosophie der Geschichte(n)
zählung ist gestaltete Zeit und damit gestaltetes Leben. Sie geht aus erlebtem Leben hervor und gibt diesem einen geschichtlichen Sinn. Diese Sinngebung ist phänomenologisch betrachtet ein komplexes Geschehen, auch wenn sie im Alltag für gewöhnlich nicht als solches wahrgenommen wird. Besonders wenn es sich um Erzählungen handelt, die fremde Geschichten thematisieren, also solche, die der Leser/ Hörer nicht selbst erlebt hat, geht der Sinngebung unter Umständen eine Destruktion des Sinnes voraus, womit gemeint ist, dass das Erzählte in einem Widerspruch zum gewohnten Sinn des Rezipienten steht. Grundsätzlich löst jede Erzählung die außertextlichen Referenzen auf, wobei dies nur eine Phase der Lektüre ist. Sie gewährleistet, dass sich die Welt des Textes frei entfalten und eine eigene innertextliche Bedeutung erhalten kann. Die Erzählung setzt somit einen eigenen Anfang und einen eigenen Schluss; der Text schafft seine eigene Zeit. Der Anfang ergibt sich zwar aus der Erzählung vor der Erzählung des erlebten Lebens, wird jedoch im Text zunächst absolut. Der Abschluss einer Erzählung wiederum gewährleistet, dass diese nachwirken kann. In der Nachwirkung, die ebenfalls zur Lektüre gehört, wird die absolute Trennung zwischen der Welt der Erzählung und der lebensweltlichen Wirklichkeit außerhalb der Erzählung wieder aufgelöst. Die Erzählung wird in die Wirklichkeit übernommen und gestaltet sie um; so werden die verschiedenen Zeitebenen jenseits der Chronologie des eigenen Lebens erfahrbar. Die Splitter des Vergangenen erfüllen die Gegenwart, in die sie, oft verborgen oder verdrängt, eingesprengt sind. Die Erzählung baut eine Zeitbrücke zwischen den Zeiten auf. Damit ist die Sinngebung vorerst abgeschlossen. Der Text produziert jedoch nicht nur in der Lektürephase der Befremdung, in der der Text absolut abgelöst erscheint, différance, sondern auch darüber hinaus: Er befremdet immer wieder und setzt damit die kreative Energie des Rezipienten frei, der sich immer wieder zu einer erneuten Sinngebung genötigt sieht. Der Text ist damit die Manifestation einer Nicht-Identität, die nicht vollständig oder bruchlos in die Wirklichkeit des Rezipienten übernommen werden kann. Der ständige Widerstand, der die Aneignung immer wieder unterbricht, eröffnet gerade durch dieses irritierende Moment eine Perspektivverschiebung: Dem Leser wird die Möglichkeit gegeben, Geschichte und Welt von einem Standpunkt aus zu betrachten, der eigentlich nicht der seine ist. 416 416
Der Leser variiert Welt und Geschichte durch die Lektüre der Erzählung hindurch.
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Das Erzählen und die Erzählung
Hinsichtlich der Verwandlungskraft durch den Einbruch eines im Text entfalteten fremden Sinns in die Lebenswelt des Rezipienten gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer fiktionalen Erzählung und einem Erlebnis- oder Erfahrungsbericht. In gewisser Weise haben alle Erzählungen einen fiktionalen Anteil, insofern das Erlebte nicht eins zu eins wiedergeben werden kann. Erzählungen variieren damit das Vor und Nach des Textes. Dementsprechend wird Erzählung auch nicht als literarische Gattungsbestimmung verstanden. Auch Drama und Gedicht weisen narrative Elemente auf, insofern sie Vergangenes erzählen, in die Gegenwart tragen und dort erfahrbar machen, wobei dies gerade im Fall moderner Dichtung häufig nicht augenscheinlich ist. Mit den Ausführungen zu Schapp, Buber und Rosenzweig sowie einer anhand ihrer Ansätze entwickelten Theorie des Erzählens und der Erzählung unter Rückgriff auf Grätzel, Ricœur und Benjamin wären also die ersten zwei Thesen der Arbeit begründet (vgl. Einleitung). Das Dasein als In-Geschichten-sein ist primär dialogisch verfasst. Der Dialog bedeutet eine immer wieder geschehende Aufnahme der Erzählung und eine Um- und Neubeschreibung der Wirklichkeit. Der oder das Andere bricht damit immer wieder in die Lebenswelt ein und unterbricht die gewohnten Verstehensweisen. Mit der Aufnahme von Geschichten in die eigene Lebenserzählung werden diese bewährt und in die Zukunft getragen. So ist gewährleistet, dass das Vergangene weiterhin relevant ist, in der Gegenwart mitspricht und auch in Zukunft noch etwas zu sagen hat.
Ricœur nennt dies imaginative oder phantasievolle Variationen (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung II: Zeit und literarische Erzählung. München: Fink 1989 (Übergänge: Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff, Bernhard Waldenfels. Band 18/II), S. 172), die es dem Leser ermöglichen, über die Fiktion eine Zeit zu erforschen, die nicht der kosmologischen Zeit oder der Zeit der Geschichtsschreibung entspricht (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 208). Auf der refigurativen Ebene führen diese imaginativen Variationen zu einem Konflikt zwischen der Welt des Textes und der des Lesers (vgl. ebd., S. 290), was letztendlich zu einem doppelten Status der Lektüre führt, der sich durch die Stasis der Unterbrechung durch den Text und einen Neuaufbruch sowohl der textimmanenten als auch der lebenswirklichen Interpretation auszeichnet (vgl. ebd., S. 292). Das heißt, der Leser wird durch seine Konfrontation mit dem Text immer wieder dazu aufgerufen, sowohl den Text als auch sein Leben zu überprüfen, zu variieren und neu auszurichten.
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2. Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
Die Konfrontation mit dem Anderen und der Zugriff auf die Vergangenheit durch Sprache und Erzählung involvieren zwangsläufig ein Schuldverhältnis. Vergangenes lebt in der Gegenwart fort und wird durch die Erzählung übernommen und angenommen. Es gilt daher, einen Begriff geschichtlicher Schuld zu entwickeln. Dafür ist es hilfreich, den Schulddiskurs in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen zu thematisieren. Hierfür stehen beispielhaft die Überlegungen Karl Jaspers’ und Jean Amérys. Beide haben sich unmittelbar nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus mit dem Schuldbegriff auseinandergesetzt. Jaspers tat dies aus der Perspektive eines Deutschen, der sich selbst als schuldig ansah. Er plädierte für eine Selbstdurchleuchtung und Selbstbeurteilung der Individuen, 1 damit auf gesellschaftlicher Ebene ein ethisch-politisches Fundament überhaupt möglich werde. Améry hingegen war selbst Auschwitz-Überlebender. Er begann, wie Jaspers, bereits 1945 mit seinen Aufzeichnungen, die allerdings erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Bekannter ist sein Werk Jenseits von Schuld und Sühne aus dem Jahre 1966. 2 Hier blickt er mit einer 20jährigen Distanz auf seine Erfahrungen zurück und entwirft eine »Wesensbeschreibung der OpferExistenz.« 3 Bei Jaspers finden sich, obwohl es ihm in erster Linie darum ging, die Situation der damals in Deutschland Lebenden und potentiell Schuldigen zu betrachten, Hinweise auf eine Tradierung der Schuld als geschichtliche Schuld durch Sprache und Kultur. Vgl. Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands. München: Piper 1987 (Serie Piper; Bd. 698), S. 30. Der Untertitel dieser Ausgabe, der erst später hinzugefügt wurde (in der Erstveröffentlichung von 1946 ist er nicht vorhanden), ist irreführend, da die politische Schuld und die Haftung dafür lediglich einen Teil der Analyse ausmachen. 2 Vgl. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Ders.: Werke Band 2. Herausgegeben von Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002. 3 Ebd., S. 21. 1
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Karl Jaspers: Die Schuldfrage
Améry verwirft zwar, wie der Titel seines Buches verrät, den Schuldbegriff. Er formuliert jedoch eine Möglichkeit, die es späteren Generationen erlaubt – und es sogar von ihnen fordert – für die Vergangenheit einzustehen.
2.1. Karl Jaspers: Die Schuldfrage Karl Jaspers’ Abhandlung Die Schuldfrage beruht auf einer Vorlesungsreihe, die er im Wintersemester 1945–46 an der Universität Heidelberg gehalten hatte, und die 1946 in Buchform veröffentlicht wurde. Jaspers konfrontiert darin die Deutschen (und damit sich selbst) bereits unmittelbar nach dem Krieg mit differenzierten Schuldbegriffen, die zum Teil weit über ein strafrechtliches Verständnis hinausgehen. Er eröffnet damit Dimensionen von Schuld, die nicht ausschließlich diejenigen betreffen, die sich im Sinne einer Täterschuld konkreter Verbrechen schuldig gemacht haben. 4 Seine Abhandlung ist damit eine Grundlage dafür, sich jenen Dimensionen von Schuld anzunähern, die uns auch heute noch als Nachgeborene in einer Zeit betreffen, in der das Strafrecht nur noch in seltenen Fällen eine Rolle spielt und die meisten Täter entweder tot und/oder verurteilt sind. Jaspers benennt die Voraussetzungen für seine Überlegungen ganz klar: Die Bedingungen eines reflektierenden Gesprächs der Deutschen untereinander als Fundament einer gemeinsamen Zukunft sind von den Alliierten geschaffen worden, die Deutschen in ihrer Mehrheit hatten keinen Anteil daran. Sie sind angehalten, ihren Blick für jene zu schärfen, »welche durch die Ereignisse zertreten« wurden und zugleich vor Überheblichkeit gewarnt. 5 Jaspers wollte mit seiner Schrift der »Selbstbesinnung dienen« 6 und dem »Durchdenken« 7 der Schuld. Jeder, der sich selbst befragt, »ist zugleich AnJaspers wendet sich zwar an alle Deutschen, insofern das Durchdenken der Schuldfrage sie alle betreffe und »jeder Deutsche in irgendeiner Weise schuldig ist […].« (Die Schuldfrage, S. 49) Er wendet sich jedoch gegen eine kollektive Charakterisierung der deutschen Bevölkerung als eine ununterscheidbare Einheit (vgl. ebd., S. 24 f.), was sich in der Differenzierung des Schuldbegriffs ausdrückt. 5 Vgl. ebd., S. 9. 6 So Jaspers in der Retrospektive im Nachwort 1962 über meine ›Schuldfrage‹ (vgl. ebd., S. 85). 7 Ebd., S. 82. 4
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geklagter und Richter.« 8 Die Schuldfrage, wie sie Jaspers stellt, berührt also in erster Linie ein inneres Schuldverhältnis, welches er vom äußeren, nämlich der Anklage von Seiten der Alliierten, unterscheidet. 9 Nur die Selbstdurchleuchtung führe zu einer »Erneuerung« und zur »inneren Umkehrung.« 10 Hier wird Jaspers’ moralisch-pädagogischer Ansatz deutlich. Juristische Fragen sind zwar von Interesse, ebenso die Bestrafung der Täter und die Konsequenzen auf politischer Ebene, 11 die die Bildung eines zukünftigen deutschen Staates beeinflussen. Das Wiederaufrichten der Menschenwürde, also das Bewusstsein, der Menschheit zuzugehören, 12 kann von einem juristischen Schuldbegriff allein nicht geleistet werden. Die Deutschen müssten vielmehr die »Anklagen von innen« reflektieren und sich selbst »durchleuchten, beurteilen und reinigen,« um ein »jetzt noch mögliche[s] Selbstbewußtsein« 13 zu erlangen. Man darf die Adressaten hierbei nicht außer Acht lassen: Zwar betreffen die Überlegungen alle Deutschen, aber es ist anzunehmen, dass im Auditorium der Heidelberger Universität vor allem junge Menschen saßen, die, in welcher Verfasstheit ein zukünftiges Deutschland auch immer existieren sollte, ihre gemeinsame Zukunft und ihr Verhältnis zu »den anderen Völkern« 14 irgendwie gestalten mussten. Jaspers’ Appell an die »deutsche[…] Seele« und den »Ursprung unseres Wesens« 15 ist daher auch kaum als nationalistisches Pathos oder romantisierender Mystizismus zu interpretieren, auch wenn die Diktion aus heutiger Sicht befremdend wirkt. Eher ist dies ein Ausdruck seiner Hoffnung, dass die (jungen) Deutschen trotz allem ein moralisches Bewusstsein entEbd., S. 9. Vgl. ebd., S. 15 f. 10 Ebd., S. 16. 11 Jaspers lässt keinen Zweifel daran, dass das vae victis gelte (vgl. ebd., S. 21) und der Besiegte keine Ansprüche zu stellen habe: »wir haben nicht anzuklagen, sondern hinzunehmen.« (Ebd., S. 30) Der Besiegte sei dem Wohlwollen und der Humanität (Gewalt, Recht und Gnade, vgl. ebd.) der Sieger unterworfen, dürfe diese jedoch nicht einfordern: »Steht die politische Schuld [zur Differenzierung der Schuldbegriffe s. u. Anm. D. M.] im Zusammenhang von Ereignissen, die durch Krieg ihre Entscheidung finden, so kann für den Besiegten die Folge sein: Vernichtung, Deportation, Ausrottung. Oder es kann der Sieger die Folgen in eine Form des Rechtes und damit des Maßes überführen, wenn er will.« (Ebd.). 12 Vgl. ebd., S. 15 f. 13 Ebd., S. 30. 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd., S. 16. 8 9
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wickeln können, aus dem heraus eine ethisch-politische Grundlage gestaltet werden kann. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies noch lange dauern sollte – beziehungsweise in dieser Hinsicht von einem unabschließbaren Prozess ausgegangen werden muss, 16 in den Schuldabwehr, Verharmlosung und sogar Rechtfertigung der ewig Gestrigen immer wieder einbrechen (Kap. 2.3.4.3). Zunächst ist aber eine Differenzierung des Schuldbegriffs notwendig. Jaspers unterscheidet vier Schuldbegriffe: 17 1) Kriminelle Schuld; 2) Politische Schuld; 3) Moralische Schuld; 4) Metaphysische Schuld. Kriminelle Schuld und politische Schuld bezeichnen ein äußeres Schuldverhältnis, wenngleich auch das Selbst des Subjekts hiervon betroffen ist (Bestrafung, Erziehung). Für die Sanktionierung dieser Schuld ist eine Instanz zuständig, die nicht im Subjekt selbst liegt. Die Instanz der kriminellen Schuld ist das Gericht, das Tatbestände festlegt und Gesetze anwendet. Die Verbrechen, die behandelt und bestraft werden, sind objektiv nachweisbare Handlungen. 18 Jaspers lässt keinen Zweifel daran, dass der Krieg und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes eine bis dato einmalige Dimension hatten. 19 Ebenso einmalig bewertet er die Nürnberger Prozesse, von denen er sich nichts weniger als den Beginn einer Neuordnung der Welt erhoffte. 20 In diesen Prozessen würden nicht lediglich »alle Führer des Naziregimes« 21 und alle, die an den Verbrechen tätig beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen. Das gesamte Volk (man muss kritisch einwenden: so es denn hinhören und hinsehen wollte) werde – nicht in strafrechtlicher, aber in politischer Hinsicht – seiner Haftbarkeit versichert, wobei Jaspers davon ausgeht, dass sich die Bevölkerung zumindest emotional mit einem ›deutschen Staat‹ identifiziere, sodass »die Kränkung und Würdelosigkeit in dem, was die Staatsführer erfahren, vom Volke als eigene Kränkung und Würdelosigkeit Jaspers selbst legt diese Deutung nahe (vgl. ebd., S. 80, S. 82 ff.). Vgl. ebd., S. 17 ff. 18 Vgl. ebd., S. 17. 19 Vgl. ebd., S. 32. 20 Vgl. ebd., S. 37 ff. Diese Hoffnung sah er im Nachhinein jedoch nicht verwirklicht, wie er im Nachwort 1962 über meine ›Schuldfrage‹ darlegt (vgl. ebd., S. 87 ff.). 21 Ebd., S. 32. 16 17
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empfunden [wird]«. 22 Diese ›Betroffenheit‹ ist aber noch keine kritische Reflexion der eigenen Rolle, ist keine Verantwortungsübernahme, sondern lediglich das Gefühl einer womöglich als ungerecht empfundenen Mithaftung. Jaspers diskutiert (und verwirft) im Folgenden dann auch mögliche ›Gründe‹, die die Bevölkerung anführen könnte (und angeführt hat), um den Prozess in Misskredit zu bringen, 23 die hier nicht besprochen werden können. Allerdings könne die Konfrontation mit den Verbrechen durch die Gerichtsprozesse auch ein erster Schritt zur Selbstbesinnung und zum Durchdenken der Schuld sein, der Beginn einer Art von Katharsis. Schuld werde dann von denen, die selbst keine objektiv nachweisbaren Verbrechen begangen haben, als politische Schuld erfahren, die dementsprechend über die kriminelle Schuld hinausgehe. Durch die Erkenntnis, selbst nicht in einem kriminellen Sinn schuldig zu sein, werde »[u]nsere eigentliche Schuld […] um so klarer in ihrem Wesen.« 24 Die Aufklärung über die Verbrechen der Staatsführung und ihrer Organe würde der Bevölkerung vor Augen führen, dass auch sie mitverantwortlich für diese Verbrechen sei. Betroffen von politischer Schuld sei demnach die gesamte Staatsbürgerschaft, die die politischen Konsequenzen kollektiv tragen müsse, 25 denn es sei »jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird.« 26 Das erscheint logisch: Denn niemand, unabhängig von seiner persönlichen Stellung zum Regime, konnte nach dem Sieg der Alliierten über den Nationalsozialismus aus dem politischen Kollektiv ausscheren. Auch jene, die in tatsächlicher Opposition zum Regime standen, waren der Nachkriegsordnung unterworfen. Deshalb begreift Jaspers die politische Haftung der Deutschen als Kollektivschuld. 27 Die moralische Schuld ist für Jaspers diejenige Dimension von Schuld, die nicht vor einer äußeren Instanz zu bekennen ist, sondern das Innere, das Selbst und das Gewissen berührt. 28 Zwar geht idealiter die Erkenntnis politischer Haftung mit einer Reflexion der eigenen Rolle im Nationalsozialismus einher. Das Nachdenken über die moralische Schuld betrifft allerdings nicht mehr das Individuum innerhalb 22 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 33. Vgl. Ebd., S. 33 ff. Ebd., S. 40. Vgl. ebd. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 17.
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eines Kollektivs, sondern fragt nach den Verfehlungen des Einzelnen. Jene, die die Anklage des eigenen Gewissens vernehmen, gehörten zu den »Sühnefähigen«, die in der »Selbstdurchhellung« ihr »schuldiges Irren« erkennen könnten. 29 Die Ursachen moralischen Schuldigseins sind vielfältig (in etwa Mitläufertum, Verstellung, Schweigen) und können hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. 30 Festzuhalten ist allerdings, dass »jeder von uns«, also die gesamte Staatsbürgerschaft, moralisch schuldig ist, »sofern er untätig blieb.« 31 Als moralisch schuldig müsse sich jeder erkennen, der seinen »Spielraum« nicht ausgenutzt habe und blind »für das Unheil der anderen« war. 32 An dieser Stelle berühren sich politische und moralische Schuld. Denn die Moral des Einzelnen – ergo sein Untätigsein – werde durch die »politischen Gesamtzustände« mitbestimmt. 33 Daher gebe es »eine moralische Kollektivschuld in der Lebensart der Bevölkerung […].« 34 Nur der Einsiedler könne »Politik und Menschsein« absolut trennen. 35 Man kann daraus schließen, dass nur diejenigen, die tatsächlich Widerstand geleistet oder Verfolgten geholfen haben, von der moralischen Kollektivschuld suspendiert sind. 36 Und dies womöglich ledigEbd., S. 42. Im Gegensatz zu jenen, die »außerhalb der moralischen Schuld« stünden, »solange sie sie überhaupt nicht spüren […]« und damit »unfähig der Reue und der Verwandlung [scheinen].« Jaspers nennt hier lediglich »Hitler und seine Komplizen«, denen gegenüber »nur die Gewalt [bleibt], weil sie selber nur durch Gewalt leben.« (Ebd.) Jaspers ist an dieser Stelle – wie überhaupt in Die Schuldfrage – zu optimistisch. Im Rückblick müssen all jene genannt werden, die, innerhalb der staatlichen Organe und anderswo, durchaus kriminell schuldig waren, jedoch diese Schuld im moralischen Sinn niemals eingestanden haben. 30 Vgl. ebd., S. 42 ff., S. 17 ff. 31 Ebd., S. 47. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 51. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Es erscheint sinnvoll, zwischen einem individualistischen Kollektivschuldbegriff und einem kollektivistischen Kollektivschuldbegriff zu unterscheiden, wie ein_e Autor_in mit dem Kürzel MS, deren Name im Verzeichnis der Autorenkürzel nicht auftaucht, es im Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland tut (vgl. MS: I.C2: Kollektivschuldthese. In: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N. (Hrsg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld: transcript 2015, S. 45–49. Hier: S. 45 f.). Beim individualistischen Kollektivschuldbegriff »hängt die Schuld der Einzelnen von ihrem jeweiligen Beitrag zu dem kollektiv verursachten oder zugelassenen Unrecht ab«, während kollektivistische Kollektivschuld bedeutet, »dass Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Kollek29
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lich in Bezug auf einen bestimmten Lebensabschnitt, da nicht auszuschließen ist, dass Individuen, die einmal Unterstützung für Verfolgte geleistet haben, ein anderes Mal weggeschaut oder sich mit dem Regime arrangiert haben. Ob der Einzelne nun weggeschaut hat und untätig geblieben ist, müsse er mit seinem eigenen Gewissen ergründen sowie in der »Kommunikation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem liebenden, an meiner Seele interessierten Mitmenschen.« 37 Dialogisch gesprochen muss man sogar sagen, auch wenn Jaspers dies nicht tut, dass das Gewissen erst im Gespräch mit dem Anderen eingesetzt wird. In diesem Gespräch mit dem Anderen, das dialogisch im inneren Gespräch seine Fortsetzung findet, ist jeder zugleich »Angeklagter und Richter.« 38 Die Ergründung der moralischen Schuld in der dialogischen ›Selbstbefragung‹ ist für Jaspers ein »innerer Prozeß« der »Buße und Erneuerung«, der dann allerdings »auch reale Folgen in der Welt hat.« 39 Die Umkehr nimmt hier ihren Anfang. Die Strafe für das Verbrechen im Falle krimineller Schuld und die Folgen der Haftung im Falle politischer Schuld mögen gegebenenfalls einen Reflexionsprozess anstoßen, führen aber nicht zwangsläufig zu einer inneren Auseinandersetzung, welche die Setzung des Subjekts als ein moralisches und in der Welt handelndes impliziert. Die äußeren Instanzen des Gerichts bzw. des Willens der Alliierten können diese Setzung nicht fordern. Sich moralisch zu behaupten und das eigene Verhalten kritisch zu durchleuchten kann nur im rückhaltlosen Gespräch gelingen, aus dem wiederum eine ethisch-politische Grundhaltung erlangt und verwirklicht werden kann. Die moralische Schuld und die Tatsache, dass die Untätigen moralisch schuldig sind, weist auf den vierten Schuldbegriff hin: Die metaphysische Schuld. Sie ist »der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen.« 40 Metaphysische Schuld geht tiv schuldig sein könnten, ohne dass ihnen ein moralisches oder rechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen wäre […].« (Ebd., S. 45) MS ist zuzustimmen, dass Jaspers mit der Rede von einer moralischen Kollektivschuld letztendlich den individualistischen Kollektivschuldbegriff bejaht (vgl. ebd., S. 47; sowie: MS: I.C3: Karl Jaspers: Die Schuldfrage. In: Fischer; Lorenz: Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland, S. 49–51. Hier: S. 50). Für die kollektive politische Haftung gilt allerdings der kollektivistische Kollektivschuldbegriff. 37 Jaspers: Die Schuldfrage, S. 17. 38 Ebd., S. 9. 39 Ebd., S. 21. 40 Ebd., S. 48.
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über moralische Schuld hinaus. Denn moralische Schuld ist immer noch an konkrete Handlungen des Einzelnen gebunden. Die metaphysische Schuld betrifft hingegen alle, auch jene, die sich nach moralischen Kriterien einwandfrei verhalten haben mögen. Die Solidarität mit dem Menschen als Menschen sei verletzt, »wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen. Es genügt nicht, daß ich mein Leben mit Vorsicht wage, um es zu verhindern. Wenn es geschieht und wenn ich dabei war und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiß: daß ich noch lebe, ist meine Schuld.« 41 Es handelt sich also um eine Art Überlebensschuld. Es läge nahe, auch hier von einer kollektiven Schuld zu sprechen. Für Jaspers existiert eine Kollektivschuld im eigentlichen Sinn jedoch ausschließlich als politische Haftung. 42 Sie wird normativ gesetzt, auch wenn die Bevölkerung nicht mit den Maßnahmen einverstanden ist. Die moralische Kollektivschuld hingegen betrifft nicht das Kollektiv der Deutschen insgesamt, sondern jeden Einzelnen, so er ein moralisches Verständnis und ein Gewissen hat, welches ihn zur Selbstbefragung drängt. Das Eingeständnis oder Bekenntnis zur moralischen Schuldhaftigkeit kann nur ein individuelles sein. Auch die metaphysische Schuld betrifft den Einzelnen, der sich vor Gott allein rechtfertigen müsse. 43 Das Gewissen spielt für Jaspers hier keine Rolle mehr, weil es sich bei der metaphysischen Schuld nicht mehr, wie es für die moralische Schuld gilt, um eine intellektuelle Reflexion der eigenen Taten und Untaten handelt. Deshalb kann sich der Mensch auch nicht von ihr befreien. 44 Sie ist Ausdruck seines Scheiterns, wie Stephan Grätzel betont, 45 und seiner Ohnmacht gegenüber der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen, die er nicht hat verhindern können, selbst wenn er Widerstand geleistet hat. 46 Der Einzelne ist der Anklage zunächst passiv ausgesetzt. Er steht vor Gott und sein Stolz »wird gebrochen [Hervorhebung D. M.].« 47 Das Selbst wird vor Gott zerknirscht, um in traditioneller religiöser Sprache zu sprechen. Diese passive, untergeordnete Position könne »zu einem neuen Ursprung aktiven Lebens führen«, das aber verbunden bleibe »mit 41 42 43 44 45 46 47
Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 25, S. 41. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 18 f. Vgl. Jaspers: Die Schuldfrage, S. 49. Ebd., S. 21.
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einem untilgbaren Schuldbewußtsein in der Demut« 48 vor Gott. ›Vor Gott‹ zu stehen meint nicht zwangsläufig ein religiöses Bekenntnis. Vielmehr betont es die Unausweichlichkeit der Anklage, die absolute Passivität, aus der heraus das Selbst verwandelt wird und wieder handeln kann, sowie die tiefe Beschädigung der zwischenmenschlichen Beziehungen angesichts der Shoah. Gott ist hier nicht als Symbol zu verstehen, das es auszulegen gilt und das letztendlich Sicherheit verschafft. Vielmehr zerfällt diese Symbolhaftigkeit und Gott wird, wie Jaspers an anderer Stelle schreibt, zur »Chiffre: Handschrift eines Anderen, welche, allgemein unlesbar, existentiell entziffert wird.« 49 Das Andere bricht durch die Chiffre in die Existenz ein und erschüttert diese, gibt ihr aber zugleich eine neue Orientierung. 50 Das Auftauchen der Chiffre wird zum »Wagnis für das Selbstsein.« 51 Die Existenz muss sich von hier aus entwerfen, die »Grenzsituation« 52 eröffnet ihr ihre Möglichkeiten, 53 die dem Dasein zuvor nicht durchsichtig waren. Das Bewusstsein metaphysischer Schuld in der Konfrontation mit den NS-Verbrechen ist freilich keine Grenzsituation unter anderen, sondern singulär. Dennoch kann die Bewusstwerdung einer untilgbaren Schuld durchaus als Beginn einer Neuausrichtung des Daseins beschrieben werden, dessen Demut »alles Tun in eine Atmosphäre taucht, in der Übermut unmöglich wird.« 54 Nur aus dieser Demut heraus können Ohnmacht und Schuld übernommen werden und aus der Übernahme kann eine »Umschmelzung erwachsen, der der Mensch sich entziehen möchte.« 55 Jaspers macht deutlich, dass nur durch die ungeteilte Übernahme der Schuld, die sich nicht relativieren lässt, und die »zu einem Grundzug unseres deutschen Selbstbewußtseins« werden müsse, 56 Kultur und Zivilisation in Deutschland überhaupt eine Zukunft haben. Die Verwandlung oder Umschmelzung des Selbst in der Durchhellung seiner Schuld von der kriminellen über die politische und moralische bis hin zu ihrer metaEbd. Jaspers, Karl: Philosophie I. Philosophische Weltorientierung. Vierte, unveränderte Auflage. Berlin: Springer 1973, S. 33. 50 Vgl. ebd. 51 Ebd., S. 34. 52 Ebd., S. 33. 53 Vgl. ebd., S. 36. 54 Jaspers: Die Schuldfrage, S. 21. 55 Ebd., S. 74. 56 Ebd., S. 80. 48 49
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physischen Dimension lege schließlich den Grundstein für politische Freiheit und ethisches Handeln, denn »aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die die Freiheit nicht möglich ist.« 57 Wir stehen jedoch vor einem Problem. Die Schuldbegriffe sind, bis auf die Ausnahme der politischen Haftung, die institutionell bis in die heutige Bundesrepublik weitergegeben wurde, generationsgebunden. Während die kriminelle Schuld eine objektive Schuld ist, die von außen, nämlich durch das Gericht, festgestellt und bestraft werden kann, beruhen Erkenntnis von und Auseinandersetzung mit moralischer und metaphysischer Schuld auf der Reflexionsfähigkeit und Reflexionswilligkeit des je Einzelnen bzw. auf seinem Einlassen auf das Wagnis einer Demütigung ›vor Gott‹, sie sind subjektive Schuld. Die metaphysische Schuld geht meines Erachtens nicht einfach in einer existentiellen oder geschichtlichen Schuld auf (Kap. 2.3), die über die Generationen hinweg weitergereicht würde. Sie kann dies auch nicht, da sie zurückgebunden bleibt an die subjektive Ohnmachtserfahrung angesichts der NS-Verbrechen, die auf die Angehörigen jener Generation reduziert ist, die damals gelebt hat. Doch Jaspers gibt einen unscheinbaren, aber umso bedeutsameren Hinweis zur Tradierung von Schuld, womit er implizit auf deren geschichtliche Dimension verweist. Denn neben der politischen Haftung als eine Form kollektiver Schuld, erwähnt er die sprachlichen und kulturellen Dimensionen von Schuld, die über die Tätergeneration hinausgehen und ebenso die Nachgeborenen verpflichten. Zunächst ist da die Familie: Jaspers verwirft jegliche Form der Sippenhaftung, betont aber die soziale Bindung an die Familie. Wir fühlten uns mitbetroffen, »wenn einer aus unserer Familie unrecht tut, und darum auch geneigt, je nach Lage und Art des Tuns und der vom Unrecht Betroffenen, es wiedergutzumachen, auch wenn wir moralisch und juristisch nicht haften.« 58 Die Schuld der Eltern- oder Großelterngeneration wird narrativ weitergereicht, ob bewusst oder unbewusst. Welches Verhältnis der Einzelne auch zu seiner Familie haben mag: Er ist Teil der Familiengeschichte. Erzählen die Eltern oder Großeltern oder wird über sie erzählt, so verbinden sich in den Erzählungen die Generationen miteinander. Geschichten werden miteinander verknüpft, es entsteht ein Netz oder Gewebe aus Geschichten, das 57 58
Ebd., S. 82. Ebd., S. 53.
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auch Schuld- und Leidensgeschichten enthält. Jaspers Satz gilt dann, wenn solche Geschichten thematisiert werden. Dies zu tun und dabei die verdrängten und vergessenen Geschichten, in denen sich das Verhältnis von Schuld (auf Täterseite) und Leiden (auf Opferseite) darstellt, weiterzuerzählen oder überhaupt zu erzählen, ist ein Wagnis, dem wir heute noch bestehen müssen. Es ist im eigentlichen Sinne eine Bewährung der Wahrheit und ein Akt der Solidarität mit den Ermordeten. Über das familiäre Verhältnis hinaus ist der deutsch sprechende Mensch »mitbetroffen von allem, was aus dem Deutschen erwächst. Nicht die Haftung des Staatsangehörigen, sondern die Mitbetroffenheit als zum deutschen geistigen und seelischen Leben gehörender Mensch, der ich mit den andern gleicher Sprache, gleicher Herkunft, gleichen Schicksals bin, wird hier Grund nicht einer greifbaren Schuld, aber eines Analogons von Mitschuld.« 59
Geschichtliche Schuld tradiert sich im Wesentlichen über Sprache und Erzählungen. Über eine Sprache, die auch schon vor der konkreten Erzählung im »Zusammenhang der Überlieferung« steht. Die »Schuld der Väter« müsse übernommen werden. 60 Dass Jaspers nicht in biologistischen, völkischen Kategorien denkt, macht er mit dieser Betonung vor allem der Sprache deutlich. Zentral ist ihm »das Leben in der Muttersprache«, in dem über die Zeiten hinweg die Schuldverstrickung aufscheint, sodass »ich mich auf eine rational nicht mehr faßliche, ja rational sogar zu widerlegende Weise mitverantwortlich fühle für das, was Deutsche tun und getan haben.« 61 Die Ratio, deren Fassungsvermögen Jaspers einschränkt, ist jene, die ausschließlich eine kausale Schuld anerkennt und der die Auffassung, dass es so etwas wie geschichtliche Schuldverstrickung geben könnte, undenkbar erscheint. Erzählungen, Sprache und Überlieferung können als Träger geschichtlicher Schuld identifiziert werden. Sie sind die Grundlage für alle weiteren Überlegungen.
59 60 61
Ebd. Ebd. Ebd., S. 54.
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Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne
2.2. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne Jaspers befasste sich in Die Schuldfrage mit der Schuld der Deutschen in ihren verschiedenen Facetten. Er konfrontierte seine Zuhörer und Leser unmittelbar nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus mit dieser ihrer Schuld. Und er versuchte ihnen zu verdeutlichen, dass politische Freiheit nur gelingen kann mit Hilfe einer Selbstdurchleuchtung und einer anschließenden Übernahme der Schuld in das individuelle wie kollektiv-politische Selbstbewusstsein, das mithin ein Schuldbewusstsein sein muss. Er tut dies als einer von ihnen. Seine Anklage ist eine Selbstanklage. Er sieht sich und die Mehrzahl der Deutschen nicht apologetisch als Opfer des Nationalsozialismus. Das Leid der deutschen Bevölkerung (so sie nicht jüdisch war oder zu einer anderen Opfergruppe gehörte) dürfe nicht für eine Selbst-Entschuldung oder Relativierung missbraucht werden. 62 Er wendet sich damit gegen einen deutschen Opfermythos, der die Deutschen als die eigentlichen Leidtragenden des Nazi-Regimes bestimmt. 63 Mit seinen Überlegungen zu Sprache und Überlieferung legt er den Grundstein für die Analyse geschichtlicher Schuld. Nichtsdestoweniger bedarf es zur Bestimmung eines heute noch relevanten Schuldbegriffs eines Korrektivs, einer Stimme von ›außen‹ – der Stimme eines Verfolgten also, die die eigene Erfahrung zum Objektiv ihrer Reflexionen über die Schuld der Deutschen und deren Umgang mit dieser Schuld macht. Jaspers konnte diese Perspektive lediglich in der Abstraktheit der Chiffre Gott als Instanz metaphysischer Schuld berücksichtigen. Als ein solches Korrektiv können die Schriften des AuschwitzÜberlebenden Jean Améry gelten. Was er in Jenseits von Schuld und Sühne (1966) 64 sowie ferner in einigen diesem Werk vorangegangenen Aufsätzen 65 zur Sprache bringt, ist in vielerlei Hinsicht eine Gegenfolie zur Identitätssuche der Deutschen angesichts ihrer Schuld, wie Jaspers sie in Die Schuldfrage darlegt, eine Bemühung übrigens, die Améry ausdrücklich lobt. 66 Während Jaspers die Möglichkeiten einer durch Schuldbewusstsein und Schuldübernahme erneuerten inVgl. ebd., S. 77 f. Vgl. ebd., S. 9. 64 Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 7–177. 65 Vor allem: Améry, Jean [noch als Hanns Mayer]: Zur Psychologie des deutschen Volkes (1945). In: Ders.: Werke Band 2, S. 500–534. Sowie: Ders.: Im Schatten des Dritten Reiches (1961). In: Ders.: Werke Band 2, S. 535–599. 66 Améry: Im Schatten des Dritten Reiches, S. 582 ff. 62 63
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Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
dividuellen wie kollektiven Identität der Deutschen auslotet – eine Identität, die stets demütig und fragend ›auf dem Weg‹ bleibe, aber in dieser stetigen Selbstbesinnung zumindest denkbar erscheine –, 67 sieht sich Améry als jüdisches Opfer des Nationalsozialismus vor den Trümmern seiner Identität, die für ihn nur noch in der Negation jedweder positiven Bestimmung erfahrbar ist. 68 Ich möchte im Folgenden zunächst Amérys ›Ausgangspositionen‹ bestimmen. Er beginnt seine Aufzeichnungen, noch unter dem Namen Hanns Mayer, unmittelbar nach seiner Befreiung aus der Lagerhaft. 20 Jahre später veröffentlicht er sein bekanntestes Werk Jenseits von Schuld und Sühne. Beide Zugänge gilt es zu unterscheiden. Im daran anschließenden Abschnitt werde ich seine für uns relevantesten Begriffe, die Tortur und die Ressentiments, näher erläutern.
2.2.1. Ausgangspositionen Wie Jaspers sieht sich Améry in einer Art pädagogischem Auftrag gegenüber seinen Lesern, der in einer ethischen Verpflichtung des Zeugnis-Gebens begründet ist. Zu Beginn hatte er sich selbst über seine Situation – die des Intellektuellen im Konzentrationslager – klar werden wollen. Zwanzig Jahre lang habe er sich »auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden«, 69 um endlich, angestoßen durch den Frankfurter Auschwitz-Prozess, sein Schweigen zu brechen. 70 Es entstand schließlich eine »persönliche Konfession«, eine »Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz.« 71 Mithin die ausstehende Ergänzung zu Jaspers’ Analyse der verschiedenen Arten von Schuld auf Vgl. Jaspers: Die Schuldfrage, S. 82. Gerhart Scheit schreibt in seinem Nachwort zu Jenseits von Schuld und Sühne treffend: »Was sich dem Begriff entzieht, ist Gegenstand des Essays. Weder die Selbstgewißheit des Intellektuellen angesichts einer Banalität des Bösen noch das grenzenlose Vertrauen auf einen humanistischen Geist werden dem gerecht, wovon Améry zu sprechen hat, was seine Erfahrung ausmacht – das Lager, die Folter, das Exil und die Existenz als jüdisches Opfer nach Auschwitz. Die Erfahrung ist immer nur die Negation positiver Identität.« (Scheit, Gerhard: Nachwort. In: Améry: Werke Band 2, S. 629–692. Hier: S. 656). 69 So im Vorwort zur ersten Ausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne 1966 (Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 20). 70 Vgl. ebd. 71 Ebd., S. 21. 67 68
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Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne
Täterseite. Die persönliche Reflexion jener unverlierbaren Zeit wendet sich nach außen. Améry bestimmt seine Adressaten im Vorwort der Erstausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne 1966: »Ich wende mich in diesem Buch nicht an meine Schicksalsgefährten. Sie wissen Bescheid. Jeder von ihnen muß auf seine Weise die Erlebnislast mit sich tragen. Den Deutschen freilich, die in ihrer überwältigenden Mehrheit sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reiches, würde ich gern hier manches erzählen, was ihnen vordem vielleicht noch nicht eröffnet wurde. Schließlich hoffe ich manchmal, es sei diese Arbeit zu einem guten Ende gebracht worden: dann könnte sie alle angehen, die einander Mitmenschen sein wollen.« 72
Der Konjunktiv ist bezeichnend. Er drückt Hoffnung und Zweifel, vielleicht sogar schon Resignation aus. Die Deutschen, sie müssen hören, aber haben sie denn ein offenes Ohr? Wollen sie sich denn ›betroffen‹ fühlen, sind sie überhaupt in der Lage dazu? Zugleich begreift Améry die Mitteilung seiner Erfahrungen als die Bedingung der Möglichkeit von Humanität überhaupt: Sie könnte alle angehen, die einander Mitmenschen sein wollen. Er formuliert einen universalen Anspruch hinsichtlich seiner singulären Erfahrung. In seiner Hoffnung auf eine Humanisierung der Verhältnisse aber wurde Améry enttäuscht, wie er im Vorwort zur Neuausgabe 1977 ausführt. Die dreizehn Jahre seit der Niederschrift seien eine »Zeitstrecke an Schrecknissen«, die es aufnehme »mit den schlimmsten Epochen einer Geschichte, die ebenso wirklich ist wie widervernünftig.« 73 Er fragt sich, ob angesichts dieser Entwicklungen nicht überholt sei, was er einst geschrieben hat, oder dieses doch zumindest überarbeitet werden müsse. Diese Frage verneint er sogleich und geht im Folgenden auf die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen und ihre nicht weniger spezifische historische Genese ein, wobei er »[a] lle[n] zumeist monokausalen Klärungsversuche[n]« ein Versagen »aufs Lächerlichste« attestiert. 74 Es gebe »nichts wirklich Aufklärendes […] über die Eruption des radikal Bösen in Deutschland«, dieses Böse sei, trotz der Verbrechen der (damaligen) Gegenwart der 1970er Jahre (er erwähnt u. a. die Diktatur Pinochets in Chile, die Deporta-
72 73 74
Ebd., S. 22. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12.
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tionen durch die Roten Khmer in Kambodscha und die Verbrechen Stalins), »in seiner totalen inneren Logik und vermaledeiten Rationalität singulär und irreduktibel«, sodass »wir alle noch immer vor einem finsteren Rätsel […]« stünden. 75 Alle ökonomischen Erklärungsversuche sagten dem Augenzeugen »ebensowenig wie die verfeinerten Spekulationen über die Dialektik der Aufklärung.« 76 Ihm bleibe daher weiterhin nichts anderes übrig als sein Zeugnis abzulegen. 77 Er berührt die geschichtliche Dimension von Schuld und sieht sich in seinem ethischen Auftrag bestärkt. Angesichts eines sich in Deutschland und Europa erhebenden »altneue[n] Antisemitismus« 78 – eines Antisemitismus also, der geschichtlich tradiert wurde, weil es nicht gelungen ist, Schuld zu erhellen, zu übernehmen und ein aufrichtiges Schuldbewusstsein zu entwickeln, wie es Jaspers’ Hoffnung war – stellt er bitter fest: »Die Opfer sterben weg, es ist gut so, sie sind überzählig, seit langem schon. Auch die Henker krepieren, erfreulicherweise und dem Gesetz des biologischen Absterbens entsprechend. Aber neue Generationen wachsen ständig heran in beiden Lagern, und zwischen diesen, die jeweils geprägt sind von Herkunft und Umwelt, tut wiederum die alte unüberbrückbare Kluft sich auf. Die Zeit wird irgendwann sie schließen, das ist gewiß. Aber es darf nicht faule, gedankenlose, grundfalsche Versöhnlichkeit sein, die jetzt schon den Prozeß des Zeitigens beschleunigt. Im Gegenteil: Da es eine moralische Kluft ist, bleibe sie vorläufig weit geöffnet; auch dies ist der Sinn der Neuherausgabe meiner Schrift«. 79
Dieses Offenhalten der moralischen Kluft schlägt sich im zentralen Kapitel von Jenseits von Schuld und Sühne nieder, welches den Titel Ressentiments trägt (Kap. 2.2.2). 80 Sich erneut im gleichen Wortlaut zu äußern wie dreizehn Jahre zuvor, erscheint für Améry auch deshalb notwendig, weil sich jene moralische Kluft auch und im Besonderen über jenen zu schließen anschicke, in die er seine Hoffnung nicht zu vergessen gesetzt hatte: »die Jugend Deutschlands – die bildsame, wesenhaft generöse und nach Utopia strebende, also: die linke«, die er hinübergleiten sieht »zu jenen, die ihre Feinde sind so gut wie 75 76 77 78 79 80
Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 118–148.
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die meinen.« 81 Symptome des Vergessens und Verdrängens der Kluft seien die relativierenden Äußerungen gerade dieser Jugend in ihrem übereilten Gebrauch des Labels Faschismus zur Beschreibung der damaligen Verhältnisse in der Bundesrepublik. 82 Und vor allem, damit einhergehend, weil die Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen nivellierend und auf damals aktuelle Feindbilder projizierend, eine Israelfeindschaft der Linken, von Améry als Antisemitismus enttarnt, der sich in das vorgeblich ›progressive‹ Kleid des AntiZionismus kleide, und ihn als politisches und jüdisches Nazi-Opfer unmittelbar angehe, weshalb er sich gezwungen sehe, vehement dagegen zu protestieren. 83 Die Neuauflage seines Buches sei daher »nicht nur ein Zeugnis dafür, was wirklicher Faschismus und singulärer Nazismus waren, sondern auch ein Aufruf an die deutsche Jugend zur Selbstbesinnung.« 84 Diese Selbstaufgabe der Linken und ihr Hinübergleiten ins Reaktionäre mussten Améry, der sich stets als linker Intellektueller begriff, irritieren. Er sieht darin eine Abkehr von ihren aufklärerischen Grundlagen. 85 Améry sieht sich dieser Tradition weiterhin verpflichtet, wenn er auch die Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos als Erklärungsversuch der nationalsozialistischen Barbarei wenige Seiten zuvor zurückgewiesen hat. 86 Jenseits ihrer Funktion der erhellenden Erklärung des »finsteren Rätsel[s]«, 87 die dem Augenzeugen unangemessen erscheinen müsse, versteht Améry Aufklärung als »den Willen und die Fähigkeit zur phänomenologischen Spekulation, zur Empathie, zur Annäherung an die Grenzen der Ratio. Nur wenn wir das Gesetz der Aufklärung erfüllen und zugleich überschreiten, gelangen wir geistig in Räume, in denen ›la raison‹ nicht zum flachen Räsonnieren führt.« 88 Ausgehend vom konkreten Ereignis – also seinen Erfahrungen in Konzentrations- und Vernichtungslagern – möchte Améry vordringen »in Denkbezirke, über denen ein ungewisser Dämmer liegt und liegen Ebd., S. 15. Vgl. ebd. 83 Vgl. ebd., S. 16. 84 Ebd. Das Phänomen eines sich als links gerierenden Antisemitismus hat Améry bereits 1969 in Die Zeit analysiert (Améry, Jean: Der ehrbare Antisemitismus. Die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtisch gegen den Staat der Juden. In: Die Zeit. 25. 07. 1969). 85 Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 17. 86 Vgl. ebd., S. 14. 87 Ebd., S. 13. 88 Ebd., S. 18. 81 82
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bleiben wird, wie sehr ich mich auch bemühe um jenes Licht, das sie erst zur Dimension macht.« 89 Der Unterschied zur Dialektik der Aufklärung liegt daher in erster Linie in der grundsätzlichen Verschiedenheit der epistemologischen Voraussetzungen, die dann freilich auch ein anderes Ergebnis hervorbringen. Der Augenzeuge Améry möchte und kann keine ›rationale‹ Erklärung liefern, was den Autoren der Dialektik, seit den 1930er Jahren im Exil, möglich erschien. 90 Sein Zeugnis ist eine Mitteilung, an die freilich Reflexionen sich anschließen. Das Durchdenken ist jedoch als phänomenologische Annäherung an die eigene Opfer-Existenz zurück verwiesen auf die conditio inhumuna 91 des Erlebens selbst, das immer wieder aufbricht und seinen Wesenskern verdunkelt. Aufklärung bedeutet in diesem Sinne: In die Wunde zu tauchen, um im Mitgeteilten das Unmitteilbare zu suchen. Diese Selbstbetrachtung des Autors hat ihre Entsprechung auf der Seite des Lesers. Denn dieser muss sich an der phänomenologischen Spekulation beteiligen, zur Empathie vordringen und die Grenzen der Ratio ausloten. Mithin: Er muss die moralische Kluft, die der Ausdruck der unheilbaren Wunde des Opfers ist, offenhalten und an dieser letztendlich sein ethisch-politisches Handeln ausrichten – dies ist seine geschichtliche Schuld. Ziel ist deshalb keine Verschmelzung in der absoluten Identifikation mit den Opfern, sondern ein Hören ihrer Stimme, die in ihrer Rebellion gegen die Geschichte 92 den Leser dazu aufruft, durch eine retrospektive Moralisierung der Geschichte an ebendieser Rebellion teilzuhaben. 93 Bereits unmittelbar nach seiner Befreiung beginnt Améry, noch unter dem Namen Hanns Mayer, mit seiner schriftlichen Reflexion. Das Ergebnis ist ein zu Lebzeiten unveröffentlichter Text mit dem Ebd. Enzo Traverso macht in seiner Studie Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah auf die besondere Situation der Exilierten im Unterschied zu der der Überlebenden aufmerksam (vgl. Traverso, Enzo: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah. Hamburg: Hamburger Edition 2000, S. 51–61. Im Besonderen S. 57 ff.). 91 Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 11. 92 »Ich rebelliere: gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt und es damit auf empörende Weise verfälscht. Nichts ist vernarbt, und was vielleicht 1964 [dem Jahr, in dem Améry mit der Niederschrift der in Jenseits von Schuld und Sühne versammelten Essays begann. Anm. D. M.] schon im Begriffe stand zu heilen, das bricht als infizierte Wunde wieder auf.« (Ebd., S. 18 f.). 93 Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 143. 89 90
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Titel Zur Psychologie des deutschen Volkes. 94 Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um eine Begriffsbestimmung, formal derjenigen Jaspers’ nicht unähnlich, wenn auch aus entgegengesetzter Perspektive. Gegenstand sind Strafe, Schuld und Rache sowie eine Differenzierung der Deutschen hinsichtlich ihrer Verantwortlichkeit und ein möglicher (oder auch geforderter) Umgang mit ihnen, ferner deutscher ›Geist‹ und dessen Zukunft. Dieser Essay ist, thematisch wie stilistisch, die Keimzelle von Jenseits von Schuld und Sühne. Ihm fehlen die zwei Jahrzehnte der »Suche nach der unverlierbaren Zeit«, 95 weshalb hier kaum Reflexionen des eigenen Erlebens Platz finden. Aufzeichnungen aus dem Konzentrationslager, die in den Text eingeflochten sind, zielen dementsprechend auf die Täter. Der Auschwitzhäftling Hanns Mayer betrachtet diese unmissverständlich aus der Perspektive des Leidtragenden, ohne jedoch seine eigene Kondition phänomenologisch zu durchleuchten, wie es zwanzig Jahre später geschieht. Seine Sprache ist distanziert, die zerbrochene Identität lässt sich höchstens erahnen, ohne explizit thematisiert zu werden. Im Gegensatz dazu beschreibt Améry im ersten Kapitel von Jenseits von Schuld und Sühne, das den Titel An den Grenzen des Geistes trägt, die Isolation des Intellektuellen in Auschwitz, dessen kulturelle und bildungsbürgerliche Identität keinen Halt mehr geben konnte und zerfiel. 96 Dabei geht er insbesondere auf die Situation des deutsch-jüdischen Häftlings ein, der er selbst war, und dessen kultureller Besitz von den Nationalsozialisten angeeignet, damit aber unbrauchbar, ja belastend für ihn werden musste. 97 Der analoge Abschnitt dazu in Zur Psychologie des deutschen Volkes thematisiert den ›deutschen Geist‹ ohne die Relevanz für den an deutschsprachiger Philosophie und Literatur geschulten jüdischen Intellektuellen Mayer/Améry mit einzubeziehen. Lediglich die letzten Sätze geben einen Hinweis darauf: »Der deutsche Geist ist bereit. Er hatte sich niemals selbst aufgegeben – er hatte sich nur vor der Macht in dunkle, Das Datum der Entstehung ist mit Juni 1945 angegeben (vgl. Améry [noch als Hanns Mayer]: Zur Psychologie des deutschen Volkes, S. 534). In seinen Anmerkungen erwähnt der Herausgeber Gerhard Scheit jedoch die Möglichkeit, dass Teile des Textes bereits im Lager Auschwitz-Monowitz entstanden sein könnten (vgl. Améry: Werke Band 2, S. 693 (Anm. 2)). 95 Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 20. 96 Vgl. ebd., S. 23–54. 97 Vgl. ebd., S. 33 ff. 94
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verhängte Zimmer zurückgezogen. An uns [Hervorhebung D. M.] wird es liegen, ihn in das volle Sonnenlicht der öffent[lichen] Wirksamkeit zu befreien.« 98 Zugleich ist dieser Text verhalten optimistisch. Diesen Optimismus, als Opfer jemals wieder in der deutschen Kultur heimisch werden, sie jemals wieder als sinngebendes Bollwerk gegen Inhumanität annehmen zu können, kennt Jenseits von Schuld und Sühne nicht mehr. Im Gegensatz zu den Exilierten musste dem Häftling selbst das Wort eines antinazistischen Schriftstellers wie Thomas Mann schal werden. 99 Es bot ihm keine (geistige) Heimat mehr. Dem skeptisch-humanistischen Intellektuellen Améry konnte auch keine politische oder religiöse Überzeugung einen zumindest relativen psychischen Schutz gewähren. 100 Dies galt auch nach seiner Befreiung. Eine Sentenz Karl Kraus’ 101 kommentierend schreibt er: »Das [metaphysische. Anm. D. M.] Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, daß wir sein Hinscheiden bedauern müssen.« 102 Die Totalität der entmenschlichenden Wirklichkeit des Lagers hat jedes Wort, das ihr nicht entsprach (jedes ›metaphysische‹ Wort also), unwiderruflich vernichtet. Es konnte auch im Folgenden keinen Fluchtpunkt mehr zu einer anderen, die faktische Realität transzendierenden Wirklichkeit mehr geben. Trotz der klaren Adressaten, die Améry in den beiden Vorworten von Jenseits von Schuld und Sühne benennt, trotz seiner moralischen (Selbst-)Verpflichtung als Augenzeuge, Zeugnis abzulegen, trotz seiner vagen Hoffnung einer doch noch irgendwie möglichen Aufklärung, gibt er sich resigniert: Nichts von alledem werde sich tatsächlich in Deutschland ereignen. 103 Demgegenüber skizziert er in Zur Psychologie des deutschen Volkes einen Weg, der zu gehen sei, damit der ›deutsche Geist‹ (der philosophischen Tradition entsprechend also auch und vor allem: Humanität) wieder wirksam werden könne. Sowohl Rache als auch »friedeflötende[…] Realpolitik« seien seine Sache nicht. 104 Ebenso Améry [noch als Hanns Mayer]: Zur Psychologie des deutschen Volkes, S. 534. Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 34. 100 Vgl. ebd., S. 43 ff. 101 »Das Wort entschlief, als jene Welt [die des ›Dritten Reichs‹. Anm. D. M.] erwachte.« (Ebd., S. 53 f.). 102 Ebd., S. 54. 103 Vgl. ebd., S. 145 ff. 104 Améry [noch als Hanns Mayer]: Zur Psychologie des deutschen Volkes, S. 501. 98 99
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verwirft er Schuld und Sühne im metaphysischen Sinn. 105 Zur Beurteilung der Deutschen wählt er die Begriffe Verantwortung und Strafe. Der Verantwortung korreliere der Begriff Erziehung, während Strafe im juristischen Sinne als Bestrafung verstanden wird, der zugleich eine abschreckende Funktion zukomme. 106 Verantwortlichkeit ist im speziellen Kontext der Schuld des deutschen Volkes retrospektiv begründet, sie meint also das Verantwortlich-sein für die begangenen Verbrechen, weshalb ihre zukünftige kausale Determinande die Besserungsfähigkeit sei. Könne aber keine Besserungsfähigkeit festgestellt werden, so sei ein Mensch entweder nicht verantwortlich zu machen, weil psychisch krank, oder aber als verantwortlicher Verbrecher physisch auszulöschen. Jene, die sowohl verantwortlich als auch besserungsfähig (dabei könne diese Besserung auch auf einer Angst vor Bestrafung beruhen) seien, müssten einer Erziehung unterworfen werden. 107 Améry geht dabei nicht von einem allgemeinen Typus des Deutschen aus, sondern unterscheidet drei Erscheinungen: 1) Die Elite; 2) Die Masse des Volkes; 3) Die Opposition. 108 Die Elite, die nicht ausschließlich mit der Parteielite identifiziert wird, sondern Führer und Unterführer der SS, das gesamte Personal der Gestapo sowie jene mit einschließt, »die, gleichgültig an welcher Stelle, begangener Grausamkeitsakte überführt sind […]«, 109 besitze »die eigentlichen im abendländischen Sinne menschlichen Qualitäten nicht mehr«, 110 weshalb »weder soziale Argumente noch Angst vor Strafe zu wirksamen Determinanden ihres Verhaltens werden könnten.« 111 Mit anderen Worten: Sie seien nicht besserungsfähig und müssten hingerichtet werden. 112 Die ›Sünde‹ der Masse der Deutschen hingegen sei eine »Unterlassungssünde« 113 gewesen. Die Bevölkerung sei »planmäßig verroht und überdies dann die allgemeine Verrohung als verdienstlich und erstrebenswert hingestellt [worden].« 114 Den Grund dafür sieht 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114
Vgl. ebd., S. 501 f. Vgl. ebd., S. 502 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 505. Ebd., S. 513. Ebd., S. 510. Ebd., S. 513. Vgl. ebd. Ebd., S. 526. Ebd., S. 525.
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Améry in einer irrationalen Auffassung von Arbeit, die an eine Pflichtbesessenheit gekoppelt gewesen sei. Man tue Sachen um »ihrer selbst willen«, 115 das heißt ohne einen Sinn in ihnen zu finden oder sich aus der Tätigkeit heraus einen Sinn zu schaffen. Dieses Sinnvakuum kann von politischer Propaganda gefüllt werden. Arbeit in jeglicher Form wird zur Pflicht am Vaterland, die bar jeden Zweifels hingenommen wird. 116 Mit Beginn von Kriegs- und Rüstungspropaganda und schließlich mit dem von Deutschland begonnenen Krieg selbst, wurde der ›totale Krieg‹ zum Kernelement jeder Propaganda (hierzu: Kap. 2.3.4.2.), mithin zum Sinn aller Arbeit, ja in seiner perversesten Form vielleicht für viele zum Existenzsinn überhaupt, immerhin galt es, so die Propaganda, eine Schicksalsschlacht zu schlagen: »Das Weltgeschehen war der klare und verständliche Ablauf eines Kampfes, den das deutsche Volk gegen das Judentum ausfocht, eines Kampfes, der in das Stadium der notwendigen bewaffneten Auseinandersetzung getreten war. Man liebte diese kriegerische Auseinandersetzung nicht[,] aber man erfüllte dieses wie man meinte unabwendbare Schicksal, an dem man sich unschuldig glaubte.« 117
Das ganze Volk sollte eine »Soldatische Haltung« 118 annehmen. Auf diesem Nährboden konnte schließlich die Sünde als Unterlassungssünde gedeihen. Von dieser Haltung nun müsse die Bevölkerung, als besserungsfähige erkannt, befreit werden.
2.2.2. Tortur und Ressentiments Zur Psychologie des deutschen Volkes entspricht der Unmittelbarkeit des Erlebens ohne eine entfaltete reflektierende Instanz. Der Stil ist über weite Strecken angesichts der Thematik fast irritierend nüchtern. Mayer/Améry nähert sich seinem ›Objekt‹, der Psyche der Deutschen und ihr entsprechender massenpsychologischer Phänomene, in der Tat wie ein Wissenschaftler. Subjektive Einlassungen dienen als Belegmaterial seiner Thesen. Dementsprechend bleibt er an seinen Gegenstand gebunden. Zwar sieht er die Zukunft abhängig 115 116 117 118
Ebd., S. 518. Vgl. ebd., S. 518 f. Ebd., S. 523 f. Ebd., S. 525.
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von der Besserungsfähigkeit der Deutschen. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, wie mit Verantwortlichkeit und Sünde über die Tätergeneration hinaus umgegangen werden kann – den Schuldbegriff verwirft er ohnehin. In Jenseits von Schuld und Sühne allerdings findet sich eine Möglichkeit der transgenerationellen Vermittlung. Um dies darstellen zu können, müssen wir zunächst erfahren, was den Identitätsbruch Amérys, die nicht heilen wollende Wunde, 119 verursacht hat. Wir müssen uns also zunächst mit der Phänomenologie der OpferExistenz befassen, die in Zur Psychologie des deutschen Volkes noch nicht entwickelt ist. Ausschlaggebend ist, zusammen mit der grundsätzlichen Entmenschlichung der Lagerhaft, das Erleben der Tortur, wie Améry es im zweiten Kapitel von Jenseits von Schuld und Sühne beschreibt. 120 Die Tortur begann bereits im sogenannten ›Auffanglager‹ Breendonk im besetzten Belgien. Er bezeichnet sie als »das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann,« 121 als »Essenz« des Dritten Reiches, 122 die als existentielle Grunderfahrung sein gesamtes weiteres Leben prägt. Schon der erste Schlag, den der wehrlose Gefangene erfährt, bringe ihm seine Hilflosigkeit zu Bewusstsein, die dumpfe Gewissheit: »Man wird mit mir anstellen, was man will.« 123 Er erfährt die absolute Isolation in dem Ausgeliefertsein an eine Gewalt, die er nicht im Mindesten kontrollieren kann. In jeder anderen Auseinandersetzung, ja sogar auf dem Schlachtfeld, könne der Verletzte Hilfe erwarten, die dem gefolterten Gefangenen versagt bleibe, der sich, ohne die Hoffnung auf Rettung oder auch nur Beistand, einem »existentielle[n] Vernichtungsvollzug« 124 ausgesetzt sieht. Er verliere sein Weltvertrauen und dessen wichtigstes Element: »[D]ie Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 19. Vgl. ebd., S. 55–85. 121 Ebd., S. 57. 122 Ebd., S. 59. Die Folter sei zwar keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus gewesen, »[a]ber sie war seine Apotheose.« (Ebd., S. 70) In ihr »[verwirklichte] sich das Dritte Reich in seiner ganzen Bestandsdichte […].« (Ebd., S. 69) Im Unterschied zu anderen autoritären Regimen sei die Folter nicht nur ein Mittel zum Zweck, um in etwa Informationen vom Gepeinigten zu erpressen, sondern Selbstzweck auf dem Weg zur Vernichtung (vgl. ebd., S. 71). 123 Ebd., S. 65. 124 Ebd., S. 67. 119 120
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meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert.« 125 Der andere, der Folterer, zwinge dem Opfer seine eigene Körperlichkeit auf, der der Gepeinigte, da er sich nicht zur Wehr setzen kann, nichts entgegenzusetzen habe. Der Mitmensch werde somit zum »Gegenmenschen«, 126 denn der Gepeinigte kann nicht mehr auf ein gemeinsames Menschsein vertrauen. Dieser erste Schlag sei jedoch ›nur‹ eine Vorahnung der eigentlichen Tortur. Ihm fehle die Systematik und die Kontinuität, die die Tortur, die Folter, definiert. Was mit dem ersten Schlag als »Grenzverletzung meines Ichs durch den anderen« 127 begann, wird durch die Überwältigung eines in der Folter immer wieder zugefügten und/oder nicht endenden Schmerzes zur totalen Realisierung des Fleisches in der Selbstnegation. 128 Der Peiniger, der mit dem ersten Schlag seine Körperlichkeit dem Opfer aufgezwungen hatte, macht aus dessen Körper nun in der Folter bloßes Fleisch und vernichtet den physischen und metaphysischen Bestand des Selbst, also dessen Ich. 129 Améry spekuliert, dass mit der Tortur somit der eigene Tod erlebt werden könne: Dann, wenn der Körper mit Schmerz und der Schmerz, da unaufhörlich, mit dem Tod identifiziert werde. 130 Fest steht aber, »daß die Folter den Character indelebilis hat. Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann, wenn keine klinisch objektiven Spuren nachzuweisen sind.« 131 Die Welt des Gefolterten ist »[e]ine Welt, in der Marter, Zerstörung und Tod triumphieren […].« 132 In einer solchen Welt kann es keinen dem Zwischenmenschlichen oder dem gemeinsamen Menschsein entsprungenen Sinn geben, keine Empathie und keine Linderung des Leidens des Anderen: »In der Welt der Tortur […] besteht der Mensch nur dadurch, daß er den anderen vor sich zuschanden macht.« 133 Die Welt bleibt für den Gefolterten mit diesem Makel behaftet: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. […] Daß der 125 126 127 128 129 130 131 132 133
Ebd., S. 66. Ebd. Ebd., S. 74. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 77.
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Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne
Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.« 134
Die Vernichtung des Ich und seiner Lebens- und Sinnbezüge verdichtet sich für Améry in der Tortur. Die Heimatlosigkeit, die in der Lagerhaft zur physischen wie intellektuellen Nacktheit und Ausgesetztheit werden sollte, wurde durch die Nürnberger Gesetze eingeleitet. Améry empfand sich bereits 1935 als unfreiwillig Ausgestoßenen. Sein (deutscher) Name, sein Dialekt, seine Freunde und Erinnerungen wurden ihm entfremdet (das Kapitel trägt den Titel Wieviel Heimat braucht der Mensch?): 135 »Ich war kein Ich mehr und lebte nicht in einem Wir. Ich hatte keinen Paß und keine Vergangenheit und kein Geld und keine Geschichte.« 136 Die einstige Heimat wurde zum Feindesland 137 und der Klang der Muttersprache konfrontierte mit diesem Feind. 138 Die deutsche Sprache blieb ihm beladen mit »schwere[m] Wirklichkeitsgehalt«, 139 da sie die Sprache der Mörder war. Heimweh erfährt Améry als »Selbstzerstörung«, »stückweise[…] Demontierung« der Vergangenheit, »Selbstverachtung und Haß gegen das verlorene Ich.« 140 Verlust der Heimat durch Gewalt (und nicht durch eine freiwillige Entscheidung), Zerstörung der Identität in der Tortur und die Lagerhaft: Dies alles wirkt nach. Améry, der in der Welt nicht mehr heimisch werden konnte, konnte dies noch viel weniger in Deutschland. Die gewaltsam erzwungene Vernichtung der Heimat wird zum Konstituens der Ressentiments – wohl der zentrale Begriff von Jenseits von Schuld und Sühne. Améry trägt mit seinen Ressentiments die unverlierbare Zeit weiter und macht sie so gewissermaßen zugänglich für die folgenden Generationen. Er sieht die Ressentiments als »existentielle Dominante« 141 der Überlebenden von Konzentrations- und Vernichtungslagern. Deutschland war ihm verhasst, die »von Vergebens- und Versöhnungspathos vibrierenden Juden« fast so unangenehm, wie jene Exilierten, »die es gar nicht erwarten konnten […] nach Deutschland, 134 135 136 137 138 139 140 141
Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 89 f. Ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 100, S. 104 ff. Ebd., S. 105. Ebd., S. 102. Ebd., S. 121.
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West oder Ost, zu eilen, um dort als sogenannte Umerzieher die Praeceptores Germaniae zu spielen.« 142 Dass Deutschland bald nach dem Krieg wieder in die (westliche wie östliche) Staatengemeinschaft integriert wurde und sich Deutsche, denen er begegnete, geläutert gaben, ja so taten, als hätten sie mit der Zeit vor 1945 nichts zu tun gehabt, oder gar eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben und jovial betonten, das deutsche Volk habe dem jüdischen nichts nachzutragen, 143 verstärkte ihn in seinem Standpunkt: »Ich selber aber, zu meiner Seelennot, gehörte zur mißbilligten Minderheit derer, die da nachtrugen. Hartnäckig trug ich Deutschland seine zwölf Jahre Hitler nach, trug sie hinein in das industrielle Idyll des neuen Europas und die majestätischen Hallen des Abendlandes. Ich ›fiel auf‹, wie einst im Lager durch schlechte Haltung beim Appell, den versöhnungsschwärmenden Kampf- und Leidensgenossen von gestern nicht weniger als den soeben zur Duldsamkeit bekehrten Widersachern. Ich hegte meine Ressentiments. Und da ich sie nicht loswerden kann, noch mag, muß ich mit ihnen leben und bin gehalten, sie jenen zu erhellen, gegen die sie sich richten.« 144
Améry grenzt seine Ressentiments gegen die Definition Nietzsches ab, der das Ressentiment mit rachsüchtigen und unaufrichtigen Menschen verbindet. 145 Nicht unaufrichtig sei der Überlebende, der seine Ressentiments hegt, wenngleich »verbogen« – und zwar durch die Folter: »Das stellt mir aber auch die Aufgabe, unsere Verbogenheit neu zu definieren: und zwar als eine sowohl moralisch als auch geschichtlich der gesunden Geradheit gegenüber ranghöhere Form des Menschlichen.« 146 Eine solche ›pathologische‹ Verbogenheit schützt den Überlebenden davor, sich in bürgerlichen Moralvorstellungen einzurichten oder einem linearen, undialektischen Geschichtsbild aufzusitzen. Das Ressentiment nagele den Überlebenden »fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit. Absurd fordert es, das Irreversible solle umgekehrt, das Ereignis unereignet gemacht werden. Das Ressentiment blockiert den Ausgang in die eigentlich menschliche Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 125 f. 144 Ebd., S. 126. 145 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden; Band 5. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; Berlin: De Gruyter 1980, S. 245–412. Hier: S. 272. 146 Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 127. 142 143
146 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne
Dimension, die Zukunft.« 147 Das Ressentiment, das Offenbleiben der dem Opfer geschlagenen Wunde, macht einen offenen und hoffnungsvollen Blick in die Zukunft für den Überlebenden unmöglich. Eine Welt, die keine Heimat mehr sein kann, konfrontiert ihn immer wieder mit seiner zerbrochenen Identität. Dieser Konflikt, der kein psychologischer ist, der in etwa durch eine Therapie angegangen werden könnte (oder durch sonstige Formen der »Interiorisation« 148), damit aber lediglich das Opfer selbst beträfe, nicht aber dessen Peiniger (und schon gar nicht deren Nachkommen), wird im Ressentiment nach außen getragen und damit zum existentiellen geschichtlichen Konflikt, der aktualisiert werden müsse »durch Austragung des ungelösten Konflikts im Wirkungsfeld der geschichtlichen Praxis.« 149 Der Bruch zwischen den Opfern und ihren Peinigern solle also wieder thematisiert werden. Wie im Vorwort zu lesen, war der Frankfurter Auschwitz-Prozess einer der Gründe Amérys, sein Schweigen zu brechen. 150 Améry ging es jedoch nicht in erster Linie um juristische Fragen, auch wenn er die erzieherische Funktion der Gerichte anerkannte und für notwendig hielt, wie wir anhand Zur Psychologie des deutschen Volkes gesehen haben. Seine Ressentiments forderten mehr. Selbst wenn alle Angeklagten als Täter verurteilt worden wären, wären all jene, die ebenfalls als solche hätten angeklagt werden müssen, weiterhin nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Überdies wäre der Widerwille der Bevölkerung, sich mit den Taten auseinanderzusetzen, kaum gebrochen worden. Amérys Ressentiments hätten nur dann wirklich aufgelöst werden können, wenn alle Peiniger dazu verurteilt worden wären, dieselbe äußerste und existentielle Einsamkeit zu erleben, die ihm unter der Folter und in seinem weiteren Leben als Gefolterter auferlegt worden war. 151 Nur so hätten sie an der »moralischen Wahrheit« des Gefangenen teil. 152 Denn diese moralische Wahrheit habe zunächst nur er, der Gefangene und Verlassene, das Opfer. Die Taten selbst seien, ebenso wie der Täter, außerhalb jedweden moralischen Systems. Der Untäter sei nicht durch sein Gewissen an seine Handlungen gekettet, die ihm nur als »Objektivation seines Willens«, nicht aber als »moralisches Ereignis« erschienen sei147 148 149 150 151 152
Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Ebd. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 131. Ebd., S. 130.
147 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
en. 153 »Meine Ressentiments aber sind da, damit das Verbrechen moralische Realität werde für den Verbrecher, damit er hineingerissen sei in die Wahrheit seiner Untat.« 154 Der Verbrecher soll mit den Konsequenzen seiner Verbrechen konfrontiert werden: Neben der Erfahrung äußerster Einsamkeit ist dies der mit ihr einhergehende Wille zur Umkehr des Irreversiblen, eine Ver-rücktheit des Zeitgefühls, die auch die ›Verbogenheit‹ des Überlebenden kennzeichnet. Améry könne deshalb nicht vergeben, weil der »wohlfeil Vergebende« sich dem »sozialen und biologischen Zeitgefühl [unterwirft], das man auch das ›natürliche‹ nennt.« 155 Dieses aber habe »widermoralischen Charakter.« 156 Denn es nimmt, so lässt sich schließen, die moralische Wahrheit des Opfers nicht ernst, dessen Wunden die vergehende Zeit eben gerade nicht schließt. Die Moral müsse in einer »Revolte gegen das Wirkliche«, 157 das heißt gegen eine Gegenwart, die das Vergangene vergangen sein lässt, wiederhergestellt werden: »Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit – im besonderen, hier zur Rede stehenden Fall: durch Festnagelung des Untäters an seine Untat. Mit ihr mag er bei vollzogener moralischer Zeitumkehrung als Mitmensch dem Opfer zugesellt sein.« 158 Wie das Opfer an das »Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit« 159 genagelt ist, müsse nun auch derjenige, der diese Vergangenheit zerstört und damit einen offenen Weg des Opfers in die Zukunft verstellt hat, an seine Verbrechen genagelt werden. Nur dann könne der Gegenmensch im Mitmenschen aufgehoben sein und das Opfer wäre aus seiner Einsamkeit erlöst. 160 Die Wirklichkeit, gegen die es zu rebellieren gelte, spricht jedoch eine andere Sprache. Dennoch klingt hier so etwas wie Hoffnung auf Solidarität mit. Denn Améry spricht davon, dass nicht der Überlebende exklusiv die Aufhebung der Zeit fordere, sondern der sittliche Mensch überhaupt. Damit muss jeder gemeint sein, dem der widermoralische Charakter des natürlichen Zeitgefühls, in dem die Brüche nivelliert sind, bewusst ist. Auf der anderen Seite macht Améry keinen Hehl daraus, dass er mit der Vorstellung einer Kollek153 154 155 156 157 158 159 160
Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 133. Ebd. Ebd. Ebd., S. 133 f. Ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 131.
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Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne
tivschuld belastet sei, und damit im Gegensatz zu einer Welt stehe, die vergebe und vergesse. 161 Dieser Begriff sei »zu entmythisieren und zu entmystifizieren.« 162 Eine brauchbare Hypothese sei er dann, »wenn man nichts anderes darunter versteht als die objektiv manifest gewordene Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher – Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld – die Gesamtschuld eines Volkes.« 163 In dieser Gesamtschuld gingen sogar die »guten Kameraden« unter, 164 die ihn unterstützt haben, schon allein deshalb, weil sie ihn als Menschen behandelten, sich also nicht selbst zum Gegenmenschen machten. An wen richtet sich also jener versteckte Appell, sich als sittlicher Mensch an die Seite der Opfer zu stellen? In den beiden Vorworten ist vor allem von den jungen Deutschen die Rede, also von solchen, die aufgrund ihres Alters nicht unter die Gesamtschuld fallen. Von individueller und kollektiv aufsummierter Schuld seien diese in der Tat frei. Diese ihre Unschuld stehe ihnen jedoch nicht frei zur Verfügung. 165 Zumindest dann nicht, so können wir schlussfolgern, wenn sie sich zu den sittlichen Menschen zählen. Denn: »Solange nämlich das deutsche Volk einschließlich seiner jungen und jüngsten Jahrgänge sich nicht entschließt, ganz und gar geschichtsfrei zu leben – und kein Anzeichen deutet darauf hin, daß die am tiefsten geschichtsbewußte Nationalgemeinschaft der Welt plötzlich eine solche Haltung einnähme –, solange muß es die Verantwortung tragen für jene zwölf Jahre, die es ja nicht selber endigte.« 166
Damit ist sicher mehr gemeint als die Herausbildung eines ›geschichtlichen Bewusstseins‹. Begreifen sich die jungen Deutschen als Teil der sittlichen Menschen, so müssen sie sich die Forderung nach der Aufhebung der Zeit in der Revolte gegen das Wirkliche zu eigen Vgl. ebd., S. 138. Ebd., S. 135. 163 Ebd., S. 134 f. In Zur Psychologie des deutschen Volkes heißt es bereits, dass die Sünde der Masse des deutschen Volkes eine Unterlassungssünde gewesen sei (vgl. Améry [noch als Hanns Mayer]: Zur Psychologie des deutschen Volkes, S. 526). Da Améry die Kollektivschuld als Summe individuellen Schuldverhaltens begreift, ist hier, wie bei Jaspers, ein individualistischer Kollektivschuldbegriff naheliegend (MS: I.C2: Kollektivschuldthese. In: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N. (Hrsg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland, S. 45–49. Hier: S. 45). 164 Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 136. 165 Vgl. ebd., S. 140. 166 Ebd. 161 162
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Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
machen. Denn nur dann, wenn die Ressentiments des Überlebenden übernommen werden in die eigene Identität, also über die OpferExistenz hinaus getragen werden, können sie jene »geschichtliche Funktion« 167 ausüben, die Améry verlangt. Eine Zeitumkehr könnte im moralischen Sinne geschehen: »Würde es [das Ressentiment. Anm. D. M.] die Aufgabe erfüllen, die ich ihm stelle, dann könnte es historisch als ein Stadium moralischer Fortschrittsdynamik der Welt stehen für die ausgebliebene deutsche Revolution.« 168 Die Geschichte würde, ausgehend von den Stimmen der Opfer, ›umgestülpt‹, exteriorisiert und aktualisiert auf dem Wirkungsfeld der geschichtlichen Praxis. Das ins Werk gesetzte Analogon des Ressentiments auf Seiten der Deutschen wäre das »Selbstmißtrauen«, mit dem »das deutsche Volk empfindlich dafür bleiben [würde], daß es ein Stück seiner nationalen Geschichte nicht von der Zeit neutralisieren lassen darf, sondern es zu integrieren hat.« 169 Auschwitz bliebe »Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […]«. 170 Überwältiger und Überwältigte (beziehungsweise deren Nachfahren) würden sich begegnen auf dem geschichtlichen Feld, »am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte.« 171 Die Ressentiments des Überlebenden, sein Nachtragen, würden mitgetragen – und zwar von den Nachkommen der Täter. Ein solches tätiges Eingedenken, das sich nicht in einem Ritual erschöpft, kann nicht dazu dienen, die deutsche Bevölkerung im institutionalisierten Gedenken zu beruhigen. Es befreit, wie sich bereits bei Jaspers’ Grenzsituation gezeigt hat, die Existenz zu ihren Möglichkeiten und kann eine ethisch-politische Grundlage schaffen, auf der ein Gespräch zwischen Opfern und Nachfahren der Täter überhaupt erst möglich erscheint. Hiermit berührt auch Améry die Ebene geschichtlicher Schuld, ohne sie als solche zu benennen. Die Übernahme der Schuld als geschichtliche Schuld durch die Nachkommen der Tätergeneration ist hierbei vor allem eine Übernahme der Leidensgeschichten der Opfer in das eigene, zunächst individuelle, dann aber auch kollektive und schließlich kulturelle Gedächtnis. Dazu schreibt
167 168 169 170 171
Ebd., S. 141. Ebd. Ebd., S. 142. Ebd. Ebd., S. 143.
150 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Zur Struktur des Schuldphänomens
Enzo Traverso in einem Kapitel über Améry und Primo Levi in seiner Studie Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah: »Die Erinnerung an Auschwitz ist zunächst die der Überlebenden der Vernichtungslager, aber sie muß verallgemeinert werden, muß in das Gedächtnis der gesamten Gesellschaft eingehen. […] Die Erinnerung erlischt mit den Zeugen, die ihre Träger sind, das Gedächtnis kann aber in der gesellschaftlichen Tradition bewahrt werden.« 172
Der Verallgemeinerung müsste jedoch, damit eine Moralisierung der Geschichte tatsächlich wirksam werden kann, eine Veralltäglichung des Leidensgedächtnisses korrespondieren, da sonst stets das Abgleiten des Gedächtnisses in ein Vergessen zu befürchten wäre, das sich als Erinnern tarnt. Veralltäglichung bedeutet keinesfalls, die geteilte Erinnerung ihrer Besonderheit zu entkleiden und sie einzureihen in das geschichtliche Gesamtgeschehen. Sie bedeutet vielmehr, den Alltag von den Stimmen der Opfer durchdringen zu lassen und nicht lediglich zu besonderen, kalendarisch festgelegten Terminen ihrer zu gedenken. Die Moralisierung der Geschichte muss eine grundsätzliche sein, oder sie wäre nicht. Sie muss schließlich eine Korrektur der Lebenswelt bewirken, wobei Gedenkrituale durchaus eine Unterstützung bieten können, aber losgelöst vom Alltag, der von Geschichten durchdrungen ist, nicht ausreichen. Dies ist keinesfalls ein Appell an jedem Ort und zu jeder Zeit Auschwitz zu thematisieren, dies würde zu Banalisierung und Überforderung führen. Jedoch ist ein stabiles Bewusstsein davon zu entwickeln, dass wir, die wir in der deutschen Sprache sprechen und von der deutschen Kultur geprägt sind, immer wieder auf die Geschichten der Opfer zurückgeworfen werden, uns und unsere Umwelt nur unter Einbeziehung ihrer Geschichten verstehen können, die nicht zwangsläufig alle anderen Geschichten überdecken müssen, aber dennoch einen mehr oder minder großen Schatten auf sie werfen.
2.3. Zur Struktur des Schuldphänomens Nach dieser historischen Annäherung an den Schuldbegriff sind nun die Dimensionen zu beleuchten, in denen Schuld phänomenologisch (auch heute noch) wahrnehmbar wird. Wie bereits angedeutet und in 172
Traverso: Auschwitz denken, S. 265.
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Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
den Ausführungen zu Jaspers und Améry zum Teil bereits geschehen, verlassen wir nun die Ebene der konkreten Verschuldung oder der Täterschuld (und deren von Jaspers herausgestellten Subformen), die die Schuld per definitionem an eine klar abgrenzbare Generation binden. Wir wenden uns zunächst der anthropologischen Grundstruktur des Schuldphänomens sowie seiner transgenerationellen geschichtlichen Vermittlung zu. Es wird sich zeigen, dass Schuld als Schuld gegenüber Anderen die existentielle Verfasstheit des Daseins selbst ausmacht und daher in dieser grundsätzlichen Dimension universal ist. Dabei darf jedoch keinesfalls aus dem Blick geraten, dass Schuld, die auf konkreten historischen Verbrechen beruht, nicht als anthropologische Konstante abzutun ist. Sie ist keineswegs universal, sondern spezifisch: An eben jene Verbrechen gebunden sowie geschichtlich tradiert in einem partikularen kulturellen Zusammenhang, wie wir mit Jaspers und Améry bereits aufzeigen konnten. 173 Es ist jedoch unerlässlich, die anthropologische Grundstruktur der Schuld zu beleuchten, um später Möglichkeiten des produktiven Umgangs mit der spezifisch deutschen Schuld formulieren zu können, die auf einer soliden philosophischen Grundlage beruhen. 174 Hannah Arendts wiederholt getroffene Feststellung, dass die Monstrosität der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung jegliche juristische wie moralische Kategorie sprengt und die Ordnung der Menschheit als solcher verletzt hat (vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse, S. 17 ff.; sowie: Dies.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 2013, S. 395 ff., S. 399 f.), steht unserer Einschätzung nicht entgegen. Die Einzigartigkeit der Leidensgeschichten der Opfer wie der Verbrechen der Täter haben in einem geschichtlichen Sinne durchaus universale Folgen, die die gesamte Menschheit angehen, insofern das bis dato Unvorstellbare real geworden ist, das die Stellung internationaler politischer wie rechtlicher Institutionen und schließlich die Conditio humana selbst beschädigt hat (vgl. ebd., S. 397). Diese Feststellung muss die besondere Schuld und Verantwortung im Bewusstsein der Deutschen genau genommen noch vertiefen: Mit ihren Opfern haben sie Welt und Menschheit in den Abgrund gerissen und ex negativo die »sehr schwerwiegende Konsequenz« der »Idee der Menschheit« aufgezeigt, »daß wir [die an dieser Idee festhalten. Anm. D. M.] in dieser oder jener Weise die Verantwortung für alle von Menschen begangenen Verbrechen, daß die Völker für alle von Völkern begangenen Untaten die Verantwortung werden auf sich nehmen müssen.« (Arendt, Hannah: Organisierte Schuld. In: Dies.: Sechs Essays. Die verborgene Tradition. Kritische Gesamtausgabe Bd. 3. Hrsg. v. Barbara Hahn, Barbara Breysach, Christian Pischel. Göttingen: Wallstein 2019, S. 30–40. Hier: S. 39) Für Arendt ist diese Universalisierung der Verantwortung (nicht aber der Schuld!) die Voraussetzung für eine künftige nichtimperialistische und nicht-rassistische Politik (vgl. ebd.). 174 Möglichkeiten, deren Prämissen wir mit Améry bereits formuliert haben: Solidarität mit den Opfern als Mittragen des Nachtragens und Übernahme des Wunsches 173
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Zur Struktur des Schuldphänomens
Der Gang der Untersuchung ist daher sowohl eine Vertiefung als auch eine Spezifizierung des Schuldbegriffs. Stephan Grätzel unterscheidet in Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive 175 zwischen existentieller Schuld oder Daseinsschuld und geschichtlicher Schuld. Beide Dimensionen berühren einen Aspekt, der auch in der vorliegenden Arbeit immer wieder angesprochen wird: Den Zusammenhang von Schuld und Freiheit. Grätzel geht davon aus, dass eine kulturgeschichtliche Individualisierungstendenz im europäischen Denken, die Freiheit ausschließlich im einzelnen Subjekt verortet, dazu geführt habe, dass der Zusammenhang von Freiheit und Schuld undurchsichtig geworden sei und aufgrund der dem Subjekt sui generis zugesprochenen Autonomie Schuld meistens lediglich als juristische Kategorie thematisiert werde, damit aber ihren philosophischen Gehalt verliere. Schuld sei nur noch in Form formaler Kausalität zugelassen. 176 Die Konsequenzen einer solchen Reduktion sind einleuchtend: Während Freiheit auf der einen Seite verabsolutiert wird, erscheint Schuld auf der anderen Seite, zumindest hinsichtlich ihrer anthropologischen und metaethischen Aspekte, irrelevant. 177 Dies wiederum zieht Konsequenzen hinsichtlich der Ethik nach sich. Denn ohne eine Schuld zu benennen, die über das Subjekt und dessen Handlungen hinausgeht, muss der Mensch zwangsläufig geschichtslos erscheinen, womit er aber auch jeglicher Bindung an eine Gemeinschaft enthoben wird. Ein Mensch, dessen Freiheit auf diese Weise entleert wird, ist kaum in der Lage, Verantwortung für etwas oder jemanden zu übernehmen, das oder der über seine individuellen Bedürfnisse hinausgeht. Ethisches Handeln könnte dann, wenn überhaupt, nur egoistisch legitimiert werden. Ökologische, soziale und historische Fragen könnten kaum mehr verhandelt werden. Die Grundstruktur des Daseins als verschuldetes und nur aus dieser Verschuldung heraus zum Entwurf fähiges aber bleibt bestehen, auch
nach Zeitumkehrung als »Moralisierung der Geschichte« (vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 143). 175 Grätzel, Stephan: Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 176 Vgl. ebd., S. 10 f. 177 Womit auch die Begründung des Rechts auf wackeligen Füßen steht (vgl. ebd., S. 23 f.).
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dann, wenn sie negiert wird. 178 Eine Zurückweisung der existentiellen Dimension von Schuld führt lediglich zu einer individuellen Hypermoralisierung. Da der Mensch annimmt, unschuldig geboren zu sein, und Schuld für ihn nur aus einer verfehlten Wahl resultiert, die seiner autonomen Willenssetzung anzurechnen sei, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein persönliches Gewissen zu belasten und dem Zwang zu verfallen, jederzeit nicht nur das Gute, sondern das Beste tun zu müssen. Alltägliche Entscheidungen werden somit hinsichtlich ihrer moralischen Relevanz überinterpretiert, der Mensch verfällt einem moralischen Rigorismus, der die eigenen Ansichten zum allgemeingültigen Maßstab erhebt. 179 Die westliche Kultur, die mit ihrer zunehmenden Individualisierung und vorgeblichen Rationalisierung das Milieu eines solchen Verhaltens präformiert, ist »keine Kultur der Freiheit aus der Schuld mehr«, sondern will »eine Kultur der Freiheit ohne Schuld« 180 sein. Die Abwehr einer Vorstellung von Schuld, die über das Subjekt hinaus geht, führt gerade zu einer ständigen (moralischen) Überforderung desselben, zu einer Selbstanklage und einer Gängelung derjenigen, die sich nicht dieselben hypermoralischen Standards auferlegt haben. 181 Denn wer möchte schon gerne schuldig werden, wenn alle anderen es nicht sind? Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Milieu den Nährboden für religiösen und politischen Fanatismus bereitet. Individualisierte Hypermoralisierung findet ihre Entsprechung in einem zunehmenden Dogmatismus. Während die nur scheinbar rational Denkenden jedes persönliche Schuldigwerden vermeiden wollen, entgrenzt religiöser Fundamentalismus, ganz gleich ob christlicher oder islamischer Provenienz (um nur die beiden im westlichen Kontext relevantesten Ausprägungen zu nennen), Schuld undifferenziert auf ganze Gesellschaften. 182 Grätzel spricht dabei von einer diffusen oder »kafkaeske[n] Schuld« (i. e. ebd., S. 52). 179 Vgl. ebd., S. 11. 180 Ebd., S. 11. 181 »Die daraus [aus der Vorstellung einer grundsätzlichen Unschuld. Anm. D. M.] erwachsene Moral hat mit dem Problem zu kämpfen, immer die Moral der Guten zu sein und ihre moralisch guten Gründe, die sie gegen das Böse, die Verbrecher und Gestrauchelten richtet, in mühseliger rationalistischer Kleinarbeit aus der Rechtfertigung der eigenen Güte zu erstellen. Die Rechtfertigung jeglicher Eigenverschuldung erfordert einen hohen Aufwand an Legitimation des unschuldigen Selbst, die in den Grundsätzen der Weltanschauungen verankert sein muss.« (Ebd., S. 11). 182 Zum religiösen und politischen Fanatismus vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, i. e. S. 28, S. 79. 178
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Zur Struktur des Schuldphänomens
Zum Feind erklärt wird dann zumeist die als dekadent wahrgenommene liberale Gesellschaft samt ihrer verfassungsmäßigen demokratischen Grundsätze und Institutionen. ›Erlösung‹ könne nur derjenige erlangen, der sich von ihnen abwende, ja der sie bekämpfe. Dass dieser Fanatismus seinen säkularen Ausdruck finden kann, zeigen die aktuellen Entwicklungen innerhalb der sogenannten ›Neuen Rechten‹. 183
2.3.1. Die Betrachtung existentieller Schuld als Hinführung zur geschichtlichen Schuld Was aber sind jene Formen der Schuld, deren Missachtung so problematisch erscheint? Und wie zeigen sie sich? Zunächst zur existentiellen Schuld oder Daseinsschuld, deren Verweis auf Geschichte und Geschichten weniger deutlich zum Ausdruck kommt, deren Bewusstwerdung als Grundverfasstheit des menschlichen Daseins aber die Voraussetzung dafür ist, sich in Geschichte(n) verstrickt zu erfahren. Stephan Grätzel definiert sie folgendermaßen: »Existentielle Schuld ist keine aus persönlichen Vergehen hervorgehende Schuld, die ein Mensch allein oder mit Hilfe anderer als eigene Schuld bewältigt, verarbeitet oder sühnt. Sie ist die Schuld, die alle betrifft, die als lebendige Wesen Bewusstsein von diesem Leben haben, eine Schuld, die aus der bloßen Tatsache entsteht, zu existieren. Diese Schuld ist nicht aus eigener Kraft, auch nicht mit Hilfe der anderen zu Vgl. hierzu die in der Einleitung dieser Arbeit erwähnten Beispiele. Der Historiker Volker Weiß stellt fest, dass politischer Islam und autoritäre europäische Rechte ein gemeinsames Feindbild eine. Die Feindschaft gegenüber Muslimen sei dann auch eher instrumenteller Natur: »Sie [einflussreiche Protagonisten der sogenannten ›Neuen Rechten‹. Anm. D. M.] sind nicht unumwunden ›islamophob‹, wie es eine fatale Fehldeutung unterstellt. Ihr Hauptfeind ist nicht die Lehre Mohammeds, sondern die globale Moderne mit all ihren Konsequenzen. In manchem gleichen sie ihrem islamischen Feind sogar, denn die geistige Welt eines autoritären Ultrakonservatismus, wie ihn der politische Islam darstellt, entspricht ihrer eigenen viel mehr als die der ›dekadenten‹ westlichen Zivilisation. […] Mehr als der Religion gilt ihr Kampf der ›ethnischen Substanz‹ eines Landes, die in ihren Augen erst die Grundlage für die Kultur darstellt. Im Denken der Neuen Rechten haben die ›Trägervölker‹ mitsamt ihrer ›Kultur‹ in den ihnen zugehörigen ›Räumen‹ zu bleiben. Gäbe es keine Einwanderung, so wäre für sie eine Allianz mit der islamischen Welt gegen den westlichen Materialismus denkbar.« (Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017 (Schriftenreihe; 10094), S. 22).
183
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sühnen. Sie kann nur im ›symbolischen Tausch‹, in einer die Schranken der Generationen, aber auch der Spezies überschreitenden symbolischen Rückgabe gesühnt werden.« 184
Diese Belastung durch die existentielle Schuld ist, wie ihr Name schon sagt, ganz grundsätzlich. Das Dasein als solches ist schuldig und verschuldet, es lebt bereits auf rudimentärer biologischer Ebene von Voraussetzungen, die es nicht selbst geschaffen hat. Es isst und trinkt, es verwertet Erzeugnisse seiner natürlichen Umwelt, stellt Kleidung und andere (über)lebensnotwendige Artefakte her. Dies fordert den Menschen nicht erst dann heraus, wenn er ›über seine Verhältnisse lebt‹, also seine Umwelt, die Natur und andere Menschen, ausbeutet. Denn auch wenn dies nicht der Fall ist, bringt die bloße Existenz, wie bescheiden sie im Konkreten auch ausgestaltet wird, bereits den Tod anderer Lebewesen mit sich. Der Mensch erfährt sich, wie Grätzel an anderer Stelle Albert Schweitzer zitierend ausführt, als »Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« 185 In dieser Formel wird eine Transzendenzerfahrung ausgedrückt, die für Schweitzer mystische Züge trägt: Der Mensch lebt schon im ganz Alltäglichen über sich hinaus, ek-sistierend ist er eingebunden in ein Sein, das ihn mit allem Lebendigen und auch mit dem Unbelebten 186 verbindet, ein alles durchwaltender »geheimnisvolle[r] unendliche[r] Wille[…].« 187 Auch der Tausch, zentral für den Umgang mit existentieller Schuld, spielt hier eine Rolle. Wenn der Mensch von anderem Leben nimmt, um selbst leben zu können, ist er verpflichtet, diesem durch ihn ausgelöschten Leben etwas zurückzugeben. Der Mensch, der sich im Sinne Schweitzers mit einem transzendenten Sein verbunden weiß, ist durch dieses Wissen zum Erhalt des Lebens, ergo zur Rückgabe des Genommenen, verpflichtet. 188 Dieses »Wissen um die Ursprünge« begleitet als »Mitwissen oder conscientia (Bewusstsein)« 189 alles weitere Wissen. Das Wissen hat somit eine ethische Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 31. Grätzel, Stephan: Die Vollendung des Denkens. Vorlesungen zur Philosophie und Mystik. Hrsg. v. Joachim Heil; Astrid Schollenberger; Bastian Zimmermann. London: Turnshare 2005 (Philosophische Reihe. Hrsg. v. Joachim Heil), S. 18. 186 Von dem der Mensch, vor allem der ›moderne‹ Mensch des Industriezeitalters, ebenso lebt wie von Lebendigem. 187 Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik. München: Beck 1990, S. 90. Zitiert nach Grätzel: Die Vollendung des Denkens, S. 18. 188 Vgl. ebd., S. 17. 189 Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 32. 184 185
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Qualität, die auch jedem Sachwissen zukommt. 190 Es gibt deshalb genau genommen kein ethisch neutrales, bloß objektives Wissen. Jedes Wissen und mit ihm jeder Gebrauch von etwas und jede Benennung, die dem Gebrauch vorausgeht, haben diese ethische Tiefendimension, die freilich verstellt werden kann, und häufig auch zum Beispiel durch einen angeblich wissenschaftlichen, vermeintlich objektiven Sprachgebrauch verstellt wird, womit sie »aus der Mitwisserschaft entbunden und verdrängt« 191 wird, sodass sich ein Schuldkomplex überhaupt erst entwickeln kann. Die Natur wird dann zum bloßen gewissenlos ausbeutbaren Gebrauchsgegenstand, Tiere und sogar Menschen werden verdinglicht. Das Mitwissen ist deshalb, wenn es nicht verdrängt wird, die erste Phase einer Bewusstwerdung der Schuldverstrickung durch die Abhängigkeit von anderem Leben, dessen Tod im ›symbolischen Tausch‹ gesühnt werden muss. Das Mitwissen als Wissen um das Leiden und den Tod anderen Lebens 192 schon im alltäglichen Lebensvollzug macht die oben verwendete Formulierung »das Dasein als solches ist schuldig und verschuldet« notwendig. Heidegger schreibt hingegen in Sein und Zeit: »Das Dasein ist als solches schuldig […].« 193 Seine explizite Abgrenzung des existentialen Schuldigseins von einer Verschuldung 194 ist allerdings irreführend hinsichtlich der Klärung des Phänomens der Daseinsschuld, zumindest dann, wenn Verschuldung oder Verschuldet-sein nicht als individuelle Verfehlung missverstanden wird. Heidegger aber sitzt genau diesem Missverständnis auf. 195 Es resultiert aus seiner grundsätzlichen Annahme, dass das Dasein ein Seiendes sei, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst gehe. 196 Das Dasein ist für Heidegger also in erster Linie auf sich selbst und sein ihm eigenes Verstehen als Dasein in seinem Sein bezogen. Damit verhalte es sich »zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit.« 197 Sein Schuldigsein bestehe Vgl. Grätzel: Die Vollendung des Denkens, S. 5 f. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 32. 192 Für Schweitzer »die Motive des Miterlebens und Miterleidens als Basis eines sittlichen Handelns und […] eines kreativen Handelns [d. h. eines Leben erhaltenden und fördernden Handelns. Anm. D. M.].« (Grätzel: Die Vollendung des Denkens, S. 17). 193 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 285. 194 Vgl. ebd., S. 284. 195 Vgl. ebd., S. 287. 196 Vgl. ebd., S. 12. 197 Ebd., S. 42. 190 191
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dann gerade im Verfehlen dieser Möglichkeit, in der Uneigentlichkeit und im Verfallen an das Man. 198 Dieses Verfallensein sei unvermeidlich und deshalb sei das Dasein immer schuldig – und zwar an sich selbst. 199 Der Anruf des Gewissens, der das Dasein aus der Verfallenheit heraus ruft hin zum Entwurf seiner Möglichkeiten, komme daher auch aus dem Dasein selbst und betreffe nur dieses Dasein selbst, das gerufen werde aus seiner nicht selbst gewählten Geworfenheit heraus, um sich selbst im Entwurf zu gründen. Diese endlose Selbstbezüglichkeit drückt Heidegger sehr deutlich aus: »Das rechte Hören des Anrufs kommt dann gleich einem Sichverstehen in seinem eigensten Seinkönnen, das heißt dem Sichentwerfen auf das eigenste eigentliche Schuldigwerdenkönnen. Das verstehende Sichvorrufenlassen auf diese Möglichkeit schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen. Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich selbst gewählt.« 200
Man sieht: Das Schuldigwerden – an sich selbst – ist dem Entwurf schon mitgegeben. Aus dem Schuldigsein heraus entdecke das Dasein die Möglichkeit des freien Entwurfs durch das Hören auf den befreienden Ruf des Gewissens, der aber ein Selbstanruf und -aufruf ist. Das ist auch der Grund, weshalb für Martin Buber das Dasein Heideggers ein »monologisches Dasein« 201 ist, und dessen Selbst »ein geschlossenes System.« 202 Bei Heidegger ist keine Rede davon, dass das Dasein von einem Anderen außer ihm selbst gerufen werden könnte. Deshalb bleibt Heidegger eine existentielle Verschuldung gegenüber Anderen verschlossen, man kann sagen, dass seine Fundamentalontologie eine Verdrängung der Mitwisserschaft der conscientia ist. Auch Grätzel weist auf dieses Manko in der Gewissenskonzeption Heideggers hin und erweitert sie um die notwendige dialogische Komponente. Er schreibt, »dass das Dasein vom Gewissen zwar in sein Eigenstes gerufen wird, dabei aber sein Eigenstes als verliehenes und verdanktes Sein und damit – im Unterschied zu Heidegger – gerade als Uneigentliches erVgl. ebd., S. 126 ff. Vgl. hierzu Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 31. 200 Heidegger: Sein und Zeit, S. 287. 201 Buber, Martin: Das Problem des Menschen. Heidelberg: Lambert Schneider 1948, S. 102. 202 Ebd., S. 108. 198 199
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Zur Struktur des Schuldphänomens
kennt. In dem Bewusstsein des Gewissens weiß das Dasein sich also gerade nicht als selbständiges und autonomes Ich, sondern sieht sich verpflichtet.« 203
Das Uneigentliche ist damit keine Verfallsform des Daseins mehr, sondern das Bewusstsein davon, auch in seinem Eigensten in einer Beziehung zu einem Anderen zu stehen, der nicht auf eine bloße Spiegelung des Selbst in sich selbst zurückgeführt werden kann, sondern dem Dasein immer wieder entgleitet. Wie wir später mit Levinas sehen werden, ist die Tatsache, dass das Bewusstsein den Anderen als Uneigentliches nicht ganz zu umfassen vermag, die phänomenologische Bedingung der Verpflichtung. Ich bin dem Anderen verpflichtet, weil er nie ganz in mir aufgehen kann. Würde er dies, wäre die Verpflichtung gegenüber dem Anderen wieder nur der Verpflichtung mir selbst gegenüber abkünftig, wie es bei Heidegger der Fall ist. 204 Das Dasein erkennt im Ruf sein Sein als das Uneigentliche – also als das, was ihm nicht eigentlich und nicht eigen ist: als verschuldetes, verdanktes und damit am Anderen schuldiges Sein. Das Sein als das Uneigentliche das Daseins ist anders als das selbstgenügsam vorgestellte Sein, es ist ein von einem Anderen gegebenes und eröffnetes Sein. Beziehungsweise es wird, wie Levinas ausführt, 205 von der Erscheinung des Anderen (die man als non-verbalen Ruf verstehen Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 63. An anderer Stelle schreibt Grätzel: »Das Gewissen ist eine Instanz, die dem Ich von außen zuruft, auch wenn dieser Zuruf innerlich stattfindet. Der Grund liegt in der Art der Sprachhandlung. Der Zuruf hat nämlich den Charakter eines Imperativs oder Vokativs. Er nimmt damit eine objektive Instanz ein, die mit dem Ich, auch wenn es innerhalb des Selbst spricht, in einem dialogischen, interaktiven und dramatischen Zusammenhang steht.« (Grätzel: Versöhnung, S. 202 f.). 204 So ist bei Heidegger Sorge im Wesentlichen Selbstsorge, in der es dem Dasein letzten Endes um sein eigenes Seinkönnen und Seinverstehen geht. Sorge sei zwar »nicht primär und ausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm selbst.« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 193) Sie begegne ebenso als Besorgen der zuhandenen Dinge und Fürsorge gegenüber dem Mitdasein Anderer (vgl. ebd.). Dennoch sind auch diese Modi der Sorge lediglich Mittel zum Zweck des eigenen Daseinsentwurfs. Der Sinn der Sorge erfülle sich dementsprechend im Bewusstsein des Daseins als Sein zum (eigenen) Tode (vgl. ebd., S. 329). 205 Die Gabe ist bei Levinas eng an das Geschehen der Sprache gebunden, die damit einen ökonomischen Sinn bekommt, denn beim Benannten handelt es sich um ein Gut oder ein Lebensmittel, das dem Besitz des Subjekts durch die Sprache entrissen wird: »[D]ie Sprache, die die Sache dem Anderen bezeichnet, ist eine ursprüngliche Enteignung, eine erste Gabe. Die Allgemeinheit des Wortes stiftet eine gemeinsame Welt. Das ethische Geschehen, das an der Basis der Verallgemeinerung ist, ist die tiefe 203
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kann) auf ihn hin eröffnet, insofern das Dasein dem Anderen etwas gibt und zurück gibt. 206 Das Gewissen ist das Bewusstsein der Notwendigkeit dieser Rückgabe, es »ist die Erinnerung an die Wiederherstellung einer Ordnung, die durch menschliches Handeln gestört wurde. Dieses Handeln muss nicht unbedingt von böser Absicht motiviert sein, es kann auch zur Selbsterhaltung notwendiges Handeln sein. Für das Bewusstwerden von Schuld reicht schon die Störung der Ordnung durch einseitiges Nehmen ohne Geben.« 207
Das Gewissen ruft diesen ins Ungleichgewicht geratenen Grund des Seins des Daseins auf, der der Tod anderen Lebens ist, womit es zugleich auf die Geschichtlichkeit des Daseins hinweist, auf sein Zurückreichen vor die eigene Geburt (existentielle Schuld ist damit zwar noch keine geschichtliche Schuld im engeren Sinne, erhält aber durchaus eine geschichtliche Dimension). 208 Heideggers Daseinsanalyse bleibt also auch hier unvollständig, denn er schreibt, dass »die Geschichte ihr wesentliches Gewicht weder im Vergangenen, noch im Heute und seinem ›Zusammenhang‹ mit dem Vergangenen« habe, »sondern im eigentlichen Geschehen der Existenz, das aus der Zukunft des Daseins entspringt.« 209 Die Zukunft ist für Heidegger im Wesentlichen durch den Vorlauf zum eigenen (!) Tod bestimmt, der wiederum erst die Frage nach dem Sinn von Sein in der Sorge erschließt sowie das Schuldigsein des Daseins gegenüber sich selbst im Verfehlen seiner Möglichkeiten aufzeigt. 210 Wird dennoch ein übersubjektiver Zusammenhang angesprochen (in etwa in Heideggers eigenwilliger wie problematischer Auslegung von Geschichtlichkeit), 211 so ist dieser durch das Fehlen von Intersubjektivität (Begegnungen mit Anderen, die jedem präformierenden und determinierenden Formalismus widerstreben) gekennzeichnet. Das Bewusstsein Absicht der Sprache.« (Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg: Alber 2008 (Alber Studienausgabe), S. 252). 206 Wobei angemerkt werden muss, dass die Gabe an den Anderen bei Levinas ein ursprüngliches Geschehen ist (vgl. ebd.). Der Gedanke, dass man dem Anderen nur deshalb gibt, weil man zuvor etwas von ihm empfangen hat, widerspricht sogar Levinas’ Ethik. 207 Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 68. 208 Vgl. ebd. 209 Heidegger: Sein und Zeit, S. 386. 210 Vgl. ebd., S. 323 ff. (§ 65). 211 Vgl. ebd., S. 382 ff. (§ 74).
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einer gemeinsamen Vergangenheit fragt nicht nach existentieller oder geschichtlicher Schuld in unserem Sinne, sondern finde sich gegenwärtig als Schicksalsgemeinschaft, in die das sich verstehende und damit er- und entschlossene Dasein sich einzugliedern habe: »Schicksalhaft in der sich überliefernden Entschlossenheit existierend, ist das Dasein als In-der-Welt-sein für das ›Entgegenkommen‹ der ›glücklichen‹ Umstände und die Grausamkeit der Zufälle erschlossen. Durch das Zusammenstoßen von Umständen und Begebenheiten entsteht nicht erst das Schicksal. Auch der Unentschlossene wird von ihnen und mehr noch als der, der gewählt hat, umgetrieben und kann gleichwohl kein Schicksal ›haben‹.« 212
Mithin gebe es kein Entrinnen aus der Schicksalhaftigkeit geschichtlicher Überlieferung. Das Dasein habe sich ihr, sie ›wählend‹, einzufügen. Dass damit keine kritische Reflexion der Überlieferung gemeint ist, sollte inzwischen klar sein. Denn: Das Geschehen des Daseins als »In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen« ist »bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.« 213 Weiter heißt es: »In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ›Generation‹ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.« 214 Das einzelne Dasein sei einer Gewesenheit ausgeliefert, die es schicksalhaft mit seiner »Gemeinschaft«, seinem »Volk« zusammenschweiße, wodurch die Schicksale »in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten […] im vorhinein schon geleitet« 215 seien. Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade dieser Paragraph 74 von Sein und Zeit als Beleg für Heideggers späteres Engagement für den Nationalsozialismus gewertet wird. 216 Das Seiende, das »frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann«, das heißt seine von Heidegger im Grunde völkisch gedachte Tradition übernehme, könne »augenblicklich sein für ›seine Zeit‹ [kursive Hervorhebungen im Original. Anm. D. M.].« 217 Das »frei für seinen Tod« ist hier durchaus wörtlich zu verstehen. Wenn »im Kampf […] die Macht Ebd., S. 384. Ebd., S. 384. 214 Ebd., S. 384 f. 215 Ebd., S. 384. 216 Vgl. Fritsche, Johannes: Historical Destiny and National Socialism in Heidegger’s Being and Time. Berkeley: University of California Press 1999, S. 1–28. 217 Heidegger: Sein und Zeit, S. 385. 212 213
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des Geschickes erst frei« 218 werde, muss sich das Dasein unter Einsatz seines Lebens diesem Kampf (der ein Kampf der Gemeinschaft und des Volkes ist) stellen. Tut es dies, wähle sich das Dasein »seinen Helden« und wiederhole darin eine »gewesene[…] Existenzmöglichkeit«, 219 die als gewählter Anschluss an Tradition und »Geschick« des Volkes »für die kämpfende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren frei macht.« 220 Es stellt sich die Frage, ob der Anschluss an das Vorbild eines Helden und die Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit nicht auch zu Grausamkeiten führen können, die dann mit der Treue zum Wiederholbaren gerechtfertigt werden. Zu Ernst Jüngers ›Heroischem Realismus‹ scheint es dann von dort aus nicht mehr weit zu sein. 221 Die ›Offenheit‹ des Daseins für die Zukunft ist bei Heidegger also nur insofern gegeben, als dass es sich in seinem Vorlaufen zum Tode im Ergreifen des Geschicks zum Teil der Überlieferung macht – und zwar ohne eine Schuld aufzugreifen, die nicht die Schuld an sich selbst wäre. 222 Dies ist das – fragwürdige und hochproblematische – Gegenteil dessen, was Grätzel schreibt. Denn hier wird nicht an ein Bewusstsein Ebd., S. 384. Ebd., S. 385. 220 Ebd. 221 Auch Jünger geht es, wie er in Der Arbeiter (1932) ausführt, darum, dass der Deutsche (!) sich von einer Herrschaft (man könnte auch Uneigentlichkeit sagen) befreie (und zwar von der Herrschaft des ›Liberalismus‹ und der Demokratie), um zu einer neuen ›Gestalt‹ zu gelangen, die nichtsdestoweniger an eine alte, von liberalen und demokratischen Ideen ›unverstellte‹ Tradition anknüpfe (vgl. Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart: Klett-Cotta 1982 (Cotta’s Bibliothek der Moderne; Bd. 1), S. 35 ff.). Das Bewusstsein eines Menschenschlages werde erweckt, »der sich mit Lust in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ordnung erblickt. Aus dieser Haltung, die weder dem Idealismus noch dem Materialismus vollziehbar ist, sondern die als ein Heroischer Realismus angesprochen werden muß, ergibt sich jenes äußerste Maß an Angriffskraft, dessen wir bedürftig sind. Ihre Träger sind vom Schlage jener Freiwilligen, die den großen Krieg mit Jubel begrüßten und die alles begrüßen, was ihm folgte und folgen wird.« (Ebd., S. 37) Die Parallelen sind augenfällig: Was bei Heidegger Wahl des Helden, kämpfende Nachfolge und die Treue zum Wiederholbaren ist, ist bei Jünger der Anschluss an die Freiwilligen, um den ›großen Krieg‹ erfüllt von Jubelschreien weiterzuführen. Fritsche bemerkt, dass Heidegger Jüngers Schrift studiert habe (vgl. Fritsche: Historical Destiny and National Socialism in Heidegger’s Being and Time, S. 226) und erkennt Parallelen zu Jüngers Weltkriegstagebuch In Stahlgewittern (vgl. ebd., S. 222 ff.). 222 An diesem Befund ändert auch Heideggers Versuch, die Vergangenheit in einem Widerruf aufzuheben (vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 385 f.), nichts. 218 219
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von Geschichtlichkeit appelliert, das gleichsam ein Erinnern der conscientia ist als ein Mitwissen um die gestörte Ordnung und die Schuld durch einseitiges Nehmen ohne Geben, aus der heraus sich dann eine Verpflichtung auch für die Zukunft ergibt. Schuldig ist das Dasein Heideggers gegenüber seiner Vergangenheit, wie ausgeführt, nur, weil es die Existenzmöglichkeit zum Kampf nicht wahrgenommen hat und ins Uneigentliche verfallen ist. Das Eigentliche aber wird bei Heidegger zum Heldendasein. Es ließe sich ausführen, dass dieses Heldendasein im Kampf oder gar im Krieg (wie von Jünger ganz unverhohlen herbei fantasiert) das Nehmen ohne Geben – radikalisiert als unbedachten und gefeierten Tod anderen menschlichen Lebens! – perpetuiert, um seine Eigentlichkeit und damit sein Eigenstes gegenüber dem Fremden zu erlangen und zu erhalten. Jedes Zurückgeben, jeder tatsächliche oder symbolische Tausch, jedes Bewusstsein von Schuld müsste als Angriff auf das herrschende Eigene und als Verrat am »Geschick« aufgefasst werden. Die Daseinsschuld als Schuld am Anderen, die für das Gewissen für Heidegger ohnehin keine Rolle spielt, wird nicht nur nicht beachtet, sondern im heroischen Streben exzessiv entgrenzt, ohne irgendwie problematisiert zu werden. 223 Der nicht mehr nur individuelle, sondern in Paragraph 74 kollektive Paul Ludwig Landsberg schreibt treffend, dass Heideggers Existenzphilosophie durch die Angst vor dem Nichts bewegt werde und die »Bewegung der Liebe zum Sein« verkenne, weshalb sie »niemals ein Heroismus zum höheren Leben, stets nur ein Heroismus zum Tode, ein Heroismus der Zerstörung sein [wird.]« (Landsberg: Die Erfahrung des Todes, S. 101 (Anm. 26)). Liebe ist zu verstehen als das principium individuationis des menschlichen Daseins in Landsbergs christlich-personalistischem Ansatz, nämlich als existentielle »Teilhabe« an einem gemeinsamen »Wir« mit dem Nächsten (ebd., S. 38), in welchem sich die Einzigartigkeit des Menschen – man kann sagen als Für-den-Nächsten-Besonderer – konstituiert (vgl. ebenso ebd., S. 34). Das »Sich-selber-Setzen und Bejahen« der menschlichen Person verlangt nach der Bejahung ihrer »zu verwirklichenden Einzigartigkeit« (ebd., S. 50), womit die Selbstaffirmation im Voraus an das gemeinsame Wir mit dem Nächsten, in dem das Selbst erst zu seiner wirksamen Existenz kommt, verwiesen ist. Dies schließe »das Bestreben […], die Grenzen der Zeitlichkeit zu überschreiten [ein].« (Ebd.) Landsberg meint damit, dass sich die Person im Glauben an und in Hoffnung auf ein persönliches Fortleben über den Tod hinaus entwirft (vgl. ebd.). Dies schließt den Gedanken ein, das gemeinsame Wir, das womöglich durch den Tod des Nächsten im Diesseits unterbrochen wurde, wiederzuerlangen. Landsberg orientiert sich daher nicht, wie Heidegger, an einem Sein-zum-Tode, sondern an einem Sein-über-den-Tod-hinaus. Da das Dasein für Heidegger mit dem Tod endet, der lediglich als der eigene Tod eine Rolle spielt, kann es, wie aufgezeigt, die Angst vor dem Nichts nur im Anschluss an ein überpersönliches Schicksal überwinden, wohingegen Landsberg den persönlich-zwischenmenschlichen Entwurf eines ständigen am und mit dem Anderen Werden setzt.
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Selbstbezug auf das Eigene durch das einzelne Dasein muss mitbedacht werden, wenn Heidegger gegen Ende des Paragraphen schreibt: »Das schicksalhafte Geschick kann in der Wiederholung ausdrücklich erschlossen werden hinsichtlich seiner Verhaftung an das überkommene Erbe. Die Wiederholung macht dem Dasein seine eigene Geschichte erst offenbar.« 224 Es geht hier nicht um eine Offenbarung des Grundes des Schuldigseins am Anderen aus der Geschichte heraus, sondern um eine Wiederaneignung des ›eigentlich Eigenen‹ in einer Tradition, die angesichts der vorherigen Ausführungen als statisch (womöglich sogar völkisch) angenommen werden muss. Es handelt sich also um kein In-Geschichten-sein im Sinne Schapps, in dem es ein Zusammenwirken der ›eigenen‹ und der ›fremden‹ Geschichte(n) gibt. 225 Die Geschichte, die dem Dasein bei Heidegger offenbar werden soll, ist auf das Eigene in dieser Geschichte beschränkt und damit eine Herrschaftsgeschichte des in seinem Dasein um sein Sein (gegen den Anderen) kämpfenden Subjekts. Diese Auffassung von Geschichte schließt den Anderen nicht bloß aus, sie vernichtet ihn in letzter Konsequenz dort, wo er nicht als Mitdasein im Mitsein der schicksalhaften Kollektivgeschichte, die es wiederaufzunehmen gelte, erkannt wird. 226 In dieser Arbeit aber soll gezeigt werden, dass sich das eigene Dasein erst vermittelt über die Geschichte(n) der Anderen erschließen lässt, dass das Dasein sich selbst erst von diesen Geschichten aus versteht – und zwar jenseits einer falsch verstandenen Tradition. Die Behauptung des Daseins in einem ›heroischen Kampf‹ ist im Grunde eine Abwehrreaktion gegen die Abhängigkeit von den Geschichten Heidegger: Sein und Zeit, S. 386. Auch wenn die ›fremden‹ Geschichten bei Schapp an die eigene angepasst werden (Kap. 1.2.2.). 226 Jean-Paul Sartre kritisiert in Das Sein und das Nichts Heideggers ›Mitsein‹ als apriorisch und damit auf die Erfahrungs- und Verstehensweisen des einzelnen Daseins beschränkt (vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 448 ff.). Das heißt als ›Mitsein‹ im Sinne Heideggers könne nur gelten, was ohnehin schon so ist und so auftaucht wie dieses Dasein selbst. Das ›Mitsein‹ konstituiert sich dementsprechend ausschließlich als Angleichung derjenigen Elemente des Anderen, die ihn erst als Anderen erscheinen lassen würden. Ein solches ›Mitsein‹, das bloß eine Struktur des eigenen Seins wäre, isoliere, so Sartre, »ebenso sicher wie die Argumente des Solipsismus.« (Ebd., S. 451) Heidegger setzt mit seinem ›Mitsein‹ also nicht die Begegnung mit dem Anderen als a priori (wie etwa Buber dies mit der Sphäre des Zwischen tut), sondern dessen bereits Eingeschlossen-sein in die Struktur des Daseins selbst. Auf die kollektive Ebene bezogen kann dies, wie gezeigt, drastische Konsequenzen haben. 224 225
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Anderer, eine Abwehr dieser Schuld- und Leidensgeschichten. Dementsprechend ist es auch nicht der eigene Tod, der die Grundsuche (bei Heidegger die ontologische Selbstauslegung des Daseins als Sein zum Tode), die eine Suche in den Geschichten und nach den Geschichten ist, motiviert, sondern das Bewusstsein des Todes der Anderen, das in unser Leben tritt und diesen Grund schon berührt: »Die Einseitigkeit des Nehmen-müssens ohne etwas dagegen geben zu können zeigt sich primär in der zeitlichen Versetzung der Generationen. Nirgends wird das Unvermögen des notwendigen Zurückgebens stärker deutlich als in der durch den Tod abgebrochenen Wechselseitigkeit. Das Gewissen kann hier nicht mehr direkt beruhigt und befriedet werden, es setzt sich deshalb fort in der geschichtlichen Besinnung des Andenkens und Eingedenkens. Diese Besinnung fordert das Andenken an die Herkunft und Hinkunft und ist von daher nicht nur Denken des Ursprungs, sondern zugleich das dem Ursprung Verschuldet- und Verpflichtetsein.« 227
Hier zeigt sich ein weiteres Mal die reziproke Verschränkung von existentieller und geschichtlicher Schulddimension. Geschichtliche Schuld ist an dieser Stelle jedoch zunächst ganz allgemein. Wir werden den Begriff unten konkretisieren. Zunächst aber reicht es, wenn wir die existentielle Dimension als Bewusstsein der grundsätzlichen Verschuldung (conscientia) um das dort bereits implizite Bewusstsein der Generationalität dieser Verschuldung erweitern. Man kann sagen, dass das Bewusstsein für die geschichtliche Dimension innerhalb der existentiellen Schuld das Resultat einer tieferen Reflexion des Schuldphänomens ist, in dem die kulturelle Komponente der Verschuldung und Verpflichtung gegenüber dem Ursprung deutlicher hervortritt. Mit Bezug auf Grätzel und Schweitzer haben wir von Beginn an gesehen, dass sich das Schuldverhältnis nicht lediglich auf biologische Abläufe bezieht. Die Auseinandersetzung mit Heideggers Fundamentalontologie hat uns bereits die realen ethischen und historischen Konsequenzen vor Augen geführt, die eine Reduktion des Schuldphänomens mit sich bringen kann. Ex negativo haben wir damit bereits eine Vorahnung konkreter geschichtlicher Schuld bekommen. Heideggers Daseinsauslegung als Selbstsorge ist bereits das Resultat einer Verdrängung der grundsätzlichen Schuld am Anderen. Existentielle und geschichtliche Dimension sind also in dieser Allgemeinheit nicht voneinander zu trennen. Beide bedeuten den Grund 227
Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 68.
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des Selbst, den es nicht in seinem Da-sein, das heißt in seiner gegenwärtigen Verfasstheit als Ich oder Subjekt, finden kann. Beide bedeuten eine Transzendenz. 228
2.3.2. Von der existentiellen zur geschichtlichen Schuld Existentielle und geschichtliche Schuld sind anthropologische Konstanten. Jedes Dasein ist verschuldet und damit verdankt und muss sich mit dieser Verschuldung auseinandersetzen. Als Schuld gegenüber den Ahnen ist geschichtliche Schuld auch existentiell. Verschärft sich geschichtliche Schuld als Schuld gegenüber Ermordeten, ist sie nicht mehr existentiell im engeren Sinn, insofern die Ursache, die der Schuld gegenüber den Ermordeten zugrunde liegt, nicht in der existentiellen Verfasstheit des Daseins selbst zu finden ist. Vielmehr ist die geschichtliche Schuld als Schuld gegenüber den Ermordeten auf konkrete Taten, die als solche benannt werden können und müssen, zurückzuführen. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass nicht jede Schuld gegenüber Ermordeten in dieser Weise erhellt werden kann, wenn wir davon ausgehen, dass die Geschichte auf dem Rücken der Opfer der Geschichte verläuft – und dies nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Wenn also keine spezifische Opfergruppe fokussiert wird, verdichten sich die blinden Flecken der Schuldgeschichte. Auch dies muss schließlich im Bewusstsein als conscientia reflektiert werden. Geschichtliche Schuld wird überliefert in kollektiven Narrativen (gesellschaftlich, politisch, familiär) und zwar auch dann, wenn diese das Schuldverhältnis selbst nicht thematisieren. Auch in der NichtThematisierung bleiben diese Narrative auf ihre Gegen-Geschichten bezogen. Sie müssen daher kritisch hinterfragt werden. Es kommt darauf an, welcher Erinnerung welche Relevanz zugesprochen wird, welche Erinnerung als eine gültige betrachtet wird. Gegen-Geschichten können oft schmerzhaft auf die eigenen Narrative wirken. Nichtsdestoweniger müssen sie anerkannt werden, auch deshalb, weil sie zum Verständnis des Eigenen beitragen. Wir fragen zunächst: Deren Ausschluss aus der Totalität des Seins Levinas, ebenfalls verbunden mit einer Kritik an Heideggers Fundamentalontologie, bereits im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit problematisiert (vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 19– 34).
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Wessen Erinnerung zählt? Daran anschließend werden wir das Konzept des Eingedenkens, das solche Erinnerungen zugänglich machen kann, betrachten, um schließlich das Paradigma geschichtlicher Schuld darzustellen und es auf spezifisch deutsche Narrative zu übertragen. 2.3.2.1. Zur Bedeutung von Gegen-Erzählungen: Wessen Erinnerung zählt? Die Besinnung als Eingedenken der Verschuldung und Verpflichtung gegenüber den Ahnen zeigt auf, dass die Rückgabe nicht mehr geschehen kann, weil diejenigen, denen das Dasein etwas schuldet, bereits tot sind. Die vorangegangenen Generationen haben – im Guten wie im Schlechten – die Grundlagen für das Leben der Heutigen geschaffen. Dies betrifft alle Ebenen: Die materielle ebenso wie die erzieherische, die politische, die kulturelle Ebene im Allgemeinen. So haben mich meine Eltern in mein Leben gebracht, mich aufgezogen, mir bestimmte Werte vermittelt. Ich verdanke ihnen meine Existenz und bin ihnen verpflichtet, etwas zurückzugeben und sie beispielsweise im Alter zu betreuen. Diese Rückgabe wird von ihrem Tod abgebrochen und kann nicht abgeschlossen werden. Ähnliches gilt für den sogenannten Generationenvertrag: Die heute Arbeitenden finanzieren (idealiter) das Leben derjenigen, die nicht mehr arbeiten und Geld verdienen (können), aber die Grundlagen dafür geschaffen haben, dass die Heutigen in relativem Wohlstand leben. Dies sind lediglich zwei augenfällige Beispiele eines existentiellgeschichtlichen Schuld- und Pflichtverhältnisses, die jedoch in ihrer Allgemeinheit bereits auf geschichtliche Schuld verweisen, die nicht existentiell ist in dem Sinne, dass das Dasein selbst sie aufgrund seiner anthropologischen Verfasstheit ›nun einmal so mit sich bringt.‹ Existentiell ist sie freilich dennoch in einem anderen Sinn: Sie geht das Dasein als In-Geschichten-verstrickt-sein fundamental an und stellt seine gewohnte Existenz inklusive seiner Verstehens- und Wahrnehmungsweisen in Frage. Existentiell ist sie außerdem, weil sie nicht umgangen werden, sondern höchstens verdrängt werden kann. Denn bei der Besinnung auf die Her- und Hinkunft geht es auch um die Frage, wessen genau gedacht wird. Es geht um die Frage, wessen Erinnerung zählt. So sind die an die eigene Biographie gebundenen Erinnerungen meist an familiäre und darüber hinaus an andere exklusive und exkludierende kollektive Narrative geknüpft 167 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
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(wie zum Beispiel an eine ›Nationalgeschichte‹). Dadurch entbehren sie einer für das historische Verständnis notwendigen Multiperspektivität, in der auch Erinnerungen und Geschichten beleuchtet werden, die das eigene Narrativ in Frage stellen. Jancke und Ulbrich machen auf eine solche Verengung, die zu einer Generalisierung des hegemonialen Verständnisses dessen, was erinnert, geschrieben und erforscht werden soll, führt, in der Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung aufmerksam. 229 Sie legen dar, dass die anhand von Zeugnissen westlicher Autoren entwickelten Konzepte von Individuum und Person, die aufgrund ihrer Genese eng mit ›okzidentalen‹ Vorstellungen von Nationalstaat und Zivilisation verbunden sind, auf nichteuropäische Gesellschaften übertragen wurden, ohne deren unter Umständen divergierende Perspektiven zu berücksichtigen. 230 Bei der Auswahl des Quellenmaterials (und damit der Definition dessen, was überhaupt als Autobiographie gelte) würden deshalb zumeist »adlige, jüdische, schwarze, nichteuropäische Frauen und Männer ausgeblendet, so daß sich in diesen Arbeiten ein Bild von ausschließlich männlichen, städtischen, christlichen, weißen, europäischen Individuen ergibt. Dabei entsteht nicht nur der Eindruck, daß Individualität und autobiographisches Schreiben eben genau hier und nirgends sonst ihren gesellschaftlichen Ort haben. Auch gibt es darüber hinaus nahezu keine Arbeiten, in denen das Männliche, Städtische, Christliche, Weiße, Europäische dieses ausgewählten Schwerpunkts eigens analysiert würde. Zwar wurden und werden gegen die Geschlechter-, Kultur- und Klassengebundenheit dieses – meist als universalistisch vermarkteten – Personkonzepts zahlreiche Einwände formuliert, doch blieb das Individuum und das damit verbundene Narrativ des okzidentalen Individualismus in den meisten Forschungen implizit oder explizit Referenzpunkt.« 231
Was hier schief liegt, so die Kritik der beiden Autorinnen, ist das Verhältnis eines universal gesetzten Forschungskonzepts zu jenen Stimmen und Geschichten, die dessen Vorannahmen ins Schwanken bringen könnten. Sie werden entweder gänzlich vernachlässigt oder aber Vgl. Jancke, Gabriele; Ulbrich, Claudia: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. In: Dies. (Hrsg.): Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 2005. Band 10. Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Göttingen: Wallstein 2005, S. 7–27. 230 Vgl. ebd., S. 7 ff. 231 Ebd., S. 13 f. 229
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von außen fremd definiert und so dem eigenen Verständnis angeglichen (im Sinne eines Otherings 232). Damit geht einher, dass die eigenen Perspektiven und Kategorien nicht hinterfragt werden (können). Ähnliches stellt Peter Waldmann fest, der das Zum-SchweigenBringen von Minderheiten in der deutschen Literaturwissenschaft am Beispiel jüdischer Literatur rekonstruiert, die zwar behandelt wurde, deren Autor_innen jedoch oftmals nicht als jüdisch wahrgenommen wurden. 233 Waldmann setzt dem ein Verständnis von jüdischer Literatur als »kleiner Literatur« entgegen, wobei das Adjektiv ›klein‹ »keinesfalls als ein herabsetzendes Werturteil anzusehen [ist], sondern […] als Parazeichen anzeigen [soll], dass es sich hier um eine Literatur handelt, in der sich Minoritäten ausdrücken.« 234 Dem entspricht in etwa das Konzept einer ›Mikrogeschichte‹, die von den Erfahrungen Marginalisierter und in den ›großen‹ historiographischen ›Gesamtdarstellungen‹ gern Übersehener ausgeht, 235 diese jedoch keineswegs isoliert betrachtet, sondern sie hinsichtlich ihrer Lebensweisen, (Überlebens-)Strategien etc. in Bezug auf die sie marginalisierende Mehrheitsgesellschaft untersucht. 236 Der Begriff Othering wird zumeist in den Sozialwissenschaften verwendet. Er beschreibt den Prozess einer Differenzsetzung einer strukturell benachteiligten oder subalternen Gruppe durch Angehörige einer den Diskurs bestimmenden Mehrheit. Maureen Maisha Eggers führt dies anhand rassistischer Zuschreibungen aus: Die von einer weißen Gruppe Schwarzen Menschen zugeschriebenen vermeintlichen Eigenschaften werden »naturalisiert«: »Sie werden als unüberwindbarer Teil der ›Natur‹ von rassistisch markierten ›Anderen‹ gesetzt. Die auf diese Weise konstruierte Differenz wird festgelegt und verabsolutiert.« (Eggers, Maureen Maisha: Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. In: Eggers, Maureen Maisha; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy; Arndt, Susan (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast 2009, S. 56–72. Hier: 57) Eine derart konstruierte Andersheit dient schließlich zur Bestätigung und Reproduktion systemischer Ungleichheit. Anhand rassifizierter Kategorien wird eine vermeintlich ›natürliche‹ Hierarchie – in diesem Fall zwischen weißen und Schwarzen Menschen – etabliert bzw. aufrechterhalten (vgl. ebd.). Es handelt sich hier also um eine weiße Beherrschungshermeneutik. 233 Vgl. Waldmann, Peter: Wie Fremde Fremde sehen, S. 23 ff. 234 Ebd., S. 28. 235 Ich erinnere an Hegels Konzeption und seine Glorifizierung des ›welthistorischen Individuums‹ (vgl. Kap. 1.1.). 236 Vgl. Schlumbohm, Jürgen: Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte. In: Ders. (Hrsg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? Mit Beiträgen vom Maurizio Gribaudi, Giovanni Levi und Charles Tilly. Göttingen: Wallstein 1998, S. 9–32. Hier: S. 20 ff. 232
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Wir müssen uns jedoch gar nicht erst der Literatur zuwenden, um mit einem verdrängend-aneignenden oder ›nur‹ verdrängenden Diskurs konfrontiert zu sein. Die Frage, wem welcher Subjektstatus im hegemonialen Diskurs zugesprochen wird, beziehungsweise wem dieser abgesprochen wird, was auch in Form der Nichtbeachtung geschehen kann, stellt sich mit der Beobachtung des Alltags. Nehmen wir den Wohlstand als von Anderen erwirtschaftete und ihnen daher geschuldete Grundlage unserer aktuellen Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten. Eltern und Großeltern mögen, dem bundesrepublikanischen Narrativ entsprechend, diesen Wohlstand auf ihre eigene Arbeit und das sogenannte Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre zurückführen. Vielleicht erwähnen sie den Marshallplan, dem der Aufbau des kriegszerstörten Westeuropas maßgeblich zu verdanken ist. Kaum werden sie sich allerdings auf die Kolonialgeschichte und deren Opfer besinnen, auf deren Kosten Europa über Jahrhunderte hinweg zur ›Blüte‹ gelangte, und die heute, im ›postkolonialen‹ Zeitalter weiterhin wirksam ist. Der Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessidis stellt genau diese Frage: Wessen Erinnerung zählt? 237 Damit fragt er auch, inwieweit die heutigen europäischen Gesellschaften (mit dem Schwerpunkt Deutschland) von Verbrechen der Vergangenheit weiterhin profitieren, und konstatiert: »Es gibt also [auf die Kolonialvergangenheit bezogen. Anm. D. M.] keine Täter mehr im eigentlichen Sinne. Es gibt nur Gemeinwesen, die von Verbrechen profitiert haben oder deren internationale Machtposition sich schwerwiegenden Ungerechtigkeiten verdankt. Und es gibt Individuen, die in diesen Gemeinwesen leben und die aufgrund der Vergangenheit gewisse Privilegien genießen. Wird eine Person heute in Deutschland geboren, dann bedeutet die Geburt an diesem Ort einen großen Vorteil: Zugang zu Ressourcen, zu Gesundheitsversorgung, Bildung, ordentlich bezahlten Tätigkeiten oder sozialstaatlichen Leistungen. Die Migration nach Deutschland verdankt sich einem internationalen Gefälle, das auf […] postimperialen Beziehungen aufbaut […]. Wird eine Person nicht nur in Deutschland geboren, sondern ist sie auch noch deutscher Herkunft und aus einer Familie mit akademischer Bildung, dann bedeutet das einen weiteren großen Vorteil: Alle Statistiken zeigen, wie sehr der familiäre Hintergrund quasi ›vererbt‹ wird. Erinnerung bedeutet also nicht nur Gedenken, Terkessidis, Mark: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg: Hoffmann und Campe 2019.
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sondern auch die Verantwortung dafür, dass diese Privilegien abgebaut werden.« 238
Ein Besinnen auf das Verschuldet- und Verpflichtetsein gegenüber dem Ursprung muss also auch diese Strukturen und ihre Opfer mit einbeziehen, womit es zugleich Verpflichtung und Verantwortung dafür ist, die aus der Kolonialgeschichte tradierten Strukturen zu reflektieren und Privilegien abzubauen. Die Voraussetzung dafür ist – zumindest wenn man weiß und deutsch ist –, Erinnerungen und Geschichten wahr- und anzunehmen, die von dem an die eigene Biographie gebundenen Narrativ abweichen und dieses infrage stellen. Daran wird deutlich, dass die Besinnung, wie Grätzel ausführt, 239 Verschuldet- und Verpflichtetsein nicht ausschließlich in der Vergangenheit, sondern ebenso in Gegenwart und Zukunft sucht. Eingedenken ist nicht sentimentale Nostalgie, sondern »die Voraussetzung zu ethischem Handeln«. 240 Es ermöglicht die Anknüpfung an ein Erinnerungswissen, das von den vorherrschenden Narrativen oftmals verdrängt wird, was zur Reproduktion antisemitischer, rassistischer und kolonialer Unterdrückungsmechanismen im Diskurs führt, die sich durchaus in verbaler und körperlicher Gewalt manifestieren können und auch staatliche Strukturen prägen. 241 Der Politologe Kien Nghi Ha betont die politische und strukturelle Dimension dieser Entinnerung und ihre diskursiven gesamtgesellschaftlichen Interdependenzen und Verflechtungen: »Das Schweigen [über die Aktualität deutscher Kolonialkultur. Anm. D. M.] ist eine bewusste Amnesie, und die Amnesie ist eine politische Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses. Daher ist das konsensuale Schweigen eine dominante Machtartikulation, die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung imperialer Praktiken und Bilder durch Entinnerung aktiv widersetzt und nur durch Gegen-Erzählungen aufgebrochen werden kann. In ihren totalisierenden Dimensionen kann sich die Macht des Entinnerten zu einer sekundären Kolonialisierung verdichten. Die sekundäre Kolonialisierung bezeichnet keine Leerstelle, sondern eine gesellschaftliche Dynamik, die immer wieder Ebd., S. 179. Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 68 (s.o.). 240 Ebd., S. 69. 241 Eine (relativ) aktuelle Übersicht bietet eine Veröffentlichung der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (Hg.): Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden. Münster: edition assemblage 2016 (Reihe kritik_praxis; Bd. 3). 238 239
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durch einen Set von Machtpraktiken hergestellt wird. In ihr werden nicht nur die Kontinuitäten, Übergänge und Brüche, sondern auch die realgeschichtliche Kolonialisierung selbst immer wieder neu mit einem weißen Schleier des Schweigens überzogen. Auf der anderen Seite werden die Schwarzen Subjekte, die oftmals auch als Opfer widerständig gehandelt haben, durch die Täterverehrung in den hegemonialen Diskursen erneut viktimisiert. Indem die diskursiven Mittel zur Bezeichnung kolonial eingefärbter Realitäten tabuisiert werden, bleibt die gesellschaftliche Macht- und Infrastruktur jener kolonialen Präsenzen verborgen.« 242
Die zur Sichtbarmachung und Überwindung weiterhin wirksamer kolonialer Machtstrukturen notwendigen Gegen-Erzählungen kann der weiße Deutsche zwar nicht selbst erzählen. Er kann jedoch in seinen Erzählungen, in seiner Lebensgeschichte an diese Gegen-Erzählungen anknüpfen, um persönliche (familien-)biographische Verstrickungen sichtbar zu machen, seine Privilegien zu hinterfragen und abzubauen und darüber hinaus solidarisch mit den negativ Betroffenen in die Gesellschaft zu wirken. Der Einbezug dieser anderen Geschichten (anders deshalb, weil sie nicht positiv Teil der familiären oder hegemonialen kollektiven Erzählungen sind) ist also konstitutives Moment eines Eingedenkens, das nicht, wie bei Heidegger, zur (Selbst-)Bestätigung eines schon zuvor abgesteckten Herrschaftswissens ohne Gewissen (ohne conscientia) dient. 2.3.2.2. Zum Konzept des Eingedenkens Worum aber handelt es sich bei diesem Eingedenken (ein Begriff, der im Rahmen dieser Arbeit immer wieder auftaucht und daher für diese von einiger Relevanz ist) nun genau? 243 Wir haben bereits gesehen, dass es sich beim Eingedenken nicht bloß um ein Erinnern selbst erlebter Ereignisse handelt, sondern um einen Vorgang, der über die eigene Erfahrung hinaus geht, dem Selbst daher transzendent ist und dieses transzendiert, insofern es fremde Erfahrungen und Erinnerungen im eigenen Bewusstsein vergegenwärtigt. Das Selbst wird sich dessen bewusst, seinen Daseinsgrund außer sich zu haben: Ha, Kien Nghi: Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft. In: Eggers, Maureen Maisha; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy; Arndt, Susan (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast 2009, S. 105–117. Hier: S. 105. 243 Grätzel widmet sich auf S. 70 f. von Dasein ohne Schuld dem Eingedenken. 242
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Sowohl außerhalb seines Körpers als seiner biologischen Existenz als auch außerhalb seiner Lebenszeit – schließlich auch außerhalb seines subjektiven Bewusstseins. Das Eingedenken schafft oder ist ein mehrdimensionales Verhältnis, das Beziehungen zu anderen Menschen, ihren Geschichten und ihren Zeiten involviert. Es überbrückt die Zeiten und stiftet einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit korreliert es mit dem Erzählen und der Erzählung (Kap. 1.5.): Es greift Erzählungen und Erinnerungen auf, ist ihnen aber zugleich auch vorgängig, insofern es als Vorgang selbst nicht zu einer Erzählung ausgestaltet ist, sondern in erster Linie Fragmente oder Bilder ›ans Licht‹ bringt, die als Fundament oder Erweiterung neuer Erzählungen dienen können. Das Eingedenken ist ein zentrales Konzept im Denken Walter Benjamins. Stefano Marchesoni stellt Genese und Semantik dieser »Denkfigur« ausführlich dar. 244 Er stellt heraus, dass es sich beim Eingedenken Benjamins, zumindest wenn man den Durchgang durch sein Werk wagt, »um ein schillerndes, offensichtlich mehrdeutiges Konzept handelt, für das sich jede Definition als unzulänglich erweist.« 245 Ich möchte mich daher auf die für unser Vorhaben hilfreichen Stellen in Benjamins Schriften beziehen, ohne den Anspruch erheben zu wollen oder zu können, alle werkimmanenten Widersprüche oder Unklarheiten auch nur benennen, geschweige denn berücksichtigen zu können. In Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte meint Eingedenken den Einbezug des Vergangenen in die Gegenwart, was dort, zumindest auf den ersten Blick, ein bewusst intendierter Akt ist. Der Begriff Eingedenken selbst findet sich dort nur an zwei Stellen: 246 So in der These XV, in der von den Feiertagen als Tagen des Eingedenkens die Rede ist, die immer wiederkehren. 247 Es geht in der These um den in der Französischen Revolution neu eingesetzten Republikanischen Kalender, der damit selbst schon ein Dokument des Eingedenkens ist, insofern er Sinnbild des Bruchs mit dem Alten, des Beginns einer neuen Zeit sowie des Revolutionsgeschehens selbst ist. Wenn man so will, ist der Kalender ein Papier gewordenes Ritual des
Vgl. Marchesoni, Stefano: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens. Über Genese und Semantik einer Denkfigur. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016. 245 Ebd., S. 11. 246 Vgl. ebd., S. 281. 247 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 701. 244
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Eingedenkens. Die zweite Erwähnung findet das Eingedenken im Anhang B der Thesen. 248 Dort ist von Thora und Gebet die Rede, die die Juden im Eingedenken unterweisen und damit sowohl einen Bezug zur Vergangenheit herstellen als auch die Gegenwart zu einer Zukunft hin öffnen, in der in jeder Sekunde der Messias eintreten könne. Hier wird die Verschränkung der Zeitebenen besonders deutlich; auch ist mit dem Hinweis auf den Messias ausgedrückt, dass die Vergangenheit in der Zukunft ›erlöst‹ werden könne – das Eingedenken eröffnet einen ethisch-politischen Horizont. Das Thema, das die Thesen durchzieht, lässt sich entsprechend zusammenfassen als Frage nach der Relevanz der von der historistischen Geschichtsschreibung verdrängten und im hegemonialen Diskurs vergessenen Geschichten und Perspektiven der Opfer der Geschichte für Gegenwart und Zukunft und vice versa als Frage nach der Möglichkeit, den vergessenen Opfern Gerechtigkeit und Anerkennung widerfahren zu lassen. In den Thesen artikuliert Benjamin den Drang nach einer Umkehrung der Geschichte, wie ihn später Améry formuliert hat. 249 Benjamin verbindet dabei theologische Denkfiguren mit seinem ganz eigenen materialistischen Ansatz. 250 Das Eingedenken ist als Ausdruck des Wunsches nach Umkehrung der Geschichte 251 ein radikaler Bruch mit der linear-chronologischen Zeitauffassung und ist bestimmendes Moment der Thesen auch dort, wo es als Begriff gar nicht Vgl. ebd., S. 704. Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 143. 250 Vgl. These I (Über den Begriff der Geschichte, S. 693) sowie ein Fragment aus Das Passagen-Werk: »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben.« (Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 588). Benjamins Verhältnis zur Theologie ist also nicht spannungsfrei. So heißt es in einem weiteren Fragment, dass die Erfahrung des Eingedenkens es verbiete, »die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.« (Ebd., S. 589) So sind die Begriffe (oder Figuren), auf die Benjamin durchaus zurückgreift, meist in einen Kontext gesetzt, der über das Theologische hinausgeht. Ob die Verbindung von Materialismus und Theologie immer ganz widerspruchsfrei aufgeht, steht freilich auf einem anderen Blatt. Doch womöglich sind es gerade diese nicht gelösten und nicht zu lösenden Widersprüche, die Benjamins Ausführungen so fruchtbar machen. 251 Es ist die »Annahme einer messianischen Reversibilität der Geschichte, d. h. der Umkehrung des Unerlösten ins Gerettete […],« wie Caroline Heinrich schreibt (Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 154; ebenso in einer aktuelleren Zusammenfassung ihrer Arbeit: Heinrich, Caroline: Über den Anspruch der Vergangenheit und das Recht auf Gegenwart, S. 68). 248 249
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auftaucht. 252 So in der berühmten Interpretation des Angelus Novus von Paul Klee, der für Benjamin den Engel der Geschichte darstellt: »Er [der Engel der Geschichte. Anm. D. M.] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« 253
In dieser ›dichten Beschreibung‹ fasst Benjamin seine Kritik an der seit Hegel wirkmächtigen Vorstellung einer fortschrittlich verlaufenden (Welt-)Geschichte sowie Notwendigkeit und Schwierigkeit (und auch Grenzen) des Eingedenkens zusammen: Das, was uns, die wir noch der historistischen Geschichtsauffassung anhängen, als bloße Kausalkette erscheint, die wir nüchtern betrachten und analysieren können, ist dem Engel, der rückwärtsgewandt, das heißt eingedenkend ist, ein Trümmerhaufen – eine Geschichte von Leid und Leidenden. Er möchte eingedenkend verweilen, »die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.« Doch der postulierte und erwartete Fortschritt macht ihm dies unmöglich. Der Trümmerhaufen wächst und wächst. Man kann das durchaus im Sinne geschichtlicher Schuld auslegen: Die Vergangenheit artikuliert einen Anspruch an uns, 254 dem wir nicht gerecht werden können. Wir leben, weil Andere für uns gestorben sind und noch immer sterben und weiterhin sterben werden. Benjamin sieht einen Ausweg in der Stillstellung der Geschichte (also des uns hinweg wehenden und von den Opfern trennenden Fortschrittspostulats) oder wie er es nennt: In »einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.« 255 Wie auch Marchesoni feststellt (vgl. Marchesoni: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens, S. 281). 253 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 697 f. 254 So in These II (vgl. ebd., S. 693 f.): Die Vergangenheit verpflichtet die nachfolgenden Generationen, sie in ihre Gegenwart einzuholen und den Stimmen der Opfer das Ohr zu öffnen. 255 Ebd., S. 703. Eine solche Stillstellung geschieht in etwa in der Lektüre (Kap. 1.5.). 252
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Das Denken müsse stillstehen, um die unterdrückte Vergangenheit zu vernehmen und für sie einstehen zu können. Die Revolution sei nicht die Lokomotive der Weltgeschichte, wie bei Marx, sondern der Griff nach der Notbremse. 256 Im Gegensatz zum Historiker des Historismus, der sich die Abfolge der Begebenheiten durch die Finger laufen lasse wie einen Rosenkranz, 257 versetzt der historische Materialist seine Gegenwart in ein dynamisches Verhältnis zur Vergangenheit: »Er erfaßt die Konstellationen, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.« 258 Nimmt er diese Splitter auf, hat er selbst Teil am messianischen Geschehen, das zur Erlösung führt. Dies ist in erster Linie eine Frage der Wahrnehmung, aus der heraus, wie am Beispiel des Umgangs mit der Kolonialvergangenheit aufgezeigt, politisches Handeln erwachsen kann. Andersherum können aber auch bestimmte Situationen, für Benjamin der Augenblick der Gefahr oder auch des revolutionären Moments, 259 die Vergangenheit in die Gegenwart drängen und diese als Jetztzeit zusammenschließen. Geschieht dies, so ist der Betrachter in der Lage, die Geschichte umzustülpen oder »gegen den Strich« zu bürsten: 260 Statt einer Siegergeschichte, die die Opfer verdrängt oder legitimiert, zeigt sich ihm die Geschichte, wie dem Engel, als Trümmerhaufen, die Kultur enthüllt ihre barbarische Seite (potentiell an jedem geschichtlichen Gegenstand, 261 an jedem ›Kulturgut‹). 262 Die Frage, ob er hierbei verharren kann oder aber, wie der Engel, vom Fortschritt weggetrieben wird, stellt sich weiterhin. Man kann davon ausgehen, dass das Eingedenken prekär bleibt und die Beziehung zur VerganSo heißt es in Benjamins Notizen zu den Thesen (vgl. Benjamin, Walter: Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Band I,3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 931), S. 1232). 257 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 704. 258 Ebd. 259 Vgl. ebd., S. 695. 260 Ebd., S. 697. 261 Vgl. ebd., S. 702 f. (These XVII). 262 Was der historische Materialist »an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« (Ebd., S. 696). 256
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genheit immer wieder abbricht, so dass deren Anspruch nicht eingelöst werden kann. Eine Möglichkeit, dem zu begegnen, wäre die Verstetigung des Eingedenkens, die auch Benjamin suggeriert, wenn er vom Kalender, dem Festtag oder auch dem Gebet spricht. Solche Rituale oder deren Manifestationen laufen allerdings Gefahr, zum Selbstzweck zu werden und das Eingedenken zum bloßen Gedenken werden zu lassen, das keinen ethischen Handlungshorizont eröffnet, sondern mit dem Abschluss des Rituals ebenfalls an sein Ende kommt. Es ist daher von Bedeutung, sich auch im bewussten Akt des Eingedenkens noch von dessen Spontaneität ›überfallen‹ zu lassen. Denn auch das willkürliche Eingedenken kann unwillkürliche Erinnerungen evozieren. Der unwillkürliche Einbruch des Vergangenen in die Gegenwart bleibt jedoch die primäre Weise des Eingedenkens, das bewusst eingegangene, im Ritual fokussierte ist dem schon nachgängig. 263 Gerade weil der Einbruch des Vergangenen im Eingedenken unwillkürlich ist, lässt sich der Anspruch der Vergangenheit nicht abweisen, sondern drängt sich als Katastrophe, als Trümmerhaufen auf. Heinrich schreibt dazu: »Benjamin wendet den Begriff der Jetztzeit, der schockhaften Vergegenwärtigung des Unfertigen des Vergangenen, gegen die Vorstellung der Abgeschlossenheit der Vergangenheit. Denn diese nährt sich an dem Gedanken, die historische Zeit schreite wie die Uhrzeit, in der die Vergangenheit die Gegenwart nie einzuholen gestattet, voran [wie Benjamin in These XI darlegt. Anm. D. M.]. Benjamin erkennt also, daß, die Provokation der Opfer ernst zu nehmen, heißt, den Gedanken der Unabgeschlossenheit des Gewesenen vorauszusetzen.« 264
Das Eingedenken ist ein »Chock«, 265 der das reflektierende Denken aufbricht und still stellt und damit den gesamten Geschichtsverlauf, wie er sich der Denkbewegung zeigt, unterbricht. Somit wird auch die Stéphane Mosès unterscheidet das Eingedenken zwar von der willentlichen Erinnerung, da es dem Eingedenken nicht bloß auf das Evozieren eines vergangenen Augenblicks ankomme, sondern auf dessen Transformation. Dennoch reduziert er es auf einen bewussten Akt (vgl. Mosès, Stéphane: Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins. In: Haverkamp, Anselm; Lachmann, Renate (Hrsg.): Memoria, Vergessen und Erinnern. München: Fink 1993, S. 385–405. Hier: S. 401). Zumindest in diesem letzten Punkt ist ihm daher zu widersprechen. Das Eingedenken kann zwar bewusste Formen annehmen, ist aber, wie gesagt, in seinem primären Erscheinen unintendiert. 264 Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 148. 265 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703. 263
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Kontinuität des Eigenen unterbrochen, das sich nicht mehr in einer von ihm beherrschbaren Gegenwart behaupten kann. Benjamin schließt mit dieser Konzeption an die jüdische Tradition an. Allein in der Hebräischen Bibel, dem Tanach, findet sich das Verb zakhor (sich erinnern; eingedenk sein) in seinen verschiedenen Konjugationsformen an 169 Stellen. Von hier aus habe es, zusammen mit der (göttlichen) Forderung, nichts, was die Gemeinschaft der Israeliten betrifft, dem Vergessen anheimfallen zu lassen, das Selbstverständnis des Judentums als Erinnerungsgemeinschaft geprägt, so der Judaist Yosef Hayim Yerushalmi. 266 Während sich die Autoren der Schriften noch weitgehend, wenn auch in einem speziellen Sinn, als Geschichtsschreiber verstanden hätten, 267 habe sich das Verständnis von Zeit mit dem Entstehen des rabbinischen Judentums und der Herausbildung seiner klassischen Literatur, Talmud und Midrasch, verändert: »Unlike the biblical writers the rabbis seem to play with Time as though with an accordion, expandig and collapsing it at will.« 268 Das Ergebnis war ein rabbinisches Universum, »in which ordinary barriers of time can be ignored and all the ages placed in an ever-fluid dialogue with one another.« 269 Hier tritt der Kontrast zwischen einer historisierenden Geschichtsauffassung und der Vorstellung eines Gegenwärtigseins des Vergangenen als Jetztzeit hervor, den auch Benjamin formuliert. Zakhor, Eingedenken, heißt also, sich in diesem »ever-fluid dialogue« zu befinden, beziehungsweise dem Einbrechen des Vergangenen in die Gegenwart ausgesetzt zu sein. Dieses Einbrechen, das die Zeiten miteinander verschränkt und die Vorstellung einer linearen Zeit durchbricht, ist das Thema des Romanprojekts von Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu), an dessen Übersetzung Benjamin arbeitete. Hierüber dürfte die mémoire involontaire Benjamins Thesen (und sein Denken überhaupt) beeinflusst haben. 270 Mémoire involontaire übersetzt Benjamin in einem Essay über Proust mit ›ungewolltem‹ oder ›spontanem Eingedenken‹. 271 Mémoire involontaire Vgl. Yerushalmi, Yosef Hayim: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. Seattle: University of Washington Press 1996, S. 5. 267 Vgl. ebd., S. 13 ff. 268 Ebd., S. 17. 269 Ebd. 270 Vgl. hierzu Marchesoni: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens, S. 97 ff. 271 Benjamin, Walter: Zum Bilde Prousts. In: Ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften Band II,1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann 266
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ist für Benjamin also kein erinnerter Inhalt, sondern der Prozess des Erinnerns selbst. Als solcher ist sie das Grundgerüst für die Erinnerung – sie ist ein Vorgang, der ein Verhältnis herstellt, das sich wiederum als Geschichten bzw. Erzählungen inhaltlich realisiert. Auch zakhor ist als »ever-fluid dialogue« nicht der Inhalt des Dialogs, sondern das Verhältnis der Zeiten zueinander. Dies entspricht auch dem Gebrauch Prousts. Im Roman ermöglicht die mémoire involontaire dem Ich-Erzähler »die Rekonstruktion verschütteter Vergangenheitselemente«, 272 ist aber selbst noch keine solche Rekonstruktion, wie es in einem Lexikon-Eintrag von Eva Erdmann heißt. Sie schreibt weiter: »Obwohl sich also der Ausgangspunkt der m.i. [mémoire involontaire] der Kontrolle des sich erinnernden Subjekts entzieht, muss die Erinnerung im eigentlichen Sinn, die auf den Augenblick des unwillkürlichen Erinnerns folgt und die eine vergangene Zeit in ihrer Gesamtheit wiederherzustellen vermag, mittels der Vernunft in einer mühsamen Erinnerungsarbeit vom Subjekt selbst bewältigt werden. Die m.i. öffnet den Zugang zu einem Erinnern, das sich als ein kreativer Akt sogleich von ihrer ursprünglichen Unwillkürlichkeit unterscheidet.« 273
Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass es meines Erachtens durchaus auch unwillkürliche Erinnerungen gibt, die einen Inhalt transportieren und sich in Geschichten einfügen lassen, was dann wiederum ein kreativer Akt ist, der von den Erinnerungen selbst unterschieden werden muss. Diese Erinnerungen blitzen als Bilder oder Fragmente auf, brechen in das Denken ein und unterbrechen es. 274 Sie sind also der vom Akt des Eingedenkens oder der mémoire involontaire transportierte Inhalt, auch wenn diese selbst kein Inhalt sind. Sie sind jedoch noch vor der Erinnerungsarbeit, die Erdmann erwähnt, insofern sie erst noch bewältigt werden müssen. Sie sind Splitter oder Augenblicke, die sich aufdrängen: Keime eines Lebens Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 932), S. 310–324. Hier: S. 311. 272 Erdmann, Eva: mémoire involontaire. In: Pethes, Nikolaus; Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 367–368. Hier: S. 367. 273 Ebd., S. 367 f. 274 Wie es der geschichtliche Gegenstand im Eingedenken als Stillstellung des Geschehens tut, der ja ›anschließend‹ auch eingeordnet und betrachtet werden kann (vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703).
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und seiner Geschichte. Wie diese Keime oder Splitter beruht auch die mémoire involontaire als Akt des Eingedenkens (zakhor) auf dem Vergessen, das die Hebräische Bibel, so zumindest Yerushalmi, einzig als »terror of forgetting« 275 kenne, der eine Drohung Gottes davor darstelle, ihn und seine Gebote zu vergessen: Werden diese vergessen, so würde auch das Volk Israel ausgelöscht. 276 Diese Formulierung ist zwar drastisch, berührt aber jene heute noch gültige Wahrheit, nach der das Verweigern der Besinnung auf Her- und Hinkunft (inklusive der fremden (Leidens-)Geschichten) nicht nur die eigene Identität halbiert und kulturell entwertet, sondern ebenso ethisches Handeln verstellt. Das Vergessen der Geschichten derjenigen, die den Preis für den ›Fortschritt‹ zahlen mussten, führt darüber hinaus zu ihrer nochmaligen Viktimisierung, zu jener »sekundären Kolonialisierung«, die Ha erwähnt. 277 Ein solches Vergessen kann dementsprechend kein absolutes Vergessen sein, sonst ließen sich die vergessenen oder verdrängten Geschichten auch im Eingedenken nicht erinnern. Um dies zu verstehen, ist Aleida Assmanns Unterscheidung von Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis innerhalb des kulturellen Gedächtnisses hilfreich. Das Funktionsgedächtnis sind die symbolischen Praktiken, die in ihrer ständigen Wiederholung Erinnerungen sichern: Traditionen, Riten oder die Kanonisierung von bestimmten Artefakten, die allgemein bekannt sind und mit bestimmten Erinnerungen assoziiert werden. 278 Im Funktionsgedächtnis werden Erinnerungen meist problemlos aufgerufen. Anders das Speichergedächtnis: Hierbei handelt es sich, so Assmann, um die Sicherung von materiellen Repräsentationen (Bücher, Bilder, Filme etc.) in Bibliotheken, Museen oder Archiven. 279 Diese sind oft verborgen, nur wenigen zugänglich, eher weniger der Allgemeinheit bekannt oder ›vergessen‹ in einem staubigen Kellerregal. Man kann jeYerushalmi: Zakhor, S. 108. Vgl. ebd. Diese Drohung Gottes, zu vergessen, führt Jan Assmann auf die Entstehungsbedingungen des 5. Buches Mose (Deuteronomium) zur Zeit des babylonischen Exils zurück. Das Volk Israel habe in der Fremde als kulturelle Gemeinschaft nur überleben können, weil es sich mithilfe der im Text geforderten Mnemotechniken seiner Identität habe versichern können (vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, S. 212 ff.). 277 Ha, Kien Nghi: Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft, S. 105. 278 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2014, S. 58. 279 Vgl. ebd. 275 276
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doch weiter gehen und auch Immaterielles ins Speichergedächtnis einbeziehen. Einerseits haben materielle Träger immer auch diese immaterielle Seite, 280 an sie sind Assoziationen und Konnotationen gebunden, die wiederum einer Gruppe vertraut sein mögen, einer anderen aber nicht. Auf der anderen Seite gibt es aber auch ganze Wissensbestände, die – zumindest im kulturellen Gedächtnis der Allgemeinheit – verborgen sind, wie es in etwa beim Schwarzen Wissen über die Kolonialgeschichte der Fall ist, das innerhalb des vorrangig weißen kulturellen Gedächtnisses erst langsam angenommen wird, wie uns Ha und Terkessidis gezeigt haben (Kap. 2.3.2.1.). Man kann sagen, dass solches Wissen und dessen menschliche Träger vom kulturellen und wissenschaftlichen Mainstream oftmals in das hinterste Regal des Speichergedächtnisses verbannt werden. Aber von dort können es und sie wieder auftauchen. Verdrängtes Wissen und verdrängte Erfahrungen können kollektiv wie individuell ins Gedächtnis einbrechen. Assmann schreibt: »Was im persönlichen Gedächtnis auf den unsortierten Grund des Vergessens zurückgesunken ist, kann unter bestimmten Umständen noch einmal an die Oberfläche steigen […]. Was wir Vergessen nennen, ist in der Regel ein latentes Gedächtnis, zu dem wir das Kennwort verloren haben; wenn es zufällig getroffen wird, kehrt völlig unerwartet ein Stück sinnlich gelebter Vergangenheit zurück. Von einer solchen Rückkehr können wir sprechen, wenn bestimmte Elemente der im Speichergedächtnis sedimentierten Überlieferungsbestände auf neue Weise vom Bewusstsein der Gegenwart angestrahlt werden, wobei sich umgekehrt die Gedanken der Gegenwart mithilfe bestimmter erhaltener Bestände formieren. Die Spuren der Vergangenheit treten dann, um es in der Sprache Walter Benjamins zu sagen, mit den Gedanken der Gegenwart in eine Konstellation der ›Lesbarkeit‹. So entwickeln sich immer wieder andere Affinitäten, genauer: Wahlverwandtschaften zwischen der fortschreitenden Gegenwart und vergangenen Epochen. Was Prousts ›mémoire involontaire‹ fürs Individuum ist, so dürfen wir vielleicht folgern, ist das Archiv oder Speichergedächtnis fürs kulturelle Gedächtnis: Fundus und Hintergrund für latente Erinnerungen, die ihre Stunde hinter sich oder noch vor sich haben. Dem unbewussten Gedächtnis bei Proust entsprechen auf der Ebene der Kultur die materiellen Rückstände früherer Epochen, die nicht mehr gebraucht und integriert, wohl aber noch irgendwo vorhanden sind.« 281 280 281
Vgl. Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, S. 71 ff. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 55 f.
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Wie gesagt, handelt es sich bei diesen ›Rückständen‹ meiner Ansicht nach nicht ausschließlich um materielle Träger oder Repräsentationen, sondern eben auch um Wissens- und Erfahrungsbestände, die innerhalb minoritärer oder marginalisierter Menschengruppen durchaus weitergegeben werden, aber für den Mainstream keine Rolle spielen. Dem Terror des Vergessens als Warnung vor dem Vergessen und damit als Warnung vor der Selbstauslöschung sowie vor der Auslöschung Anderer korrespondiert in gewisser Weise ein ›Terror‹ der Erinnerung, insofern die Erinnerung (Inhalt) im Eingedenken (Akt) das von ihr betroffene Subjekt nicht mehr ›einfach sein lässt‹, sondern ihm die Verpflichtung gegenüber den Anderen und ihrer Geschichte(n) aufbürdet, es in einen Schockzustand versetzt, der dem Selbst auch seine Geschichte anders, womöglich problematischer, erscheinen lässt. Dies verleiht der mémoire involontaire ihre Kraft. Sie macht das Bewusstsein zu einem Bewusstsein seines Grundes außer sich, mit aller existentiellen und geschichtlichen Schuld (gegenüber den Toten im Allgemeinen und den Unterdrückten und Ermordeten im Besonderen). So schreibt Grätzel, ebenfalls mit Referenz auf Proust: »Die Erinnerung, die als Seinsbewusstsein auftritt, ist unabhängig davon, ob gerade erinnert werden soll oder nicht. Es ist jene ›Suche nach der verlorenen Zeit‹, die nicht im Bereich persönlich gemachter Erfahrungen bleibt, sondern über die persönliche Geschichte und Biografie hinaus geht und die entsetzende Tatsache der Daseinsschuld erinnert [und meines Erachtens auch schon die geschichtliche Schuld. Anm. D. M.], der Unvordenklichkeit dieses Ursprungs verbunden und verdankt zu sein. Hier wird etwas Ereignis, was längst nicht mehr Ereignis ist und für das Individuum nie Ereignis war.« 282
Als unwillkürliche Erinnerung drängt sich das auf, was zuvor vergessen oder verdrängt wurde und nicht das, was bewusst im Gedächtnis behalten wurde. Das macht sie aber auch flüchtig. Sie kann gewissermaßen kein zweites Mal mit genau gleichem Inhalt auftauchen. Das erinnerte Ereignis variiert von Erinnerung zu Erinnerung, ganz so, wie wir auch einen Text nie ein zweites Mal genau gleich lesen können, da die Schrift unaufhörlich différance produziert (Kap. 1.5.). Wir befinden uns in jenem »ever-fluid dialogue« der Zeiten in der rabbinischen Interpretation von zakhor. Jede Konstellation der Gegenwart 282
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mit der Vergangenheit als Jetztzeit im Eingedenken transformiert das Vergangene in einmaliger Weise. 283 Auch wenn wir die uns gegebenen Erinnerungsfragmente zu bewältigen versuchen, indem wir sie in eine/unsere Geschichte einbinden, hört die unablässige und stets neue Transformation nicht auf. Vielleicht lassen sich einzelne Momente oder Motive festhalten, die sich zu gleichen scheinen. Doch auch diese werden mit jeder neuen Betrachtung, Lektüre oder Erinnerungsarbeit in eine neue Konstellation zueinander und zu der wieder einbrechenden Vergangenheit gesetzt, sodass sich immer wieder ein anderes Bild ergibt. Das alles verstärkt die Forderung des Eingedenkens und mit ihr die Verpflichtung gegenüber den Opfern der Geschichte. Im Gegensatz dazu ist das willkürliche Erinnern oft von dem Gedanken geleitet, etwas abschließen zu müssen, und dient damit gegenwärtigen Interessen und kann auch dementsprechend geformt werden. Eine Überschneidung der Zeitebenen findet nicht statt. Dementsprechend kann dabei das Schuldverhältnis nicht zum Ausdruck kommen, beziehungsweise wird es von der Gegenwart, die keine mit Jetztzeit erfüllte ist, verdeckt. Der Ursprungsbezug ist nicht verpflichtend, sondern bloße Historie. Das heißt jedoch nicht, dass jegliche Form des bewussten Eingedenkens zwangsläufig korrumpiert sein muss von rein gegenwärtigen Interessen, auch wenn diese Gefahr sicher oft besteht. Denn auch im bewussten Eingedenken können sich Erinnerungen zeigen, die nicht intendiert sind, wie es in etwa im Gebet, in religiösen Riten generell oder auch in der Lektüre eines Gedichts, die ja zunächst immer intendiert ist, geschehen kann. Kollektiv wie individuell kann, im Ausgang vom Eingedenken, in einem bewussten Akt eine Erfahrung konstruiert werden, 284 deren Fundament das vergegenwärtigte Ereignis ist. Marchesoni nennt hier auf der individuellen Ebene die Literatur in ihren verschiedenen Ausformungen, auf kollektiver Ebene die politische Handlung, insbesondere die Revolte als profanes Fest. 285 Diese Akte umfassen auf kollektiver Ebene also in etwa das, was nach Assmann das Funktionsgedächtnis ausmacht: Traditionen, Riten, Kanonisierungen. Wir können hierbei also durchaus auch an Rosenzweig denken, für den, weniger profan, die jüdische Liturgie zum »Stellvertreter der Ewigkeit« wird und da-
283 284 285
Vgl. Mosès: Eingedenken und Jetztzeit, S. 401. Vgl. Marchesoni, Stefano: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens, S. 291. Vgl. ebd.
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mit die Erlösung im Heute vorweg nimmt. 286 Die Erinnerung wird vervollständigt, ja in der Vollendung des jüdischen Jahres ist sie keine Erinnerung mehr. So schreibt Rosenzweig über die drei Hochfeste: »In diesen dreien schreitet über den gewissermaßen naturhaft ewigen Boden des Jahrs mit seinen Sabbaten der Schritt der ewigen Geschichte. Denn nur scheinbar sind es Feste der Erinnerung; in Wahrheit ist das Geschichtliche in ihnen ganz dichte Gegenwart, und es gilt für sie alle, was jedem Teilnehmer an dem ersten [dem Pessach-Fest. Anm. D. M.] gesagt wird: er müsse das Fest feiern, als sei er selber es, der aus Egypten befreit worden. Anfang Mitte und Ende dieser nationalen Geschichte, Stiftung, Höhe und Ewigkeit des Volks – mit jedem neuen Geschlecht, nein mit jedem neuen Jahrgang und mit jedem neuen Jahre der alten werden sie neu geboren.« 287
In der Liturgie, wie Rosenzweig sie hier beschreibt, schließt sich der Kreis: Aus dem Eingedenken heraus wird eine Erfahrung konstruiert, die in ihrem (Nach-)Vollzug – der selbst schon wieder ein Akt des Eingedenkens ist – wieder zu einem Ereignis wird. Die Geschlechter sind in diesem geteilten Ereignis beisammen, das jüdische Volk ist erlöst. Doch leider funktioniert die profane Geschichte nicht wie die liturgische. Das Schuldverhältnis kann zwar bewusst gemacht werden, es bleibt jedoch immer ein Überschuss an Schuld, der nicht einzulösen ist. So bleibt für Benjamin die Menschheit eine unerlöste. Ihre Vergangenheit ist ihr noch nicht vollauf zugefallen, noch nicht »in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.« 288 Die Geschichte weist Lücken auf. Einige Geschichten bleiben auf immer verloren. Das Eingedenken steht deshalb unter einem eschatologischen Vorbehalt. 2.3.2.3. Die Eucharistie als ein Beispiel ritualisierten Eingedenkens Wir haben nun die Strukturen des Eingedenkens kennengelernt. Im Eingedenken verschränken sich die Zeitebenen miteinander, ein vergangenes und nicht selbst erlebtes Ereignis wird erfahrbar. Das Eingedenken, das auf das biblische zakhor zurückzuführen ist, setzt uns in Vgl. Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, S. 360. Zum Einfluss Rosenzweigs auf Benjamin vgl. Mosès, Stéphane: Walter Benjamin und Franz Rosenzweig. In: Brinkmann, Richard; Haug, Walter (Hrsg): Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 56. Jahrgang. LVI. Band. Stuttgart: Metzler 1982, S. 622–640. 287 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 351 f. 288 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 694. 286
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einen »ever-fluid dialogue« mit der Vergangenheit, zeigt uns deren verschüttete Potentiale auf, mit denen wir die Geschichte gegen den Strich bürsten können, um potentiell in jedem geschichtlichen Gegenstand die Unterdrückungsgeschichte abzulesen, die oftmals im hegemonialen Diskurs verdrängt wird. Von dort aus können wir unsere eigene Geschichte, individuell wie kollektiv, kritisch betrachten und unter Berücksichtigung der Geschichten der Opfer der Geschichte für Gegenwart und Zukunft verändern. Wir können die eigenen Erzählungen anhand von Gegen-Erzählungen Viktimisierter und Marginalisierter überprüfen und dementsprechend neu ausrichten, was nicht heißt, geschichtliche Schuld zu verdrängen oder die Familiengeschichte schönzufärben, sondern im Gegenteil, diese Schuld zu benennen, zu übernehmen und eventuelle Privilegien abzubauen. Die Geschichte erscheint so als unabgeschlossene. Das Eingedenken, das primär unwillkürlich geschieht und als mémoire involontaire seine bestimmende und irritierende Macht ausübt, kann und muss bewusst aufgenommen werden. Nur indem wir das unwillkürlich sich Aufdrängende in einem kreativen Akt der Erinnerungsarbeit aufnehmen – das heißt in die eigene Geschichte übernehmen – kann es einen Sinn erhalten und eine gewisse, wenn auch oftmals schwankende, Orientierung bieten. Welche Formen aber kann eine solche bewusste Übernahme annehmen? Wie kann verhindert werden, dass das Eingedenken in einer Ritualisierung zum Selbstzweck dieses Rituals wird oder gar zur Reproduktion des hegemonialen Diskurses, dem man eigentlich etwas entgegensetzen möchte? Um dies darzustellen, möchte ich einen kleinen historischen Bogen schlagen. Es hat sich bereits gezeigt, dass das Schuldverhältnis gegenüber den Toten – und im Besonderen gegenüber den Ermordeten – ein asymmetrisches Verhältnis ist. Die Reziprozität des Verhältnisses der Generationen zueinander bricht spätestens mit dem Tod ab. Gegenüber den Toten ist das Dasein also immer verschuldet, weil es seine Schuld nicht ›in gleicher Münze‹ zurückzahlen kann. Schließlich kann einmal ausgelöschtes Leben, auch wenn diese ›Verzehrung‹ im natürlichen Lebensvollzug notwendig ist, nicht wieder lebendig gemacht werden. Es gibt immer eine uneinholbare Restschuld, die reflektiert werden muss, da sie sonst diffus und belastend oder sogar für Andere gefährlich wird. 289 Geschieht eine solche Reflexion, ist das 289
Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 65. Sowie: Ders.: Versöhnung, S. 240.
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Bewusstsein einer Verschuldung zugleich eines des Verdanktseins, das noch einmal den Tauschcharakter des Verhältnisses betont. Aufgrund der Inkompatibilität des Tausches kann dem getöteten Leben nur symbolisch gedankt werden. 290 Das Danken ist dann zugleich ein Akt des Eingedenkens, der die Vergangenheit in der Gegenwart wieder aufnimmt und auch die Zukunft mit einbezieht, der gegenüber sich das gegenwärtige Leben ebenso verdankt und verschuldet weiß, insofern Ressourcen aufgezehrt werden, die zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Tausch stellt dementsprechend – symbolisch! – »einen Ausgleich zwischen Lebenden und Toten« 291 her sowie idealiter auch zwischen Lebenden und noch nicht Geborenen. Im Tausch wird die Solidaritätsgemeinschaft mit den vorangegangenen und künftigen Generationen aufgezeigt. 292 Der Zusammenhang von Danken und Eingedenken kommt bereits in frühen Totenkulten zum Ausdruck, wie Aleida Assmann herausstellt: »Im Alten Ägypten, wo die Totenmemoria, die Verewigung individueller Namen, im Zentrum kultureller Anstrengungen stand, wurde alljährlich das ›Schöne Fest vom Wüstental‹ gefeiert, bei dem die Familien (wie übrigens im arabischen Ägypten auch heute noch) zu den Gräbern ihrer Angehörigen zogen, um dort in der Gegenwart der Toten und in Gemeinschaft mit ihnen ein festliches Mahl zu begehen. Essen und Trinken ist die Elementarform der Gemeinschaftsbildung, am Grab wird sie zur rituellen Vereinigung der Lebenden mit den Toten.« 293
Im festlichen Totenmahl wird gedacht und gedankt. Im gemeinsamen Verzehren von Nahrungsmitteln in Anwesenheit der Toten wird die Materialität der Verschuldung besonders deutlich. Die Ressourcen des Lebens, die von den Ahnen gegeben wurden, werden nun wieder mit ihnen geteilt. Sie werden geopfert. Dieses Opfer ist die symbolische Vermittlung, die dem Ritual zugrunde liegt. Etwas oder sogar jemand wird geopfert, um als Stellvertreter die Daseinsschuld zu sühnen. 294 Der Stellvertreter übernimmt diese Schuld und rechtfertigt das verschuldete Leben durch seinen Tod. Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 32. Ebd., S. 30. 292 Vgl. ebd., S. 58. 293 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 2010, S. 33. Hierzu auch: Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 58 ff. 294 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 29 f. 290 291
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Diese Art der stellvertretenden Schuldübernahme und Sühne ist ein zentraler Glaubensartikel des Christentums. Der Opfertod Christi eröffnet dem christlichen Verständnis gemäß ein neues Leben aus der Daseinsschuld heraus. Durch sein Opfer, das symbolisch im Abendmahl weitergegeben wird, macht er auf die überpersönliche Verschuldung des Lebens aufmerksam und ermöglicht ein Leben im Bewusstsein des Verdankt- und Verschuldetseins. Erst ein solches Leben in der conscientia kann sich seiner Freiheit, die keine Freiheit sui generis ist, kreativ annehmen. 295 Das christliche Abendmahl baut auf dem Totenmahl auf, es trat als dessen »neue Form der Vergesellschaftung« 296 in der Gemeinde an dessen Stelle. Durch den zunehmenden Einfluss erkenntnistheoretischer philosophischer Fragen auf die Religion, so Stephan Grätzel, sei die ursprüngliche Vorstellung eines stellvertretenden Opfers als Ausgleich für die Daseinsschuld, von der das Totenmahl noch ein Ausdruck ist, allerdings verloren gegangen. 297 Die Lehre von der Transsubstantiation, die Vorstellung einer tatsächlichen Verwandlung von Brot und Wein zu Fleisch und Blut, sei bereits ein Ausdruck der Moralisierung von Schuld, also ihrer Reduktion auf individuelle Verfehlungen, die im christlichen Verständnis als Sünden gelten. Damit stehe nicht mehr die Erlösung von der Daseinsschuld im Mittelpunkt, sondern lediglich die Lossprechung von persönlich begangenen Sünden. 298 Dennoch möchte ich an dieser Stelle auf eine Interpretation der Eucharistie eingehen, die versucht, ihrem Charakter des Eingedenkens und des Dankens 299 sowie ihrer auf Vergangenheit und Zukunft hinausgreifenden Kraft gerecht zu werden. Der römisch-katholische Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz sieht in der Eucharistie nichts weniger als das »Vorzeichen einer anthropologischen Revolution,« 300 das den Menschen bemächtige, Damit soll keinesfalls suggeriert werden, dass nur ein Christ ein solches Leben führen könnte. Der Opfertod Christi ist lediglich ein Beispiel für einen symbolischen Tausch, wie er in zahlreichen Religionen und Kulturen vorkommt. 296 Assmann: Erinnerungsräume, S. 34. 297 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 46. 298 Vgl. ebd., S. 47 f. 299 Eucharistie lässt sich mit ›Dankbarkeit‹ oder ›Danksagung‹ übersetzen und geht auf das Verb εὐχαριστέω (›Dank sagen‹) zurück (vgl. Gemoll W./Vretska K.: Gemoll. Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. München: Oldenbourg Schulbuchverlag 2014, S. 367). 300 Metz, Johann Baptist: Brot des Überlebens. Das Abendmahl der Christen als Vorzeichen einer anthropologischen Revolution. In: Ders.: Jenseits bürgerlicher Religion. 295
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sich von seinem kulturellen Selbstverständnis »als herrschaftliches, unterwerfendes Subjekt gegenüber der Natur [und gegenüber anderen Menschen. Anm. D. M.]« 301 zu lösen. Zwar betont Metz den sakramentalen Status des Abendmahls, 302 argumentativ scheint es jedoch unerheblich zu sein, ob dabei die Vorstellung einer Realpräsenz im Sinne der Transsubstantiationslehre zugrunde liegt oder nicht. Für diese Arbeit ist allerdings interessant, dass Metz im »Brot des Lebens« 303 die Möglichkeit einer Identitätsveränderung sieht, also die Bewusstwerdung davon, in Geschichten verstrickt zu sein und auch dementsprechend zu handeln. Zunächst einmal bricht dessen Gabe eine Identität auf, »die sich am Herrschafts- bzw. Unterwerfungsprinzip bildet, zutiefst beziehungslos, im eigentlichen Sinne egoistisch. Sie macht den Menschen unfähig, sich mit den Augen seiner Opfer zu sehen und zu beurteilen.« 304 Die Eucharistie kann also für eine Perspektivveränderung sorgen. Sie ist ein ritueller Ausdruck des mystischen Seinsverständnisses, das wir bei Albert Schweitzer und Stephan Grätzel kennengelernt haben (Kap. 2.3.1.). In ihr wird das Wissen um die Ursprünge, das Mitwissen (conscientia) deutlich – eben auch als Wissen darum, Profiteure der Ausbeutung von Natur und anderen Menschen zu sein. Damit berührt sie schon die geschichtliche Dimension der Schuld, insofern ökonomische und ökologische Ausbeutung bereits seit Jahrtausenden geschehen. Es geht nicht darum, eine Lossprechung individueller Verfehlungen oder ›Sünden‹ zu erlangen, sondern eher um das Gewahrwerden dessen, was die lateinamerikanische Theologie der Befreiung als »strukturelle Sünde« oder »Strukturen der Sünde« 305 bezeichnet. Hierbei handelt es sich um Strukturen, die die Menschen erst ›sündigen‹ lassen, die wiederum durch diese ständige Reproduktion ›sündhaften‹ Verhaltens das ›System der Sünde‹ stärken. 306 Dies ist in etwa in einem globalisierten Kapitalismus, wie wir ihn derzeit erleben, gegeben. Reden über die Zukunft des Christentums. München: Kaiser; Mainz: Grünewald 1980 (Gesellschaft und Theologie: Forum Politische Theologie; 1), S. 51–69. Hier: S. 51. 301 Ebd., S. 52. 302 Vgl. ebd., S. 55. 303 Ebd. 304 Ebd., S. 53. 305 Faus, José Ignacio González: Sünde. In: Ellacuría, Ignacio/Sobrino, Jon (Hg.): Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung. Band 2. Luzern: Edition Exodus 1996, S. 725–740. Hier: S. 730. 306 Vgl. ebd., S. 732.
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Jeder Mensch, vor allem die Bewohner der Industrienationen, ist in diese ›sündhaften‹ Strukturen eingebunden und kann kaum anders, selbst wenn er will, als an ihnen zu partizipieren. 307 Die »strukturelle Sünde« hat somit eine subjektive Seite, insofern sie an das Individuum gebunden ist, das, wenn auch unter einer Art ›Systemzwang‹, immer wieder erneut ›sündigt‹. Sie eröffnet jedoch zugleich eine geschichtliche Dimension, insofern mit ihr die über Jahrhunderte gewachsenen Privilegien aufgezeigt werden. Die Eucharistie kann, so verstanden, die Augen öffnen, um sich aus der Perspektive der Opfer der Geschichte zu betrachten. Sie bietet eine Möglichkeit, die GegenErzählungen in die eigene Geschichte aufzunehmen und das individuelle und politische Handeln daran auszurichten. Metz betont diese geschichtliche Dimension. Das »Brot des Lebens« der Eucharistie
Ähnlich nähert sich Karl Rahner der christlichen Rede von der »Erbsünde« an, die er als »unüberholbare Schuldmitbestimmtheit der Freiheitssituation« des Menschen begreift, die »in den Ursprung der Geschichte […] schon immer eingestiftet« sei (Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg: Herder 1976, S. 116). Weiter heißt es: »Wir erreichen das Wissen, die Erfahrung und den Sinn dessen, was Erbsünde ist, zunächst einmal von einer religiösexistentialen Interpretation unserer eigenen Situation, von uns selbst her. Wir sagen zunächst: Wir sind die, die unentrinnbar unsere eigene Freiheit subjekthaft in einer Situation vollziehen müssen, die durch Schuldobjektivationen mitbestimmt ist, und zwar so, daß diese Mitbestimmtheit zu unserer Situation bleibend und unentrinnbar gehört. Dies kann man sich schon an sehr banalen Beispielen verdeutlichen: Wenn man eine Banane kauft, reflektiert man nicht darauf, daß deren Preis an viele Voraussetzungen gebunden ist. Dazu gehört u. U. das erbärmliche Los von Bananenpflückern, das seinerseits mitbestimmt ist durch soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung oder eine jahrhundertealte Handelspolitik. An dieser Schuldsituation partizipiert man nun selbst zum eigenen Vorteil. Wo hört die personale Verantwortung für die Ausnützung einer solchen schuldmitbestimmten Situation auf, wo fängt sie an? Das sind schwierige und dunkle Fragen.« (Ebd., S. 117). Hier wird deutlich, dass die personalen Entscheidungen zwar determiniert sind durch die Schuldverstrickung, der Begriff der »Erbsünde« aber von Rahner keineswegs als vererbte, subjektive und damit einzig moralisch zu bewertende Verfehlung verstanden wird (vgl. ebd., S. 117 f.). So auch Dorothee Sölle: »Der Begriff [der ›Erbsünde‹. Anm. D. M.] ist deswegen so schwierig, weil er mißverstanden wird als ein biologisches Schicksal, durch das man Krankheiten oder genetische Anlagen erben kann. Das ist auch bei Augustinus, der das abendländische Verständnis von Sünde geprägt hat, nicht gemeint. Gemeint ist, daß wir in Zustände hineingeboren sind, in denen wir nicht die Verursacher der Sünde sind, sondern schon immer in der Sünde leben.« (Sölle, Dorothee: Gott denken. Einführung in die Theologie. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1997 (Bd. 1690), S. 77 f.).
307
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»holt gewissermaßen den Tod zurück ins Leben, läßt ihn erneut zu in unserem Leben, damit dieses Leben gerade nicht zum blanken Überleben wird. Es ist ja nicht eigentlich der Tod, der uns uns selbst entfremdet und uns das Leben raubt, sondern die Verdrängung des Todes, die Todesflucht. Diese Todesverdrängung hat uns zu jenen herrscherlichen Wesen der Unterwerfung gemacht, die heute allenthalben an die Grenzen ihres Überlebens stoßen.« 308
Hier wird deutlich, was diese Verdrängung des Todes, der hier, anders als bei Heidegger, immer auch den Tod der Anderen meint, bewirkt, wenn sich der Mensch in seiner als todlos wahrgenommenen präsentischen Realität einrichtet. Er ist unfähig, die Ursprünge seines Daseins zu bedenken und zu bedanken, er lebt in der Illusion nur durch sich und für sich zu leben und hat dementsprechend keinerlei Skrupel, immer mehr von dem zu nehmen, wovon er lebt – ohne eben einen symbolischen Tausch vollziehen zu können. In der Eucharistie, wie Metz sie versteht, wird im Eingedenken gedankt, es kommen die eigenen Ursprünge und Bedingtheiten zu Bewusstsein, mithin die Erkenntnis, dass das Leben mehr ist als das (eigene) Überleben, denn »wo das Leben nur noch auf Überleben zielt, wird auch das bald nicht mehr gelingen. Überleben nämlich werden wir nur, wenn wir uns auf das Leben verstehen. Und so wiederhole ich die Frage vom Anfang: ›Wovon lebt der Mensch? Wessen Brot ißt er? Welche Speise nährt sein Leben?‹ Was fehlt, daß uns das Leben fehlt, daß es jedenfalls schwächer wird, nahezu unsichtbar?« 309
Was fehlt, ist das Eingedenken daran, dass wir von Voraussetzungen leben, die wir nicht selbst geschaffen haben, ist das Bewusstsein, dass wir von anderem Leben leben und unser Leben, auch jenseits des Exzesses, Leid und Tod bringt. Metz betont, dass dem Eingedenken auch ein Handeln folgen muss. 310 Wenn wir die Eucharistie als Opfer und symbolischen Tausch verstehen, werden diese erst in der Praxis erfüllt. Um in der Sprache der christlichen Theologie zu bleiben: Das »Brot des Lebens« ist das Zeichen für den Tausch von Leben und Tod. In ihm wird jenen, die es empfangen, der Tod bewusst gemacht, aber das Leben zurückgegeben. Sie werden symbolisch in einen Todesund Leidenszusammenhang gestellt. Ihnen wird deutlich, dass für ihr
308 309 310
Vgl. Metz: Brot des Überlebens, S. 55. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 63.
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Leben anderes Leben sterben musste (und damit ist nicht in erster Linie der Kreuzestod Jesu Christi gemeint). Sie werden nun befähigt dazu, ein ›neues Leben‹ zu beginnen, ein Leben im Wissen um das Mitwissen – im Wissen um die Daseinsschuld und die geschichtliche Schuld. Ihr Einsatz in diesem Tausch ist dann aber nichts weniger als ihr eigenes Leben. Sie übernehmen schließlich die Stellvertretung, indem sie Schuld, Leid und Tod auf sich nehmen, wie Dorothee Sölle es ausführt, 311 bei ihr allerdings ohne den Zwischenschritt über die Eucharistie. In der Stellvertretung hält erst Christus und in seiner Nachfolge der Mensch den Platz offen, damit Gott in der Welt mit sich identisch werde (und mit ihm die Welt als ›Reich Gottes‹) und der Mensch schließlich selbst zu seiner Identität komme, 312 er also aufgrund des Zustandes der Welt nicht mehr von sich selbst entfremdet ist, wobei die Identität des Menschen eine vermittelte und abhängige bleibt: »Christus hat sich mit Gott identifiziert und sich selber in die Abhängigkeit davon gebracht, daß Gott zu seiner Identität käme. Wer sich mit Christus identifiziert, der vertritt in der gleichen Weise Gott in der Welt, leidend und vorläufig.« 313 Bei Sölle geht diese Identifizierung in der Stellvertretung ganz in der Handlung auf – in der Solidarität mit den Leidenden –, während Metz die Erinne-
Vgl. Sölle, Dorothee: Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem »Tode Gottes«. Stuttgart: Kreuz Verlag 1965, S. 181 ff. 312 Christus sei der ›Vorläufer‹ Gottes (der den ›toten‹ Gott in der Welt vertrete), dem der Mensch nachfolgen könne (vgl. ebd. S. 175 ff.). Sölle sieht in Christus in erster Linie ein Vorbild dafür, das Leid Anderer zu übernehmen. Das heißt für sie, sich mit den Armen und Unterdrückten solidarisch zu zeigen. Er ist im Handeln gegenwärtig und nicht ausschließlich in Glaube und Verkündigung: »Viel weiter als das Bewußtsein von Christus reicht sein Sein, größer als die Kirche ist sein Reich. Denn da Christus es gewagt hat, den abwesenden Gott vorläufig zu vertreten, darum ist nun Christus überall dort impliziert, wo ein Mensch an der Stelle Gottes handelt oder leidet. Was bedeutet das, an der Stelle Gottes handeln und ihn vertreten? Es bedeutet, für die unersetzliche Identität von anderen so einzustehen, daß es ihnen möglich bleibt, identisch zu werden. Vorläufigsein heißt vorlaufen zu den Menschen hin, bevor Gott sie erreicht hat – aber damit er sie erreiche. Eben das hat Christus getan, aber nicht exklusiv.« (Ebd., S. 182). Und weiter heißt es: »Die Chiffre ›Christus‹ ist die Weise, in der Jesus lebendig bleibt bis an der Welt Ende – als das Bewußtsein derer, die Gott vertreten und ihn in Anspruch nehmen füreinander. Der implizite Christus ist dort gegenwärtig, wo sich diese stellvertretende Inanspruchnahme ereignet. Denn nicht nur Christus vertritt Gott in der Welt, auch seine Freunde und Brüder vertreten Gott, indem sie ihm – und das heißt zugleich denen, die ihn brauchen – Zeit lassen.« (Ebd. S. 184). 313 Ebd., S. 199. 311
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rungsarbeit, die vom eucharistischen Eingedenken angestoßen wird, aber darüber hinaus zu leisten ist, betont, die allerdings ebenfalls zum Handeln verpflichtet. Metz lehnt im Gegensatz zu Sölle die Vorstellung eines in und an der Welt leidenden Gottes ab, weil diese Vorstellung letztendlich zu einer Verharmlosung des menschlichen Leidens führe. 314 Metz spricht stattdessen von einem Leiden an Gott, das einem die Augen öffne, sich mit den Opfern der Geschichte zu solidarisieren. 315 Derart verstanden kann die Eucharistie und die aus ihr resultierende Praxis für gläubige Christen eine Vergegenwärtigung ihres InGeschichten-seins sein, die sich ihnen in erster Linie als Leidensgeschichten zeigen. Eine solche Erfahrung bleibt aber eingebunden in die christliche Tradition und ist daher von der Leidensgeschichte Christi nicht zu trennen. Es besteht also die Gefahr, dass die im bewussten Eingedenken des Rituals sich aufdrängenden unwillkürlichen Erinnerungen durch den schon bestehenden narrativen Rahmen verzerrt werden und den Ursprungsbezug existentieller wie geschichtlicher Schuld aufgrund der dem Ritual eigenen Christozentrik letztendlich sogar verstellen, sodass die Eucharistie, anders als Metz es auslegt, am Ende doch nur den Einzelnen an seinen persönlichen Erlöser bindet. Ebenso ist es ein Problem, dass, so Metz, der Tod als Abstraktum ins Leben zurückgeholt werde, nicht aber die Toten und ihre Geschichten. 316 Doch wird auch dieser gedacht und werden sie, verstärkt vermittelt durch das Ritual, als Teil der eigenen Geschichte wahr- und angenommen, dann erfüllt sich das prophetische Symbol des »Brots des Lebens«, insofern es das Leben als Ganzes in den Mittelpunkt stellt, samt seiner vergangenen und künftigen Dimensionen. Eine solche ›Übung‹ kann sicher sensibler machen für jene Geschichten und Schichten von Erinnerung, die in unser Dasein eingewoben sind und immer wieder in der mémoire involontaire aufblitzen. Sie Vgl. in etwa: Metz, Johann Baptist; Sölle, Dorothee: Welches Christentum hat Zukunft? Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel. Stuttgart: Kreuz Verlag 1990, S. 33 ff. Sowie: Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. In Zusammenarbeit mit Johann Reikerstorfer. Freiburg: Herder 2011, S. 20ff. 315 Vgl. ebd., S. 24 ff. 316 Anders als er es später in seinem Konzept der Memoria passionis formuliert. Dort entwickelt er eine leidensorientierte Theologie, mit der er sich an die Seite der Opfer der Geschichte stellt (vgl. Metz: Memoria passionis. Ein provozierendes Kapitel in pluralistischer Gesellschaft). 314
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kann eine Unterstützung sein, sich dem, was unaufhaltsam als Schuldbewusstsein sich aufdrängt, zu stellen – dem Anruf des Gewissens von außen, der der anthropologischen Revolution den Charakter einer Unterbrechung verleiht. 317 In der Eucharistie überkreuzen sich also idealiter bewusstes Eingedenken und mémoire involontaire.
2.3.3. Geschichtliche Schuld Mit einer solchen Übernahme von Leid, Schuld und Tod im Eingedenken und der daraus resultierenden Offenheit für Vergangenheit und Zukunft im Geschichten- und Schuld-verstrickt-sein, kann sich das Individuum als Subjekt seiner Lebensgeschichte behaupten, deren integraler Bestandteil die Leidensgeschichten Anderer sind. Im Eingedenken erscheint die Wirklichkeit als »die Wirklichkeit einer gewesenen Zukunft, die gestiftet, hingegeben und geopfert, für die gestorben wurde. Ist diese gewesene Zukunft meine Gegenwart, so wird sie im Eingedenken zur Pflicht der Übernahme und Weitergabe, denn das Jetzt bekommt die Bedeutung des Wird-gewesen-seins (Futur II), das aber erst dann erlöst ist, wenn es sich gegenwärtig als diese Vergangenheit des Futurs erweist und sich darin auch wirklich als Hingabe gegeben hat.« 318
Das Individuum wird zum Teil der Geschichte, da es auch sein Leben als eines, das gewesen sein wird, begreift, womit es sich selbst als weitergegebener Ursprung künftigen Lebens erfährt, dem es sich hingibt und in dieser Gabe ebenso verpflichtet fühlt wie gegenüber der Vergangenheit, aus der sein Leben geworden ist. Das Eingedenken macht das Wissen zum Mitwissen (conscientia) um das, was über das subjektive Gedächtnis hinaus geht, und stellt als Gewissen die Kontinuität der Geschichte her, »die jetzt schon in der Gegenwart die Vergangenheit mit der Zukunft in der Vergangenheit, dem Wird-gewesen-sein des Futur II zusammenschließt.« 319 Kontinuität bedeutet auch hier keine Nivellierung der Brüche und Abbrüche innerhalb der Geschichte, sondern als Erinnerung des Gewissens gerade eine Besinnung auf die ›verlorene Zeit‹ und auch auf die Leerstellen, die für immer verloren sind, weil sie weder erinnert noch erzählt 317 318 319
Vgl. Metz: Brot des Überlebens, S. 62. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 70. Ebd.
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werden (können). Das Gewissen stellt in der Kontinuität ebenso die Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen heraus, wie in etwa das Fortwirken der kolonialen oder nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gegenwart. Es verpflichtet auf die Gegen-Erzählungen, die notwendig sind, diese Vergangenheit überhaupt wahrzunehmen und ihrem Fortwirken entgegen zu treten. Das Eingedenken zeigt damit die Ganzheit des Lebens als verpflichtenden Schuldzusammenhang (sowohl in existentieller als auch in geschichtlicher Hinsicht) auf, in dem sich der Einzelne entwirft und seine Geschichte als Lebensgeschichte gestaltet, dabei aber »immer schon Teil einer anderen Geschichte [ist], die er als seine Vorgeschichte übernimmt und weiterführt.« 320 2.3.3.1. Das Fundament der Schuldverstrickung: Die Konfrontation mit dem Nicht-Selbstischen Diese andere(n) Geschichte(n), die der Einzelne als seine Vorgeschichte übernimmt und weiterführt, haben wiederum ihre Vorgeschichten. Sie sind ein Geflecht, das verschiedene Vergangenheiten in sich trägt und die gesamte Wirklichkeit durchdringt und auch Artefakte und Dinge miteinbezieht, wie wir schon bei Schapp gesehen haben (Kap. 1.2.). Die Stränge sind unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt Herrschafts- und Siegergeschichten, die den hegemonialen Diskurs bestimmen. Ebenso sind aber auch die Gegen-Geschichten Teil des Geflechts. Sie können entweder im Gespräch mit ihren Subjekten oder deren Nachfahren oder aber vermittelt über das Eingedenken unwillkürlich oder in ritualisierter Form thematisiert und reflektiert werden. Es sind vor allem diese Gegen-Geschichten, die das Subjekt zum Nachdenken anregen und seinen zukünftigen Entwurf bedingen, insofern es sich diesen Geschichten nicht verschließt. Lässt es sich auf sie ein, zwingen sie es zu einer kritischen Hinterfragung seines bisherigen Lebens und zu einer Umkehr auf diese Geschichten hin, anhand derer das Subjekt seinen Lebensentwurf korrigieren kann. Dies ist die Voraussetzung für solidarisches Handeln, das nicht (ausschließlich) das eigene Interesse in den Mittelpunkt stellt. Die Geschichten, mit denen der Einzelne jedoch zuallererst konfrontiert wird, sind die seiner unmittelbaren Umgebung: Die Geschichten seiner Eltern, seiner Großeltern, seiner Vorfahren über320
Ebd., S. 71.
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haupt. Durch deren Erzählungen wird er – im Guten wie im Schlechten – vorgeprägt. Welche Geschichten teilen sie in ihren Erzählungen mit? Was verschweigen sie bewusst oder unbewusst? Wie positionieren sie sich als Subjekte ihrer Geschichten? Reproduzieren sie einen hegemonialen Diskurs oder erkennen sie dessen Gegen-Geschichten an? So haben wir oben darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die ökonomische Grundlage unseres heutigen Wohlstands oftmals die Kolonialgeschichte und mit ihr die Menschen, die einen Großteil dieses Wohlstands erarbeitet haben, verdrängt werden (Kap. 2.3.2.1.). Eine Anerkennung ihrer Geschichten würde ein Schuldverhältnis offen legen, das reflektiert werden und, so weit es eben geht, auch abgebaut werden müsste. Solche Leidensgeschichten ›kratzen‹ an den überkommenen Herrschaftsnarrativen, denn sie zwingen dazu, die eigene Biographie und die Familiengeschichte, in die sie eingebunden ist, zu hinterfragen. 321 Der Einzelne ist jedoch, bereits lange bevor er diese Fragen stellen kann, Teil dieser seiner engeren (Vor-)Geschichte. Nämlich bereits dann, wenn er für seine Eltern beginnt eine ›Rolle zu spielen‹ ; und zwar eine solche, die er nicht selbst gewählt hat. Sobald sich Menschen Gedanken darüber machen, Kinder zu bekommen, werden diese Kinder bereits in die Geschichte – in diesem Fall zunächst einmal in die unmittelbare Geschichte der Eltern und deren Familien – gerufen. Sie sind dann natürlich noch keine Individuen, noch keine Namen. Ungeboren aber knüpfen sie bereits an die Geschichte ihrer Eltern an. 322 Mit ihrer Geburt werden sie selbst zur Geschichte, in der Das Autor_innenkollektiv Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall weist in der Auswertung einer Studie auf die Besonderheiten des Familiengedächtnisses hin, was dessen Konstruktion von bruchloser Kontinuität und Identität angeht. Es werde oftmals eine story konstruiert, die keinen Familienangehörigen in ein schlechtes Licht stellt. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind zwar in den allermeisten Fällen bekannt, die eigene Familie wird aber häufig als unbeteiligt angesehen. So gibt es ein »Lexikon«, in dem die Verbrechen abgespeichert sind, und ein »Album«, das die angeblich ›unbefleckte‹ Familiengeschichte darstellt (vgl. Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschugnall, Karoline: »Opa war kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 2002 (Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe. Hrsg. v. Walter H. Pehle), S. 10 f.). Diese Konstruktion einer fiktiven Vergangenheit geht teilweise so weit, dass die Zeitzeugen der Tätergeneration von Kindern und Enkeln gar als Widerstandskämpfer dargestellt werden, obwohl es dafür keine Belege gibt oder gar das Gegenteil der Fall war. Geschichten, in denen sich die Eltern beziehungsweise Großeltern eindeutig als Täter ausgeben, werden überhört (vgl. ebd., S. 52 f.). 322 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 126 f. 321
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die Vorgeschichte der Eltern aufgenommen wird und weiterlebt. Ihr geschichtlicher Anfang liegt also weit vor ihrer eigenen Existenz. Auch die Eltern haben eine Vorgeschichte, die vor ihre Geburt zurückreicht. 323 Die Kinder sind somit »die Leib gewordene Geschichte« 324 der Geschichte und Vorgeschichte ihrer Eltern. In der Biographie der Kinder ist »Geschichte in Leben (Inkarnation), aber auch Leben in Geschichte (Erinnerung) übergegangen […].« 325 Der Leib selbst ist eine Materialisation von Geschichte, die in der jeweiligen Biographie ausgestaltet wird. Das Leben, das selbst nicht mehr faktisch lebt, lebt in der Erinnerung, sei es eine, die auf einem eigenen Erlebnis beruht oder eine mitgegebene, weiter. Damit ist, wie Grätzel schreibt, »[d]ie aktuelle Existenz […] immer eine Reaktion, eine Antwort auf dessen [des Individuums] Vorgeschichte. In dieser Auseinandersetzung bildet und bewährt sich die individuelle Freiheit und Verantwortung. Das Ich sieht sich hier mit seinem Nicht-Selbstischen konfrontiert, das sein Selbst im hohen Maße betrifft und angeht, weil es sich als der Ursprung des Selbst herausstellt. Die Haltung und Reaktion, die das Ich gegenüber dieser Vorgeschichte einnimmt, ist deshalb von existentieller Betroffenheit geprägt. […] Die Betroffenheit zwingt jedes Individuum, das sich seiner bloßen Existenz bewusst geworden ist, zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte, die in ihm als Leib faktisch geworden ist.« 326
Die Frage ist nun jedoch, wer oder was dieses Nicht-Selbstische ist, das das Ich in ein Verhältnis zu seiner Vorgeschichte setzt und zur Auseinandersetzung zwingt. Das Nicht-Selbstische sind nicht allein die Existenzen der Eltern, da diese ja wiederum Inkarnationen ihrer Vorgeschichten sind. Als (nicht substantielle, aber real erfahrbare) Realisierung all dieser Geschichten geht das Nicht-Selbstische über jede faktische und unmittelbar zugängliche Existenz von anderen Menschen hinaus. Das heißt, es liegt auch nicht als Faktum in diesen anderen Existenzen abgeschlossen vor. Es ist in und mit den anderen Existenzen zunächst noch ›kein Thema‹ und kann zunächst auch nicht thematisiert werden. Es ist, wie Assmann das Speichergedächtnis gegenüber dem Funktionsgedächtnis beschreibt, eine »amorphe
323 324 325 326
Vgl. ebd., S. 127. Ebd. Ebd., S. 127 f. Ebd., S. 128.
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Masse«, 327 das, was nicht in eine story passt, 328 beziehungsweise in diesem Fall noch zu keiner story geworden ist, welche direkt und problemlos verstanden werden könnte. Die Rechtfertigung oder auch (Selbst-)Behauptung des Ich gegenüber seiner Vorgeschichte sei zwar, wie Grätzel weiter ausführt, ein Sich-verstehen; allerdings ohne dass ein konkreter Vorwurf erhoben wäre. 329 Also ohne, dass ein zu identifizierender und chronologisch eindeutiger Beginn innerhalb einer story gesetzt wäre. Weiter oben haben wir ja bereits festgestellt, dass sich eine Erzählung durch Anfang und Ende auszeichnet, die zwar nicht absolut sind, aber die erzählte Zeit und damit die erzählte Geschichte überhaupt erst verständlich machen (Kap. 1.5.). Das NichtSelbstische können also auch jene der Erzählung vorgängigen Handlungen sein, die noch nicht in den Rahmen einer Erzählung eingebettet sind. Der Handlungsbegriff ist dann allerdings nicht wortwörtlich zu verstehen, da es sich ebenso – und in erster Linie – bei den nicht-selbstischen Anteilen der aktuellen Existenz um Unvollendetes, Unverwirklichtes oder Abgebrochenes handelt, das (noch) nicht zur Sprache gebracht wurde, aber seinen das Individuum herausfordernden und es irritierenden Anspruch erhebt, doch noch zu einer Geschichte zu werden. Man kann also sagen, dass die Konfrontation mit dem Nicht-Selbstischen der Beginn des Sich-verstehens überhaupt ist, da mit ihr das Unvergangene der Vorgeschichte(n) in der gegenwärtigen Geschichte aufscheint. Dieses muss versprachlicht werden, damit die Integration in den Verstehenszusammenhang gelingen kann. 330 Das Unvergangene und Unabgeschlossene kann dabei nicht immer in der gegenwärtigen Geschichte abgeschlossen werden. Zwar gibt es durchaus Erzählstränge der eigenen Geschichte, die abgeschlossen werden können und sollen. Diese betreffen allerdings in erster Linie das tatsächlich selbst Erlebte, dessen Ansprüche, insofern kein Anderer existentiell darin involviert war, durchaus zu beruhigen sind. Da aber sowohl die existentielle als auch die geschichtliche Schuld, mit denen uns das Nicht-Selbstische konfrontiert, immer einen Überschuss an Schuld beinhalten, der faktisch nicht (mehr) gesühnt werden kann, liegt das Verstehen dieser Phänomene gerade Assmann: Erinnerungsräume, S. 136. Vgl. ebd. 329 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 128. 330 Vgl. ebd. Grätzel hat diesen Prozess weiterhin in der bereits zitierten Veröffentlichung Versöhnung. Die Macht der Sprache – Ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs umfassend dargelegt. 327 328
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darin, sie in ihrer Unabgeschlossenheit wahr- und anzunehmen. Darin realisiert sich der Anspruch der Vergangenheit an uns, und, wie wir bei Benjamin und Améry gesehen haben, der Wunsch nach einer Umkehrung der Geschichte, die nur im Eingedenken und in der Aufnahme der verlorenen oder abgebrochenen Zeit der Geschichten der Anderen geschehen kann. Grätzel führt mit Verweis auf den Existenzphilosophen Heinrich Barth aus, 331 dass jede Handlung ein solches existentielles Geschehen der Konfrontation mit dem Unabgeschlossenen sei. In jeder Handlung und bereits in jeder Betrachtung oder Feststellung realisieren sich demnach verschiedene Zeiträume als »fiendum-fieri-factum.« 332 Das fiendum zeigt als Gerundivum an, was geschehen soll, das fieri als Deponens das, was geschieht, und das factum als Perfekt das, was geschehen ist. 333 Das fiendum repräsentiert dabei das Drängen des Unabgeschlossenen, das im nur scheinbar abgeschlossenen factum weiterhin Gegenwart und Zukunft beansprucht. Das fiendum ›spricht‹ oder ›ruft‹ aus dem factum und ›sagt‹, dass noch etwas zu tun sei. Es ist daher zu konstatieren, dass sich durch das fiendumfieri-factum bereits in jeder Wahrnehmung und Handlung die Strukturen des Eingedenkens zeigen, in denen die Gegenwart transzendiert wird und ein Schuldverhältnis aufscheint. Zum Ausdruck kommt die Referenz der drei Zeitebenen zueinander dann, wenn etwas oder jemand benannt wird, wie Grätzel weiter ausführt. 334 Das fieri als Moment des aktuellen Geschehens objektiviert das Wahrgenommene als Begriff (und damit im Sinne Schapps bereits als Teil einer Geschichte), womit das Vergangene als factum festgestellt ist. Mit dem fiendum allerdings bleibt selbst in diesem factum das Unabgeschlossene gültig, womit die Benennung oder Bezeichnung den Zeitraum zur Zukunft hin öffnet. Das Unabgeschlossene kann weitergetragen, sprich: weiter erzählt werden. Der Anspruch des Vergangenen realisiert sich im fiendum. Dies kann rein sachlich geschehen: Die Benennung bezeichnet einen Zweck, das Ding erscheint als Wozuding, mit dem es etwas zu machen gilt. Das fiendum kann aber auch ein Befehl sein, 335 den die nicht-selbstischen Barth, Heinrich: Erkenntnis der Existenz. Basel: Schwabe 1965, S. 252 ff. Zitiert nach Grätzel: Versöhnung, S. 71. 332 Grätzel: Versöhnung, S. 71. Sowie: Ders.: Dasein ohne Schuld, S. 126 ff. 333 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 71. 334 Vgl. ebd., S. 71 f. 335 Vgl. ebd., S. 70. 331
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Elemente der aktuellen Existenz an uns stellen. Dies wird deutlich, wenn wir Menschen benennen oder uns auf individualisierte Dinge beziehen, denen ein ideeller Wert zugesprochen wird und die uns – freilich vermittelt über die Erzählungen anderer Menschen – darauf verpflichten, in besonderer Weise mit ihnen umzugehen. Jeder Mensch ›beauftragt‹ uns, ihm anerkennend als Ich-Du zu begegnen. Sein Name, aber auch bereits seine Ansprache an uns, wirkt über die gegenwärtige Begegnung hinaus, insofern das Ich in seiner Geschichte mit ihm umgehen muss und dieser Umgang sich grundsätzlich von einem objektiven, alltäglichen Umgang mit Wozudingen unterscheidet. 336 Denn im anderen Menschen sind weitere Gegen-Geschichten inkarniert, die das Ich herausfordern, und sich unter Umständen gegen die im Ich bereits inkarnierten (Vor-)Geschichten wenden. Mit jeder Begegnung findet so im Prinzip eine (zusätzliche) Rechtfertigung des Ich vor einem Du statt, mit der das Selbst verändert wird und sich erst eigentlich zu verstehen beginnt. 337 Das fiendum-fieri-factum verdeutlicht, dass die drei Ebenen der Erzählung, die wir bereits kennen gelernt haben (Kap. 1.5.), schon in unserem alltäglichen Daseinsvollzug zum Tragen kommen. Sie sind die Grundlage einer Auseinandersetzung mit Geschichte, die »nicht faktisch, sondern dramatisch statt[findet], also in einem Handlungszusammenhang, der aus der Defensive heraus in einen leidenschaftlichen Kampf mit der eigenen Vorgeschichte tritt.« 338 In jeder Begegnung findet dieser ›Kampf‹ statt, weil jede Begegnung mit jenem herausfordernden Nicht-Selbstischen konfrontiert und in jeder Begegnung verschiedene inkarnierte Geschichten aufeinandertreffen. Faktisch ist diese Auseinandersetzung deshalb nicht, weil sie ihre ›Gründe‹ eben im Unabgeschlossenen hat. Freilich ließe sich einwenden, dass, was die geschichtliche Schuld angeht, die Fakten doch schon vorliegen und etwas geschehen ist, das tatsächlich abgeschlossen wurde, sei es der natürliche Tod jener, denen wir unser Leben (biologisch wie gesellschaftlich) verdanken, sei es die faktische Ermordung der Opfer der Shoah. Ein solcher Einwand würde allerdings die vom fienZumindest dann, wenn deren Wozudinghaftigkeit, die ihren gewöhnlichen Gebrauch bestimmt, nicht bereits unterbrochen ist, das heißt die ›barbarischen‹ Anteile ihrer Geschichte noch unentdeckt sind (vgl. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, S. 696). Diese Anteile sind wiederum das Unabgeschlossene des fiendum, das zur Sprache und zur Handlung drängt. 337 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 90. 338 Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 128 f. 336
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dum-fieri-factum ausgedrückte Dynamik übersehen. Er würde das Ressentiment (Améry) übersehen, das auch in den Nachkommen der Täter den Wunsch nach einer Umkehrung der Geschichte wecken kann. Denn mit dem fiendum wird das factum nicht aufgehoben. Es zeigt vielmehr an, dass die Geschichte über ihr (abgeschlossenes) factum weiter wirkt und weiter fordert. 339 Das fieri nimmt diesen Anspruch auf und überführt ihn in ein weiteres fiendum, es knüpft damit ein Sinngeflecht, das dann als factum erzählt und reflektiert werden kann, 340 damit aber wiederum in ein fieri übergeht, das das fiendum als Anspruch oder Befehl aufnimmt und weiterführt, bevor es sich in einem weiteren factum ›setzt‹, mit dem es an andere Geschichten anknüpfen kann usw. Wir sind mit unseren Geschichten aufnehmenden und sie weiterführenden Handlungen also Teil dieses Geschehens und damit verantwortlich dafür, das Unabgeschlossene, das als geschichtliche Schuld auch immer das Ungesühnte ist, in dieser Unabgeschlossenheit zu halten, indem wir es in unserer Geschichte aufnehmen, aus der amorphen Masse (Assmann) des Abgelegten befreien und zum Teil unserer story machen – deren Teil es unthematisiert und unreflektiert ja schon immer ist. Das heißt vor allem an die Brüche anzuknüpfen und nicht an das, was uns bereits als Kontinuität erscheint. Wir sind von den Opfern der Geschichte dazu aufgerufen, nicht bloß – dies gilt insbesondere für den deutschen Kontext – die Geschichten unserer Eltern und Großeltern fortzuführen, sondern in unserem Dasein dramatisch und/oder narrativ den Gegen-Grund gegen diese Geschichten zu behaupten und zu bewähren. Wir sind aufgerufen, die Gegen-Geschichten – man könnte sagen: das Nicht-Selbstische im Nicht-Selbstischen – zu beachten und von dort aus die gegebenen Kontinuitäten kritisch zu befragen.
Das abgeschlossene factum hinsichtlich der Toten und Ermordeten zeigt ja gerade auf, dass ihre Leben faktisch beendet sind (oder beendet wurden), sie also faktisch nicht mehr da sind, aber geschichtlich (im fiendum) weiter wirken (vgl. ebd., S. 158). 340 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 97 ff. Grätzel fasst das Geschehen wie folgt zusammen: »Die menschliche Handlung ist kein Agieren ins Leere, sie hat eine Intention und folgt einem Plan. Dabei steht sie in dem Geschehenszusammenhang einer Geschichte, der sie mit anderen Geschichten verbindet. Als fieri überwindet sie das Nichts und bringt das Noch-nicht zum Ausdruck, in das hinein das fiendum eine konkrete Intention legt. Im factum der Geschichte wird diese Dynamik rekonstruiert.« (Ebd., S. 97). 339
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2.3.3.2. Die Macht der Toten: Schuld und Mythos Die Geschichte(n) wirkt/wirken über das factum als fiendum hinaus. Dasjenige oder diejenigen, die faktisch nicht mehr sind, sind weiterhin in ihren unabgeschlossenen Geschichten. Darin liegt die eigentliche Macht der faktisch Abwesenden, wie Grätzel schreibt: »Die Macht der Toten liegt also in ihrer Machtlosigkeit, nicht mehr faktisch, sondern nur noch geschichtlich anwesend zu sein. Sie sind die Erlösungsbedürftigen, da sie selbst nichts mehr für ihre Erlösung tun können. Vielmehr ist durch ihren Tod ihr Leben für die Nachkommen geopfert worden. Mit diesem Opfer sind sie ihren Vorfahren existentiell verbunden und verpflichtet.« 341
Die grundsätzliche Schuld gegenüber den Toten kann mythologisch verstanden werden, insofern der Mythos die Verschuldung des Lebens gegenüber den Toten verhandelt und auch ihr mögliches geschichtliches Weiterleben thematisiert. 342 Das Leben als In-Geschichten-sein als solches verläuft in dieser mythischen Struktur, 343 weil die aktuelle Existenz, wie dargelegt, eine Auseinandersetzung mit ihrer Vorgeschichte impliziert. Die Mythologie gestaltet als Erzählung des Mythos diese Auseinandersetzung, macht sie erfahrbar, reflektierbar und vermittelbar. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Mythologie hier nicht ausschließlich im klassischen Sinne zu verstehen ist. Jede Erzählung, die auf das Unabgeschlossene der Geschichte eingeht, kann als mythische Erzählung verstanden werden: »Die Geschichte ist nicht vergangen, sondern Geschichte lebt in irgendeiner Form weiter und wird durch die Mythologie immer wieder erneuert bzw. vergegenwärtigt. Der Mythos hat also eine eminent geschichtliche Dimension, und daraus bezieht er auch seine Kraft. Eine fiktive Erzählung, die irgendetwas erzählt und auf solche Ursprünge nicht eingeht, kann in diesem Sinne nicht mythisch sein. Mythisch ist nur das, was geschichtlich ist – das müssen keine konkreten historischen Ereignisse sein, es können auch allgemeine Zusammenhänge sein – und welches sich immer wiederholen kann.« 344
Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 158. Vgl. Grätzel, Stephan: Die Masken des Dionysos. Vorlesungen zu »Philosophie und Mythologie.« Herausgegeben von Joachim Heil; Astrid Schollenberger; Bastian Zimmermann. London: Turnshare 2005 (Philosophische Reihe. Hrsg. v. Joachim Heil), S. 40. 343 Vgl. Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 127. 344 Grätzel: Die Masken des Dionysos, S. 32. 341 342
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Mit Mythos ist daher weniger ein konkreter Inhalt gemeint als vielmehr die Struktur seiner Präsentation und die Gestaltung von Zeit in einer Erzählung. Eine Erzählung ist dann mythisch, wenn sie auch die Gegen-Geschichten aufnimmt, die ihrer Entstehung voraus gehen. Das heißt, wenn sie sich von ihrer Gegenwart in die Vergangenheit begibt und von der erzählten Vergangenheit einen Weg in die Zukunft eröffnet. Wenn im Folgenden von Mythos oder Mythologie als dessen Präsentation die Rede ist, muss dieses Verständnis mitbedacht werden. Es geht nicht darum, ein historisches Ereignis selbst zum Mythos zu erklären, sondern um die Frage, ob die Schemata des Mythos im Sinne einer spezifischen literarischen Darstellungsform zur Erhellung eines Schuldverhältnisses gegenüber dem Vergangenen und den Vergangenen beitragen können; mithin um die Frage, wie sich die Macht der Toten von dieser mythologisch-literarischen Vermittlung ausgehend in der Lebenswelt zeigt und wie ihr Anspruch, das heißt ihre Erlösungsbedürftigkeit, aufgenommen werden kann. Um dies zeigen zu können, kommen wir nicht umhin, uns zunächst jedoch tatsächlich ›klassischen‹ Mythen und Legenden zuzuwenden. Der Mythos nimmt also das fiendum des Unabgeschlossenen auf und bringt es in eine erzähl- und verstehbare Form. Um welche Mythen es sich hierbei handelt, ist zunächst einmal zweitrangig. Denn die Brüche des Lebens, in erster Linie der Abbruch der zwischenmenschlichen Beziehung durch den Tod des Anderen, liegen den meisten ›großen Mythen‹ zugrunde. Dem Mythos geht es im Allgemeinen um die Rechtfertigung des Seins. Er verbindet mit den Ursprüngen, indem er eine Gründungsgeschichte inszeniert. 345 Er hat aber zugleich eine ethische Qualität, weil »diese Erzählung [das heißt die Präsentation des Mythos, die unterschiedliche Formen haben kann. Anm. D. M.] im Sinne einer Darstellung des Ursprungs und der Rechtfertigung der Gegenwart eine Erlösungsformel sucht, d. h. auf eine Heilsvorstellung hinausläuft.« 346 So spielen schuldhaftes Handeln und die Verantwortung dafür vor Anderen (vor Gott oder den Göttern oder vor anderen Menschen) sowohl in biblischen als auch in ›heidnischen‹ Mythen eine ausschlaggebende Rolle. Beispielhaft für einen biblischen Mythos, der dies thematisiert, kann das Geschehen vor, während und nach der Vertreibung der ersten Menschen 345 346
Vgl. ebd., S. 18 f. Ebd., S. 19.
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aus dem Paradies angesehen werden, die ja bekanntermaßen zum Mord an Abel führt (1. Buch Mose 3–4), dem Menschen aber auch ein Paradigma für sein Leben in Freiheit – und das heißt in Schuld – bietet. 347 In der Lurianischen Kabbala findet sich die Vorstellung, dass das Böse in der Welt von zerbrochenen Schalen eines ursprünglichen Schöpfungsgeschehens herrühre, die, zusammen mit den göttlichen Funken, in die Schöpfung eingesprengt seien. 348 Erlösung bedeute nun, dieses ursprüngliche Ganze wiederherzustellen, das heißt die göttlichen Funken vom Bösen zu trennen und zu Gott hinaufzuheben (Tikkun), wozu der Mensch beauftragt sei. 349 Auch in diesem Mythos zeigt sich ein Schuldverhältnis. Einer Urtat (die hier allerdings von Gott und nicht vom Menschen ausgeht) folgt eine fortdauernde Beschädigung, die der Mensch durch sein Handeln zu sühnen habe – bis hin zur Erlösung. 350 Ich möchte keinesfalls behaupten, dass alle Mythen unabhängig ihres Entstehungs- und Tradierungskontextes ein und dasselbe bedeuten und dieselben Lösungswege aufzeigen. Dennoch handelt es sich im Kern wohl immer um einen zur Sprache und in die Erzählung gebrachten Urkonflikt: Die Ordnung des Seins ist grundsätzlich gestört. Der Ursprung des Lebens ist ein Verbrechen, das weiterhin wirksam ist, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, und für das sich die Menschen auch heute noch rechtfertigen müssen. 351 Diese Struktur ist uns inzwischen bekannt: Der Mensch lebt von anderem Leben und er lebt, weil anderes Leben nicht mehr lebt. Er lebt auch in kultureller Hinsicht von Voraussetzungen, die er nicht selbst geschaffen hat und für die er nicht leiden
Nachdem die Generationenfolge mit Set und Enosch eingesetzt war, begannen die Menschen damit, den Namen Adonajs anzurufen (1. Mose 4, 26). Dies kann als ein erster Schritt der Restitution in der Wiederannäherung an Gott gelesen werden, die im Folgenden bekanntermaßen nicht bruchlos verläuft, aber schließlich zum Bund mit Noach (1. Mose 9) und zum Bund mit Abraham führt (1. Mose 17). 348 Vgl. Scholem, Gerschom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt: Suhrkamp 1980 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 330), S. 294. 349 Vgl. ebd., S. 300. 350 Die Judaistin Susanne Talabardon zeigt auf, wie die Aufnahme der Lurianischen Kabbala im Chassidismus Osteuropas zur Ausbildung rigoroser Bußpraktiken führte (vgl. Talabardon, Susanne: Chassidismus. Tübingen: Mohr Siebeck 2016 (Jüdische Studien herausgegeben von René Bloch; Alfred Bodenheimer; Frederek Musall; Mirjam Zadoff. Bd. 2; utb 4676), S. 32 ff.). 351 Vgl. Grätzel: Die Masken des Dionysos, S. 19, S. 39. 347
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oder sterben musste. Der Mythos drückt in der Tat genau dieses Schuldverhältnis aus. Es geht im Mythos, wie Grätzel ausführt, »um einen Generationenkonflikt, um einen Kampf der Generationen, und der Mythos sucht eine Konfliktbewältigung dieses Generationenproblems. Das könnte man als das Ziel des Mythos im Umgang mit Vergangenheit und Tod ansehen. Es geht bei diesem Generationenkonflikt um die Fragen, was die Vorfahren an Geschichte hinterlassen haben, wie das zu bewältigen ist, wie man damit umgehen kann, um Geschichte weiter zu führen.« 352
Deutet man nun die Vorstellung aus der Lurianischen Kabbala als einen solche Generationenkonflikt, der sich dann als Konflikt mit den Hinterlassenschaften vorangegangener Schöpfungen zeigt, dann handelt es sich dabei um eine Auseinandersetzung mit Gott selbst, der den Menschen mit dem Auftrag zum Tikkun als Restitution des idealen Zustands Verantwortung für etwas aufbürdet, was sie selbst nicht verschuldet haben. Tikkun ist freilich noch keine dramatische oder narrative Ausgestaltung des Anspruchs des Vergangenen auf Erlösung. Auf der Handlungsebene ist er jedoch Aufnahme und Auseinandersetzung mit dem unvergangenen fiendum in der gegenwärtigen Geschichte. Außerdem zeigt sich anhand der Legendenbildungen im Umfeld des Chassidismus des 18. Jahrhunderts der Bedarf, den Mythos des Gerechten (des Zaddik), der an der Vervollkommnung (respektive Wiederherstellung) der Schöpfung arbeitet, in eine tradierbare, verstehbare und letztendlich lehrhafte Form zu bringen. 353 Letztendlich steht auch Martin Buber mit seinen Nachdichtungen der chassidischen Legenden in dieser ›mythologischen‹ Tradition. Denn er hatte keinen historiografischen Anspruch, sondern entwarf einen ›Neo-Chassidismus‹, der der jüdischen Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts Orientierung bieten und Identität stiften sollte. 354 Der jüdische Mythos, so Buber, sei von den rationalistischen Strömungen des rabbinischen Judentums verdrängt worden, und habe sich in die Kabbala, die jüdische Mystik, geflüchtet. 355 Der Mythos sei aber nichts weniger als »die lebendige Kraft des jüdischen Gott-Er-
Ebd., S. 41. Vgl. Talabardon: Chassidismus, S. 37. 354 Vgl. ebd., S. 231. 355 Vgl. Buber, Martin: Der Mythos der Juden. In: Ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln: Melzer 1963, S. 78–88. Hier: S. 82. 352 353
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lebens […].« 356 Der Mythos in diesem Sinne handelt also nicht bloß vom Tun und Leiden Gottes oder eines vergöttlichten Menschen als Heros. Vielmehr hat er die im Leben eines jeden Menschen – zumindest potentiell – geschehende Konfrontation mit dem Göttlichen zum Thema sowie »de[n] Einfluß des Menschen und seiner Tat auf Gottes Schicksal.« 357 Vorgänge, die sich in der lurianischen, vom Chassidismus aufgenommenen Lehre der göttlichen Funken, die in der Schöpfung verstreut sind, ausdrücken. Eine Lehre, nach der »das Göttliche in den Dingen schlummert und nur durch den erweckt werden kann, der die Dinge in Weihe empfängt und sich in ihnen heiligt. Die sinnliche Wirklichkeit ist göttlich, aber sie muß in ihrer Göttlichkeit verwirklicht werden durch den, der sie wahrhaft erlebt. Die Schechina [die Einwohnung des Göttlichen in der Welt. Anm. D. M.] ist in die Verborgenheit gebannt, sie liegt gebunden auf dem Grunde jeglichen Dinges, und sie wird in jedem Ding erlöst durch den Menschen, der schauend oder handelnd dieses Dinges Seele freimacht. So ist ein jeder berufen, mit seinem eigenen Leben Gottes Schicksal zu bestimmen; so steht jeder Lebendige tief verwurzelt im lebendigen Mythos.« 358
Hier wird also der Mythos in seiner narrativen Inszenierung als Legende vom Menschen in seinem Handeln aufgenommen und zu einem lebendigen Mythos. Man kann auch sagen: Die Erzählung wird weiter erzählt, wobei das Erzählen hier schon mit der Handlung einhergeht. In ihr erscheint die Welt anders: Das verstreute und verborgene Göttliche wird offenbar. Das Vergangene wird als (zur Wiederherstellung) verpflichtender Grund der faktischen Existenz gegenwärtig. Die Aufnahme des (chassidischen) Mythos ins Leben geht einher mit ethischem Handeln beziehungsweise einer diesem (konkreten) Handeln noch vorgängigen Grundhaltung gegenüber dem Leben als solchem, 359 wie der Tikkun mit seiner Verpflichtung Ebd. Ebd., S. 87. Auf Bubers Interpretation des Chassidismus geht Eva-Maria Heinze in ihrer Dissertationsschrift näher ein (vgl. Heinze, Eva-Maria: Schönheit des Alltäglichen. Zur Ethik des täglichen Umgangs bei Albert Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter. Freiburg: Alber 2016). Sie führt aus, dass der genannte Einfluss des Menschen und seiner Tat auf Gottes Schicksal potentiell in jeder Handlung zu finden ist, mag sie auch noch so unscheinbar erscheinen. Jede Handlung könne eine heilige sein, jedes Ding faktisch ein Gebot (vgl. ebd., S. 191), Gott und Mensch aus dem Exil zu befreien. 358 Buber: Der Mythos der Juden, S. 88. 359 Vgl. Heinze: Schönheit des Alltäglichen, S. 222 f. 356 357
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auf das Alltägliche in besonderer Weise deutlich macht. Man kann hier durchaus an die Refiguration Ricœurs denken (Kap. 1.5. & Kap. 4.3.1.). Grätzel beschreibt das Ziel der Mythologie als »Anwesend-werden-lassen des Vergangenen.« 360 Mythologie ist bereits die Präsentation des Mythos, der das Geschehnis ist, das erzählt wird. 361 Der Mythos von der Zerstörung vormaliger Schöpfungen und der ›Einsplitterung‹ des Göttlichen in der Welt wird also mit seiner Einbindung in die legendenhaften Erzählungen der Chassidim zur Mythologie, welche wiederum das mythische Geschehen lebensweltlich aufzeigt und erfahrbar macht. Mit der Vergegenwärtigung des Mythos durch die Mythologie in der Lebenswelt findet eine »Verwandlung des Gegenwärtigen« statt. 362 Diese betrifft zunächst die Inszenierung des Mythos selbst (sei es, wie in der antiken Tragödie, in dramatischer, oder, wie bei Buber und den Chassidim, in narrativer Form), also die Konfiguration. Mit der Refiguration wird aber auch das Gegenwärtige über die Inszenierung hinaus verwandelt. Diesen Weg der Aufnahme des Mythos in seiner Inszenierung und seiner das Schuldverhältnis enthüllenden Kraft zeigt Ingo Gerhartz am Beispiel der antiken griechischen Tragödie auf. Gerhartz legt mit seiner Dissertationsschrift Tragische Schuld. Philosophische Perspektiven zur Schuldfrage in der griechischen Tragödie eine umfassende Darstellung der Wirkungsweise des Mythos anhand von König Ödipus des Sophokles vor. 363 Dies ist für unseren Begriff von geschichtlicher Schuld deshalb interessant, weil die tragische Schuld, die Gerhartz ausarbeitet, nicht die konkrete moralische, politische oder kriminelle Verschuldung fokussiert, sondern eine Dimension von Schuld freilegt, die über die Ursprungstat hinaus wirkt und transgenerationell ist. Gerhartz versucht, das antike Verständnis von Schuld zu rekonstruieren, und betreibt dafür zunächst einmal Ideologiekritik, die darin besteht, Vorannahmen und anachronistische Konstruktionen zu widerlegen. So könne die Vorstellung von Schuld, wie sie die Tragödie des Sophokles behandle, nicht durch die Brille unseres heutigen, auf subjektive Täterschuld reduzierten Verständnisses gedeutet werGrätzel: Die Masken des Dionysos, S. 41. Vgl. ebd., S. 29. 362 Ebd., S. 41. 363 Gerhartz, Ingo Werner: Tragische Schuld. Philosophische Perspektiven zur Schuldfrage in der griechischen Tragödie. Freiburg: Alber 2016 (Alber-Reihe Thesen; 66). 360 361
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den. 364 Gerhartz zitiert Albin Lesky als einen Wegweiser auf die Frage, wie Schuldfrage und Schuldbegriff (ἁμαρτία) im Ödipus zu klären seien: »Es ist nicht einfach so, daß ἁμαρτία als schuldloser Irrtum dem sittlich verdammenswerten Frevel gegenüberstünde, wir müssen vielmehr antikem Denken folgend eine Schuld annehmen, die subjektiv nicht anrechenbar ist und doch objektiv in aller Schwere besteht, Göttern und Menschen ein Greuel ist und ein ganzes Land verpesten kann.« 365
Wie diese Frage nun – Ödipus betreffend – zu lösen ist: Ob er nun ›unschuldig schuldig‹ sei, ob Hamartia (ἁμαρτία) nun eine (intellektuelle) Verfehlung aufgrund einer Charakterschwäche meine, 366 auf einer triebhaften Unbeherrschtheit beruhe, 367 oder ein unglücklicher Zufall sei, 368 braucht uns nicht weiter zu beschäftigen. Denn eine solche Diskussion über die Grundlage der Schuld ist, übertragen auf Menschheitsverbrechen, unangemessen, da sie nach der Verfasstheit der Täter fragt, die angesichts der Monstrosität ihrer Taten keinerlei ›tragische‹ Rechtfertigung beanspruchen können und dürfen. Ihre Taten sind in jederlei Hinsicht politisch, juristisch und moralisch zu verurteilen und subjektiv definitiv anrechenbar. Auch ein Begriff wie Katharsis, der gemeinhin mit dem Tragischen oder der Tragödie assoziiert wird, erscheint in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick unbrauchbar. Denn Katharsis entstammt ursprünglich dem religiösen Bereich und bezeichnet die Abwaschung einer Befleckung und die damit einhergehende Wiederherstellung kultischer Reinheit. 369 Von Aristoteles wurde dieser Begriff dann auf die Tragödie übertragen und bezeichne, so Hellmut Flashar, »keinerlei moralische, sittlich bessernde Wirkung der Tragödie, sondern meint ihre spezifische Lust […], die darin besteht, daß Schauder und Jammer in der Tragödie zunächst erregt, dann aber auch wieder ausgeschieden werden.« 370 Ein solches Verständnis verbleibt auf der Ebene der Konfiguration. Mit dem Ende der AuffühVgl. ebd., S. 14 f. Lesky, Albin: Die griechische Tragödie. Stuttgart: Kröner 1984, S. 33 f. Zitiert nach Gerhartz: Tragische Schuld, S. 15. 366 Vgl. ebd., S. 122 f. 367 Vgl. ebd., S. 126. 368 Vgl. ebd., S. 138. 369 Vgl. ebd., S. 29. 370 Flashar, Hellmut: Katharsis. In: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hrsg.): His364 365
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rung der Tragödie ist auch ihre Wirkung vorbei. Hier kann man also kaum von einer Schulderhellung sprechen, die auch Konsequenzen auf der Handlungsebene einfordern würde. Ob so das fiendum der geschichtlichen Nachwirkung der Toten ausreichend beachtet und gewürdigt werden kann, ist fraglich. Weshalb beschäftigen wir uns also mit tragischer Schuld? Ein Hinweis auf die Antwort ist im obigen Zitat von Lesky zu finden. In dem als Tragödie inszenierten Mythos wird eine Schuld inszeniert, »die subjektiv nicht anrechenbar ist und doch objektiv in aller Schwere besteht, Göttern und Menschen ein Greuel ist und ein ganzes Land verpesten kann.« 371 Zu der subjektiven Anrechenbarkeit in Bezug auf die Täter haben wir oben alles gesagt. Die Schuld des Ödipus ist hier keinesfalls in ein Verhältnis zu der Schuld der Täter konkreter historischer Verbrechen zu setzen. Diese konkrete Schuld kann nicht mit Verweis auf die mythische Struktur der Tragödie behandelt, aufgenommen oder geklärt werden. Anders sieht es jedoch aus, wenn wir auf die Tradierung geschichtlicher Schuld schauen sowie auf deren Verdrängung. Es hat sich gezeigt, dass Schuld in familiären und kollektiven Narrativen weitergegeben wird. Die Opfererzählungen werden dabei unter Umständen verdrängt, in unangemessener Weise angeeignet oder die eigene Geschichte selbst als Opfergeschichte inszeniert, obwohl dies nicht den historischen Tatsachen entspricht. 372 Alle diese Erzählungen, wie problematisch sie im Einzelnen auch sein mögen, berühren jedoch den Aspekt, den Lesky heraus stellt: Bezogen auf die Nachgeborenen, die selbst keine persönliche Schuld im Sinne krimineller oder moralischer Schuld auf sich geladen haben, ist diese geschichtlich tradierte Schuld subjektiv nicht anrechenbar. Sie werden allerdings mit ihrer verheerenden Wirkung konfrontiert: Die Schuld ist weiterhin mächtig, sie besteht objektiv in aller Schwere, ist den Menschen ein Greuel und verpestet ein ganzes Land. Genau das wird also in der Mythologie – hier in Form der Tragödie – thematisiert: Die Welt ist beschädigt, ohne dass der (nachgeborene) Einzelne etwas dafür kann. Die Tragödie zwingt zu einer Auseinandersetzung mit der Fortwirkung dieser Schuld. In diesem
torisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4: I-K. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2019 (wbg Academic), S. 784–786. Hier: S. 784. 371 Lesky, Albin: Die griechische Tragödie, S. 33 f. Zitiert nach Gerhartz: Tragische Schuld, S. 15. 372 Vgl. Welzer; Moller; Tschugnall: »Opa war kein Nazi.«
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Sinne ist auch die oben behandelte Interpretation der Eucharistie eine mythische Erzählung (Kap. 2.3.2.3.): Sie bettet den Menschen in dieses Schuldverhältnis ein, macht die ›strukturelle‹ und ›geschichtliche Sünde‹ offenbar, deren Ursache nicht eine individuelle moralische Fehlleistung der Angehörigen der gegenwärtigen Generation ist, und öffnet die Augen, was wiederum einen offenen und offensiven Umgang mit der Schuld ermöglicht. Lesky beschreibt mit dem obigen Zitat metaphorisch ziemlich genau die Wirkungsweise geschichtlicher Schuld. Bei Grätzel heißt es dazu: »Hier [in der zweiten und dritten Generation nach der Shoah. Anm. D. M.] wird niemand mehr rechtlich angeklagt, dafür aber wächst eine Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte, die das maßlose Elend in seinem ganzen Umfang zum Vorschein kommen lässt. Erst nach der Verurteilung der Mörder wird die Schuld zur geschichtlichen Schuld. Sie ist eine Erbschuld, die überhaupt erst nach der Sanktion der juristischen und politischen Schuld der Täter bei den Kindern und Enkeln zum Tragen kommt. Geschichtliche Schuld ist nicht nur unbegrenzt, sie verjährt auch nicht und muss von den Nachfahren übernommen werden.« 373
Dieser Wirkungsweise entsprechen die Spezifika tragischer Schuld, die Gerhartz herausstellt. Dies sind Befleckung (Miasma; μίασμα), 374 Ursprung 375 und Ekstase. 376 Die Befleckung ist das Resultat der zugrundeliegenden Tat. Sie wird allerdings weitergeben auf die Umgebung und die Nachkommen. Miasma bezeichne ursprünglich, so Gerhartz, »eine religiöse Unreinheit, welche in der antiken Vorstellung ganz substantiell all jenen anhaftet, die sich an der göttlichen Ordnung vergangen haben, insbesondere durch Tötung eines Menschen oder gar Blutsverwandten. Eine solche Befleckung betrifft nicht nur den Täter allein, sondern kann, wie die Thebanische Plage zu Beginn des Stückes [Ödipus des Sophokles. Anm. D. M.] demonstriert, durch Ansteckung auf die gesamte Polisgemeinschaft übergehen und bedarf einer rituellen Reinigung (κάθαρσις), etwa der Abwaschung mit dem Blut eines stellvertretenden Sühneopfers, in krassen Fällen Verstoßung oder Tod.« 377 373 374 375 376 377
Grätzel: Dasein ohne Schuld, S. 18. Vgl. Gerhartz: Tragische Schuld, S. 150 ff. Vgl. ebd., S. 160 ff. Vgl. ebd., S. 169 ff. Ebd., S. 15.
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Das vergossene Blut schreit aus dem Boden, es schreit ebenso, wie wir mit Schapp und Benjamin festgestellt haben, aus der Architektur, aus der Kunst, ja aus allen kulturellen Artefakten. Es schreit auch dann noch, wenn das Vergehen lange zurück liegt, die Täter längst bestraft oder gestorben sind. Symbolisch gesprochen befleckt der Mörder mit dem Blut seiner Opfer, das ihm an den Händen haftet, seine gesamte Umgebung, in erster Linie aber seine Mitmenschen und Nachkommen, an die er das Miasma weitergibt. Ohne eigenes Zutun können sie durch eine beschmutzende Berührung angesteckt werden, 378 die von außen kommt und ihnen äußerlich anhaftet, für die sie sich also nicht durch eine eigene Willenssetzung entschieden haben. Mit Verweis auf Ricœur 379 erfasst Gerhartz drei Intentionen des Symbols der Befleckung: Positivität, Äußerlichkeit und Ansteckung. 380 Positivität besagt, dass die Befleckung kein Seinsmangel ist, also nicht bloß die Negativität von etwas, das fehlt, sondern eben auf einer ›gesetzten‹ Tat beruht, einem Verbrechen, das als solches anerkannt werden muss. Die Äußerlichkeit bezeichnet, dass die Schuld eine Schuld gegenüber einem Anderen ist. Die Befleckung setzt das Ich also bereits in ein dialogisches Verhältnis. Die Ansteckung wiederum kommt schon im obigen Zitat von Lesky zum Ausdruck: Die Befleckung wird weitergegeben und erstreckt sich auch auf diejenigen, die keine subjektive Schuld am Verbrechen haben – die Befleckung verpestet das ganze Land, die gesamte Gemeinschaft sowie, das muss hier ergänzt werden, die Kultur und Sprache dieser Gemeinschaft, ja ihre gesamte Geschichte. Diese drei Intentionen der Befleckung verweisen auf die beiden anderen Spezifika der tragischen Schuld: auf Ursprung und Ekstase. Im mythologischen Verständnis ist der Ursprungsbezug immer auch ein Verhältnis zu der Instanz, der man sein Leben verdankt und deshalb auch verschuldet, also in erster Linie ein Bezug zu Gott oder den Göttern. Dies muss freilich, da wir hier von geschichtlicher Schuld reden, modifiziert werden. Ursprungsbezug meint für uns einen Bezug zur die Schuld begründenden Tat sowie zu den Opfern dieser Tat. Das Miasma ist ein Zeichen des fiendum, ein Zeichen dafür, dass die Geschichten der Toten und besonders der Ermordeten weiter beVgl. ebd., S. 109. Vgl. Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen (Phänomenologie der Schuld II). Freiburg: Alber 2009, S. 179 f. Zitiert nach Gerhartz: Tragische Schuld, S. 159. 380 Vgl. ebd., S. 159. 378 379
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deuten, wirken und verpflichten. Die Verpflichtung gegenüber dem Ursprung in diesem Sinne macht die Schuld konkret und lässt sie nicht im Diffusen oder Abstrakten verschwinden. Schuld erscheint so als Schuld gegenüber jemandem. Mit diesem Ursprungsbezug zeigt sich der Mythos bereits ekstatisch. 381 Er verweist auf einen Anderen, auf eine Transzendenz, 382 auf das Nicht-Selbstische und auf das Nicht-Selbstische dieses Nicht-Selbstischen. In seiner mythologischen Ausgestaltung artikuliert der Mythos die Erfahrung des Außer-sich-seins des Selbst, 383 das in existentieller Hinsicht seinen Grund nicht in sich selbst hat, und in geschichtlicher Hinsicht einem Anderen gegenüber verpflichtet ist, dessen Leiden das Selbst nicht subjektiv verschuldet hat. Vor dem Hintergrund der Miasma-Ursprung-Ekstase-Struktur der mythischen Erzählung wird auch die vorhin problematisierte Katharsis in ein anderes Licht gerückt. Katharsis ist aus dieser Perspektive kein einmaliger Akt, der quasi spontan von der Befleckung oder einem Schuldgefühl reinigt. Katharsis ist, ganz ähnlich wie der Tikkun, die Wiederherstellung der gestörten Ordnung. Sie ist die Restitution der Bindung an den Ursprung, 384 der in der mythischen Erzählung ganz konkret wird. Sie ist nicht mit einem einmaligen Opfer, mit einer einmaligen Abwaschung des Makels zu erfüllen. Sie geht über die Inszenierung des Mythos hinaus, wirkt also auch dann noch weiter, wenn man das Theater bereits verlassen hat. Katharsis muss im und mit dem Leben bewährt werden. Sie ist Teil der Refiguration. Sie bedeutet eine Um- und Neuerzählung der Geschichte unter Bezugnahme der diese Geschichte durchziehenden Gegen-Geschichten – eben unter Bezugnahme auf das, was über die eigene Geschichte hinausgeht: Die Nicht-Identität des Anderen, die Transzendenz. Damit ist sie quasi unabschließbar beziehungsweise immer wieder neu aufzunehmen. Somit wird den Toten und Ermordeten ihr Leben zwar nicht zurückgegeben. Aber das eigene Leben wird behauptet im Angesicht der Toten und Ermordeten, das heißt unter Aufnahme und Anerkennung ihrer (gewaltsam) abgebrochenen Geschichten. Die mythische Erzählung macht somit das In-Geschichten-verstricktsein in allgemeiner existentieller Hinsicht, aber auch in konkreter 381 382 383 384
Vgl. ebd., S. 164. Vgl. ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 166.
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geschichtlicher Hinsicht deutlich. Es lässt sich sagen, dass der Aufweis der mythischen Miasma-Ursprung-Ekstase-Struktur in einer Erzählung (was hier jede Form der narrativen Gestaltung inklusive Drama und Dichtung, im weiteren Sinne sogar Formen der Liturgie einschließt) die conditio sine qua non ihrer geschichtlichen Relevanz ist – und damit ebenso ihrer ethischen und politischen Relevanz.
2.3.4. Die deutsche Schuld Die Schuld gegenüber den Toten, deren Ansprüche aufgrund des uneingelösten Schuldüberschusses in die Gegenwart als fiendum hineinwirken und, in einer mythischen Erzählung entfaltet, wahrnehmbar und übertragbar gemacht werden können, wird als Schuld gegenüber den Ermordeten, die das Resultat des konkreten Menschheitsverbrechens der Shoah ist, verschärft. Das Miasma, die Befleckung, wird an die Nachfahren der Täter weitergeben. Damit verbunden artikuliert MS die Erwägung, »ob mit wachsender historischer Distanz zunehmend das Bewusstsein des míasma (der Befleckung durch nationale Schuld) an die Stelle der tabuisierenden Schuldabwehr rückt.« 385 Das Miasma der deutschen Schuld würde dann, da es auf die zugrundeliegenden Taten als Ursprung der Schuld und auf das ekstatische Verhältnis zu den Opfern als Opfer der von den Deutschen ins Werk gesetzten Massenvernichtung verweist, dem kollektiven Narrativ, die Mehrheit der Deutschen sei selbst Opfer des Nationalsozialismus gewesen, Einhalt gebieten. 386 Samuel Salzborn bezeichnet hingegen in einer aktuellen Veröffentlichung den »Glaube[n] an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit« als »die größte Lebenslüge der Bundesrepublik […].« 387 Eine kritische Reflexion der Nachwirkungen der deutschen Verbrechen habe zwar tatsächlich im intellektuellen Diskurs einer »kleine[n], gebildete[n], linksliberale[n] Elite« stattgefunden, sei jedoch »im gesamtgesellschaftlichen Raum nur rudimentär verankert […].« 388 Antisemitische Schuldabwehr und »der Mythos einer kollektiven Unschuld der
385 386 387 388
MS: I.C2: Kollektivschuldthese, S. 47. Vgl. ebd., S. 48. Salzborn, Samuel: Kollektive Unschuld, S. 104. Ebd., S. 104 f.
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Deutschen« 389 prägten weiterhin das deutsche Selbstverständnis und würden vor allem in familiären Narrativen vermittelt, 390 seien aber ebenso Teil des kulturellen und medialen Diskurses. 391 Es ist daher umso wichtiger, das In-Geschichten-verstrickt-sein, welches zugleich ein In-Schuld-verstrickt-sein ist, als die eigene individuelle wie kollektive Geschichte konstituierend zu reflektieren und zur Wiederherstellung der ›gestörten Ordnung‹ im eigenen Lebensvollzug beizutragen, in der Hoffnung, dass die Schuldübernahme auch gesamtgesellschaftlich produktiv wird. Zentrales Moment ist das Eingedenken, mit dem die unterdrückte und abgebrochene Vergangenheit in die Gegenwart und zur Erzählung drängt und für eine Perspektivveränderung sorgen kann. Ein solches Eingedenken kann die der geschichtlichen Schuld zugrunde liegenden Leidensgeschichten als Gegen-Geschichten erfahrbar machen und dazu verpflichten, die eigene individuelle wie kollektive Geschichte zu korrigieren. Eine solche Korrektur bedeutet nicht, die eigene Familiengeschichte zu einer Opfergeschichte zu machen (so sie nicht tatsächlich eine solche ist). 392 Das Gegenteil ist der Fall: In der Anerkennung der GegenEbd., S. 89. Vgl. ebd., S. 11. 391 Vgl. das dritte Kapitel der Arbeit Salzborns Kultur und Alltagskultur: die Shoah in Film und Literatur (ebd., S. 45–66). Nachdem mit der US-amerikanischen Serie Holocaust (1979 im deutschen Fernsehen) und Filmen wie Schindlers Liste (1993) und Das Leben ist schön (1997) die Verbrechen der Deutschen und auch die Verbrecher selbst durchaus öffentlichkeitswirksam thematisiert worden waren, konstatiert Salzborn ab den 2000er Jahren eine zunehmende Nivellierung der »historische[n] Differenz zwischen Tätern und Opfern« durch zahlreiche Fernsehproduktionen (ebd., S. 54). 392 Das Autor_innenkollektiv Welzer, Moller, Tschuggnall nennt dieses Verfahren der Inszenierung als Opfer »Wechselrahmung« (vgl. Welzer; Moller; Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«, S. 82). Es werden »Rahmenmerkmale« übernommen, die dem historischen Kontext der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung entstammen, und auf die Geschichte der Familie angewendet, die keiner Opfergruppe angehörte. Neben einer solchen Opferinszenierung von Angehörigen oder Nachkommen der Tätergeneration, die sich damit implizit oder explizit als nicht-jüdische deutsche Opfer auf eine Stufe mit den tatsächlichen Opfern der NS-Verbrechen stellen, gibt es – wenn auch seltener – geliehene oder gestohlene Opferidentitäten, mit denen eine Lebensgeschichte in eine Holocaustbiographie umgearbeitet wird, wie im Fall von Bruno Grosjean, der sich Mitte der 1990er Jahre öffentlichkeitswirksam als Shoah-Überlebender Binjamin Wilkomirski inszenierte. Ulrike Jureit macht darauf aufmerksam, dass dies nur deshalb habe geschehen können, weil »Opferinszenierung […] mittlerweile zur erinnerungspolitischen Norm geworden [ist].« (Vgl. Jureit, Ulrike: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungs389 390
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Geschichten werden erst die Verstrickungen der eigenen Familie erkannt. Die klare Trennung des Familiengedächtnisses in ein »Lexikon«, das die Verbrechen auflistet, und in ein »Album«, das die scheinbar unbefleckte Familiengeschichte abbildet, 393 kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Dies ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite verpflichtet die Anerkennung der Gegen-Geschichten dazu, in einem gesellschaftlichen Kontext auf die Subjekte dieser Geschichten zu verweisen. Die gesamte geschichtliche Überlieferung steht dann im Schatten dieser Gegen-Geschichten und muss sich vor ihnen rechtfertigen. Jegliche Wissensproduktion müsste die Schattenseiten dieses Wissens reflektieren und die Frage stellen, auf wessen Kosten dieses Wissen zustande kam. Jede Behörde müsste sich ihrer Geschichte stellen und auch die nach 1945 begangenen Fehler eingestehen sowie, soweit dies noch möglich ist, diese korrigieren. Die Liste aller Möglichkeiten und Notwendigkeiten aufzuführen, wäre müßig. Fest steht, dass die Schuld gegenüber den Ermordeten weitaus schwerer wiegt als die Schuld gegenüber den Toten im Allgemeinen. Ein Umgang mit ihr ist daher weit schwieriger, gilt es doch auf der einen Seite würdig zu gedenken und auf der anderen Seite einen Missbrauch dieses Gedenkens, der nicht immer bewusst und in böser Absicht geschehen muss, zu vermeiden. 2.3.4.1. Fallstricke deutscher Erinnerungskultur Auf derlei Schwierigkeiten, Fallstricke und fragwürdige Entwicklungen innerhalb der deutschen Erinnerungskultur(en) weisen Ulrike politischen Rampenlicht. In: Jureit, Ulrike; Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta 2011, S. 17–104. Hier: S. 25). Aleida Assmann spricht im Zusammenhang mit Grosjean/Wilkomirski von »Identitätspathologie[…].« (Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 149) Als ein aktuelleres Beispiel einer solchen kann womöglich der 2019 aufgedeckte Fall der Journalistin und Bloggerin Marie Sophie Hingst gelten, die sich fälschlicherweise als Enkelin einer Shoah-Überlebenden ausgab, und deren Tod eine medienethische Debatte auslöste (vgl. Schneider, Annika: Tod von Bloggerin Marie Sophie Hingst. Die große Verantwortung der Journalisten. Deutschlandfunk, 29. 07. 2019. URL: https://www.deutschlandfunk.de/tod-von-bloggerin-marie-sophie-hingst-diegrosse.2907.de.html?dram:article_id=455008 (aufgerufen am 24. 03. 2021)). Welche Motivationen auch immer für die Übernahme einer fremden Opferidentität genannt werden mögen: Auf jeden Fall stellt sie einen schmerzhaften Affront gegenüber den tatsächlichen Opfern dar. 393 Vgl. Welzer; Moller; Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«, S. 10 f.
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Jureit und Christian Schneider in Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung hin. 394 Die Autor_innen untersuchen in erster Linie die Versuche zur Vergangenheitsbewältigung der ersten und zweiten Generation nach der Shoah und deren Wirkung auf gegenwärtige erinnerungskulturelle Konzepte. Vor allem bei den Kindern der Angehörigen der Tätergeneration stellen sie das Bedürfnis fest, sich in der Abgrenzung zu den eigenen Eltern mit den Opfern der NS-Verbrechen zu identifizieren. Die Kinder der Angehörigen der Tätergeneration begegneten ihrer familiär tradierten Gewaltgeschichte mit einer Gegen-Identifizierung und übertrugen das Täter-Opfer-Schema auf ihre damalige Situation: Sie empfanden sich als Opfer des von den Eltern getragenen »bundesdeutschen faschistischen Systems«, in dem nun sie die Position der jüdischen Opfer einnahmen. 395 Es gab sicherlich nachvollziehbare Gründe – und eben nicht zuletzt die nationalsozialistischen Kontinuitäten der alten Bundesrepublik –, das damalige ›System‹ zu kritisieren und für Alternativen zum weiterhin wirksamen Adenauer-Konservatismus einzutreten. Dennoch musste eine solche Gegen-Identifizierung den Opfern des Nationalsozialismus Hohn sprechen, implizierte sie doch eine Verharmlosung der Verbrechen. Doch sei es nun diese Struktur des gefühlten Opfer-seins, die die Erinnerungspolitik normativ präge. 396 Jureit verdeutlicht dies am Berliner Holocaust-Mahnmal, dessen Konzept es vorgesehen habe, sich sinnlich in den »Terror der Einsamkeit« der Opferexistenz einzufühlen. 397 Damit werde der Tod in Auschwitz architektonisch simuliert und die zweite Generation offenbare »damit das gesamte Verharmlosungs- und Verleugnungspotential ihres opferidentifizierten Erinnerungskonzepts.« 398 Jureit macht hier auf einen wichtigen Punkt aufmerksam, den jedes Nachdenken über Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns einbeziehen sollte: Die Unmöglichkeit der Einholung des subjektiven Empfindens der Opfer. Hier gibt es immer eine Leerstelle, auf die Erinnerungskultur hinweisen sollte. Die Beziehung zu den Ermordeten im EingeJureit, Ulrike; Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta 2011. 395 Vgl. Jureit, Ulrike: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht. In: Jureit; Schneider: Gefühlte Opfer, S. 17– 104. Hier: S. 27. 396 Vgl. ebd., S. 25. 397 Ebd., S. 29. 398 Ebd. 394
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denken bricht ab, sobald das Leiden ihrer Leidensgeschichten subjektiviert werden soll. Sie entziehen sich und sind nur noch Spur ihrer selbst. Ob das Berliner Mahnmal diesen Abbruch nun übersieht oder geradezu zu verdecken versucht, wie Jureit unterstellt, sei dahingestellt. Immerhin gab es Positionierungen während der Planungsphase des Mahnmals, die versuchten, gerade die Differenzerfahrung herauszustellen, mit der ein sinnlich-ästhetischer Ausdruck konfrontieren könne und solle. So bemerkt Hajo Funke, dass der Entwurf des Architekten Peter Eisenman es ermöglichen könne, der Opfer »um ihrer selbst willen zu erinnern«, 399 also gerade nicht die eigenen Emotionen und (Selbst-)Bestätigungen in Form einer gefühlten Identifizierung in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Verweis auf Walter Benjamin führt er aus: »Solidarität mit den Gewesenen heißt dann, ihre Erinnerung zu retten, sie vor dem Vergessen zu bewahren und auch vor dem Konformismus der Sieger und deren späterer Vereinnahmung noch ihrer Opfer. Derjenige, der die Vergangenen vor dem Konformismus rette, tue dies, weil er für sie, für diese Vergangenen, sich verantwortlich fühlt. Es geht insofern um eine Parteinahme über das Gedenken dieser Vergessenen. Wenn auch vor Auschwitz geschrieben [Benjamin hat seine Thesen kurz vor seinem Tod 1940 verfasst. Anm. D. M.], so hieße dies nach Auschwitz auch: die Opfer nicht zu instrumentalisieren. Es geht um sie, nicht um uns, und erst recht nicht um die Opfer als Medium nationaler Selbstfindung.« 400
Bei einer solchen anamnetischen Solidarität, für die auch Micha Brumlik im selben Band eintritt, 401 geht es durchaus um eine Übernahme der Perspektiven, Wünsche und Bedürfnisse der Ermordeten in die eigene Lebensgeschichte, 402 aber eben nicht derart, dass diese zur Bestätigung des Eigenen oder zur Reinwaschung der Familiengeschichte instrumentalisiert werden, sondern auf die Problematiken der familiären wie kollektiv-nationalen Geschichte hinweisen. Ihre Perspektive kann nie einfach die eigene werden, aber doch die eigene Funke, Hajo: Andere Erinnerung. Zur Ästhetik und Kultur des Gedenkens. In: Brumlik, Micha; Funke, Hajo; Rensmann, Lars: Umkämpftes Vergessen. WalserDebatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik. Berlin: Das Arabische Buch 2000, S. 168–173. Hier: S. 172. 400 Ebd., S. 173. 401 Vgl. Brumlik, Micha: Der Sinn des Holocaustdenkmals zu Berlin. Überlegungen zum Mahnmal. In: Brumlik; Funke; Rensmann: Umkämpftes Vergessen, S. 174–177. 402 Vgl. Funke: Andere Erinnerung. Zur Ästhetik und Kultur des Gedenkens, S. 172. 399
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in einem anderen, kritischen Licht erscheinen lassen. Ein solidarisches Eingedenken stellt an die Seite der Opfer, macht einen jedoch nicht selbst zu einem Opfer. 403 Die schuldbehaftete, tradierte Gewaltgeschichte der Eltern, Großeltern und mittlerweile Urgroßeltern kann nicht einfach als das ›andere‹ der eigenen Geschichte abgespalten werden. Die anderen Geschichten sind und bleiben die Geschichten der Ermordeten. Wir haben bereits gesehen, dass das Nicht-Selbstische als Aufnahme der und kritische Positionierung zu den Geschichten der Vorfahren weiterhin auf das Nicht-Selbstische dieser Geschichten in Form ihrer Gegen-Geschichten verweist (Kap. 2.3.3.1.). Im deutschen Kontext sind dies auch und in erster Linie die Geschichten derer, die unter den Handlungen der eigenen Vorfahren zu leiden hatten. Das Verdienst Jureits ist es, darauf hingewiesen zu haben, dass es Formen der aneignenden Identifizierung mit jenen Gegen-Geschichten gegen das Nicht-Selbstische der Eltern gibt, die zwar zur Konfrontation mit überlieferter Schuld führen, dieAleida Assmann weist in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Jureits und Schneiders Thesen darauf hin, dass Jureit mit ihrer Kritik an einer die Grenzen zwischen Selbst und Anderem auflösenden Überidentifikation nicht zwischen einer »opfer-identifizierten« und einer »opfer-orientierten« Erinnerung unterscheide: »Während […] sich die Deutschen nicht anmaßen können, sich mit den jüdischen Opfern zu identifizieren, um sich mit ihnen gemeinsam selbst als Opfer zu fühlen, ist es nicht nur möglich, sondern auch durchaus angemessen, dass sie empathisch mit den Opfern fühlen.« (Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck 2013, S. 65) Letzteres betone die Differenz zwischen dem Selbst und dem Anderen, anstatt sie aufzulösen. Im Folgenden verteidigt Assmann die »normative Haltung der deutschen Erinnerungskultur zum Holocaust«, die »nicht durch Identifikation, sondern durch eine Form von Empathie bestimmt [ist], die durchaus Platz lässt für das Bewusstsein, selbst nicht dem Volk der Opfer anzugehören. Diese Haltung der deutschen Holocaust-Erinnerung ist opferorientiert, aber nicht opferidentifiziert, denn hier spielt die Täterperspektive ja gerade eine nicht zu eliminierende Rolle.« (Ebd., S. 66) Diese Haltung ist zunächst durchaus als Errungenschaft zu betrachten, allerdings müssen ihre Ambivalenzen herausgestellt werden. Denn sie läuft Gefahr, zu einem »Gedächtnistheater« zu werden, in dem der Opfergruppe eine festgelegte Rolle zugedacht wird, der sie vor dem Hintergrund der Entlastung der Nachfahren der Täter zu entsprechen habe, womit die Opfer ihrer Individualität beraubt und zum Instrument für die Mehrheitsgesellschaft werden (vgl. Bodemann, Michal Y.: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg: Rotbuch-Verlag 1996, S. 176 ff.). Innerhalb dieses »Theaters« findet dann auch nicht zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit den für die eigene Identität bedeutsamen Gegen-Geschichten statt. Opfer- wie Täterperspektive werden so zu Abstrakta, die in individuellen wie kollektiven Realitäten keine produktive Wirkung entfalten können.
403
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se aber in der Generation der Eltern oder Großeltern belassen und von der eigenen Biographie abspalten, sodass man sich als ›Spätgeborener‹ einer höheren moralischen Position vergewissern kann – man wähnt sich immerhin ebenso als Opfer der Eltern oder Großeltern wie die tatsächlichen Opfer der Taten ihrer Generation. Man gehöre zu den ›Guten‹, nicht nur im individuellen, sondern auch im kollektiven Verständnis, denn Deutschland habe gelernt und sei aufgrund dieses Lernprozesses in moralischer Hinsicht gereinigt. Gedenkakte bestätigen lediglich diese inzwischen ›selbstverständliche‹ Position. 404 Jureit konstatiert für die gegenwärtige Gedenkkultur daher folgerichtig: »Hier herrscht die Abstraktion von Entrüstungs- und Betroffenheitsrhetoriken, hier wird reproduziert und wiedergekäut, hier ist der Bruch, an den zu erinnern vorgegeben wird, längst durch das moralisch einwandfreie Gesinnungsbekenntnis geglättet.« 405 So haben wir es dann dezidiert nicht mit einer Übernahme von geschichtlicher Schuld zu tun, sondern mit ihrer Abwehr. Damit aber verliert die Erinnerungskultur »ihr beunruhigendes, ihr subversives Potential […].« 406 Denn die Taten und deren Opfer, die ›Gegenstand‹ des Erinnerns sind, betreffen einen nicht mehr selbst. Dies offenbart ein Verständnis von Schuld, das die Schuld auf die subjektiv zu verantwortende Täterschuld reduziert. Erinnern erweist sich so als »subtile Entlastungsstrategie […].« 407 Und obendrein als solche, die noch nicht einmal funktioniert und auch nicht funktionieren kann, da die geschichtliche (tradierte) Dimension der Schuld verdrängt bzw. geradezu sakralisiert wird. Das heißt, die Auseinandersetzung mit dieser verkürzt wahrgenommenen Schuld wird auf einen ritualisierten, immer wiederholten und wiederholbaren Akt reduziert, der eine Erlösung verspricht, die er nicht einhalten kann. Denn im Gegensatz zur vorgelegten Interpretation der Eucharistie, die nun auch nicht kritiklos anzunehmen ist (Kap. 2.3.2.3.), findet keine vergegenwärtigende Übernahme statt, die dazu verpflichtet, sich der Schuldverstrickung auch über das Ritual hinaus zu stellen und sich immer wieder, auch im Alltag, unterbrechen zu lassen. Die Unterbrechung ist hier ganz auf den quasi-sakralen Akt beschränkt und auch dort keine Vgl. Jureit: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung, S. 35. Ebd. Die Autorin gebärdet sich jedoch keineswegs als ahistorische Anklägerin. Denn sie betont, dass diese Prozesse durchaus notwendig waren, sie jedoch nicht als überzeitliche Norm festgeschrieben werden können (vgl. ebd., S. 35 f.). 406 Ebd., S. 36. 407 Ebd., S. 37. 404 405
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eigentliche Unterbrechung mehr, da die Art und Weise zu gedenken normiert und vorbestimmt ist. Jureit stellt diese Sakralisierung des Gedenkens als Überkreuzung von von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft falsch verstandenem jüdischem Erinnerungsgebot und christlichem Erlösungsversprechen dar, die säkularisiert auftrete und überdies hinsichtlich ihres religiösen Ursprungs nicht reflektiert werde. 408 Daraus ergebe sich der Imperativ, möglichst häufig und möglichst intensiv (mittels jener emotional vermittelten Opferidentifikation) zu erinnern, um schließlich mit der Erlösung von der Schuld dafür belohnt zu werden. 409 Man kann durchaus Parallelen zur oben skizzierten missverstandenen Katharsis ziehen (vgl. Kap. 2.3.3.2.). Das Ergebnis ist ein circulus vitiosus: Normiertes, vorgegebenes Gedenken wirkt verpflichtend, erscheint aber allzu häufig als entleertes, selbstbezügliches, weil die Opfer übergehendes, dem (nationalen) Wohlbefinden dienliches Bußritual. Je häufiger derart ›erinnert‹ wird, desto notwendiger erscheint die Wiederholung eines solchen ›Erinnerns‹, weil mit jedem wiederholten Akt aufscheint, dass das eigentliche Anliegen aus dem Blickfeld gerät. Dies soll nun quantitativ ausgeglichen werden: Gedenken wird so zu einem Zwang, den es abzuarbeiten gilt, der aber auch nach getaner Arbeit weiterhin besteht. Jureit spricht von »einer Art rasendem Stillstand, der nicht vergehen kann.« 410 Die Produktivkräfte geschichtlicher Schuld werden als scheinbar abgeschlossenes factum in vorgegebene Erinnerungsräume und Erinnerungszeiten gebannt. Diese zu betreten hat sakralen Charakter, bewirkt damit aber auch, dass die Räume und Zeiten, an und zu denen erinnert werden soll, in sich verschlossen bleiben. Es gibt eine klare Trennung von sakralem Gedenken und diesem enthobenem profanen Alltag. Es soll hier keineswegs gegen solche festgelegten Räume und Zeiten polemisiert werden. Sie haben ihre Berechtigung und können aufgrund ihrer eindeutigen kalendarischen oder geographischen Markierung für einen gesicherten Background sorgen, dessen Resonanzen allerdings über diese Eingrenzungen hinweg aufgenommen werden müssen, um die Erstarrung im Ritual – den rasenden Stillstand – Vgl. ebd., S. 40 ff. Vgl. ebd., S. 42. 410 Ebd., S. 42. Die Autorin grenzt sich damit von den relativierenden Auslassungen des Historikers Ernst Nolte ab, wie sie in einer Fußnote anmerkt (vgl. Jureit; Schneider: Gefühlte Opfer, S. 219). Von diesen wird weiter unten noch die Rede sein (Kap. 2.3.4.3.). 408 409
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aufzubrechen. Dafür müsste das Gedenken als Eingedenken und das heißt: dialogisch verstanden werden. Dies impliziert, dass das im Eingedenken aufgebaute Verhältnis zur Vergangenheit, die Überkreuzung der Zeiten, je neu geschieht und sich nicht eins zu eins wiederholen lässt. Die Konstellation ist immer anders und immer überraschend. Ein normiertes Gedenken verstellt eine solche Wahrnehmung – und es verstellt die Refiguration, die Teil des Eingedenkens ist: Die Integration des Anspruchs der Opfer in die je eigene Lebensgeschichte, im Bewusstsein dessen, dass es Elemente gibt, die nicht integriert werden können und auf die als Leerstellen, die jede Kontinuität unterbrechen, hingewiesen wird. 411 Wenn Jureit nun behauptet, dass ein kollektives Gedächtnis »keinem Identitätsmotor [gleicht], den man nur am Laufen halten muss, um zu erfahren, wer man ist[,]« 412 so hat sie recht, insofern das kollektive Gedächtnis eben auch von jenen Erinnerungen gespeist Assmanns Vorschlag eines »dialogischen Erinnerns«, für das sie auf supranationaler europäischer Ebene plädiert (vgl. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 195–203), scheint auf ähnlichen Voraussetzungen zu beruhen: »Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt (Stichwort: Selbstviktimisierung), nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid ins eigene Gedächtnis mit auf. Dialogisches Erinnern meint dabei keinen auf Dauer gestellten ethischen Erinnerungspakt, sondern das gemeinsame historische Wissen um wechselnde Täter- und Opferkonstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte. Ein vereinigtes Europa braucht kein einheitliches, wohl aber ein kompatibles europäisches Geschichtsbild. Es geht dabei keineswegs um ein vereinheitlichtes europäisches Master-Narrativ, sondern allein um die dialogische Bezogenheit und gegenseitige Anerkennung und Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbilder.« (Ebd., S. 199) Jedoch besteht auch hier die Gefahr einer Zementierung kollektiver Identitäten, insofern die Leerstellen, die der uneinholbare Anspruch der Opfer aufreißt, innerhalb einer gesamteuropäischen Erinnerungsgemeinschaft ihres empörenden Potentials entledigt werden können. Schließlich kann auch die Forderung nach Kompatibilität eines europäischen Geschichtsbilds nivellierend und beruhigend wirken, sodass die Geschichten der Opfer letztendlich ebenso zur Selbstlegitimierung einer Gemeinschaft dienen, wie es im normativen Gedenken auf nationaler Ebene der Fall ist. Das Problem würde so meines Erachtens lediglich auf die europäische Ebene verschoben, zumindest dann, wenn die grundsätzliche Inkompatibilität und Inkommensurabilität der Gegen-Geschichten nicht reflektiert wird. Ebenso kann, auch wenn dies sicherlich nicht die Intention Assmanns ist, die Rede von »wechselnde[n] Täter- und Opferkonstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte […]« (ebd., S. 199) dazu verleiten, die spezifische Schuld der Deutschen an der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg zu relativieren, insofern diese als Verbrechen neben anderen Verbrechen unter einer gemeinsamen europäischen Geschichte subsumiert werden. 412 Jureit: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung, S. 53. 411
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wird, die sich nicht regulieren lassen, es also nicht mechanisch abläuft und immer wieder die gleichen, gewünschten Ergebnisse liefert. 413 Individuelle wie kollektive Identitäten werden im Eingedenken also immer wieder herausgefordert und umgebildet. Eine Zentrierung des Gedenkens auf die Geschichten der Opfer, für die Funke und Brumlik eintreten, bedeutet eben gerade nicht, dass die Identität dessen, der gedenkt, unverändert durchgehalten wird. Das Gedenken als Eingedenken soll nicht zur Bestätigung des ohnehin Vorausgesetzten dienen, sondern dessen Irritation, das Über-denken und eine Umkehr hin zu den Opfern bewirken. Eine Kritik am Erlösungsversprechen, das die Erlösung derjenigen, die gedenken, forciert, ist demnach unbedingt notwendig. Aber kann denn angesichts der Shoah überhaupt von einer Erlösung die Rede sein, auch wenn diese die Toten miteinbezieht, wie Benjamin vorschlägt, auf dessen Thesen sich Funke und Brumlik beziehen? Denn immerhin können die Verbrechen der Vergangenheit faktisch nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Angesichts dieser Tatsache scheint alle Rede von Erlösung zweifelhaft. Brumlik weist darauf hin, dass der vielzitierte, dem ›Gründer‹ des Chassidismus, Israel ben Eliezer, genannt Baal Schem Tov, zugeschriebene Ausspruch »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« gewöhnlich um die ihm vorausgehende Aussage »Das Vergessen verlängert das Exil« reduziert werde. 414 Brumlik skizziert im Folgenden jene chassidische Vorstellung des Tikkun, die wir oben bereits kennen gelernt haben: »Erlösung, d. h. die Heilung der Welt bedarf der Menschen tätigen Frömmigkeit, eines Tuns, das die göttlichen Funken aus ihrer Verbannung befreien, Gott selbst nach Hause bringen und mit ihm die Welt erlösen wird. Das Exil, von dem hier die Rede ist, ist das Exil Gottes in der Welt, ein Exil, das nur löst, wer in Andacht und Tat dieser Verbannung gedenkt. Die Kühnheit dieser Spekulation, die alle herkömmliche Frömmigkeit umdreht und die Menschen Gott erlösen läßt, ist längst nicht ausgeschöpft.« 415
Das kollektive Gedächtnis schließt als Vorform des kulturellen Gedächtnisses noch jene ungeordneten, in sozialen Beziehungen und Codes vermittelten Inhalte ein, die das kulturelle Gedächtnis im Speichergedächtnis verwahrt und unter Umständen ›vergisst‹. Zur Kritik an Jan und Aleida Assmanns Konzeption des kulturellen Gedächtnisses, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. Jureit: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung, S. 54–76. 414 Vgl. Brumlik: Der Sinn des Holocaustdenkmals zu Berlin, S. 174. 415 Ebd., S. 175. 413
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So verstanden ist Erlösung nicht einfach ein passives Geschehen, das den Menschen ›von oben‹ als Belohnung für das Erinnern zugesprochen wird. Erlösung bezieht sich hier nicht auf die Menschen oder die Schöpfung allein, sondern zuallererst auf Gott. In einem selbstbezüglichen Bußritual, in dem es dem Büßer (auch wenn dieser als Individuum ein Kollektiv wie die Bundesrepublik vertritt) nur um seine eigene Reinwaschung geht (oder die des Kollektivs, welches durch ihn repräsentiert wird), hätte ein solches Erlösungsverständnis keinen Platz. In der christlichen Theologie ist ein ähnlicher Prozess als produktive Eschatologie bekannt. Zwar ist es hier an Gott, die Erlösung herbeizuführen. Dies tue er jedoch nicht, ohne dass die Menschen an einer innerweltlichen Zukunft schaffend arbeiteten. 416 Implizit anknüpfend an Benjamins These, dass erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden sei, aber auch vorher schon möglichst viele Erzählungen gesammelt und erzählt werden sollten (als menschlicher Anteil am Erlösungsgeschehen), 417 formuliert J. B. Metz: »Die Erlösungsgeschichte nimmt ja nicht aus der Solidarität der geschichtlich Existierenden heraus, sie fügt vielmehr eine verdrängte Gestalt dieser Solidarität hinzu. Sie will dazu befreien, auf die Leiden und Hoffnungen der Vergangenheit zu achten. Es gibt im Lichte dieser Erlösungsgeschichte nicht nur eine ›Solidarität nach vorn‹, mit den kommenden Geschlechtern, sondern auch eine ›Solidarität nach rückwärts‹, eine praktische Erinnerungssolidarität mit den tödlich Verstummten und Vergessenen.« 418
Mir geht es nun nicht darum, erinnerungskulturelle Praktiken zu retheologisieren oder metaphysisch einzubetten. Ich denke allerdings, dass die Perspektive auf eine Erlösung – eschatologisch verstanden als Position, in der die gesamte Geschichte inklusive aller einzelnen Leidensgeschichten sich zeigt – unabdingbar ist für ein solidarisches Eingedenken, auch wenn sie ›innerweltlich‹ nicht zu erreichen ist. 419 Vgl. Rahner, Karl; Vorgrimler, Herbert: Eschatologie. In: Dies.: Kleines theologisches Wörterbuch. Unter Mitarbeit von Kuno Füssel. Stuttgart: Herder 1983 (Herderbücherei; 557), S. 116–117. Hier: S. 116. 417 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 694. 418 Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz: Grünewald 1977, S. 115. 419 Vgl. Kracauers »theological argument« (Kracauer, Siegfried: History. The Last Things Before the Last, S. 136). 416
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Doch dies muss die Orientierung bleiben: Die Orte und Zeiten des Leidens und die konkreten Opfer wahrnehmbar zu machen, was die Benennung der konkreten Taten und Täter einschließt. Dies ist weniger ein theologischer, an bestimmte Glaubensüberzeugungen gebundener Vorgang, als vielmehr ein narrativer und hermeneutischer (wenn es auch ein heuristischer bleibt, da die Menschheit eben noch nicht erlöst ist). Eine solche ›eschatologische Perspektive‹ bedeutet, durch die Solidarität mit den Toten und Ermordeten offen zu sein für einen der Konvention und dem Konformismus abgerungenen Überlieferungszusammenhang, 420 der einen an die Forderung der Toten und Ermordeten bindet, aber zugleich dazu befreit und befähigt, die Geschichte zu hinterfragen und anhand der verdrängten Gegen-Geschichten neu auszurichten. Eingedenken wäre dann keine Projektion der eigenen Verstehensweisen auf die Geschichten und Identitäten der Opfer, sondern vielmehr eine von der Unterbrechung bewirkte Neuausrichtung des eigenen Verstehens und der eigenen Verortung durch die unmögliche Identifikation mit den Opfern. Die Teilhabe des Menschen am Erlösungsgeschehen in diesem vor-eschatologischen Sinne würde selbst nicht schon Erlösung, aber doch Lösung bedeuten: Das Eingedenken befreit sowohl die Opfer als auch diejenigen, die gedenken, von der Konvention der Herrschaftsgeschichte, indem es eine Differenz zu denjenigen artikuliert, derer gedacht wird und aus dieser Differenz heraus die Leidensgeschichten der Anderen als integrale Gegen-Geschichten der eigenen Geschichte erfahrbar und (weiter-)erzählbar macht, sodass sie im und mit dem eigenen Leben bewährt werden können. Christian Schneider legt im zweiten Teil von Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung 421 ein alternatives Konzept des Erinnerns vor, das er ebenfalls als eine Lösung beschreibt. Er orientiert sich dabei am griechischen Begriff ›Lysis‹. Dieser bezeichne ein Lösen oder Auflösen, zunächst im mechanischen Sinne, in etwa das Lösen eines Gürtels, aber auch das Lösen eines Problems. Auffällig sei, dass er als verschiedene Formen von ›Lysis‹ oder dem Verb ›lyo‹ als Metapher des Todes oder des Sterbens verwendet
Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 695; Funke: Andere Erinnerung. Zur Ästhetik und Kultur des Gedenkens, S. 173. 421 Vgl. Schneider, Christian: Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik. In: Jureit; Schneider: Gefühlte Opfer, S. 105–212. 420
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werde. 422 Schneider überträgt Lysis nun auf die affektive Ebene und setzt es in Bezug zum Prozess des Trauerns und der darin enthaltenen Komplementarität von Bindung und Trennung. 423 Eine lytische Trauer sei die Anerkennung des Verlustes, also der absoluten Trennung von etwas oder jemandem, zu dem zuvor eine enge Bindung bestand. Man steuere dem Prozess des Verschwindens eine Kraft bei, das Geliebte verschwinden zu lassen: 424 »Das lytische Handeln konstatiert das unausweichliche Verschwinden im Tod des Anderen, seinen endgültig erledigten Gegenwartsbezug, und fügt ihm gewissermaßen sein – durchaus widerstrebendes – Einverständnis hinzu. ›Es geschehen lassen‹ ist die Formel für den diesseitigen Anteil am Prozess des Verschwindens. Lysis bedeutet in diesem Sinn das Gegenteil von ›Ungeschehenmachen‹.« 425
Der Wunsch nach einer Zeitumkehrung, nach jenem »Ungeschehenmachen« verschwinde nicht, werde aber »aus der quälenden Schlaufe der dauernden Wiederholung gelöst […].« 426 Es wird mit der Lysis also anerkannt, dass die Toten faktisch tot sind und dieses Faktum reflektiert werden muss, um Abschied nehmen zu können, auch wenn der Wunsch bestehen bleibt, es möge anders sein. Schneider übersieht dabei jedoch, wenn er den »endgültig erledigten Gegenwartsbezug« betont, den Unterschied zwischen faktischer Abwesenheit der Toten aus der Gegenwart und ihrem geschichtlichen Fortwirken im fiendum der unabgeschlossenen Geschichte. Beides korreliert aber miteinander. Eine Anerkennung der Faktizität des Todes der Anderen sowie der Ursache ihres Todes bedeutet zugleich die Übernahme ihrer unabgeschlossenen Geschichten in das gegenwärtige Leben. Alles andere wäre eine Verdrängung, eine Abirrung ins bloß Tatsächliche, ins Faktum oder ins Sakrale, Mechanismen, die Jureit und Schneider zu Recht aufbrechen möchten. Es ist, gerade im zweiten, von Schneider verfassten Teil der Untersuchung, eine seltsame Ambivalenz festzustellen: Einerseits wird das geschichtliche Fortleben der Ermordeten mit Verweis auf eine in ihrer Reduktion auf die Nachkommen der Täter zu Recht kritisierte und in dieser Konzeption fragwürdig erscheinende Erlösungshoff422 423 424 425 426
Vgl. Jureit; Schneider: Gefühlte Opfer, Anmerkung 11 auf Seite 247. Vgl. Schneider: Besichtigung eines ideologisierten Affekts, S. 178 f. Vgl. ebd., S. 185. Ebd., S. 186. Ebd.
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nung zurückgewiesen. 427 Anderseits wird aber das Fortleben der Ermordeten in ihrer Abwesenheit – was nichts anderes ist als ihr geschichtliches, aber nicht faktisches Fortwirken im fiendum – weiterhin behauptet, allerdings auf von der Psychoanalyse beeinflusste IchStrukturen reduziert. Lytische Trauer ist für Schneider eine »Selbstreflexion im verlorenen Anderen.« 428 Er untersucht, wie es geschehen konnte, dass der von der Elterngeneration dämonisierte, verfolgte und letztendlich vernichtete Andere – der Andere in einem schlicht antagonistischen Sinne – für die zweite Generation zum geliebten Anderen wurde, den es gar zu imitieren, dessen Identität es zu übernehmen galt. 429 Die gewonnenen Erkenntnisse sind zunächst durchaus überzeugend und entsprechen auch dem Anspruch der vorliegenden Arbeit. So gelte es in der »Selbstreflexion im verlorenen Anderen« dessen Differenz – die sich jeder aneignenden Identifikation entziehende Nicht-Identität – als Anerkennung des Anderen herauszustellen. 430 Dazu gehört sicherlich auch, die Konstruktion von Andersheit (verstanden als Othering) zu bedenken, die jenen zum Verhängnis wurde, die im Rahmen der nationalsozialistischen Ideologie als ›die Anderen‹, das heißt als die nicht der rassistisch definierten deutschen ›Volksgemeinschaft‹ Zugehörigen, galten. Denn diese Konstruktion ist konstitutiver Teil der tradierten Gewaltgeschichte. Der Andere kann nicht zum anerkannten Anderen werden, ohne dass wir – die Nachfahren der Angehörigen der Tätergeneration – auf den ausgeschlossenen und verfolgten Anderen reflektieren. Schneider unterscheidet Andersheit als Fremdheit von Andersheit als Differenz. 431 Die Konstruktion von Fremdheit, die den Anderen als ›gefährlich‹ und ›minderwertig‹ der Verfolgung und Vernichtung preisgab, sei nun von der zweiten Generation in der Identifikation mit den Opfern übernommen worden, immerhin sah man sich ebenso als von den Eltern verfolgt. 432 Dies musste aber zwangsläufig dazu führen, dass man die eigene familiäre und kollektive Geschichte abspaltete. Eine Anerkennung der Differenz der Anderen (und, so muss man sagen, ihrer (Leidens-)Geschichten) bedeutet nun, die eigene Position als Nachkomme der Angehörigen der Tätergeneration mit in das 427 428 429 430 431 432
Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 190 f. Vgl. ebd., S. 195. Vgl. ebd., S. 188. Vgl. ebd., S. 190 f.
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Denken über die Gewaltgeschichte einzubeziehen. Die Anderen sind im Nationalsozialismus nicht ›einfach so‹ Opfer geworden. Sie wurden dies, weil sie konstruierten Kriterien unterlagen, durch die sie zu Verfolgten gemacht wurden. Sie sind daher zu unterscheiden von jenen Toten, die im Laufe des Krieges umgekommen sind, aber nicht zuvor als ›gefährliche‹ Fremde kategorisiert worden waren. Diese und die Überlebenden des Krieges haben auf individueller Ebene Leidenserfahrungen gemacht, die ihnen sicherlich nicht abzusprechen sind: Als (zwangs-)rekrutierte Soldaten an der Front, als Vertriebene in den letzten Kriegsmonaten, als Bewohner zerbombter Städte. Aber sie waren eben keine zuvor Ausgestoßenen, keine der Vernichtung Preisgegebenen und obendrein waren sie Teil der Vernichtungsmaschinerie, auch wenn nicht alle von ihnen grundsätzlich ideologisch überzeugt waren. Die Differenz als Anerkennung der Ermordeten markiert also auch den notwendigen Unterschied zu den nicht-jüdischen und nicht anderweitig ideologisch ausgegrenzten deutschen Leidtragenden des Krieges. Auch diese Tatsache gilt es narrativ aufzunehmen und erinnerungskulturell zu berücksichtigen. 433 Die eigenen Vorfahren waAleida Assmann macht auf eine Erinnerungspolitik aufmerksam, die diese Trennung zu nivellieren versuchte und auf die ideologisch motivierte Politik der ersten Generation und ihres damaligen Repräsentanten Helmut Kohl zurückzuführen ist. 1992 wurde der Erinnerungsort der Neuen Wache Unter den Linden in Berlin umgeschaffen und unterschiedslos »den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet: »Diese Opferkategorie führt deutsche Soldaten, Widerstandskämpfer, Heimatvertriebene, Bombengeschädigte und Vergewaltigte mit den ermordeten Häftlingen der Konzentrationslager zusammen. In diesem grenzenlosen Gedenken einer universalen Viktimisierung wird mit der Differenz von Opfern und Tätern auch die Erinnerung aufgehoben. Was bleibt, ist ein allgemeines katastrophisches Schicksal, das alle teilen, und ein vages Pathos, das jeder Besucher des Denkmals nach eigenem Bedarf füllen kann.« (Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 76) Ein ähnliches Projekt war für den damaligen Regierungssitz Bonn geplant. Auch hier sollte ein ›integriertes Mahnmal‹ entstehen, das unterschiedslos aller Opfer gedenken sollte, damit aber eben auch Täter zu Opfern gemacht hätte. Ralph Giordano kritisierte diese Pläne scharf und sah sie zu Recht als Ausdruck einer »zweiten Schuld«, eines ›Schlussstrichs‹. Er schrieb von einer »unstatthaften ›Versöhnung‹« und stellte fest: »Diese von einem völlig unautorisierten ›versöhnenden Gedanken‹ [unautorisiert deshalb, weil die tatsächlichen Opfer des Nationalsozialismus nicht an der Konzeption beteiligt waren; Stichwortgeber des Bonner Projekts war der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Anm. D. M.] beschworenen Toten sind weder aus denselben Gründen umgekommen noch in denselben Gräbern bestattet worden – ganz abgesehen davon, daß Millionen Ermordete nie auf eine Weise bestattet wurden, die den Namen Grab verdient hätte, sondern buchstäblich in Rauch aufgingen oder in Mas-
433
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ren – wenn sie eben nicht zu einer im Nationalsozialismus verfolgten Gruppe gehörten – keine Opfer in diesem bestimmten und definierten Sinn. 434 Lytische Trauer wäre also die Anerkennung all dieser schmerzhaften und nicht umkehrbaren Tatsachen – eine angenommene Lösung von vereinfachenden und schmerzlindernden Vorannahmen. Von der Vorannahme, mit den Opfern identisch sein zu können ebenso wie von der, dass die eigene Familie keine Schuld auf sich geladen
sengruften geworfen worden sind.« (Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg: Rasch und Röhring 1987, S. 326). Anhand solcher Gedenkkonzepte zeigt sich, auf welch fatale Art und Weise der Begriff ›Versöhnung‹ (miss)verstanden werden kann: Als Relativierung, die den tatsächlichen Opfern in letzter Konsequenz ihr Leiden abspricht (denn wenn alle gleichermaßen gelitten haben, gibt es keine Opfer, derer in einer besonderen Weise gedacht werden müsste). 434 Hier sei noch einmal auf die »Wechselrahmung« des Autor_innenkollektivs Welzer, Moller, Tschuggnall verwiesen, die eine Übernahme von Rahmenmerkmalen der von Verfolgung und Vernichtung Betroffenen in die eigene Familiengeschichte bedeutet (vgl. Welzer; Moller, Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«, S. 82). Die der Untersuchung zu Grunde liegende Repräsentativumfrage aus dem Jahre 2002 zeigt zudem auf, dass, auch wenn keine Narrative tatsächlich Verfolgter übernommen wurden, in der deutschen Gesamtbevölkerung die Vorstellung vorherrscht, dass die eigenen Familienangehörigen zumindest keine Täter gewesen seien und in vielen Fällen gar als Regimegegner, Widerständler oder Helfer von Verfolgten gesehen werden (vgl. ebd., S. 246 ff.). Die Autor_innen resümieren: »Der Befund, dass zwei Drittel aller repräsentativ Befragten das Leid der eigenen Angehörigen im Krieg betonen, unterstreicht unseren Befund, dass in der Bundesrepublik die offizielle Gedenkkultur und das private Erinnern extrem unterschiedlich ausfallen. Wer auch immer schuld am Holocaust war, wer auch immer die Verbrechen im Vernichtungskrieg, im Zwangsarbeitssystem und in den Lagern begangen hat – eines scheint für fast alle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger klar: Opa war kein Nazi!« (Ebd., S. 248) Setzt man diese Erkenntnis mit der Einschätzung von Jureit und Schneider in Beziehung, so müssen jene Angehörige der zweiten Generation, die sich gegen die eigenen Eltern mit den Opfern identifiziert haben und nach der persönlichen Schuld der Eltern gefragt haben (wenn diese dann auch nicht als geschichtliche bewusst übernommen wurde), in der Minderheit gewesen sein. Diese Minderheit prägt allerdings die Erinnerungskultur in den späteren Jahrzehnten maßgeblich, womit die von Welzer, Moller und Tschuggnall konstatierte Differenz zwischen offizieller Gedenkkultur und privatem Erinnern zu erklären wäre (vgl. hierzu auch die Einschätzungen Salzborns: Kollektive Unschuld, S. 11, S. 104 f.). Möglicherweise wirkt hier aber auch noch ein anderer Effekt: Die Schuld, die von jener kritisch fragenden Minderheit in deren Elterngeneration belassen, also nicht als geschichtliche reflektiert und übernommen wurde, führte in ihrer weiteren, derart ›halbierten‹ (das heißt das fiendum im factum übersehenden) Tradierung schließlich zur vollständigen ›Entschuldung‹ der Großelterngeneration, die nun mit den Verbrechen überhaupt nicht mehr in Verbindung gebracht wurde (und wird).
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habe. Eine Lösung aber auch von dem strafbereiten Über-Ich, 435 das dieses opferidentifizierende Gedenken erst fordert, mit schlechtem Gewissen bestraft, wenn dies nicht geschieht, und bei erfolgtem Gedenken eine Erlösung verspricht, die es nicht geben kann. All diese Fluchtpunkte sind verloren. Der Verlust jedes Anderen, das beruhigt, anstatt zu verunsichern, sei als quasi-persönlicher Verlust anzunehmen. Dann sei auch mit der Irritation umzugehen und eine kritische Realitätsbefragung ohne diese Realität verzerrende Projektionen möglich. 436 Die retrospektiven Wünsche, mit denen wir die Vergangenheit beladen (also vor allem der Wunsch nach ihrer Umkehrung), seien zwar legitim. Aus einer solchen »posthumen Ethik des historischen Konditionalis« 437 müsse allerdings folgen, »die Differenz anzuerkennen, die zwischen dem mächtigen Wunsch, die Geschichte hätte anders sein sollen, und dem besteht, was sinnvoll unter Trauer über eine fehlgelaufene, schreckliche und mörderische Geschichte zu verstehen wäre. Denn nur dies schützt vor den verständlichen, aber unproduktiven nachträglichen Reaktionen auf sie, die uns heute als Verlangen nach einem Ungeschehenmachen auf der einen und einer kryptotheologischen Erlösungshoffnung auf der anderen Seite entgegentreten. Beides sind Spielarten der Realitätsverleugnung.« 438
Spielarten der Realitätsverleugnung sind diese »nachträglichen Reaktionen« dann, wenn sie zur moralischen Beruhigung gebraucht werden oder als emotionale Katharsis missverstanden werden. Produktiv können sie hingegen sein, wenn sie das faktisch Beendete als Auftrag, die Geschichten der Toten und Ermordeten narrativ weiterzuführen und mit ihnen die Geschichte gegen den Strich zu bürsten, aufnehmen und so Vergangenheit und Gegenwart in ein Verhältnis zueinander bringen, durch das die Ermordeten ihrer Relevanz für die Zukunft versichert werden. Denn die Geschichte ist eben noch nicht zu Ende, auch wenn sie von allzu und viel zu vielen gewaltsam abgebrochenen Geschichten durchzogen ist. Schneiders Vorschlag ist berechtigt, um die individuellen wie kollektiven Voraussetzungen für eine Orientierung an den Leidensgeschichten der Opfer zu klären. Aber letztendlich bricht die Auf- und Übernahme geschichtlicher 435 436 437 438
Vgl. Schneider: Besichtigung eines ideologisierten Affekts, S. 207. Vgl. ebd., S. 211 f. Ebd., S. 211. Ebd.
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Schuld in seiner Konzeption beim schmerzhaften Eingeständnis ab, »dass es so gewesen ist, wie es war« und »retrospektiv das Wünschen nicht helfen kann.« 439 Doch stellt sich so nicht in der Tat die Frage, weshalb man überhaupt noch gedenken sollte? Oder aber Einsicht und Annahme des Schmerzes würden gerade zu jenen Gedenkpraktiken führen, die Jureit und Schneider kritisieren: Der eigene Schmerz würde in den Mittelpunkt gerückt, das eigene Leiden an der Geschichte. Die Leidensgeschichten der Opfer aber würden unbeachtet bleiben oder Mittel zum Zweck, diesen Schmerz zu ›erleben‹. Um dies zu vermeiden, ist die von Metz geforderte »Solidarität nach rückwärts« so bedeutend. Denn diese fordert nun gerade nicht, sich versöhnlichen, retrospektiven Erlösungsvorstellungen hinzugeben, ›als ob nichts gewesen sei.‹ Sondern sie behauptet und bewährt die Geschichten der Opfer in Gegenwart und Zukunft. Erlösung erscheint als narrativer Horizont einer Geschichte, die noch nicht vorbei ist – die also noch gelebt und erzählt werden will; und zwar nicht trotz, sondern wegen der Leidensgeschichten der Ermordeten. Sie ist damit keine Nivellierung der Verbrechen, sondern ein Ausblick auf eine letzte Gerechtigkeit, die innerweltlich – also faktisch – nicht zu erlangen ist, uns aber nichtsdestoweniger verpflichtet, die Geschichten der Opfer in unsere Leben miteinzubeziehen und in ihnen wahrnehmbar zu machen. Würden wir uns ganz von diesen Vorstellungen verabschieden, wofür Jureit und Schneider plädieren, müssten wir zugestehen, dass die Leidensgeschichten und mit ihnen die Ermordeten letztendlich dem Vergessen anheimfallen – und für uns und die uns Nachfolgenden irrelevant sind. 2.3.4.2. Muttersprache – Mördersprache Schuld in allen ihren Dimensionen findet, das haben wir immer wieder gesehen, ihren Ausdruck in der Sprache. Nur sprachlich kann sie thematisiert werden, nur in der Sprache finden Austausch, Bruch und Versöhnung statt. Nur durch die Sprache ist ein Eingedenken, in dem sich die Zeiträume überschneiden und das Vergangene gegenwärtig wird, möglich. 440 Dies gilt auch dann, wenn das Eingedenken noch nicht Versprachlichtes aufruft. Denn auch dieses drängt zur Sprache und will erzählt werden, da es sonst im Nichts verschwände. Mit jeder 439 440
Ebd., S. 212. Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 157.
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Handlung, die immer auch an ihre sprachliche Realisierung gebunden ist, auch wenn dies oft unbewusst bleibt, wird das Nichts überwunden und ein Band geknüpft. 441 Diesen engen Zusammenhang von Schuld und Sprache hat bereits Jaspers erkannt (Kap. 2.1.). Der Deutsche ist mitverantwortlich für die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht allein deshalb, weil er aufgrund seiner Staatsangehörigkeit zu einem politischen Kollektiv gehört, das diese Verbrechen begangen hat. Auch seine Muttersprache bindet ihn an die Schuld. 442 Améry berichtet über seine Lagerhaft und beschreibt eindrücklich, wie mit der Pervertierung und Enteignung der deutschen Literatur, Kultur und Sprache durch die Nationalsozialisten seine Identität zerbricht (Kap. 2.2.). 443 Seine deutsche Muttersprache blieb beschädigt, das Französische aber konnte nicht ihren Platz einnehmen. Er wurde damit zu einem Heimatlosen und zwar nicht ausschließlich deshalb, weil ihm eine Heimat im physischen oder geographischen Sinne fehlte, sondern weil er Fremder in der eigenen Sprache geworden war. 444 Die deutsche Sprache sei, wie George Steiner in Das hohle Wunder (1959) konstatiert, auch Jahre nach dem Krieg tot geblieben. 445 Sie werde im Deutschland des Wirtschaftswunders nicht mehr gelebt, sondern nur noch gesprochen. 446 Seine Diktion macht deutlich, dass Sprache weit mehr ist als Kommunikation, weit mehr als nur der Austausch von Informationen, weit mehr als bloßes Gesprochenwerden. Sprache korreliert mit Leben, Erleben und der aus diesem Erleben sich ergebenden Erfahrung. Sie ist die Matrix, in der dies alles überhaupt erst stattfinden kann, die also die Beziehungen setzt, anstatt sie bloß nachzuvollziehen. 447 Dementsprechend schwerwiegend sind die Konsequenzen, wenn diese primäre Setzung korrumpiert ist. »Geistige Prozesse«, so Steiner, würden »zu mechanisch festgelegten Gewohnheiten (tote Metaphern, feststehende Vergleiche,
Vgl. ebd., S. 88 ff. Vgl. Jaspers: Die Schuldfrage, S. 53. 443 Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 32 ff. 444 Vgl. ebd., S. 104 ff. 445 Vgl. Steiner, George: Das hohle Wunder. In: Ders.: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Schriften 2. Berlin: Suhrkamp 2014 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2122), S. 155–176. Hier: S. 155. 446 Vgl. ebd., S. 157. 447 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 159. 441 442
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Schlagworte, leere Redensarten).« 448 Mit der Sprache erlahmt also der Geist: »die Sprache schärft nicht mehr das Denken, sondern verwässert es.« 449 Wo die Sprache nicht mehr gelebt werde, »wird sich ein lebenswichtiger Bestandteil einer Zivilisation nicht mehr erholen.« 450 Dieser Zustand sei nun in Deutschland eingetreten, weshalb »dort inmitten des Wunders der materiellen Wiederauferstehung geistig eine derart tiefgreifende Totenstille [herrscht], ein so ausgeprägter Hang zur Trivialität und Verstellung.« 451 Sprache und Geschichte korrelieren. Die historische Verfasstheit eines Sprachraums schlage sich in der Sprache nieder. Die deutsche Sprache sei am lebendigsten gewesen, bevor es einen einheitlichen deutschen Staat gegeben habe. 452 Die Reichseinigung 1871 habe zu einer »Verpreußung der Sprache« 453 geführt, der sich nur Außenseiter und Exilierte hätten erwehren können. Doch zur Norm für die Mehrheit der Bevölkerung sei nun eine Sprache geworden, die aus Klischees, Schlagworten, Pathos und Täuschung bestand und die Moral der Formalität unterordnete. 454 Dies habe es den Nazis leicht gemacht, aus der deutschen Sprache eine politische Waffe zu schmieden: »Es ist kein bloßer Zufall, daß ein Hitler, ein Goebbels, ein Himmler deutsch sprachen. Das Nazitum fand in dieser Sprache genau vor, was es brauchte, um seiner Grausamkeit Stimme und Nachdruck zu verleihen. Hitler vernahm in seiner Muttersprache die latente Hysterie, das geistige Durcheinander, die Eigenschaft zur hypnotischen Trance, er tauchte mit untrüglichem Gespür ins Unterholz dieser Sprache, in jene Zone des embryonalen Aufschreis und der Finsternis, die der artikulierten Rede vorangehen und sich bilden, bevor das Wort sich einstellt. Er spürte in der deutschen Sprache eine andere Musik als die von Goethe, Heine oder Mann auf; eine rauhe [sic!], krächzende Kadenz, halb nebuloses Kauderwelsch, halb Gossenjargon. Und das deutsche Volk, anstatt sich ungläubig und angeekelt abzuwenden, gab dem Gebrüll des Mannes einen massiven Widerhall. Das Echo kam zurück aus Millionen Kehlen und Marschtritten. Ein Mann wie Hitler hätte in jeder Sprache ein Reservoir an Giftstoffen und moralischer Unbildung 448 449 450 451 452 453 454
Steiner: Das hohle Wunder, S. 156 f. Ebd., S. 157. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 158 f.
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vorfinden können, nur standen sie ihm nirgends so bequem zur Verfügung, lagen nirgends so nahe an der Oberfläche der Umgangssprache.« 455
Was Steiner hier als »Zone des embryonalen Aufschreis und der Finsternis, die der artikulierten Rede vorangehen und sich bilden, bevor das Wort sich einstellt […]« problematisiert, scheint mir jene primäre Setzung von Beziehungen zu sein, die die Sprache des Nazismus auf Klischees und Ressentiments bezieht. Fraglich ist, ob dies geschieht, »bevor das Wort sich einstellt.« Wäre dies so, könnte es sich kaum um eine primäre Setzung von Beziehungen durch Sprache handeln. Nichtsdestoweniger ist die Beobachtung, dass Sprache hier direkt an Instinkte anzuknüpfen versucht, beachtenswert. Doch sind diese wiederum schon sprachlich vorgeprägt. Jene »Zone des embryonalen Aufschreis und der Finsternis« ist bereits ein sprachlicher Horizont, auch wenn er zunächst nicht als ein solcher zu Bewusstsein kommt und eher als ›reine‹ Emotion sich zeitigt. Es handelt sich hier vielleicht sogar um einen Widerspruch innerhalb der Argumentation Steiners. Denn wie sollte ein »Reservoir an Giftstoffen und moralischer Unbildung« bereits »nahe an der Oberfläche der Umgangssprache […]« aufzufinden gewesen sein, wenn jenes quasi erst durch das Eindringen in das »Unterholz der Sprache« und als Appell an niederste Instinkte, die vorsprachlich seien, herauf beschworen werden müsste? Vielmehr ist es die korrumpierte und ideologisch pervertierte Matrix der Sprache des Nazismus selbst, die ihrerseits Ressentiments, Hass, gesteigert bis zum Willen zur Auslöschung, beschwört. Natürlich gibt es dann, wenn diese Sprache zur Totalität wird, eine Wechselwirkung mit den Emotionen. Dennoch ist es die Sprache, die den Hass setzt und erst zum Ausdruck bringt und nicht umgekehrt. Nur so kann sie als politisches Instrument wirken. Victor Klemperer analysiert diesen Prozess ausführlich in seinem zur Standardlektüre gewordenen Werk LTI. Notizbuch eines Philologen (1947) anhand zahlreicher Beispiele. 456 LTI, die Lingua Tertii Imperii, das ist die Sprache des ›Dritten Reichs‹, die während der nationalsozialistischen Diktatur Leben und Denken formierte und nach 1945 weiter
Ebd., S. 161. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich. Ditzingen: Reclam Taschenbuch 2018 (Reclam Taschenbuch Nr. 20520).
455 456
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wirkte; 457 und, so lässt sich sagen, auch heute noch wirkt. Die deutsche Sprache ist noch immer angereichert, Begriffe sind besetzt, Konnotationen wirken fort, auch oft unbedacht und unbewusst. Kennzeichnend für die LTI ist ihre Omnipräsenz. Klemperer beschreibt, dass der Alltag durch Plakate, Radiosendungen, Gespräche etc. von ihr durchdrungen war. Ein unausweichliches Signifikanten-Netz der LTI. Doch sei die unbewusste Aufnahme ausschlaggebend gewesen (man kann sagen: die primäre Setzung von Beziehungen, die noch jedem einzelnen Zeichen als deren ›Nachvollzug‹ zugrundeliegt): »[D]er Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden«. 458 Diese Sprache bestimmt Denken und Fühlen, sie »steuert mein ganzes seelisches Wesen« 459 und vergiftet es schließlich. Die LTI bediente sich durchaus der Sprache vor 1933, legte allerdings ihre spezifischen Bedeutungen hinein und wurde so zum Machtmittel: »Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.« 460 Mit diesem Beispiel verdeutlicht Klemperer die Wirkungsweise der LTI, die »Wortwerte und Worthäufigkeiten [ändert], sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.« 461
Nach Steiner sei, wie wir gesehen haben, diese Möglichkeit der deutschen Sprache im Besonderen eigen, wobei dies mit dem ebenfalls von der deutschen Sprache getragenen Untertanengeist zusammenhänge, der »Verpreußung der Sprache«, derart, dass dem »Reservoir an Giftstoffen und moralischer Unbildung« kein ebenso starkes moralisches Reservoir entsprach – zumindest nicht, was die Umgangssprache der 457 458 459 460 461
Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd.
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Mehrheitsbevölkerung betraf. Jene, die die Möglichkeiten hatten, dieses korrektive Reservoir anzuzapfen, mussten schließlich ins Exil gehen oder wurden in Lager gesteckt und/oder ermordet. Bei Améry haben wir gesehen, dass dieses moralische oder auch poetische Reservoir samt der eigenen Identität zusammenbricht. Dies soll keinesfalls suggerieren, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten ihre Ursache einzig in einem verqueren Sprachverständnis hatten. Auch soll nicht gesagt werden, dass jener Großteil der Bevölkerung, dem es aus ökonomischen Gründen und/oder Gründen der Bildung nicht möglich war, in philologischer Manier Sprachkritik zu betreiben, zwangsläufig sich widerstandslos unterordnen hätte müssen oder gar mit Notwendigkeit die nationalsozialistische Ideologie hätte annehmen, vertreten und umsetzen müssen. Dennoch zeigt sich hier die ganze Macht der Sprache, deren Realisierung der hemmungslosen und in höchstem Maße organisierten Menschenverachtung und Menschenvernichtung vorausgehen muss und ihre notwendige, wenn auch nicht allein hinreichende Voraussetzung ist. Wer einen totalitären Staat und einen industriellen Vernichtungsapparat organisieren will, muss zuvor und zugleich die Sprache ›organisieren‹ – das heißt in diesem Fall, sie zu funktionalisieren, jedes ethische Residuum in ihr zu schleifen und die Sprache selbst zum Teil des Systems zu machen, so dass schließlich jedes Wort und jeder Satz nicht mehr losgelöst von diesem System zu verstehen ist. Steiner beschreibt auch diesen Vorgang eindrücklich: »So wurde zwölf Jahre lang immer wieder das Unaussprechliche ausgesprochen, das Undenkbare aufgeschrieben, registriert, tabellisiert und zur Akte genommen. Männer, die Ätzkalk in die Kanalisationsrohre von Warschau gossen, um die noch Lebenden zu töten, und den Gestank der Toten zu ersticken, haben darüber in Briefen nach Hause berichtet. Sie sprachen davon, sie hätten ›Ungeziefer ausgerottet‹ – wohlgemerkt in Briefen, in denen Familienphotos erbeten oder Weihnachtsgrüße ausgetauscht wurden. Stille Nacht, Heilige Nacht, Gemütlichkeit. Eine Sprache, aus der die Hölle spricht, nimmt auch die Gewohnheiten der Hölle in ihrer Syntax an. Allmählich verloren die Worte ihren ursprünglichen Sinn und nahmen alpdruckhafte Bedeutung an.« 462
Wenn der ›ursprüngliche‹ Sinn verloren geht, können ›an sich‹ harmlose Worte mit propagandistischem Inhalt gefüllt werden. Es zählt 462
Steiner: Das hohle Wunder, S. 162 f.
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nur noch ihre Funktion. In diesem Fall: Die Entmenschlichung der zum Feindbild erklärten Menschengruppen. Die genannten Briefeschreiber schaffen sich mit dieser Sprache – der LTI Klemperers – ihre eigene perverse Wirklichkeit. Wenn Menschen nur noch Ungeziefer sind, erscheint es den Briefeschreibern ethisch unbedenklich, ja sogar geboten, diese Menschen, die für sie keine Menschen mehr sind, zu vernichten. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass solche Schilderungen zusammen mit familiären Trivialitäten auftauchen. Die LTI bewirkt mit ihrer Totalität also zweierlei: Sie ist Teil der psychischen und physischen Vernichtung der Identität der Opfer, und dies auch in der Retrospektive. So zitiert Steiner eine Bemerkung Klaus Manns: »›Ob wohl die Sprache Hölderlins und Nietzsches durch Hitler geschändet worden ist?‹« Und antwortet darauf lakonisch: »Sie ist es.« 463 Ähnliches schreibt ja auch Améry, dessen Muttersprache seine Heimat nicht mehr sein konnte. 464 Die LTI gibt aber auch den Tätern die Möglichkeit, ihre Taten vor sich zu rechtfertigen. Sie schafft ihnen eine Wirklichkeit, in der ihre Grausamkeit und Brutalität zur Norm geworden sind, die keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Wenn nun Täter nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus sagten, sie hätten doch lediglich nach ›Recht und Gesetz‹ gehandelt, so ist dies eine Fortwirkung der LTI und steht in ihrem propagandistisch-totalitären Zusammenhang. Denn ›Recht und Gesetz‹ waren für sie Entmenschlichung und Vernichtung. Die Worte ›Recht‹ und ›Gesetz‹ hatten ihren ursprünglichen Sinn verloren und »albdruckhafte Bedeutung« bekommen. Steiner schreibt gegen Ende seines Aufsatzes: »Alles vergißt – nur die Sprache nicht. Ist sie erst einmal infiziert mit Falschheit, Lüge und Unwahrheit, kann sie nur mit Hilfe der kräftigsten und vollsten Wahrheit gereinigt werden. Statt dessen aber hat die deutsche Sprache nach dem Kriege einen Werdegang gehabt, der von Verstellung, Heuchelei und vorsätzlichem Vergessen gekennzeichnet war. Die Rückerinnerung an das Grauen der Vergangenheit ist weitgehend getilgt worden, und dies um einen hohen Preis, den die deutsche Literatur heute schon bezahlt.« 465
In einer Fußnote bemerkt Steiner, dass sein Urteil 1959 zutreffe, es aber später durchaus deutschsprachige Literaten gegeben habe, die 463 464 465
Ebd., S. 165. Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 102. Steiner: Das hohle Wunder, S. 175.
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nicht dem Vergessen das Wort geredet hätten. 466 In einem anderen Aufsatz erwähnt er Günter Grass’ Romane Die Blechtrommel und Hundejahre und stellt fest, dass dieser dort die Vergangenheit heraufbeschworen und »den Hang zur beruhigenden Vergeßlichkeit und zum Selbst-Freispruch verspottet und erschüttert« 467 habe. Freilich konnte Steiner Grass’ eigenes Verdrängen und Vergessen-wollen damals nicht kennen. Aber er macht deutlich, was Literatur, ja was Sprache ausmacht und ihr nicht enthoben werden darf: Ihr Bezug zur Vergangenheit als Vergangenheit, die unvergangen ist und im fiendum aufgenommen und weiter geführt werden muss. Die deutsche Sprache wird dann zwar nicht von den durch sie und mit ihr begangenen Verbrechen ›gereinigt‹. 468 Aber sie kann Bedeutungen annehmen, die auf diese Verbrechen hinweisen, Täter und Opfer benennen und an die Opfergeschichten anknüpfen. Sie kann und muss in einer Weise erzählen, die sie von anderen Sprachen unterscheidet. Denn die deutsche Sprache ist nicht nur eine Sprache der Mörder in der Art, wie es auch eine Sprache der Dichter, Philosophen oder Handwerker geben mag: Als eine spezifische Sprechweise oder ein bestimmter Soziolekt neben anderen, die sich untereinander nicht berühren oder überschneiden müssen. Durch die Verbrechen, die auf ihr lasten, und die Nachwirkungen der LTI ist sie zur Mördersprache geworden, die alle Sprecher_innengruppen betrifft. Ein ›Gebrauch‹ der deutschen Sprache nach der Shoah ist nur möglich im Besinnen auf die Opfer und im Bewusstsein von der Beschädigung der Sprache. Auch dies ist Bewusstsein als Gewissen, als conscientia: Ein Mitwissen darum, dass die deutsche Sprache nicht unschuldig ist und nicht mehr unschuldig werden kann. Die LTI ist also eine Sprache, deren mythische Struktur aufgelöst ist. Sie ist die Verfallsform der Sprache schlechthin. Sie setzt Beziehungen, die nicht ethisch sind, sondern nur noch funktional bis hin zur Auslöschung ganzer Menschengruppen. In ihr lässt sich schlichtweg nur noch befehlen, gehorchen und skandieren, aber nicht mehr erzählen. Sie ist in ihrer Gegenwärtigkeit erstarrt und kann das unabgeschlossene fiendum nicht mehr aufnehmen. ›Mythologie‹, die
Vgl. ebd., S. 176. Steiner, George: Anmerkungen zu Günter Grass. In: Ders.: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Schriften 2. Berlin: Suhrkamp 2014 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2122), S. 177–187. Hier: S. 187. 468 Vgl. ebd., S. 185. 466 467
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hier in Anführungszeichen gesetzt werden muss, ist für sie nur noch politische Theologie: Sie dient zur Rechtfertigung von Rassenideologie, Subordination, Krieg und Auslöschung, taugt aber nicht mehr für ein Miteinander, das die Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit voraussetzt. An ihr lässt sich jedoch zeigen, wie geschichtliche Schuld als Miasma, also als Befleckung oder Verpestung, fortwirkt. Die Sprache ist, wie sich gezeigt hat, weiterhin verpestet oder vergiftet. Diese Vergiftung muss reflektiert werden. Es gibt zahlreiche Beispiele in der Geschichte der Bundesrepublik, anhand derer sich zeigen lässt, dass die Vergiftung der Sprache das Denken beeinflusst und vergiften kann, wenn ihr nicht das Eingedenken, das der Sprache urgründiger ist als jedes Gift, entgegengesetzt wird. 2.3.4.3. Das fiendum und die Historisierung der Shoah Besonders deutlich zeigte sich dieses vergiftete deutsche Denken und Sprechen im sogenannten Historikerstreit in den 1980er Jahren. Oberflächlich betrachtet erscheint als Ausgangspunkt der damaligen Debatte die Frage, ob die Periode des Nationalsozialismus historisiert werden könne, also wie jede andere geschichtliche Epoche in ihrer Einbettung in eine übergeordnete Gesamtgeschichte betrachtet werden könne. Diese fachwissenschaftlich anmutende Fragestellung berührte jedoch tiefergehende politisch-ideologische Konfliktlinien, die sich um eine von konservativen Politikern ins Auge gefasste (erneuerte) nationale Identität Deutschlands drehten. 469 Eine solche ›Normalität‹ im Verhältnis zur deutschen Nation gestaltete (und gestaltet) sich aber als problematisch, weil die Bundesrepublik der rechtliche und in gewissem Sinne auch kulturelle Nachfolger des ›Dritten Reiches‹ ist. Wie also sollte ein positiver Bezug, ja eine Identifikation mit einer Nation hergestellt werden, die nach wie vor im Schatten der Verbrechen des Nationalsozialismus steht? Im Schatten vor allem der industriellen Massenvernichtung der Shoah? Konnte man diese mit anderen, nicht von Deutschen begangenen Verbrechen vergleichen? Sollte dies möglich sein, stünde einem ›normalisierten‹
Vgl. Keilitz, Steffen: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Der »Historikerstreit« und die deutsche Geschichtspolitik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 7–13. Hier: S. 7 f. Ebenso Saul Friedländer: Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus. In: Ders.: Nachdenken über den Holocaust. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe 1788), S. 56–77. Hier: S. 56.
469
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Verhältnis zur ›eigenen‹ Nation nichts mehr im Wege, denn die Deutschen wären nicht länger jene, die sich an einem einzigartigen Menschheitsverbrechen schuldig gemacht hätten. Sie wären ›wie alle anderen‹ und könnten dementsprechend ›stolz‹ auf ihre Nation und ihre Geschichte sein. Peter Borowsky skizziert die Ausgangslage auf politischer Ebene dementsprechend: »Die makabre Auseinandersetzung über Einzigartigkeit oder Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen Judenmorde hätte wohl kaum über Monate die Öffentlichkeit beschäftigen können, wenn nicht mehr dahintergestanden hätte, die Frage nämlich: Wie wollen wir künftig mit diesem Teil unserer Vergangenheit umgehen, und was folgt daraus für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik? Sollten wir, so die Forderung von Franz Josef Strauß, endlich ›aus dem Schatten Hitlers heraustreten‹ und zu einem ›normalen Nationalbewußtsein‹ zurückfinden, oder sollen wir uns – so Habermas – eingedenk des ›in unsere nationale Geschichte eingebrannten moralischen Imperfekts‹ mit einem ›Verfassungspatriotismus‹ bescheiden? Es handelt sich also im Kern gar nicht mehr um einen Disput unter Fachgelehrten, sondern um eine hochbrisante politische Streitfrage.« 470
Einige Apologeten eines solchen ›normalen Nationalbewusstseins‹ nutzten die Frage nach Historisierung, um durch die Einbettung des Nationalsozialismus in (s)einen geschichtlichen Kontext die deutschen Verbrechen zu relativieren – ja man muss sogar sagen, sie missbrauchten diese Frage, um die Verbrechen implizit zu rechtfertigen. 471 Borowsky, Peter: Der Historikerstreit. Wie geht die deutsche Geschichtswissenschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um? In: Ders.: Schlaglichter historischer Forschung. Studien zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass herausgegeben von Rainer Hering und Rainer Nicolaysen. Hamburg: Hamburg University Press 2005, S. 63–87. Hier: S. 75 f. 471 Neben Ernst Nolte, dessen Position im Folgenden behandelt wird, gilt dies in etwa für Andreas Hillgruber. Dieser erhebe, so Micha Brumlik mit Verweis auf ein wörtliches Zitat von Hillgruber selbst, das Standhalten der Wehrmacht an der Ostfront und die ihm zugrunde liegenden administrativen Befehle und Verwaltungsakte zur »verantwortungsethische[n] Position« (Brumlik, Micha: Neuer Staatsmythos Ostfront. Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft der BRD. In: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München: Piper 1987 (SeriePiper; Bd. 1780), S. 77–83. Hier: S. 80), die nötig gewesen sei, um die Deutschen vor der Rache der Roten Armee zu schützen, womit es, so Brumlik, geschichtspolitisch nicht mehr nur darum gehe, »der Wehrmacht, also der Beschützer der Mörder zu gedenken, sondern auch ihr faktisches Schützen des industriellen Massenmordes ausdrücklich anzuerkennen.« (Ebd., S. 81). 470
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Wir können hier freilich nicht die gesamte Debatte aufrollen. 472 Ich möchte jedoch zumindest auf Ernst Noltes Positionierung hinweisen, weil sein Fall fast schon als exemplarisch gelten kann, insofern darin explizit wird, zu welchen Verwerfungen eine Missachtung des unabgeschlossenen fiendum zugunsten der Vorstellung eines abgeschlossenen factum führen kann. Wobei darauf hingewiesen sei, dass seine Schlüsse nicht ausschließlich seiner Methodik und einem fragwürdigen Begriff von Historisierung geschuldet sind, sondern ebenso ideologisch motiviert sind. Nicht jede vergleichende historische Betrachtung muss zwangsläufig zu Noltes Resultaten führen. 473 Nolte beklagt in seinem 1986 in der FAZ veröffentlichten Aufsatz eine »Vergangenheit, die nicht vergehen will.« 474 Im Gegensatz zu anderen Zeitaltern unterliege die nationalsozialistische Vergangenheit dem Vergehen ihres Bedrängenden, »diesem Hinschwinden, diesem Entkräftigungsvorgang nicht, sondern sie scheint immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden, aber nicht als Vorbild, sondern als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich geradezu als Gegenwart etabliert oder die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist.« 475 Damit beschreibt Nolte die Wirkungsweise des Unabgeschlossenen (fiendum) in der Gegenwart. Es bricht in seiner Unbewältigtheit hinein und zeigt sich als Bedrohung. Diese Bedrohung gilt es im Eingedenken an- und aufzunehmen, wie wir bereits aufgezeigt haben. Dann würde sich individuell wie gesellschaftlich auch die Zukunft gestalten lassen. Das Vergangene wäre vielleicht nicht weniger bedrohlich. Aber es verlöre seine lähmende Gewalt, gerade deshalb, weil man sich retrospektiv an die Seite der Opfer stellt und ihr Verlangen nach Gerechtigkeit aufnimmt. Billig ist dieser Anspruch der Vergangenheit nicht abzufertigen, wie uns BenDer genannte Aufsatz von Borowsky verschafft hierzu einen Überblick. Friedländer betont, dass es durchaus zulässig sei, »die Menschenvernichtung der Nazis mit anderen Fällen von Vernichtung zu vergleichen, daß man nach einer beliebigen Anzahl vergleichbarer Ereignisse Ausschau halten kann. Doch all das schließt die Anerkennung einiger erheblicher Unterschiede nicht aus.« (Friedländer: Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, S. 76) Ein Vergleich kann in etwa dann sinnvoll sein, wenn am Ende die Spezifika der nationalsozialistischen Judenvernichtung herausgestellt werden. 474 Nolte, Ernst: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. In: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München: Piper 1987 (SeriePiper; Bd. 1780), S. 39–47. Hier: S. 39. 475 Ebd. 472 473
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jamin gezeigt hat. 476 Immerhin gilt es, die eigene Geschichte (familiär wie national) zu hinterfragen und ihre Gegen-Geschichten als Korrektiv zuzulassen. Ein ›normales Nationalbewusstsein‹ ist damit schlicht nicht zu machen. Dementsprechend geht es Nolte auch nicht um eine Aufnahme des Unabgeschlossenen in der Gegenwart. Er will, dass auch die nationalsozialistische Vergangenheit nun endlich vergehen solle. Dafür muss er die Opfer zum Schweigen bringen. Perfider Weise versucht er dies, indem er vorgibt, schwarz-weiß-Bilder aufzubrechen und die Komplexität des historischen Geschehens herausstellen zu wollen – ergo im engeren Sinne zu historisieren. 477 Damit ist aber nur scheinbar eine ›nüchterne‹, ›distanzierte‹ Haltung dem geschichtlichen Gegenstand gegenüber gemeint. Genau genommen ist das Gegenteil der Fall. Denn er spinnt an einer Verschwörungsideologie und verwischt die Grenzen zwischen Tätern und Opfern – beziehungsweise erklärt er die Täter und deren Nachfahren implizit zu ›neuen Opfern‹ : »Gerade diejenigen, die am meisten und mit dem negativsten Akzent von ›Interessen‹ sprechen, lassen die Frage nicht zu, ob bei jenem Nichtvergehen der Vergangenheit auch Interessen im Spiel waren oder sind, etwa die Interessen einer neuen Generation im uralten Kampf gegen ›die Väter‹ oder auch die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehobenund Privilegiertseins. Die Rede von der ›Schuld der Deutschen‹ übersieht allzu geflissentlich die Ähnlichkeit mit der Rede von der ›Schuld der Juden‹, die ein Hauptargument der Nationalsozialisten war.« 478
Er belädt hier zudem die Verfolgten und deren Nachfahren mit dem antisemitischen Bild des geldgierigen Juden, der selbst aus seiner Verfolgung Profit schlagen wolle. 479 Danach parallelisiert er einen nicht näher definierten Kollektivschuldbegriff mit dem antisemitischen und auf Vernichtung zielenden Verfolgungswahn der Nationalsozialisten, um später, ausgerechnet am Beispiel von Claude Lanzmanns Dokumentarfilmprojekt Shoah, zu insinuieren, »daß auch die SSVgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 694. Vgl. Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will, S. 42. 478 Ebd., S. 41. 479 Wie in der Einleitung erwähnt, wird Rolf Peter Sieferle in Finis Germania das gleiche Bild konstruieren (vgl. Sieferle: Finis Germania, S. 71 ff., S. 77). Salzborn legt mit Verweis auf quantitative Studien dar, dass dieses judenfeindliche Narrativ eine Konstante in der bundesrepublikanischen Bevölkerung darstellt und auch heute noch erschreckend virulent ist (vgl. Salzborn: Kollektive Unschuld, S. 73 ff.). 476 477
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Mannschaften der Todeslager auf ihre Art Opfer sein mochten […].« 480 Es entbehrt nicht einer gewissen absurden Komik, wenn er auf der darauffolgenden Seite betont, es ginge ihm nicht um Gleichsetzungen. 481 Seine Betrachtung gipfelt schließlich in der als rhetorische Fragen verkleideten Behauptung, Auschwitz sei die Folge eines von Hitler empfangenen Berichts über eine »asiatische« (ein rassistisches Adjektiv für ›sowjetische‹) Foltermethode: »Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ›asiatische‹ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ›asiatischen‹ Tat betrachteten? War nicht der ›Archipel GULag‹ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmords‹ der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den ›Rattenkäfig‹ nicht vergessen hatte [der ›Rattenkäfig‹ ist die von Nolte genannte Foltermethode. Anm. D. M.]? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit, die nicht vergehen wollte?« 482
Die letzte (rhetorische) Frage soll wohl auf die ›Ehrenhaftigkeit‹ von Noltes Anliegen abzielen. Auschwitz sei die Folge einer unvergangenen Vergangenheit. Sieht sich Nolte, der nun – unter Inanspruchnahme der perfidesten Mittel – dafür plädiert, dass die Bedrängung durch die nationalsozialistische Vergangenheit nun endlich aufhören solle, damit als Bewahrer vor einem neuen Massenmord? Wer weiß. Dass er am Ende seiner Rede »die biologischen Vernichtungsaktionen des Nationalsozialismus qualitativ von der sozialen Vernichtung« 483 der Bolschewiki unterscheidet, ist angesichts seiner Argumentation nicht sonderlich überzeugend. Letztendlich begreift er die Shoah, wie Heinrich August Winkler es ausdrückt, als »eine Art von Putativnotwehr[.]« 484
Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will, S. 42. Vgl. ebd., S. 43. 482 Ebd., S. 45. 483 Ebd., S. 46. 484 Winkler, Heinrich August: Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen. In: »Historikerstreit«, S. 256–259. Hier: S. 259. Eberhard Jäckel spricht, in Anlehnung an die nationalsozialistische Propaganda vom »Präventivkrieg« gegen die Sowjetunion, von »Präventivmord«, der durch Noltes Rede von einem »kausalen Nexus« zwischen GULag und Auschwitz suggeriert werde (Jäckel, Eberhard: Die elende Praxis der Untersteller. Das Einmalige der nationalsozialis480 481
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Damit sollte bewiesen sein, dass Noltes Aufsatz in erster Linie ideologisch motiviert war. Einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Frage, wie mit dem Anspruch der Vergangenheit in historiographischer Hinsicht umzugehen sei, lieferte er damit nicht. Sein Aufsatz ist als extremes Negativbeispiel einer Geschichts- und Schuldverdrängung zu lesen, deren integrales Moment ein nie erloschener Antisemitismus ist. Lässt sich also die Frage der Historisierung der Shoah klären, ohne den Opfern erneut Gewalt anzutun und Ressentiments zu reproduzieren? Eine ›Normalisierung‹ der Betrachtung in Form einer »retrospektive[n], in den Bereich von Normalität eingliedernde[n] Umbewertung« wird es nie geben können, wie Schneider zu Recht betont. 485 Eine bloße Übernahme der Gewaltgeschichte »in die reflexive Sphäre des Ich«, 486 die er vorschlägt, um durch einen individuellen Therapieprozess, der die verlorenen Möglichkeiten einer anderen Geschichte thematisiert, kollektiv zu erreichen »weniger verrückt zu sein […],« 487 stößt wiederum auf die oben ausgeführte Problematik einer Verdrängung der Opfer, weil nur noch der eigene Schmerz darüber zählt, die Geschichte nicht mehr ändern zu können. Ich möchte daher noch auf den jüdischen Historiker und ShoahÜberlebenden Saul Friedländer verweisen, der sich eingehend mit der Frage der Historisierung der nationalsozialistischen Verbrechen beschäftigt hat. 488 Die Frage berührt für ihn in erster Linie das Verhältnis des Historikers zu seinem Gegenstand. Den Zugang des Historikers des Historismus zur Epoche, über die er forscht, hatte bereits Walter Benjamin kritisiert. Der Historiker des Historismus stelle einen Kausalnexus her und bette die Masse der Fakten in eine Universalgeschichte ein, woraus sich schließlich ein ewiges Bild der Vergangenheit ergebe, das sich aus seinen ihm vorangehenden Ereignissen mit schlichter Notwendigkeit forme. 489 In dieses feststehende Bild, das losgelöst ist von der Gegenwart, könne der Betrachter sich
tischen Verbrechen läßt sich nicht leugnen. In: »Historikerstreit«, S. 115–122. Hier: S. 121 f.). 485 Schneider: Besichtigung eines ideologisierten Affekts, S. 208. 486 Ebd. 487 Ebd. 488 Hierzu der Sammelband: Friedländer, Saul: Nachdenken über den Holocaust. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe; Bd. 1788). 489 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 702 ff.
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Zur Struktur des Schuldphänomens
›einfühlen‹. 490 Das Problem, das Benjamin dabei sieht, ist, dass sich der Historiker des Historismus dabei an einer konformen Überlieferung orientiert, in der die Perspektive der Sieger tradiert werde. 491 Eine solche Herstellung von Konformität war nun auch das Anliegen der genannten Befürworter einer Historisierung der Zeit des Nationalsozialismus. Die Betrachtung dieser ›Epoche‹ sollte vor dem Hintergrund eines ›neuen Nationalbewusstseins‹ geschehen, das die Ergebnisse der Analyse schon vorgab: Die Verbrechen sollten als direkte Folge von vorausgegangenen Ereignissen erscheinen, als historische Notwendigkeit, die durch den bloßen Verlauf der Geschichte schon gerechtfertigt wäre. Die deutsche Schuld wäre so keine besondere mehr, die auf einzigartigen Verbrechen beruhe, denn diese Verbrechen wären bloß eine Antwort auf ihnen vorausgehende Verbrechen. Die deutsche Schuld würde letztendlich im Geschichtsverlauf untergehen. Ein Schlussstrich wäre gezogen, die Deutschen könnten ›wie alle anderen‹ stolz auf ihre Nation sein. 492 Nolte geht, wie wir gesehen haben, so weit, die Shoah als Fortführung eines »asiatischen« Massenmordes zu betrachten. Damit eröffnet er eine Kausalkette, die der ›deutschen Geschichte‹ fremd wäre. Die Barbarei sei quasi von ›außen‹ gekommen und nicht von den Deutschen selbst. Es wird deutlich, dass das Verhältnis des Historikers zu seinem Gegenstand niemals in einem luftleeren Raum geschieht und niemals von sozialen und kulturellen Vorannahmen absehen kann. Friedländer stellt heraus, dass es sich deshalb auch beim Begriff »Historisierung«, so wie er im »Historikerstreit« gebraucht wurde, nicht um eine Frage des theoretischen Zugangs zur Geschichte handelt, sondern um eine ideologische Setzung. Historisierung meine, sich jedes moralischen Urteils über die Geschichte zu enthalten und eine pau-
Vgl ebd., S. 696. Vgl. ebd., S. 695. 492 Dass der Konformismus, welcher zur Zeit des »Historikerstreits« die Überlieferung (also die Konstruktion von Geschichte) auf Seiten der ›konservativen‹ Rechten beherrschte, ein reaktionärer deutscher Nationalismus war, der die deutsche Schuld tilgen wollte, macht ein Zitat aus einer ›Gedenkrede‹, gehalten am 28. April 1985 von Franz Josef Strauß, deutlich: »Es ist an der Zeit, daß Europa 1945 nicht als eine Niederlage Deutschlands, sondern als seine eigene Niederlage ansieht und daß es unter seinen Völkern die Schuld am größten Verbrechen, das es jemals gegen seine eigene Zivilisation beging, gleichmäßig verteilt.« (Zitiert nach Borowsky: Der Historikerstreit, S. 78 f.). 490 491
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Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
schale Distanzierung zu den Ereignissen aufzuheben. 493 Eine solche Aufhebung der Distanzierung ist aber nicht mit einem Akt des Eingedenkens zu verwechseln, wie wir ihn skizziert haben. Vielmehr soll sie jene Einfühlung ermöglichen, die Benjamin kritisiert. Nolte brachte es dabei so weit, sich in Hitler ›einfühlen‹ zu wollen, um dessen »asiatische« Tat zu erklären. Mit Nolte als Negativbeispiel sehen wir, dass eine so verstandene ›Historisierung‹ zwei Möglichkeiten bietet, die geschichtliche Schuld zu relativieren. Möglichkeiten, die bei Nolte seltsam verschlungen sind. Zum einen jener Gedanke, dass die Geschichte bereits durch sich selbst gerechtfertigt sei. Damit ist jede spezifische geschichtliche Schuld, die ihre konkreten Opfer und Täter benennt, erledigt, wie das Zitat von Franz Josef Strauß belegt. 494 Alle ›europäischen Völker‹ erscheinen gleichermaßen schuldig, weil sie ja alle irgendwie in den historischen Nexus eingebunden sind. Zum anderen lässt sich mit einer ›Historisierung‹ die Geschichte in verschiedene Kausalketten aufspalten, wie es Nolte mit der Betonung einer angeblich »asiatischen« Tat tut. Die Shoah würde dann aus der deutschen Geschichte herausfallen. Mithin bräuchten sich die Nachgeborenen weder mit den Opfern noch mit den Tätern zu beschäftigen. Beide Zugänge zementieren die Teilung des Gedächtnisses in »Lexikon« und »Album«.« 495 Damit böte sich dem Betrachter die Möglichkeit, Geschichte auf der Mikroebene vollkommen losgelöst von der Makroebene zu betrachten. Er könnte ›gesunde‹ und scheinbar nicht kompromittierte Bereiche des Lebens während der Nazizeit in den Blick nehmen. 496 Friedländer bemerkt an anderer Stelle zur Problematik einer solchen ›Alltagsgeschichte‹ : »[E]in normales Leben in dem Bewußtsein, daß gleichzeitig massive Verbrechen geschehen, begangen durch die eigene Nation und die eigene Gesellschaft, ist doch wohl kein so ganz normales Leben …« 497 Friedländer vertritt, ausgehend von dieser Kritik, das Konzept einer integrierten Geschichte des Holocaust. Voraussetzung dafür sei, Friedländer, Saul: Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, S. 66 f. 494 Vgl. Borowsky: Der Historikerstreit, S. 78 f. 495 Vgl. Welzer; Moller; Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«, S. 10 f. 496 Vgl. Friedländer: Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, S. 72. 497 Friedländer, Saul: Um die »Historisierung des Nationalsozialismus«. Ein Briefwechsel mit Martin Broszat. In: Ders.: Nachdenken über den Holocaust, S. 78–124. Hier: S. 104. 493
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Zusammenfassung
dass sich sämtliche Historiker, egal ob sie jüdisch sind oder nicht, über ihre subjektive Herangehensweise im Klaren sind. 498 Das heißt sie müssen sich zunächst fragen, welcher Überlieferung sie anhängen und ob diese Überlieferung blinde Flecken haben könnte. Bezogen auf die scheinbar ›normalen‹ oder ›gesunden‹ Bereiche des Alltagslebens wäre herauszustellen, dass dieses Leben vor dem Hintergrund von Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Vernichtung der jüdischen Bevölkerung stattfand. Auch wenn die Dokumente, auf die sich ein Historiker bezieht, dies nicht thematisieren mögen, sind sie dennoch in diesem Kontext zu betrachten. 499 Friedländer verfolgt also ein Konzept von Mikrogeschichte, wie es Schlumbohm skizziert. 500 Die Zeugnisse der Verfolgten müssen immer mitsprechen – sie sind die Gegen-Geschichten zur scheinbar unbescholtenen und heilen Welt des ›Familienalbums‹. Und nicht nur zu dieser Welt, sondern auch zur Wirklichkeit des historischen Kontextes überhaupt, den der Historiker zwangsläufig (re)konstruiert, wenn er die Entwicklungen aufzeigt und zu erklären versucht, wie es zur Shoah habe kommen können. Seine Rekonstruktionen, die notwendig sind, um überhaupt historiographisch arbeiten zu können, müssen sich an den Erinnerungen der Opfer und ihrer Nachfahren messen lassen, die das Korrektiv gegen jede bewusste oder unbewusste Normalisierung darstellen.
2.4. Zusammenfassung Wir haben nun den Schuldbegriff näher bestimmt und ihn in seinen unterschiedlichen Dimensionen zu beleuchten versucht. Zunächst ist das Dasein je schon schuldig, weil es von Voraussetzungen lebt, die es Vgl. Friedländer, Saul: Eine integrierte Geschichte des Holocaust. In: Ders.: Nachdenken über den Holocaust, S. 154–167. Hier: S. 154. 499 Dieser Gedanke ist eine Erweiterung meinerseits, da Friedländers Beispiel eine Fotografie ist, die den letzten an der Amsterdamer Universität promovierten jüdischen Mediziner bei seiner Promotionsfeier zeigt, umgeben vom Lehrkörper des Instituts (vgl. ebd., S. 55 ff.). Anhand dieser einen Fotografie könne die integrierte Geschichte des Holocaust erzählt werden, da der Mediziner David Moffie einen ›Judenstern‹ trägt, womit seine Promotionsfeier direkt im Kontext seiner Verfolgung steht. Davon abstrahiert lässt sich sagen, dass die Betrachtung eines historischen Gegenstandes auch und gerade das miteinbeziehen muss, was lediglich angedeutet wird oder gar nicht zu sehen beziehungsweise zu lesen ist. 500 Vgl. Schlumbohm, Jürgen: Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte, S. 20 ff. 498
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Der Schulddiskurs in Deutschland nach 1945 – Eine Annäherung
nicht selbst geschaffen hat. Es lebt von anderem Leben und kann diese Schuld nicht adäquat begleichen. Die existentielle Schuld muss in einem ›symbolischen Tausch‹ gesühnt werden. Das Bewusstsein als conscientia ist sich dieser Verschuldung bewusst. Das Wissen um etwas schließt in diesem Bewusstsein das Wissen um die Verschuldung mit ein. Es wird zum Mit-Wissen, das eine ethische Relevanz hat. Über diese Verschuldung aufgrund der bloßen biologischen Existenz hinaus, bauen Gesellschaften ebenso auf Strukturen auf, für die vorige Generationen gearbeitet haben oder sogar gestorben sind. Hier überschneiden sich existentielle und geschichtliche Schuld in der Schuld gegenüber den Vorfahren. Schuld ist also immer eine Schuld gegenüber Anderen (These 4). Geschichtliche Schuld wird allerdings entgrenzt, wenn es sich um die Schuld gegenüber Ermordeten handelt. Diese Schuld wird (wie die anderen Schulddimensionen ebenso) in Narrativen tradiert. Der erste Anknüpfungspunkt ist hier meistens die Familiengeschichte. Ein solches Narrativ ist häufig monoperspektivisch, insofern es die Geschichten Anderer nicht berücksichtigt. Es geht häufig darum, die eigene Familiengeschichte als harmonisch und ohne Schattenseiten darzustellen. Ist dies der Fall, fehlt also das Mit-Wissen als conscientia. Um sich diesem Wissen zu öffnen, müssen die Gegen-Geschichten thematisiert werden (vgl. These 4). Dies führt letztendlich auch zum besseren Verständnis der eigenen Biographie, ist allerdings häufig schmerzhaft. So weigern sich viele deutsche Familien die Schattenseiten ihrer Geschichte zu beleuchten. Dies geht sogar so weit, dass die Geschichten der Vorfahren im Nationalsozialismus zu Opferoder Widerstandsgeschichten umgedichtet werden, obwohl es sich zum Teil eindeutig um Tätergeschichten handelt. 501 Die Tradierung der Schuldgeschichte fand und findet auch in der deutschen Sprache selbst statt (vgl. These 3). Die deutsche Sprache kann nicht unschuldig sein, sie ist zur Mördersprache geworden, wie wir in Rückgriff auf Améry, Steiner und Klemperer darstellen konnten. Dies heißt nun nicht, dass wir jederzeit, wenn wir in der deutschen Sprache sprechen und denken, an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern müssen. Dies wäre überhaupt nicht umsetzbar und auch nicht wünschenswert. Aber auch hier muss sich das Bewusstsein als conscientia realisieren. Wenn man bedenkt, dass Sprache und tradierte Geschichten diese Schulddimension mittragen, 501
Vgl. Welzer; Moller; Tschugnall: »Opa war kein Nazi.«
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Zusammenfassung
wäre eine Möglichkeit der conscientia in etwa, sich im Schreiben eines Werkes ganz eindeutig ›nach Auschwitz‹ zu positionieren. Im Schreiben muss dann nicht immer auf die Verbrechen des Nationalsozialismus rekurriert werden, jedoch sollte der Standpunkt deutlich gemacht werden, dass es keine (deutschsprachige) Literatur oder Philosophie geben kann, die nicht in irgendeiner Weise eingedenk ist und die Beschädigung von Sprache, Denken und Schreiben an- und aufnimmt. Am Beispiel von Ernst Nolte konnten wir sehen, was geschieht, wenn versucht wird, diese Dimension zu verdrängen. Seine Texte dienen zugleich als Negativbeispiel für die (bewusste und ideologische) Missachtung des Anspruchs des Unabgeschlossenen der Geschichte in der Gegenwart. Denn die Geschichte ist nicht bloß factum, sie liegt nicht lediglich als abgeschlossene vor, sondern wirkt als fiendum weiterhin und verpflichtet die Gegenwärtigen zur Aufnahme und Mitnahme der uneingelösten Ansprüche der Vergangenen, ihrer (gewaltsam) abgebrochenen Geschichten. Auch ihnen muss ein Zukunftshorizont eröffnet werden, auch sie müssen noch mitsprechen können. Hierfür kann ein Konzept des Eingedenkens hilfreich sein, das als »ever-fluid dialogue« 502 der Zeiten ein lebendiges Verhältnis zum Vergangenen verwirklicht. Das Unabgeschlossene und Uneingelöste stellt die Erinnerungskultur vor gewisse Schwierigkeiten. Es muss vermieden werden, die Ermordeten für das eigene (nationale) Wohlbefinden zu instrumentalisieren. Ebenso darf nicht (ausschließlich) der eigene Schmerz in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Nicht-Identität zu den Ermordeten muss gewahrt bleiben. Denn auch wenn wir ihre Geschichten hören und weitererzählen können, bleibt ihr subjektives Erleben verschlossen. In ihren Geschichten entziehen sie sich uns letztendlich immer wieder. Ich möchte nun in den folgenden Kapiteln einen Vorschlag entfalten, um dieser Tragik zu begegnen, das heißt sie anzunehmen und produktiv mit ihr umzugehen.
502
Yerushalmi: Zakhor, S. 17.
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3. Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
Wir haben bereits festgestellt, dass die Unterbrechung des Lebensund Verstehensverlaufs ein konstitutives Merkmal des Daseins als In-Geschichten-sein ist. Es wird in seiner Geschichte immer wieder unterbrochen und herausgefordert, diese Geschichte umzuerzählen und sie anhand der in sie eingesprengten Gegen-Geschichten neu auszurichten, um somit für die abgebrochenen Möglichkeiten der Vergangenen einzustehen. Die Gegen-Geschichten sind ein Korrektiv gegenüber den gesellschaftlichen Narrativen, aber auch gegenüber den Familiengeschichten, in denen das Schuldverhältnis gegenüber den Ermordeten tradiert wird, auch dann, wenn es scheinbar nicht thematisiert oder sogar verdrängt wird. Dies stellt die Erinnerungskultur vor besondere Herausforderungen. Wie können die Leidensgeschichten der Ermordeten als Gegen-Geschichten im Alltag wahrnehmbar gemacht und bewahrt und bewährt werden? Meiner Ansicht nach kann dies durch die Literatur geschehen. Emmanuel Levinas entwickelt aus seiner Phänomenologie, mit der er den Einbruch des Anderen in die Lebenswelt des Subjekts beschreibt, eine Ästhetik, die als Grundlage für das Verständnis der anwesenden Abwesenheit der Toten und Ermordeten im Kunstwerk und im Gedicht dienen kann. Diese Entwicklung wird im Folgenden nachvollzogen: Sie führt von der Eröffnung des Seins für den Anderen zum Jenseits des Seins seiner unabweisbaren Stellvertretung durch das Gedicht und den Leser als Zeugen für die abgebrochenen Geschichten der Ermordeten.
3.1. Vom Sein zum Sein-für-den-Anderen: Die Offenbarung des Anderen als Antlitz Den Weg von einer Erscheinung des Anderen in seiner reinen Gegenwärtigkeit hin zu einem Kunst- und Literaturverständnis, welches auch das Vergangene berücksichtigen muss, ist Levinas selbst ge248 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Vom Sein zum Sein-für-den-Anderen: Die Offenbarung des Anderen als Antlitz
gangen. Es ist der Weg von der Ontologie zu einer phänomenologisch begründeten Ethik hin zu einer Ästhetik, die man als Ästhetik des Entzugs (Kap. 3.3) bezeichnen kann. Der erste Schritt, den es nun nachzuvollziehen gilt, greift noch auf die Ontologie (beziehungsweise zumindest auf die ontologische Sprache) zurück, insofern die Frage nach dem Sein des Daseins und nach der Relevanz des Anderen für dieses Sein gestellt wird. Levinas unterscheidet in Totalität und Unendlichkeit (1961), wie bereits im Titel deutlich wird, zwischen der Totalität eines Seins, welches das und den Anderen umfasst und angleicht, es und ihn ergo seiner Einmaligkeit und Andersheit beraubt und ihm damit Gewalt antut, und dem Unendlichen, das als absolute und nicht einholbare Transzendenz erscheint, »die in der Totalität nicht aufgehen kann und ebenso ursprünglich ist wie die Totalität.« 1 Die Beziehung zur Transzendenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Erscheinung des Anderen, durch die die Transzendenz gesetzt wird, das Sein stetig erweitert. Der Andere bleibt als Anderer unerreichbar, seine Nähe vergrößert die Distanz zu ihm. Levinas spricht deshalb auch von einer »Offenbarung des Unendlichen« 2 im Anderen, die als Aufscheinen seines Antlitzes geschieht. Dieses Antlitz ist mehr als ein Körperteil. Es geht über eine bloße physische Erscheinung, die noch irgendwie phänomenologisch einzuordnen wäre, hinaus: »Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. Diese Weise besteht nicht darin, vor meinem Blick als Thema aufzutreten, sich als ein Ganzes von Qualitäten, in denen sich ein Bild gestaltet, auszubreiten. In jedem Augenblick zerstört und überflutet das Antlitz des Anderen das plastische Bild, das er mir hinterläßt, überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem Maß ihres ideatum ist – die adäquate Idee.« 3
Der Andere ist also auch mit abstraktem Denken nicht einzuholen. Jede Idee, jedes Bild von ihm, das ich mir gemacht haben mag, wird von ihm überschwemmt. Das Antlitz selbst bleibt jenseits des Seins. Levinas selbst zieht im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Totalität und Unendlichkeit eine Parallele zum Guten im SonnenLevinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg: Alber 2008 (Alber Studienausgabe), S. 22. 2 Ebd., S. 25. 3 Ebd., S. 63. 1
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
gleichnis in Platons Politeia, das ebenfalls jenseits des Seins ist »und oberhalb der Ideen«, 4 von dort aus aber das Sein und alles, was in ihm erkannt werden kann, eröffnet, gleichwohl das Gute selbst nicht erkannt werden kann und sich entzieht. 5 Das Antlitz jenseits des Seins – ἐπέκεινα τῆς οὐσίας [epekeina tês ousias] 6 – gibt, wie das Gute bei Platon, dem Menschen Orientierung, fordert ihn auf, gut zu sein und gut zu handeln und dem Guten dienlich zu sein, ohne aber selbst definiert, das heißt mit einem weltlich oder intellektuell zugänglichen Phänomen identifiziert werden zu können. Das Gute als Antlitz ist das Absolute, das keinen Absolutismus einsetzt, sondern im Gegenteil dem Subjekt die Möglichkeit gibt Absolution zu erhalten, das heißt sich von seinem nur von ihm selbst bestimmten, damit aber vorherbestimmten Sein zu lösen. 7 Das Fundament dieser Ablösung und die Weise, wie sie sich vollzieht, ist nun die Sprache. 8 Der Andere als Antlitz unterbricht mich. Er fordert das Sprechen und die Sprache heraus. Statt des Bedürfnisses, das mit weltlichem Seienden gestillt werden könnte, setzt er das Begehren ein, das ein unendliches ist, eben weil der Andere mit dem Denken nicht einzuholen ist: Es ist ein metaphysisches Begehren. 9 Um dies zu verstehen, ist es wichtig zu beachten, dass sich das Subjekt zumindest in Totalität und Unendlichkeit im Genuss konstituiert, der als ein egoistischer verstanden wird. 10 Das Subjekt ist hier Ebd., S. 12. »Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten [ὑπὸ τοῦ ἀγαθοῦ] komme, sondern auch das Sein und Wesen [τὸ εἶναί τε καὶ τὴν οὐσίαν] habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist [οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ], sondern noch über das Sein [ἐπέκεινα τῆς οὐσίας] an Würde und Kraft hinausragt.« (Platon: Werke Band 4. Politeia (Der Staat). Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2011, S. 545 [509b]). 6 Ebd., S. 544. 7 Vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 85. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. ebd., S. 37 f., S. 63. 10 Levinas unterscheidet in Totalität und Unendlichkeit zwei Existenzmodi des Subjekts: Das im Genuss getrennte und sich in ihm erhaltende Subjekt bezeichnet er meist als »das Selbe [le Même]« oder »das Ich [le Moi].« Im Gegensatz dazu ist das dem Anderen geöffnete Subjekt eine »Subjektivität [subjectivité]« – man kann sagen: Ein Subjekt, das sich in seiner Einzigartigkeit verantwortlich für den Anderen weiß und auf seinen Herrschaftsanspruch verzichtet –, die den Anderen empfängt. Die Subjektivität identifiziert sich nicht länger mit einer eigenen Substanz, sondern ist 4 5
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Vom Sein zum Sein-für-den-Anderen: Die Offenbarung des Anderen als Antlitz
zunächst vom Anderen und der Absolutheit seines Anspruchs, aber auch vom Sein, das es zu beherrschen trachtet, getrennt: »Man wird Subjekt des Seins nicht dadurch, daß man das Sein übernimmt, sondern indem man sich des Glückes erfreut, indem man den Genuß, der auch eine Erhebung, ein ›Über-dem-Sein‹ ist, verinnerlicht. Das Seiende ist ›autonom‹ im Verhältnis zum Sein. Es besagt nicht Teilhabe am Sein, sondern Glück. Das Seiende schlechthin ist der Mensch.« 11
Diese Trennung ist bedeutsam – und zwar aus ökonomisch-ethischen Gründen. Genießen nämlich könne das Subjekt nur aus einer Bleibe heraus, die ihm Sicherheit vor den Elementen bietet. 12 Hierhin zieht es sich zurück, hier erholt es sich, hier ist es autonom. Die Bleibe verhindert, dass das Subjekt vom Sein überflutet wird. Und hier, in seinem Schutzraum, ist es zunächst noch nicht vom Anderen in dessen Absolutheit als Antlitz betroffen. Hier identifiziert es sich als Ich, als »dasjenige Seiende, dessen Existieren darin besteht, sich zu identifizieren, seine Identität durch alle Begegnisse hindurch wiederzufinden.« 13 Von hier aus kann es die Dinge – in der Diktion Bubers: die Eswelt – gebrauchen: »Das ›Bei-sich-zu-Hause‹ ist kein Behälter, sondern ein Ort, an dem ich kann, an dem ich, obwohl abhängend von einer anderen Realität, trotz dieser Abhängigkeit oder dank ihrer, frei bin. Es genügt zu gehen, zu tun, um jedes Ding zu ergreifen, zu nehmen. In einem gewissen Sinne ist alles am Ort, genau betrachtet ist alles zu meiner Verfügung; selbst die Sterne sind zu meiner Verfügung, wenn ich nur rechne, wenn ich nur die Zwischenräume oder die Mittel kalkuliere. Der Ort, die Mitte, hält Mittel und Wege bereit. Alles ist hier, alles gehört mir; mit der ursprünglichen Einnahme des Ortes ist alles im voraus genommen, alles ist be-griffen. Die Weise des Ich besteht in der Möglichkeit zu besitzen […].« 14
Dieses Können aus einer Sicherheit heraus, die nicht infrage gestellt wird, ist, so kann man sagen, der normale, der alltägliche Lebens- und Seinsvollzug des Subjekts. In diese Sicherheit bricht nun der Andere als Antlitz herein und stellt das selbstherrliche Können des Subjekts selbst schon Handlung oder zumindest Haltung, nämlich »Gastlichkeit [hospitalité]«, in der sich »die Idee des Unendlichen« erfüllt (ebd., S. 28 f.). 11 Vgl. ebd., S. 166 f. 12 Vgl. ebd., S. 224 ff. 13 Ebd., S. 40. 14 Ebd., S. 42.
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
in Frage. Der Andere ist der Fremde, »der das Bei-mir-zu-Hause stört. Aber Fremder, das bedeutet auch der Freie. Über ihn vermag mein Vermögen nichts.« 15 Als Fremder fordert der Andere schließlich den Besitz des Subjekts, denn sein Antlitz erscheint als »Nacktheit« und ist »Blöße« und »Mangel«. 16 Dies ist in einem ethischen, aber auch in einem epistemologischen Sinn zu verstehen: Nackt erscheint das Antlitz auch deshalb, weil es dem Subjekt nicht gelingen kann, es in ein erkennbares weltliches Ding oder in eine Vorstellung zu kleiden. Diese vollkommene Schutzlosigkeit ist es auch, welche das Antlitz zum Gebot erhebt und es sagen lässt: »Du wirst keinen Mord begehen.« 17 Dieser »ursprüngliche Ausdruck« des Antlitzes ist das »erste Wort […].« 18 Hier beginnt die ethische Dimension der Sprache, die allerdings noch nicht unbedingt verbalisiert ist, sondern in der Offenbarung selbst besteht, als der Imperativ, keinen Mord zu begehen. Levinas bezeichnet diesen Imperativ als »ethischen Widerstand«: »[D]er ethische Widerstand lähmt meine Vermögen und erhebt sich in seiner Nacktheit und seiner Not hart und absolut vom Grunde der wehrlosen Augen.« 19 Auf diesen Imperativ antwortet das Subjekt seinerseits mit einem Vokativ. 20 Es ruft den Anderen an. Dieser Anruf ist zunächst das Versprechen, dem Anderen zu geben und ihm meinen Besitz anzubieten. Er ist die non-verbale 21 Antwort an den Anderen, der mein »Meister« ist, mich unterweist und mir befiehlt. 22 Deshalb ist auch die Trennung des Subjekts und dessen Individuation im Genuss und in der Bleibe bedeutsam. Denn nur, wenn das Subjekt diese Sicherheit hat, kann es sich überhaupt dem Anderen gegenüber öffnen und ihm seinen Besitz anbieten. In diesem Angebot setzt nun die verbalisierte Sprache ein: »Die Dinge gewinnen eine rationale und nicht nur zeughafte Bedeutung, weil ein Anderer mit meinen Beziehungen zu den Dingen assoEbd., S. 44. Ebd., S. 103. 17 Ebd., S. 285. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 286. 20 Levinas selbst verwendet den Begriff in Totalität und Unendlichkeit lediglich ein Mal (ebd., S. 92; vgl. Rauscher: Sprache und Ethik, S. 274). 21 Rauscher interpretiert den Imperativ als (non-verbales) Gebot und den Vokativ als Grüßen, welches auch nicht zwangsläufig einer verbalen Artikulation bedarf (vgl. Rauscher: Sprache und Ethik, S. 272 ff., S. 301). 22 Vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 142. 15 16
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Vom Sein zum Sein-für-den-Anderen: Die Offenbarung des Anderen als Antlitz
ziiert ist. Indem ich ein Ding bezeichne, bezeichne ich es einem Anderen. Der Akt des Bezeichnens modifiziert die Beziehung, die ich als Genießender und Besitzender mit den Dingen habe; er stellt die Dinge in die Perspektive des Anderen. […] [E]r erlaubt […], die Dinge zum Gegenstand eines Anbietens zu machen, sie von meinem Gebrauch zu lösen, sie zu entfremden, sie äußerlich zu machen. Das Wort, das die Dinge bezeichnet, bezeugt, daß die Dinge zwischen mir und den Anderen geteilt werden. […] Thematisieren heißt, dem Anderen die Welt durch das Wort anbieten.« 23
Die Struktur des Sprechens ist also wie folgt: Der Imperativ des Anderen, sein Verhindern des selbstherrlichen Könnens, ist das erste, non-verbale Wort. Daraufhin gibt sich das Subjekt zu erkennen, es ruft den Anderen im Vokativ an und verspricht ihm seine Hilfe. Erst im letzten Schritt, nämlich dann, wenn das ethische Verhältnis vollzogen wird, realisiert sich die Sprache als verbales Sprechen. Damit öffnet das Subjekt sein Sein und macht es zum Sein-für-den-Anderen, zur Güte. 24 Die Welt bekommt so einen Sinn, da es den Anderen gibt, dem ich geben kann: »erst das Anbieten öffnet die Perspektive des Sinnvollen.« 25 Das Anbieten der Welt und der tatsächliche Vollzug des Angebots in der Gabe zeigen die ökonomische und materielle Dimension der Sprache auf. Die Welt des egoistischen Gebrauchs wird durch sie eine gemeinsam mit dem Anderen geteilte und mithin solidarische Welt. 26 Der Andere entbindet mit seiner Forderung die Welt von ihrem zeughaften, objektiven Gebrauch und erweitert damit den Horizont des Subjekts. Damit lässt er ein Werden der Subjektivität zu, eine Entwicklung, die sich nicht auf die Reproduktion des Eigenen und die Anhäufung des Besitzes beschränkt. Die Subjektivität, die den Anderen unendlich begehrt, anstatt sich im Gebrauch der Dinge zu verzehren, kann in diesem Begehren ihr Dasein sinnvoll ausgestalten. Die Unterbrechung sorgt auch hier, wie wir schon anhand der Dialogik zeigen konnten, für eine Ablösung (Absolution) einer dem reinen egoistischen Nutzen unterworfenen Freiheit und setzt stattdessen die eigentliche Freiheit als zwischenmenschliches Verhältnis ein. 27
23 24 25 26 27
Ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 443. Ebd., S. 253. Vgl. ebd., S. 252 f. Vgl. ebd., S. 441 f.
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
3.2. Vom Sein-für-den-Anderen zum Jenseits des Seins – désintéressement und Stellvertretung Im Vorangegangenen haben wir die Struktur der Sprache als Entfaltung des metaphysischen Begehrens kennengelernt, welches sich als Imperativ-Vokativ-Angebot-Güte vollzieht und dem Dasein einen Sinn gibt. Levinas zeigt auf, wie aus einer zunächst non-verbalen Sprache als Offenbarung des Anderen als Antlitz der Befehl an das Subjekt ergeht, dem Anderen zu dienen, indem es ihm sein Sein eröffnet, das heißt dem Anderen seinen Besitz anbietet. Derart entfaltet sich ein ethisches Verhältnis. Die Offenbarung des Anderen als Antlitz eröffnet dem Subjekt die Welt. Die Dinge werden dem egoistischen Gebrauch entzogen und können geteilt werden. Das Sein, das Freiheit lediglich als Verharren des Subjekts im Gebrauch seines Seins kennt, welches das Subjekt an seinen Genuss bindet, was bedeutet, dass sich die Freiheit schließlich selbst beengt (beziehungsweise in ihrem Ursprung schon beengt ist), wird transzendiert zum Sein-für-den-Anderen. Damit ist das Subjekt von seiner Determiniertheit durch sich selbst befreit. Freiheit vollzieht sich mit der Sprache als zwischenmenschliches Verhältnis, das heißt sie ist dem Subjekt nicht schon sui generis mitgegeben. Da dem Anderen niemals genug gegeben werden kann, ist mit der Freiheit ein Schuldverhältnis gesetzt. In seinen späteren Werken, vor allem in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), radikalisiert Levinas dieses Verhältnis noch einmal. Im Versuch, sich von jeder ontologischen Terminologie zu lösen, wird das Sein-für-den-Anderen zum Anderen des Seins, zum »anders als sein […]«, 28 das kein bloßes »anderssein« ist, weil es als solches ja noch in der ontologischen Sprache aussagbar wäre und bloß als Gegensatz zum Selbstsein erschiene. Dies hängt mit einer grundsätzlichen Neubewertung der Sprache und des Sprechens zusammen. Während der Sprachvollzug in Totalität und Unendlichkeit zugleich der Vollzug des ethischen Verhältnisses war, sieht Levinas dieses Verhältnis nun in der Abgeschlossenheit des Sprechens verstellt. Ich möchte im Folgenden die Verschärfung des Seins-für-den-Anderen in der Stellvertretung 29 skizzieren, um diese dann auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik zu übertragen. 28 29
Levinas: Jenseits des Seins, S. 24 f. So der Titel eines zentralen Kapitels von Jenseits des Seins (vgl. ebd., S. 219–288).
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Vom Sein-für-den-Anderen zum Jenseits des Seins
Die Bedingung des ethischen Verhältnisses ist es nun also nicht mehr, dem Anderen mit dem Sprechen die Welt zu eröffnen und sie zu einer gemeinsam bewohnbaren zu machen. Vielmehr gilt es nun, das eigene Sein hinter sich zu lassen und zum »der-Eine-für-den-Anderen« zu werden. 30 Der Unterschied zeigt sich bereits in der Begrifflichkeit: Levinas bindet in Jenseits des Seins das Subjekt eindeutiger an dessen Subjektivität als Gehorsam gegenüber dem Anderen als er dies noch in Totalität und Unendlichkeit getan hat. Die Stellvertretung für den Anderen ist »die eigentliche Subjektivität des Subjekts, Unterbrechung der unumkehrbaren Identität, die dem sein zugehört, Unterbrechung dieser Identität in der Übernahme der Verantwortung, die mir aufgebürdet wird […].« 31 Die Subjektivität »ist keine Modalität des ›sein‹«, 32 sondern gebunden an »ein Außerhalb zum Absoluten, das sich nicht mehr in Begriffen des Seins sagen läßt.« 33 Die Subjektivität ist mit der Güte zusammengeschlossen, die ihr »ihre irreduzible Bedeutung [gibt].« 34 Sie berechnet nicht mehr nach Kosten und Nutzen. 35 Man kann sagen, dass das Subjekt hinter oder in seiner Subjektivität zwar noch da ist, sein Streben, Handeln und Leiden jedoch dem Anderen opfert. Später heißt es dann auch: »Die Subjektivität des Subjekts ist ebendies: Verwundbarkeit, dem Leiden ausgesetzt sein, Sensibilität, Passivität, die passiver ist als alle Passivität, unwiederbringliche Zeit, uneinholbare Dia-chronie der Geduld, Ausgesetztheit, die immer noch weiter auszusetzen ist, Ausgesetztheit, die auszudrücken ist und die insofern zu sagen und insofern zu geben ist.« 36
Sagen und Geben gehören hier, wie in Totalität und Unendlichkeit, zusammen. Während dort das Subjekt jedoch für den Anderen etwas Seiendes aus seinem Sein gibt, ihm einen Boden, ein Haus, eine Bleibe öffnet, muss es nun seine Subjektivität selbst geben und mit seiner Existenz, seinem Leib, für den Anderen einstehen. Es muss sich von seinem Sein lösen, es muss des-interessiert sein. Das désintéressement ist ein zentraler – und neben der Stellvertretung der
30 31 32 33 34 35 36
Ebd., S. 47, S. 56. Ebd., S. 47. So die entsprechende Kapitelüberschrift (ebd., S. 54). Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Vgl. ebd. Ebd., S. 121.
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
zentrale Begriff – in Jenseits des Seins. Der Übersetzer Thomas Wiemer übersetzt ihn mit Sich-vom-Sein-Lösen. 37 Überhaupt kommt es in diesem Werk mehr noch als in Totalität und Unendlichkeit darauf an, auf die Übersetzung zu achten. Der französische Originaltitel des Buches lautet Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Das französische être wird, das ist noch geläufig, mit Sein übersetzt. Der Begriff essence, der im traditionellen Sinne etwas Wesenhaftes, ein eidos oder eine Washeit bezeichnet, wird hingegen mit Sein geschieht übersetzt. 38 Er bezeichnet also einen Vollzug, eine Handlung im Gegensatz zum être, 39 welches eher das statische Beharren, den conatus meint. 40 Im Folgenden werde ich entsprechend von Sein schreiben, wenn être gemeint ist, und von sein (kursiv), wenn essence gemeint ist, wie es auch in der Übersetzung geschieht. 41 Das Interessiertsein am Sein ist nun in erster Linie eine Selbstbehauptung gegenüber dem Anderen. Das hat sich bereits in Totalität und Unendlichkeit gezeigt. Das egoistische Subjekt greift die Andersheit des Anderen an, versucht ihn an sein Selbst anzugleichen. So auch in Jenseits des Seins: »Das Interessiertsein am Sein und das Interessiertsein des Seinsaktes selbst findet seinen dramatischen Ausdruck in den miteinander im Kampf liegenden Egoismen, im Kampf aller gegen alle, in der Vielfalt der gegeneinander allergischen Egoismen, die miteinander Krieg führen und auf diese Weise zusammen sind. Der Krieg ist der Vollzug oder das Drama des Interessiertseins am Sein. […] Das sein ist so der äußerste Synchronismus des Krieges. Abgrenzungen werden sichtbar – und werden durch die Zusammenstöße sogleich wieder zunichte gemacht. Abgrenzungen kommen auf und gehen unter im Getümmel. Äußerste Gleichzeitigkeit oder Immanenz.« 42
Was Levinas hier beschreibt, kann als Kritik an der Hegelschen Dialektik aufgefasst werden. Die Andersheit des Anderen wird im Kampf Vgl. ebd., S. 23. Levinas weist selbst auf diese nicht-traditionelle Verwendung von essence hin (vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 17). 39 Thomas Wiemer macht in einer Anmerkung darauf aufmerksam, dass essence einen verbalen Seinsvollzug bezeichnet, Levinas in der Unterscheidung von essence und être allerdings nicht absolut stringent ist (vgl. ebd., S. 17 (Anm. a)). 40 Vgl. ebd., S. 24 (Anm. a), S. 26. 41 Vgl. ebd., S. 17 (Anm. a). Der Titel des Buches müsste genau genommen mit Anders als Sein (être) oder jenseits des seins/Seinsgeschehens (essence) übersetzt werden. 42 Ebd., S. 26 f. 37 38
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Vom Sein-für-den-Anderen zum Jenseits des Seins
aufgehoben. Das sein als Seinsvollzug strebt danach, alles an seine Zeit anzugleichen und gleichzeitig zu machen: Der »Synchronismus des Krieges«. Die Abgrenzungen werden nicht als lebendige Pluralität anerkannt, sie werden auch nicht in einem dialogischen Prozess miteinander versöhnt, sondern im sein (gewaltvoll) überwunden. Der Eine überwindet das Andere – das neu entstandene Dritte ist damit die Herrschaft des Einen über den Anderen. Levinas geht es also nicht darum, Pluralität oder Vielfalt zu kritisieren, weil diese doch nur zu einer beständigen Auseinandersetzung der Egoismen führen würden. Was er kritisiert ist vielmehr ein agonistisches Konzept, in welchem der eigene Seinsvollzug unter Missachtung der Transzendenz des Anderen vollstreckt wird. Denn in einem solchen Konzept ist die Gegenwart, diese »[ä]ußerste Gleichzeitigkeit oder Immanenz […]«, 43 in der sich die Egoismen versammeln, auch dann, wenn sie Frieden miteinander geschlossen haben, eine Gegenwart, »die sich dank der Erinnerung und der Geschichte ausdehnt zu einer wie die Materie determinierten Totalität; [die Seienden bleiben gegenwärtig] in einer Gegenwart ohne Sprünge und Unvorhersehbarkeiten, in der dem Werden kein Raum bleibt; in einer Gegenwart, die zu einem gut Teil aus ver-gegenwärtigenden Vorstellungen besteht kraft der Erinnerung und der Geschichte. Nichts ist unbegründet. Die Masse bleibt konstant, und es bleibt das Interessiertsein. Die Transzendenz ist Scheintranszendenz und der Friede unbeständig. Dem Eigennutz hält er nicht stand.« 44
Auf den ersten Blick widerspricht Levinas damit fundamental all dem, was wir in dieser Arbeit behauptet haben, nämlich dass das Dasein aus Geschichten hervorgeht und sich in ihnen unter Bezugnahme auf die Gegen-Geschichten und diese bewährend behaupten muss. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass für Levinas Geschichte und Erinnerung dann zu absoluten Determinanten werden, wenn ihr Ursprung im Subjekt selbst verortet wird. 45 Es kann dann nicht aus seiner Erinnerung, aus seiner Geschichte ausbrechen, es kann seine Geschichte nicht aus der Perspektive von GegenGeschichten betrachten, sich nicht von ihnen in seinem Seinsvollzug
Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. 45 So wie wir es bei Schapp gesehen und kritisiert haben, für den die Geschichten aus dem Horizont der Eigengeschichte konstruiert werden und damit letztendlich eine Perpetuierung des Eigenen sind (Kap. 1.2.2.). 43 44
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
unterbrechen lassen. Erinnerung wird so zur Reproduktion der immer gleichen Verstehensweisen. Levinas sucht deshalb nach dem Vor-Ursprünglichen, das nicht schon im Besitz des Subjekts ist, sondern dessen Subjektivität erst begründet. Er sucht, wie auch in Totalität und Unendlichkeit, nach der Transzendenz, nach der »Atemlosigkeit«, 46 die das Verharren im Sein unterbricht und damit das sein des Daseins zum Anderen-des-seins oder Jenseits-des-seins hin sich öffnen lässt. Das désintéressement ist als Ablösung vom sein eine De-Substantialisierung des Subjekts hin zu einem Modus, in dem es nicht mehr subsistiert, 47 in dem es also auch nicht mehr synchronisiert und den Zeitverlauf zu seiner Zeit macht, sondern sich von ihm löst, um die Zeit des Anderen als Diachronie sich zeitigen zu lassen. Die Zeit des Anderen ist »vor-ursprünglich[…]«, nicht synchronisiert oder synchronisierbar und nicht schon vom Bewusstsein gesetzt, sie ist eine »anarchische Vergangenheit […]«, 48 die sich ontologisch nicht beschreiben lässt und der das Subjekt je schon ausgesetzt ist. Die anarchische Vergangenheit ist, anders als die Vergangenheit der eigenen Erinnerung und der eigenen Geschichte, nicht vollständig einzuholen. Sie setzt das Subjekt in ein Schuldverhältnis, an dem es keine Schuld hat, die es aber dennoch tragen muss. Dies führt dann zur Stellvertretung, zum der-Eine-für-den-Anderen, die Levinas auch als Geiselschaft bezeichnet: »Das Subjekt ist Geisel.« 49 Die Initiative des Subjekts wird vom Anderen, der je schon vorweg ist, überboten. 50 Bevor es also eine Initiative ergreifen kann, bevor es ein Bewusstsein eines Ich entwickelt, ist es dem Anderen passiv ausgesetzt als Sich. Als Sich ist es, im Gegensatz zum Nominativ des Ich, im Akkusativ, das heißt im »Anklagefall«, 51 »ohne daß es Zuflucht fände im Sein, es ist ausgestoßen aus dem Sein […].« 52 Das Sich bestimmt sich also nicht vom Ich her, genauso wenig wie von einem diesem Ich vorausLevinas: Jenseits des Seins, S. 28. Hin schließlich zur Stellvertretung als Geisel (otage) des Anderen: »So weit gilt es die Substanzaufgabe des Subjekts [dé-substantiation du sujet] zu denken, seine Entdinglichung [dé-réification], sein Sich-vom-Sein-Lösen [désintéressement], seine Unterwerfung [sujection] – seine Subjektivität [subjectivité].« (Ebd., S. 283). 48 Ebd., S. 38. 49 Ebd., S. 248. 50 Vgl. ebd., S. 254. 51 Vgl. ebd., S. 244. 52 Ebd., S. 245. 46 47
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Vom Sein-für-den-Anderen zum Jenseits des Seins
gehenden Sein. Es ist nicht selbstreflexiv, sondern es wird vom Anderen bestimmt, es kann sich daher nicht aktiv setzen. Selbstsetzung und Selbstbesitz des Subjekts, seine ἀρχή, sind von der An-archie des Anderen durchbrochen. 53 Wie schon bei der anarchischen Vergangenheit, die nicht einzuholen, ergo nicht zu beherrschen ist, ist an-archisch im doppelten Wortsinn zu verstehen: Es ist ohne Ursprung im Subjekt, also diesem absolut transzendent – ohne Anfang. Es lässt sich daher nicht vom Subjekt beherrschen – es entzieht sich seinem Können. Das Sich ist nicht identisch mit einem identifizierenden Ich-Bewusstsein. Dieses muss im Sich der Anklage seine Selbstsetzung als eigener Ursprung (im idealistischen und ontologischen Sinne also seine ἀρχή) verfehlen: Die An-archie, die das Sich befällt, »hält das ontologische Spiel an, das gerade als Spiel Bewußtsein ist, in dem sich das Sein verliert und wiederfindet und sich so erhellt.« 54 Was hier abstrakt formuliert ist, ist letztendlich eine relativ simple Feststellung. Was dem Bewusstsein im Erkennen von Dingen, ihren Bildern und auch stereotypisierten Menschen gelingt: Nämlich die Aufhebung ihres Widerstandes im dialektischen Denken und die sich daraus ergebende Eingliederung als erkanntes Objekt; daran scheitert es, wenn es um die Andersheit des Anderen und auch um sich selbst geht. Es bleibt immer ein Überschuss, der als »Besessenheit« oder »Verfolgung« erlebt wird: Das Ich wird affiziert derart, dass sein Bewusstsein ausbleibt. 55 Es bemerkt, dass es nicht die Ursache seiner selbst ist. So fällt das Ich in eine Spaltung oder eine Leere hinein, bleibt im Rückstand zu sich, ohne sich abschließend mit sich identifizieren zu können: Es kann sich kein Bild von sich machen und erfährt diese Unmöglichkeit als dem-Anderen-ausgesetzt-sein: Als Geiselschaft. Ist das Ich derart auf sich zurückgeworfen, erfährt es sich als »den-Anderen-in-seiner-Haut-haben«. 56 Es ist immer schon vom Anderen in Anspruch genommen und kann nicht von ihm los kommen, auch dann nicht, wenn es allein ist. Levinas spricht von einer »Ungleichheit im Sich durch Stellvertretung, Ausbruch aus dem Begriff – Ausbruch nur von kurzer Dauer, doch bald darauf erneut versucht –, Einzigkeit, vorgeladen zur Verantwortung, aufgrund dieser 53 54 55 56
Vgl. ebd., S. 220 ff. Ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 225. Ebd., S. 254.
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
Vorladung keine Ruhe in sich findend; Sich ohne Begriff, ungleich in der Identität […].« 57 Durch Verfolgung und Vorladung durch den Anderen, die im Sich quasi internalisiert ist, und nicht mehr eines Einbruchs von außen bedarf – die Transzendenz spaltet, vorursprünglich und an-archisch, gewissermaßen die exteriore Dimension in das Innere des Subjekts hinein –, ist mit jeder Selbstbehauptung des Ich die Abkehr von seiner Identität gegeben. Dies geschieht immer wieder, das Subjekt schwankt ständig zwischen dem Versuch, sich als Ich zu identifizieren, und dem in es eingespaltenen Sich hin und her. Dies macht dann auch seine Einzigkeit aus, seine Subjektivität: Nicht sein eigener Ursprung sein können und deshalb mit jedem Ich-Sagen, 58 ja mit seiner Existenz als solcher, einem Anderen ausgesetzt zu sein, für den das von sich selbst für den Anderen aufgerufene Ich verantwortlich ist, ohne diese Verantwortung abgeben zu können. Levinas nennt diese im Ich mit dem Sich angelegte Spaltung eine »[d]iastatische Identität, bei der die Übereinstimmung schließlich an sich selber scheitert, Sich in der identifizierenden Rekurrenz, in der ich mich weiter zurückgeworfen finde als bis zu meinem Ausgangspunkt!« 59 Die diastatische Identität ist eine Sich-Identität (ein Begriff, den Levinas selbst nicht benutzt), die die sich in der versuchten Herrschaft über das sein aufrichtende Ich-Identität zersprengt. Eine solche Identität, die keinen Zugriff auf die Spontaneität des Ich-Bewusstseins hat, ist für Levinas notwendig, um überhaupt Verantwortung für den Anderen tragen zu können. Man könnte hier auch von der Unterscheidung zwischen Nominativ-Identität (die danach trachtet, das sein zu beherrschen) und Akkusativ-Identität sprechen (die offen ist zum Jenseits-des-sein). Ivan Stuppner unterscheidet zwischen dem Individuum (je) und dem ethischen Ich (moi). 60 In Jenseits des Seins versteht Levinas allerdings das Moi bereits als imperialistisch, 61 was durchaus sinnvoll erscheint, immerhin handelt es sich grammatikalisch beim moi um Ebd., S. 255. Vgl. ebd. 59 Ebd. 60 Vgl. Stuppner, Ivan: Die Metamorphose der Einsamkeit zum Dialog. Ein möglicher Denkweg zwischen Martin Buber und Emmanuel Levinas. Marburg: tectum 2013, S. 97. 61 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 358 (In der französischen Originalausgabe: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. La Haye: Nijhoff 1974 (Phaenomenologica 54), S. 209). 57 58
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Vom Sein-für-den-Anderen zum Jenseits des Seins
eine emphatische Betonung des je, die eine disjunktive Funktion forciert, eine Trennung also, die, so müssen wir Levinas lesen, den Anderen eher in eine inferiore Position rückt. Im Gegensatz zur Unterscheidung von Stuppner wird das Je allerdings als Ich betrachtet, das das Sich der Stellvertretung schon in sich trägt und somit kein allgemeiner und austauschbarer Begriff mehr ist, den Levinas hier mit dem Moi identifiziert. 62 Vielmehr ist das Je durch die Anklage einzigartig. Nur dieses angerufene und im Anruf bestimmte Ich kann für den Anderen einstehen: »Das Nichtaustauschbare schlechthin, das Ich [le Je], der Einzige steht ein für den Anderen. Nichts ist hier Spiel. So wird das Sein transzendiert […]. Es [das Ich oder Je. Anm. D. M.] ist seine außergewöhnliche Einzigkeit in der Passivität oder der Passion des Sich, die jenes unablässige Geschehen der Unterwerfung unter alles, der Stellvertretung, ausmacht […].« 63
Bemerkenswert ist, dass Je hier großgeschrieben wird – eben weil es in seiner Einzigartigkeit angerufen wird, in der es niemand sonst vertreten kann. Die Selbstbehauptung als dieses Ich impliziert die vorgängige Behauptung als Sich und trägt diese mit. Die Sich-Identität, die das Ich als Je mitträgt, ist daher eine Identität, die nicht zur Deckung kommt mit der Vorstellung eines im Sein verortbaren Ich (welches dann ein Moi wäre). Allerdings scheint Levinas diese Bestimmungen nicht immer klar voneinander zu trennen, denn er schreibt auch: »Ich-Einzigkeit [Moi unicité], unvergleichlich, weil außerhalb der Gemeinschaft, der Gattung und der Form, Ruhe in sich nicht mehr findend, un-ruhig, mit sich selbst nicht in Übereinstimmung.« 64 Moi unicité wäre also eher dem Je zuzuordnen. Das alles klingt paradox. Das Ich ist als Sich-Identität nicht in Übereinstimmung mit sich selbst. Dennoch bildet es eine Identität aus und muss dies tun. Denn um den Anderen in meiner Haut haben zu können, muss ich mich irgendwie mit dieser Haut identifizieren können, sonst würde die Stellvertretung in der Entfremdung des Sich von sich selbst verharren. Hilfreich ist, was Levinas an anderer Stelle über die Wachsamkeit als Voraussetzung des ethischen Verhältnisses schreibt: Vgl. hierzu die Anmerkung des Übersetzers auf S. 258 von Jenseits des Seins. Levinas: Jenseits des Seins, S. 258 (Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 149). 64 Levinas: Jenseits des Seins, S. 35 (Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 9 f.). 62 63
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»Die Wachsamkeit – Wiedererwachen im Erwachen – bedeutet das Ab-danken der Identität, was nicht ihre Vernichtung meint, sondern ihre Stellvertretung für den Nächsten – Ordnung oder Unordnung, in der die Vernunft nicht mehr Erkenntnis noch Handlung ist, sondern in der sie – durch den Anderen aus dem Sattel ihrer Verfassung geworfen – aus dem Sattel des Selben und des Seins – in ethischer Beziehung mit dem Anderen steht, Nähe des Nächsten.« 65
Dieses Abdanken der Identität in der Wachsamkeit lässt sich als Abdankung der Ich-Identität begreifen, die auf die Herrschaft über das Sein ausgerichtet ist. Die Sich-Identität wäre dann jene Identität, die aus der Stellvertretung erwächst und sich nicht mehr mit ihrem Beharren im Sein (conatus) und ihrem Seinsvollzug identifiziert, sondern eben mit ihrer Verantwortung für den Anderen. Sie ist insofern eine instabile Identität, die sich vom Anderen immer wieder zur Umkehr veranlasst sieht, die aber auch durch diese Umkehr zum Anderen an Stabilität gewinnt, insofern sie, um dies in eine hermeneutische Sprache zu übertragen, mit der Umkehr die Gegen-Geschichten in ihrer Geschichte bewährt und somit auch sich selbst. Dies entspricht der Ipséité Paul Ricœurs, auf die wir noch zu sprechen kommen (Kap. 4.3.3.). Wachsamkeit als Wiedererwachen im Erwachen verdeutlicht, dass es sich bei der Abdankung der Ich-Identität zugunsten der SichIdentität in der Stellvertretung um einen Prozess handelt, der immer wieder neu geschieht. Das Ich mag sich abwenden vom Anderen, in seiner vermeintlichen Ich-Identität vermauern. Das Sich bricht jedoch immer wieder durch, es ist »die nicht vernarbende Wunde […] im Ich […].« 66
3.3. Eine Ästhetik des Entzugs Während der Sprachvollzug in Totalität und Unendlichkeit zugleich der Vollzug des ethischen Verhältnisses war, sieht Levinas dieses Verhältnis in Jenseits des Seins in der Abgeschlossenheit des Sprechens verstellt. Denn das Sagen (dire) als unmittelbarer Vollzug des Verhältnisses zum Anderen, also als das, was wir in Totalität und UnendLevinas, Emmanuel: Vom Bewußtsein zur Wachheit. In: Ders.: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Freiburg: Alber 2004 (Alber Studienausgabe), S. 44–78. Hier: S. 76. 66 Levinas: Jenseits des Seins, S. 280. 65
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Eine Ästhetik des Entzugs
lichkeit als metaphysisches Begehren der Transzendenz kennen gelernt haben, wird zum Gesagten (dit). 67 Das Gesagte aber bedeutet einen Anfang, eine Vorstellung und ein Prinzip, dem das Seiende (und damit auch der andere Mensch) untergeordnet werden kann. Fremdheit und Zweideutigkeit, die das Festgestellte immer wieder überrollen, gehen in der Eindeutigkeit des Gesagten auf. 68 Damit verliert das Antlitz seine Dimension des Unendlichen. Es wird eingereiht in die thematisierte Objektwelt und mit dieser zusammen dem Interesse unterstellt, der Herrschaft des Seins über die Seienden. Das Sein herrscht ›mithilfe‹ von Begriffen und ihrer Objekte über den Anderen und schließlich auch über das Selbst. Der Diskurs beherrscht alles, er zieht das Sagen immer wieder ins Gesagte zurück. 69 Das Geflecht des Gesagten macht die Welt verstehbar und letztendlich auch erinnerbar. 70 Jede Erzählung besteht ja zunächst aus Gesagtem. Diskurse lassen sich jedoch nur erweitern und verändern, Erinnerungen nur verlebendigen, wenn das Gesagte irgendwie durchbrochen, das Interesse wieder zum désintéressement wird – Ontologie und Logik wieder zur Ethik werden. Dies geschieht durch den Einbruch des Anderen als Antlitz in die Zeit und die Welt des Selbst. Man kann sagen, dass die Thematisierung der Welt im Angebot, das das Ich dem Anderen macht, im Vollzug der Gabe wieder aufgelöst wird. Das Bezeichnete, das dem Anderen gegeben wird, wird von seinem Begriff befreit, auf den es vom Subjekt gebracht wurde. Es wird, indem es vom Anderen ›verzehrt‹ wird, mehr als sein Begriff. Das Sagen, das noch durch das Gesagte des Angebots an den Anderen durchscheint, ist kein Sprechen im eigentlichen Sinne, sondern es »bedeutet anders als ein in Erscheinung tretender Diener, der sein und Seiende vorstellt […].« 71 Es ist ein »Sagen[…] vor dem Gesagten« 72 oder »ohne Gesagtes«, 73 eine vor-ursprüngliche Nähe, 74 die das Ich zum Sich umkehrt und vor jedem Engagement geschieht. 75 Es ist das Geben »wider Willen«, das 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Vgl. ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 38 f. Vgl. ebd., S. 366 ff. Vgl. ebd., S. 94, S. 124. Ebd., S. 111. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71; sowie die Überschrift des Kapitels S. 110–116. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 122 f.
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
das »Für-sich« unterbricht, »heißt: sich das Brot vom Munde reißen, den Hunger des Anderen mit meinem eigenen Fasten stillen.« 76 Das Brot, thematisiert als Nahrungsmittel, das ich beanspruche, verliert sein Thema für mich, wenn der Andere hungert. Das Sagen scheint durch das Gesagte (das zum Eigenverzehr beanspruchte Brot) hindurch, insofern es die Nähe als zwischenmenschliches Verhältnis spürbar werden lässt. Das Widerrufen oder Ent-sagen (dédire) 77 des Gesagten wird offenkundig in seiner plastischen, materiellen Dimension: Durch die Nähe des Anderen wird mein Anspruch auf das Brot widerrufen, werde ich genötigt, meiner Nahrung zu entsagen und das Leid des Anderen – seinen Hunger – zu übernehmen. Dies geschieht auch dann, wenn ich ihm das Brot verweigere. Denn das Sich im Ich meldet sich so oder so als »An-sich-Nagen des Gewissensbisses.« 78 Überlasse ich dem Anderen das Brot, bleibt der Gewissensbiss, da ich ihm nicht genug geben kann. Das Sagen als Offenheit gegenüber dem Anderen ist deshalb vor der Gabe des Brots als Ding. Es ist die Übernahme des Leidens selbst. Zwar ist – daran muss festgehalten werden – jedes zwischenmenschliche Verhältnis und auch das Verhältnis des Selbst zu sich auf Benennung durch Sprache verwiesen. Das Sagen als Nähe zum Anderen aber zeigt auf, dass die Sprache über sich hinausgeht und immer mehr bedeutet als einen Begriff, also immer etwas Nicht-Identisches involviert, das aber wiederum zur Sprache und zum Sprechen drängt. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob es außerhalb des Von-Angesicht-zu-Angesicht eine Möglichkeit gibt, das Gesagte zu widerrufen oder zu entsagen und im Sagen die Nähe des Anderen zu finden, auch wenn dieser nicht physisch als Mensch vor mir steht? Daran schließt sich die Frage an, ob es eine Stellvertretung des Selbst als der-Einefür-den-Anderen geben kann, in der das Sich im Ich gewissermaßen vermittelt über das andere des Anderen erfasst und beansprucht wird? Mit anderen Worten: Wie steht es um die Kunst, die Literatur, die Lektüre? Lassen diese eine andere Zeit zu, eine Diachronie der Zeit Jenseits-des-Gesagten, 79 in der die Nähe des Unvordenklichen, des Widerständigen gegenüber der Gegenwart, des sich immer ent-
Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 34, S. 314 (Fußnote 7), S. 332 (hier mit »zurückzunehmen« übersetzt), S. 339. 78 Ebd., S. 255. 79 Vgl. ebd., S. 95. 76 77
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Eine Ästhetik des Entzugs
ziehenden Anderen spürbar wird? Diese Möglichkeit haben wir bereits im Abschnitt über die Erzählung ins Auge gefasst (Kap. 1.5.). Levinas scheint hier zunächst skeptisch, sieht er im Gesagten, das die Thematisierung des Sagens ist und sein muss, um im logischen Sinne verstanden zu werden, 80 doch den Verrat am Sagen und damit am Anderen. Und zweifellos ist Literatur zunächst Gesagtes. 81 Dasselbe gilt für jede (historische, wissenschaftliche, künstlerische) Darstellung, insofern sie Thematisierung ist und damit die Differenz des Sagens zum Gesagten nivelliert, den Anderen, der das Nicht-Darstellbare ist, ausschließt, womit dieser in der Darstellung sein Gesicht als Nächster verliere. 82 Es scheint daher vor gewisse Probleme zu stellen, Levinas’ Ansatz auf Kunst und Literatur übertragen zu wollen, 83 denn die ethische Beziehung zeigt sich für ihn unvermittelt in der direkten Situation Von-Angesicht-zu-Angesicht (bzw. im ›inneren‹ Sich der Stellvertretung). In seinem frühen Aufsatz Ethik und Geist (1952) schreibt Levinas, noch ganz der ontologischen Sprache verhaftet: »Das Gesicht ist ein irreduzibler Modus, dem zufolge das Sein sich in seiner Identität darstellen kann. Die Dinge sind das, was sich niemals
Vgl. ebd., S. 112. Kunst und Dichtung, Gesang und Poesie ließen, so Levinas, das sein zwar erklingen, lösten die Substanzen auf in Verbalität und ließen das Sein in besonderer Weise erscheinen. Sie geschähen aber immer noch als sein innerhalb des Seins (vgl. ebd., S. 99 ff.). 82 Vgl. ebd., S. 361. 83 Einen Versucht unternimmt Katharina Bahlmann in Können Kunstwerke ein Antlitz haben? (Bahlmann, Katharina: Können Kunstwerke ein Antlitz haben? Wien: Passagen Verlag 2008 (Passagen Philosophie)). Sie bejaht diese Frage schließlich, insofern sie eine Nähe der ethischen und ästhetischen ›Erfahrung‹ konstatiert: »Wie in der ethischen, so nimmt das Ich auch in der ästhetischen Erfahrung das stumme Sagen seines Gegenübers in seiner Antwort auf; eine Antwort, die dem Sprechen des Anderen beziehungsweise des Kunstwerks nie gerecht wird und sich somit in ihrem Anspruch immer mehr steigert.« (Ebd., S. 77) Sie weist allerdings darauf hin, »dass es keine Garantie beziehungsweise Notwendigkeit gibt, dass die Wahrnehmung eines Kunstwerks in Analogie zur Begegnung mit dem Anderen geschieht.« (Ebd.) Somit lässt sich die Frage spezifizieren: Gibt es bestimmte Formen oder ›Darstellungsweisen‹ eines Kunstwerks, in denen das Dargestellte überwunden wird beziehungsweise gar nicht erst als etwas Dargestelltes auftaucht (und damit der Epiphanie des Antlitzes als in seinem Erscheinen bereits entzogen ähnelt)? Daran schließt die Frage an, ob man in einem solchen Fall noch von einem Kunstwerk sprechen kann. So weist Paul Celan den Kunstbegriff für seine Dichtung zurück, da für ihn mit Kunst in erster Linie auch das Künstliche, das Artifizielle assoziiert ist (vgl. Celan: Der Meridian, S. 149 ff.). 80 81
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
persönlich darstellt und letztlich keine Identität hat. Auf das Ding bezieht sich die Gewalt. Sie verfügt über es, ergreift es. Die Dinge bieten eine Handhabe, sie zeigen kein Gesicht. Es sind Seiende ohne Gesicht. Vielleicht sucht die Kunst den Dingen ein Gesicht zu geben, und darin liegt sowohl ihre Größe wie ihre Lüge.« 84
Ist Kunst also grundsätzlich eine Verdinglichung des Anderen, die im Versuch, den Dingen ein Gesicht zu geben, diese sowohl ihrer Dinghaftigkeit beraubt als auch den Zugang zum Anderen verstellt und deshalb letztendlich scheitern muss? 85 Oder gibt es eine Größe, der keine Lüge zugrunde liegt? Ich möchte den Versuch wagen, nicht die Kunst als solche jedweden (gerechtfertigten) Zweifels zu entheben, aber doch zu fragen, ob es nicht bestimmte ›Formen‹ der Kunst und der Literatur geben kann, die mit der Stimme des Anderen sprechen – aus denen uns also ein Antlitz anruft. Deshalb möchte ich einige Aspekte, die wir bereits kennen gelernt haben, auf solche ›Formen‹ übertragen.
3.3.1. Nähe und Unterbrechung: Die Störung des Diskurses Die Beziehung zum Anderen als meinem Nächsten, dem ich verantwortlich bin, ist eine »[u]nbeschreibbare Beziehung, im buchstäblichen Sinne des Wortes: unverwandelbar in Geschichte, irreduzibel Levinas, Emmanuel: Ethik und Geist. In: Ders: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1992, S. 11–20. Hier: S. 17 f. 85 Anders als die angebotenen Dinge könnte ein Kunstwerk dann nicht mit Anderen geteilt werden. Diese Möglichkeit erwägt Levinas in seinem frühen Aufsatz Ist die Ontologie fundamental? (Originalveröffentlichung 1951): »Können die Dinge ein Antlitz annehmen? Ist die Kunst nicht eine Tätigkeit, die den Dingen ein Antlitz verleiht? Ist die Fassade eines Hauses nicht ein Haus, das uns ansieht? Die Analyse, soweit sie bisher durchgeführt ist, genügt nicht zur Antwort. Immerhin fragen wir uns, ob sich nicht in der Kunst die unpersönliche Gangart des Rhythmus in ihrer Faszination und Magie an die Stelle der Gemeinsamkeit, des Antlitzes, des Wortes setzt.« (Levinas, Emmanuel: Ist die Ontologie fundamental? In: Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg: Alber 1983 (Alber-Broschur Philosophie), S. 103–119. Hier: S. 117 f.). Nebenbei bemerkt geht Levinas hier, wie auch in Totalität und Unendlichkeit, noch davon aus, dass Antlitz und Wort (beziehungsweise die Antwort auf das Antlitz als erstes Wort) eine Gemeinsamkeit herstellen. Später weist er dies ja zurück. Gerade das Nicht-Gemeinsame und Ungleichzeitige ist dann das Movens des ethischen Verhältnisses. 84
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Eine Ästhetik des Entzugs
auf die Gleichzeitigkeit des Geschriebenen, auf die ewige Gegenwart des Geschriebenen, das Ergebnisse verzeichnet oder präsentiert.« 86 Dies scheint inkompatibel zu sein mit dem, was wir über die Erzählung gesagt haben (Kap. 1.5.). Aber auch dort hieß es ja bereits, dass das Vergangene, das in der Erzählung erzählt wird, aktualisiert werden muss und die andere Zeit Zeitbrücken zwischen den Zeiten bildet, die diese aus ihrer, so lässt sich nun mit Levinas sagen, jeweiligen ewigen Gegenwart befreien, und eine Begegnung ermöglichen, ohne dass das Dissonante in einer Konsonanz zu einer vollständigen Gleichzeitigkeit wird. Gerade im Durchbruch der Dissonanz oder Diachronie in die Gleichzeitigkeit liegt eine Weise des Verstehens, vielleicht sogar die relevanteste. Wir haben ebenfalls gesehen, dass es sich dabei um einen unablässigen Prozess handelt, in dem die Erzählung verstanden, Begriffe und Bedeutungen in ihr und außerhalb von ihr ein- und festgeschrieben werden, bevor sie erneut zerbrochen, aufgelöst oder dekonstruiert werden. Die Vorstellungskraft ist dabei ständig gefordert, der Leser in einzigartiger Weise verantwortlich für den Text. Levinas konstatiert einen ähnlichen Prozess. Er unterscheidet zwei Verstehbarkeiten, die sich gegenüberstehen: Verstehbarkeit als unpersönlicher Logos und Verstehbarkeit als Nähe. 87 Der Verstehbarkeit als Logos korreliert die Vernunft der Vorstellung, des Wissens und der Deduktion. Der Verstehbarkeit als Nähe korreliert die vorursprüngliche Vernunft der Differenz, der Nicht-Indifferenz (gegenüber dem Anderen) und der Verantwortung. 88 Während die erste synchronisiert, schiebt die andere immer wieder die Diachronie ein in den Prozess der Wissens- und Wahrheitsproduktion. Beide Verstehbarkeiten haben weiterhin ihre Entsprechungen in Skeptizismus und Widerlegung des Skeptizismus. 89 Das skeptische Nachfragen unterbricht die Kontinuität der (philosophischen) Begriffe, die als ewig und unabänderlich gesetzt werden. Das Verhältnis entspricht dem von Ontologie und Ethik in Totalität und Unendlichkeit. Doch der Diskurs, so konstatiert es Levinas für die »abendländische Philosophie«, geht weiter, der Skeptizismus fordert seine Widerlegung heraus: 86 87 88 89
Levinas: Jenseits des Seins, S. 361. Vgl. ebd., S. 363. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 363 ff.
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
»Der gesagte Logos hat das letzte Wort, das allen Sinn beherrscht, das Schlußwort, ja selbst die Möglichkeit des Letztendlichen oder Letztgültigen und des Ergebnisses. Nichts kann ihn unterbrechen. Jede Bestreitung und Unterbrechung dieser Macht des Diskurses wird sogleich erzählt und durch den Diskurs umgekehrt. Er beginnt also von neuem, sobald man ihn unterbricht. Im gesagten – und geschriebenen – Logos überlebt er den Tod der ihn ausdrückenden Gesprächspartner, und er sichert so die kulturelle Kontinuität.« 90
Jedoch lässt sich der Skeptizismus als Widerstand gegen die Herrschaft des Begriffs, gegen die der Konvention oder die einer vorherrschenden Siegeserzählung, die die Opfer verschweigt, nicht endgültig still stellen. Denn das, was erzählt oder geschrieben wird, geht von Einem zum Anderen, ist Tradition, in der Erneuerung geschieht oder potentiell geschehen kann. 91 Immer wieder können neue Bedeutungen aus dem konventionellen Bedeuten des tradierten Begriffs entstehen, »dessen Auslegung die Entfaltung oder Geschichte vor aller Historiographie ist. Auf diese Weise bedeutet die unauflösbare Mehrdeutigkeit, die die Sprache wirkt.« 92 Das Bedeuten auf eine Geschichte hin, die vor jeder Einbettung in einen Diskurs bedeutet und das Erzählte der Erzählung wieder ins Erzählen bringt, indem sie auf Implikationen verweist, die erst dann auftauchen, wenn der Begriff der konventionellen Überlieferung einer synchronisierenden Geschichtsschreibung abgerungen wird – dieses andere Bedeuten, das der logischen Verstehbarkeit voraus geht, zeigt sich am deutlichsten »im poetischen Ausdruck und der Interpretation, zu der er unablässig aufruft […].« 93 Der poetische Ausdruck – ob Neologismus oder Metapher oder etwas anderes scheint zunächst einmal unerheblich – bedeutet über den Begriff, über den Logos oder das bloße Wort, das wir zu kennen und zu verstehen glauben, hinaus. Levinas parallelisiert ihn mit dem »prophetischen Ausdruck«, der »in einer Art Erhebung seine Bedingungen oder Bedingtheit geringschätzt.« 94 Zweifellos handelt es sich um Gesagtes, 95 allerdings um eines, das, wie das Wort eines Propheten, über dem Sein steht und dieses zur Ebd., S. 366. Vgl. ebd., S. 367. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 367 f. 94 Ebd., S. 368. 95 Im französischen Original ist dementsprechend von »dit poétique« bzw. »dit prophétique« die Rede (Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 216). 90 91
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Umkehr zum Jenseits-des-Seins aufruft. Durch das Sagen im poetisch bzw. prophetisch Gesagten bleibt dieses Gesagte »unüberwindbare Mehrdeutigkeit, Bedeuten, Sinn, der sich der Gleichzeitigkeit verweigert, nicht ins Sein eingeht, sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügt.« 96 Der »poetische Ausdruck« ist eine Störung im Sein und in dessen gewohnten Verstehensweisen, eine Störung der Ganzheit oder der Totalität. Er ist damit weit mehr als Bedeutung: Er ist der Akt einer anderen Art zu bedeuten, deren Bedeutsamkeit in der Störung des Diskurses liegt und nicht so sehr in dem, was sie bedeutet. Um hier etwas Klarheit zu schaffen, würde es vermutlich reichen, an den Vers eines beliebigen Gedichts zu erinnern, dem, neben seiner wörtlichen, dem Diskurs bereits angehörigen, auch immer eine metaphorische Bedeutung zukommt. 97 Allerdings gibt es besondere Formen des »poetischen Ausdrucks«, die bereits in ihrer Darstellungsweise – wenn in diesem Zusammenhang überhaupt von einer solchen die Rede sein kann – auf diese andere Art zu bedeuten hinweisen; eine Weise darzustellen, die schon verhindert, dass etwas Dargestelltes zu einem identifizierbaren Thema wird, die also das Noema in der Noesis (das Wahrgenommene oder Wahrzunehmende im Akt der Wahrnehmung) auflöst oder hintergeht, wie es für das begegnende Antlitz gilt. 98 Ein Gedicht, das mich befällt, bevor mir auffällt, wer oder was, welches Thema, welcher Inhalt, mich befällt. 99 Levinas: Jenseits des Seins, S. 368. Zu diesem Themenkomplex: Ricœur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970– 1999). Hamburg: Meiner 2005 (Philosophische Bibliothek Bd. 570), S. 109–134. Vor allem: S. 110–118. 98 Ganz so, wie es für die Besessenheit vom Anderen gilt, wenn er sich als mein Nächster offenbart: »Die äußerste Dringlichkeit der Vorladung erschüttert die ›Geistesgegenwart‹, die notwendig ist zur Rezeption einer Gegebenheit und zur Identifizierung des Verschiedenen, in welchem das Phänomen als Noema einer Noesis erscheint. Äußerste Dringlichkeit – Modalität der Besessenheit (die erfahren wird, aber kein Wissen ist): ich habe nicht die Zeit, ihr zu begegnen. Außerhalb der Konventionen […] kommt keine Aufnahme dem Maß gleich, das der Nächste mir vorgibt. Die Angemessenheit ist hier unmöglich. Die Verpflichtungen stehen in keinem entsprechenden Verhältnis zu jedwedem eingegangenen noch einzugehenden oder gegenwärtig zu erfüllenden Engagement. In einem bestimmten Sinne ist nichts störender als der Nächste.« (Levinas: Jenseits des Seins, S. 197). 99 Wieder analog zu dem, was Levinas über die Besessenheit schreibt: »In einem Bewußtsein, das durch einen Gegenstand affiziert wird, kehrt sich die Affektion um in Aufnahme. Hier dagegen [in der Besessenheit vom Begehrten. Anm. D. M.] wirkt der Schlag der Affektion in traumatischer Weise ein auf eine Vergangenheit, die tiefer ist 96 97
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Die Rezeption eines gewöhnlichen, ›traditionellen‹, man könnte auch sagen ›einfach lesbaren‹ Gedichts wird umgekehrt. Ich lese und verstehe nicht zunächst und werde aus diesem Verständnis heraus durch den Inhalt oder das Thema des Gedichts auf ein relatives Unverständnis gestoßen, das sich beispielsweise aus der Umkehrung des wörtlichen zum metaphorischen Sinn des Gesagten ergibt. Vielmehr gelingt es mir von Beginn an nicht oder nur sehr fragmentarisch, einen Inhalt festzumachen. Damit ist nicht erst dieser Inhalt, sondern schon die Darbietung ein Störelement. Die Verstehbarkeit als Nähe ist hier der herkömmlichen Verstehbarkeit als Logos schon vorgängig (wobei Nähe hier die Nähe einer Besessenheit meint, der die Fremdheit eigentümlich ist, und die in Entfernung umschlagen kann; Nähe des Transzendenten, nicht zu Fassenden). Aus der Verstehbarkeit als Nähe kann sich dann weiterhin durchaus ein Verständnis des Gedichts entwickeln, das dem Leser konkreter ›etwas sagt‹, Bedeutungen, die für ihn in seiner Lebenswelt etwas bedeuten, dies aber eben nicht auf herkömmliche Weise tun, sondern diese Weise erweitern, indem sie sie zunächst durchkreuzen. Besonders deutlich wird dies in der Dichtung Paul Celans. Es gibt sicherlich noch extremere Beispiele aus dessen Œuvre, wir können uns an dieser Stelle jedoch durchaus mit der berühmten Wendung zu Beginn der Todesfuge behelfen: »Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends/ wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts […].« 100 Welchem Diskurs sollten diese Verse bereits angehören? Welcher Inhalt stünde da schon fest als solcher, der nicht sofort wieder aufgelöst würde, also bevor er bewusst identifiziert werden kann (wenn man davon absieht, dass es sich bei Milch um eine Flüssigkeit handelt, die gemeinhin getrunken wird)? Die Milch im Oxymoron »Schwarze Milch« ist sicher nicht die Milch, die wir täglich trinken, in den Kaffee oder über das Müsli gießen, nicht die Milch, die an einen Marktpreis gebunden ist. Ja, man kann sie noch nicht einmal als Milch identifizieren und für diese Erkenntnis braucht es nicht mehr als die Metapher »Schwarze Milch« selbst. Man sieht, wie dieser »poetische Ausdruck« eine Störung im sein hervorruft und
als alles, was ich durch die Erinnerung, durch die Historiographie zu versammeln imstande bin, was ich durch das a priori beherrschen kann: auf eine Zeit vor dem Anfang.« (Ebd., S. 197 f.). 100 Celan, Paul: Todesfuge. In: Ders.: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 46 f.
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auf etwas verweist, das nicht zum Sein gehört, insofern es nicht in es festgeschrieben ist, noch kein Begriff ist, seine Entsprechung noch in keinem Intelligiblen hat. Der »poetische Ausdruck« bedeutet in einer anderen Art als es die Bedeutung gemeinhin tut, insofern sie etwas zur Deckung miteinander bringen will (die gewöhnliche Metapher beispielsweise mittels eines Tertium comparationis) und damit jene Gleichzeitigkeit herstellt, die es aufzulösen gilt. Der »poetische Ausdruck« bedeutet, indem er auf das Nicht-Gemeinsame hindeutet beziehungsweise den Schein eines Gemeinsamen zerstört, gewissermaßen in die Leere oder Dunkelheit jenseits von Sein und Nichtsein sich richtet. 101 Der »poetische Ausdruck« markiert eine Grenze oder eine Öffnung zum Anders-als-sein, wobei er freilich wieder ins Sein eingeholt werden, interpretiert und ›sinnvoll‹ werden kann. Doch das Störungspotential bleibt ihm mitgegeben und fordert immer wieder neu heraus, sodass man ihn immer wieder neu interpretieren muss. Weiter schreibt Levinas, dass die »Unterbrechungen des Diskurses, die in der Immanenz des Gesagten wiederaufgenommen und erzählt werden,« in einer »Spur einer Diachronie, die nicht in die Gegenwart eingeht und sich der Gleichzeitigkeit verweigert […],« 102 überleben. Außerdem werde auch der »letzte[…] Diskurs« durch die Referenz auf den Gesprächspartner, dem ich etwas sage, unterbrochen, denn dieser stehe außerhalb des Diskurses. 103 Freilich lässt sich anmerken, dass dieser Partner spätestens dann, wenn ich ihm etwas über den Diskurs mitteile, ebenfalls zum Teil des Diskurses wird, der dann wieder durch einen weiteren Gesprächspartner unterbrochen werden müsste usw. Außerdem haben wir bereits angedeutet (Kap. 1.5.), dass der Text in zumindest einer Phase der Lektüre diesen Gesprächspartner und einen direkten außertextlichen ostensiven Nicht also auf ein Tertium comparationis, das zwei Ebenen zur Deckung bringt und immer vorstellbar und denkbar ist, sondern auf das Unendliche als eines Dritten, das sich dem Denken und der Vorstellung immer wieder entzieht, so wie Levinas es über die Nähe des Antlitzes des Anderen in der Stellvertretung schreibt: »Das derEine-für-den-Anderen der Nähe bildet keine ontologische Verbindung der Befriedigung. Die Fassungskraft des Seienden – und des Bewußtseins, seines Korrelates – reicht nicht aus, um die Verstrickung, die im Gesicht des Anderen [Wiemer übersetzt visage mit Gesicht. Anm. D. M.] angelegt ist, in sich aufzunehmen, jene Spur einer unvordenklichen Vergangenheit, die eine Verantwortung hervorruft derart, daß sie nicht mehr unter die Einklammerung einer Epoché fällt, sondern ihr zuvorkommt oder über sie hinausgeht.« (Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 217 f.). 102 Ebd., S. 369. 103 Vgl. ebd. 101
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Weltbezug suspendiert, was notwendig ist, damit sich die Welt des Textes überhaupt voll entfalten kann (Kap. 4.1.). Über die schriftliche Fixierung des Diskurses schreibt Levinas dann: »Gewiß wird im Schriftlichen das Sagen zum reinen Gesagten, zur Gleichzeitigkeit des Sagens und seiner Bedingungen. Der unterbrochene Diskurs, der seine eigenen Unterbrechungen noch einmal einholt – genau das ist das Buch. Doch haben Bücher ihre Bestimmung, sie gehören zu einer Welt, die sie nicht umfassen, sondern die sie anerkennen, indem sie geschrieben und gedruckt werden und indem sie sich Vorworte geben und vorausgehen lassen. Sie werden unterbrochen, berufen sich auf andere Bücher und lassen sich schließlich interpretieren in einem Sagen, das sich vom Gesagten unterscheidet.« 104
Hier wird die Ambivalenz des Schriftlichen deutlich. Als Gesagtes ist es Teil einer Welt, die noch über das Gesagte hinaus geht und ihm vor- und nachgängig ist. Bücher fixieren die Unterbrechungen des Diskurses, die für Levinas im Von-Angesicht-zu-Angesicht der direkten Begegnung stattfinden. Aufgrund ihrer intertextuellen Verweise bilden sie eine eigene Welt, in der wiederum Unterbrechungen aufgenommen werden und stattfinden können. Ricœur schreibt in diesem Zusammenhang, dass die Welt außerhalb des Textes von der Quasi-Welt der Literatur getilgt werde, in der die Worte aufhörten, auf Dinge zu verweisen. Die Quasi-Welt höre auf, das zu sein, was durch Sprechen gezeigt werden könne. 105 Texte, die wiederum auf andere Texte verweisen, machen diese Welt schier unendlich und lösen sie aus Zeit und Raum. Der Leser kann an Orte und in Zeiten versetzt werden, die nicht der Gegenwart entsprechen. So weit geht Levinas auf den ersten Blick nicht. Bei ihm ist es vor allem der als Antlitz anwesende Andere, der das Gesagte immer wieder unterbricht. Ehrlicherweise muss man wohl zugeben, dass eine Interpretation eines Textes dann am besten gelingt, wenn man sich in einem direkten Gespräch mit Anderen befindet, in dem das Sagen sich vom Gesagten unterscheidet und wiederum die Welt des Textes transzendiert, Verknüpfungen auftut, die über den ›reinen Text‹ hinausgehen und auch solche, die der Einzelne als Leser allein nicht finden würde. Dennoch: Auch das still und allein lesende Ich ist primär ein Sich, bis Ebd., S. 369 f. Vgl. Ricœur: Was ist ein Text? In: Ders.: Vom Text zur Person, S. 79–108. Hier: S. 84.
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in die Tiefen seiner Identität dem Anderen ausgesetzt und für den Anderen verantwortlich. Das heißt, dass das lesende Ich als Sich dem Anderen in der Interpretation eines Textes in gewisser Weise Rechenschaft schuldig ist. Der Andere spricht im Text immer mit, auch wenn er gegenwärtig leiblich nicht anwesend sein mag. Deshalb ist der »stille Diskurs mit sich selbst« 106 immer schon auf den Anderen hin geöffnet, der ihn unterbricht. Das Sich dieses Diskurses ist ein »Zeichen auf die Anderen hin. Jeder Diskurs, selbst der innerlich formulierte, steht in der Nähe und umfaßt nicht das Ganze.« 107 Nähe (proximité) ist aber kein Zustand, sie ist der Modus des Erscheinens des Anderen schlechthin, »nicht eine Ruhe, sondern gerade Unruhe, Nicht-Ort, außerhalb des Ruheortes und damit Störung für die Stille der Nicht-Allgegenwart des Seienden, die zur Ruhe an einem Ort wird; immer also ungenügende Nähe, wie eine Umarmung.« 108 Nähe irritiert und fordert immer mehr. Sie macht deutlich, dass es etwas oder jemanden gibt, das oder der an dem Ort, in dem man sich in scheinbarer Ruhe eingerichtet hat, nicht vollkommen da ist und niemals von diesem Ruheort umfangen werden kann. Sie ist vor jeder Intentionalität und durchstößt diese immer wieder. Sie hat damit einen paradoxen Charakter, weil sie »die Entfernung der Dia-chronie ohne gemeinsame Gegenwart [eröffnet], in der die Differenz nicht wiedereinholbare Vergangenheit ist, eine nicht ausdenkbare Zukunft, das Un-vorstellbare des Nächsten, dem gegenüber ich [immer] zu spät bin […].« 109 Die Nähe verweist als »Störung der wiedererinnerbaren Zeit« oder »Zersplittern der Zeit« 110 auf das Moment der Diachronie der anderen Zeit, welches sich der erinnernden Reflexion sowie der Antizipation entzieht. Wir haben gesehen, dass das Gesagte und auch das Gesagte der Erzählung, des Epos, notwendig ist für die Erinnerung. Wenn wir nun aber sagen, dass eine Verlebendigung der Erinnerung im Sinne eines die Chronologie überschreitenden Eingedenkens 111 der Widerruf des Gesagten im erneuten Sagen ist, so Levinas: Jenseits des Seins, S. 370. Ebd. 108 Ebd., S. 184. 109 Ebd., S. 200. 110 Ebd. 111 Wir haben das Konzept des Eingedenkens oben behandelt (Kap. 2.3.2.2.). Sicherlich widerspricht es an dieser Stelle Levinas’ Intention. Dennoch kommen wir ohne das Eingedenken kaum aus, wenn wir nun das oder den Anderen des Gedichts phänomenologisch zu ergründen suchen. Ein Eingedenken, das in Korrelation zur Wachheit 106 107
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heißt das, dass es immer etwas oder jemanden gibt, das oder der nicht erinnert werden kann, der in seinem Sich-Entziehen, das die Nähe anzeigt, selbst das Eingedenken noch stört und als Spur erscheint, als Zeichen einer Abwesenheit, die das Antlitz als Antlitz auszeichnet. Denn das Antlitz steht für eine Erscheinung, die immer schon vergangen ist, wenn ich das Antlitz anblicke, im Besonderen aber, wenn ich es berühre, 112 in der Liebkosung. In der Berührung löst sich der Anblick auf. Je näher ich dem Anderen mit der Berührung komme, desto mehr verändert er sich, entfernt er sich in der Haptik von der visuellen Vorstellung, die ich mir von ihm gemacht habe. Er wirkt womöglich alt. Levinas schreibt, das Antlitz könne sich in der Berührung »bis hin zur Obszönität« verändern. 113 Die Veränderung geschieht permanent, die Störung, die das Antlitz aus meiner Gegenwart sich zurückziehen lässt und den Widerstand aufrichtet, der in die unvordenkliche Vergangenheit reicht, hält an. Das Antlitz ist so immer zweideutig und es alterniert, 114 es ist die Alternanz von sich der Stellvertretung steht (die wach ist und eingedenken kann und wach wird, weil der Einbruch des Anderen sie zum Eingedenken führt) und vom Gesagten ausgeht, das die Grundlage aller Erinnerung ist. Eingedenken, das aber im Gesagten sich am Sagen bricht, insofern es mit dem Sagen auf die Differenz zur nicht wiedereinholbaren Vergangenheit gestoßen wird. Ein Eingedenken, das letztendlich auf die Abwesenheit des Anderen beziehungsweise auf dessen unablässigen Entzug aus der in der Erinnerung gegenwärtigen Vergangenheit hindeutet. Eingedenken, das in seinem Kern das Bewusstsein des Zersplitterns der Zeit ist und damit selbst eine Störung im Sein. 112 Levinas steht in Jenseits des Seins der Optik und dem Blick sehr viel skeptischer gegenüber als noch in Totalität und Unendlichkeit, wo er die Ethik als Optik bestimmt (vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 32) und der Imperativ des Antlitzes nonverbal ist. Denn der Blick, so der spätere Levinas, fixiere ein Thema (vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 380) und ist damit eine Modalität des sein. Der Blick korreliere mit Erkenntnis und Wahrnehmung (im Sinne einer eindeutigen Feststellung) und mache den Anderen zu einem Objekt (vgl. Levinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen Verlag 1992 (Edition Passagen), S. 64). Er kenne mithin nur die Alternative von Sein und Nichtsein (vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 24 f., S. 380) und verschließe sich, wie die philosophische (ontologische) Sprache, die alles auf den Begriff zu bringen versucht, der Zweideutigkeit des Antlitzes gleich dem ausgeschlossenen Dritten (vgl. ebd., S. 192 f., S. 217 f.). Levinas kehrt, aufgrund seiner Skepsis gegenüber dem Gesagten, das sich im Blick materialisiert, das Verhältnis im Vergleich zu Totalität und Unendlichkeit um. Dort heißt es: »Die Idee der Berührung stellt nicht den ursprünglichen Modus des Unmittelbaren dar. Die Berührung ist schon Thematisierung und Bezug auf einen Horizont. Das Unmittelbare ist das Von-Angesicht-zu-Angesicht [der Optik. Anm. D. M.].« (Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 65). 113 Levinas: Jenseits des Seins, S. 201. 114 Vgl. ebd. Erinnern wir uns an das, was Derrida über die Spur der Schrift und die
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selbst – es ist immer anders als es selbst. Es ist zugleich da und bleibt aus, es ist von einer Maßlosigkeit jenseits von Erkenntnis und Intentionalität, 115 von der »Maßlosigkeit des Unendlichen«, 116 die das Sein übersteigt. Levinas beschreibt diese Maßlosigkeit der Nähe folgendermaßen: »Jenseits der Enthüllung und Zurschaustellung alternieren, überrascht und überraschend, eine außergewöhnliche Gegenwart [présence] 117 und das Sich-Zurückziehen dieser Gegenwart. Der Rückzug ist weder eine Negation der Gegenwart noch ihre bloße Latenz, die beide wiedereinzuholen wären in der Erinnerung oder der Aktualisierung. Er ist Anderheit, ohne gemeinsames Maß mit einer Gegenwart oder einer Vergangenheit, die sich zur Synthese in der Synchronie des Korrelativen versammeln lassen. Beziehung der Nähe und gerade deshalb disparat: in der Liebkosung wird das, was da ist, gesucht, als sei es nicht da, als sei die Haut die Spur ihres eigenen Rückzugs; eine Sehnsucht, die, als sei es eine Abwesenheit, das weiter sucht, was doch, so sehr es nur kann, da ist. Die Liebkosung ist das Nicht-Koinzidieren [in] der Berührung, ein Entblößen, das niemals entblößt genug ist.« 118
Der Berührende versucht immer weiter vorzudringen, er versucht, etwas zu finden, das ihn befriedigen könnte. Diese Befriedigung wird jedoch immer weiter aufgeschoben, ebenso das Erkennen, was wiederum die Sehnsucht oder das Begehren des Berührenden noch verstärkt, sodass er besessen ist vom Anderen und dessen unendlicher Jenseitigkeit, aus der heraus er sich immer wieder selbst überholt. Im liebkosenden Verhältnis, das Levinas hier beschreibt, kommt dieses Moment der nicht zu befriedigenden Sehnsucht nach dem Anderen, die in dessen Nähe nicht gestillt, sondern vertieft wird, besonders zur Geltung: Nähe, die sich in Ferne auflöst; Nähe, die sich versagt und nie nah genug sein kann, ein ewiger Vorenthalt des Anderen, der Einbruch des Jenseits-des-sein im äußersten Da-sein (im Sinne der présence) der Nacktheit. Die unendlich alternierende Zweideutigkeit macht das Antlitz zur »Spur seiner selbst, meiner Verantwortung différance schreibt (Kap. 1.5.). Auch das Antlitz schiebt Zeit und Verständnis auf, indem es mich zu spät kommen lässt, und ›produziert‹ Differenz, insofern es die Spur des vergangenen Anderen ist und somit immer schon verschieden von sich selbst, sodass ich es nicht abschließend einordnen kann. 115 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 202. 116 Ebd., S. 211. 117 »Gegenwart und zugleich Anwesenheit«, wie der Übersetzer Thomas Wiemer anmerkt (ebd., S. 202, Fußnote q). 118 Ebd., S. 202.
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anbefohlen und von mir verfehlt, schuldhaft, so als sei ich verantwortlich für seine Sterblichkeit und schuldig dadurch, daß ich überlebe […],« 119 denn im Vollzug des Verhältnisses bin ich es, der ›überlebt‹, insofern ich mir trotz der Irritation durch den Anderen gefestigt erscheine und zunächst im Sein bin, während der Andere auch in der Härte seines Gesichts durch sein Sich-Zurückziehen seine Verletzbarkeit als Antlitz offenbart – und auch sein Immer-schon-verletzt-sein als vorausgegangene Verletzung, deren Spuren das Antlitz noch trägt, und die ich, jenseits dieser Spuren, nicht mehr ergründen kann. Ich erinnere daran, dass das Antlitz befiehlt: »Du wirst nicht töten« beziehungsweise »du wirst keinen Mord begehen.« 120 Der Befehl, nicht zu töten, der die Unmöglichkeit zu töten ist, offenbart sich gerade in der Situation der Schutzlosigkeit, also gerade dann, wenn ich faktisch töten könnte. Das Antlitz ist die Spur dieser (vergangenen oder zukünftigen) Möglichkeiten zu töten (oder zumindest zu verletzen), die ich in meinem Zu-spät-kommen nicht habe verhindern können. 121 Daher die Fremdheit und die Anklage. Die Nähe markiert den Anderen als den absolut Anderen und den Fremden, der keinen Ort hat, außer den hier bei mir. 122 Das Antlitz ist »Spur, die aus der Spur vertrieben ist […].« 123
Ebd., S. 204. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 285. 121 Man kann vielleicht sagen, dass das Antlitz Narben trägt. Wenn ich sie berühre, schreckt der Andere zurück, entzieht sich mir. Die Narben sind Spuren einer Verletzung, deren Ursache (vielleicht ein Unfall, vielleicht eine Gewalttat) ich nicht einzuholen vermag; nicht deshalb, weil mir der Andere das Geschehen im logischen Sinne nicht erläutern könnte. Aber deshalb, weil das Geschehen selbst nicht derart zur Sprache kommen kann, dass ich es in meine Vorstellung übernehmen könnte. Es ist mir mitteilbar, bleibt aber unvorstellbar – und, darüber hinaus, kann ich es nicht mehr ungeschehen machen. 122 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 204 f. 123 Ebd., S. 211. Der ewige Rückzug: Spur, die eine Spur hinterlässt, die Transzendenz einer Vergangenheit, die nicht einzuholen ist. In Die Spur des Anderen (In: Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, S. 209–235) ist es das Göttliche, in dessen Spur das Antlitz ist und das eine ethische Orientierung bietet, ihm zu folgen. Diese Dimension wird auch in Jenseits des Seins nicht aufgehoben. Dennoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Spur auch auf eine absolute Negativität hindeuten kann, die nicht Fülle des Herrlichen, sondern Elend ist: Derart, dass sich der Andere als Antlitz in seiner Nacktheit als »Witwe« und »Waise« offenbart, wie es in Totalität und Unendlichkeit heißt (vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 105). 119 120
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3.3.2. Levinas und Celan: Stellvertretung als Zeugenschaft Doch was heißt das nun für den Diskurs, der immer in einer solchen Nähe steht, die ihn als Nicht-Gegenwart seiner Gegenwart bedroht und stört, ihn immer zu spät kommen lässt? Was bedeutet dies für den schriftlich fixierten Diskurs, den Text und die Literatur? Es bedeutet, dass die Literatur auf etwas verweist, das jenseits ihrer Grenzen ist, auf die Ungleichzeitigkeit eines Sagens zu dem Gesagten, das der Text zunächst einmal ist (beziehungsweise zu dem er immer wieder wird). Sterblichkeit und Verletzbarkeit, die Ortlosigkeit des ganz Anderen, des Fremden, der selbst wiederum nur Spur ist; dies alles ist zumindest im literarischen Text ›da‹, wie das Antlitz ›da‹ ist: Als présence und Sich-Zurückziehen dieser présence – ein unablässiges Alternieren jenseits aller Begrifflichkeit. Dass Levinas diese Möglichkeit über die Andeutungen in Jenseits des Seins hinaus anerkennt, belegt die Veröffentlichung eines schmalen Bändchens mit dem Titel Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur 1988 (das französische Original wurde ein Jahr zuvor als Noms propres veröffentlicht). Im Vorwort dieser gesammelten Essays über Literaturen und Literaten (das zugleich eine knappe intellektuelle Biographie ist) zitiert Levinas Jean Wahls Definition des Absoluten, das zunächst die Vorstellung des Abgetrenntseins meine. Erst später habe sich die Vorstellung des Absoluten als Vollständiges, Allumfassendes durchgesetzt. Wahl suche dieses Absolute, das Abgetrennte oder Transzendente, nun unter anderem in der Poesie. 124 Man kann sagen, dass Levinas ihm darin folgt. Er begibt sich auf die Suche nach der Beziehung zur Transzendenz als eines besonderen Wachzustandes, 125 der die Trägheit des sein durchstößt, ein »Wachgerütteltsein des Ich durch den Anderen, des Ich durch den Fremden, des Ich durch den Heimatlosen, d. h. durch den Nächsten, der nur Nächster [ohne jede weitere positive Definition. Anm. D. M.] ist.« 126 Er schließt damit direkt an Jenseits des Seins an, denn die Wachheit ist schließlich eine Offenheit für den Anderen und führt zur Stellvertretung und zur Sühne, durch die sich »meine Einzigkeit
Vgl. Levinas, Emmanuel: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. München: Hanser 1988 (Edition Akzente. Hrsg. v. Michael Krüger), S. 9. 125 Vgl. ebd., S. 10. 126 Ebd., S. 11. 124
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als Ich zur Unersetzlichkeit verschärft.« 127 Eine Wachheit also für den Anderen, das heißt für die vor-intentionale Ausgesetztheit des Ich als Sich, das mit dem Anderen beladen ist und für diesen Anderen einstehen muss, wie es kein Dritter kann. Damit wendet sich Levinas, so lässt sich interpretieren, 128 gegen die Vorstellung einer Hermeneutik des Textes im Sinne einer identifizierenden Aneignung, insofern Stellvertretung nicht bedeutet, den Anderen, der hier im Text spricht, zu ersetzen und mit ihm identisch zu werden, sondern gerade dessen Andersheit voraussetzt. Es gilt vielmehr im Hier und Jetzt dem anderen (abwesenden und sich entziehenden) Hier und Jetzt den Ort und die Zeit seiner Offenbarung zu geben, anstatt ihm diesen Ort und diese Zeit auch noch zu verschließen. 129 In der Lektüre zeigt sich dieses Verhältnis in voller Schärfe, wenn wir davon ausgehen, dass im Text diejenigen sprechen, deren Stimmen ihnen außerhalb des Textes gewaltsam genommen wurden. Hierin liegt, wenn man so will, ein gewisser Vorteil gegenüber dem begegnenden Antlitz, denn der Text eröffnet eine geschichtliche Dimension. Die Anderen des Textes sprechen als Abwesende in der Welt durch den Text hindurch (von Jenseits-des-sein in das Sein). Der Text mag als Gesagtes noch kein Jenseits sein, noch keine Transzendenz. Aber er treibt doch einen Keil in das Verharren im Sein, was sicherlich nicht für jede Art von Text gilt, umso weniger für eine wissenschaftliche Abhandlung, umso mehr jedoch für gewisse Formen des Gedichts, an die, wenn von ›Text‹ die Rede ist, hier vor allem gedacht wird. Damit kann sich ein Raum (der des Textes) im Raum (des Seins oder der Welt) eröffnen, in dem sich
Ebd. Eine Interpretation bleibt dies deshalb, insofern Levinas in seinem Vorwort zwar auf Zeichentheorie eingeht, eine an Benjamin erinnernde Sprachkritik skizziert sowie, wie angemerkt, Poesie als Möglichkeit des Absoluten erwähnt. Er bezieht seine Ausführungen über den Wachzustand jedoch nicht explizit auf Textlektüre oder -interpretation, sondern ganz grundsätzlich auf das Verhältnis von Sagen und Gesagtem. 129 Auch für den absolut Anderen, den Fremden in der Literatur, im Gedicht gilt: »Er hat keinen anderen Ort, der Nicht-Eingeborene, Entwurzelte, Heimatlose, Nichtseßhafte, der Kälte und der Hitze der Jahreszeiten Ausgesetzte. Gezwungen sein, auf mich zurückzukommen, genau das ist die Heimatlosigkeit oder die Fremdheit des Nächsten. Ich habe für sie aufzukommen.« (Levinas: Jenseits des Seins, S. 205). Wobei dieser Ort, diese Zeit bei mir prekär bleiben, ich nie darin genügen kann, sie dem Anderen zu schaffen, was meine Verantwortung für ihn schwerer macht. Dies ist das Paradox: Würde es gelingen, diesen Ort zu festigen, wäre er ein Ort im Sein und der Andere schon wieder aus ihm ausgeschlossen. Der gesamte Prozess bleibt also u-topisch. 127 128
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die Nähe zu jenen ereignen kann, die räumlich wie zeitlich weit entfernt, tot oder gar ermordet sind. Die Lektüre des Textes wäre dann die Begegnung mit dem Anderen selbst, der aus dem Text heraus die Wunde des Sich im Ich vertieft und somit zur Widerrufung des Gesagten aufruft. Der Leser ist aufgerufen, den Text auf eine neue Weise zu sagen, die nicht den Begrifflichkeiten und gewohnten Bedeutungen des Gesagten entspricht. Er ist aufgerufen als Unersetzlicher an die Spur einer Diachronie anzuknüpfen, die in der anderen Welt des Gedichtes und in dessen Gesagtem ein Sagen zum absolut Anderen hin bedeutet. Im Einen, der für den Anderen steht, ohne mit ihm identisch zu sein oder zu werden, »liegt die Bedeutsamkeit der Bedeutung.« 130 Während die Bedeutung Gefahr läuft, zum Thema oder zum System zu werden, 131 im Begriff synchronisiert werden und an das (nicht metaphorisch gemeinte) Verb sein angeschlossen werden kann, 132 schließt sie doch in ihrer Bewegung (ich erinnere an die andere Art zu bedeuten des »poetischen Ausdrucks«) die Bedeutung auf ein Jenseits des Systems ein, das, da es sich als Nähe je schon entzogen hat, im Dunklen bleibt, und nicht intentional angezielt werden kann. 133 Diese Bewegung ist die Bedeutsamkeit der Bedeutung. Der-Eine-für-den-Anderen bedeutet den Intervall, der ihn vom Anderen trennt. Auf die Lektüre oder Interpretation bezogen heißt das, dass der Stellvertreter in seiner Wachheit die innerweltlichen, an das sein gebundenen Bedeutungen ›abschütteln‹ muss, um sich dieser Bewegung anzunähern, die ihm sonst von bloßen Begrifflichkeiten verstellt wäre. In der Bedeutsamkeit der Bedeutung im der-Eine-für-den-Anderen kommt es »auf die Weigerung an, sich durch ein Thema zähmen oder bändigen zu lassen.« 134 Steht der Eine für den Anderen ein gilt es, sich also von dem zu befreien, was man als Eigenes, als eigene Vorstellung oder Bild, an den Anderen oder dessen Äußerung im Gedicht heranzutragen gewohnt ist. Die ganze Last der Interpretation, also die Verantwortung dafür, dass die Bewegung des Bedeutens nicht zum System erstarrt, liegt so auf den Schultern des Einen als der-Eine-für-den-Anderen, der nun den Anderen des Gedichts vertritt.
130 131 132 133 134
Levinas: Jenseits des Seins, S. 380. Vgl. ebd., S. 359. Vgl. ebd., S. 363. Vgl. ebd., S. 217 f. Ebd., S. 222.
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Verstehen wäre dann, der Verstehbarkeit als Nähe gemäß (Kap. 3.3.1), ein Prozess der Annäherung über die Trennung zum Anderen hinweg, ohne diese Trennung im Gesagten, also der Zuschreibung einer festen Bedeutung, zu verschließen: »Eine Verstehbarkeit vom Selbst zum Anderen hin, ohne Verwischen ihres Unterschieds. Geist ist nicht mehr das ein für allemal Gesagte. Er ist das Sagen, das sich vom Selbst zum Anderen ständig den Weg bahnt, da, wo noch nichts Gemeinsames ist.« 135 Verstehbarkeit ist damit keine ideale, so wie eine Idee oder Entität grundsätzlich irgendwie verstanden werden könnten. Verstehbarkeit meint eher das Zugeständnis des Vorweg-seins des Sagens hin zum Jenseits-des-Gesagten, nach dorthin eben, wo noch nichts Gemeinsames ist, wo der Weg zum Anderen nicht schon wieder zum Sein erstarrt ist, wo aber die Nähe ›da‹ ist, die den Anderen nie ankommen lässt – Verstehbarkeit als Nähe, die das Gesagte dem Begriff des unpersönlichen Logos entreißt und damit ein Verständnis einsetzt, das sich nicht auf Vorgegebenes beruft oder berufen kann, sondern je einzig und unersetzlich ist. Das Verstehen eines Textes ist damit im Kern ein zwischenmenschliches Verstehen, kein abstraktes oder technisches. Es ist ein Verstehen als prekäre Beziehung zum faktisch nicht (mehr) Anwesenden. Der Wachzustand in der fordernden Nähe des Anderen, in der sich die faktische Abwesenheit und eine Anwesenheit, die man vielleicht als metaphorische bezeichnen kann, gegenseitig überbieten, ist somit »Beziehung und Bruch« 136 zugleich, die Negation eines vereinheitlichenden Grundes in der Beziehung selbst. All das, was wir soeben kennen gelernt haben, überträgt Levinas nun selbst auf die Dichtung Paul Celans, in einem Essay, der mit Vom Sein zum Anderen überschrieben ist. 137 Levinas’ Text ist zunächst im Wesentlichen eine Bestätigung des in den vorherigen Abschnitten Dargelegten. Für Celan sei das Gedicht eine Berührung, ein Händedruck, 138 »Sprache der Nähe für die Nähe, älter als die der ›Seinswahrheit‹, die sie womöglich trägt und stützt – die erste Sprechweise, eine Levinas: Eigennamen, S. 10. Ebd., S. 11. 137 Levinas, Emmanuel: Vom Sein zum Anderen. In: Ders.: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. München: Hanser 1988 (Edition Akzente. Hrsg. v. Michael Krüger), 56–66. 138 In Celans Materialien zur Meridian-Rede findet sich folgendes Fragment: »Dichten als Daseinsweise führt letzten Endes dazu, zwischen Gedicht und Händedruck keinen prinzipiellen Unterschied zu erblicken –« (Celan, Paul: Der Meridian, S. 134). 135 136
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der Frage vorausgehende, zuvorkommende Antwort, Verantwortung für den Nächsten, die durch ihr ›für-den-Anderen‹ das ganze Wunder des Gebens ermöglicht.« 139 Das Gedicht – man muss sagen: Celans Gedicht – ist eine Widerrufung des Seins. Das Gesagte öffnet sich mit ihm zum Sagen, also zur ethischen Berührung. Das Gedicht bricht in den Diskurs ein und berührt die Bedeutsamkeit der Bedeutung, indem es den Leser in die Nähe des Anderen bringt und zu dessen Stellvertreter im Sein erklärt. Nur hier, beim Leser, hat der Andere des Gedichts seinen Ort, da er sich ihm unmittelbar und jenseits eines überblickbaren Diskurses im Gedicht, das Berührung ist, gibt. Eine Berührung, die vor jedem (logischen) Verständnis ist oder dieses zunichtemacht, wie wir gesehen haben, als von der Offenbarung als Antlitz die Rede war (Kap. 3.1.). Derart, in diesem gänzlich unsentimentalen und unpathetischen Sinn, kann also auch ein Gedicht berühren, das mir (zunächst) nichts weiter gibt als seine Nähe, die mich irritiert und über mich hereinfällt. Eine durchaus persönliche Nähe, 140 eben wie die eines Händedrucks, die weit über die Person des Dichters hinausgeht und »keiner Norm [folgt]« 141 und auch den Leser als Person sich neu konstituieren lässt, die nicht mit der Person identisch ist, die der Leser vor der Berührung war: Beziehung und Bruch zugleich zwischen Personen, die nicht gleichzeitig sind, womit auch das Selbst des Lesers seine Zeit hin zum Anderen überschreitet, der ihm in seiner Vergangenheit immer schon voraus ist, weil der Leser immer schon zu spät ist. Die Texte Celans sind »pausenlos unterbrochen, damit aus den Lücken [ihre] andere Stimme durchdringe, so als ob zwei oder mehrere Diskurse aufeinander aufbauten, mit seltsamer, nicht dialogartiger Kohärenz, verflochten nach Art eines Kontrapunktes […].« 142 Der Text hebt sich selbst, insofern er Gesagtes ist, durch (s)eine GegenStimme(n) auf. Weshalb die Kohärenz, die dies ermöglicht, nicht dialogartig sein soll, 143 erschließt sich nicht sofort, zumal Levinas im Levinas: Vom Sein zum Anderen, S. 57. Ebd., S. 58. 141 Vgl. ebd. 142 Ebd., S. 57. Levinas bezieht sich in diesem Abschnitt, also auch mit der konstatierten Normlosigkeit, auf Celans Meridian-Rede, doch können seine Ausführungen meines Erachtens für die meisten Dichtungen Celans, ob (theoretische, poetologische) Prosa oder Gedicht, gelten. 143 Wie auch immer das Dialogische von Levinas hier interpretiert wird, handelt es sich bei dieser nicht dialogartigen Kohärenz also um eine Kohärenz, welche die Trans139 140
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Folgenden selbst die Nähe Celans zu Buber betont. 144 Dies mag Levinas’ grundsätzlicher Skepsis gegenüber dem Ich-Du Bubers geschuldet sein, von dem er vermutet, dass das Du bereits Thema sei, und dem er eine Beziehung (und zwar eine solche ohne Verbindung) zu einer Illeität 145 entgegensetzt, die ein Abschied jedweden Bewusstseins von … in der Bewegung zum Nächsten sei. 146 Damit verkennt Levinas einerseits Bubers Dialogik, in der die Begegnung von Ich und Du ebenfalls vor-intentional und damit unbestimmbar verläuft und erst als Ich-Es zum Thema wird (Kap. 1.3.1.). Andererseits übersieht er damit, dass das dialogische Prinzip ein konstitutives Element von Celans Poetik ist (Kap. 5.1.). Vermutlich weist Levinas die konventionelle Vorstellung des Dialogs auch deshalb zurück, weil Celans Texte aufgrund ihrer Fremdheit zunächst jeden gemeinsamen Boden und jede gemeinsame Zeit entziehen, 147 in einer Bewegung, die »vom Ort zum Nicht-Ort, vom Hier zur U-topie [verläuft].« 148 Eine Bewegung, die schließlich den Ort des Lesers in seinem Sein, das er als der-Eine-für-den-Anderen zum Jenseits-des-Seins hin öffnet, ins Schwanken bringt, da sich die Verortung oder auch Verwurzelung im ›Boden‹ des Seins zusammen mit der »Desubstantiation des Ich« 149 aufzulösen droht, indem das Subjekt zum Zeichen für den Anderen wird, das sich mit nichts außer seiner Stimme, dem Zuruf an den Anderen als »hier, sieh mich [me voici]«, identifizieren kann. 150 Derzendenz gerade nicht verschleiert, sondern vielmehr die latente Diachronie im Text zum Vorschein bringt (vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 368). 144 Vgl. Levinas: Vom Sein zum Anderen, S. 58. 145 Illeität: Die Unendlichkeit des nicht einzuholenden Dritten (Il), die Spur aus dem Jenseits-des-Seins im Antlitz (vgl. Levinas: Die Spur des Anderen, S. 229 f.), damit die Spur Gottes, der vorüber gegangen ist (vgl. ebd., S. 236; sowie: Levinas: Jenseits des Seins, S. 345) und der nicht thematisiert werden kann. 146 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 46. 147 Auch hier wird sich später zeigen, dass dies lediglich auf eine Phase der Lektüre zutrifft und sich die Zeit aus dem Gedicht heraus in Wirklichkeit und Zeit des Lesers einschreibt und diese umgestaltet. Auch nach dem Leseakt ist die Lektüre noch nicht abgeschlossen, sodass die ›fremde‹ Zeit des Gedichts, sei es bewusst intendiert als eine Art von Eingedenken oder als unbewusstes Aufblitzen (in etwa als mémoire involontaire), sich in der Lebenszeit des Lesers weiterhin entfalten kann. Sie bleibt ihr ›eingesprengt.‹ 148 Levinas: Vom Sein zum Anderen, S. 59. 149 Ebd. 150 Vgl. in etwa: Levinas: Jenseits des Seins, S. 313 ff., S. 320 ff., S. 327. Gemeint ist das hebräische [ ִה ֵֽנּ ִניHineni], das zum Beispiel in Gen. 22 auftaucht und sowohl mit »hier, sieh mich« als auch mit »hier bin ich« übersetzt werden kann. Es kann einer-
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Eine-für-den-Anderen, der, ohne eigene Substanz, zum Zeichen und Zeugnis für den Anderen wird und ihn darin anerkennt und sogar verherrlicht, 151 geht also ganz auf in dieser seiner Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeit als désintéressement am eigenen sein), in der sein Bewusstsein umschlägt von der Intentionalität zum »Bewußtsein als Hauptsinn der Schlaflosigkeit [erinnert sei an die Wachheit in der Nähe des Anderen. Anm. D. M.] – verantwortende Redlichkeit vor allem Erscheinen von Formen, Bildern, Dingen.« 152 Das »hier, sieh mich« ist als »Zeugnis des Unendlichen«, 153 das durch mich geschieht, kein bloßer Gruß, der im Vokativ aufginge, den wir in Totalität und Unendlichkeit als Eröffnung des ethischen Verhältnisses auf Seiten des Subjekts kennen gelernt haben. Denn der Vokativ verweise, in der Sprache von Jenseits des Seins, bereits auf etwas Ontisches, 154 auf ein Seiendes also, das festgestellt und angezeigt werden kann. Der Vokativ sei nach Jenseits des Seins ein »Gruß, der nichts kostet,« 155 weil mit ihm noch nicht die gesamte Existenz dem Anderen zum Opfer gebracht wird. Im Gegensatz dazu zeigt das Zeichen, das ich mit dem Zeugnis gebe, auf die Illeität im Antlitz des Anderen als auf das, was kein Bezeichnetes sein kann und »dessen Wahrheit nicht Wahrheit der Vorstellung, nicht Evidenz ist.« 156 Des-
seits also durchaus als Seinspartikel verstanden werden: »hier bin ich, hier an diesem Ort, in diesem Sein.« Ich bin, im Hier und Jetzt, standhaft und vorbereitet auf das, was kommen mag. Es ist allerdings häufig, wie eben in der Erzählung von der Bindung Isaaks durch Abraham, eine direkte Antwort an eine Transzendenz, an Gott oder an einen besonders ausgezeichneten Menschen, wie es Isaak auf dem Weg zu seiner vorgeblichen Opferung ist. So spricht Abraham Hineni nicht nur als Antwort auf den Anruf Gottes (Gen. 22,1) beziehungsweise seines Engels (Gen. 22,11), sondern auch als Antwort auf Isaak (Gen. 22,7). Man kann deshalb durchaus davon ausgehen, dass Gott sich als der ganz Andere im Antlitz des scheinbar todgeweihten Isaak offenbart, sodass es Abraham ab diesem Moment unmöglich ist, ihn zu opfern, womit die Übersetzung als »hier, sieh mich« nahe liegt. Es geht dann nicht um die Festigung des eigenen Seins, sondern um die Öffnung zum Anderen hin, für den ich einstehe (zur Interpretation von Gen. 22 vgl. Stegmaier, Werner: Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg: Junius 2009 (Zur Einführung; 372), S. 142 ff.). Der mich (Akkusativ) sendet, um für ihn einzustehen in und mit meinem Leben (vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 320 Anm. 11: »Hier, sieh mich«, heißt es dort, bedeute »sende mich.«). 151 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 321, S. 327. 152 Levinas: Vom Sein zum Anderen, S. 60. 153 Levinas: Jenseits des Seins, S. 321. 154 Vgl. ebd., S. 315. 155 Ebd. 156 Ebd., S. 321.
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halb vollzieht sich das ethische Verhältnis nun auch nicht mehr (in erster Linie) in der Gabe im ökonomischen Sinne. Die Wahrheit muss mit der gesamten Existenz bewährt werden – man kann vielleicht sagen, dass das Leben der Ich-Einzigkeit mit dem Zeugnis zur Verherrlichung des Unendlichen wird. 157 Hier geschieht die Inspiration: »Die Exteriorität [das absolute Außen. Anm. D. M.] des Unendlichen wird in gewisser Weise zu Innerlichkeit in der Aufrichtigkeit des Zeugnisses.« 158 Denn die Transzendenz hat ja keinen anderen Ort, sie kann sich nicht im Sein und als Seiendes materialisieren, sie bleibt als Illeität Spur selbst in der Leiblichkeit des Anderen, weshalb sie, wenn ich als Zeuge aufgerufen werde, in mich dringt. Würde ich sie als Objekt außer mir verorten, wäre sie schon keine Transzendenz mehr. Ein zunächst paradox anmutender Gedanke: Die Transzendenz, die in ihrer Exteriorität das absolut Äußere und Erhabene ist, »verherrlicht sich in meinem Sagen, indem sie mir durch meinen Mund gebietet.« 159 Doch weiter heißt es: »Die Innerlichkeit ist nicht ein geheimer Ort irgendwo in mir; sie ist jene Umkehr [retournement; Hervorhebung D. M.], in der das auf ausgezeichnete Weise Außerhalb-Bleibende – gerade aufgrund dieser ausgezeichneten Exteriorität, dieser Unmöglichkeit, ›umfasst‹ zu werden, ›Inhalt‹ zu werden und folglich in ein Thema einzugehen – als Unendliches eine Ausnahme von sein [l’essence] bildet, mich betrifft und mich bedrängt und mir durch meine eigene Stimme befiehlt. Gebot, das durch den Mund dessen zur Sprache kommt, dem es gebietet. Das unendlich Außerhalb-Bleibende wird zur ›inneren‹ Stimme, zur Stimme aber, die den Riß des inneren Geheimnisses bezeugt, indem sie dem Anderen Zeichen gibt – Zeichen gerade von diesem Zeichengeben.« 160
Die Umkehr ist die Umkehr zur An-archie, zur Vor-Ursprünglichkeit oder Anfangslosigkeit, die zugleich eine Abdankung der Herrschaft des Bewusstseins bedeutet. Das Zeichen des Zeichengebens ist kein Anzeigen von Etwas, es ist selbstbezüglich derart, dass es als Zeichen hindeutet auf den Akt des Zeichengebens selbst, der nichts anderes ist als der-Eine-für-den-Anderen. Indem der Eine Zeichen seines ZeiDer Übersetzer von Jenseits des Seins, Thomas Wiemer, verweist in einer Anmerkung zu Recht auf Franz Rosenzweigs »Wahrheit der Bewährung.« (Vgl. ebd., S. 321 Anm. n.). 158 Ebd., S. 322. 159 Ebd. 160 Ebd. 157
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chengebens wird, öffnet er seinen Platz für den Anderen und gibt diesem Anderen selbst ein Zeichen seiner Stellvertretung. Er geht vom Ort zum Nicht-Ort, wie es oben hieß, vom Hier zur U-topie. Die ›innere‹ Stimme ist diese Selbstverpflichtung, die an-archisch ist, die ihren Ursprung nicht in sich selbst hat (und somit überhaupt keinen Ursprung hat, der denkend einzuholen wäre): »Hier, sieh mich«, das Zeugnis und Einstehen für das Unendliche. Im »hier, sieh mich« wird die Selbstbezüglichkeit des Zeichens als Zeichen des Zeichengebens vielleicht noch einmal deutlicher: Denn es verweist auf nichts als auf sich selbst im Akkusativ – und damit auf das Sich als die Beladenheit mit dem Anderen in Inspiration und Inkarnation. 161 Der Selbstverweis ist damit je schon Ausgesetztsein und Anklage. Indem das Zeichen also auf sich selbst verweist als Akt der Stellvertretung, bewährt es die Wahrheit der Stellvertretung, insofern der Eine nun nicht mehr anders sein kann als der-Eine-für-den-Anderen. Noch bevor er irgendeinen anderen Befehl erhalten hat oder überhaupt versteht, was mit ihm passiert, gibt er sein Zeugnis und wird er selbst zum Zeugen, der sich mit seiner eigenen Stimme befiehlt, für den Anderen einzustehen. 162 Eine Stimme, die das Gesagte widerruft, also alle Vorannahmen und Relativierungen und damit alles, was mich in seiner Objektivität von der Stellvertretung abziehen könnte – Sagen, das nur dem Anderen gilt (und von ihm erweckt wird): »Sagen ohne Gesagtes«. 163 Der Selbstverweis als an-archische Selbstanklage ist eine »in mich eingeschriebene Spur […],« 164 noch vor dem Bewusstsein der individuellen Schuldigkeit – und in vollem Absehen dieser Schuldigkeit, denn es spielt in der Selbstanklage keine Rolle, ob und welche Schuld man selbst auf sich geladen haben könnte als Schuld, die über das bloße Zu-spät-kommen hinausgeht. Hierzu schreibt Caroline Heinrich:
Vgl. ebd., S. 254. Inspiration und Inkarnation fallen in der Stellvertretung, im Zeugnis-geben und Zeugnis-sein, zusammen. Insofern ich leiblich für den Anderen einstehe, spreche ich auf ihn hin beziehungsweise für ihn, in seinem Geist, ohne mit ihm identisch zu sein. 162 Der-Eine-für-den-Anderen als Zeichen, das sich selbst dem Anderen als seinem Nächsten anzeigt: »Den Befehl finde ich gerade in meiner Antwort, die mich als Zeichen an den Nächsten, als ›hier, sieh mich‹ aus der Unsichtbarkeit herausholt, aus dem Schatten, in dem meine Verantwortung sich hätte vermeiden lassen.« (Ebd., S. 328). 163 Vgl. ebd., S. 323. 164 Ebd., S. 329. 161
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»Die Frage, ob man schuldig ist, weil man Schuld hat (oder nicht hat), stellt sich innerhalb der Ordnung des Seins, die Schuld auf eine Handlung mit Ursprung beziehen muß. Erst der Bruch im Sein, das Empfinden einer Schuld, die sich bei ›ruhiger Betrachtung‹ als Unschuld herausstellen müßte, erweist sich für das Denken als nicht einholbar, da sie weder Grund noch Ursprung besitzt […]. Eine ›Schuld ohne Schuld‹ läßt sich also nur aus der anarchischen Situation heraus begreifen, in der man, weil man sich dem Anderen verdankt, eine nicht zu tilgende Schuld ›eingegangen‹ ist.« 165
Sie fasst zusammen: »Sich nicht heraushalten zu können, muß als Antwort auf jene anarchische Verschuldung, die Lévinas beschreibt, betrachtet werden.« 166 Heinrich stellt damit implizit fest, dass es sich bei der anarchischen Verschuldung (noch) nicht um geschichtliche Schuld handelt. Sie bleibt abstrakt und lässt keine Sühne zu 167 – beziehungsweise drängt sie zu einer permanenten Sühne, die unabschließbar ist. Der Text, das haben wir bereits gesehen, eröffnet erst die geschichtliche Dimension, insofern er den Leser als der-Eine-fürden-Anderen auf das konkrete Zeugnis, dem dieser seinerseits zum Zeugnis wird, verpflichtet. 168 Die anarchische Verschuldung wird damit allerdings keineswegs aufgehoben. 169 Die Sühne als unablässiger Aufruf zum Sich-nicht-heraushalten-können bleibt bestehen. Denn auch das Gedicht schreibt die Spur in mich ein: Ich bin aufgerufen, diese Spur weiterzutragen und sie meinerseits, in Form des Eingedenkens, einzuschreiben in meine Lebenswelt. Nicht den (subjektiven) Grund mache ich damit fassbar, sowenig wie ich ein Zugeständnis meiner eigenen individuellen Schuld oder Unschuld mache. Aber ich übernehme mit dem Zeugnis der Stellvertretung und meiner Zeugenschaft eine Schuld, die nicht zwangsläufig die meine ist – und Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 253. Ebd. 167 Vgl. Grätzel, Stephan: Dasein ohne Schuld, S. 45. 168 Freilich wird diese geschichtliche Dimension auch dann eröffnet, wenn ich mit Überlebenden spreche. Nur wird dies nicht mehr allzu lange möglich sein. Und auch in einem direkten Gespräch bleibt das Problem bestehen, dass das Zeugnis für die Ermordeten ein mittelbares bleibt, da diese schließlich nicht mehr unmittelbar sprechen können. 169 Insofern die Ursache von Verschuldung und Anklage nicht in meinem Leben zu finden ist. In historischer Hinsicht gibt es freilich diese Ursache, die klar benannt werden muss und nicht hinter einer abstrakten Schuld verschwinden darf: Der millionenfache Mord an den europäischen Juden und all jenen, die den Nazis als nicht lebenswert erschienen. 165 166
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weise damit auch auf Leidensgeschichten hin. Dies wäre dann mein Zeugnisgeben für den Anderen und für die Herrlichkeit des Unendlichen, das noch durch alles Gesagte hindurch scheint. Denn Levinas gibt auch hier, wie an den anderen Stellen, auf die wir bereits Bezug genommen haben, zu verstehen, dass »ich auch den bezeugten Sinn als Gesagtes zur Sprache bringen [kann].« 170 Und zwar »als außer-ordentliches Wort, das einzige, das sein Sagen weder erstickt noch in sich aufsaugt, aber auch nicht bloßes Wort bleiben kann. Umstürzendes semantisches Ereignis des Wortes Gott, das die von der Illeität ausgehende Subversion bezwingt. Die Herrlichkeit des Unendlichen, die sich einschließt in ein Wort und sich darin zu Seiendem macht, aber schon ihre Wohnung auflöst und sich schon zurücknimmt, ohne sich in Nichts aufzulösen […].« 171
Hiermit ist keinesfalls ausschließlich das Wort ›Gott‹ gemeint. Vielmehr zeigt sich mit diesem Wort in beispielloser Weise, wie sich die Ordnung des Gesagten im Sagen, das ja in erster Linie eine Berührung im Verhältnis zur Transzendenz ist, die mich durch mich aufruft zur Stellvertretung, auflöst. Gott, dessen Namen auszusprechen frommen Juden verboten ist, ist Adonaj (Herr) oder HaSchem (der Name). Ausdruck der Herrlichkeit selbst. Adonaj und HaSchem bedeuten nichts außer sich und sind in diesem Sinne selbstbezügliche Zeichen. Jeder Versuch, den Herrn oder den Namen mit Attributen zu belegen, scheitert oder verzerrt das Gesagte. Der unaussprechliche Name Gottes nimmt das Wort, sobald es ausgesprochen wird, wieder zurück. Doch vernichtet er es nicht, wie uns obiges Zitat sagt, sondern ›belädt‹ es mit Herrlichkeit: Mit dem Sagen ohne Gesagtes, das noch am Grund jedes Gesagten aufscheint. Man kann vielleicht sagen, dass das Wort das Heilige profaniert, damit aber zugleich die Heiligkeit im scheinbar Profanen offenbart. Das Wort bewahrt die Spuren der sich mit dem Wort zurückziehenden Transzendenz: »Seine Bedeutung [die des Sagen ohne Gesagtes. Anm. D. M.] hat sich im Logos nur verraten lassen, um sich für uns auszudrücken – Wort, das schon ausgesagt wird als Kerygma im Gebet oder der Gotteslästerung und das so in seiner Aussage die Spur des Exzessiven bewahrt, der Transzendenz, des Jenseits.« 172
170 171 172
Levinas: Jenseits des Seins, S. 331. Ebd. Ebd., S. 332.
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Es muss immer wieder versucht werden, die »[u]nvermeidliche Thematisierung« (Gottes und des Anderen) zu reduzieren, »aufgrund der Spur an Aufrichtigkeit, die die Worte selbst an sich tragen und die sie vom Sagen, dem Zeugnis, her haben, selbst wenn das Gesagte das Sagen in der Korrelation, die sich zwischen dem Sagen und dem Gesagten ergibt, verstellt.« 173 Thematisierung und Information zu reduzieren heißt, die Verantwortung und Schuldübernahme der Stellvertretung in jedem Gesagten zu behaupten als die Wahrheit, die bewährt werden muss. Konkret meint dies, sich den Anderen durch das Gesagte nicht verstellen zu lassen – im Bewusstsein – da wir uns nun innerhalb des Gesagten befinden, kann durchaus von Bewusstsein gesprochen werden –, dass alles Sprechen »im Namen Gottes« geschieht und damit »Prophetie« ist. 174 Das »hier, sieh mich«, dieses vollständige Aufgehen im Zeugnis, wird somit zum Ausgangspunkt einer Neubedeutung als andere Weise nun auch das Gesagte (und damit die materialisierte Wirklichkeit des Seienden) zu bedeuten. Der-Eine-für-den-Anderen führt so als Zeugnis für den Anderen – das heißt seinen eigenen Bildern und Ideen, mithin seiner ›Substanz‹ enthoben – die »Sinnalternanz« 175 ein, die noch das sein durchdringt als »Inspiration des Selben durch den Anderen[.]« 176 Sein und Seiendes können nun in verschiedensten Bedeutungen erscheinen, die das gewohnte Verständnis erschüttern. Die Wirklichkeit erscheint unter dem Jenseits-des-sein, unter dem Antlitz oder der Stimme des Anderen, und wird ihrer reinen Nützlichkeit beraubt. Über der Verstehbarkeit als Logos erscheint die Verstehbarkeit als Nähe. So liegt im »hier, sieh mich« die »Möglichkeit der Dichtung, der Kunst.« 177 Man kann sagen, dass es die Aufgabe des der-Eine-für-den-Anderen ist, das Gesagte zum Gebet oder zur Poesie zu machen und damit die Rhetorik zurückzunehmen. 178 Die Zeugenschaft des »hier, sieh mich« ist in Bezug auf den absolut Anderen des Gedichts in ihrer Radikalität kaum zu überschätzen. Der Leser, der im Moment der Berührung durch das Gedicht kein reflektierender Leser ist, der das Ich wieder vom Sich losreißt, um seine Position erkennen und über sie nachdenken zu können, wird 173 174 175 176 177 178
Ebd. Ebd., S. 333. Ebd. Ebd., S. 333 f. Ebd., S. 318, Anm. 10. Vgl. ebd., S. 389.
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zum Zeugnis des sich im Gedicht bezeugenden Anderen, der nicht (mehr) in der ›tatsächlichen‹ Welt ist! Ein Zeugnis, das er immer wieder geben muss, womit der Leser selbst – weit über das Gedicht hinaus – zum Zeugen für den Anderen wird, der sein Leben, seine Geschichte nicht mehr selbst bezeugen kann. Damit ist ihm die ganze Verantwortung für den Anderen aufgebürdet, die er zurück in sein Sein trägt. Celans resignierte Schlussverse seines Gedichts Aschenglorie bekommen so eine subversive (und neue) Bedeutung: »Niemand/ zeugt für den/ Zeugen.« 179 Denn zum Niemand wird zunächst derjenige, der dem Gedicht begegnet und in es eingeht als der-Einefür-den-Anderen der Stellvertretung in einer Desubstantiation des Ich. So schreibt Celan in seinen Notizen zur Meridian-Rede: »Der Adressat des Gedichts ist niemand. Niemand ist da, wenn das Gedicht zum Gedicht wird. Das Schicksal dieses Niemand auf sich nehmen, führt zum Gedicht.« 180 Der Leser kann zu diesem Niemand werden, weil er vom Gedicht entäußert wird, von Formen, Bildern und Dingen befreit, die ihn an sein Sein binden würden. In der Stellvertretung nimmt er dieses Schicksal auf sich und nähert sich so der Heimat- und Namenlosigkeit des Anderen des Gedichts an. Der Andere des Gedichts ist der Zeuge, für den der Leser als Niemand nun zeugen kann. 181 Die Zeugenschaft schreibt sich über das Gedicht hinaus in die Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 202. Aleida Assmann betont in Bezug auf diese Verse die Notwendigkeit einer »sekundären Zeugengemeinschaft«, um »das Zeugnis der Überlebenden aufzunehmen.« (Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 89). 180 Celan: Der Meridian, S. 137. 181 Die Bedeutung, die ›Niemand‹ für Celans Dichtung und Poetik zukommt, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in all ihren Facetten entfaltet werden. Ihre Vielfalt und Tiefe wird im Titel des Gedichtbands Die Niemandsrose (1963) deutlich, mit dem wiederum die in ihm enthaltenen Gedichte korrespondieren. Jürgen Lehmann verweist auf die Symbolik der Kabbala, »in der ›Nichts‹ und ›Niemand‹ Aspekte bzw. Manifestationen des Göttlichen bezeichnen.« Weiterhin »erscheinen sie als Ausdruck von Unbestimmtheit, als Bezeichnung des nicht fixierbaren Du, des undefinierbaren Gegenüber, auf das hin sich der Sprachkosmos, die ›Niemandsrose‹ entfaltet.« (Lehmann, Jürgen: Titel: Die Niemandsrose. In: Ders. (Hrsg.): Kommentar zu Paul Celans ›Die Niemandsrose‹. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1997 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Dritte Folge. Band 149), S. 39–43. Hier: S. 41). ›Niemand‹ kann also sowohl derjenige sein, der sich im Gedicht entäußert und so, wie dargelegt, zum Zeugen des Zeugen als seines Anderen wird, als auch ebendieser Andere, der, weil er selbst nicht mehr zeugen kann, im Gedicht lediglich als Niemand erscheint. Die Niemandsrose entfaltet sich zu diesen beiden Seiten hin. Lehmann verweist außerdem auf die Nähe zu Ossip Mandelstamm, dem der Band gewidmet ist, 179
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wieder zu sich kommende Identität des Lesers ein. Das Zeugnis für den Anderen, sein Schicksal, seine Geschichte müssen schließlich vom Leser, der aus dem Gedicht zurückkehrt, in seinem Sein bezeugt und behauptet werden, auch dann, wenn er wieder er selbst ist. Als Stellvertretung wohlgemerkt, nicht als Ersatz, nicht als Übernahme einer fremden Identität, sondern als Eingedenken im Bewähren und Bewahren dieser Identität im und mit dem eigenen Dasein. Das Ich kehrt also, ent-äußerst und ent-eignet und frei von sich selbst, zurück, auf einer Kreisbahn, auf der es das Gedicht durchläuft. Eine Bahn, die Celan als Meridian bezeichnet. 182 Mit dieser Rückkehr, die als Loslösung beginnt, die jede Verortung in einer Identität und damit im Sein hinter sich lässt, entsteht zum ersten Mal eine Art von Heimat als solcher, die keine Korrelation im conatus essendi, im Verharren im Sein hat; Heimat, die Öffnung ist und désintéressement; Heimat, in der die eigene Verwurzelung zu Gunsten des Anderen aufgehoben ist, in der auch ich zu mir komme, nicht als mit mir bruchlos Identischer, sondern als Stellvertreter; Heimat, so kann man sagen, die auf die Identität des Anderen wartet und sich ihr öffnen kann, weil meine Identität keinen Raum mehr beansprucht (womit sich auch meine Verstehensweisen, meine Begriffe und Bilder, die ich mir bereits vom Anderen und dessen Wirklichkeit gemacht haben mag, von mir zurückziehen). Diese Heimat ist damit Heimat des Noch-nicht und Nicht-mehr der Abwesenheit des Anderen im Sein, »[a]ls wäre das Zugehen auf den anderen mein Zusammentreffen mit mir und eine Einpflanzung in eine nunmehr heimatliche Erde, befreit vom ganzen Gewicht meiner Identität. Heimat, die in keiner Weise durch Verwurzlung oder Erstbesetzung entsteht; Heimat, die nicht durch Geburt entsteht.« 183 und dessen Changieren zwischen ›niemand‹ und ›jemand‹ als Bezeichnung des Gegenübers (vgl. ebd.), sowie auf die literarische Tradition der englischen Renaissance-Dramen, in denen der (körperlose) Niemand »als Freund der Armen und Gefangenen erscheint […].« (Ebd.) Im Konzept der Stellvertretung muss der Niemand schließlich wieder zu einem ›Jemand‹ werden, um zur Zeugenschaft zu gelangen und damit auch dem Niemand des Gedichts zu dessen Identität zu verhelfen. Wird ›Niemand‹ nun auf den schweigenden und abwesenden Gott bezogen, wie Celan es in seinem Gedicht Psalm tut (vgl. Celan: Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 136 f.), kann auch dieser Niemand-Gott nur durch die Tat des Menschen wieder zu seiner Identität kommen, wie Wolfgang Emmerich bemerkt (vgl. Emmerich, Wolfgang: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Göttingen: Wallstein 2020, S. 186). 182 Celan: Der Meridian, S. 12. 183 Levinas: Vom Sein zum Anderen, S. 61.
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Eine Ästhetik des Entzugs
Die Heimat ist in ihrem Noch-nicht und Nicht-mehr u-topisch im doppelten Sinn: Sie muss erst noch hergestellt werden als Heimat der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, als solidarische Heimat also, die in diesem Sinn universal und eschatologisch zu denken ist. 184 Sie ist aber auch die verlorene Heimat, die Wunde im Sein. Eine Heimat, die, da sie nicht mehr ist und niemals mehr sein kann, beunruhigt:»Ein Aufplatzen der Welt, die, um die Nacht zu verbringen, keinen Ruheplatz mehr, sondern nur Steine bietet, gegen die der Stock des Wanderers stößt, der in metallischer Sprache erklingt. Eine Schlaflosigkeit im Bett des Seins, ohne auch nur die Möglichkeit, sich zusammenzurollen, um zu vergessen.« 185 Das Gedicht, aus dem heraus die von Heimatlosigkeit durchdrungene Heimat in diesem doppelt u-topischen Sinn sich entfaltet, macht den-Einen-für-den-Anderen zum Zeugen für den Zeugen der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Heimat. In diesem Spannungsverhältnis muss er sein Dasein bewähren. Das heißt, es ist ihm aufgetragen, in seinem Sein als Zeuge auf das Verlorene und Noch-Ausstehende hinzuweisen, eine andere Welt, andere Geschichten in seiner Welt und seiner Geschichte aufzuzeigen. Es ist ihm aufgetragen, den Bedeutungen in einer anderen Weise zu bedeuten andere Bedeutungen zuzusprechen. Der Meridian, der derart aus dem Gedicht in die Wirklichkeit außerhalb des Gedichts und wieder zurück führt, erscheint als das »Unumgängliche: Aufhebung der Spielregeln des Schönen und des Begriffsspiels und des ›Spiels der Welt‹; Befragung des Anderen, Aufsuchen des Anderen. Eine Suche, die sich im Gedicht dem anderen widmet; ein Gesang steigt im Geben auf, im Einer-für-den-anderen, in der Bedeutung der Bedeutung selbst. Eine Bedeutung, älter als alle Ontologie und alles Seinsdenken und alles, was Wissen und Begehren, Philosophie und Libido meinen.« 186
Universal und eschatologisch meint hier, dass die Forderung von Solidarität und Gerechtigkeit auf alle Menschen bezogen werden muss und dass dieser Anspruch zugleich nicht vollkommen umsetzbar ist. Der Mensch kann von sich aus keine vollkommene Welt herstellen. Er muss sein Scheitern, seine Schuld, immer wieder eingestehen und neu bedenken. Die Utopie ist der Weg zum Nicht-Ort, die Vorstellung, diesen Weg beenden zu können, pervertiert die Utopie und kann totalitär werden. Eine Utopie indessen, die unter einem eschatologischen Vorbehalt steht, kann eine Orientierung für das menschliche Denken und Handeln sein. 185 Levinas: Vom Sein zum Anderen, S. 62. 186 Ebd., S. 64. 184
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Der Meridian führt zur Unterbrechung des Gewohnten, zur Dekonstruktion von Begriffen und Bedeutungen – zu einem Sagen ohne Gesagtes. Damit sind wir aber noch nicht am Ende unserer Untersuchung über die Möglichkeit einer Offenbarung des Anderen als Antlitz im Kunstwerk und in der Literatur.
3.3.3. Die Obliteration Die Philosophin Françoise Armengaud hat 1988 ein Gespräch mit Levinas geführt, das 2019 in deutscher Übersetzung publiziert wurde. 187 In ihm thematisieren die beiden Gesprächspartner das Konzept der Obliteration des Bildhauers und Malers Sacha Sosno. Der Begriff Obliteration (franz.: oblitération) ist nicht eindeutig ins Deutsche zu übersetzen, da ihm ein weiter Bedeutungshof zukommt. Abgeleitet vom Lateinischen oblitterare bezeichnet Obliteration zunächst überstreichen, auslöschen. 188 Das Präfix ob- »markiert ein materielles Hindernis« und verweist auf »ein widerständiges, unintegrierbares Element […].« 189 Das Suffix in oblitération, -litéra, ist auf lettre zurückzuführen, bezeichnet also Sprache, das Wort und den Text: »›Oblitération‹ markiert also ein Durchstreichen, Verschleiern, Vergessen oder Tilgen eines textuellen oder sprachlichen Sinns (bzw. Sinns überhaupt). In der buchstäblichen Bedeutung bezeichnet Obliteration also eine Streichung, mit der eine ›Unkenntlichmachung‹ einhergeht.« 190 Weiterhin findet sich im Altfranzösischen die Bedeutung einer (natürlichen) Abnutzung oder Alterung, ein Sichabnutzen »durch den Zahn der Zeit […].« 191 Die medizinische Fachterminologie versteht unter Obliteration »ein materielles Hindernis in Form eines Gefäßverschlusses durch einen Fremdkörper [,]« 192 also eine Art von Verstopfung. Interessant sind weiterhin die Bedeutungen im Englischen: Löschung oder Auslöschung, aber auch die DechiffrieLevinas, Emmanuel: Die Obliteration. Gespräch mit Françoise Armengaud über das Werk von Sacha Sosno. Mit einem Vorwort von Johannes Bennke und einem Nachwort von Dieter Mersch. Zürich: Diaphanes 2019 (Reihe Denkt Kunst). 188 Vgl. Bennke, Johannes: Vorwort. In: Levinas: Die Obliteration, S. 7–28. Hier: S. 11. 189 Ebd. 190 Ebd., S. 11 f. 191 Ebd., S. 12. 192 Ebd. 187
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Eine Ästhetik des Entzugs
rung von Handschriften und Geheimsprachen. 193 Obliteration bezeichnet im Englischen also »sowohl die Unlesbarkeit als auch den gegenteiligen Prozess der Wiederlesbarmachung und Wiederherstellung von ausgelöschten und unverfügbar gemachten Spuren.« 194 Zwar entspricht diese Vielzahl an Bedeutungen nicht dem Verständnis von Sosno und Levinas. 195 Dennoch sollten wir sie in Hinblick auf die Dichtung Celans im Hinterkopf behalten. Erinnern wir uns daran, was wir über das Antlitz und seine Nähe, auch und gerade seine Nähe im Gedicht, gelernt haben: Der Nächste stört mich in meinem Sein, indem er sich mir auferlegt. Seine Art, sich zu zeigen, transzendiert jedes Verständnis und ist jeder Feststellung im Gesagten voraus, was bedeutet, dass er sich in seinem Zeigen entzieht und denjenigen, dem er sich zeigt, zum Zeugen dieses Entzugs und der Abwesenheit macht. Damit eröffnet er eine andere Weise des Bedeutens, die gerade auf diesen Entzug hinweist, und deshalb auf keinen Begriff zu bringen ist, sondern mit dem ganzen Dasein verantwortet werden muss. Auch wenn ein Kunstwerk oder ein Gedicht zum Thema wird, wenn sein Inhalt identifiziert werden kann, gibt es immer etwas oder jemanden, das oder der sich jedweder Thematisierung entzieht und damit das Thema selbst prekär macht. Diesen Prozess und dessen Wirkung auf die Wirklichkeit außerhalb des Gedichts oder des Kunstwerks können wir mit der Obliteration nun spezifizieren. Die Obliteration bezieht sich einmal auf das Antlitz und dessen Entzug selbst: Der Andere offenbart sich als Antlitz, indem er sich unendlich entzieht. Er hinterlässt nur die Spur als diesen Entzug selbst, während das ursprüngliche ›Zeichen‹ nicht mehr identifiziert werden kann. 196 Da es sich hierbei aber vor allem um einen zeitlichen Prozess handelt, kann Obliteration nicht einfach mit Streichen oder Vgl. ebd., S. 13 f. Ebd., S. 14. 195 Wie Bennke ausführt (vgl. ebd., S. 15 ff.). 196 Dieter Mersch schreibt in seinem Nachwort zu Die Obliteration treffend, dass sich in der Obliteration »Positivität (Erscheinung)« und »Negativität (Entzug)« verschränkten und die Obliteration damit als ›Tilgung‹ oder ›Ausstreichung‹ des Ästhetischen, die gerade im Aufzeigen einen ewigen Entzug gegenwärtigt, »das Abwesen des Anwesenden um der Anwesenheit des Abwesens willen [betont]. Die Ästhetik hat dann vor allem dort ihre einzigartige Stätte, wo eine Lücke, ein ›Nichts‹ aufklafft, um allererst etwas anderes sehen zu lassen: presentia [sic!] in absentia, die noch zur absentia in praesentia gesteigert wird.« (Mersch, Dieter: Levinas und die Ethik der Künste. Ein Nachwort. In: Levinas: Die Obliteration, S. 75–88. Hier: S. 85). 193 194
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Durchstreichen übersetzt werden, denn das Durchstreichen impliziert, dass die Spur als Streichung des Gestrichenen von Dauer ist, wohingegen sich die Spur als Entzug des Antlitzes wieder verflüchtigt. 197 Wir werden sehen, dass Celan in seiner Poetik dem Gedicht eine solche Einmaligkeit zuspricht. Das Gedicht erscheint niemals als dasselbe, es ist, wenn sich der Leser ihm nähert, eine immer andere Spur, es erscheint als différance, die das Verstehen in der ungeteilten Aufmerksamkeit (in seiner Wachheit oder Schlaflosigkeit) des Lesers aufhält und ein je Verschiedenes bedeutet, auch wenn es sich formal um den gleichen Text handelt. Die Obliteration bezieht sich darüber hinaus auf das Sein selbst, das durch das widerständige und unintegrierbare Element im Kunstwerk als defizitär enthüllt wird. 198 »Obliterations-Kunst« wäre somit »eine Kunst, die die Leichtfertigkeiten oder die unbeschwerte Sorglosigkeit des Schönen anprangert und an die Abnutzungen des Seins erinnert, an die ›Ausbesserungen‹, von denen es bedeckt ist, und an die sichtbaren oder verborgenen Streichungen, in seinem Beharren zu sein, zu scheinen und sich zu zeigen.« 199 Die Plastiken Sosnos, von denen einige im Buch abgebildet sind, 200 erwecken diesen Eindruck. Zu sehen sind Körperteile, halbe Gesichter oder Gliedmaßen, die gebrochen erscheinen, verdeckt oder abgeschnitten, sich verstecken oder zurückziehen und damit jene Leerstelle oder Dunkelheit bedeuten, von der bereits die Rede war. Der Andere ist im dargestellten Antlitz abwesend, seine Spur ist Entzug und Rückzug aus dem Sein. Damit wird deutlich, dass der Betrachter in seinem Sein zu spät kommt. Die ent-stellten Gesichter sind in ihrer Ent-stellung offen und leer, nicht verstellt vom Sein, deckungslos. Sie lösen jede Vorannahme, beispielsweise der Schönheit, auf. Dies tun sie nicht aufgrund einer Hässlichkeit. Das Hässliche würde nur wieder auf sein Gegenteil, das Schöne, verweisen, und bewegte sich damit innerhalb der Dialektik von Sein und Nicht-sein. Die Skulpturen Sosnos sind eher Vgl. Levinas: Die Obliteration, S. 36, S. 47 sowie den Abschnitt Streichung und Obliteration im Vorwort von Bennke (vgl. S. 20 ff.). 198 Sie macht bewusst, dass die Wirklichkeit selbst obliteriert und das Dasein verschleiert, unwirksam macht, behindert und gefangen nimmt: »Eine ObliteriertenExistenz, eine Seele, die in ihre Erscheinungsweisen eingeschlossen ist, unfähig ihnen zu entkommen, unfähig zu entkommen. Mechanisches, das Lebendiges überdeckt […].« (Levinas: Die Obliteration, S. 37). 199 Ebd., S. 35. 200 Vgl. Villers, André: Photographien. In: Levinas: Die Obliteration, S. 49–74. 197
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eine Verstopfung dieser Dialektik, eine Verstopfung des gemächlichen sein, das sich innerhalb der Dialektik abspielt. Michelangelos David zeigt sich mit abgeschnittenem Gesicht, 201 nicht als schöner Jüngling, sondern jenseits von Schönheit und Hässlichkeit, aus dem Sein getilgt und womöglich vom sein getilgt. Er zeigt keine entstellte Fratze, keine Verzerrung oder Verletzung, die als solche zu identifizieren wäre. Die Vorderseite seines Hauptes ist ganz glatt, als sei sie mit einem scharfen Messer abgetrennt. Die Skulptur wirkt, wie viele andere der dokumentierten Werke, unfertig: »Das Werk ist niemals abgeschlossen. Und das Werk ist deshalb niemals abgeschlossen, weil die Wirklichkeit immer schon verfehlt, in diesem Sinne obliteriert ist.« 202 So lässt es den Raum für eine Leere, die nicht aufgefüllt werden kann, da die Wirklichkeit ihr nicht genügt: Offenbarung als Spur dessen, was sich nicht als Identifizierbares zeigen kann oder zeigen wird. Und damit zur Bedeutsamkeit der Bedeutung als andere Weise zu bedeuten führt: Zum Zeigen, das nicht im Gezeigten aufgeht, zum Sagen ohne Gesagtes. Gerade weil die Skulptur kein Gesicht hat, kann sich der oder das Andere als Antlitz offenbaren: Als unendlicher Entzug seiner selbst – als Spur des unsichtbaren Unendlichen, auf das der Widerstand im Endlichen des Kunstwerks hinweist. Es gibt, wie Levinas sagt, im Kunstwerk schließlich immer mehr zu sehen, als es zu sehen gibt. 203 Die Obliteration obliteriert sich unaufhörlich selbst. Levinas steht der Kunst Sosnos keineswegs unkritisch gegenüber. So kritisiert er die geometrischen Formen, die Sosno verwendet, um Kunstwerk und Wirklichkeit zu obliterieren. 204 Diese seien zwar eine »brutale Negation«. 205 Er zweifelt jedoch an ihrer Tiefgründigkeit, die er eher in einer Romanszene Wassili Grossmans sieht, in den »Nacken der Leute, die vor dem Gefängniseingang der Lubjanka in Moskau Schlange stehen, um dort Briefe oder Pakete an die Eltern oder Freunde […] zu übermitteln, Nacken, die für diejenigen, die sie in der Warteschlange anblicken, noch Angst, Sorgen und Tränen ausdrücken, [sie] sind – wenn auch auf andere Weise – obliterierte Gesichter.« 206
201 202 203 204 205 206
Vgl. ebd., S. 74. Levinas: Die Obliteration, S. 40. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 40 f. Ebd., S. 41. Ebd.
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Ähnliches sieht er in der Erzählung Der Mantel von Nikolai Gogol: »Es ist das Sein, das unter seinem eigenen Gewicht zerbricht und sich darin verausgabt, sein zu wollen.« 207 Die Obliteration bedeutet ein ontologisches Drama, von dem das soziale Problem »einer der Modi« ist. 208 Sie bedeutet die Totalisierungstendenz, die dem Sein und mit ihm dem Verstehen und der Intentionalität eigentümlich ist, indem sie sie durchkreuzt. Die Obliteration verstopft das sein und weist mit dieser Verstopfung oder Unterbrechung darauf hin, dass das Sein selbst immer schon verstellt (verstopft) ist zum Anderen hin und das Sein den Anderen unter sich begräbt: Unter seinen Bedeutungen und Begriffen, unter Funktionalisierung und Objektivierung, schließlich unter Ausbeutung und Unterdrückung. Die Obliteration ist eine ästhetische Praxis, die das Subjekt als der-Eine-für-den-Anderen einsetzt, insofern sie ihm die Beschädigung der Welt vor Augen führt und damit seine Schuld, zu spät gekommen zu sein, sein In-Geschichten-verstrickt-sein offenbart, die mit der Verantwortung für den Anderen belädt. Sie ist nicht selbst schon ein ethisches Verhältnis, aber sie kann ein solches eröffnen, denn sie »bringt zum Sprechen […]. Die Obliteration unterbricht das Schweigen des Bildes. Ja, es gibt einen Appel [sic!] des Wortes an die Sozialität, das Sein für den Anderen.« 209 Auch wenn Levinas hier wieder in eine ontologische Sprache verfällt, kann dieses Sprechen nur ein solches sein, das, vom Kunstwerk her, aber über es hinaus, seine Sprache sucht, ohne sich erneut im Gesagten des Bildes oder des Begriffs oder der Darstellung zu verfangen. Eine Sprache, die aus der Unterbrechung des Denkens und damit der Unterbrechung auch des gewohnten reduktiven Sprechens resultiert. Immerhin kann oblitération entsprechend seiner etymologischen Herleitung 210 mit Verhinderung des Wortes übersetzt werden – oder: Verhinderung durch das Wort. Der Anruf des Anderen (sein Wort) unterbricht zuerst mein Sprechen (mein Wort), um es zu befreien und zu einem ethischen Sprechen zu machen, das seine Bedeutungen aus dem-Einen-für-den-Anderen der Stellvertretung schöpft und das Wort des Anderen in der (ent-stellten) Wirklichkeit anklingen lässt. Ein Wort, das zum Skandalon wird – das sein ins 207 208 209 210
Ebd., S. 42. Ebd., S. 42. Ebd., S. 45. Vgl. Bennke: Vorwort, S. 11.
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Stolpern bringt und die Kraft hat, es vom Anders-als-sein aus zu verändern. Mit Unterstützung dessen, der es im Sein vertritt. Die Einbeziehung von Levinas’ Gedanken zur Dichtung Celans und zur Obliteration lassen die Feststellung, dass der Andere in der Darstellung sein Gesicht/Antlitz als Nächster verliere, 211 in einem anderen Licht erscheinen. Die Darstellung, so sie etwas darstellt, stellt den Anderen in der Tat nicht als den Nächsten dar, der sich in der Annäherung immer weiter vom Betrachter entfernt, sich intentional nicht als Noema einer Noesis gibt und deshalb kein Thema, kein Inhalt einer Darstellung sein kann. Die Darstellung kennt als ihr Dargestelltes eine Abstraktion, eine Definition, eine Repräsentation des Anderen, die intentional ›angezielt‹ wird, um erkannt und verstanden zu werden. In ihr verschließt sich das Sein dem Anderen, indem es ihn auf einen Begriff zu bringen oder in ein Bild zu bannen versucht. Die Manifestation des Anderen in der Darstellung ist ikonenhaften Charakters, »in seiner Plastizität setzt sich das Kunstwerk an die Stelle Gottes.« 212 Dies gilt bei Weitem nicht nur für die bildende Kunst. Auch die Literatur kennt ihre Plastizität, in der die beschriebenen dinghaften oder menschlichen Körper in ungebrochener Schönheit erscheinen und in den endlichen Raum der Anschauung drängen, um dort zu verharren in einer Berührbarkeit, die den unablässigen Entzug des Nächsten verstellt. Ein Gedicht des literarischen Ästhetizismus würde dann bestenfalls ex negativo obliterieren, indem es durch seine angestrebte Vollkommenheit auf die Negativität der Wirklichkeit hinweist, wie es Levinas für die bildende Kunst anhand der Mona Lisa konstatiert. 213 Die Dichtungen Celans und die Werke Sosnos sind aber keine Darstellungen in diesem Sinne. Denn sie stellen keinen mit weltlich schon Vorhandenem identifizierbaren Inhalt dar. Bevor ein solcher ausgemacht werden kann, sind die lebensweltlichen Bezüge durch die Art der ›Darstellung‹ bereits suspendiert. Der direkte Zugang des Gedichts oder Kunstwerks zur Welt ist verstopft. Der Leser oder Betrachter ist desinteressiert (im Sinne des désintéressement) an der Welt, ihren Begriffen und Bedeutungen, und damit offen dafür, sich die Weise zu bedeuten vom Anderen als seinem in diesem Augenblick der Berührung Nächsten sagen zu lassen. Derart eingesetzt als 211 212 213
Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 361. Ebd., S. 329 Anm. 21. Vgl. Levinas: Die Obliteration, S. 46 f.
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der-Eine-für-den-Anderen ist er dazu aufgerufen, die Verstehbarkeit als Nähe hinter der Verstehbarkeit eines unpersönlichen Logos zu suchen, die »Geschichte vor aller Historiographie«, 214 auch jenseits des jeweiligen Kunstwerks oder Gedichts. Diese können somit ein Anfang dazu sein, in der Geschichte und im sein die Stimmen der abwesenden Anderen hörbar zu machen, also die Geschichte gegen den Strich zu lesen, um für eine unterdrückte Vergangenheit einzustehen, 215 die in der Reflexion freilich immer wieder zu Gesagtem wird, das dann allerdings mit einem Mehr-an-Bedeutung bzw. Mehr-als-Bedeutung durch die andere Weise zu bedeuten angereichert erscheint und auf die Leere oder Dunkelheit einer unvordenklichen Vergangenheit verweist, die selbst der unterdrückten Vergangenheit vorgängig ist und die nicht thematisiert werden kann – die Abwesenheit des Anderen, von der selbst dessen Stimme lediglich eine Spur ist.
3.3.4. Die Behauptung der Stellvertretung gegen die Absurdität der Geschichte Literatur und Kunst, wie sie hier beschrieben wurden, obliterieren und weisen auf das bereits obliterierte Sein hin, in das der Mensch eingeschlossen und seiner Möglichkeiten beraubt ist, weil er sich, verweigert er die Öffnung zum Anderen hin, der Knechtschaft der Dinge unterwirft, der Begriffe und gewohnten Bedeutungen, die nur die Konvention und den Nutzen kennen. Literatur und Kunst können so das Gesagte widerrufen und machen das Elend des Seins, in dem das Gesagte sich einschreibt und seine Macht ausübt, offenbar. Damit wird es seiner Herrschaft entwunden. So wird das Subjekt auch von dem Kunstwerk oder dem Gedicht von der Heteronomie in die Autonomie gesetzt, 216 weil Kunstwerk und Gedicht noch auf den Anderen als Nächsten hindeuten können. Der »poetische Ausdruck«, insofern er die Spur des Unendlichen als »Spur eines Abschieds« und »Figur einer uneinholbaren Vergangenheit« 217 bedeutet, kann das Subjekt als Stellvertreter in die Lage 214 215 216 217
Levinas: Jenseits des Seins, S. 367. Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 697, S. 703. Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 325 f. Ebd., S. 383.
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versetzen, das In-Geschichten-verstrickt-sein von den Rändern der Geschichten her (und nicht, wie bei Schapp, vom subjektiven Zentrum aus) zu reformatieren, das heißt in anderen Konstellationen zusammenzufügen. 218 Der Stellvertreter kann das Sein und die Geschichte des Seins, die sich als Herrschaftsgeschichte gibt, transparent machen auf das hin, was vom Sein verschleiert wird: Die Geschichten der Ermordeten, deren Sein gewaltsam beendet wurde, die also nicht mehr sein durften, deren Geschichten jedoch weiterhin fragmentarisch im Sein eingesprengt sind. Diese Geschichten sind das, was wir erzählen und erinnern können, jene, die sie erlebt haben, bleiben abwesend, uneinholbar. Ihre Geschichten sind die Spuren, die sie hinterlassen haben. Ihr Nicht-mehr-sein ist aber wiederum offen zum Jenseits-des-sein. Das, was zur Sprache kommen kann und damit zum Gesagten wird und werden muss, ist gegeben von jenen, die auch das Sagen nicht mehr berühren kann, gegeben von ihrer Abwesenheit, deren Spuren wir aufspüren können. Die Gegenwart der Ermordeten ist ihre Abwesenheit. Wir können das Erzählte einer Erzählung (erneuert in seiner Einmaligkeit) erzählen, insofern es auf diese Abwesenheit, Nicht-Identität oder Ungleichzeitigkeit bezogen bleibt. Nun ist es in der Tat so, dass Levinas keinen alternativen philosophischen Geschichtsentwurf entwickelt hat, worauf Caroline Heinrich hinweist. 219 Geschichtswissenschaft, so Heinrich, sieht er vor allem als Totalisierung der Vergangenheit zum historischen und damit überblickbaren Sein. 220 Erinnern ist somit immer in Gefahr zur Historie zu werden, die die Opfer der Geschichte zu Statisten macht. Deshalb ist es für Levinas so wichtig zu betonen, dass die Zeit der Geschichte (mithin die erinnerte oder auch erzählte Zeit und damit auch die Zeit des (Wieder-)Erzählens des Erzählten einer Erzählung) nicht mit der Zeit des Anderen deckungsgleich ist. 221 Diese andere Zeit des Nächsten demontiere die »wiedereinholbare Zeit der Geschichte und der Erinnerung, in der die Vorstellung kontinuierlich weitergeht.« 222 Wir haben bereits gesehen, dass die andere Zeit in der Lektüre punktuell zu meiner Zeit werden kann, aber sofort wieder So wie Benjamin es in These VII seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte darlegt (vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 696 f.). 219 Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 279. 220 Vgl. ebd. 221 Vgl. ebd. 222 Levinas: Jenseits des Seins, S. 198; vgl. Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 279. 218
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in einer différance aufgeschoben und differiert wird, somit letztendlich uneinholbar bleibt (Kap. 1.5.). Die Nicht-Identität, Ungleichzeitigkeit oder Diachronie schlägt immer wieder durch. In der Tat stellt dies einen philosophischen Geschichtsentwurf vor gewisse Probleme (und auch mein Versuch einer Philosophie der Geschichte(n) ist letztendlich ein solcher Entwurf). Meines Erachtens ist die Hypothese, den Anderen in seiner Zeit nicht vollkommen einholen zu können, mithin sich mit seiner Geschichte nur fragmentarisch identifizieren zu können, ein hilfreiches, ja notwendiges Korrektiv, da ansonsten seine Geschichte in ihrer Individualität und Inkommensurabilität aufgehoben wäre – ein weiterer Gewaltakt gegenüber den Ermordeten! Eine Annäherung an den Anderen gelingt also nur über die Spuren, die er als seine Abwesenheit hinterlässt. Wir können uns in der Erinnerung, in der Erzählung und dem Gesagten zwar an die Geschichte(n) seines Lebens annähern. An sein individuelles Erleben jedoch nicht. Auch wenn ich also versuchen möchte, Levinas’ Ansatz auf eine Geschichten-Philosophie zu übertragen, und dafür mit seinen Ausblicken auf Kunst und Literatur und seinen Andeutungen in Jenseits des Seins durchaus eine gewisse – wenn auch schwankende – Grundlage habe, bleibt seine Skepsis gegenüber einem solchen Vorhaben hintergründig bestehen. Ich möchte deshalb an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, dass Levinas auch das, auf das wir uns im Folgenden beziehen werden, nicht explizit auf Kunst und Literatur bezogen hat. Mit Verweis auf Celan gibt es hier meines Erachtens dennoch einen legitimen Anknüpfungspunkt. Levinas schreibt, dass er es sich nicht erlaubt hätte in Jenseits des Seins an das Jenseits-des-sein zu erinnern, 223 »wenn nicht die abendländische Geschichte an ihren Rändern die Spur von Ereignissen aufwiese, die einer anderen Bedeutung fähig wären, und wenn die Opfer der Siegeszüge, nach denen die Epochen der Geschichte benannt sind, sich vom Sinn dieser Geschichte abschneiden ließen.« 224 Die Geschichte auf die Opfer der Siegeszüge hin transparent zu machen, an Das Jenseits-des-sein ist als Inhalt oder Thema nicht zu erinnern, wie nun klar sein sollte, insofern es jedes Bild und jeden Begriff transzendiert. Seine Spuren und der Stellvertreter als sein Zeuge aber bedeuten es, wenn sie Geschichten erzählen und erinnern. 224 Levinas: Jenseits des Seins, S. 381. Heinrich bemerkt zu diesem Zitat, dass Levinas »mit dieser Feststellung an die Grenzen seiner eigenen Konzeption [stößt].« (Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, S. 279) Eine Ästhetik 223
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Eine Ästhetik des Entzugs
die Peripherie der Siegergeschichte zu gehen, ist die Aufgabe, zu der uns die Stimme des Anderen im Gedicht aufruft; eine Aufgabe, mit der das gewohnte Selbstverständnis des conatus aufgegeben wird, das Bedeutungen nur dann anerkennt, wenn sie seinen Vorstellungen entsprechen. Vom Verschleierten oder der Peripherie her anders zu bedeuten heißt aber: Den Anderen in seiner Art zu bedeuten anzuerkennen und diese Art in die eigene Bedeutungsweise als sein Stellvertreter zu übernehmen. So kann die Geschichte einen anderen Sinn erhalten, der diejenigen berücksichtigt, die die Kosten des Geschichtsverlaufs zu tragen hatten und auf dessen Schattenseiten verbannt wurden. Damit ist keine Aneignung der Opferperspektive gemeint. Niemand kann für die Opfer und die Ermordeten sprechen. Das Einstehen-für der Stellvertretung ist keine Repräsentation des Anderen unter anderen Bedingungen und deshalb von einem Sprechen-für eines Repräsentanten zu unterscheiden. Wenn Levinas nun über die Inspiration als Zeugnis der Herrlichkeit schreibt, dass diese sich »in meinem Sagen [verherrlicht], indem sie mir durch meinen Mund gebietet […]«, 225 so drückt er damit ja gerade aus, dass das Sagen nicht zu einem Ende kommen kann, weil es die Bewegung des Zeugnisgebens ist, also die andere Weise zu bedeuten, nicht aber die Bedeutung selbst, weshalb das Sagen immer wieder neu aufgenommen werden muss, aus jedem Gesagten heraus. Indem ich als Stellvertreter für den Anderen stehe, weise ich auf seinen Entzug und seine Abwesenheit hin. Die Geiselschaft macht dies vielleicht noch einmal deutlicher: Bin ich die Geisel eines Anderen, kann ich nicht mit ihm identisch werden. Ich bin ›zur Stelle‹, habe aber immer noch meine Identität, auch wenn diese gebrochen und nicht identisch ist mit (m)einer selbstgenügsamen, imperialistischen oder herrschaftlichen Identität. 226 Die Trennung des Ich vom Anderen als ein Ich, das vom Anderen inspiriert ist und dementsprechend inkarniert als Sich, ist die Voraussetzung der Geiselschaft. Den Anderen in seiner Haut zu haben, bedeutet die Umwendung der Identität zu einer diastatischen (getrenn-
der Stellvertretung lässt dennoch, wie dargelegt, eine Möglichkeit der Annäherung an eine andere Bedeutung der Ereignisse der Geschichte zu. 225 Levinas: Jenseits des Seins, S. 322. 226 Zum Ab-danken der Identität und ihrer Umwendung zur Stellvertretung vgl. die Aussage in Vom Bewußtsein zur Wachheit (Levinas: Vom Bewußtsein zur Wachheit, S. 76).
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ten oder gespaltenen) Identität, 227 die nicht mit sich selbst übereinstimmt, aber auch nicht im Anderen aufgeht. Die Offenheit zum Anderen hin bewahrt das Subjekt ebenso vor einem Versinken im Sein, weil der Andere es als Einzigartiges verpflichtet und somit aus diesem Sein heraus ruft. 228 In der Geiselschaft geschieht also sowohl eine Entlastung des Selbst von seiner interessierten (im Sein befangenen und es beherrschen wollenden) Ich-Identität als auch eine Stärkung der ethischen Sich-Identität (Kap. 3.2.), die immer wieder umschlägt zum Anderen, dessen Nicht-Identität als Diachronie noch jede Chronologie des sein durchzieht, also auch dann noch im Ich als Sich ›verborgen‹ ist, wenn das Ich meint, sich in der Chronologie des Seinsvollzugs eingerichtet zu haben. Ein solcher Umschlag, der auch immer eine Neubesetzung des Selbst impliziert, geschieht nun auch in der Lektüre: Der Leser wird zunächst zu einem Niemand (ergo von seiner Ich-Identität entlastet) und kann deshalb, wenn er aus dem Gedicht zu sich zurückkehrt, zum Zeugen für den Anderen werden (als Sich-Identität oder Ich-Einzigkeit). Das heißt, dass seine Identität nun um eine Dimension erweitert wird, nämlich um die der Zeugenschaft, die hinzutritt zu seinem Selbst und sein Ich mit dem Zeugnis belädt. Damit bricht die Diachronie in die Zeit ein, denn das Zeugnis bezieht sich auf das Je-zu-spät-kommen, das nicht mehr eingeholt werden kann. Der Leser ist Angeklagter und Zeuge zugleich. Auch hier wird der Unterschied zwischen Einstehen-für und Sprechen-für deutlich. Der Zeuge des Anderen ist nicht der Andere selbst. Er spricht nicht für ihn, sondern er bezeugt das, was der Andere gesprochen hat. Er bürgt in seiner Gegenwart für die abgebrochenen oder unvollendeten Geschichten des Anderen. Damit bezeugt er in erster Linie dessen Abwesenheit. In seinem Sein, zu dem der Stellvertreter notwendigerweise zurückkehren muss, bezeugt er die Leere in diesem Sein, die Leere desjenigen Raumes, der die Heimat der Ermordeten wäre, wenn sie nicht ermordet worden wären. Das Bezeugen dieser Leere ist das Korrektiv, welches verhindert, dass der Stellvertreter sich in einer obszönen Maskerade als Ersatzmann inszeniert. Die Spuren, die der Leser aus dem Gedicht aufnimmt, sind Spuren des Abschieds, Spuren dieser Leere. Wenn er nun sein In-Geschichtensein umwendet und an diesen Spuren ausrichtet, also mit dem Gedicht als eine solche Spur über das Gedicht hinaus geht, um weitere 227 228
Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 254 f. Vgl. ebd., S. 388.
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Spuren im Gesagten (wieder)lesbar zu machen, 229 muss ihm das Sein selbst als ungenügend erscheinen: ›durchlöchert‹ von den Spuren der Leere, vom Nicht-mehr und Zu-spät. Damit wird das Sein paradoxerweise seiner Anonymität beraubt: Denn anonym erscheint es in der Alltäglichkeit, in Heideggers ›Man‹. 230 Im ›Man‹ gibt es lediglich eine instrumentelle oder funktionale Beziehung zum Seienden, zu Dingen und anderen Menschen: Wie man es so macht. Diese wird aber, wie wir es bei der Obliteration gesehen haben, durchkreuzt: Es zeigt sich ein widerständiges Element im Sein und am Seienden, die Dinge erscheinen abgenutzt, in ihrer Funktion ›verstopft‹. Mit den Spuren der Leere, die das Sein ›durchlöchern‹, ist das Sein offen auf das Andersals-sein. Denn die Spuren sind nicht einfach ein Nicht-sein, das sofort wieder vom sein überrollt würde. Sie verweisen, wenn auch im Negativen, auf einen Jemand, der einmal da war und der in seiner Abwesenheit immer noch ›da‹ ist. Somit kann sich das sein nicht über diesen Spuren schließen. Jedes Kulturgut, jedes ›Wozuding‹, jedes Artefakt taucht aus seinem anonymen Gebrauch auf als mit Geschichte(n) beladen. Es ist nicht disfunktional oder aufdringlich im Sinne von Heideggers Vorhandenheit. 231 In der Vorhandenheit wird lediglich das Seinsverständnis modifiziert, 232 die Dinge bleiben aber als Gegenstände begreifbar, sie entziehen sich nicht der Betrachtung und hinterlassen keine Abwesenheit oder Leere. Mit den Spuren aber taucht in den Dingen gerade das auf, was sich entzieht und sich nicht thematisieren lässt: Die andere Zeit als die, die sich der wiedereinholbaren Zeit verweigert, und die damit jede Erinnerung noch einmal hintergeht. Die Toten können lebendig werden, indem wir ihre Geschichten erzählen, 233 hieß es im Abschnitt über die Erzählung (Kap. 1.5.). Sie können erkannt und beachtet werden. Die Beachtung wirft uns aber unvermeidlich wieder auf das harte Faktum zurück, dass sie tot sind oder ermordet wurden. Sie können nur im Rahmen ihrer Geschichten auferstehen, ihre ›tatsächliche‹ Auferstehung bleibt eschatologisch. Ihre Geschichten können von ihrem Träger, dem Gedicht, der Erzählung oder dem Kunstwerk, gelöst und auf die Lebenswelt übertragen werden. Jedes Kulturgut, dem die Spuren Erinnern wir uns an die Obliteration: Die Obliteration des Gedichts enthüllt die bereits obliterierte und beschädigte Wirklichkeit. 230 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 126 ff. 231 Vgl. ebd., S. 74. 232 Vgl. ebd., S. 361. 233 Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 217. 229
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eingeschrieben sind, die der-Eine-für-den-Anderen der Stellvertretung lesen kann, und durchaus als Geschichten anderen Menschen vermitteln kann, erscheint jedoch in dieser Bodenlosigkeit: Die Subjekte der Geschichten ziehen sich mit dem Aufgreifen der Erzählung in ihre Abwesenheit zurück. Das, was mitgeteilt werden kann, bleibt Fragment. Das Eingedenken führt zum Nicht-Denkbaren: Zur Subjektivität der Ermordeten. Aus dem Nicht-Denkbaren und Nicht-Erinnerbaren ergibt sich aber gerade das fiendum der Verheißung als Imperativ des Eingedenkens. Mit ihm erscheinen beispielsweise die Architektur und die Straßenzüge einer Stadt von der conscientia, dem ethischen Mitwissen um die Schattenseiten der Geschichte, erfüllt. 234 Ein Mitwissen, das um die Abwesenheit weiß. Denken wir nur an die sogenannten Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig: Sie vergegenwärtigen die Geschichten, die Namen, den ›Grund‹ für die Verfolgung der Opfer, ihr Schicksal, ob sie überlebt haben oder ermordet wurden. Sie machen ihre Geschichten im Bewusstsein präsent. Aber zugleich verweisen sie auf ihre Abwesenheit. Sie sind Spuren, die den Betrachter bedrücken müssen, die sein sein ins Stolpern bringen. Sie sind damit auch ein gutes Beispiel für die Obliteration. Was hier obliteriert ist der Name, der auf ein abgebrochenes und unter Umständen gewaltsam beendetes Leben verweist. Ein Leben, dessen Erleben sich der Einfühlung und Vorstellung entzieht. Die Kulturgüter bekommen eine geschichtliche Bedeutung zugesprochen, die über ihre Negation hinausgeht. Das von einem Text oder einem Stolperstein obliterierte Haus ist ja nicht einfach kein Haus mehr. Es ist aber auch nicht länger das Haus als das es zuvor erschien. Es bedeutet in seiner Bedeutsamkeit wesentlich anders und anderes: Es bedeutet die Leere, die nun in ihm ›wohnt‹. Die Spuren der Leere ziehen die gewohnten Bedeutungen in sich hinein. Der Betrachter als der-Eine-für-den-Anderen steht für diese Spuren ein, bezeugt ihre Leere und damit die Geschichten, die erzählen, weshalb sie leer sind. Diese Geschichten selbst sind wiederum erzählbar und erinnerbar – aber eben nur in Bezug zur Abwesenheit ihrer Subjekte. In Bezug zu ihrem Abbruch, der dafür sorgt, dass die Geschichten immer wieder erinnert und erzählt werden müssen. Was machen diese Spuren nun in phänomenologischer Hinsicht in der Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit? Sie befinden sich mit ihrem Verweis auf Man kann annehmen, dass selbst die Natur ihre bloße und bruchlose Schönheit verliert.
234
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etwas Abwesendes oder jemand Abwesenden in einem seltsamen Zwischenstadium: Zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Sie sind ins Material eingeschrieben, verweisen aber auf etwas Immaterielles, auf das, was schon vorübergegangen ist – auf die nicht wiedereinholbare Zeit, das Störelement jeder Erinnerung und jeder Geschichte. Damit stehen die Spuren in einem eigentümlichen Verhältnis zu dem, was Levinas das Es-gibt nennt. Wir haben gesehen, dass sich das sein (als alltäglicher und verstehender Vollzug zu sein) nicht über den Spuren schließen kann, da sie das Seiende, die Dinge und das Gesagte von ihrer anonymen Gebräuchlichkeit als Wozudinge befreien – die Spuren unterbrechen den bloßen Gebrauch, insofern sie die Erscheinungen in ihrem alltäglichen Erscheinen ›verstopfen‹ (obliterieren) und sie mit Geschichten beladen, welche wiederum den bodenlosen Abgrund der Abwesenheit in sich tragen. Das Es-gibt ist jedoch nicht einfach eine Weise zu sein und kein Ereignis des Seins. Ebensowenig könne man sagen, sagt Levinas, »es wäre das Nichts, obwohl nichts ist.« 235 Es ist also, ebenso wie das Jenseits-des-sein des Antlitzes, das sich selbst immer wieder überschreitet, 236 das ausgeschlossene Dritte, 237 allerdings in seiner anonymen Form (so man in Bezug auf das Es-gibt von einer ›Form‹ reden kann). Es hintergeht in seiner Anonymität selbst die Anonymität des alltäglichen Seinsmodus, da dieser in seinem verstehenden Gebrauch immerhin an Seiendes, an Erscheinungen innerhalb des Seins gebunden ist. Das Es-gibt beschäftigt Levinas seit seinen frühesten Veröffentlichungen. In Die Zeit und der Andere (1947) beschreibt er es als Sein ohne Seiendes in einer Art negativen Ontologie. 238 Er geht dort offenbar noch nicht von einem ausgeschlossenen Dritten jenseits von Sein und Nichts, sondern von einer Art ›Urzustand‹ des Seins selbst aus, dem er sich spekulativ anzunähern versucht: »Es bleibt nach dieser imaginären Zerstörung aller Dinge nicht etwas, sonder[n] die Tatsache des Es-gibt. Die Abwesenheit aller Dinge kehrt Levinas: Ethik und Unendliches, S. 35. Auch Bahlmann sieht eine Parallele in der ›Erscheinungsform‹ von Antlitz und Esgibt, da sich beide der Phänomenalität entzögen, wobei der Unterschied sei, dass im Es-gibt keine Rede existiere (vgl. Bahlmann: Können Kunstwerke ein Antlitz haben?, S. 55 f.). 237 Vgl. Levinas: Ethik und Unendliches, S. 35. 238 Vgl. Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere. Hamburg: Meiner 2003 (Philosophische Bibliothek Bd. 546), S. 21 ff. 235 236
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als eine Gegenwart zurück: als der Ort, an dem alles verschwunden ist, als eine atmosphärische Dichte, als eine Fülle des Leeren oder als das Murmeln der Stille. Es gibt, nach dieser Zerstörung der Dinge und Seienden, das unpersönliche ›Kraftfeld‹ des Seins. Irgend etwas, das weder Subjekt noch Substantiv ist. Die Tatsache des Seins, die sich auferlegt, wenn es nichts mehr gibt. Und dies ist anonym: es gibt niemand und nichts, das dieses Sein auf sich nähme. Es ist unpersönlich wie das ›es regnet‹ oder ›es ist warm‹. Sein, das zurückkehrt, durch welche Negation man es auch immer beseitigen mag.« 239
Wenn wir in der ontologischen Sprache bleiben wollen, müssen wir sagen, dass sich zwar das Sein in seinem Vollzug als verstehendes sein nicht über den Spuren schließen kann. Die Gefahr, dass sich die Anonymität ohne alle Begrifflichkeiten als Anonymität, vor der sich noch nicht einmal mehr in den Alltag zu retten ist (die Anonymität des Es-gibt), über den Spuren schließt, scheint jedoch noch nicht gebannt. Warum aber ist das so? Wir haben gesehen, sowohl bei Levinas als auch bei Buber und Rosenzweig, dass es das Verhältnis zum Anderen ist, das mir Welt und Wirklichkeit öffnet. Dass es das zwischenmenschliche Verhältnis (mit ihm: das Verhältnis zu Gott) ist, in dem die Welt als sinnvolle erscheint. Die Spuren als Spuren des Abschieds mit ihrem Verweis auf die uneinholbare Abwesenheit eines anderen Menschen zeigen jedoch auf, dass dieses Verhältnis unwiederbringlich zerstört wurde – wenn auch, da es sich bei den Spuren, welche in das Gesagte, in die Kunstwerke und Objekte eingeschrieben sind, um Manifestationen geschichtlicher Schuld handelt, nicht aufgrund meines eigenen Verschuldens. Das heißt die Spuren sind, obwohl sie die Dinge in einem anderen Licht erscheinen lassen (oder vielmehr Schatten auf sie werfen, die vorher nicht wahrnehmbar waren) und sie anders bedeuten lassen, ebenso Zeichen absoluter Sinnwidrigkeit. Im Mischna-Traktat Sanhedrin ist eine berühmte Aussage zu lesen, die Bezug auf den Mord Kains an Abel nimmt und sich interessanterweise an einen ›falschen Zeugen‹ richtet: An diesem falschen Zeugen hafte »des Hingerichteten Blut und das Blut seiner (möglichen) Nachkommen bis an der Welt Ende, denn so finden wir bei Kajin [,] der seinen Bruder erschlug, da heisst es (Gen. 4,10): ›Das mehrfache Blut deines Bruders schreit.‹ Es heisst nicht: ›das Blut deines Bruders‹, sondern: ›das mehrfache Blut deines Bruders‹, nämlich sein Blut und das Blut 239
Ebd., S. 22 f.
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seiner (möglichen) Nachkommen. […] Deshalb ist nur ein einziger Mensch erschaffen worden, um dich zu lehren, dass wenn Einer eine Person […] vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn Einer eine Person […] erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten.« 240
Die Schrift (also Gott) rechnet die Vernichtung eines Menschen als Vernichtung einer ganzen Welt an. Die Spuren zeigen also die Vernichtung ganzer Welten an. Und nicht nur im metaphorischen Sinne: Denn mit den Menschen wurde ja tatsächlich ihre Welt im Sinne ihrer individuellen Lebenswelt zerstört und darüber hinaus in einem kulturellen Sinn große Teile der Welt und der Welten des europäischen Judentums. Auch den möglichen Nachkommen wurde so ihr Leben genommen. Der Text sagt nichts darüber aus, ob sich die Schuld wie ein Miasma auf die Nachkommen des Mörders überträgt. Der Ausgang der Geschichte von Kain in der Thora legt dies allerdings nahe. 241 Von Bedeutung ist jedoch, dass die Analogisierung von Mord und Vernichtung einer Welt auf jenes Es-gibt hinzuweisen scheint (denn was wäre sinnwidriger als die Vernichtung einer Welt?), das die Leere hinter jedweder Negation erfüllt und noch leerer ist als diese Leere: »Die absolute Leere, die man sich vor der Schöpfung vorstellen kann – es gibt.« 242 In dieser absoluten Leere sind keine Spuren mehr, auch keine Spuren der Abwesenheit. Es ist, als ob noch die Abwesenheit von der Sinnwidrigkeit der Auslöschung, deren Zeichen die Spuren auch sind, aufgezehrt würde. Die Leere als Resultat der Vernichtung einer Welt, in der selbst die Spuren der Vernichtung ausgelöscht sind – wie die Leere vor der Schöpfung. Oder aber: Eine Geschichte, die in sich zusammenfällt, weil die sich entziehende Zeit des Anderen von der Absurdität aufgesaugt wird und auch die Trümmer mit in den Strudel gerissen werden, der sich anschließend selbst vernichtet. Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischna. Hebräischer Text mit Punktuation, deutscher Übersetzung und Erklärung. Teil IV. Ordnung Nesikin übersetzt und erklärt von David Hoffmann. Basel: Victor Goldschmidt Verlag 1968, S. 161. 241 Immerhin überträgt ein Nachkomme Kains mit Namen Lamech das von Gott ausgesprochene Verbot, Kain zu töten, auf dass dieser gezeichnet mit dem Mal unbeschadet weiter lebe, auf sich selbst und radikalisiert es sogar: »Ja, einen Mann töt ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme! Ja, siebenfach wird Kajin geahndet, aber siebenundsiebzigfach Lamech!« (Buber; Rosenzweig (Übers.): Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1992, S. 19). 242 Levinas: Ethik und Unendliches, S. 35. 240
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Diese Gefahr ist meines Erachtens dann gegeben, wenn derEine-für-den-Anderen sich von der Sinnwidrigkeit überwältigen lässt oder sich mit ihr abfindet, anstatt sie für den Anderen auf sich zu nehmen. Dann zeugt er nicht mehr für die Abwesenheit des Anderen, sondern wird zum falschen Zeugen, von dem im Mischna-Traktat die Rede ist. Levinas schreibt in Totalität und Unendlichkeit, dass das Ich sich vor dem anonymen Es-gibt, »das Grauen, Erzittern und Schwindel ist«, 243 in den Genuss rettet, indem es sich in seiner Bleibe einrichtet, um von dort aus das Es-gibt zu überwinden, indem es das anonyme Sein der Elemente im Sein des Seienden als Besitz neutralisiert. 244 Diese Umwandlung der Elemente in Dinge, die besessen und gebraucht werden können, ist die Arbeit, 245 die notwendig ist, um über die Bleibe und den Genuss hinaus im Sein bestehen zu können. Durch die Arbeit wird das Sein ohne Seiendes zum Sein des Seienden. Dies ist das alltägliche Geschehen des Ich, sein ›täglich Brot‹, dem die Einrichtung der Bleibe als Schutzraum vorausgeht. Der Prozess ist also folgendermaßen zu beschreiben: Der-Einefür-den-Anderen ist mit den Spuren der Abwesenheit konfrontiert, er macht sie als Stellvertreter über das Gedicht hinaus erst sichtbar, indem er die Erscheinungen auf ihr anderes Bedeuten, auf die verdrängten Geschichten hin umwendet. Damit zeigt sich ihm die Sinnwidrigkeit, die Absurdität der Geschichte selbst. Die Frage ist nun, wie er mit dieser Sinnwidrigkeit umgeht. Steht er selbst noch für diese Sinnwidrigkeit ein? Oder zieht er sich, da ihm der Alltag für den Moment dieser Auseinandersetzung verschlossen bleibt, in sein ZuHause, die Bleibe oder das Private zurück, von dem aus er wiederum einen Weg in seinen Alltag finden kann? Vielleicht ist dieses Zurückschrecken vor der Absurdität des Es-gibt eine Überforderung. Sicherlich ist es nicht moralisch zu bewerten. Denn auch in Jenseits des Seins gesteht Levinas die Notwendigkeit dieses Rückzugs in den selbstgenügsamen Genuss zu. Ein Genuss, der sich aber wieder als Sinnlichkeit oder Sensibilität dem Anderen zuwendet. 246 Wichtig erLevinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 204. Vgl. ebd., S. 227. 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, S. 164 ff. Stegmaier schreibt dazu: »Der ethischen Herausforderung des Ich durch den Andern muss periodisch die Rückkehr zur ›Freiheit‹ [hiermit ist die Freiheit der Spontaneität gemeint, nicht die ethische Freiheit des Zwischenmenschlichen. Anm. D. M.], zur ›Autonomie‹, zum ›Solipsismus‹ folgen, damit das Ich seine Kräfte wiederherstellen kann. Das heißt auch: die Rückkehr zum 243 244
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scheint es mir, der Anonymität des Es-gibt nicht das letzte Wort zu lassen, auch wenn man sich von Zeit zu Zeit in die Sicherheit des Eigenen zurückziehen muss. Doch von dort aus ist es möglich, sich der flüchtigen Berührung durch den sich entziehenden Anderen wieder auszusetzen und sich nicht mit der Sinnwidrigkeit des Es-gibt zufrieden zu geben, wenn die Verstehbarkeit als unpersönlicher Logos durchkreuzt wird, sondern sich der Verstehbarkeit als Nähe anzunähern. Mithin: Die Absurdität des Es-gibt zu tragen und zu ertragen und in ihrer Bedeutungslosigkeit bedeuten zu lassen: »Doch die Absurdität des Es-gibt – als Modalität des der-Eine-für-denAnderen, als ertragene Absurdität – bedeutet. Die Bedeutungslosigkeit seiner objektiv fortwährenden Wiederkehr […] ist der Überschuß der Sinnlosigkeit über den Sinn, wodurch für das Sich die Sühne möglich wird – Sühne, die das Sich gerade bedeutet. Das Es-gibt – ist so die ganze Last, die die ertragene Anderheit wiegt, ertragen durch eine Subjektivität, die nicht Gründerin dieser Anderheit ist.« 247
Die Sühne für das Zu-spät-kommen: Das ist in unserem Zusammenhang aber auch und in erster Linie die Sühne für die geschichtliche Schuld. Diese Sühne bleibt unvollständig, wenn das Sich nicht auch noch die Absurdität, von der das Verschwinden des Anderen, das sich als Spur zeigt, durchdrungen und von der die Spur bedroht ist, auf sich nimmt. Eine Absurdität, die umso schwerer wiegt, weil die Ermordung des Anderen absurd war und mit ihr die gesamte Geschichte als absurde sich zeigt, da jedwede Sinngebung der Geschichte angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen scheitern muss. Konkret heißt Sühne in unserem Zusammenhang: Die Abwesenheit des Anderen als dessen vom Gedicht als Berührung dazu aufgerufene Zeuge gegen das Es-gibt zu behaupten. Ein Zeugnis dafür abzulegen, dass der unablässige Rückzug des Anderen aus der Spur noch nicht beendet ist und nicht beendet werden kann. Denn es sind noch seine Geschichten, es ist noch sein Name, woraus der Andere obliteriert erscheint: Sich zeigt in einer unnahbaren Berührung und sich mit dieser Bewegung wieder zurück zieht. Mit Améry lässt
Genuss. Levinas weiß, dass niemand der ethischen Nötigung dauernd gerecht werden kann, wohl aber jeder und jede von Zeit zu Zeit und von Fall zu Fall. Dazwischen braucht das Leben den Genuss.« (Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung, S. 110). 247 Levinas: Jenseits des Seins, S. 356.
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sich sagen, dass wir als Zeugen der Abwesenheit des ermordeten Anderen das Nachtragen der Opfer »auf geschichtlichem Felde« mittragen (Kap. 2.2.2.). 248 Das Es-gibt, das im Hintergrund des Seinsvollzugs verborgen ist, droht sich über der Abwesenheit des Anderen zu schließen, wenn die Risse im Sein nicht in der Stellvertretung für den Anderen offen gehalten werden. Das sein selbst und seine Möglichkeiten schwächen »das widerliche Rauschen des Es-gibt nicht ab,« 249 das dem sein beigegeben ist: »Einzig der Sinn des Anderen ist unabweisbar und untersagt die totale Abgeschiedenheit und den Rückzug in die Muschel des Selbst. Eine Stimme ertönt vom anderen Ufer her. Eine Stimme unterbricht das Sagen des schon Gesagten.« 250 Damit fordert diese Stimme, das von ihr unterbrochene Sagen des schon Gesagten immer wieder in einem neuen Sagen aufzunehmen – immer wieder anders zu sagen, der Abwesenheit eingedenk und von dort aus das Sein und sein Seiendes neu zu bedeuten: Mit dem Dasein selbst, das auf die Möglichkeiten der anders zu bedeutenden Bedeutungen hinweist und die Erscheinungen mit den Schatten der Geschichte belädt, die selbst immer wieder neu zu deuten sind, da sich der Entzug des Anderen selbst in seiner Geschichte nicht historisieren lässt, sondern nur im Erzählen eine Annäherung gestattet, das wie die Lektüre Bruch und Beziehung zugleich ist. Der Sinn des Anderen ist dessen Befehl, für ihn einzustehen und die Stellvertretung weder vom anonymen sein des alltäglichen Lebens noch von der Anonymität des Es-gibt verdrängen zu lassen. Einzustehen für den Anderen des Gedichts aber heißt, die Bedeutungen des Gedichts, die zunächst nicht in die Welt außerhalb des Gedichts passen, in die Wirklichkeit einzuschreiben. 251
3.4. Zusammenfassung Wir haben nun gesehen, dass Levinas’ Ethik der Stellvertretung durchaus auf ästhetische Fragestellungen übertragen werden kann. Ästhetik ist damit kein reines Wohlgefallen an der Kunst oder an sich selbst, sondern ebenso wie die unmittelbare Begegnung mit dem an248 249 250 251
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 143. Levinas: Jenseits des Seins, S. 390. Ebd. Entsprechend der Refiguration Ricœurs (Kap. 1.5. sowie Kap. 4.3.1.).
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Zusammenfassung
deren Menschen auf eine Transzendenz bezogen, die in ein Schuldund Verantwortungsverhältnis setzt. 252 Das Ich kann sich prinzipiell auch in der Begegnung mit Kunst und Literatur als Sich, welches gegenüber dem Anderen immer zu spät kommt, erfahren. In besonderer Weise lässt sich dies anhand der Dichtung Paul Celans zeigen, die noch ausführlich zu behandeln sein wird (Kap. 5.). Die Beziehung zum Gedicht ist eine Beziehung der Nähe sowie des Entzugs, die sich dem logischen Verständnis verschließt. Je näher ich dem Gedicht zu kommen scheine, desto mehr entzieht es sich. Das heißt es überschwemmt, wie das Antlitz der unmittelbaren Begegnung VonAngesicht-zu-Angesicht, die Bedeutungen, die ich festgestellt zu haben meine, beziehungsweise ist in seiner ›Darstellungsform‹ bereits jenseits des Diskurses. Es sorgt für eine Unterbrechung im Sein und dessen Verlauf als sein, es verstopft (obliteriert) das Sein. Es fordert schließlich eine andere Weise zu bedeuten, die sich nicht mehr auf einen Inhalt als Gesagtes beruft, sondern den Entzug selbst bedeutet, die permanente Auflösung des Gesagten im Sagen. Der Leser wird damit zunächst seiner Subjekthaftigkeit enthoben und aus seinen Seinsbezügen gerissen. Er muss sich als Sich-Identität behaupten, die sich in der Umkehr zum Anderen konstituiert. Er wird so zunächst zu einem ›Niemand‹, der durch sich selbst für die Abwesenheit des Anderen steht: Er wird zum Stellvertreter des Anderen des Gedichts, zum Zeugen, der die Leere, die der Andere hinterlässt, bezeugt und anzeigt. Die Aufgabe des Zeugen ist es, diese Leere in seinem Sein, in welches er wieder zurückkehrt, offenzuhalten und sie nicht von der Anonymität des Es-gibt überschwemmen zu lassen. Das heißt, dass er auch im Gesagten, zu dem das unmittelbare Sagen immer wieder wird, auf das Abwesende und Unzugängliche der abwesenden Subjektivität des Anderen hinweist. Mit diesen Ausführungen über Levinas und den Nachvollzug des Weges von einer Kritik am ontologischen Seinsbegriff über die Ethik des Antlitzes hin zu einer Ästhetik des Entzugs sind wir von These 5 zu These 6 vorangeschritten (vgl. Einleitung). These 6 gilt es nun im Folgenden weiterzuführen. Wir werden sehen, wie das Selbst durch die Erzählung (das Gedicht) zu sich selbst findet und einen Weg beschreiten kann, sich als narrative Identität angesichts der Ermor-
Ähnlich sieht dies Mersch in seinem Nachwort zu Die Obliteration (vgl. Mersch: Levinas und die Ethik der Künste. Ein Nachwort, S. 86).
252
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Emmanuel Levinas: Antlitz und Sprache
deten zu entwerfen. Dies möchte ich zunächst anhand der Theorien der lebendigen Metapher und der narrativen Identität Paul Ricœurs zeigen, um die Erkenntnisse dann schließlich auf die Dichtungen Paul Celans zu übertragen.
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4. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
Die Grundzüge der Erzählung haben wir bereits kennengelernt (Kap. 1.5.). Nun gilt es, diese anhand der Theorien Paul Ricœurs zu vertiefen, um sie anschließend auf die Dichtung und Poetik Paul Celans zu übertragen. Wie gesagt, lassen sich narrative Strukturen nicht nur im literarischen Genre der Erzählung und des Romans, sondern darüber hinaus offensichtlich im Drama sowie, oft weniger offensichtlich, im Gedicht erkennen. Letztendlich ist jeder fiktionale literarische Ausdruck eingebettet in das, was Ricœur als dreifache mimēsis bezeichnet: Die aufeinander Bezug nehmenden Ebenen der Präfiguration, der Konfiguration und der Refiguration. 1 Im Durchgang durch diese drei Ebenen artikuliert sich Zeit, ja man kann sagen, dass das menschliche Dasein überhaupt erst eine Zeiterfahrung machen kann, weil es sich, wenn auch zunächst unbewusst, je schon in diesen narrativen Strukturen befindet und auslegt. 2 Bevor wir uns dem Konzept der narrativen Identität widmen, das sich aus der dreifachen mimēsis ergibt, wenden wir uns zunächst Ricœurs Textverständnis und seiner Theorie der lebendigen Metapher zu (dies vor allem in Hinblick auf die Dichtung Celans), mit der Ricœur wesentliche Strukturmerkmale seiner narrativen Theorie vorwegnimmt. 3 Schon mit der lebendigen Metapher konstituiert sich eine Differenz, die die Gleichzeitigkeit des Selben mit seiner Welt unterbricht. Sie verweist auf eine andere Welt, auf eine andere Zeit, die das scheinbar mit sich selbst identische Subjekt überformen. Die darauf aufbauende Theorie der narrativen Identität führt schließlich zu einem Konzept von Bezeugung oder Zeugenschaft, mit dem die Verantwortung des sich narrativ behauptenden Subjekts
Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 87–135. Vgl. ebd., S. 87 ff. 3 Wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die lebendige Metapher betont (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. VII; hierzu auch: Grätzel: Die Masken des Dionysos, S. 89). 1 2
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
für das Unabgeschlossene der Vergangenheit – für die Toten und Ermordeten – belegt werden kann. Letztendlich vervollständigt Ricœurs Ansatz die bisherigen Überlegungen, nach denen dem In-Geschichten-sein ein geschichtliches Schuldverhältnis zugrunde liegt, das vom Selbst reflektiert werden muss, damit dieses ethisch handeln kann.
4.1. Der Text Um zu verstehen, wie die Metapher innerhalb des Textes und über ihn hinaus wirkt, müssen wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen, was überhaupt einen Text auszeichnet. Wir haben nun bereits gesehen, dass sich im Text eine Welt entfaltet, die nicht bloß eine Spiegelung der außertextlichen Welt ist. Vielmehr konfrontiert der Text den Leser mit einer Welt, die (zunächst) nicht seine eigene ist. Dies kann deshalb geschehen, weil sich ein geschriebener Text grundsätzlich von der gesprochenen Rede unterscheidet. Er vertritt das gesprochene Sprechen, er tritt an der Stelle auf, »an der das Sprechen hätte entstehen können.« 4 Im Unterschied zum unmittelbaren Gespräch, das zwei oder mehrere Partner miteinander verbindet, gibt es mit dem Text keine dialogische Beziehung zwischen Autor und Leser. Die Fragen, mit denen der Leser an einen Text heran tritt, können nicht vom Autor beantwortet werden. 5 Die Schrift schiebt das Sprechen auf. Der Leser hat zunächst nichts weiter als den Text vor sich. Dies impliziert, dass die referentielle Funktion des Textes eine andere ist als diejenige des Sprechens. Wenn ich mit jemandem spreche, wird durch den Sprechakt die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben. Das heißt, die Referenz des Sprechens verweist direkt auf die Wirklichkeit, über die gesprochen wird. Dies kann so weit gehen, dass das sprachliche Zeichen zum realen Zeichen wird und sich der »ideale Sinn dessen, was man sagt, zur realen Referenz zurück [beugt], nämlich zu dem, worüber man spricht.« 6 Man kann sagen, dass das Sprechen dann keinen ›Überschuss an Sinn‹ mehr vermittelt, sondern ganz in der Wirklichkeit aufgeht. Das, worüber man spricht,
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Ricœur: Was ist ein Text?, S. 81. Vgl. ebd., S. 81 f. Ebd., S. 84.
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Der Text
ist das faktisch und physisch Anwesende, das Ding, das dann auch mit einer bloßen Geste des Zeigens bezeichnet werden könnte. 7 Diese Bewegung der Referenz zum Zeigen wird nun vom Text aufgehalten. 8 Er bezieht sich ja nicht direkt auf die Umgebung des Lesers, er zeigt keine diesem unmittelbar zugängliche Dinge an. Später, in der Interpretation, wird eine neue Referenz auf die Welt wieder eingesetzt, doch zunächst ist der Text in der »Schwebe«, »außerhalb der Welt oder ohne Welt.« 9 Derart ›befreit‹ kann er in ein Verhältnis zu anderen Texten treten, welches »die Quasi-Welt der Texte oder der Literatur hervor[bringt].« 10 Die Worte hören auf, »angesichts der Dinge zurückzutreten […]«, 11 wie es im Sprechen der Fall ist: »Die geschriebenen Worte werden Worte an sich selbst.« 12 Die Welt, die sich derart entfaltet und von der außertextlichen, gegenständlichen Welt verschieden ist, ist eine imaginäre Welt, die sich »durch die Schrift vergegenwärtigt«. 13 Sie ist eine andere Welt in der Welt und eine andere Zeit in der als linear wahrgenommenen alltäglichen Zeit. Mit dieser Loslösung des Textes von der Welt und der Entfaltung seiner eigenen Quasi-Welt wird die Unterscheidung von Erklären und Verstehen (Interpretation) relevant. Beide Weisen der Textauslegung resultieren aus dem Umgang mit dem autonomen Status des Textes. Die Erklärung belässt den Text in der »Schwebe« und widmet sich den inneren Beziehungen des Textes, sie ist struktural. Das Verstehen oder Interpretieren des Textes hingegen bindet den Text wieder ein in die Welt und in das Sprechen. 14 Es stellt Referenzen her, die allerdings, da auch sie den autonomen Status des Textes anerkennen Vgl. ebd. Ricœur zeigt auf, dass es sich dabei bereits um eine Verwechslung handelt. Die wirkliche Referenz (auf das, worüber man spricht) werde mit einer »ostensiven Bezeichnung verwechselt« (ebd.), also mit dem direkten Hindeuten auf ein scheinbar außersprachliches Ding. In der Tat ist fraglich, ob es eine solche Bezeichnung, die keinen Sinnüberschuss über das bezeichnete Materielle hinaus generiert, überhaupt geben kann. Denn bereits eine körperliche Geste, die auf etwas hindeutet, macht das, auf das sie hindeutet, zu mehr als einem isolierten Ding. Auch ein solches non-verbales Sprechen zeigt auf das Ding in seinem Zusammenhang mit anderen Dingen und in seiner »Wozudinghaftigkeit« (Schapp). 8 Vgl. ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 85. 14 Vgl. Ebd., S. 90. 7
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und durch ihn hindurch gehen, anders und andere sind als die des unvermittelten Weltbezugs des direkten Gesprächs. Das Erklären fokussiert als strukturale Analyse die Einheiten, aus denen ein Text besteht, und bringt sie in ein Verhältnis zueinander. So stellt es einen (textimmanenten) Sinn her. 15 Im Erklären wird also die Handlung der Erzählung logisch nachvollzogen. Dabei können die einzelnen Elemente auch in einem Widerspruch zueinander stehen. Die Logik des Textes muss nicht zwangsläufig mit derjenigen Vorstellung von Logik korrespondieren, die ›von außen‹ an den Text herangeführt wird. Diese spielt, da der Text auf dieser Ebene der Strukturanalyse als autonom aufgefasst wird, keine Rolle. Die Logik innerhalb des Textes kann ›unlogisch‹ erscheinen und trotzdem einen Sinn generieren. Bereits auf strukturaler Ebene findet dann, am Abschluss der Analyse, das heißt, wenn die einzelnen Elemente der Erzählung heraus gestellt und in eine Beziehung zueinander gebracht worden sind, die sinnvoll erscheint, eine »narrative Kommunikation« 16 statt: »Das ist dann ein Diskurs, den der Erzähler an einen Adressaten richtet. Aber für die strukturale Analyse dürfen die beiden Gesprächspartner nicht anderswo als im Text gesucht werden.« 17 Für die strukturale Analyse gilt also durchaus die Charakterisierung der Schrift (écriture), wie sie Roland Barthes in Der Tod des Autors darlegt. 18 Wenn die Schrift beginnt, stirbt der Autor und auch der Leser verliert seine Identität. 19 Deshalb könne ein Text nicht entziffert, sondern nur entwirrt werden, 20 was in etwa der sinnvollen Anordnung seiner Strukturelemente bei Ricœur entspricht. Entziffern nämlich würde bedeuten, den Sinn des Autors erkennen zu können. Die Sinnproduktion des Entwirrens sei deshalb auch nur vorläufig, so Barthes: »Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. Sie führt zu einer systematischen Befreiung von Vgl. ebd., S. 95. Ebd., S. 96. 17 Ebd., S. 97. 18 Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis; Lauer, Gerhard; Martinez, Matias; Winko, Simone (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2012 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18058), S. 185–197. 19 Vgl. ebd., S. 185. Bei Ricœur heißt es: »Ich sage manchmal gern, daß die Lektüre eines Buches bedeutet, seinen Autor als bereits verstorben und das Buch als posthum zu betrachten. Wenn der Autor verstorben ist, wird nämlich die Beziehung zum Buch vollständig und gewissermaßen intakt. Der Autor kann nicht mehr antworten, nur sein Werk kann noch gelesen werden.« (Ricœur: Was ist ein Text?, S. 82). 20 Vgl. Barthes: Der Tod des Autors, S. 191. 15 16
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Der Text
Sinn.« 21 Ähnliches haben wir ja bereits mit der différance bei Derrida kennen gelernt (vgl. Kap. 1.5.). Weil ein ursprüngliches Signifikat nicht zu erreichen ist, produziert die Schrift unaufhörlich Aufschub und Verschiedenheit, sie ist immer wieder neu auszulegen. Ganz so radikal ist Ricœur sicherlich nicht. Er setzt sich auch explizit von der »Ideologie des absoluten Textes« 22 ab. Die in der Strukturanalyse des Textes herausgestellte Sinnhaftigkeit ist allerdings insofern eine relative, als dass sie in der Interpretation, das heißt im eigentlichen Verstehensprozess, verändert wird. Die Erklärung ist dementsprechend nur eine Phase der Textauslegung, die zwar notwendig, aber nicht abschließend ist. Erklären und Verstehen sind für Ricœur komplementär. Die verstehende Interpretation »ist die wirkliche Bestimmung der Lektüre […]«, da sie »die wirkliche Natur der Schwebe, welche die Bewegung des Textes zur Bedeutung betrifft [enthüllt].« 23 Das Erklären ist also eine Vorarbeit. Es schafft einen Sinn, der durch die Interpretation zur Bedeutung wird. Bei diesem Umschwung des Sinnes zur Bedeutung sind wir eigentlich schon inmitten der Theorie zur narrativen Identität. Denn die Bedeutung involviert die Selbstreflexion eines Subjekts außerhalb des Textes. Das Selbst kann sich nur über das Verständnis der Zeichen der Kultur (was die Literatur mit einbezieht) bilden und kundtun. 24 Die Textinterpretation wird somit zur Selbstinterpretation. 25 Der zuvor (im Erklären) autonome Text wird nun an die Lebenswirklichkeit des Lesers zurückgebunden: »Der Text hatte nur einen Sinn, das heißt interne Relationen, eine Struktur. Er hat jetzt eine Bedeutung, das heißt eine Verwirklichung im Diskurs, der dem lesenden Subjekt eigen ist. Durch seinen Sinn hatte der Text nur eine semiologische Dimension, jetzt hat er durch seine Bedeutung eine semantische Dimension.« 26
Das bloße Zeichen, das innerhalb des Textes (s)einen Sinn hatte (die semiologische Dimension), wird nun erweitert: Der Sinn des Textes bekommt seine Bedeutung in der Welt (die semantische Dimension). Es findet also eine Überschneidung oder zumindest eine Berührung der Welt des Textes mit der des Lesers statt. Der Text verweist auf 21 22 23 24 25 26
Ebd., S. 191. Ricœur: Was ist ein Text?, S. 84. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 100. Ebd.
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etwas, das nicht mehr nur sein idealer Sinn ist, sondern Wirklichkeit (im doppelten Sinne: die fiktive Wirklichkeit des Textes sowie die außertextliche Wirklichkeit des Lesers). Der Sinn geht mit der Interpretation über sich hinaus. 27 Dies scheint zunächst der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung bei Gottlob Frege zu entsprechen. 28 Dieser wollte die Alltagssprache dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis anpassen und betonte deshalb den Vorrang der Bedeutung vor dem Sinn. So drücken Morgenstern und Abendstern einen unterschiedlichen Sinn aus, haben jedoch dieselbe Bedeutung, nämlich die Venus. Venus wäre also der wissenschaftlich korrekte Ausdruck für diese Himmelserscheinung. Grätzel betont zu Recht, dass eine solche »Kunstsprache« eines »vollkommene[n] Zeichensystem[s] reiner Bedeutungen« für Ricœur uninteressant ist. 29 Ihm geht es nicht darum, eine ›eigentliche‹, eine ›reine‹, eine ›wahre‹ Bedeutung zu finden, sondern den Prozess zu beschreiben, mit dem sich der Text zur Welt hin öffnet. Das, was im Text eine ideale oder fiktive Sinnkonstruktion ist (wie ja auch ›Abendstern‹ und ›Morgenstern‹ metaphorische und fiktive Bezeichnungen sind), wird mit der Interpretation aus dem Text heraus zur Wirklichkeit, insofern die Interpretation in der Welt des Lesers Bedeutungen schafft. Das ist bei weitem keine Ablehnung des fiktionalen Moments der Literatur! Im Gegenteil: Gerade weil die Welt des Textes der Welt des Lesers zunächst nicht entspricht, kann sie diese umwandeln. Nur aufgrund dieser Fremdheit ist der Leser aufgefordert, seine Wirklichkeit mithilfe des Textes zu variieren. Der Text öffnet also den Zugang zu seiner Welt und tut dies in der Welt des Lesers. Beide Welten, das haben wir bereits angesprochen, können einander entgegengesetzt sein, sich widersprechen und ausschließen. Aber dass dies so ist, zeigt sich erst, wenn sich beide Welten über den Leser ›berühren‹. Die durch den Text zunächst aufgehaltene oder suspendierte Referenz wird also wieder eingesetzt. Wie dies geschieht, lässt sich anhand der Theorie der lebendigen Metapher zeigen.
Vgl. Grätzel: Die Masken des Dionysos, S. 89. Vgl. Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Fichte, I. H.; Ulrici, H. (Hrsg.): Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Leipzig: Pfeffer 1892 (Neue Folge; 100), S. 25–50. Zitiert nach Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 210. 29 Grätzel: Die Masken des Dionysos, S. 91. 27 28
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Die lebendige Metapher
4.2. Die lebendige Metapher Die lebendige Metapher ist, im Unterschied zur toten Metapher, die bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, dadurch ausgezeichnet, dass mit ihr »bisher voneinander entfernte[…] semantische[…] Felder« 30 zusammenstoßen. Sie sorgt so für eine »semantische[…] Innovation«, 31 das heißt sie erschafft eine Bedeutung, die es so vorher nicht gab. Das, was die lebendige Metapher also suspendiert oder aufschiebt, ist die wörtliche Bedeutung, die in der gewöhnlichen Rede gemeinhin mit den Wörtern, aus denen die Metapher zusammengesetzt ist, assoziiert wird. Das, was wir über den geschriebenen Text ganz allgemein sagten, nämlich dass in ihm die Worte zu Worten an sich selbst werden und aufhören »angesichts der Dinge zurückzutreten«, 32 wird vielleicht erst anhand der Wirkungsweise der Metapher wirklich verständlich. Denn während ein Text, der nicht aus lebendigen Metaphern besteht, relativ problemlos und schnell auf die außertextliche Welt, auf allgemeinverständliche Begriffe oder Dinge, zurück bezogen werden kann, verweigert sich die lebendige Metapher diesem problemlosen Rückbezug auf eine reale Referenz. Sie muss eigens ausgelegt, erklärt und verstanden werden. Dies gelingt nur, wenn der Rezipient sie, analog zur Erklärung, in ein Verhältnis zu ihrem Textumfeld setzt, beziehungsweise den gesamten Text als Metapher ansieht. Mit der Suspension der wörtlichen, lexikalischen oder deskriptiven Referenz entfaltet sich also eine andere, eine metaphorische Referenz, die ihre Kraft gerade durch diese Suspension der »erstgradigen Bedeutung« 33 erhält. Ricœur spricht von einer »verdoppelten Referenz«, 34 die neben ihrer durchkreuzten referentiellen, wörtlichen oder ostensiven Funktion eine metaphorische erhält, die nicht auf die außertextliche Welt, sondern auf die Quasi-Welt des Textes hindeutet. Diese metaphorische Funktion wird auch zunächst nur innerhalb des Textes wirksam. Denn da die lebendige Metapher unmöglich wörtlich zu verstehen ist (also in diesem Sinne keine Bedeutung hat), muss ihr eine Bedeutung zugesprochen werden in und mit dem, was der Text ›gibt‹. Es gibt also zwei Bedeu-
30 31 32 33 34
Ricœur: Die lebendige Metapher, S. VI. Ebd. Ricœur: Was ist ein Text?, S. 84. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 216. Vgl. ebd., S. 220, S. 226.
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tungsbögen: Zunächst entfalten sich die Bedeutungen im Inneren des Textes selbst und entfalten so dessen Welt. Sie werden dann weiterhin in der Interpretation auf die außertextliche Wirklichkeit des Lesers übertragen. Für die erste Bedeutungsentfaltung im Inneren des Textes findet eine epochē, durchaus im Husserlschen Sinne, statt, insofern die empirischen Bezüge des Textes aufgehalten werden, damit sich der metaphorische Sinn überhaupt erst generieren kann (beziehungsweise vom Leser, der das Weltphänomen in dieser Phase der Lektüre ausschaltet, konstruiert werden kann). 35 Der Text bezieht sich nur auf ›Bilder‹, die er selbst hervorruft. Diese literarische Bedeutung ist, im Unterschied zur Bedeutung der referentiellen Rede, die wir empirische Bedeutung nennen können, nach innen gerichtet oder »[z]entripetal«. 36 Sie führt nicht, wie die »zentrifugal[e]« Bewegung der referentiellen Rede, von den Worten zu den Dingen, sondern »ist die Bewegung der Worte zu den umfassenderen sprachlichen Konfigurationen hin, die das literarische Kunstwerk in seiner Gesamtheit ausmachen.« 37 Ricœur lehnt sich hier an den Literaturtheoretiker Northrop Frye an, 38 geht aber im Folgenden über ihn hinaus, da die Untersuchung eines Textes mittels einer solchen auf den Text angewandten transzendentalen Reduktion – als Untersuchung des Textes unter Ausschaltung seiner Weltgeltung – eben, wie die strukturale Erklärung und ihr analog, lediglich eine Vorarbeit ist, um einen »fundamentalere[n] Modus der Referenz« zu explizieren, der dann wiederum in der Welt wirkt und nicht lediglich in der »virtuellen« Behauptung des Textes verharrt. 39 Doch diese erste, am und im Text stattfindende Analyse offenbart die »Strategie der dichterischen Rede«, die darauf ziele, »die Aufhebung der Referenz durch die Selbstaufhebung des Sinnes der metaphorischen Aussagen zu erzielen, und diese Selbstaufhebung wird durch eine unmögliche wörtliche Deutung manifest gemacht.« 40 Die Brücken zur außertextlichen Welt werden abgebrochen, weil die metaphorischen Aussagen eine wörtliche Auslegung durchkreuVgl. ebd., S. 201, S. 222, S. 225. Ebd., S. 222. 37 Ebd. 38 Frye, Northrop: Anatomy of Criticism. Princeton: Princeton University Press 1957. Zitiert nach Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 222. 39 Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 224 f. 40 Ebd., S. 226. 35 36
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zen. Was hier wirkt, ist eine »semantische[…] Impertinenz«: 41 Die metaphorischen Aussagen lassen die Wörter aus dem gewohnten Bedeutungsgeflecht heraus fallen. Der wörtliche Sinn der Worte muss ›verdreht‹ werden, das heißt in ein alternatives Bedeutungsgeflecht eingeordnet werden, das nicht der Logik der Überlieferung entspricht. Durch diese »Verdrehung« 42 kann dem, was im gewohnten Verständnis sinnwidrig erscheint, ein Sinn zugesprochen werden, der im Umfeld des Textes gültig ist – und zwar nur dort. Denn nur dort kollidieren die semantischen Felder derart, dass sie eine semantische Innovation hervorbringen. Wäre die Metapher einfachhin übertragbar, das heißt auch jenseits ihres spezifischen Kontextes verständlich, verlöre sie bereits ihre innovative Kraft. 43 Hier zeigt sich auch, dass die Theorie der lebendigen Metapher nicht der klassischen Substitutionstheorie entspricht, nach der ein Wort ›metaphorisch‹ für ein anderes steht, wobei beide über ein tertium comparationis in einem Verhältnis zueinander stehen. 44 Vielmehr gibt es für die lebendige Metapher weder Substitution noch tertium comparationis, sondern eben ausschließlich den ›Raum‹ des Gedichts. So lässt sich auch einer kühnen oder absoluten Metapher ein Sinn zuschreiben, für die man ansonsten vergeblich nach einem tertium comparationis suchen würde. Metaphern können so auch viel komplexer wahrgenommen werden: Sätze und ganze Texte können als Metapher verstanden werden, was mit der Substitutionstheorie überhaupt nicht möglich wäre. Umgekehrt muss eine neue, das heißt innovative Metapher, auch mindestens aus einem Satz bestehen. Ein einzelnes Wort kann keine neue Bedeutung hervorrufen. 45 Die Kollision der semantischen Felder und die sich daraus ergebende neue Bedeutung, die innerhalb des Textes durch die Aufhebung des wörtlichen Sinnes durch die metaphorische Aussage konstruiert wird, kann vielleicht am besten anhand eines Gedichts verdeutlicht werden, auch wenn wir damit schon etwas voraus greifen. Es handelt sich um Celans Gedicht Mit erdwärts gesungenen Masten. 46
41 42 43 44 45 46
Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 165 f. Vgl. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 116 f. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. VI, S. 233. Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 181.
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Mit erdwärts gesungenen Masten fahren die Himmelwracks. In dieses Holzlied beißt du dich fest mit den Zähnen. Du bist der liedfeste Wimpel.
In diesem kaum zu ›entwirrenden‹ Text zeigt sich, wie in der Kollision der semantischen Felder die wörtlichen Bedeutungen suspendiert werden. Motive, die mit der Seefahrt assoziiert werden, treffen auf Begriffe aus der Musik. Sie sind derart komponiert, dass sie sich auszuschließen scheinen. Holz, das mit einem Wrack assoziiert werden könnte, trifft auf ein Lied, womit beide wörtlichen Bedeutungen, sowohl die des Holzes als auch die des Liedes, suspendiert erscheinen. Vielleicht lässt sich noch an ein hölzernes Musikinstrument denken, was in diesem Kontext allerdings auch keinen ›logischen Sinn‹ ergäbe. Ein Himmelwrack könnte, mithilfe der Substitutionstheorie, noch als eine sonderbar geformte Wolke identifiziert werden. Viel mehr lässt sich mit dieser Theorie aus dem Gedicht nicht holen. Diese Deutung wird durch den Eingangsvers auch wieder fragwürdig. Überhaupt: Wie sollen Masten gesungen sein? Jeder Vers, jedes Substantiv und jedes Adjektiv ist ein Paradoxon. Hier entfaltet sich eine metaphorische Welt, die gänzlich losgelöst erscheint. Mit Levinas haben wir zwei Weisen der Verstehbarkeit unterschieden: Die Verstehbarkeit als Nähe und die Verstehbarkeit als Logos (Kap. 3.3.1.). In gewisser Weise finden sie sich in der verdoppelten Referenz, die die metaphorische Welt von ihrem direkten, ostensiven Bezug ablöst, wieder. Denn auch hier wird der Logos zurückgehalten oder unterbrochen. Wir haben bei Levinas aber auch eine andere Weise zu bedeuten kennengelernt, die sich auf keinen Inhalt bezieht, sondern die Leerstelle dessen markiert, was nicht in die Gleichzeitigkeit der Gegenwart des Lesers mit der des Gedichts eingehen kann, was uns zu dem Schluss geführt hat, dass es eine Bedeutsamkeit der Bedeutung gibt, die nicht zu synchronisieren ist, also kein Thema oder Inhalt werden kann. Wir haben gesagt, dass der Inhalt bereits durchkreuzt ist, bevor er sich als solcher überhaupt entfalten kann. Dies widerspricht keineswegs der Ansicht, dass es zunächst wörtlich verstandene, semantische Felder sind, die miteinander kollidieren und so eine semantische Innovation hervorrufen. Denn durch die bloße Identifikation eines semantischen Feldes steht 322 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
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noch nicht der Inhalt oder das Thema des Gedichts fest. Auch hier ist es die ›Darstellung‹ (die Stellung der widersprüchlichen semantischen Felder in der Komposition des Gedichts), die den Störeffekt im Sein bewirkt, da in ihr schon das Thema durchkreuzt ist und die neuen Bedeutungen der lebendigen Metapher erst innerhalb des Gedichts heraus gearbeitet werden müssen, um so etwas wie einen Inhalt oder ein Thema zu generieren. Dass die derartige, sich entziehende Nähe des Gedichts, wie Levinas sagt, »Beziehung und Bruch« 47 zugleich ist, zeigt sich daran, dass sich die Bedeutungen, sobald man sie festgelegt zu haben scheint, wieder auflösen. Damit zeigt sich an Mit erdwärts gesungenen Masten die ganze, schier unermessliche Innovationskraft der lebendigen Metapher. Die Beschreibung der Welt des Gedichts kann kaum abgeschlossen werden. So eröffnet das Gedicht die Bedeutungsräume der Desolation (»erdwärts« in Verbindung mit »Himmelwracks«), des Widerstandes gegen diese (»In dieses Holzlied/ beißt du dich fest mit den Zähnen«) und eine sich daraus ergebende eventuelle Hoffnung (»Du bist der liedfeste/ Wimpel«; derjenige also, der dem Holzlied der auf die Erde gerichteten Himmelwracks, einem Todesmarsch vielleicht, widersteht). Doch wird diese Bedeutungsgebung direkt wieder aufgelöst: Die Himmelwracks mit ihren erdwärts gesungenen Masten – aus denen es womöglich immer weiter tönt, aus denen die Toten immer weiter klagen – werden festgehalten vom liedfesten Wimpel, der sich in das Holzlied verbissen hat. Oder verspricht nicht gerade dies Hoffnung? Die Toten ›festzuhalten‹, ihrer – vielleicht mit jedem Blick in den Himmel – zu gedenken? Mit jedem Blick in den Himmel der Toten und Ermordeten eingedenk sein: Dies wäre schon eine Einschreibung der Bedeutung aus dem Text heraus in die Welt des Lesers. Doch so weit sind wir noch nicht. Aber womöglich ist es jetzt verständlicher, weshalb eine lebendige Metapher einmalig in ihrem Kontext ist und nicht einfach auf andere Kontexte übertragen werden kann. Außerdem zeigt uns Mit erdwärts gesungenen Masten, wie die Wirkung der lebendigen Metapher im »Aufbau des Netzes von Wechselwirkungen besteht«, 48 die sich gegenseitig in wörtlicher und logischer Hinsicht ausschließen, damit aber in metaphorischer Hinsicht Polyvalenz produzieren. Was hier geschieht, ist ein unaufhalt47 48
Levinas: Eigennamen, S. 11. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 165.
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sames Spiel von semantischer Impertinenz (die Bedeutungen fallen aus ihren konventionellen Bezügen heraus) und der Verdrehung des wörtlichen Sinnes, um eine neue Pertinenz zu schaffen, die ihre Gültigkeit im Gedicht behaupten kann, aber sofort wieder aus dieser Neubedeutung heraus fällt. Die Metapher, derart als Metaphernnetz verstanden, das das Gedicht selbst zur Metapher macht, hat in dieser ständigen und unaufhörlichen Herausforderung zur Neubedeutung den Charakter eines Ereignisses, der einer toten Metapher nicht mehr zugeschrieben werden kann. 49 Sie wird selbst zu einem schöpferischen Ereignis, das die Sprache befruchtet und über sich und ihre gewohnten Bedeutungen hinaus hebt. Nun sind wir bei der Berührung der Welt des Textes mit der des Lesers angelangt. Denn die Sprache des Gedichts aktualisiert die Sprache allgemein und fügt ihr ihre im Gedicht behaupteten Bedeutungen zu: »Warum sollten wir neue Bedeutungen aus unserer Sprache beziehen, wenn wir nichts Neues zu sagen, keine neue Welt zu projizieren hätten? Sprachschöpfungen hätten keinen Sinn, wenn sie nicht dem allgemeinen Vorhaben dienten, durch die Gunst der Dichtung neue Welten entstehen zu lassen …« 50 Diese neuen Welten überschneiden sich nun mit der Welt des Lesers, beziehungsweise formen diese um. »Literatur schreibt sich in die Welt ein«, 51 wie Grätzel es ausdrückt. Ihre Welten sind also nicht mehr nur virtuell im Text behauptet, sondern werden zum Teil der außertextlichen Welt. Damit hat Literatur nicht bloß eine konnotative, sondern auch eine denotative Funktion. 52 Sie bedeutet die gegenständliche, dingliche Welt – allerdings mit ihren neuen Bedeutungen. Damit erweitert sie diese Welt, in die sie sich einschreibt. Sie hebt sie über Gegenstand, Ding und auch Idee hinaus. Am Beispiel des behandelten Gedichts konnten wir schon sehen, dass der Himmel nun eine neue Bedeutung bekommt, ja sich in ihm die Welt des Gedichts abzeichnet, die ihn zu einem Ort des Eingedenkens macht. Daran zeigt sich, wie die metaphorische Referenz nun aus dem Gedicht heraus auf die Welt wirkt und die Quasi-Welt des Textes zur Wirklichkeit macht. Die Referenz ist also auch in dieser Hinsicht verdoppelt: Sie weist nicht lediglich die
Vgl. ebd., S. 166, sowie: Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 116 ff. 50 Ebd., S. 133. 51 Vgl. Grätzel: Die Masken des Dionysos, S. 92. 52 Vgl. ebd., sowie: Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 215, S. 235. 49
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wörtliche oder ostensive Bedeutung, die das Wort oder den Satz auf etwas gegenständlich Erfahrbares reduziert, zurück, damit sich die metaphorische Bedeutung entfalten kann. Sondern sie führt diese metaphorische Bedeutung auch wieder auf die gegenständliche Welt zurück, die nun aber gerade nicht mehr in ihrer gegenständlichen (objektiven) Befangenheit erscheint. Damit macht sie die Umwelt erst zur Welt des Menschen, 53 in der er sich orientieren kann. Diese Welt wird durch die Bilder und Bedeutungen, die die Literatur zur Verfügung stellt, erzählbar. Das, was wir schon kennen, also jene Welt, in der wir uns bereits orientieren können, ist bereits durch jemanden in irgendeiner Weise erzählt worden, in den meisten Fällen von unseren Eltern, deren ›Weltverständnis‹ wir mit ihren Erzählungen übernehmen. Jede weitere metaphorische Umgestaltung dieser Welt bietet aber neue Orientierungen, die uns veranlassen, uns umzuorientieren und uns unter Umständen von unseren alten Orientierungen zu lösen. Damit eröffnen auch (und vielleicht besonders eindrücklich) Irritationen, wie sie das Gedicht Celans auslöst, letztendlich Verstehens- und damit Orientierungsweisen von Welt. Die metaphorische Aussage erreicht also die Wirklichkeit. Sie wird als sein-wie in dieser Wirklichkeit behauptet. 54 Es bleibt dennoch eine Spannung zwischen möglicher Identifikation der Wirklichkeit mit dem metaphorisch behaupteten Sein als sein-wie und der Differenz, die das ›wie‹ ausdrückt, bestehen. Gerade diese Spannung ermöglicht die Neubeschreibung der Wirklichkeit. Denn würde das metaphorische ›wie‹ aufgehoben, müsste sich die Kraft der Metapher erschöpfen und hinter die Dinge zurücktreten, die nun wieder nur als Begriffe erschienen, ohne diesen begrifflichen, objektiven Sinn überschreiten zu können. Das sein-wie ermöglicht es, dass die Welt als potentiell andere erscheinen kann, als die, die sie noch nicht oder nicht mehr ist – in unserem Fall verweist das metaphorische seinwie auf die Welt, in der die Toten und Ermordeten noch mitzusprechen haben, auf eine Welt, in der die »erdwärts gesungenen Masten« wahrnehmbar sind, und der Gesang der Toten tönt, der festgehalten wird und uns immer wieder, auch schmerzhaft, herausfordert. Das Verb ›sein‹ bekommt selbst einen metaphorischen Sinn. 55 In ihm ist die gesamte Spannung zwischen Identität mit einem (außertext53 54 55
Vgl. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 127. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 239 f. Vgl. ebd., S. 240.
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
lichen) Wirklichen und der metaphorischen Differenz des Wirklichen zum Fiktionalen enthalten. Es »ist« und »ist nicht«. 56 Das metaphorisch behauptete Sein verweist darauf, dass die Welt, in der es behauptet wird, nicht die ist, die es behauptet. So macht es darauf aufmerksam, dass die Wirklichkeit defizitär ist – unvollkommen und unerlöst. Dafür muss das metaphorische Sein nicht selbst vollkommen sein, es ist ja, dies machen die Gedichte Celans deutlich, keine ideale Welt, die hier behauptet wird. Aber es ist immerhin eine Welt, in der etwas stattfindet, was außerhalb des Gedichts gemeinhin nicht geschieht: Eine Welt, die den Ermordeten ihre Relevanz zuspricht. Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von einer »metaphorischen Wahrheit«: 57 Das, was faktisch nicht wahr ist – die Anwesenheit der Ermordeten – ist metaphorisch wahr. Über unser konkretes Beispiel hinaus, befreit das sein-wie von der Herrschaft der Faktizität, insofern es all das anerkennt, was über das bloß Faktische hinaus geht. Es macht das Faktische zum Geschichtlichen, es offenbart dem Dasein sein primäres und irreduzibles In-Geschichten-sein und ermöglicht ihm eine Auseinandersetzung, eine Weiterführung und ein Umschreiben dieser Geschichten; ein Umschreiben, das kein Vergessen, kein Schönschreiben dieser Geschichten ist, sondern im Gegenteil all die schmerzhaften, schuldund leidbeladenen (Gegen-)Geschichten in das In-Geschichten-sein integriert. Ricœur drückt dies, ganz allgemein, so aus: »Was die dichterische Rede zur Sprache bringt, ist eine vor-objektive Welt, in der wir schon von Geburt an sind, in die wir jedoch auch unsere eigenen Möglichkeiten entwerfen. Erschüttert werden muß also die Herrschaft des Objekts, um unsere ursprüngliche Zugehörigkeit zu einer Welt sein und sagen zu lassen, die wir bewohnen, die uns also vorausgeht und zugleich von uns geprägt wird. Kurz, man muß dem schönen Wort ›erfinden‹ seinen selbst schon doppelten Sinn zurückgeben, der zugleich entdecken und schaffen einschließt.« 58
Diese vor-objektive Welt ist nichts anderes als die geschichtliche Welt, die Welt aus Geschichten, in der wir immer schon sind, die allerdings durch ihre Reduktion auf das Faktische, Objektive oder Gegenständliche – Bubers Zwingherrschaft des Es – oftmals verdeckt
56 57 58
Ebd. Ebd., S. 241. Ebd., S. 289.
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Die lebendige Metapher
wird, uns damit aber in unseren Möglichkeiten einschränkt, da das Nicht-Faktische – das fiendum des Unabgeschlossenen – in ihr nicht zur Sprache kommen kann. Der Doppelsinn des Wortes ›erfinden‹ verweist auf den metaphorischen Sinn von ›sein‹. Mit dem Entdecken des ›ist‹ wird erschaffen, was (noch) ›nicht ist‹. Die faktische Wirklichkeit wird transzendiert zur metaphorisch behaupteten Wirklichkeit. Die Referenz der metaphorischen Aussage, die sich aus der Welt des Textes in der außertextlichen Welt entfaltet, bringt »das Sein als Akt und als Potenz ins Spiel […],« was eine »Überschneidung von Poetik und Ontologie« bedeutet. 59 Wenn wir also Bezug nehmen auf das Sein, wie es sich in seiner Aktualität gibt, befreien wir es zugleich zu seiner Potentialität, zu dem, was es faktisch nicht ist, aber metaphorisch sein könnte. Die Potentialität ist retrospektiv, insofern sich in der dichterischen Rede das Vergangene artikuliert, sie ist aber auch prospektiv, insofern dieses auch zukünftig behauptet werden kann. Die dichterische Sprache gibt so dem »spekulativen Diskurs« der Philosophie »zu denken auf […]«, 60 denn erst mit dieser Sprache wird das Faktische, wird die Ontologie ihrer Grenzen bewusst und kann sie überschreiten – eine ähnliche Bewegung, wie sie Levinas mit dem Widerruf des Gesagten im Sagen beschreibt (Kap. 3.3.). Zwar könne die Philosophie, wie Ricœur betont, die Metaphern der Dichtung nicht einfach übernehmen. 61 Und es gehört ja durchaus zu den Aufgaben der Philosophie, Begriffe zu schärfen und in ihrer Klarheit herauszustellen. Die Dichtung aber gibt zu verstehen, dass das scheinbar Begriffene nicht im Begriff aufgeht, dass es also immer einen Überschuss an Sinn gibt (der sich auch als Absurdes zeigen kann), der sich in der metaphorischen Bedeutung über den Begriff hinaus realisiert. Das Denken des Begriffs muss diesen Überschuss, der zugleich Widerstand und Widerspruch gegen den Begriff ist, miteinbeziehen, wie es Adorno in Negative Dialektik formuliert: »Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität. Sie bezieht nicht vorneweg einen Standpunkt. Zu ihr 59 60 61
Ebd., S. 292. Ebd., S. 295. Vgl. ebd., S. 298 f.
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
treibt den Gedanken seine unvermeidliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.« 62
Die Schuld am Nichtidentischen, an dem, was sich jeder Identifikation verweigert, wird in der Spannung der metaphorischen Referenz zwischen ›ist‹ und ›ist nicht‹ aufgenommen. Denn die Explikation der Referenz in der Welt führt ja gerade über deren Gegenständlichkeit hinaus und bezieht das Andere, welches in der Begriffsbildung ausgeschlossen wird, in die Welt mit ein, weshalb die Artikulation der metaphorischen Referenz immer auch ein Widerspruch ist zur Welt, wie sie (faktisch) ist oder zu sein scheint. Dichtung wäre somit das Korrektiv zur Philosophie, die ohne die Dichtung nur instrumentell betrieben werden könnte. Ohne die dichterische Sprache und ihre Metaphern eins zu eins zu übernehmen, wird die Philosophie von der Dichtung darauf hingewiesen, dass es noch anderes und Andere gibt, das und die es zu berücksichtigen und deren uneingelöste Ansprüche es zu behaupten und zu bewähren gilt. Das metaphorische sein-wie, das ›sein‹ und ›nicht sein‹ zugleich ist, bedeutet und expliziert die Dialektik, die der Sprache selbst schon eigen ist: Die Dialektik von Zugehörigkeit und Distanzierung, 63 die das Nichtidentische in jeder Identität und Identifikation beansprucht. Mit dem Sprechen wird eine Zugehörigkeit hergestellt: Zum unmittelbaren Gespräch, zum Diskurs oder zu einer Sprechergemeinschaft. Es setzt aber auch immer in eine Distanz, sodass das Sprechen ein Schwingen zwischen diesen beiden Modi ist. Ohne Distanzierung wäre schließlich kein Gespräch möglich, denn die Zugehörigkeit wird durch die unablässige Überwindung der Distanz zwischen den Subjekten generiert. Mit dem Bezug zu einem literarischen Werk, zum Text, wird, wie wir gesehen haben, diese Distanz fixiert, da es niemanden gibt, der unmittelbar antworten kann. Die Interpretation scheint diese Distanz zunächst zu überwinden, da der Leser mit ihr Sinn und Bedeutung konstruiert, womit die Welt des Textes zu einer gültigen Welt wird, die sich in die Welt des Lesers einschreiben kann. Durch die Verdoppelung der Referenz bleibt diese Distanz dennoch bestehen – das sein kann das ›wie‹ des sein-wie letztendlich nicht vollständig überwinden. Mit der Interpretation als Annäherung der Welten verwirklicht sich zugleich der Entzug des metaphorischen Seins.
62 63
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt: Suhrkamp 1966, S. 15. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 303 f.
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Die narrative Identität
Letztendlich ist diese konvulsive Bewegung konstitutiv für die Orientierungsfunktion des Textes. Wäre die Differenz vollkommen aufgelöst, verlöre sich die Möglichkeit, das Dasein durch den Text immer wieder neu auszurichten. Dies konnten wir anhand des Gedichts Mit erdwärts gesungenen Masten zeigen. Das Gedicht fordert unablässig dazu heraus, neue Bedeutungen, neue Zugehörigkeiten zu schaffen, die sogleich wieder aufgelöst werden. Paradoxerweise ist es aber gerade dieses Nicht-zum-Ende-kommen der Interpretation und des Verstehens, das für die Einschreibung des Gedichts in die Wirklichkeit sorgt. Die unablässige Produktivität der lebendigen Metapher kerbt ihre Spur tief hinein in die Lebenswelt des Lesers, als Spur, die er nicht vollkommen zu füllen vermag, sodass er schließlich mit seiner derart immer wieder aufgerufenen Existenz zum Zeugen dieser Spur wird, die auf die Abwesenheit der Ermordeten hindeutet. Der Leser bedeutet schließlich die Bedeutsamkeit der Bedeutung mit seinem Dasein selbst. Eine solche Einschreibung, die den Bedeutungsgehalt der Bedeutung immer wieder auflöst, ist viel fundamentaler als eine Bedeutung, die sich ein für alle Mal festschreiben würde. Denn sie fordert eine ständige Neuausrichtung und Umkehr, ein ständiges Bedenken und Eingedenken des Daseins in seiner vom Text eröffneten und durchdrungenen Welt.
4.3. Die narrative Identität Jens Mattern schlägt in seiner Einführung zur Philosophie Ricœurs den Bogen von der Differenzkonstitution der verdoppelten Referenz und deren weltverändernder Kraft hin zur Theorie der narrativen Identität: »Unser ›Sein zum Text‹ impliziert also eine grundlegende Distanzierung hinsichtlich unserer Zugehörigkeit zu einer tradierten und gegebenen Welt. Jeder Text entwirft seine ihm eigene Welt, schlägt uns eine Welt vor, die wir bewohnen könnten, und kann so eine Veränderung unseres Weltverständnisses bewirken.« 64
Dabei stellt er den Zirkelschluss zwischen Text und Lebenswelt heraus: »Die Textwelt wird nicht nur im Ausgang von einer Erfahrung
Mattern, Jens: Ricœur zur Einführung. Hamburg: Junius 1996 (Zur Einführung; 119), S. 112.
64
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
des In-der-Welt-Seins entworfen, sie kehrt über die in der Lektüre aktivierte Referenzfunktion wieder zur Welt der Praxis zurück.« 65 Wir haben gesehen, dass die Distanzierung erst stattfinden kann, wenn der wörtliche Sinn, den der Leser aus seinem In-der-Welt-Sein mitbringt, suspendiert wird. Zweitrangig ist dabei, ob dies vor oder nach der Identifikation eines Themas oder Inhalts des Textes geschieht. Viele Gedichte Celans lassen erst gar nicht zu, dass sich ein Thema entfaltet, das dann durch den Text selbst wieder aufgelöst würde, wie es bei Prosatexten häufig der Fall sein mag. Aber auch hier schöpfen wir zunächst aus unserer Alltagserfahrung, wenn wir uns dem Text nähern. Denn wir setzen voraus, dass der Text auf Handlungen oder Erlebnissen beruht, die erfahren, getätigt oder erlitten worden sind. Wenn wir dann feststellen, dass uns der Text zunächst ›nichts sagt‹, so ist uns dies nur deshalb möglich, weil der Text bereits bevor wir ihn auslegen und seinen Sinn und seine Bedeutungen konstruieren können mit unserer lebensweltlichen Erfahrung kollidiert und eine Differenz konstituiert. In einem solchen Fall tritt uns der Text als Negativität vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen und Erwartungen entgegen, womit diese aber dennoch die Grundlage der Interpretation bleiben, auch wenn sie hinterfragt werden müssen. Die neuen Bedeutungen, die im Zusammenspiel von Text und Leser konstruiert werden, gehen dann, wie wir gesehen haben, auf dessen Lebenswirklichkeit über. Er macht also, vermittelt durch den Text, neue Erfahrungen, die er in sein Leben und seine Erzählung von diesem Leben integriert. Von hier aus begegnet er neuen Texten und das ›Spiel‹ beginnt von vorn. Dies sind bereits die Grundzüge der narrativen Identität, wie sie Ricœur in seinem, bereits zitierten, dreibändigen Werk Zeit und Erzählung sowie Das Selbst als ein Anderer 66 entfaltet. Ich möchte im Folgenden das bereits Bekannte (vgl. Kap. 1.5.) vertiefen, damit schließlich die Komplementarität des Verhältnisses der Selbstheit des Daseins als Subjekt seiner Geschichte zur Bezeugung des und der Abwesenden herausgestellt werden kann.
Ebd. Vgl. Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink 1996 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels; Bd. 6).
65 66
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Die narrative Identität
4.3.1. Die dreifache mimēsis Den drei Ebenen der Erzählung (Präfiguration, Konfiguration, Refiguration), die wir bereits kennen (Kap. 1.5.) und aus deren Zusammenwirken sich die narrative Identität konstituiert, liegt die Vorstellung einer dreifachen mimēsis zugrunde. 67 Die drei Bedeutungen der mimēsis können als Brücken zwischen den drei Ebenen der Erzählung verstanden werden. Mimēsis ist für Ricœur nicht lediglich die Tätigkeit einer bloßen »Fabelkomposition«, die einen Mythos als ihr »Was«, als ihren Inhalt also, konstruiert, indem sie Handlungen nachahmt und in eine Form bringt. 68 Denn damit bliebe die mimēsis auf die Ebene des Dargestellten, des Textes oder des Theaterstücks, beschränkt. Ihr Wirken ist komplexer: Bereits mit der ›Nachahmung‹ in der Komposition transzendiert sie das Bestehende, sie gibt es nicht einfach bloß wieder, indem sie die Gegenwart verdoppelt, sondern schafft einen »Bruch, der den Fiktionsraum eröffnet.« 69 Das hat bereits die lebendige Metapher gezeigt: Sie ist ein Keil oder eine Spalte in der außertextlichen Wirklichkeit. Daher bezieht auch die mimēsis in ihrer dreifachen Funktion das »Vorher« und »Nachher« der Komposition oder Konfiguration mit ein. 70 Aus diesem Zusammenschluss bereits vergangener Handlungen mit ihrer kreativen Umwandlung in einer wie auch immer gearteten Erzählung ergibt sich Ricœurs These, dass die Zeit erst zur menschlichen, das heißt zur wahrnehmbaren und erfahrbaren werde, wenn sie erzählt wird, also »nach einem Modus des Narrativen gestaltet« 71 werde. Auf der anderen Seite erhalte die Erzählung ihren vollen Sinn erst dann, »wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird [kursiv im Original. Anm. D. M.].« 72 Dies zeigt sich bereits in der Alltagserfahrung. Die zeitlichen Dimensionen des Daseins entfalten sich erst, wenn wir durch einen Sprechakt (der auch im Denken und Nachdenken artikuliert wird) auf etwas Bezug nehmen. Wir greifen bereits im einfachen Gebrauch eines Gegenstandes in die Vergangenheit und heben die Gegenwart in die Zukunft, was freilich nicht immer bewusst geschieht. Aber schon hier
67 68 69 70 71 72
Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 87–135. Ebd., S. 60. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 87. Ebd.
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
greifen wir auf »symbolische[…] Vermittlungen« 73 zurück, ohne die wir einen Gebrauchsgegenstand gar nicht als solchen erkennen könnten. Durch unsere Sozialisation, die letztendlich die Tradierung bestimmter kulturell gebundener Geschichten und der in diesen Geschichten verwendeten Codes ist, kennen wir gemeinhin das »Begriffsnetz«, in dem wir uns bewegen. Sich dieses Netzes zu bedienen, nennt Ricœur »praktische[s] Verstehen.« 74 Hier wird der Sinn einer Handlung noch nicht auf eine Bedeutung hin überschritten, die über die einzelne Handlung hinaus geht. Das Begriffsnetz wird instrumentell gebraucht, seine Symbolik (als das, was über den Begriff hinaus geht) bleibt hier noch unberücksichtigt. Die Handlung geht hier meist noch ganz im Erlebnis auf. Erst dann, wenn wir die Handlung in einen Erzählzusammenhang bringen, wird das Erlebnis »mehr als Leben.« 75 Die Erzählung verwandelt also das pränarrativ – oder »proto-geschichtlich […]«, wie es bei Grätzel heißt 76 – erlebte Leben. Sie macht es mitteilbar und weiterführbar und führt das Erlebte über das eigene Leben hinaus. Erst mit ihr können wir es in einem umfassenderen Sinn verstehen. Umfassender deshalb, weil durch die Erzählung die Handlungsebene überschritten wird und sich die Zeitebenen überschneiden. Auf der Ebene des praktischen Verstehens ist dies nicht möglich. Auch für Ricœur ist das praktische Verstehen lediglich ein Modus der mimēsis I, an den ein zweiter, nämlich das »narrative […] Verstehen«, 77 anschließt. Hierbei wird die pränarrative Struktur des Daseins als In-Geschichten-sein expliziter, auch wenn wir uns noch nicht auf der Ebene der Konfiguration des literarischen Erzeugnisses befinden. Jedoch wird mit dem narrativen Verstehen bereits die »paradigmatische[…] Ordnung« der Handlung auf die »syntagmatische Ordnung« der Erzählung hin überschritten. 78 Das heißt, dass die Handlungen in einen Bezug zueinander gesetzt werden, in eine Verkettung oder Verflechtung, die über die bloße Kausalität des Handelns im vor-verstandenen Begriffsnetz hinausgeht. In der syntagmatischen Ordnung wird die Diachronie der Ereignisse berücksichtigt. Das narrative Verstehen nimmt also auch auf jene Momente Bezug, die nicht im kausalen Gefüge des Handlungsgeschehens auf73 74 75 76 77 78
Ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 92. Grätzel: Versöhnung, S. 225. Ebd., S. 224. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 92. Ebd., S. 93 f.
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Die narrative Identität
gehen. Umstände, Motive, (indirekte) Wirkungen, das Tun und Leiden der Handelnden werden zusammengefügt. 79 Das narrative Verstehen ist damit zwar – im Gegensatz zum praktischen Verstehen – grundsätzlich in der Lage, die conscientia als ethisches Mitwissen um die Verschuldung gegenüber anderem und Anderen zu reflektieren. Diese Reflexion ist allerdings eine Kulturleistung, die dem narrativen Verstehen nicht einfach mitgegeben ist. Immerhin bedarf es einer gewissen Sensibilität und auch gewisser Vorkenntnisse, um jene Konsequenzen wahrzunehmen und zu verstehen, die unter Umständen Menschen tragen müssen, die nicht unmittelbar in ein Handlungsgeschehen einbezogen sind oder einbezogen zu sein scheinen. Denn das narrative Verstehen gibt sui generis keine Hinweise auf Geschichten oder Geschichten-Fragmente, die möglicherweise im Alltag verborgen sind oder verdrängt werden. Es ist (noch) kein ethisches Verstehen. Davon unbenommen aber ist die Tatsache, dass uns, dadurch dass das Dasein sich im Verstehen seiner Handlungen bereits auf (prä)narrative Strukturen beziehen kann, die Möglichkeit gegeben ist, die syntagmatische Ordnung dieser Handlungen nachzuvollziehen. Damit sind wir in die Lage versetzt, auch die Konfigurationen von Handlungen und Erlebnissen Anderer in der Literatur und darüber hinaus zu verstehen. Mit der Konfiguration als literarischem Text wird jedoch zunächst ein Bruch zu unserem Verständnis gesetzt, wie wir schon anhand der lebendigen Metapher zeigen konnten. Wir betreten »das Reich des Als ob«, 80 des metaphorisch behaupteten sein-wie. Dieses realisiert sich als mimēsis II, die zwischen dem Vorher und dem Nachher der Konfiguration vermittelt. 81 Während die mimēsis I den Nachvollzug der syntagmatischen Ordnung auf der Ebene des praktischen Handelns meint, durch den sich das Leben in seiner pränarrativen Verfasstheit zeigt, bezeichnet die mimēsis II den Nachvollzug der Erzählungskomposition. Mit der mimēsis II entfaltet der Leser eine bedeutungsvolle Welt innerhalb des Textes, indem er die dort vermittelten Handlungen oder Erlebnisse in einen sinnvollen Zusammenhang bringt. Dieser ist vom Text bereits vorgegeben. Soweit es sich nicht um einen modernen oder postmodernen Text handelt, ist dies meist relativ eindeutig. Zeitlich voneinander 79 80 81
Vgl. ebd. Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 105.
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
getrennte Ereignisse werden in Geschichte verwandelt, indem sie zu einer »zeitlichen Totalität« zusammen genommen werden. 82 Sie werden im Text vergegenwärtigt, auch dann, wenn dieser im Präteritum oder im Perfekt verfasst ist. Auch im Plusquamperfekt geschilderte Ereignisse, die als dem im Text vermittelten Geschehen vorzeitige ausgewiesen werden, spielen eine Rolle in diesem Text und wirken auf dessen Gegenwart. Hier zeigt sich die Entsprechung zur syntagmatischen Ordnung der Praxis, mit der einzelne Handlungen durch das narrative Verstehen in eine solche zeitliche Totalität gebracht werden. Diese Konfigurationsleistung vollzieht der Leser nun nach. Für diesen Nachvollzug ist, wie bereits festgestellt wurde (Kap. 1.5.), der Abschluss eines Textes unabdinglich. Denn erst ein solcher Abschluss gewährleistet eine bedeutungsvolle Totalität. Wir wissen, wie der Text endet, und können erst von diesem Ende aus den Verstehensprozess vervollständigen. Dies gilt auch für fragmentarische Erzählungen, die kein vom Autor vorgesehenes Ende haben. Dann ist eben genau diese Offenheit das Ende, das wir in unsere Interpretation miteinbeziehen. Auch wenn der Text nicht den offensichtlichen Charakter einer Erzählung hat, wie dies bei Gedichten oft der Fall ist, spielt der Abschluss eine zentrale Rolle für die Interpretation. Denn erst mit ihm sind die semantischen Felder, die miteinander kollidieren, den wörtlichen Sinn suspendieren und für eine semantische Innovation sorgen, eingrenzbar. Wir wissen: Hier ist der Text zu Ende. Und zwischen diesem Ende und seinem Anfang lassen wir die semantischen Felder miteinander kollidieren und legen den Text aus. Wir können »die Zeit selbst gegen den Strich […] lesen, nämlich als Rekapitulierung der Ausgangsbedingungen eines Handlungsverlaufs in seinen letzten Konsequenzen.« 83 Denken wir nur noch einmal an Celans Gedicht Mit erdwärts gesungenen Masten. Dessen letzter Vers lautet: »Du bist der liedfeste/ Wimpel.« 84 Dieser setzt den Abschluss. Er gibt zu verstehen, dass nun die möglichen Interpretanden vorliegen und der Text somit als Totalität erscheint. Der Text öffnet sich »wie ein ›Fenster‹, das die Fluchtperspektive einer dargebotenen Landschaft umreißt. Diese Öffnung besteht in dem Vor-schlag einer
82 83 84
Ebd., S. 107. Ebd., S. 109. Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 181.
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Die narrative Identität
bewohnbaren Welt.« 85 Selbst wenn eine unwirtliche Welt dargeboten werde, sei diese »unwirtlich nur innerhalb der gleichen Problematik der bewohnbaren Welt.« 86 Das Defizit des Dargestellten ist also defizitär deshalb, weil das Werk mit seiner Negativität auf eine potentiell bessere Welt verweist, auch dann, wenn dieser eine Absage erteilt wird. Von diesem durch Beginn und Abschluss eröffneten Panorama aus muss der Text nun ausgelegt werden. Wir kennen den Anfang und können ihn auf den Schluss beziehen. Wir können erst mit diesem Schluss die Frage stellen, ob hier eine Hoffnung, eine Verzweiflung oder beides ausgedrückt wird. Wir können den Vor-schlag, den der Text macht, nur aufgrund der klaren Abgrenzung erkennen und bewerten. Erst mit diesem konstatierten Abschluss, mag er auch, je nach Text, ein virtueller sein, kann sich die andere Zeit des Textes voll entfalten. Und mit ihr dessen Welt, die der Leser in seinem Nachvollzug und auch in seinem Wiederlesen oder Wiedererzählen stets neu mithilfe seiner Einbildungskraft gestaltet – wenn auch anhand der Merkmale, die ihm der Text zur Verfügung stellt. 87 Der Leser wiederholt also nicht bloß die Verstehens- und Kompositionsweisen des Autors – was auch gar nicht möglich wäre, da der Autor beim Schreiben auf einen persönlichen Erfahrungsschatz zurückgreift, auf den der Leser keinen direkten Zugriff hat. Der Leser vollzieht unter Aufwendung seiner imaginativen Ressourcen eine erneute »Synthesis des Heterogenen«, 88 die nicht bruchlos geschieht, da es, wie bei Celan besonders deutlich, Elemente gibt, die der Synthesis widerstreben. Dadurch tritt die Fremdheit der anderen Welt und der anderen Zeit allerdings mit aller Deutlichkeit hervor. Der Versuch, die störenden Elemente zu integrieren, fordert die Kreativität des Lesers heraus. Der Nachvollzug der mimēsis II ist mithin ein schöpferischer Akt. Die Nachvollziehbarkeit wird im Lesen aktualisiert: »[D]er Akt des Lesens [begleitet] die Konfiguration der Erzählung und aktualisiert ihre Nachvollziehbarkeit. Eine Geschichte mitvollziehen heißt, sie lesend zu aktualisieren.« 89 Der Nachvollzug schlägt um in einen Mitvollzug. Die Lektüre ist also kein passiver
85 86 87 88 89
Ricœur: Zeit und Erzählung II, S. 170. Ebd., S. 170 f. Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 109 ff. Ebd., S. 106. Ebd., S. 121.
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
Vorgang. Zwar ist der Leser dem Text zunächst passiv ausgesetzt, doch er antwortet auf den Text, 90 indem er die Geschichte konstruierend mitvollzieht. Mithin ist die aisthēsis der Lektüre nicht bloß passive Wahrnehmung, sondern bereits »die Erforschung der mannigfaltigen Weisen, wie ein Werk durch seine Wirkung auf den Leser diesen affiziert.« 91 Mit der Lektüre erforscht sich der Leser also schon selbst. Hier kommt nun die mimēsis III ins Spiel: Die (Nach-)Wirkung der Konfiguration und ihrer vom Leser vollzogenen Variationen auf dessen Selbst und damit auf dessen Lebenswelt. 92 Der Bruch, den der Text in der Lebenswelt des Lesers aufreißt und die von ihm ins Werk gesetzte Auseinandersetzung machen auf unerzählte Geschichten oder Bruchstücke von Geschichten aufmerksam, die der Leser bisher nicht beachtet hat und nicht beachten konnte. Diese drängen nun ebenfalls zur Erzählung und der Leser muss Wege des Erzählens finden. Dieser Gedanke, der von der Psychoanalyse inspiriert ist, 93 betrifft nun nicht mehr ausschließlich persönlich erfahrene und verdrängte oder vergessene Geschichten, sondern eben jene, auf die der Text hinweist, die aber noch nicht in diesem Text selbst formuliert sein müssen. Sie sind Teil der »Suche« nach der »persönlichen Identität« des Lesers. 94 Durch den Text, aber über den Text hinaus, verankert er diese Geschichten, die ihm nun in seiner Lebenswelt begegnen können, als Teil seiner Identität in eben dieser Lebenswelt. Er setzt mit seinem Leben diese Geschichten fort bzw. bewährt sie als Zeuge, der die Abwesenheit der Subjekte der verdrängten oder vergessenen Geschichten bezeugt. Die aisthēsis ist also in einem gewissen Sinne bereits eine poiēsis: Sie erfindet, sie entdeckt und schafft, 95 wie sich bereits anhand der lebendigen Metapher gezeigt hat. Sie erschafft schon eine Welt, auch und gerade, wenn diese Welt nicht vollständig verstanden wird – denn gerade die Irritationen, denen der Leser in seiner KonVgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 270. Die Interaktion zwischen Text und Leser mache den Text zum Werk (vgl. ebd., S. 272). Der Text bezeichnet also eher den autonomen Status des literarischen Kunstwerks. Ich werde trotzdem weiterhin zumeist den Begriff Text verwenden, um Verwirrungen zu vermeiden. 91 Ebd., S. 270 f. 92 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 114. 93 Vgl. ebd., S. 118. 94 Ebd. 95 Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 289. 90
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Die narrative Identität
frontation mit dem Text ausgesetzt ist, lassen diese Welt als von seiner Lebenswelt verschiedene erscheinen. Aisthēsis als poiēsis produziert (unter aktiver Beteiligung des Lesers) différance: »Durch ihre ›Unbotmäßigkeit‹ gegenüber allem anderen, ist sie [die ästhetische Erfahrung] imstande, das Alltägliche umzuwandeln und über dessen allgemein anerkannte Normen hinauszugehen.« 96 Der Leser übernimmt also gewissermaßen die Differenz des Textes zu seinem eigenen Verstehen, um sich selbst und die Wirklichkeit in Hinblick auf das zunächst Unverstandene befragen zu können. Die Spannung zwischen Überschuss an Sinn und Mangel an Sinn, 97 die sich auf der »Strukturebene« der Konfiguration des Textes ergibt (derart, wie es Mit erdwärts gesungenen Masten schon gezeigt hat), wird durch den Leser in der Lektüre auf die »Erfahrungsebene übersetzt.« 98 So kann er aus dem Text heraus in seiner Lebenswelt neue Bedeutungen schaffen und vormaliges Verstehen oder Missverstehen – seiner selbst und der Welt – überwinden. Die mimēsis II hat mit der Konfiguration Erlebnisse über das Leben hinaus gehoben, indem sie dem Leben eine zusätzliche Dimension – das Als-ob oder sein-wie – gegeben hat. Der Autor hat das Leben zu Geschichte gemacht, die von einem Anderen nicht nur nach-, sondern mitvollzogen werden kann. Mit der mimēsis III kehrt die Geschichte wieder ins Leben, in die Erfahrungswelt und in die Praxis zurück. 99 Die mimēsis III stellt also eine Verknüpfung zur mimēsis I her, sie erweitert damit die Möglichkeiten der Bedeutungen auf der präfigurativen pränarrativen Ebene. Mit jeder Lektüre erschließen sich dort andere Perspektiven, die dem Selbst des Lesers einen jeweils anderen Blick auf die Welt ermöglichen, die GegenGeschichten aufnehmen oder zumindest auf die unerzählten Geschichten hinweisen. Die Vergangenheit, die im Text aufbewahrt ist und in der Lektüre zur Gegenwart wird, bekommt in der Lebenswelt des Lesers durch die Refigurationskraft der Lektüre einen Zukunftshorizont. Das Werk präfiguriert »eine künftige Erfahrung« und ist »nicht bloß Antwort auf eine frühere Frage […], sondern seinerseits Ursache neuer Fragen.« 100 Es setzt demnach neue Anfänge, die wei-
Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 287. Vgl. ebd., S. 274. 98 Ebd., S. 276. 99 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 120 ff. 100 Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 280. 96 97
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terverfolgt werden wollen, aber immer auch wieder abbrechen können. Die Lektüre ist somit durch »Unterbrechung« und »Neubeginn des Handelns« gekennzeichnet. 101 Entscheidet sich der Leser nicht dafür, sein Denken im Lesen nicht unterbrechen, sondern lediglich ausruhen zu lassen, und nimmt stattdessen die Perspektiven des Textes in seine »Sicht auf die Welt« auf, so »ist die Lektüre für ihn kein Ort (lieu) der Rast, sondern ein Milieu, das er durchwandert.« 102 Man kann sagen, dass die Lektüre als solche Wanderung, in der die Textwirklichkeit mit der Lebenswirklichkeit außerhalb des Textes verschmilzt, einen Blick auf die Erlösung eröffnet, wobei Erlösung verstanden werden muss als imaginierte Ewigkeit, in der alle Geschichten, alles Tun und Leiden ›zitierbar‹ geworden sind. 103 Die Lektüre zeigt somit im Faktischen der Wirklichkeit das fiendum des Unabgeschlossenen auf: Den Anspruch des Vergangenen an die und in der Gegenwart und deren Bedeuten der Zukunft. So wird schließlich der zweite Teil der These Ricœurs ersichtlich, nämlich »daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.« 104 Der Anspruch des Vergangenen kann nur durch die Erzählung vermittelt werden. Wir müssen auf diesen Anspruch hingewiesen werden, auf die Welten des Textes, die faktisch vergangen sind, aber durch die Refiguration ins Leben zurückgebracht werden können, sodass der Leser zum Zeugen dieser faktisch vergangenen Welten wird. Gelingt einer Erzählung diese Rückführung zum Ursprung nicht, muss sie schließlich sinnlos oder zumindest trivial erscheinen.
4.3.2. Die Überkreuzung von Geschichte und Fiktion in der Spur Das Vergangene artikuliert sich allerdings nicht ausschließlich in fiktionalen Texten, sondern ebenso in der historischen Erzählung, der Ricœur einen Großteil des ersten Bandes von Zeit und Erzählung widmet. 105 Ricœur bemerkt, dass die »Überkreuzung von Historie Ebd., S. 292. Ebd. 103 Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 694. Sowie: Kracauer: History. The Last Things Before the Last, S. 136. 104 Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 87. 105 Dementsprechend hat der erste Band auch den Untertitel: Zeit und historische Erzählung. 101 102
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Die narrative Identität
und Fiktion« für die Refiguration der Zeit unerlässlich ist. 106 Dies ist auch für die Thesen meiner Arbeit von Bedeutung: Der refigurierten Zeit müssen einerseits valide datierbare Ereignisse zugrunde liegen – sonst würde sich der Anspruch der Vergangenheit in bloße Spekulation auflösen und die Opfer der konkreten Taten entbunden, unter denen sie zu leiden hatten. Auf der anderen Seite muss allerdings auch das fiendum des Unabgeschlossenen angezeigt werden, denn ohne dies würden die Opfer irrelevant und letztendlich vergessen werden. Es müssen also historische Eindeutigkeit und Phantasietätigkeit miteinander verbunden werden. 107 Die Grundlage dieser Verbindung bietet die Spur. Diesen Begriff haben wir schon bei Derrida und bei Levinas kennengelernt (Kap. 1.5. & Kap. 3.3.). Beide definieren die Spur als Zeichen einer Abwesenheit, eines Rückzugs oder Entzugs. Für beide ist die Spur der Ausdruck einer alternierenden Signifikanz, die sich nicht eindeutig feststellen lässt. Die Spur bedeutet etwas Vergangenes oder Vorübergegangenes. Sie bezeichnet aber auch etwas Bleibendes, eine Markierung, die interpretiert werden muss und die einen Widerstand im sein ausmacht und dieses verstopft oder obliteriert (Kap. 3.3.3.). Nach Ricœur zeigt die Spur »hier, im Raum, und jetzt, in der Gegenwart, das Vorübergegangensein lebendiger Wesen an […].« 108 Das heißt derjenige, der die Spur hinterlassen hat, ist nicht in jedem Fall eindeutig zu identifizieren. Die Spur selbst ist allerdings dauerhaft – oder zumindest dauerhafter als die sie hinterlassende Tätigkeit. Sie hat damit dinghaften Charakter, der »zwischen markierendem und markiertem Etwas ein Verhältnis von Ursache und Wirkung [begründet].« 109 »Signifikanzbeziehung« und »Kausalitätsbeziehung« werden in der Spur vereinigt: »Daß die Spur derart in zwei Bezugssysteme gehört, macht sie durchaus nicht zweideutig, sondern vielmehr zum Bindeglied zwischen zwei Denkrichtungen und damit zwischen zwei Zeitperspektiven: Denn die Spur markiert im Raum das Vorübergehen des gesuchten Objekts nur dadurch, daß sie dieses Vorübergehen zugleich in der kalendarischen und astralen Zeit markiert. Dies aber ist die Bedingung, unter der die –
106 107 108 109
Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 294. Vgl. ebd., S. 298. Vgl. ebd., S. 192. Ebd., S. 193.
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Paul Ricœur: Die lebendige Metapher und die narrative Identität
jetzt erhaltene und nicht mehr hinterlassene – Spur zum datierten Dokument wird.« 110
Dadurch, dass sie derart »Zeichen und Wirkung« 111 ist, etwas festschreibt, aber auch hindeutet und damit gedeutet werden muss, überkreuzen sich in ihr beide Zugangsweisen zur Vergangenheit: Geschichte und Fiktion. 112 Man muss nun nicht dafür plädieren, eine Mischform zwischen Historiographie und Fiktion zu entwerfen, einen historischen Roman in etwa. Es kommt ganz auf die Zugangsweise an, mit der ein Text eröffnet wird. Wenn wir an ein Dokument, eine Akte denken, so können wir es entweder in seinem bloß dokumentarischen Charakter belassen. Oder aber wir können das entwerfen oder zu entwerfen versuchen, auf das das Dokument uns hinweist. Wir können der Biographie desjenigen, von dem das Dokument Zeugnis gibt, auf den Grund zu kommen versuchen. 113 Dafür müssen wir die historische Zeit, die das Dokument als Dokument eröffnet, mittels unserer Einbildungskraft variieren, womit es sich als fiktive Zeiterfahrung entfaltet. 114 Das Dokument bekommt also eine narrative oder metaphorische Dimension. Es wird ausgestaltet über das hinaus, was es uns unmittelbar zeigt. Freilich dürfen wir hierbei die Rückbindung an die Geschichtsschreibung nicht vernachlässigen, die als Korrektiv bestehen bleibt. Ricœur bezeichnet dieses Vorgehen als »kontrollierte[…] Illusion.« 115 Eine solche sorgt für die Vergegenwärtigung des Vergangenen. Sie sorgt dafür, dass sich aus den Fakten, die in den historischen Dokumenten zu finden sind, das fiendum des Unabgeschlossenen in der Gegenwart entfalten kann und seinen Auftrag für die Zukunft artikuliert. Durch die schöpferische Tätigkeit der kontrollierten Illusion wird der Leser direkt angesprochen. Sie führt »vor Augen« und konzentriert den Leser auf seinen Dialog mit dem Text. Sie wird »in den Dienst der Individuierung gestellt, die das Entsetzen oder die Bewunderung bewirken. Die Individuierung durch das Entsetzliche, die uns wichtiger ist, bliebe als Gefühl, so stark und tief es auch sein
Ebd. Ebd. 112 Vgl. ebd., S. 298. 113 Verwiesen sei hierbei beispielsweise auf das Konzept einer integrierten Geschichte, das Friedländer vertritt (vgl. Kap. 2.3.4.3.). 114 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 299 ff. 115 Vgl. ebd., S. 302. 110 111
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mag, blind ohne das quasi-anschauliche Moment der Fiktion. Die Fiktion gibt dem entsetzten Erzähler Augen – Augen zu sehen und zu weinen.« 116
Der Erzähler ist derjenige, der mittels der kontrollierten Illusion das Historische mit der Fiktion verschränkt und das Dargestellte des Berichts in seine Gegenwart hebt – ergo das Erzählte nach- und mitvollzieht. Er steht als Einzelner oder Einzigkeit mit dem Erzählten in Verbindung und kann dieser Auseinandersetzung nicht entkommen. Eine ›Rettung‹ geschieht erst, wenn er die in der Fiktion entfaltete Erfahrung als Geschichte in sein Leben übernimmt, bezeugt und behauptet – ergo zum Stellvertreter der erfahrenen Geschichte wird. Die Fiktion stellt sich »in den Dienst dessen, was nicht vergessen werden soll oder darf.« 117 Dieser Dienst wird von ihr auf den Leser übertragen. Eine solche ›Spurenbelebung‹ muss freilich erlernt werden. Sie kann nicht einfach so aus der historischen Erzählung erwachsen. Diese muss in einem Wechselverhältnis zugleich die fiktionale Erzählung erweitern. So wie die historische Erzählung einen quasi-fiktiven Charakter erhalten muss, muss der Fiktion ein quasi-historischer Charakter zugesprochen werden. 118 Es muss also behauptet werden, dass die Fiktion auf ein tatsächlich Erlebtes zurück gehe. Nur dann kann sie »nachträglich gewisse unverwirklichte Möglichkeiten der historischen Vergangenheit« 119 freilegen. Die Fiktion weist so auf die Spuren der Vergangenheit in der Wirklichkeit hin. Sie schreibt die Wirklichkeit um, insofern sie auf die Gegen-Geschichten, die die Spuren hinterlassen haben, verweist. Der Autor – und mit ihm der Leser – kann die Spuren ›zum Sprechen‹ bringen.
4.3.3. Selbstheit und Bezeugung Aus der Überkreuzung von historischer Erzählung und Fiktionserzählung ergibt sich schließlich und endlich die narrative Identität. Um das Leben erzählen zu können, bedarf es der Versicherung, an eine tatsächlich geschehene Vergangenheit angeschlossen zu sein, so116 117 118 119
Ebd., S. 305. Ebd. Vgl. ebd., S. 310. Ebd.
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wie der Möglichkeit, diese in der Gegenwart aufzurufen und zu aktualisieren. Die Identität ergibt sich so aus den pränarrativen oder proto-geschichtlichen Splittern oder Keimen, die durch das Erzählen entfaltet werden. Die Antwort, wer ein Leben lebt und in ihm handelt, so Ricœur in Anlehnung an Hannah Arendt, 120 könne nur narrativ ausfallen. 121 Sonst müsste man, um das Konzept einer personalen Identität aufrechtzuerhalten, einen selbstidentischen Kern postulieren, der keiner Veränderung unterworfen sei, oder aber sich der Identität des Subjekts als einer »substantialistische[n] Illusion« 122 ganz entledigen. Um dieses »Dilemma« zu lösen, unterscheidet Ricœur das Selbe (idem) vom Selbst (ipse). Das Selbe bezeichnet die substantiale oder formale Identität, das Selbst hingegen die narrative. Diese besteht nun darin, dass das Selbst als »Ipseität« durch »die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird.« 123 Dadurch wird »das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten.« 124 Dies entspricht wiederum unserer Alltagserfahrung. Wenn wir etwas über uns sagen möchten, erzählen wir gemeinhin unsere Handlungen und Erlebnisse. Diese mögen, was den Erlebnischarakter selbst angeht, disparat sein und hätten isoliert betrachtet keinerlei Bedeutung. Dadurch, dass wir aber eine »dissonante Konsonanz« herstellen, eine »Synthesis des Heterogenen« betreiben, 125 unsere Motive, die Umstände, aus denen heraus wir gehandelt haben, erläutern, ergeben unser Tun und Erleiden einen (auch für Andere) nachvollziehbaren Sinn. Das Leben wird aber auch für das Individuum, das es erzählt, erst in dieser Erzählung verständlich. Das kann so weit gehen, dass störende Elemente eingeebnet, schöngeredet oder gerechtfertigt werden, was noch nicht einmal aus bösem Willen heraus geschehen muss. Ricœur spricht von »Korrekturen und Rektifikationen«, 126 die an früheren Erzählungen vorgenommen werden. Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2007, insbesondere der Abschnitt 25 Das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten, S. 222–234. 121 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 395 f. 122 Ebd., S. 396. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 106. Wir übernehmen also die Elemente der fiktionalen Konfiguration und übertragen sie auf unsere Lebensgeschichte(n). 126 Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 397. 120
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Grundsätzlich kann man sagen, dass eine Geschichte niemals so erzählt wird, wie sie erlebt wurde. Historische Tatsachen werden imaginativen Variationen unterzogen. Wenn Ricœur nun schreibt, dass man sich »für sein eigenes Leben stets unterschiedliche, ja gegensätzliche Fabeln ersinnen [kann,]« 127 dann heißt das, dass man diese Fabeln durch das Selbstverhältnis zu sich, das, wie wir gesehen haben, schon mit der ästhetischen Erfahrung ins Werk gesetzt wird, kritisch hinterfragen sollte, um sich selbst in seiner Geschichte auf die Spur zu kommen, was impliziert, dass im Besonderen das Verhältnis des Selbst zu den unerzählten Geschichten, mit denen ein Text konfrontieren kann, untersucht wird. Man kann sagen, dass jede sinngebende Fabel auf ihre Antithese verweist. Hiermit berühren wir wieder die Dialektik von Distanzierung und Zugehörigkeit, wie sie uns in Die lebendige Metapher begegnet ist. 128 Der Leser – wir können nun sagen: Die Selbstheit oder Ipseität – wird durch die metaphorische Aussage (ergo durch den als Metapher verstandenen Text) in eine Differenz zu der ihm gegebenen und verstandenen Welt gesetzt. Die Fremdheit, mit der er durch den Text konfrontiert wird, macht es notwendig, sich ein neues und anderes Verständnis der Welt, die man bewohnt, zu erarbeiten. Dies kann es erforderlich machen, sich von alten Überzeugungen zu trennen und aus dem Text heraus neue zu entwickeln, die schließlich die Welt, in der man lebt, auf der praktischen Ebene verändern können. Die narrative Identität, die durchaus auch eine solche sein kann, die alles Schmerzhafte und Schuldhafte verdrängt, kommt »nur dann einer wirklichen Ipseität gleich, wenn jenes Entscheidungsmoment hinzutritt, das die ethische Verantwortlichkeit zum höchsten Faktor der Ipseität macht.« 129 Ethische Verantwortlichkeit bedeutet, dass das Selbst, das als Ipseität in einem Verhältnis zu sich ist, mit diesem Verhältnis zugleich seine Rückgebundenheit an einen Anderen reflektiert, der eben auch als von den Gegen-Geschichten innerhalb der eigenen Geschichte vermittelter Anderer erscheint. Geschieht dies nicht, würde sich das Selbst verfehlen, da es diese auch für seine Geschichte konstitutiven Anteile unbeachtet ließe. Diese Reflexion ist der Gegenstand von das Selbst als ein Anderer. Ricœur vertieft in dieser Untersuchung die beiden Weisen, in 127 128 129
Ebd., S. 399. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 303 f. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 400.
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denen das Ich in der europäischen Philosophie vorgestellt wurde: Die nun bereits bekannten Identitäten Idem-Identität (mêmeté) und IpseIdentität (ipséité). 130 Ich möchte hier nur noch auf den Begriff der Bezeugung eingehen, der mir für unser Thema besonders wichtig erscheint, weil er die ethische Verantwortung für den Anspruch des Vergangenen noch einmal in aller Deutlichkeit herausstellt. Dafür muss er allerdings etwas von Ricœurs Bestimmung abweichend interpretiert werden. Wir sind bereits häufig auf den Begriff des Zeugen oder des Zeugnisses gestoßen. Bei Levinas ist es die Stellvertretung des derEine-für-den-Anderen, die sich als Zeugenschaft realisiert. Bezogen auf einen Vers aus Celans Gedicht Aschenglorie haben wir gesehen, dass eine stellvertretende Zeugenschaft auch vermittelt sein kann (Kap. 3.3.2.). Der Leser zeugt dann für den Zeugen, der seinerseits im Gedicht Zeugnis gibt. Der Leser als Zeuge für den Anderen weist auf dessen Abwesenheit hin. Über das Gedicht hinaus bezeugt er, dass die Spuren des Anderen in der Welt die Spuren sind, die der Andere, der Abwesende, der Ermordete hinterlassen hat. Mit seiner eigenen Geschichte bezeugt der Stellvertreter die Geschichte des Anderen und hält dessen Platz in der Gegenwart offen. Dies kommt dem Verständnis Ricœurs schon recht nahe. Das Bezeugen markiert sowohl die Differenz von mêmeté und ipséité als auch die Dialektik des Selbst und des Anderen, 131 die wir letztendlich schon kennengelernt haben, insofern das Selbst in ein Verhältnis zu sich nur deshalb gesetzt ist, weil es zuvor vom Anderen von sich entfremdet und ihm eine Perspektive eröffnet wurde, aus der es sich und seine Welt kritisch betrachten kann. Das heißt, es sieht sich selbst als (s)ein Anderer und kann sich deshalb als (s)ein Selbst auslegen. Die Bezeugung ist also sowohl ein Selbstverhältnis als auch ein Verhältnis zu einem zumindest impliziten Anderen. Weil das Selbst als Ipseität in einem Verhältnis zu sich steht, das von Distanzierung und Zugehörigkeit zur eigenen Geschichte geprägt ist, muss es sich ständig selbst bezeugen, das heißt sich von der Wahrheit seiner Geschichte überzeugen. Die Bezeugung ist Ausdruck dieser Fragilität, sie ist stets von einem Misstrauen bedroht. 132 Unzweifelhafte Gewissheit über sich selbst könnte das Ich nur dann erlangen, wenn es sich der 130 131 132
Vgl. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 11 f. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 34.
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Illusion einer unveränderlichen Substanz hingäbe, sich also als Selbigkeit (mêmeté) begreifen würde. Da dies aufgrund der Befremdung, die der narrativen Identität inhärent ist, nicht (mehr) möglich erscheint, ist sich das Selbst zugleich ›wahrer‹ und ›falscher‹ Zeuge. 133 Das Misstrauen sich selbst gegenüber muss daher von einer stets vertrauenswürdigeren Bezeugung überwunden werden. Das Selbst gibt sich einen Vertrauensvorschuss, einen »Kredit«. 134 Es vertraut »in die Kraft des Sagens, in die Kraft des Tuns, in die Kraft, sich als Handlungsträger einer Erzählung zu bekennen, schließlich in die Kraft, auf eine Beschuldigung mit einem Akkusativ zu antworten: ›Hier, sieh mich [Me voici]!‹ […].« 135 Dies ist ein direkter Verweis auf Levinas. Ricœur macht deutlich, dass die Kraft des Sagens und des Tuns sowie die, sich als das Subjekt einer Erzählung zu behaupten, ins Leere ginge, wenn sie nicht zusammenfiele mit der Antwort auf die Anklage des Anderen. Erst durch diese wird der ›falsche‹ Zeuge zu einem ›wahren‹ Zeugen. Im Bezeugungsverhältnis, das das narrative Selbst und den Anderen gleichermaßen involviert, wird die Frage nach dem Wer des Handelns und Erleidens davor bewahrt, von der Was- oder WarumFrage ersetzt zu werden. 136 Ricœur erweitert hier den Ansatz von Levinas. 137 Das Selbst entfaltet sich gerade aufgrund der Anklage durch den Anderen. Das Aufgerufensein durch den Anderen expliziert die Geschichte des Selbst. Es muss sich nicht nur als Stellvertreter gegenüber dem Anderen behaupten, sondern auch innerhalb seiner eigenen Geschichte als das Subjekt dieser Geschichte. Man kann folgern, dass die Frage nach dem Warum, die, gerade was die konkrete Schuld gegenüber dem Anderen betrifft, nicht irrelevant ist, in die Frage nach dem Wer integriert ist. Das Warum kann nur mit einer Geschichte beantwortet werden, als deren Subjekt sich das Selbst setzt. Sonst bliebe die Frage nach dem Ursprung einer Handlung auf ein isoliertes Ereignis bezogen, könnte aber somit nicht verstanden werden. Mit dem bezeugenden Verstehen (also mit dem VertrauensVorschuss, der der eigenen Geschichte gegeben wird) im Ausformu-
Vgl. ebd. Ebd. 135 Ebd. 136 Vgl. ebd., S. 34. 137 Dies führt er detailliert im letzten Abschnitt der letzten Untersuchung von Das Selbst als ein Anderer aus (vgl. ebd., S. 382–426, insbesondere S. 403–409). 133 134
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lieren einer Geschichte ist die Bezeugung ans Sein zurück gebunden, sie ist ontologisch, insofern sich mit ihr das Dasein im Sein erst verstehen kann. 138 Denn das Subjekt handelt nun einmal im Sein und vollzieht das sein, auch dann, wenn es mit dem Anderen an ein Jenseits-des-sein gebunden ist. Die doppelte Bezeugung, die mit dem Selbst auch den Anderen und dessen Einfluss auf die eigene Geschichte bezeugt, verhindert, dass sich das Dasein in einer imperialistischen Hybris über Andere erhebt und deren Tun und Leiden nivelliert. Die Selbstbezeichnung als Akteur einer Handlung ist untrennbar von einer Zuschreibung durch den Anderen, der das Selbst im Akkusativ als Urheber seiner Handlungen bezeichnet. 139 Die »Selbstschätzung« und der »vom Anderen ausgehende[…] Aufruf […] zur Gerechtigkeit« sind aufeinander bezogen. 140 Ricœur bestätigt damit, was wir bereits festgestellt haben (Kap. 2.3.1.): Das Gewissen, das uns ruft, ist ein Ruf von außen, ein Ruf des Anderen, den wir in unserem Inneren vernehmen. 141 Dieser Ruf ist sozusagen der Zeuge für die Bezeugung des Selbst. Ricœur erarbeitet mit seinen Ausführungen zur Bezeugung »das Aufgefordertsein als Struktur der Selbstheit.« 142 Im Unterschied zu Levinas löst er die asymmetrische Beziehung zum Anderen nicht einseitig auf – denn das, was Levinas übersieht, ist ja gerade die Geschichtlichkeit als In-Geschichten-sein des Daseins, das sich, um ein ethisches Verhältnis zum Anderen eingehen zu können, gleichursprünglich zu diesem Verhältnis seiner eigenen Geschichte versichern muss. Gleichursprünglich heißt, dass das Selbst weder hinter sein Verhältnis zum Anderen, sei dieser ein unmittelbar begegnender oder ein narrativ vermittelter Anderer, noch hinter seine eigene Geschichte zurück kann. Diese ist wiederum durchwoben von den Geschichten Anderer, die mitbezeugt werden müssen. Würde das Selbst, ohne dass es von sich selbst affiziert wäre, lediglich von einem äußeren Anderen aufgerufen werden, diesem beizustehen oder ihn zu vertreten, müsste es letztendlich als ein Roboter verstanden werden, der lediglich Anweisungen ausführt, aber nicht handelt. Ein Handeln, vor allem ein ethisches, orientiertes Handeln, fußt in einem Vertrau-
138 139 140 141 142
Vgl. ebd., S. 364. Vgl. ebd., S. 396. Ebd., S. 398. Vgl. ebd., S. 421. Ebd., S. 425.
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ensverhältnis zu sich selbst, welches letztendlich die Bewährung der eigenen Geschichten, samt ihrer Brüche, samt ihrer (auch tradierten) Schuldgeschichte ist. Dieses Vertrauensverhältnis zu sich selbst ist nun gerade keine selbstherrliche Affirmation als herrschaftliches Subjekt. Es ist nicht dem Verdacht enthoben. Der Verdacht bezeugt vielmehr, dass ich immer auch anders bin und handle, als ich sein und handeln will. Damit ist er die Instanz, die die Identifikation unterbricht, um sie neu einzusetzen. Er ist der Ausdruck des Nichtidentischen in der Identifikation des Selbst mit seiner Geschichte. Er muss nicht überwunden, sondern vielmehr integriert werden. Er ist damit nicht das Gegenteil der Bezeugung, das im Durchgang durch die Bezeugung überwunden werde, wie Ricœur meint. 143 Der Verdacht steht in einem dialektischen Verhältnis zum Vertrauen. Ein Verhältnis, das letztendlich die Bezeugung selbst ausmacht. Der Kredit, der Vertrauensvorschuss, den ich mir mit der Bezeugung prospektiv zuspreche, führt zwangsläufig wieder zum Verdacht – das heißt, der Verdacht führt schlicht und einfach zur Überprüfung meines Handelns. Er führt dazu, dass ich mir Fehler eingestehen kann, um mir letztendlich wieder vertrauen zu können. In Bezug auf den Anspruch der Vergangenheit, der sich in ihren Spuren zeigt, wird dieses Verhältnis von Verdacht und Vertrauen noch einmal angeschärft. Denn die uneinholbare Abwesenheit, auf die die Leere der Spuren hinweist, macht ja gerade unvertraut mit der individuellen wie kollektiven Geschichte. Sie macht die Lebenswelt verdächtig und weist auf weitere Spuren hin, auf weitere Leerstellen, die zwar Teil der Geschichte sind, sich aber dem Erzählen entziehen. Die Bezeugung des Selbst als In-Geschichten-sein, die auch diese Leerstellen bezeugt, ist durch die Verdächtigung des Unerzählten und Unerzählbaren aufgefordert, 144 das metaphorische sein-wie der Welt der Literatur in die Bezeugung mit einzubeziehen, was wiederum nur durch die Einbildungskraft geschehen kann. Darin artikuliert sich einerseits der Wunsch nach einer Umkehrung der Geschichte, der in der Vorstellung kulminiert, dass es auch hätte anders
Vgl. ebd., S. 365, S. 410. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass es trotz allem, was uns überliefert ist, stets diese dunklen Stellen gibt, die sich nicht ausfüllen lassen. Diese berühren nicht nur das subjektive Empfinden der Opfer der Geschichte, sondern auch jene Geschichten, die tatsächlich vergessen sind, dann aber gerade in ihrer Unzugänglichkeit in die Reflexion miteinbezogen werden müssen.
143 144
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sein können. Anderseits wird in der Bezeugung des metaphorischen sein-wie die Gegenwart zu den Opfern hin transzendiert, die in ihr eine Stimme bekommen müssen, wie es sich in den Gedichten Celans ausdrückt.
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Einige Grundzüge der Poetik Celans haben wir bereits kennen gelernt (Kap. 3.3.2.). Dort haben wir eine gewisse Nähe seines durchaus dialogisch zu nennenden Ansatzes 1 zum Konzept der Stellvertretung Levinas’ konstatiert. Der Leser wird durch die Lektüre gewissermaßen zum Stellvertreter des Anderen des Gedichts und zum Zeugen der Geschichte des Anderen, die sich im Gedicht entfaltet. Das heißt, er hält die Stelle des Anderen in der Wirklichkeit außerhalb des Textes offen, indem er auf die Spuren als Abwesenheit des Anderen in dieser Wirklichkeit hindeutet. Dies hat, wie anhand der Theorie der narrativen Identität Ricœurs aufgezeigt wurde, Auswirkungen auf das Dasein des Lesers selbst. Denn er erzählt sein Leben nun in Hinblick auf die Geschichten der abwesenden Anderen, muss sich vor ihren Geschichten rechtfertigen und als Subjekt seiner Erzählung behaupten. Damit behauptet und bezeugt er schließlich sein Dasein als von Schuld- und Leidensgeschichten durchdrungenes. Die Lektüre, die mit ihrem refigurativen Moment über den Akt des Lesens hinausgeht, kann somit als Eingedenken verstanden werden. Mit ihm wird der Leser zum ›historischen Materialisten‹ im Sinne Benjamins, der die Gegenwart in eine neue Konstellation zu den Bruchstücken der Vergangenheit setzt, sodass die Geschichten der Opfer der Geschichte in die Gegenwart als Jetztzeit einstehen und die Chronologie des alltäglichen Lebensverlaufes unterbrechen. 2 Diese Unterbrechung durch ein Anderes oder Fremdes ist ein zentrales Moment der Dichtung Celans. Ich möchte im Folgenden dieses Vgl. Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Dritter Band. Gedichte III. Prosa. Reden. Herausgegeben von Beda Allemann. Frankfurt: Suhrkamp 1992, S. 185–186. Hier: S. 186. 2 Gemäß den Ausführungen Marchesonis, der Jetztzeit wie Eingedenken als Konstellationen begreift, die zu einer »zeitliche[n], qualitativ-ethische[n] Unterbrechung […]« der Gegenwart führen (Marchesoni: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens, S. 295). 1
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Verhältnis zum Anderen auf der Grundlage von Celans poetologischen Ausführungen herausarbeiten, um seine Poetik schließlich an einigen ausgewählten Gedichten darzustellen und zu vertiefen. 3 Es wird sich zeigen, dass sich die bereits gewonnenen Erkenntnisse dieser Arbeit anhand der Dichtung Celans exemplifizieren und festigen lassen. Hier laufen, wie immer wieder angedeutet, alle Fäden zusammen.
5.1. Paul Celans Poetik als Poetik des Dialogs? Celan hat immer wieder die dialogische Grundlage seiner Dichtung betont. Das dialogische Prinzip, wie wir es bei Buber und Rosenzweig kennen gelernt haben, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Verständnis seines Werks. Es wird allerdings zu zeigen sein, dass Celan dieses Prinzip nicht einfachhin auf seine Dichtung überträgt. Vielmehr entwickelt er einen ganz eigenen dialogischen Ansatz. Dieser ist von Beginn an von einer Abwesenheit, vom Entzug eines Anderen gekennzeichnet. Und dies in doppelter Hinsicht: Der Andere, der im und durch das Gedicht spricht, ist derjenige, der faktisch in der Welt nicht mehr anwesend ist. Diese Feststellung ist kein Alleinstellungsmerkmal der Dichtungen Celans, gilt doch für jeden poetischen Text, dass sich in ihm eine Quasi-Welt behauptet, welche die außertextliche Wirklichkeit überschreitet (Kap. 4.1.). Allerdings ist auch die Anwesenheit des Anderen im Gedicht prekär. Er entzieht sich im Erzählen seiner Geschichte. Er hinterlässt eine Spur im Gedicht, das selbst schon Spur ist. Die Beziehung zum Anderen bricht also ab in dem Moment, in dem er im Gedicht, das der einzig mögliche Ort der Begegnung ist, begegnet. Damit wird die Funktion des Gedichts als Spur keineswegs abgeschwächt, sondern verstärkt. Mit Celans Gedichten lässt sich zeigen, dass die Möglichkeit eines Dialogs Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass sich (theoretische) Poetik und (praktische) Dichtung bei Celan nicht klar trennen lassen. So haben seine poetologischen Texte selbst schon den Charakter von Dichtung und seine Gedichte nehmen poetologische Überlegungen zumindest implizit auf, weshalb ich, wenn es um Celans Dichtungstheorie geht, bereits Bezug auf seine Gedichte (und Prosatexte) nehmen werde und vice versa. Denn Dichtungstheorie ist für Celan nichts der Dichtung Vorgängiges, nichts von ihr zu trennendes Akademisches, sondern vor allem eines: Die Praxis des Gedichts selbst, das heißt sowohl des Akts des Dichtens als auch der Lektüre, die schon Praxis ist und als solche in die Wirklichkeit wirkt, diese zu verändern.
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mit den Ermordeten gerade in der faktischen Unmöglichkeit des Dialogs begründet ist. Der Ansatz, den ich im Folgenden ausformulieren möchte, ist deshalb jedoch kein negativistischer oder gar defätistischer. Eine aufmerksame Lektüre seiner Texte setzt vielmehr die Produktivkräfte eines geschichtlichen Schuldverhältnisses frei.
5.1.1. Angereicherte Sprache und Begegnung Zunächst möchte ich auf zwei Texte Bezug nehmen, in denen die Verweise auf die Dialogphilosophie ganz eindeutig sind. Auf Celans Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen, die sogenannte Bremer Rede, 4 sowie auf einen seiner wenigen Prosatexte mit dem Titel Gespräch im Gebirg (1959). 5 Bereits der Titel dieses Textes verweist auf einen Abschnitt in Martin Bubers Dialog Daniel (1913), der mit Gespräch in den Bergen überschrieben ist. 6 Worum geht es in Celans Erzählung? Der Jude Klein tritt aus seinem Haus und geht ins Gebirge, »der Jud, der Jud und Sohn eines Juden, und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche, ging und kam, kam dahergezockelt, ließ sich hören, kam am Stock, kam über den Stein, hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andre, – er ging also, das war zu hören, ging eines Abends, da einiges untergegangen war, ging unterm Gewölk, ging im Schatten, dem eignen und dem fremden – […]«. 7
In diesem kleinen Ausschnitt wird schon einiges gesagt. Der Name ging mit dem Juden Klein und zwar der »unaussprechliche«. Hier wird auf Gott verwiesen, dessen Namen auszusprechen frommen Juden verboten ist. Aber es ist auch der Name des Juden Klein selbst, der (noch) unaussprechlich ist. 8 Vielleicht ein Verweis auf die Shoah, in Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen. Im Folgenden zitiert als Bremer Rede. 5 Celan, Paul: Gespräch im Gebirg. In: Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie. München: Beck 2000 (Beck’sche Reihe; Bd. 1379), S. 189–193. 6 Vgl. Buber, Martin: Daniel. Gespräche von der Verwirklichung. In: Ders.: Martin Buber Werkausgabe. Band 1. Frühe kulturkritische und philosophische Schriften. 1891–1924. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001, S. 183–246. Hier: 183. 7 Celan: Gespräch im Gebirg, S. 189. 8 Bemerkenswert ist, dass der Jude erst dann als Jude Klein benannt wird, als ihm sein 4
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der Menschen samt Namen und Geschichten vernichtet wurden. Deshalb ist mit dem Ich auch der Andere unterwegs, obwohl Klein doch ganz alleine ins Gebirge steigt. Der Andere – der Ermordete und dessen »fremde[r]« Schatten, der dem »eignen« zugesellt ist. So ging der Jude Klein »unterm Gewölk«, das wieder doppeldeutig ist. Nach dem Zweiten Buch Mose (13, 21–22) führt Gott die Israeliten in Form einer Wolkensäule aus der Ägyptischen Knechtschaft. Das Gewölk sind aber auch die Wolken über den Verbrennungsöfen der Vernichtungslager. Auch sie werden evoziert »eines Abends, da einiges untergegangen war«, nämlich »die Sonne, und nicht nur sie«, 9 wie es ganz zu Beginn des Textes heißt. Man wird sich kaum entscheiden können für eine abschließende Deutung. Ein Postulat Peter Szondis gilt meines Erachtens für die Lektüre Celans generell: »Wer Celans Schrift zu ›lesen‹ gelernt hat, weiß, daß es nicht darum geht, sich für eine der verschiedenen Bedeutungen zu entscheiden, sondern zu begreifen, daß sie nicht geschieden sind, sondern eins. Die Mehrdeutigkeit, Mittel der Erkenntnis geworden, macht die Einheit dessen sichtbar, was verschieden nur schien. Sie dient der Präzision.« 10
Dass die Mehrdeutigkeit nun gerade der Präzision dienen solle, scheint auf den ersten Blick widersprüchlich. Die Theorie der lebendigen Metapher kann dabei helfen, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Die Kraft der Neubeschreibung kommt ja gerade deshalb Gesprächspartner begegnet (vgl. ebd., S. 190). Dies ist ein weiterer Beleg für das dialogische Prinzip, welches der Erzählung zugrunde liegt: Erst mit der Begegnung kommt der Mensch zu sich und zu seiner Geschichte, an die er mit seinem Eigennamen gebunden ist. Erst mit der Begegnung kann er seine Namen- und Identitätslosigkeit überwinden. Dies geschieht allerdings erst ganz am Ende der Erzählung, wenn der Jude Klein seinen eigenen Namen und den seines Partners ausspricht (vgl. ebd., S. 193). Zuvor wird er lediglich von der Erzählinstanz als Jude Klein benannt. Die Erzählung beschreibt also ein schrittweises Zu-sich-kommen der eigenen Identität mittels des Dialogs, wie Stéphane Mosès darlegt (Mosès, Stéphane: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird.« Paul Celans »Gespräch im Gebirg.« In: Colin, Amy D. (Hrsg.): Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium/Internationales Paul Celan-Symposium. Berlin: De Gruyter 1987, S. 43–57. Hier: S. 45 f.), auch wenn diese Identität eine unsichere bleibt. 9 Celan: Gespräch im Gebirg, S. 189. Nicht nur die Sonne ist untergegangen, sondern auch die Ermordeten – und, so lässt sich mutmaßen, auch Teile der Identität der Überlebenden, für die der Jude Klein mit seinem beschwerlichen Weg zur Sprache und zur Identität stehen kann. 10 Szondi, Peter: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts. In: Ders.: Celan-Studien. Berlin: Suhrkamp 2016 (Bibliothek Suhrkamp; 330), S. 47–111. Hier: S. 111.
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Paul Celans Poetik als Poetik des Dialogs?
zustande, weil unterschiedliche Bedeutungen miteinander kollidieren und sich aus dieser Kollision die Notwendigkeit einer Neuschöpfung ergibt, die über den konventionellen Begriff hinaus geht, also einen Sinn- und Bedeutungsüberschuss generiert. Dies ist insofern präziser als die Reduktion auf eine Bedeutung, sei diese eine wörtliche des Lexikons oder eine metaphorische, als dass die Neuschöpfung all das mit einbezieht, was bedeutet werden könnte – die Neuschöpfung steckt also die gesamte Bandbreite aller möglichen Bedeutungen einer Aussage ab. Da sie sich nicht festlegt, enthält sie auch jene Bedeutungen als ihr Potential, die ihr vom Leser noch nicht zugesprochen werden. Ihre Kraft zur Neubeschreibung ist unerschöpflich. Bliebe es allerdings bei der gewohnten Assoziation oder würde man sich für eine Auslegung entscheiden, wäre dies in der im Text entfalteten Welt unpräzise, weil man so eine vorschnelle Übertragung der außertextlichen Welt auf den Text vornehmen würde. Die Bedeutungen des Textes entsprechen aber gerade nicht denen der Wirklichkeit des Lesers. Eine vorschnelle Übertragung würde die Bedeutungen des Textes verzerren. Im zitierten Textausschnitt von Gespräch im Gebirg sind es nicht unbedingt die semantischen Felder, die miteinander kollidieren, und so für neue Bedeutungen und Polyvalenzen sorgen. Es gibt letztendlich keine Paradoxa, die es aufzulösen gelte. Einen Text komplett als ›reine‹ lebendige Metapher zu verstehen, ist in der Lesepraxis selten möglich und würde eher für das bereits zitierte Mit erdwärts gesungenen Masten gelten (vgl. Kap. 4.2.). Was wir bei Gespräch im Gebirg allerdings feststellen können, ist eine Kollision der Vorannahmen des Lesers mit der im Text entfalteten Welt. So werden die Assoziationen von »Gewölk« in die im Text entfaltete Szenerie übertragen, u. U. durchkreuzt, und erhalten sodann dort, im Gebirge des Textes, ihre gültigen Bedeutungen. Ebenso muss der Leser wissen, dass mit »sein Name, der unaussprechliche« 11 Gott gemeint sein kann. In der Umgebung des Textes erhält diese allgemeine Vorstellung dann allerdings ihre spezifische Bedeutung, denn der unaussprechliche Name wird nun auch auf den Juden Klein bezogen. Der Jude Klein ist nicht nur in ein Verhältnis zu (s)einem unaussprechlichen Namen gesetzt. Er scheint auch selbst nicht verbal sprechen zu können. Er kommuniziert mit dem Stock, der über den Stein schlägt. Er fragt und spricht mit diesem Klopfen »hörst du mich, du hörst 11
Celan: Gespräch im Gebirg, S. 189.
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mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andre […].« 12 Wer spricht hier genau? Der Jude Klein? Gott? Der Andere, der bei ihm ist? 13 Jedenfalls scheint Klein viele Andere im Schlepptau zu haben, seine Ahnen (»der Jud, der Jud und Sohn eines Juden«) 14 sowie, neben seinem eigenen, auch den fremden Schatten, unter dem er geht. Oder ist der eigene Schatten derselbe wie der fremde, da die eigene Geschichte verwoben ist mit derjenigen der Vorfahren und Verwandten? Der Schatten scheint auch vom Gewölk selbst geworfen zu sein; hier drängt sich wieder die Assoziation der Krematorien der Vernichtungslager auf. Im Gewölk ist der eigene Schatten enthalten, aber auch fremde. Etwas vom Juden Klein stieg also mit in die Luft und wirft nun einen Schatten auf ihn, der ihm eigen und fremd zugleich ist. Ein Schatten, der vielleicht sogar der Schatten Gottes ist, der dies alles zuließ. Gott verschattet sich selbst, könnte man sagen. Auch hier zeigt sich die ganze, schier unabschließbare Produktivität der Lektüre. Und es können Motive identifiziert werden, die Celans gesamtes Werk durchdringen: Die Vorfahren (insbesondere die Eltern) und deren Weiterwirken (in Schuld und Erinnerung), Möglichkeiten und Grenzen der Sprache, die Auseinandersetzung mit dem Fremden (inklusive des Fremden im Eigenen), der sich entziehende, verschließende oder schweigende Gott. So geht es auch weiter: Im Gebirge trifft der Jude Klein schließlich auf den Juden Groß, der »um ein Viertel Judenleben ältre.« 15 Auch dieser kam »in dem Schatten, dem geborgten – denn welcher, so frag und frag ich, kommt, da Gott ihn hat einen Juden sein lassen, daher mit Eignem? […]« 16 Der Protagonist (bzw. der Erzähler; wer genau spricht, bleibt unklar) sieht einen fremden Schatten also nicht nur auf sich, sondern auf jedem Juden lasten. Auch hier stellt sich die Frage, um wessen Schatten es sich handelt: Gottes Schatten, der Schatten der ermordeten Angehörigen oder der Schatten der eigenen Erinnerung, Ebd. Auch Mosès stellt fest, dass sich an dieser Stelle kein Ich mehr identifizieren lässt und das Subjekt zerteilt sei »in verschiedene Virtualitäten […].« (Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 47). 14 Celan: Gespräch im Gebrig, S. 189. 15 Ebd., S. 190. Felstiner bemerkt, dass Celan in diesem Text und mit dem Juden Groß ein letztendlich nicht zustande gekommenes Treffen mit Theodor W. Adorno transponiere (vgl. Felstiner: Paul Celan, S. 187). 16 Celan: Gespräch im Gebirg, S. 190. 12 13
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der den Überlebenden von sich selbst entfremdet, da seine Geschichte nicht mehr zu trennen ist von Verfolgung und Vernichtung? Es entwickelt sich eine Rede zwischen Klein und Groß, die kein wirkliches Gespräch ist. Der Titel des Textes schafft Erwartungen, die der Inhalt nicht erfüllt. Denn die beiden Protagonisten finden kaum zueinander und auch nicht zur Natur, die sie umgibt. Vor ihren Augen hängt ein Schleier, »nicht davor, nein, dahinter, ein beweglicher Schleier; kaum tritt ein Bild ein, so bleibts hängen im Geweb, und schon ist ein Faden zur Stelle, der sich da spinnt, sich herumspinnt ums Bild, ein Schleierfaden; spinnt sich ums Bild herum und zeugt ein Kind mit ihm, halb Bild und halb Schleier.« 17
Die Wahrnehmung scheint hier von der Erinnerung umspinnt zu sein, ein Gewebe, das die Begegnung verstellt und zunächst vor den Augen zu hängen scheint, sie dann aber doch von innen her verdunkelt (das Motiv des Gewebes wird uns später noch einmal begegnen). Jedes wahrgenommene Bild wird umsponnen von einem Faden des Gewebes. Es gibt nichts, was sich der Erinnerung entziehen kann, sie zeugt mit den Bildern ihre Chimären. Das Aufdrängen einer Erinnerung, die nicht intendiert ist, ist quasi omnipräsent und permanent. Selbst in einem Gebirge, dessen eigentümliche Flora und Abgeschiedenheit wenig Anlass geben, an den Schrecken der Vergangenheit zu denken, verdunkelt diese jeden Blick. Es herrscht hier geradezu eine negative mémoire involontaire, die sich nicht beherrschen lässt, 18 aber anders als bei Proust nicht erst durch bestimmte Ereignisse oder Wahrnehmungen evoziert wird. Sie scheint zunächst auch keine spezifischen Erinnerungen hervorzurufen, sondern die Sprache ihrer Potenzen und Bedeutungen zu berauben, sodass sie alle Aussagekraft verliert, noch nicht einmal beschreiben kann und die Menschen von sich selbst und der sie umgebenden Natur dissoziiert: »Armer Türkenbund, arme Rapunzel! Da stehn sie, die Geschwisterkinder, auf einer Straße stehn sie im Gebirg, es schweigt der Stock, es Ebd. Dunker konstatiert eine »Umkehrung von Prousts Programm« durch den »Epochenbruch« des Holocausts in der Literatur: mémoire involontaire verheiße kein »Glücksversprechen« mehr, sondern sei eine »omnipräsente Bedrohung« (Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 295). Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es gerade dieser Einbruch absoluter Negativität ist, der den Anderen aus dem Gedicht heraus, wenn auch prekär, begegnen lässt.
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schweigt der Stein, und das Schweigen ist kein Schweigen, kein Wort ist da verstummt und kein Satz, eine Pause ists bloß, eine Wortlücke ists, eine Leerstelle ists, du siehst alle Silben umherstehn; Zunge sind sie und Mund, diese beiden, wie zuvor, und in den Augen hängt ihnen der Schleier, und ihr, ihr armen, ihr steht nicht und blüht nicht, ihr seid nicht vorhanden, und der Juli ist kein Juli.« 19
Klein konnte, als er noch alleine war, seinem Stock eine zumindest rudimentäre Sprache entlocken, einen Anruf, der vielleicht ein Echo auf den Anruf Gottes war oder aber auf die Antwort Gottes hoffte: »hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andre […].« 20 Er war dort, in seiner Einsamkeit, ›verdoppelt‹, mit sich und dem Anderen, den er in das Sprechen des verzweifelten Anrufs mit hineinziehen wollte. Jetzt allerdings stehen die Geschwisterkinder Klein und Groß wortlos auf einer Straße im Gebirge, vollkommen isoliert in einer Wortlosigkeit, die das Resultat ihres Zusammentreffens ist, sodass sie noch nicht einmal die sie umgebende Landschaft wahrnehmen können. Dennoch drängt es sie auch hier zur Sprache: Zunge sind sie und Mund. Doch die Sprache, die sie sprechen können, ist keine Sprache des Gesprächs, sondern »eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich – denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht, und nicht für mich –, eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das.« 21 Hier ist die Buber-Referenz explizit. Die Protagonisten sind der Zwingherrschaft des Es ausgesetzt, 22 die jede Begegnung zunichtemacht. Die Durchkreuzung der Begegnung zwischen Ich und Du vollzieht sich in Gespräch im Gebirg in zwei der drei Sphären, die Buber benennt: 23 Im Leben mit der Natur und im Leben mit den anderen Menschen. Auch die Beziehung zu Gott ist von Beginn an verhindert, wobei angedeutet wird, dass es Gott selbst ist, der sich verdunkelt und entzieht – dass Gott es ist, der die Menschen, insbesondere sein Volk, die Juden, verlassen hat, und nicht umgekehrt. Dann wird auch klar, dass das Klopfen des Stocks auf den Stein tatsächlich ein Anruf Gottes war, der seinerseits nicht antwortet und ein Niemand ist: »Er [der Stein] redet nicht, er spricht, und wer spricht, 19 20 21 22 23
Celan: Gespräch im Gebirg, S. 190. Ebd., S. 189. Ebd., S. 191. Vgl. Buber: Ich und Du, S. 50. Vgl. ebd., S. 10.
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Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund und nicht seine Zunge, sagt er und nur er: Hörst du?« 24 Niemand (großgeschrieben) und niemand (kleingeschrieben) hört auf den Ruf. Weder der göttliche Niemand noch der menschliche niemand, kann dies womöglich bedeuten. Vielleicht können deshalb niemand und Niemand den Ruf vernehmen, weil er nicht mit Mund und Zunge, sondern vermittelt gesprochen wird. Vermittelt über ein Drittes, ein Objekt, eine Substitution. Warum dies so ist, lässt der Text höchstens erahnen. Es mag am Schleier liegen, der ein unmittelbares Verhältnis zu Gott aufgrund der Erinnerungen verstellt und stattdessen die Dingwelt mit Negativität belädt – über die nun versucht wird mittelbar zu kommunizieren. Oder eben daran, dass sich Gott aus der Welt zurückgezogen hat und ohne ihn kein Dusagen möglich ist. Das ewige Du Gottes wäre dann zum Es geworden. Dann könnte das Folgende auf das trinitarische Gottesverständnis des Christentums bezogen werden, in dem ja ebenfalls eine Stellvertretung Gottes über einen Dritten formuliert wird, die ikonische Züge annehmen kann: »Und Hörstdu, 25 gewiß, Hörstdu, der sagt nichts, der antwortet nicht, denn Hörstdu, das ist der mit den Gletschern, der, der sich gefaltet hat, dreimal, und nicht für die Menschen […]«. 26 Im Christentum wird das Verhältnis zu Gott, zumindest traditionell, als über Jesus Christus vermittelt gedacht. »Hörstdu, […], der sich gefaltet hat, dreimal, und nicht für die Menschen […],« kann auf die Trinitätslehre bezogen werden. Die Gletscher sind eine Reminiszenz auf eine vorhergehende Textstelle, die sich auf die Sprache »ohne Ich und ohne Du« bezieht als eine nur mehr objektivierende Sprache, die mit der geologischen Formation des Hochgebirges korreliert, wo sich die Erde dreimal gefaltet hat, wo »das Wasser […] grün, und das […] Grüne weiß« 27 ist, überdeckt von Eis und Schnee. Die Prädikationen sind hier also vertauscht, aber sie führen nicht zu einer Neubeschreibung, sondern sind in ihrer Unwahrheit auf den Dingen festgeschrieben: Das Eis des Hochgebirges gibt sie nicht frei. Es liegt nahe, hierbei an eine christliche Dogmatik zu denken, die unveränderlich an ihrem Celan: Gespräch im Gebirg, S. 191. »Hörstdu«, so der Celan-Biograph John Felstiner, sei der von Celan erfundene Name Gottes, der sich auf das Schema Israel (»Höre, Israel«) beziehe (vgl. Felstiner: Paul Celan, S. 193). 26 Celan: Gespräch im Gebirg, S. 191 f. 27 Ebd. 24 25
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Absolutheitsanspruch festhält. Das Christentum, so lässt sich schlussfolgern, hat Gott verraten, weil es ihn in eine vermittelnde Instanz gebannt und zu einer Ikone gemacht hat. Es hat dem Göttlichen seine Transzendenz geraubt, es mit Weltlichem identifiziert, mit dem Stein (als Metonymie für Statuen oder Gottesbilder überhaupt), der nicht antworten kann; und es hat die Juden, die ein solches Gottesverständnis nicht anerkennen konnten, verraten, ausgegrenzt und verfolgt und zumindest ideologisch zu ihrer Vernichtung beigetragen. Der Stein ist es nun auch, der die omnipräsente negative mémoire involontaire mit einem erinnerten Inhalt füllt: »– Auf dem Stein bin ich gelegen, damals, du weißt, auf den Steinfliesen; und neben mir, da sind sie gelegen, die andern, die wie ich waren, die andern, die anders waren als ich und genauso, die Geschwisterkinder; und sie lagen da und schliefen, schliefen und schliefen nicht, und sie träumten und träumten nicht, und sie liebten mich nicht und ich liebte sie nicht, denn ich war einer, und wer will Einen lieben, und sie waren viele, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können, und, ich verschweigs dir nicht, ich liebte sie nicht, sie, die mich nicht lieben konnten, ich liebte die Kerze, die da brannte, links im Winkel, ich liebte sie, weil sie herunterbrannte, nicht weil sie herunterbrannte, denn sie, das war ja seine Kerze, die Kerze, die er, der Vater unsrer Mütter, angezündet hatte, weil an jenem Abend ein Tag begann, ein bestimmter, ein Tag, der der siebte war, der siebte, auf den der erste folgen sollte, der siebte und nicht der letzte, ich liebte, Geschwisterkind, nicht sie, ich liebte ihr Herunterbrennen, und, weißt du, ich habe nichts mehr geliebt seither; […].« 28
Die Erinnerungskette ist folgende: Der Stein, der für die verstellte Beziehung zu Gott steht und zugleich die Verfolgung der Juden durch das Christentum symbolisiert, wird zur Steinfliese, etwa des Gefängnisses, des Lagers, der Gaskammer. Nimmt man den Verweis auf das Christentum ernst, artikuliert sich in dieser Konkretion der Zusammenhang zwischen dem zunächst religiös motivierten Antijudaismus des Christentums und dem rassistischen Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten, zu dem jener letztendlich führte. Auf den Steinfliesen liegend findet sich das Subjekt vereinzelt, ungeliebt und nicht zur Liebe fähig: »denn ich war einer, und wer will Einen lieben, und sie waren viele, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können, und, ich verschweigs dir nicht,
28
Ebd., S. 192.
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ich liebte sie nicht, sie, die mich nicht lieben konnten […].« 29 Hier scheint es wieder zwei Sprechinstanzen zu geben, die in der Rede miteinander verschmelzen: Der eine und der Eine, Mensch und Gott. Sowohl der Mensch, der hier spricht, als auch Gott können in dieser Situation nicht mehr geliebt werden und selbst nicht mehr lieben. Sie können nicht geliebt werden, weil sie sich selbst der Liebe versagt haben. Die Vielen, die unzählbar sind, die Sterbenden und Ermordeten, sind weder von Gott noch vom Menschen geliebt, sonst wären sie nicht in dieser Situation. Mit dem Menschen, der dies zulässt, kehrt sich Gott von den Menschen ab. Celan formuliert hier die Theodizeefrage in ihrer Zuspitzung. Sie fällt zusammen mit der Überlebensschuld des Überlebenden. Das, was angesichts dieses Schreckens noch geliebt wird, ist eine Erinnerung in dieser Erinnerung, es ist das Herunterbrennen der Kerze, die mit der Sabbatkerze identifiziert wird, und die nicht als Gegenstand geliebt wird, wie Stéphane Mosès ausführt, sondern »um der Assoziation willen, welche ihre [erinnerte. Anm. D. M.] Betrachtung auslöst. Sie taucht auf im Gedächtnis als letzter Schein jener Welt, die verschwunden ist […], als Sinnbild der unwiederbringlichen Schönheit all dessen, was erloschen ist […]«. 30 Diese Erinnerung bleibt. Sie ist jedoch untrennbar mit dem Leiden, das auf sie folgte, verbunden. Auch über ihr hängt der Schleier. Die Kerze fungiert somit im Text für den Juden Klein und auch für uns als Rezipienten nicht als Gegenstand, der gemäß seiner konventionellen Funktion angesehen wird bzw. zu gebrauchen ist, sondern als »Grenz-Objekt«, wie Giovanni Tidona unter Rückgriff auf Mosès ausführt. 31 Wir haben diesen Begriff bereits im Zusammenhang mit der Zwischen-Welt kennengelernt (Kap. 1.3.3.). Grenz-Objekten komme, so Tidona, eine »anthropologische Rolle« 32 zu: Sie versammeln Menschen um sich, indem sie symbolische Bezüge schaffen, wie es die Kerze als Symbol des Sabbat tut. 33 Sie sind nicht, wie Gebrauchsgegenstände, ein Gegenüber, sondern »situieren sich in der Mitte« des Dialograums. 34 Diese VerEbd. Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 56. 31 Tidona: Ding und Begegnung, S. 214; vgl. Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 56. 32 Tidona: Dinge und Begegnung, S. 214. 33 Vgl. ebd., S. 216. 34 Ebd. Tidona rekurriert auf die Dingauffassung Heideggers, der dem vom Kunstwerk von seiner Gegenständlichkeit befreiten Ding die Möglichkeit der Versammlung 29 30
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sammlung in der Mitte schließt auch Abwesende, in diesem Fall die Toten und Ermordeten, mit ein, wie sie von Klein als Erinnerung in der Erinnerung evoziert werden. Mit den Grenz-Objekten werde die Eswelt rehabilitiert, 35 die Dinge werden zu Partnern des Gesprächs und zu Trägern von Geschichten, sie sind nicht mehr auf ihre Wozudingbestimmtheit (Schapp) reduziert. Celan zeigt in Gespräch im Gebirg, wie Dinge zu Grenz-Objekten werden, wie die Kerze, die als Erinnerung in der Erinnerung Menschen der Vergangenheit versammelt, sich allerdings ebenso verweigern können, wie die Pflanzen in der Umgebung der Gebirgslandschaft. Den Dingen in der Gegenwart der Erzählung, den Pflanzen und Vereinigung von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen zuspricht (vgl. ebd., S. 224 ff.). Eine solche Versammlung ist sozusagen die primordiale Begegnung schlechthin, die allerdings in der Anonymität des Alltags nicht stattfinden kann, und als ›Geviert‹ eine zentrale Denkfigur Heideggers. Das Kunstwerk oder das Gedicht schaffe eine ihm eigene Dimension, die Heidegger in seiner spezifischen Diktion »Unter-Schied« nennt (vgl. Heidegger, Martin: Die Sprache. In: Ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Band 12: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt: Klostermann 1985, S. 7–30. Hier: S. 23). Der »Unter-Schied« weise Dinge und Welt zueinander, lasse sie aber getrennt (vgl. ebd.). Sie gehen also nicht im jeweils anderen auf. Im Gedicht können sie quasi ›eigentlich‹ erscheinen. Die Sprache des Gedichts spreche als »Geläut der Stille« (ebd., S. 27), d. h. sie ist dem lauten oder unruhigen menschlich-weltlichen Sprechen enthoben. Es bedarf anscheinend dieser Ruhe, damit das Geviert sich konstituieren kann. Es kann an dieser Stelle nicht weiter auf Heideggers Sprach- und Kunstauffassung eingegangen werden. Mir scheint jedoch die regressive Tendenz, die sich bereits in Sein und Zeit zeigte (vgl. Kap. 2.3.1.), nicht überwunden zu sein. Denn es stellt sich die Frage, welchen Charakter das Sein hat, das im »Unter-Schied« des Gedichts als »Geviert« erschlossen wird. Es bezeichnet eine Wendung nach innen, in den »Innenraum des Herzens«, wie Heidegger in Wozu Dichter? schreibt (vgl. Heidegger, Martin: Wozu Dichter? In: Ders.: Holzwege. Frankfurt: Klostermann 1972, S. 248–295. Hier: S. 282). Dort aber werden die Dichter und mit ihnen womöglich auch die Leser an das »Geschick« gebunden und ihrer spezifischen Stellung versichert (vgl. ebd., S. 295). Zwar bleibt Heidegger wie gewohnt dunkel, was nun die herausragende Aufgabe der Dichter sei. Angesichts dessen, was er in Sein und Zeit über das »Geschick« schreibt (vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 384 f.), liegt es jedoch nahe anzunehmen, dass mit dem »Geschick« auch ein spezifisches ›heroisches‹ Schicksal verbunden ist. Aus dem Gedicht heraus findet, so mein Vorschlag Heidegger zu lesen, also keine Neubeschreibung oder Neuorientierung statt, sondern die Anbindung an ein unabänderliches Geschehen. Verantwortung und geschichtliche Schuld werden damit nicht erhellt, sondern negiert (vgl. Böning, Thomas: Fahlstimmig: Paul Celans ›Einspruch‹ gegen Das Wort Stefan Georges und Martin Heideggers. Ein Versuch. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jahrgang 1999 (Heft 3/September). Stuttgart: Metzler 1999, S. 529–561. Hier: S. 542 ff.). 35 Vgl. Tidona: Ding und Begegnung, S. 218.
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und Steinen des Gebirges, kommt keine versammelnde Kraft zu. Türkenbund und Rapunzel sind für Klein und Groß »nicht vorhanden«, 36 vom Schleier der Erinnerung verdeckt. Der Stein erscheint zunächst als ein Medium, das das Sprechen verstellt. Erst in der Assoziationsreihe, die dann mit ihm beginnt und zur Kerze führt, entfaltet sich die versammelnde Kraft. Die Erinnerung evoziert Erinnerungen, die nicht unmittelbar zugänglich sind. Bemerkenswert ist, dass die Kerze als Grenz-Objekt die erinnerten Menschen zurückdrängt: Nicht sie wurden geliebt, sondern das Herunterbrennen der Kerze. Die Menschen hingegen werden als Leerstellen in ihrer anwesenden Abwesenheit hinzugerufen und vermitteln dadurch ihr schmerzhaftes Fehlen. Die Erinnerung vermag sie nicht in ihrer Lebendigkeit zu erreichen. Das zeigt sich auch daran, dass sie gänzlich passiv erscheinen, während die Kerze immerhin brennt und herunterbrennt. Die »unwiederbringliche[…] Schönheit all dessen, was erloschen ist«, 37 die Mosès mit der Kerze assoziiert, ist also in der Erinnerung gebrochen eben durch das Verschwundene und Erloschene. Denn was erinnert wird ist nicht die Sabbatfeier, deren integraler Bestandteil ja gerade die Menschen sind, die den Sabbat begehen. Erinnert wird eine Kerze, die letztendlich für niemanden herunterbrennt. Somit ist es gerade diese Sabbatkerze, die die Erinnerung an den Sabbat obliteriert. Dieses um die Kerze versammelte Erinnerungsgeflecht nimmt der Jude Klein nun mit in sein Leben, denn der siebte Tag war nicht der letzte, 38 die Zeit ist nicht zu ihrem Ende gekommen. 39 Hier mag sich die Hoffnung artikulieren, dass es wieder einen Sabbat geben könne, der lebendige Menschen um die Kerze versammelt, die der Toten und Ermordeten eingedenk sind. Klein muss diese Erinnerungen mit seiner Identität bewähren, welche sich schließlich aus den Widersprüchen des Gesprächs im Gebirg herausbildet, ohne dass diese gänzlich aufgehoben werden könnten. 40 Mit der Sprache, die Begegnung schafft und nicht nur distanzierte Er, Sie, Es, ist die Welt verloren und auch Ich und Du. In Gespräch im Gebirg stellt Celan die Sprache zunächst in ihrer Verfallsform
36 37 38 39 40
Celan: Gespräch im Gebirg, S. 190. Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 56. Celan: Gespräch im Gebirg, S. 192. Vgl. Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 56. Vgl. ebd., S. 57.
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heraus, eine Sprache, die nach der Shoah nur noch als stammelndes, redundantes Geschwätz möglich zu sein scheint. Die Juden Klein und Groß sind die »Geschwätzigen«, 41 deren Schatten – die eigenen und die fremden – keine Begegnungen zulassen. Celan zeigt allerdings einen Weg auf, wie die Sprache wieder »stimmhaft« werden kann. 42 Sowohl Felstiner als auch Mosès weisen darauf hin, dass das Sprechen von Klein und Groß an das jiddische Idiom erinnere – also an jene Sprache der ermordeten osteuropäischen Juden und ihrer vernichteten Tradition. 43 Mosès schreibt: »Bei Celan […] kann die in ihrem innersten Vermögen getroffene Sprache von neuem erstehen, doch nur unter der Bedingung, daß sie ihre Schuld bis zum Ende auf sich nimmt: man könnte von einer Katharsis sprechen, die Celans Text hier sozusagen mit Gewalt an einer widerstrebenden Sprache vollzieht: (daher etwa die obsessive Wiederkehr des Wortes ›Jude‹, zumal in seiner pejorativ apokopierten Form ›Jud‹). Dieses Zurschaustellen der Sprache der Unterdrückten, die in parodistischer Verhöhnung gleichzeitig die ihrer Unterdrücker wurde (›der Jud und Sohn eines Juden‹) zeugt von tiefem Leiden, ja, von einem Hang zur Selbsterniedrigung, dabei aber auch vom Willen, das Tabu zu brechen: gerade dadurch, daß der Sprache der Opfer ihre Würde wiedergegeben wird, soll auch die verlorene Ganzheit der deutschen Sprache wiederhergestellt werden.« 44
Die Verbindung des Deutschen mit dem Jiddischen – zwei Sprachen, die ohnehin nahe miteinander verwandt sind – in Gespräch im Gebirg zeigt die Schuldbehaftetheit der deutschen Sprache auf. Der Jude Klein kann zu seiner Identität und damit zum Sprechen nur kommen, wenn er sich dieser Problematik aussetzt und die Sprache und ihre Beziehungsfähigkeiten und -unfähigkeiten durchschreitet – wofür metaphorisch der Spaziergang durchs Gebirge steht. Was hier auf Seiten des Überlebenden geschieht, bedarf einer Ergänzung auf Seiten derjenigen, die in andere Geschichten und Erinnerungen verstrickt sind. Auf Seiten all jener deutsch Sprechenden, die nicht zu
Vgl. Celan: Gespräch im Gebirg, S. 190 sowie S. 193. So heißt es später in der Meridian-Rede (vgl. Celan: Der Meridian, S. 11; vgl. ebenso den Verweis bei Felstiner: Paul Celan, S. 195 sowie den Titel von Mosès’ Aufsatz). 43 Vgl. Felstiner: Paul Celan, S. 193 ff.; Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 49 f. 44 Mosès: »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird,« S. 50. 41 42
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den in der Shoah Verfolgten und Ermordeten gehörten und gehören. Auch sie müssen im Ringen mit der Sprache die Entfaltung leid- und schuldbehafteter Wirklichkeiten reflektieren und damit zu einer Neubeschreibung und Umwandlung ihrer Wirklichkeit gelangen. Anderthalb Jahre zuvor, im Januar 1958, erhielt Celan den Literaturpreis der freien Hansestadt Bremen. Auch in der zu diesem Anlass gehaltenen Ansprache ist dem eigenen Schatten der fremde mitgegeben: Die Erinnerung. Celan setzt sein Danken für die Auszeichnung in einen direkten Bezug zum Denken, das für ihn ein Andenken, Gedenken, eingedenk sein ist. 45 Das Eingedenken ist tief in der jüdischen Tradition verwurzelt. Wir haben es – kurzgefasst – als »ever-fluid dialogue« 46 zwischen den Zeiten kennengelernt (Kap. 2.3.2.2.). Eingedenken bedeutet eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, ein Überschreiten von Raum und Zeit, also eine IchDu-Beziehung mit dem Vergangenen. Denken und Danken sind an das Andenken und Eingedenken gebunden. Ob es hier tatsächlich eine etymologische Verwandtschaft gibt, ist unerheblich. Wir haben bereits festgestellt, dass, was die existentielle Schuld angeht, das Verschuldet-sein ebenso ein Verdankt-sein ist und beides sich auf das Vergangene und Übernommene bezieht (Kap. 2.3.1.). Das Denken ist ebenso ein Dialog, der schon sprachlich geschieht, auch wenn er nicht artikuliert wird – hier können wir auf Rosenzweigs Sprachdenken verweisen (Kap. 1.4.). Insofern der Akt des Denkens immer eines Subjekts bedarf, das etwas denkt, ist das Denken auch je schon in Geschichten eingebunden, wie uns Ricœurs Theorie der narrativen Identität gezeigt hat (Kap. 4.3.). Denken weist somit in seinem Kern Strukturen des Eingedenkens auf, die freilich nicht immer realisiert werden (da es auch ein Denken gibt, das seine conscientia, sein Mitwissen vergisst). Celan verbindet dieses Denken und Eingedenk-sein mit seiner verlorenen Heimat, die er in seiner Rede evoziert: »Die Landschaft, aus der ich – auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? –, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges er45 46
Vgl. Celan: Bremer Rede, S. 185. Yerushalmi: Zakhor, S. 17.
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gänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten.« 47
Auch hier ist das nur scheinbar Unscheinbare zu beachten: Der Text jenseits des Textes, das Unerzählte, auf das der Text hindeutet. Celan lässt sein Publikum nicht in den Genuss einer wohlfeilen, schmeichelhaften Dankesrede kommen. 48 Subtil fordert er das Zuhören, die Aufnahme des Gesagten in das Denken der Angesprochenen, auf dass es zum Eingedenken werde. Er stößt sie auf das Verdrängte, auf all das, was ihnen – wir sind hier im Deutschland der 1950er Jahre – unbequem erscheinen muss, da es auch ihre Vergangenheit miteinbezieht. Die Umwege: Vertreibung und Vernichtung. Diese »Umwege« führen Celan aus der verlorenen Heimat vor sein Publikum. Und die Frage, ob es Umwege denn überhaupt gebe, legt nahe, dass er es als nahezu schicksalhaft ansieht, diese Rede nun in Bremen zu halten. Außerdem unterstreicht er damit, dass diese seine Wege mit in das Denken (und Sprechen) als Eingedenken hineingenommen werden müssen, und nicht als vermeintliche »Umwege« unbeachtet bleiben können. Auch das Nicht-wissen-wollen oder -können wird angesprochen: Den »meisten von Ihnen« dürfte diese Landschaft unbekannt sein. Die chassidischen Geschichten waren dort zu Hause, nun sind sie Geschichten einer vernichteten Tradition. Geschichten, die Martin Buber »uns allen« (also nicht ausschließlich Jüdinnen und Juden) wiedererzählt hat. Hier scheint doch ein Imperativ versteckt: Erinnert auch ihr euch an diese Geschichten! Seid eingedenk und euch auch eurer eventuellen Tätervergangenheit bewusst, die diese Menschen und Geschichten ausgelöscht hat! 49 Celan betont, dass es diese Menschen und Geschichten nicht mehr gibt, denn er benutzt das Präteritum. Er verbindet diese zentrale Aussage mit einem vermeintlichen Understatement: »Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen Celan: Bremer Rede, S. 185. Emmerich spricht im Zusammenhang der Bremer Rede von Celans »ironische[r], sarkastische[r], ja blasphemische[r] Seite […].« (Emmerich: Nahe Fremde, S. 109). 49 Bei Emmerich heißt es dazu in einer sarkastischen Explikation des von Celan Ungesagten, dass jene evozierte Landschaft vielleicht doch nicht allen unbekannt gewesen sei: »Manchen von Ihnen, verehrte Herren im Publikum, Männer in den besten Jahren, Honoratioren, ist sie möglicherweise nicht unbekannt, waren Sie doch vielleicht in dieser fernen Gegend als Soldaten der Wehrmacht oder als was auch immer.« (Ebd.). 47 48
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tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten.« 50 Das »von sehr weit her« wird in die Gegenwart seiner Rede gebracht und damit vor seine Zuhörerschaft. Das Danken ist hier demnach eine Aufforderung zum Gespräch. Ein Gespräch, in dem die Toten mitzusprechen haben, die fremden Schatten aus Gespräch im Gebirg, die den eigenen begleiten. Die Schatten jener, deren Geschichten »in dieser nun der Geschichtslosigkeit [Hervorhebung D. M.] anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie« 51 verwurzelt sind. Während in Gespräch im Gebirg das Gewebe der Erinnerung eine Begegnung der beiden Protagonisten zu verhindern scheint, ist hier das Andenken ein notwendiges Konstituens des Gesprächs. Auch die Landschaften, die evoziert werden, sind diametral entgegengesetzt. Das Gebirge ist eine Landschaft, die sich vor den Augen der Protagonisten gar nicht als solche entfalten kann und ganz von der Negation durch die mémoire involontaire überwuchert ist. Sie liegt unter dem Schatten des Gewölks. Sie ist obliteriert. Und auch die Erinnerung an die Kerze vermag die Toten nicht zu erwecken. Die Landschaft, die Celan in seiner Bremer Rede herauf beschwört, ist hingegen, obwohl er betont, dass es sie nicht mehr gibt, eine lebendige, von Menschen, Büchern und Geschichten bevölkerte. Sie lebt auf, gewissermaßen lebt sie weiter in der Evokation seiner Rede. Sie erscheint fast idyllisch. Sie ist nicht (oder noch nicht?) im Kontrast der Erinnerung gebrochen, wie das Herunterbrennen der Sabbatkerze in Gespräch im Gebirg. Womöglich muss das Milieu unterschieden werden, in dem die beiden ›Gespräche‹ stattfinden. Das Gespräch im Gebirg schildert die Unterhaltung zweier Juden – zweier Überlebender womöglich –, es ist eine Auseinandersetzung mit der geteilten Erinnerung von »Geschwisterkindern.« 52 Die Rede Celans aber ist an ein überwiegend nicht-jüdisches Publikum adressiert, das eine solche Erinnerung nicht hat. Dennoch wird der Appell deutlich: Die Angesprochenen müssen sich ohne Relativierungen auch den Opfern öffnen, den fremden Schatten, sich also ihrer eigenen schuldbehafteten Vergangenheit bewusst werden und diese mit ins Gespräch bringen, ohne diese Vergangenheit zurückzuhalten. 53 50 51 52 53
Celan: Bremer Rede, S. 185. Ebd. Celan: Gespräch im Gebirg, S. 190. Auch Emmerich sieht in der Bremer Rede letztendlich das Angebot zum Dialog, zu
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Die Sprache zeugt von all dem, auch sie ist voller fremder Schatten, aber dennoch »unverloren«, während die Landschaft und die Menschen dieser Landschaft – die Heimat – letztendlich doch verloren bleiben müssen: »Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem. In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.« 54
Das Verstummen und die Antwortlosigkeiten, beides wirkt noch nach, wie sich auch in Gespräch im Gebirg gezeigt hat. Aber auch die tausend Finsternisse sind noch gegenwärtig in der Sprache der Mörder – die Sprache schwieg nicht nur, sie war gewissermaßen an den Morden beteiligt, an Ausgrenzung, Entmenschlichung, Propaganda, Befehl (vgl. Kap. 2.3.4.2.). Von der Sprache der Dichtung bleibt, denkt man, nicht mehr viel übrig. Sie ist angereichert wie mit Schwermetallen, wie mit Blei. 55 Sie erscheint zwangsläufig zunächst dem die Zuhörer als Leser der Gedichte Celans aufgerufen werden, eine »großherzige, noble Geste«, die eine Perspektive auf Celans zukünftige Lyrik eröffne (Emmerich: Nahe Fremde, S. 110). 54 Celan: Bremer Rede, S. 186. 55 Vom komplizierten und ambivalenten Verhältnis Celans zur deutschen Sprache, zur deutschsprachigen Literaturtradition, zu Deutschland und den Deutschen, berichtet Wolfgang Emmerich im bereits zitierten Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Celan wurzelte tief in der deutschen Literatur (bis zurück zum Nibelungenlied; vgl. Emmerich: Nahe Fremde, S. 32) und Kultur. Diese Traditionslinien nahm er auf, zitierte sie und spitzte sie, nicht nur in der Todesfuge, auf sein Schicksal als deutschsprachiger Jude und die Geschichten der Ermordeten zu und sorgte so für radikale Brüche in ebendieser Tradition, auch und gerade, indem er (deutsch-)jüdische Traditionen mit ihr verwob bzw. ihr kontrastierend entgegenstellte (vgl. ebd., S. 46 ff.). All dies ist Ausdruck der Spannung zwischen Muttersprache und Mördersprache, die bestehen blieb: Celan »will und kann von der Muttersprache Deutsch als Dichtersprache nicht lassen – und zur gleichen Zeit bedrängt ihn die Mördersprache Deutsch in Gestalt ihrer noch lebenden Protagonisten.« (Ebd., S. 211) Die Muttersprache bleibt von der Mördersprache angereichert. Sie wurde zur Mördersprache, weil sie die Sprache der Mörder war, deren Taten nun auch von der Muttersprache nicht mehr zu lösen
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begegnungslos, als Sprache »nicht für dich und nicht für mich« und »ohne Ich und ohne Du.« 56 Dennoch versucht Celan sich in dieser Sprache Wirklichkeit zu entwerfen und Wirklichkeit ist Ich-Du, ist Begegnung. Ein Versuch, Richtung zu gewinnen. 57 Gedichte bewegen sich in eine Richtung, sie sind »unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.« 58 Das Gedicht drückt die Bemühungen des Dichters aus, der »mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.« 59 So schließt Celan seine Ansprache. Das Gedicht öffnet sich zum Dialograum, aus der unverlorenen, aber angereicherten Sprache, die ihr mitgegebene Ich-Es-Relation, wie sie uns Celan in Gespräch im Gebirg vor Augen geführt hat, öffnend zum Ich-Du. Damit hält es die Wunde offen. Sprachlosigkeit, die Verschleierung der Welt, die jede Begegnung unmöglich macht, und der Durchgang durch die Sprache hin zur Wirklichkeit des Ich-Du sind schließlich zwei Seiten derselben Medaille. Das Ich-Du bricht immer wieder ab, zieht sich zurück ins Verstummen, muss je neu begegnen und der Wirklichkeit abgerungen werden, um es in einer umgewandelten Wirklichkeit sprechen zu lassen.
sind (vgl. ebd., S. 29 f.). Unverloren kann sie unter dieser Voraussetzung nur dann sein, wenn diese grundsätzliche Beschädigung aufgenommen und reflektiert wird. Dies tut Celan auf seine Weise. Mit Verweis auf das frühe, in Reimen verfasste und seiner ermordeten Mutter gewidmete Gedicht Nähe der Gräber schreibt Emmerich: »Die Legitimität des Dichtens in deutscher Sprache, in den vertrauten Reimen wird, paradoxerweise, gebunden an das Urteil einer Toten, die doch eigentlich nicht mehr imstande ist, sich überhaupt zu äußern. Natürlich weiß das Paul Antschel [so Celans Geburtsname. Anm. D. M.] – und dennoch macht er die tote Mutter dauerhaft zu der Instanz, die über dieses Urteilsvermögen verfügt und deren Urteile der Sohn gleichsam in seinen Gedichten vollstreckt.« (Ebd., S. 30 f.) Dieses Einbeziehen der Ermordeten, die nicht mehr selbst sprechen können, wird Celan sein Leben und Schreiben lang begleiten. 56 Celan: Gespräch im Gebirg, S. 191. 57 Vgl. Celan: Bremer Rede, S. 186. Auch Bubers Gespräch in den Bergen aus Daniel handelt »Von der Richtung« (Buber: Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, S. 183). 58 Celan: Bremer Rede, S. 186. 59 Ebd.
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5.1.2. Das Mitsprechen des ganz Anderen im Gedicht Wie aber entfaltet sich nun dieser Dialog? Was bedeutet es, wenn der Dichter im Gedicht mit seinem Dasein zur Sprache geht? Angesichts dessen, was wir bisher festgestellt haben, ist das Gedicht nicht bloß eine Erweiterung des Sprechens des Dichters, das auch im Dialog Von-Angesicht-zu-Angesicht hätte stattfinden können. Der Dichter vermittelt im Gedicht nicht bloß das, was er auch anders hätte sagen können. Denn dann wäre das Gedicht lediglich eine Repräsentation des vor-poetischen Sprechens, eine bloße Verdoppelung einer Wirklichkeit, die außerhalb des Gedichts existiert. Die Überlegungen zur narrativen Identität haben gezeigt, dass die Konfiguration ein Mehrals-Leben ist, in dem die Erlebnisse zu Geschichte werden, die das Erlebte transzendiert und transformiert und in ihrem Rückbezug auf das Leben dieses über sich selbst erhebt, das heißt ihm Perspektiven eröffnet, die ihm ohne die Vermittlung durch das Gedicht nicht zugänglich wären. In der Bremer Rede hat Celan den Weg des Gedichts skizziert. Durch die angereicherte Sprache hindurch sucht es Richtung und Wirklichkeit. Es nimmt also diese angereicherte Sprache mit – oder reichert sich selbst mit dieser Sprache an. Durch diese Sprache hindurch gehen aber – zunächst in produktionsästhetischer Hinsicht mit dem Autor – die vergangenen Menschen und Geschichten einer zerstörten Welt. Die Vergangenheit wird also nicht einfach rekonstruiert. Vielmehr überschneidet sich in der Konfiguration das ›Es war‹ des Vergangenen mit dem ›Es ist nicht‹ der Gegenwart, woraus sich die Anwesenheit von etwas oder jemand Abwesendem generiert. Das Vergangene, das als Idyll einer Kindheitserinnerung erscheinen mag (›Es war‹), geht durch die angereicherte Sprache als seine Negation (›Es ist nicht‹) hindurch und wird transformiert. Schon für die Konfiguration durch den Autor ist ausschlaggebend, dass hier mindestens drei Entitäten in einen Dialog zueinander treten: Das ›Es war‹ der Vergangenheit, das ›Es ist nicht‹ der Gegenwart sowie der Autor selbst, durch den der Prozess des Zur-Sprache-und-Wirklichkeitschreitens geschieht. Damit sind, neben der Subjektivität des Autors, zwei weitere Subjektivitäten implizit gesetzt: Die in der Vergangenheit anwesenden Menschen und Geschichten sowie ihre ›Schatten‹ als in der Gegenwart Abwesende. Hier, im Schreiben wie im Lesen des Gedichts, findet also ein Eingedenken statt. Die Zeiten des ›Es war‹ und des ›Es ist nicht‹ überkreuzen sich in der Welt des Gedichts und 368 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
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bewirken die Hypostase einer anwesenden Abwesenheit als die das Gedicht erscheint und derart sowohl dem Autor als auch dem Leser entgegentritt. 60 Die ansprechbare Wirklichkeit, auf die das Gedicht zusteuert, ist also zunächst die im Durchgang durch die angereicherte Sprache in die Sprache des Gedichts eingegangene Wirklichkeit, die sich im Gedicht selbst entfaltet. Die metaphorische Realisierung von ›Es war‹ und ›Es ist nicht‹ ist als eigenständige Wirklichkeit nur im Gedicht ansprechbar, da faktisch eine solche Überkreuzung nicht geschehen kann. Der Autor als Medium dieser Realisierung überwindet seine im Schreiben tätige empirische Subjektivität mit dem Abschluss des Gedichts. Er geht als Person in das Gedicht ein, beziehungsweise ist ihm als Person mitgegeben, wie es in einer Notiz Celans heißt. 61 Diese Person ist kein Alter-Ego, keine Projektion der empirischen auf eine fiktionale Identität, sie ist kein ›lyrisches Ich‹, das den Autor im Text vertreten würde, worauf Charles de Roche hinweist. 62 Sie wird geradezu zu einer eigenständigen, autonomen Entität. Man kann sagen, dass die metaphorische Realisierung des Gedichts als Person selbst noch die Metaphorik übersteigt und sich das Gedicht nicht als sein-wie, sondern als tatsächliches Sein behauptet, womit es, so De ›Es war‹ und ›Es ist nicht‹ sind als Modifikation der Seinsbehauptung der metaphorischen Wahrheit bei Ricœur zu verstehen, in der die verdoppelte Referenz zugleich auf sein und nicht-sein verweist (vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 290). Im Unterschied zum ›ist‹ und ›ist nicht‹ bei Ricœur (vgl. ebd., S. 240 f., S. 290 f.) manifestiert sich die Welt bei Celan in der Konfiguration des Gedichts auch in einem zeitlichen Spannungsverhältnis oder in einem Abbruch, insofern das ›Es war‹ nicht zu einem ›Es ist‹ werden kann, sondern seine Gegenwärtigkeit nur im Entzug des Seins als ›fremder Schatten‹ des anwesenden Abwesenden im ›Es ist nicht‹ oder auch ›Es ist nicht mehr‹ realisiert. Der Person des Gedichts (oder dem Gedicht als Person) ist immer noch ein Anderer mitgegeben, der auch im Gedicht nicht vollständig zu erreichen ist beziehungsweise sich immer wieder entzieht. Diese Modifikation ist als Erweiterung, nicht als Ersatz zu verstehen, zumal sich beide Überkreuzungen nicht immer klar voneinander trennen lassen. 61 Vgl. Celan: Der Meridian, S. 116 (Frgm. 325/36). 62 Vgl. De Roche, Charles: Monadologie des Gedichts. Benjamin, Heidegger, Celan. München: Fink 2013, S. 189. Im Folgenden wird deshalb die Formulierung ›lyrisches Ich‹ vermieden, ebenso der Ausdruck ›Lyrik‹, da Celan selbst durchgehend von Dichtung oder Gedicht spricht. Dazu heißt es in einer nachgelassenen Notiz: »Ich sage Gedicht und verstehe darunter ein sprachliches Gebilde, das sowohl von der Dichtung als auch von der Lyrik für sich in Anspruch genommen wird. ›Lyrik‹ und ›Lyriker‹, das sind Prägungen des beg. 19. Jhdts.« (Celan, Paul: Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt: Suhrkamp 2005, S. 134). 60
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Roche, zu einem »ursprünglichen Sprechakt[…] [wird], der niemals als Text, als selbstidentische strukturell fixierte Rede, gegenwärtig war.« 63 Doch ist damit nicht alles, was wir zuvor über den Text gesagt haben, hinfällig? Meines Erachtens handelt es sich bei der Vorstellung, dass die Gegenwärtigkeit der Person im Text den Text selbst von seiner Textualität loslöst, 64 keinesfalls um einen Widerspruch zur Vorstellung einer (metaphorischen) Behauptung einer Wirklichkeit durch den Text, sondern um deren notwendige Erweiterung, insofern Textualität hier semiotisch verstanden wird, das heißt als konkrete Realisierung eines allgemein verständlichen Zeichensystems. Was De Roche hier auszudrücken versucht, ist letztendlich dem, was wir mit Ricœur festgestellt haben, recht ähnlich, nämlich die Tatsache, dass es kein dem Text vorausgehendes vor-poetisches Sprechen gibt, auf das der Text zurückzuführen wäre. Denn sonst könnte sich die verdoppelte Referenz nicht entfalten, die Eigenständigkeit des Textes wäre aufgehoben. Vielmehr ist das Gedicht der Ursprung seiner Sprache selbst, die zwar auf Seiten der schöpferischen Produktion durch die angereicherte Sprache hindurchgeht, diese aber nicht im Text reproduziert, sondern eine ›andere‹ Sprache in der Überkreuzung von ›Es war‹ und ›Es ist nicht‹ generiert, die sich von der angereicherten Sprache der außertextlichen Wirklichkeit abhebt. Das Gedicht als ursprünglicher Sprechakt behauptet eine tatsächliche Wirklichkeit, der begegnet werden kann, die aber, damit ihr begegnet werden kann, nicht mit der vor-poetischen Wirklichkeit zusammenfallen darf. Szondi artikuliert dieses Spannungsverhältnis, das wohl für die meisten Gedichte Celans gilt, in seiner Interpretation von Engführung: »Ein Gelände des Todes und der Trauer ist dieser Text. Man könnte sagen, der Leser sei in eine Landschaft verbracht, wo Tod und Schatten herrschen – die Toten und ihr Gedächtnis. Doch eine solche Interpretation scheitert wiederum an der Textualität einer Landschaft, die nicht Gegenstand des Gelesenen, sondern das Gelesene selbst ist.« 65
In der Terminologie verschieden, doch in der Aussage De Roches Darlegung ähnlich, ist, was Szondi ausführt. Zwar sieht er die Textualität des Textes nicht überwunden, sondern verstärkt. In der Konsequenz führt dies aber ebenso dazu, dass das Gedicht (s)eine eigene Realität 63 64 65
De Roche: Monadologie des Gedichts, S. 189. Vgl. ebd. Szondi: Durch die Enge geführt, S. 51.
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wird, die keine metaphorische Repräsentation von etwas anderem mehr ist. Dies macht Szondi unter anderem an den folgenden Versen von Engführung fest: »Lies nicht mehr – schau!/ Schau nicht mehr – geh!« 66 Dazu schreibt er: »Heißt das, der gelesene Text und das geschaute Bild sollten einer Realität weichen, die dem Leser-Zuschauer ermöglichte, zu gehen? Ja und nein. Denn: keineswegs wird die Fiktion der Textualität, der Dichtung aufgegeben zugunsten der Wirklichkeit. Nicht die rezeptive Passivität des Leser-Zuschauers soll schwinden vor der angeblich realen Aktion, dem Engagement. Im Gegenteil: der Text als solcher weigert sich, weiter im Dienst der Wirklichkeit zu stehen und die Rolle zu spielen, die ihm seit Aristoteles zugedacht wird. Die Dichtung ist nicht Mimesis, keine Repräsentation mehr: sie wird Realität. Poetische Realität freilich, Text, der keiner Wirklichkeit mehr folgt, sondern sich selbst als Realität entwirft und begründet.« 67
Freilich wäre es irrsinnig, zu behaupten, dass das Gedicht nicht schon auf einer Sprache oder Vorstellungswelt beruht, die vor ihm bereits da gewesen sein muss. Aber wie wir mit Ricœur gesehen haben, werden die Bezüge zu dieser vor-poetischen Sprache (zunächst) durch den Text aufgeschoben, auch wenn sie schließlich wieder in die Sprache jenseits des Gedichts zurückkehren. Das Gedicht als (entstandener) Text ist ursprungslos beziehungsweise ist es sein eigener Ursprung und hebt die Repräsentationsfunktion auf, insofern es als ursprünglicher Sprechakt in Erscheinung tritt und für nichts steht, außer für sich selbst und das in ihm Entfaltete. 68 Die Sprache, die sich im Gedicht aktualisiert, tritt mit ihrer Aktualisierung wieder »in den Bereich des Möglichen zurück«, 69 generiert also in ihrem Aufscheinen im Gedicht ihre eigenen Bedeutungsmöglichkeiten, die einzigartig nur in diesem Gedicht gültig sind, womit sich das Gedicht als ursprüngliches Sprechen realisiert: »Sprache in statu nascendi also, freiwerdende Sprache.« 70 Mit Levinas können wir sagen: Das Gedicht Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 117. Szondi: Durch die Enge geführt, S. 52. 68 In einer Notiz Celans heißt es: »!!Nirgends von der Entstehung des Gedichts sprechen; sondern immer nur vom entstandenen Gedicht!!« (Celan: Der Meridian, S. 94 (Frgm. 165)). Dies heißt nicht, dass es keine Entstehung des Gedichts gibt. Wir haben ja gesagt, dass der Autor durchaus das Medium der Realisierung des Gedichts ist. Sobald es allerdings entstanden ist, geht die empirische Subjektivität des Autors im Gedicht auf, wird ihm ›mitgegeben‹. 69 Ebd., S. 104 (Frgm. 239). 70 Ebd. 66 67
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widerruft das Gesagte (Kap. 3.3.). Der Zusammenfall von Akt und Potenz bewirkt, dass die Sprache im Gedicht nicht über ihr Geborenwerden hinauskommt – oder anders gesagt: dass das Geborenwerden bereits ein Sterben ist. Das Gedicht als entstandenes und ursprungsloses geht nicht im Ein-für-alle-Mal eines Textkörpers auf, sondern gebiert sich und stirbt als sein Text beziehungsweise – um die Dynamik herauszustellen – als seine Welt, die also eine lebendige ist, ein unaufhörlicher Selbstentwurf. Sobald sich die Sprache im Gedicht entfaltet, entzieht sie sich wieder in ihre bloße Möglichkeit, in ihr unverwirklichtes Potential. Ihre Aktualisierung ist ein Selbstwiderruf. Ihrer Behauptung in der jeweiligen Aktualisierung korrespondieren ihre immer unverwirklichten Möglichkeiten – also all das, was sie je bedeuten könnte, aber im reinen Akt nicht bedeutet und niemals vollständig bedeuten kann. Sie produziert unaufhörlich différance, insofern sie ihre Möglichkeiten niemals vollständig einholen kann. Sie ist immer neu und immer anders, weshalb ein Gedicht auch niemals zweimal gelesen werden kann, was ja bedeuten würde, dass sich die Möglichkeiten im Akt voll entfalten würden und als Wirklichkeit aufrechterhalten blieben. Die Sprache im Gedicht ist somit immer das, was sie nicht ist – nämlich eine andere Sprache und die Sprache eines Anderen. Der oder das Andere ist ihr inhärent. Sie hebt sich damit nicht nur von der Sprache der Wirklichkeit außerhalb des Gedichts ab, sondern immer auch von sich selbst. Hierzu gibt es ein aufschlussreiches Fragment Celans: »Die Vorstellung, der Dichter sei vor allem ein Meister seiner Sprache, kommt der Wirklichkeit des Dichterischen vielleicht am nächsten, legt aber nur einen der Zugänge frei. Denn die Sprache der Dichtung ist immer auch schon die andere Sprache, deren erstes Wort den Dichter in ein neues Sprachgeschehen hineinreißt, dem er sich mehr oder minder unbewußt überantwortet. Auch die schärfste Introspektion gestattet keine restlose Übersicht in dieses Geschehen – und stellt dergestalt den Begriff übersehbarer Erfahrungen in Frage. In der Weise etwa, daß das Gedicht die Mitwisserschaft dessen, der es ›hervorbringt‹, nur so lange duldet, als es braucht, um zu entstehen. Denn jedes Gedicht erhebt notwendig den Anspruch auf Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, in jedem Gedicht wird der Wirklichkeit ein für allemal Schach geboten, ist die ganze Wirklichkeit auf eine Handbreit Bodens zusammengedrängt, und in dieser – königlichen! – Bedrängnis, die nicht nur eine räumliche[,] sondern auch eine zeitliche ist, wird ihr die Chance zuteil, sich im Gegenüber mit dem dichterischen Wort (in dem wiederum die ganze [im Original gesperrt. Anm. D. M.]
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Sprache, d. h. die Sprache als Möglichkeit und Fragwürdigkeit zugleich mitenthalten ist) zu behaupten. Kein Dichter, der aus dieser Einmaligkeit nicht wieder entlassen würde, würde sich je wieder unterstehen, ein zweites Gedicht zu schreiben.« 71
Celan deutet an, dass der Dichter seiner Subjektivität durch die andere Sprache entäußert wird und die andere Sprache quasi für ihn schreibt – und in einer Inversion zu seinem ›Meister‹ wird. Diese andere Sprache drängt die Wirklichkeit innerhalb des Gedichts zusammen, ›verdichtet‹ sie und bricht mit dieser Verdichtung die Referenz auf ein Außen, aus dem die empirische Subjektivität in das Gedicht tritt, ab. Nur so können mit dem dichterischen Wort die ganze Sprache und mit der zusammengedrängten Wirklichkeit die ganze Wirklichkeit – also auch die ganze Geschichte – miteinander in Beziehung treten, was ›faktisch‹, also außerhalb des Gedichts, unmöglich ist. Aus dieser »Bedrängnis« entsteht die Welt des Gedichts. Wenn das dichterische Wort die ganze Sprache »als Möglichkeit und Fragwürdigkeit zugleich« enthält, so wird deutlich, dass sich diese Sprache als Sprache des Gedichts in einem Ringen mit sich selbst befindet, wie wir oben anhand von Aktualisierung und Möglichkeit bereits festgestellt haben. Den Worten kommt nicht mehr (nur) ihre objektive Bedeutung zu, die sie mit ihrem referentiellen Bezug auf ein Außen hatten. Als dichterische sind sie auf ihre Möglichkeit und Fragwürdigkeit innerhalb des Gedichts geworfen, das heißt, sie tragen ihre Negation in sich und sind nicht mehr identisch mit sich selbst, weshalb sie sich je wieder aktualisieren müssen, ohne die eine feste Bedeutung je zu erhalten. Mit ihrer Möglichkeit realisiert sich zugleich ihre Fragwürdigkeit, weshalb die Aktualisierung nicht aufrechterhalten werden kann. Die Behauptung des ›Es war‹ wird vom ›Es ist nicht‹ gebrochen. Die »ganze Wirklichkeit« steht im Gedicht nun dieser Dynamik entgegen. Sie wird aufgefordert, sich trotz des Selbstwiderrufs des ›Es war‹ im ›Es ist nicht‹ zu behaupten. Sie ist sowohl zeitlich als auch räumlich in Bedrängnis, ihr ist also lediglich der Raum und die Zeit gegeben, die ihr die dichterische Sprache im Gedicht zugesteht. Geographische und chronologische Fixierungen werden aufgelöst bzw. in das Gedicht gebannt. Die Wirklichkeit kann nicht fliehen, ihr Raum und ihre Zeit sind das Hier und Jetzt des Gedichts, in dem sie geboren wird und vergeht.
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Celan, Paul: Mikrolithen, S. 102.
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Diese doppelte Prekarität von zusammengedrängtem Raum und zusammengedrängter Zeit kommt einem Heraussprengen der Wirklichkeit aus dem raum-zeitlichen Kontinuum gleich und macht das Gedicht zu einer Monade im Sinne Benjamins, die eine Beziehung zum Vergangenen als Jetztzeit herstellt: »Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.« 72
Das Gedicht steht als heraus gesprengte Welt in die empirische Welt ein. Es markiert eine Differenz, die, sowohl im Prozess des Schreibens als auch im Prozess des Lesens, die Subjektivität von Autor und Leser aus der empirischen Welt in die des Gedichts zieht, dorthin, wo die andere Sprache ›herrscht‹. Mit ihr und gegen sie – in einer unaufhörlichen Auseinandersetzung, die im Finden von Bedeutungen und deren Zerstörung besteht – kann der Leser für die unterdrückte Vergangenheit im Hier und Jetzt des Gedichts einstehen. Da sich das Gedicht selbst widerruft und sich als Absterben der Möglichkeiten seiner Sprache in ihrer Verwirklichung realisiert, kann der Leser für die unterdrückte Vergangenheit nur einstehen, wenn er zum Zeugen des Zusammenbrechens der Bedeutungen und des Abbruchs der Kommunikation mit dem Vergangenen wird. Es ist auf der Seite des Zeugen, das Gedicht und dessen Wahrheit zu bewähren, dem fremden Schatten des im ›Es ist nicht‹ entgleitenden ›Es war‹ als dem Anderen des Anderen des Gedichts zu begegnen. Heißt das nun, seinen Tod zu bezeugen? Celan schreibt in einem Brief an Ingeborg Bachmann, »dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. […] Auch meine Mutter hat nur dieses Grab.« 73 Hier darf das auch nicht untergehen: auch eine GrabBenjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703. Bachmann, Ingeborg; Celan, Paul: Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle
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schrift und ein Grab. De Roche bezieht den Tod als Prinzip des Gedichts weniger auf den Inhalt als auf Struktur und Funktion, ähnlich dem, was wir oben gesagt haben, als vom Geborenwerden und Sterben der Sprache die Rede war. Der Tod, so interpretiert er eine Notiz Celans, 74 sei mit dem Gedicht gesetzt, insofern das Artikulierende mit dem Artikulierten als seine textuelle Gestalt absterbe. 75 Zugleich bleibe er besetzbar, insofern im Gedicht als Personwerdung des Ich dieses zum Du als seinem Tod vorlaufe. Ergo die Personalpronomina des Gedichts immer wieder und unabschließbar einen Lebens- und Sterbensprozess vollziehen, weshalb der Tod als je neu zu besetzendes Movens der Personwerdung mit dem aktiven Prinzip des Gedichts zu identifizieren sei. 76 De Roche geht also davon aus, dass das Gedicht, verstanden als Monade, der ›Spiegel‹ nicht des ewigen, unzerstörbaren Universums ist, wie Leibniz in seiner Monadologie behauptet, 77 sondern als personenhafte Entsprechung der »Seelenmonade Mensch« 78 dessen Sterblichkeit und Vergänglichkeit übernimmt, womit »[d]ie monadologische Theorie des Gedichts […] die Theorie eines ›zerstörbaren‹, eines sterblichen Sprechens« 79 ist.
Celan-Lestrange. Hrsg. und kommentiert v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 2009 (suhrkamp taschenbuch 4115), S. 127. Der Kontext ist eine antisemitische Rezension von Celans Gedichtband Sprachgitter von Günter Blöcker, in der dieser Celans Dichtung den Bezug zur Wirklichkeit abspricht und dies obendrein mit der jüdischen Herkunft Celans verbindet (vgl. hierzu Celans Einschreiben an die Redaktion des Berliner Tagesspiegels, in dem die Rezension Blöckers erschienen war: Celan, Paul: ›etwas ganz und gar Persönliches‹ Briefe 1934–1970. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert v. Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 391 f.; zu diesem Vorfall vgl. Emmerich: Nahe Fremde, S. 116 ff.). Diese unterstellte Wirklichkeitsferne musste Celan als Grabschändung verstehen: »Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber.« (Bachmann; Celan: Herzzeit, S. 127) Blöcker übersah, ob gewollt oder nicht, das konstitutive Element der Dichtung Celans: Dass sich die Wirklichkeit in seine Dichtung einschreibt, dort zur eigenen Wirklichkeit wird und von dort aus ihrerseits die Wirklichkeit neu beschreibt. 74 »Der Tod als Einheit und Grenze schaffendes Prinzip, daher seine Allgegenwart im Gedicht. – Das Gedicht als Personwerdung des Ich: im Gespräch – die Wahrnehmung des anderen und {f} Fremden. Das aktive Prinzip also ein so oder so gesetztes (›besetzbares‹) Du. – (der Tod als Du?)« (Celan: Der Meridian, S. 116 (Frgm. 321). 75 Vgl. De Roche: Monadologie des Gedichts, S. 190. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. ebd., S. 187. 78 Celan: Der Meridian, S. 113 (Frgm. 301). 79 De Roche: Monadologie des Gedichts, S. 193.
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Damit ist das Gedicht, wie Celan im zitierten Brief an Bachmann schreibt, auch Grabschrift, insofern es als Schrift, als Text tot ist – und damit zugleich eine unauslöschliche Spur der Toten in der Wirklichkeit. 80 Es ist jedoch nicht ausschließlich Grabschrift, insofern es im Sprechen und in der Entfaltung eines Dialogs lebendig wird, auch wenn es, sonst wäre es nicht lebendig, dabei sterblich bleibt – und in diesem Prozess ja auch, wie De Roche meint, seine Textualität, zu der hin es abgestorben ist, überwindet und sich als Ursprung seiner selbst konstituiert. 81 Es ist diese Bewegung des Sterbens eines Sterblichen, die vom Leser als Zeugen mit-vollzogen, mit-getragen werden muss. Er muss letztendlich die Überkreuzung von ›Es war‹ und ›Es ist nicht‹ in einem ›Es wird sein‹ – nicht auflösen, sondern bewähren. Doch so weit sind wir noch nicht. Wir haben bisher die ›Grenzen‹ des Gedichts, also die Ebene der Konfiguration (die als Konstruktion einer sinnvollen Ganzheit auch auf Seiten des Lesers stattfindet) nicht verlassen. Wir müssen uns nun noch einmal fragen, welche Person es ist, die in der anderen Sprache spricht, in diesem sterblichen Sprechen, deren Zeuge schließlich der Leser werden soll. Schon im Gespräch im Gebirg haben wir gesehen, dass der Person des Gedichts sowohl der eigene als auch der fremde Schatten mitgegeben sind. Das heißt, die Personen oder Subjekte des Gedichts besetzen zwar im Akt des Lesens ihre Positionen immer wieder neu, begegnen immer wieder erneut, sind allerdings nicht beliebig austauschbar. Sie kommen – beladen mit dem fremden Schatten – aus einer bestimmten Geschichte. Eine Geschichte, die die Sprache angereichert hat und der auch die andere Sprache des Gedichts Tribut zahlen muss. Wenn wir gesagt haben, dass das vor-poetische Sprechen im Gedicht aufgehoben ist und das Gedicht sein eigener Ursprung ist und sich in diesem ständig selbst widerruft, dürfen wir nicht vergessen, dass die Wahrnehmung des Gedichts als derart selbständig nur ein Moment der Lektüre ist, wie wir anhand der dreifachen mimēsis zeigen konnten (Kap. 4.3.1.). Der poetische Text greift ja bereits auf ein Handeln und Erleiden zurück. Was wir nun festgestellt haben, ist, dass sich dieses Handeln und Erleiden als Gedicht (und eben nicht als außertextliche Wirklichkeit; der Leser handelt und leidet freilich nicht derart wie die im Gedicht Ein »Textgrab«, das »die abwesende Anwesenheit der Toten« herstellt (Werner, Uta: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik, S. 88). 81 Vgl. De Roche: Monadologie des Gedichts, S. 189. 80
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aufgerufene Person) je aktualisiert, das heißt immer wieder neu erfahren wird und neu ausgelegt werden muss. Der Leser wird in der Interpretation immer wieder auf sich selbst, auf seine Kenntnisse, Erwartungen und Verstehensweisen zurückgeworfen. Dies gilt ebenso für den Autor. Denn auch er ist zunächst eine empirische Subjektivität. Er schreibt seine Erfahrungen und Erinnerungen dem Gedicht ein und macht es damit zur Spur, die zunächst ein Zeichen seiner Abwesenheit ist – als Zeichen der Abwesenheit dessen, der dem Gedicht mitgegeben ist und sich in seinem Gedicht seiner empirischen Subjektivität entledigt hat. Sein Erleben ist also nur über diese Spur zugänglich. Celan spricht in der Meridian-Rede anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises am 22. Oktober 1960 von Daten, konkreten historischen Ereignissen, die dem Gedicht eingeschrieben sind – er nennt hier den »20. Jänner« als Tag der Wannseekonferenz. 82 Es scheint ein Widerspruch zu sein, das Gedicht als eine solche Spur zu deuten, welche auf ein konkretes Ereignis zurückzuführen ist, und ihm zugleich jene Flüchtigkeit und Fragilität des Hier und Jetzt, den »Akut des Heutigen« 83 zuzusprechen. Dieser vermeintliche Widerspruch wird durch jenen monadologischen Ansatz gelöst, den wir skizziert haben. Der Ursprung des Gedichts wird von ›außen‹ in das ›Innere‹ des Gedichts verlagert – indem die Daten ihm eingeschrieben werden. Der »20. Jänner« ist der »20. Jänner« des Gedichts, er ist keine Repräsentation des historischen 20. Januar 1942. Allein deshalb kann sich das Gedicht im Hier und Jetzt entfalten, kann die Sprache des Gedichts in statu nascendi sein und das Gedicht sein eigener Ursprung. Das Ereignis des eingeschriebenen Datums zeigt sich aus dem Gedicht heraus, ohne dass man ein Geschichtsbuch konsultieren müsste, um dieses Ereignis zu Vgl. Celan: Der Meridian, S. 8. Celan rekurriert damit zugleich auf den 20. Jänner, an dem Büchners Lenz durch das Gebirge geht (vgl. Büchner, Georg: Lenz. In: Ders.: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. Wiesbaden: Insel 1958, S. 85–111. Hier: S. 85). In Celans Rede, in der er immer wieder auf Büchner und dessen Erzählung (sowie auf dessen Dramen) zu sprechen kommt und sie mit seiner eigenen Poetik verwebt, verkreuzen sich also die historischen Daten mit den literarischen Topoi Büchners sowie mit Celans Gegenwart, wie es auch für Celans Gedichte, insbesondere für die Gedichte aus Die Niemandsrose gilt, in denen »geographische Punkte, zeitliche Daten und existentielle Erfahrungen ›in eins‹« gesetzt werden (Lehmann, Jürgen: »Gegenwort« und »Daseinsentwurf«. Paul Celans Die Niemandsrose. Eine Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S. 11–35. Hier: S. 24, ähnlich S. 26, Anm. 49). 83 Celan: Der Meridian, S. 4. 82
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rekonstruieren. So kann das Gedicht seiner Daten eingedenk bleiben, aber trotzdem gegenwärtig sprechen. 84 Und es »spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache.« 85 Diese allereigenste Sache ist, so Celan weiter, »eines Anderen Sache […] – wer weiß, vielleicht […] eines ganz Anderen Sache.« 86 Das Gedicht ist also selbst schon Zeuge. Zeuge einer anderen, einer ganz anderen Person, die offensichtlich selbst nicht (mehr) sprechen kann. Hier finden wir wieder jene Überkreuzung von ›Es war‹ und ›Es ist nicht‹, mit der die Gegenwärtigkeit des Gedichts und die Anwesenheit des sprechenden Du in ihm auf eine tiefere Abwesenheit verwiesen bleibt. 87 Die Welt des Gedichts, die sich dem Leser als Monade gibt, hat also noch einmal einen monadischen Charakter in sich selbst, insofern das Gedicht in sich noch einmal in die Tiefen der Zeit hinabtaucht und diese als Abwesenheit (das ›Es ist nicht‹ im ›Es war‹) in seine Gegenwart bringt. Der Andere des Gedichts steht und spricht für den ganz Anderen. Dies führt uns noch einmal zum Zusammenfall von Aktualität und Potentialität. Denn insofern das Sprechen des Anderen auf einen ganz Anderen verweist, der nicht (mehr) selbst sprechen kann, muss die Aktualisierung des Sprechens im Gedicht zwangsläufig auf seine (des ganz Anderen im Anderen) unverwirklichten Möglichkeiten zurückfallen. Der Andere des Gedichts ist somit auf ein Nichtidentisches verwiesen, welches weder er noch der Leser ganz einholen können. Zwar formuliert Celan die Hoffnung auf eine »Atempause« als ein Zusammentreffen des ganz Anderen »mit einem nicht allzu fernen, einem ganz nahen ›anderen‹ […].« 88 Jedoch bleibt das oder der ganz Andere Vgl. ebd., S. 8. Ebd. 86 Ebd. 87 Celan spricht von einer Dunkelheit, die dem Gedicht mitgegeben ist, und die nichts Nebulöses an sich hat, sondern den Entzug des ganz Anderen meint, und dem Fernen und Fremden zugeordnet ist (vgl. ebd., S. 7) und schließlich die Sterblichkeit des Menschen selbst berührt: »Die Dunkelheit des Gedichts = die Dunkelheit des Todes. Die Menschen = die Sterblichen. Darum zählt das Gedicht, als das des Todes eingedenk bleibende, zum Menschlichsten am Menschen.« (Ebd., S. 89 (Frgm. 130)). 88 Ebd., S. 8. Es ist auffällig, dass Celan das »nicht allzu ferne[…], ganz nahe[…] ›andere[…]‹« an dieser Stelle klein schreibt und es damit deutlich sowohl vom ganz Anderen als auch vom Anderen abgrenzt. Eine Möglichkeit wäre, das ›andere‹ als Pronomen zu verstehen, das einer Ergänzung bedarf oder zumindest potentiell ergänzt werden kann. Der ›andere‹ kann dann in etwa der andere Mensch sein, der von jenseits des Gedichts als Leser herantritt – im Unterschied zum ganz Anderen des Anderen, der als der mitsprechende Tote in anwesender Abwesenheit nur aus dem Gedicht kommen kann. Gerhard Buhr bestimmt in seiner detaillierten Untersuchung 84 85
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immer das Inkommensurable des Anderen 89 und muss schließlich verstummen. 90 Für den Leser gilt es nun, die Herausforderung dieses ganz Anderen im Anderen des Gedichts, diese Beziehung, die zugleich Bruch ist (Levinas), 91 anzunehmen und aufzunehmen und sich mit seinem Sein an die Seite des ganz Anderen zu stellen, um zu verstehen: »Das Verstehen eines Gedichts ist eine Weise des Mit-ihm-Sein-Könnens: das Gedicht ist immer dazu bereit …« 92
5.1.3. Die Atemwende Wie aber versteht der Leser ein Gedicht? Wie konstituieren sich Ich und Du dieser Begegnung? Wie kann man mit-sein mit dem Gedicht? Es heißt zunächst, den Spuren zu folgen, die das Gedicht in sich aufzeigt. Mit dem Gedicht in die »allereigenste Enge« 93 gehen, um sich dort freizusetzen. Und damit »in die Nähe der Utopie […]« 94 zu gelangen. Utopie: Das ist hier wirklich der Nicht-Ort, die zerstörte zur Meridian-Rede das ›andere‹ als »Pronomen und Numerale zum Nomen und Singularetantum das ›ganz Andere‹« (Buhr, Gerhard: Celans Poetik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 90), das »in der Ferne der Reflexionsdistanz« (ebd., S. 91) zu diesem erscheine. Es handle sich dabei um eine »Selbstbegrenzung«, die verhindere, dass das »Zusammentreffen« mit dem ganz Anderen zu einem »Zusammenfallen« werde (ebd.), womit das Gedicht nicht mehr »angesichts des ›ganz Anderen‹« sprechen könnte (ebd.). Buhr verdeutlicht mit seinen Ausführungen die Komplexität und Dynamik der Begegnung mit dem Gedicht: Dichter und Leser werden sich ›ein anderer‹, sind also nicht mehr mit sich selbst identisch. Nur so kann das flüchtige Zusammentreffen mit dem ganz Anderen geschehen. 89 Vgl. Celan: Der Meridian, S. 141 (Frgm. 485/57). Inkommensurabel ist, so meine ich, das ganz Andere sowohl gegenüber dem anderen Menschen als Leser als auch gegenüber dem Anderen des Gedichts, es ist »das Unbekannte, aus dem e{r}s auf dich zukommt – wie du auf ihn dieses andere.« (Ebd.) In dieser Notiz betont Celan die Reziprozität der Begegnung: Beide, der/das Andere des Gedichts sowie der Leser kommen aus einem dem Anderen jeweils Unbekannten aufeinander zu – aus der jeweils »eigene[n] Zeit« und dem jeweils »eigenen Raum« (ebd.). Ich möchte den/das ganz Andere(n) des Anderen jedoch nicht ausschließlich als ihm eigentümliche und dem Leser unzugängliche Sphäre begreifen, sondern ebenso als eine weitere dritte Person, die sich auch dem Anderen des Gedichts entzieht. 90 Vgl. ebd., S. 8. 91 Vgl. Levinas: Eigennamen, S. 11. 92 Celan: Der Meridian, S. 140 (Frgm. 481). 93 Ebd., S. 11. 94 Ebd.
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Landschaft, die vernichteten Menschen, denen das Verstehen gilt – es heißt mit dem Gedicht »Toposforschung« zu betreiben, wie Celan sagt, »im Lichte der U-topie.« 95 Toposforschung im Lichte also der Überkreuzung des ›Es war‹ mit dem ›Es ist nicht‹, denn die Orte, die es zu finden gilt, gibt es nicht mehr. Was Celan hier aus der Perspektive des Autors beschreibt, gilt ebenso für den Leser: Auch er muss die Welt durchschreiten, die sich im Gedicht entfaltet. Der Leser verbleibt in der Nähe der Utopie oder in ihrem Licht, er kommt aber nie dorthin, die Utopie zu realisieren. Auch die im Gedicht entworfene Wirklichkeit bleibt wund, bleibt eine Wunde. Das Gedicht ist das »Gegenwort«, 96 welches wie eine Gegen-Geschichte zur Geschichte des Lesers in dessen Wirklichkeit einsteht und ihn befremdet, bevor es ihn befreit. Als dieses Gegenwort konstituiert das Gedicht sich zum Pol der Begegnung. Es erscheint als das Andere des Lesers, so wie der Leser ihm als sein Anderer erscheint: »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.« 97 Das Gedicht selbst harrt auf Antwort. Es sucht die Aufmerksamkeit des Lesers und erweckt sie vielleicht sogar durch seine vermeintliche Unzugänglichkeit, durch die Dunkelheit, in die sich der ganz Andere wieder zurückzieht. Das Gedicht wird, wenn der ihm zugewandte Leser es befragt und es anspricht, zum Gespräch und oftmals zum »verzweifelte[n] Gespräch«, 98 in welchem, so lässt sich mutmaßen, nicht alles zur Sprache gebracht wird, was zur Sprache drängt: »Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese Ebd., S. 10. Ebd., S. 3. 97 Vgl. ebd., S. 9. 98 Ebd., S. 9. Tidona bindet das »verzweifelte[…] Gespräch« an das Gedicht als Gegenwort. Denn dieses sei nicht lediglich das für den Dialog notwendige Wort eines Gesprächspartners im Sinne einer »Gegen-Rede«, sondern vor allem ein »Widerspruchsauslöser«, als der es »einen Bedeutungsgegensatz und eine […] Zweideutigkeit zur Geltung bringt: Gegen-Sinn, der sich gegen die Logik der Wahrheit bzw. die Wahr-Falsch-Sprache wendet […].« Das Gespräch könne daher nur »ver-zwei-felt sein; solch eine Ver-zwei-flung impliziert zu-zweit-Sein ebenso wie Zwei-deutig-keit und Zwie-bestimmt-heit.« (Tidona: Ding und Begegnung, S. 154 f.). 95 96
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eine, einmalige, punktuelle Gegenwart –, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.« 99
Diese Sätze könnten auch bei Buber stehen. Das Gedicht wird zum Du, wenn das Ich des Lesers es anspricht und nennt. Es versammelt sich um den Gesprächspartner und wird in seiner Unmittelbarkeit gehalten, im Zwischen des Gesprächs, und nicht in der Eswelt. Das Gedicht als Gegenwort sucht also die Begegnung, sucht eine Verbindung zu dem, der sich ihm zuwendet, ja es kann nur in dieser Begegnung ›sein‹, und zwar als Du. Doch was geschieht dann? Es bringt sein Anderssein mit. Im Hier und Jetzt sprengt sich die Zeit des Anderen ein und tritt in ein Verhältnis zur Zeit des Lesers. Beide sind, so könnten wir mit Benjamin sagen, in der Jetztzeit miteinander verbunden. Auffällig ist, dass Celan hier nicht mehr zwischen dem Anderen und dem ganz Anderen unterscheidet, jedoch die Zeit des Anderen betont. Geht man davon aus, dass die Zeiten hier miteinander verschmelzen – nur in diesem kurzen, flüchtigen Moment –, kann dies die von Celan erhoffte »Atempause« sein, in der der ganz Andere mit dem ganz nahen »anderen« zusammentrifft. 100 Weiter heißt es: »Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer ›offenbleibenden‹, ›zu keinem Ende kommenden‹, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage – wir sind weit draußen.« 101 Zu beachten ist, dass Celan hier plötzlich von dem Gedicht als Ding spricht. Die Begegnung scheint vorüber, das Gedicht ist mit dem Offenbaren seiner Zeit vom Du zum Es geworden. Der Leser ist wieder in seiner Welt und in seiner Zeit. Und die Frage nach dem Woher und Wohin des Anderen des Gedichts bleibt offen. Doch dem Leser wurde eine Richtung gegeben, aus der heraus er – weit ›draußen‹ in seiner Welt – jene Toposforschung betreiben kann, deren Ausgangspunkt die Überkreuzung des ›Es war‹ und des ›Es ist nicht‹ des Gedichts ist. Das Gedicht hat mit seinen »Grenz-Objekten« die Wirklichkeit um sich versammelt, 102 es hat u-topische Topoi geschaffen, die der Leser nun in seiner Lebenswelt zum Sprechen bringen kann – in einer aus dem Gedicht heraus freigewordenen und aktualisierten Sprache. Celan: Der Meridian, S. 9 f. Ebd., S. 8. 101 Ebd., S. 10. 102 Vgl. Tidona: Ding und Begegnung, S. 214. 99
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Wenn Celan schreibt, dass sich das Gedicht trotz seiner »Neigung zum Verstummen« 103 – wenn die Begegnung mit dem ganz Anderen abbricht – weiterhin behaupte und zwar »am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück […]«, 104 so heißt dies nichts anderes, so lässt sich zumindest interpretieren, als dass der Leser nun in seinem Sprechen das Gedicht behaupten muss. Denn derjenige, der am Rande des Gedichts ist, ist, wenn die Begegnung vorbei ist, der Leser – er ist ›weit draußen‹ in seiner Welt, aber der Ruf des Gedichts hallt nach. Das Immer-noch ist ein Sprechen, »aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht. Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.« 105
Hier zeigt sich, wie Celan Gegenwart und Präsenz mit der Beständigkeit des Immer-noch zusammendenkt. Beide Pole der Begegnung individuieren sich im Gedicht. Sie individuieren sich in den von der Sprache gezogenen Grenzen, also im dichterischen Wort. Celan schiebt ein, dass dies nicht für alle Gedichte gelten könne, sondern nur für Gedichte desjenigen, »der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht.« Dies ist derjenige, der das Gedicht, in das hinein er sich entäußert, als sterbliches Sprechen begreift, welches eben immer – im Gegensatz zu einem statischen Begriff von Kunst, die sich als Abbild der Ewigkeit begreift – 106 neu erscheint und neu erschlossen werden muss. Vgl. Celan: Der Meridian, S. 8. Ebd. 105 Ebd., S. 9. 106 Die Meridian-Rede ist der Versuch ein solches Kunstkonzept, das sich der Personenhaftigkeit des Gedichts, seiner Sterblichkeit und Einmaligkeit widersetzt, in die Schranken zu weisen. In einer Notiz zu einem unverwirklichten Vortragsprojekt Von der Dunkelheit des Dichterischen, das zum Teil in die Konzeption der Meridian-Rede Einzug fand, findet sich folgende Kritik an der Kunstauffassung Gottfried Benns: 103 104
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Das Gedicht bedarf des Lesers, um die erschlossenen Möglichkeiten außerhalb des Gedichts zu behaupten – denn wir haben ja gesehen, dass diese im Gedicht selbst widerrufen werden. Celan beschreibt damit einen Vorgang, der dem der Refiguration Ricœurs sehr ähnlich ist. Diesen Prozess, den Celan »Atemwende« 107 nennt, möchte ich nun noch einmal zusammenfassen: 1) Der Atem stockt, das Gedicht verschlägt den Atem: Das Ich, als das der Leser an das Gedicht herantritt, wird befremdet und frei von sich selbst 108 und seinen mitgebrachten Verstehensweisen. Die absolute Fremdheit des Gedichts befreit vom je Eigenen und setzt damit erst die Potentiale der Person frei, die nur dann handeln und umkehren kann, wenn sie von sich selbst frei wird. 2) Atempause: Nun kann auch das Gedicht in den Augen des Rezipienten für sich selbst stehen, »in seiner eigenen, allereigensten Sache« 109 sprechen; also in der Sache »eines ganz Anderen« 110: In der Sache der Ermordeten. Es wird in diesem Sinne absolut, zumindest für einen kurzen Moment: Die Wirklichkeit, die in ihm zusammengedrängt ist, wird zur eigentlichen Wirklichkeit, die für sich besteht und keine Bezüge mehr zum Äußeren kennt, die sie relativieren könnten. Der direkte Weltbezug wird aufgeschoben, wie wir bei Ricœur gesehen haben. Die Zeit des Gedichts wird zur Zeit des Lesers. 3) Der Atem ändert seine Richtung: Das Ich kehrt aus dem Gedicht zu sich selbst zurück; mit dem Fremden sozusagen als Gepäck. Dieses Ich hat sich im Gedicht konstituiert, d. h. seine Identität verändert. Jetzt ist der Bezug zur Außenwelt wiederhergestellt: Der Meridian, 111 der in das Gedicht führte, wendet sich nach außen und wird wieder zu einem Anfang, 112 insofern das Gedicht nun in der Welt anfängt zu wirken – aus seinem Verstummen heraus. Der Atem des Lesers orientiert sich am Ausatmen, am Aushauchen des Gedichts,
»Das Gedicht ist ebensowenig ewig wie das Dasein dessen, zu dem es, wenn es ein Gedicht ist, gehört. Nicht das den ›Unsterblichen‹ verewigende Denkmal bringt uns das Gedicht nahe; sondern der Atem dessen, der – sterblich – durch das Gedicht geht.« (Celan: Mikrolithen, S. 142). 107 Vgl. Celan: Der Meridian, S. 7. Atemwende ist ebenso der Titel des 1967 veröffentlichten Gedichtbands. 108 Vgl. Celan: Der Meridian, S. 7. 109 Ebd., S. 8. 110 Ebd. 111 Zum Meridian vgl. auch Kap. 3.3.2. 112 Vgl. Celan: Der Meridian, S. 12.
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das ihn verlässt: »[…] Atem, das heißt Richtung und Schicksal.« 113 Das Bild des Meridians beschreibt also die Bewegung eines Neubeginns aus dem Gedicht heraus: Eine Neubeschreibung der Wirklichkeit sowohl des Dichters als auch des Lesers durch das Gedicht aus dem Immer-noch einer »aktualisierte[n] Sprache.« 114 Anfang und Neubeschreibung aber sind gebunden: Der Meridian verbindet Zeiten und Orte, Menschen miteinander und führt dann in sich selbst zurück. 115 Um sich freizusetzen muss man, als Ebd., S. 3. Buhr schreibt, die Begegnung mit dem Gedicht als Atemwende könne »die Wende von der Inspiration zur Exspiration, vom selbstvergessenen zum freigesetzten Ich bedeuten.« (Buhr: Celans Poetik, S. 69) Mit dem Aushauchen des Gedichts, also dem Nachvollzug seiner Sterblichkeit, entfaltet es seine Wirkung im von ihm freigesetzten Ich. Auch David Brierley spricht von einer »inspiratorischen Atemwende.« (Brierley, David: Der Meridian. Ein Versuch zur Poetik und Dichtung Paul Celans. Frankfurt: Lang 1984 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur; 809), S. 157) Die Exspiration, die den Weg und die Richtung aufzeigt, führt erneut zur Inspiration – zur Stellvertretung. Man kann vielleicht sagen, dass es der ganz Andere des Gedichts ist, der vom Leser Raum und Zeit zum Atmen bekommt. Dem entspricht die »Differenz des zweierlei Fremden«, deren doppelte Bedeutung Buhr als Voraussetzung dafür sieht, dass die Dichtung »nicht in Verstummen und Tod« endet (Buhr: Celans Poetik, S. 76): Das Fremde in seiner Andersheit und das Fremde des Abgrunds. Diese doppelte Bedeutung wird vom Ich des Lesers, das sich mit dem Gedicht neu ausgerichtet hat, übernommen. Der Abgrund, der unter dem ganz Anderen des Gedichts aufbricht, raubt den Atem – doch er zwingt auch dazu, neuen Atem zu schöpfen, weiterzuatmen und dabei den Anderen nicht zu vergessen. 114 Celan: Der Meridian, S. 9. 115 Celan schreibt in einem Brief an Nelly Sachs vom 28. 10. 1959: »Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes.« (Celan, Paul; Sachs, Nelly: Briefwechsel. Hrsg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1993, S. 121) Der Meridian verbindet hier also zunächst Menschen, die ihren Schmerz teilen können, weil sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Jüdin Nelly Sachs lebte nach ihrer Flucht aus Deutschland in Stockholm und war eine der intimsten Briefpartnerinnen Celans. Auch später evoziert Celan das Bild des Meridians, so in einem Brief vom 23. 04. 1968 an einen Bekannten aus der Bukowina, Gideon Kraft, in Bezug auf seine »Landsleute […]« in Israel (Celan: ›etwas ganz und gar Persönliches‹, S. 806), sowie an denselben Adressaten am 07. 05. 1968, wenn er explizit von »meine [m] (Czernowitzer) Meridian« schreibt (ebd., S. 814). Die »Meridiane« im letzten Gedicht von Die Niemandsrose mit dem Titel In der Luft legen eine ähnliche Auffassung nahe (Celan: Die Gedichte: Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 170 f.). Aufgrund der dialogischen Konzeption von Celans Poetik und der Verwendung des Begriffs in der Büchnerpreisrede ist jedoch davon auszugehen, dass ein Meridian auch zu jenen Menschen verlaufen kann, die Celans jüdische Erfahrung nicht teilen, nämlich dann, wenn sie sich dem Gedicht zuwenden und es sprechen lassen. Zumindest scheint dies die (letztendlich vielfach enttäuschte) Hoffnung Celans gewesen zu sein. 113
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Dichter und Leser, mit dem Gedicht in die »allereigenste Enge« 116 gehen. Es ist eine durchaus biblisch zu verstehende Umkehr (Teschuwa), die der Atem und mit ihm das Selbst auf dem Weg des Meridians vollzieht: Das Fremde des Gedichts führt zum Eigensten, zur Selbstheit (Ipséité). Der Meridian gibt eine Richtung vor – vom Anderen her –, der ich folgen muss, um mir selbst zu begegnen, meine Geschichte vollständig erzählen zu können. Dies gilt für Celan als Überlebenden, aber auch für uns, die wir seine Gedichte lesen. Die sich im Gedicht entfaltende Welt verpflichtet uns, jene Toposforschung zu betreiben, die die verlorenen Orte und ermordeten Menschen wieder zusammenführt, auch wenn diese Arbeit freilich niemals abzuschließen ist, immer prekär und gewissermaßen unmöglich bleibt. Die Bedeutungen, die im Gedicht wieder in sich zusammenfallen und widerrufen werden, müssen vom Leser in seine Welt übernommen werden und in dieser Welt bewahrt und bewährt werden. Dass sich die Bedeutungen im Gedicht selbst nicht festhalten lassen, kann hierbei durchaus ein Vorteil sein, denn es zwingt zu einer ständigen Revision der Lektüre, die somit die Lebenswelt des Lesers immer wieder und immer weiter umformt und immer neue Perspektiven eröffnet. Der Leser, so hieß es bei Szondi, solle sich nicht für eine der verschiedenen Bedeutungen entscheiden. 117 Man kann diese Aussage nun erweitern und sagen, dass man nicht lediglich die verschiedenen Bedeutungen als Einheit betrachten kann, sondern dieser Einheit ein Bruch oder eine Durchkreuzung der jeweiligen Bedeutungen inhärent ist, die sich nicht überwinden lässt. Der Leser muss nun diese Bewegung durch das ›Es war‹ und das ›Es ist nicht‹ des Gedichts, deren Kollision die Bedeutungen auflöst, in einem ›Es wird sein‹ der Zeugenschaft bewähren. Die abgebrochenen und unverwirklichten Geschichten müssen in der Lebenswirklichkeit des Lesers weiterhin mitsprechen können, auch wenn ihre Subjekte notwendigerweise verstummen müssen. Der Leser muss die Daten und die einzigartigen Geschichten der Menschen, die mit ihnen zusammenhängen, durch das Gedicht hinein schreiben in die Welt, in die Orte, die Häuser und Plätze, die durchwaltet sind vom Nirgends der Ortlosigkeit und von den Fragen, die niemand mehr stellt. Dann kann die Wahrheit des Gedichts unter die Menschen treten: 116 117
Celan: Der Meridian, S. 11. Vgl. Szondi: Durch die Enge geführt, S. 111.
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Ein Dröhnen: es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber. 118
Doch wie kann das gelingen? Wie kann das Dröhnen der Wahrheit mitten im »Metapherngestöber«, wie es in diesem Gedicht aus dem Band Atemwende (1967) heißt, wahrnehmbar gemacht werden? Im Metapherngestöber: In den Wirren toter, abgeschliffener Metaphern, aus denen unser alltägliches Sprechen besteht, das keine Kraft zur Neubeschreibung unserer Wirklichkeit mehr hat; Metaphern, deren symbolische Ressourcen erschöpft sind. Wir reden euphemistisch oder relativierend an der Wahrheit und an ihrem schmerzhaften, todbringenden Dröhnen vorbei, verdrängen es für gewöhnlich, uns der Geborgenheit der gewohnten, immer verständlichen und niemals irritierenden Sprache überlassend – wir lassen uns nur ungern vom Gegenwort oder von Gegen-Geschichten unterbrechen. Das Gedicht aber ist der Ort, »wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen.« 119 Metaphern, freilich, im klassischen Sinne: Das Gedicht steht für sich selbst und damit für den Anderen und den ganz Anderen, aber nicht für etwas anderes, das ausgetauscht werden könnte. Die Bilder, die Celan verwendet, sind lebendige Metaphern im Sinne Ricœurs. Sie können nicht übertragen werden, sondern müssen mitgetragen werden, in all ihrer Unerträglichkeit: »Wer nicht mittragen will«, so ist in Celans Notizen zu lesen, »spricht von Metaphern.« 120 Das Gedicht kann, wenn es als lebendige Metapher verstanden und ausgelegt wird, das Sprechen in toten Metaphern überwinden. Dann wird es mitgetragen in der existentiellen Bewährung seiner Wahrheit durch den Leser. Mit-dem-GedichtSein-Können 121 bedeutet, das Verstandene, so fragmentarisch und unnahbar es letztendlich sein mag, im eigenen Leben relevant werden zu lassen und sich immer wieder auf den unabschließbaren Prozess des Verstehens eines Gegenworts einzulassen. Mittragen auf Seiten des Lesers heißt, die Macht des Gedichts über die eigene Welt zu118 119 120 121
Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 210. Celan: Der Meridian, S. 10. Ebd., S. 158 (Frgm. 587). Vgl. ebd., S. 140 (Frgm. 481).
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Begegnungen mit dem Gedicht – Zwei Beispiele
zulassen und durch die eigene schöpferische Einbildungskraft zu unterstützen.
5.2. Begegnungen mit dem Gedicht – Zwei Beispiele Es wird nun darum gehen, die anhand der Poetik Celans entwickelte Theorie, die nicht beansprucht mehr zu sein als lediglich eine Interpretation seiner eindeutig poetologischen Texte, auf seine Gedichte selbst zu übertragen. Ich wähle zwei Texte, die mir besonders geeignet erscheinen, die in dieser Arbeit entwickelte Hermeneutik der Zeugenschaft paradigmatisch darzustellen: Schwarze Flocken (1943/ 44; veröffentlicht in Der Sand aus den Urnen (1948)) und Hüttenfenster (1963; veröffentlicht in Die Niemandsrose (1963)). Beide Gedichte kreisen um das für diese Arbeit und für Celan so wichtige Eingedenken. Zunächst ist die Frage zu stellen, die sich bei jeder Dichter-Poetik zwangsläufig ergibt: Inwiefern wird die formulierte Theorie in den Gedichten auch tatsächlich umgesetzt? Christine Waldschmidt weist auf die Schwierigkeit hin, überhaupt über den Prozess des Dichtens zu sprechen. 122 Und auch Celan bleibt distanziert, wenn er betont, dass nicht von der Entstehung, sondern nur vom entstandenen Gedicht die Rede sein solle. 123 In der Tat hat sich gezeigt, dass es ihm nicht darum geht, zu erklären, wie er seine Gedichte geschrieben hat, sondern eher darum, welche Funktion ihnen zukommt – für den Dichter und für den Leser. Dass allerdings die Meridian-Rede rein teleologisch auf das allgemeine Ziel von Dichtung bezogen sei, ohne Celans eigene Dichtung zu berühren, wie Waldschmidt festzustellen meint, 124 ist mit Sicherheit ein Fehlurteil. Das dialogische Moment, welches Celan in seinen Reden explizit und implizit benennt und entfaltet, lässt sich bereits in seinen frühen Gedichten nachweisen. Es ist also davon auszugehen, dass seine Dichtung selbst ihn zu seiner Poetik führte.
Vgl. Waldschmidt, Christine: ›Dunkles zu sagen‹ : Deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2011 (Studien zur historischen Poetik; 9. Hrsg. v. Stephan Fuchs-Jolie, Sonja Glauch, Florian Kragl, Bernhard Spies und Uta Störmer-Caysa), S. 430. 123 Celan: Der Meridian, S. 94 (Frgm. 165). 124 Vgl. Waldschmidt: ›Dunkles zu sagen‹, S. 430. 122
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Paul Celan
Der bereits zitierte De Roche indessen kommt in seiner Untersuchung zur Monadologie des Gedichts überhaupt nicht auf Celans Gedichte selbst zu sprechen, sondern verbleibt in der Theorie. Es scheint also eine gewisse Schwierigkeit zu bereiten, Celans Gedichte derart ernst zu nehmen und sie so anzunehmen, sich ihnen zuzukehren, dass sich auf Seiten des Lesers tatsächlich eine Atemwende einstellt. Dies gelingt nur, wenn die Gedichte nicht ausschließlich in ihrer Negativität, sondern auch in ihrem Beziehungsstreben, wie Celan es in der Meridian-Rede ausführt, wahrgenommen werden. Beziehung und Bruch gehören zusammen; eine einseitige Auflösung ist meines Erachtens nicht möglich. In der Atemwende ist beides zusammen geschlossen: Der Abbruch der Begegnung, das aus dem Gedicht Ins-Draußen-Kommen, führt nicht zu einer permanenten Isolation, sondern zu einem verstärkten Beziehungsstreben, zu einem Weg auf dem Meridian durch die Welt, die nun eine Wirklichkeit sein kann, die vom Gedicht ›angereichert‹ und ›bereichert‹ wurde. Letztendlich führt der Meridian wieder ins Gedicht zurück, das zu einer erneuten Auseinandersetzung drängt. Atemwende »ist kein ›Weg nach Innen‹«, wie Celan in einem Brief an seinen damaligen Lektor Klaus Reichert bemerkt, »Aussen und Innen sind hier verstrebt, aufgehoben in der einen Sprachwirklichkeit des Gedichts.« 125 Diese Sprachwirklichkeit wirkt als aktualisierte Sprache weiter in der Welt – eingedenk ihrer im Gedicht entfalteten und abgebrochenen Möglichkeiten; eingedenk der uneinholbaren Vergangenheit des ganz Anderen. Im selben Brief unterstreicht Celan dieses Mittragen und Mit-Sein-Können implizit, wenn er auf die Aussage, seine Gedichte seien für die Toten geschrieben, erwidert: »Sie sind für die Lebenden geschrieben, allerdings für diejenigen, die der Toten eingedenk bleiben (wollen).« 126 Das in Klammern gesetzte »wollen« macht deutlich, dass es sich bei der Lektüre des Gedichts um eine Aufgabe handelt, die Willen und Offenheit auf Seiten des Lesers voraussetzt: Die Aufgabe seines Selbst in der Begegnung mit dem Anderen und die erneuerte Behauptung dieses Selbst im Angesicht des Anderen – in dessen MitSprache.
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Celan: ›etwas ganz und gar Persönliches‹, S. 774. Ebd.
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Begegnungen mit dem Gedicht – Zwei Beispiele
5.2.1. Das Gedicht als Eingedenken: Schwarze Flocken Das Gedicht Schwarze Flocken ist ein früher Ausdruck des Eingedenkens und des Mittragens. 127 Es kann selbst als poetologischer Text gelesen werden – 128 ohnehin gibt es wohl nur wenige Zeugnisse Celans, die keinen poetologischen Gehalt haben. Zunächst der Text: Schnee ist gefallen, lichtlos. Ein Mond ist es schon oder zwei, daß der Herbst unter mönchischer Kutte Botschaft brachte auch mir, ein Blatt aus ukrainischen Halden: ›Denk, daß es wintert auch hier, zum tausendstenmal nun im Land, wo der breiteste Strom fließt: Jaakobs himmlisches Blut, benedeiet von Äxten … O Eis von unirdischer Röte – es watet ihr Hetman mit allem Troß in die finsternden Sonnen … Kind, ach ein Tuch, mich zu hüllen darein, wenn es blinket von Helmen, wenn die Scholle, die rosige, birst, wenn schneeig stäubt das Gebein deines Vaters, unter den Hufen zerknirscht das Lied von der Zeder … Ein Tuch, ein Tüchlein nur schmal, daß ich wahre nun, da zu weinen du lernst, mir zur Seite die Enge der Welt, die nie grünt, mein Kind, deinem Kinde!‹ Blutete, Mutter, der Herbst mir hinweg, brannte der Schnee mich: sucht ich mein Herz, daß es weine, fand ich den Hauch, ach des Sommers, war er wie du. Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein. 129
Die Interpretation, die nun zu leisten ist, steht vor der Schwierigkeit, dass jede Interpretation, jede Bedeutungszuschreibung eine vorläufige sein muss, die durch eine erneute Lektüre unter Umständen widerrufen wird. Dennoch: Jede Interpretation ist ein Mosaiksteinchen der im Metapherngestöber dröhnenden Wahrheit des Gedichts. Augenfällig ist, dass hier, je nach Lesart, zwei, drei oder sogar vier Zeitebenen entfaltet werden: Das Subjekt des Gedichts hat eine Wiedemann datiert es in ihrem Kommentar auf die Zeit nach Juli 1944, nachdem Celan vom Tod seiner Eltern erfahren hatte (vgl. Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 664). 128 Vgl. Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen: Niemeyer 1985 (Studien zur deutschen Literatur; 86), S. 267. 129 Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 19. 127
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Paul Celan
Botschaft erhalten, an die es sich aus seiner Gegenwart heraus erinnert oder die es ein weiteres Mal liest. Hier sind also bereits zwei Zeitebenen gesetzt. Die Botschaft ihrerseits beschreibt die für die Schreiberin, die mit der Mutter des die Nachricht Lesenden identifiziert werden kann, im Schreiben gegenwärtige Situation. Aus dieser Situation entfaltet sie eine Geschichte – die Geschichte der Verfolgung der osteuropäischen Juden – und eröffnet somit einen weiteren – den vierten – Zeithorizont. Wir sehen in aller Deutlichkeit, wie hier das ganz Andere des Anderen des Gedichts in Form der überbrachten Botschaft mitspricht und in diesem Sprechen des ganz Anderen wiederum die ›gesamte‹ Geschichte als Verfolgungsgeschichte aufgehoben ist. Diese Geschichte ist in das Gedicht eingeschrieben, von ihr aus entfaltet sich die Wirklichkeit des Gedichts, die die Gegenwart des Subjekts als desjenigen, der die Botschaft erhalten hat, umwendet. Die Vergangenheit der Botschaft ist durch das Eingedenken des Subjekts des Gedichts eine mit Jetztzeit erfüllte, 130 sie ist gegenwärtig und betrifft die Wirklichkeit des Eingedenkenden unmittelbar, worauf die Verse nach der wörtlichen Rede der Mutter hinweisen. Im Gedicht wird jenes Geschehen antizipiert, welches sich dann auf Seiten des Lesers ereignet. Die Botschaft fungiert als Gedicht im Gedicht. Die in das Gedicht eingeschriebene und in ihm autonom entfaltete Wirklichkeit (die Daten und Orte; V. 4–15) spricht das Subjekt des Gedichts an und schreibt sich schließlich in dessen Wirklichkeit ein, die es nun aus der ihm eröffneten Perspektive der Botschaft anhand der ihm gegebenen Möglichkeiten neu beschreiben muss, um sie in seiner Lebenswelt zu behaupten, zu bestätigen und zu verstetigen, indem es das Tüchlein (weiter) webt (V. 19). Die Botschaft der Mutter ist die sterbliche, auf den Tod zulaufende Monade, analog zu jener, als die das Gedicht dem Leser entgegentritt. Als Thema von Schwarze Flocken kann somit allein aufgrund dieser Struktur das Erinnern – das Eingedenken ausgemacht werden. Es sei daran erinnert, dass wir mit Yerushalmi das Eingedenken als »ever-fluid dialogue« 131 der Zeiten bestimmt haben, der oft unwillkürlich geschieht und Erinnerungskeime oder -splitter eines vergangenen (Er-)Lebens transportiert und gegenwärtig aufblitzen lässt, die dann – in Form einer tätigen Erinnerungsarbeit – zu einer Er130 131
Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 701. Yerushalmi: Zakhor, S. 17.
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Begegnungen mit dem Gedicht – Zwei Beispiele
zählung ausgeformt werden und mit dieser Teil der eigenen Lebensgeschichte werden können. Schwarze Flocken ist eine Darstellung dieses Geschehens. Der erste Satz des Gedichts deutet auf die Problematik dieses Geschehens hin: »Schnee ist gefallen, lichtlos.« Es ist nicht klar, ob sich »lichtlos« als Attributiv auf das Subjekt »Schnee« bezieht, der damit »lichtlos« wäre, oder aber dem Prädikat »ist gefallen« zugehörig ist, womit der Schnee »lichtlos« gefallen wäre. Die Syntax macht allerdings die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher, da Celan im anderen Fall hätte schreiben können »Schnee, lichtlos, ist gefallen« oder »Schnee ist gefallen, der lichtlose.« Der Titel Schwarze Flocken hingegen suggeriert auf den ersten Blick, dass »lichtlos« als Eigenschaft des Satzsubjekts zu verstehen sei: Der Schnee ist »lichtlos«, seine Flocken sind schwarz. Diese Ambivalenz zeigt die Schwierigkeit des Erinnerns auf beziehungsweise die Unzuverlässigkeit des erinnerten Inhalts. Kann dem Erinnerten ein eigenes Sein zugesprochen werden? Sind die Flocken also tatsächlich schwarz? Oder erscheinen sie nur so, weil die Umgebung dunkel ist? Mit Unzuverlässigkeit ist nun nicht gemeint, dass es sich beim Erinnerten oder Wiedergelesenen der Botschaft nicht um den Ausdruck eines wirklichen Geschehens handelt, eine bloß ›eingebildete‹ Verfolgung. Eher deutet das Ringen zwischen der Setzung des in der Botschaft Mitgeteilten als Sein oder Schein auf die (irreale) Hoffnung hin, es möge doch nicht so gewesen sein, sondern ›ganz anders.‹ Mithin auf den Wunsch des Sich-Erinnernden auf eine nachträgliche Umkehrung der Geschichte. Aber da wir das Gedicht ja bereits bis zu seinem Textabschluss gelesen haben, wissen wir, dass diese Hoffnung enttäuscht werden muss. Und wir wissen noch mehr. Wir wissen, allein durch das Gedicht, was Celan in einem Interview mit dem Süddeutschen Rundfunk 1954 auf den Punkt bringt: Dass Gedichte »ein Wiedererinnern, manchmal sogar ein Vorerinnern [sind]. Und bei diesem Vorerinnern, wenn ich das Wort gebrauchen darf, lebt man den Gedichten irgendwie nach. Damit sie wahr bleiben.« 132 Das Wiedererinnern muss ins Leben übernommen werden, es muss zum Vorerinnern werden, zur Orientierung des Daseinsentwurfs. Fast wortgleich heißt es in einem Sendemanuskript für den Norddeutschen Rundfunk über die Dichtung Ossip Mandelstamms aus dem
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Celan: Mikrolithen, S. 191.
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Jahr 1960: »Gedichte sind Daseinsentwürfe: der Dichter lebt ihnen nach.« 133 Im Eingedenken, im Weiterweben des Tüchleins behauptet der Dichter die Wahrheit des Gedichts – er macht damit deutlich, dass das Erinnerte Seinsgeltung hat, dass es tatsächlich ist und nicht bloßer Schein, dass die Flocken als Erinnerungsfragmente, aus denen heraus sich die Erzählung des Gedichts formt, auch wirklich schwarz sind und es sich beim Titel des Gedichts, ebenso wenig wie bei »schwarze Milch« aus der Todesfuge, nicht um eine Metapher im klassischen Sinn handelt. Das ist eine schmerzhafte Herausforderung, wie Celan im Interview mit dem Süddeutschen Rundfunk betont: »Nicht immer ist das Nachleben leicht, würde ich noch hinzufügen. Manchmal gibt es düstere Wahrheiten, die sich auch behaupten wollen.« 134 Werden die »Schwarzen Flocken« als diese düsteren Wahrheiten, die sich behaupten wollen und die ergo vom Dichter wie vom Leser bewährt werden müssen, anerkannt, 135 kann auch die zweite mögliche Interpretation, die von der Syntax des ersten Satzes nahegelegt wird, Geltung beanspruchen: Der Schnee ist »lichtlos«, also im Dunklen, gefallen. Denn die Wahrheiten machen ihre Umgebung selbst zur Düsternis, sie schlucken alles Licht. Das macht es umso schwerer, sich ihnen zu öffnen, sie als Wahrheiten anzuerkennen und sie nicht zu verdrängen. Denn die Dunkelheit, die von ihnen ausgeht, kann dazu führen, dass man sich lieber an das »Metapherngestöber« hält, anstatt sich dem »Dröhnen« der Wahrheit zu stellen. Auch das Subjekt des Gedichts scheint eine gewisse Zeit gebraucht zu haben, sich der schmerzhaften Botschaft zu stellen, worauf der zweite Satz hinweist (V. 1–3): »Ein Mond/ ist es schon oder zwei, daß der Herbst unter mönchischer Kutte/ Botschaft brachte auch mir, ein Blatt aus ukrainischen Halden […].« Zwei Monde ließ es vergehen, bevor es sich der Botschaft zuwendet. Dabei ist nicht klar, ob es sich Ebd., S. 206. Ebd., S. 191. 135 Jean Firges löst den Titel des Gedichts einfach als ›absolute Metapher‹ im Sinne eines Oxymorons auf, welches in seiner Gegensätzlichkeit von Weiß und Schwarz für den gewaltsamen Tod stehe (vgl. Firges, Jean: Den Acheron durchquert ich. Einführung in die Lyrik Paul Celans. Vier Motivkreise der Lyrik Paul Celans: die Reise, der Tod, der Traum, die Melancholie. Tübingen: Stauffenburg 1999 (Ludwigsburger Hochschulschriften; 18), S. 71 ff.). Sicher hat er damit nicht unrecht. Aber nach der Lektüre des Gedichts steht der Titel eben für sehr viel mehr, nämlich für den komplizierten Prozess des Erinnerns/Eingedenkens, auf den Firges nur oberflächlich eingeht. 133 134
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bei dem »Blatt aus ukrainischen Halden« um eine niedergeschriebene Nachricht handelt oder um das Blatt eines Baumes. Gehen wir vom letzteren aus, was wahrscheinlicher erscheint, da der »Herbst unter mönchischer Kutte« auf das braun gefärbte herbstliche Laub hinzudeuten scheint, 136 dann würde dieses Blatt die Botschaft als Erinnerung des Subjekts evozieren, anstatt sie, wie es in Form eines Briefes der Fall wäre, unmittelbar zu präsentieren. Bezieht man den »Herbst unter mönchischer Kutte« auf die von ihm vermittelte Botschaft, ergo auf seine textliche Umwelt (die Rede der Mutter würde dann aus der Erinnerung heraus auf das Blatt eines Baumes ›geschrieben‹), lässt sich daran die Durchkreuzung der Metaphorik demonstrieren, wie es bei einer lebendigen Metapher der Fall ist. Die relativ gewöhnlich erscheinende Gleichsetzung des herbstlich-braunen Laubes mit der Kutte eines Mönches wird suspendiert und durch die einmalige Bedeutung innerhalb des Gedichts ersetzt: Der Herbst erscheint als verschwiegener Träger einer Botschaft, die zur Sprache drängt. Er selbst spricht nicht, sondern reicht lediglich das Blatt, von dem aus sich der Dialog mit dem Subjekt entfaltet. Die erinnerte Jahreszeit Herbst evoziert das Schicksal der Mutter. Das Subjekt strickt an dieser Erinnerung, es webt schon das Tüchlein (V. 19), welches als das Gedicht selbst interpretiert werden kann. 137 Das Gedicht entsteht aus dem Eingedenken heraus und ist selbst ein solches Eingedenken, eine Aufnahme der Erinnerung und ein Vorerinnern des Vergangenen im Daseinsentwurf. Das Bild des Schnees verknüpft die Zeitebenen miteinander, webt sie zusammen: »Schnee ist gefallen, lichtlos.« Diese Lichtlosigkeit, diese Dunkelheit ist die Gegenwart des Subjekts, in der der Schnee bereits gefallen ist. Noch war anscheinend kein (tätiges) Eingedenken möglich, die Erinnerung hatte sich noch nicht eingestellt. Dann aber, möglicherweise durch den Anblick des gefallenen Schnees, der das Licht geraubt hat, drängt sich die Erinnerung auf. Die Dunkelheit macht erst das Vergessen oder Verdrängen bewusst. 138 Sie ist also, wie könnte es anders sein, ambivalent. Sie kann dazu verleiten, statt ihr das Licht zu suchen und sich somit von der Wahrheit abzuwenden. Aber sie macht auch auf die Botschaft
So auch Firges (vgl. ebd., S. 72). Vgl. ebd., S. 74; sowie die immer noch grundlegende Studie der Celan-Herausgeberin: Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, S. 268. 138 Zum für die Erinnerung notwendigen Vergessen vgl. ebd., S. 269. 136 137
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Paul Celan
aufmerksam, die bereits vor zwei Monden überbracht worden war, damals, im Herbst, als vielleicht noch kein Schnee lag. Erst der Schnee macht darauf aufmerksam, dass die Botschaft, als es für das Subjekt noch Herbst war, bereits vom Winter gesprochen hat (V. 4). Das »brachte auch mir« kann also sowohl heißen, dass sich dem Subjekt jetzt die Erinnerung daran aufdrängt, dass für die Mutter schon lange Winter ist – schon Winter war, als dieser das Subjekt noch nicht eingeholt hatte. Es kann aber ebenso bedeuten, dass die Verfolgung, von der es vor zwei Monden nur gehört hatte, nun über es hereinbricht. So oder so verbindet der Schnee die Gegenwart mit dem Vergangenen der Botschaft. Das Vergangene bricht als mémoire involontaire in die Gegenwart ein, ausgelöst entweder durch den bloßen Anblick des gefallenen Schnees oder durch die Verfolgung, der sich nun auch das Subjekt ausgesetzt sieht und durch die es an das Schicksal der Mutter erinnert wird. Was sich aufdrängt, ist nun keine glückliche Erinnerung, die von der Gegenwart vernichtet würde. Das ›Es war‹ ist, zumindest auf dieser Ebene, ein Negatives, welches in das ›Es ist nicht‹ einbricht, das zunächst die Abwesenheit der schmerzhaften Erinnerung in der Gegenwart des Subjekts markiert. Mit dem Einbruch des ›Es war‹ wird sich das Subjekt nun der Erinnerung der Mutter bewusst und mit dieser der Negativität des ›Es ist nicht‹, das nun nicht mehr die Abwesenheit des Schmerzhaften markiert, sondern die anwesende Abwesenheit seiner Mutter in der Gegenwart. Innerhalb der von der Mutter in der Botschaft präsentierten oder erinnerten Geschichte eröffnet sich die nächste Zeitebene, durch die das erinnerte Erleben mit der Verfolgungsgeschichte der osteuropäischen Juden in Verbindung gebracht wird, die, gleich der Erinnerung der Mutter in die des Subjekts, nun ihrerseits in die Erinnerung der Mutter eingeschrieben ist: Die Botschaft der Mutter evoziert tausend Winter, tausend Jahre Verfolgung (V. 4). »Jaakobs himmlisches Blut, benedeiet von Äxten …/ O Eis von unirdischer Röte – es watet ihr Hetman mit allem/ Troß in die finsternden Sonnen …« (V. 6–8): Was nun in der Erinnerung vergegenwärtigt wird, ist das vergossene Blut all jener Juden, die nicht zum Christentum konvertieren wollten, ausgedrückt in der paradoxen Fügung »benedeiet von Äxten …«. »Hetman« nimmt Bezug auf den Kosakenhauptmann Chmielnicki, der für Pogrome an der jüdischen Bevölkerung Polens (auf dem Gebiet der heutigen Ukraine) verantwortlich war. 139 139
Vgl. Firges: Den Acheron durchquert ich, S. 73. Wiedemann nennt den Kosaken-
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Die Mutter bittet das Kind um ein Tuch, in das sie sich hüllen kann, angesichts der feindlichen Armee, die das Gebein des Vaters zerstäubt (V. 10 f.) und mit den Hufen »das Lied von der Zeder«, die kollektive in Liedern und Geschichten tradierte Erinnerung des Judentums, »zerknirscht«. 140 Hier ist das ›Es war‹ der vernichteten Menschen und ihrer zerstörten Traditionen wiederum überkreuzt mit dem ›Es ist nicht‹ der – für das Subjekt des Gedichts – vergangenen Gegenwart der Mutter. Die nächsten Zeilen nun beschreiben jenes Tuch, um das die Mutter bittet: Ein Tuch, ein Tüchlein nur schmal, daß ich wahre nun, da zu weinen du lernst, mir zur Seite die Enge der Welt, die nie grünt, mein Kind, deinem Kinde!
Das hypotaktische Satzgefüge lässt mehrere Schlüsse zu: Das Tuch ist dazu da, die Enge der Welt an der Seite der Mutter zu wahren. Der Dativ »deinem Kinde« kann nun daran anschließen, sodass »die Enge der Welt« durch das Tuch nicht nur der Mutter zur Seite, sondern auch den Nachkommen gewahrt wird – die, das lässt sich mutmaßen, wie das Kind weinen werden. Er kann aber auch meinen, dass die Welt dem Kinde, den Nachkommen, nie grünen wird. So oder so bleibt die Welt eine beschädigte, eine Welt der vernichteten Überlieferung. Doch wofür nun kann das Tuch stehen? 1) Das Tuch kann die Erinnerung sein, das Gewebe des Gedächtnisses, das In-Geschichten-verstrickt-sein. Es bewahrt die Enge der Welt, das prekäre Gefangen- und Verlassensein der Verfolgten, und gibt diese Leidenserinnerung, die eingewebt ist in das Tuch, an die Nachkommen weiter. Auch sie – und mit ihnen schließlich jeder, der das Gedicht rezipiert – treten mit dem Gedicht ein in die Enge der hauptmann Chmielnicki in ihrem Kommentar zu Schwarze Flocken in der mittlerweile überholten kommentierten Ausgabe von 2003, nicht aber in der neuen kommentierten Ausgabe von 2018 (vgl. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 2005 (suhrkamp taschenbuch 3665), S. 589. 140 Im engsten Sinne des Wortes ›aufhorchen‹ lässt an dieser Stelle »zerknirscht« (V. 11), kommt ihm doch ein auditiver Wert zu, der in direktem Bezug zum »Lied von der Zeder« steht. Die ästhetische Antithese Knirschen übertönt und zerstört das Lied. Wiedemann weist darauf hin, dass das »Lied von der Zeder« auf das gleichnamige Gedicht des Lemberger Zionisten Itzak Feld hindeute (vgl. Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 665), Firges identifiziert es mit den zionistischen Träumen von Celans Vater (vgl. Firges: Den Acheron durchquert ich, S. 73 f.).
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Welt, die zu ihrer eigenen Enge wird, 141 in der sie nicht nur den Geschichten der Ermordeten begegnen, sondern schließlich auch radikal sich selbst (durch die Atemwende). Das Tuch als Erinnerung an diese Enge der Welt wird nun zum Teil der eigenen Identität: Die Geschichte wird weitergereicht an die Nachfahren. Dies gilt nicht nur für den jüdischen Dichter Celan und jüdische Lesers dieses Gedichts, sondern auch für alle anderen, die mit der erinnerten Leidensgeschichte zugleich die tradierte Schuldgeschichte aufnehmen, die sie unter Umständen auf die Biographien der eigenen Vorfahren verweist. 2) kann das Tuch dann auch als Leichentuch verstanden werden, das die Enge der Welt, also das Grab der Mutter, in dem es eng ist, das sie aber nie hatte, an ihrer Seite wahrt, 142 sowie an der Seite ihrer Nachkommen. Als Leichentuch verstanden, evoziert das Bild zunächst die bekannten Zeilen aus Heines Gedicht Die schlesischen Weber: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch – Wir weben, wir weben! 143
Die Weber wagen den Aufstand. Der Fluch im Gewebe der Geschichte ist die Rebellion, die sich weiterträgt, auch nach ihrem Scheitern. Das Leichentuch, welches über die deutschen Verhältnisse gebreitet werFelstiner weist zu Recht darauf hin (vgl. Felstiner: Paul Celan, S. 46), dass die »Enge« später Eingang in die Büchnerpreisrede findet. Dort wiederum, so haben wir gesehen, ist das Hinabgehen in die »allereigenste Enge« (Celan: Der Meridian, S. 11) die Voraussetzung für die Freisetzung des Selbst. Frei wird dieses erst in der Auseinandersetzung mit dem Tod der Anderen. Diese Freiheit ist als negative die Befreiung von sich selbst, die eine Perspektivverschiebung und ein Öffnen für den ganz Anderen erst ermöglicht, und dann, als positive, eine Freiheit zu sich selbst, die es ermöglicht, das Dasein unter Aufnahme der Leidensgeschichten der Anderen zu verstehen und zu entwerfen. Sie ist die Befreiung zum Mit-Sein-Können mit den abwesenden Ermordeten, die Befreiung dazu, das Tuch der Erinnerung in und mit der eigenen Lebensgeschichte weiterstricken zu können, unter Tränen und Schmerzen (V. 19) die Wahrheit zu behaupten und zu bewähren. Die Freiheit ist ein Befehl: Vergiss nie! Die Freiheit zum authentischen Entwurf ist also, wie sich hier nun ein weiteres Mal bestätigt, nicht umsonst zu haben, sondern beruht auf dem Akt des Eingedenkens und auf einer Übernahme von Schuld in diesem Akt – wobei ich hier in erster Linie die Übernahme geschichtlicher Schuld durch die Nachkommen der Täter meine, eine Schuld, die in den Gedichten Celans ohne Vergleich aufscheint. 142 Vgl. Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, S. 268. 143 Heine, Heinrich: Die schlesischen Weber. In: Ders: Sämtliche Schriften Band 4. Hrsg. v. Klaus Briegleb. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005, S. 455. 141
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den soll, markiert eine Umkehr oder einen möglichen Neuanfang. Nach der Shoah ist dies nicht mehr möglich. Trotzdem geht die Geschichte weiter – verwoben mit dem Leichentuch als Geschichte einer beschädigten Welt, die nie mehr grünen wird. In der direkten Anrede an die Mutter in den letzten Versen des Gedichts wird diese Geschichte zum Gedicht – zur Erzählung – gewebt und damit weitergewebt: Blutete, Mutter, der Herbst mir hinweg, brannte der Schnee mich: sucht ich mein Herz, daß es weine, fand ich den Hauch, ach des Sommers, war er wie du. Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein.
Der Prozess des Webens betrifft also, wie wir schon gesagt haben, das Gedicht selbst. 144 Das Gedicht selbst ist Teil des Erinnerungsgewebes und zwar dessen konstitutiver Teil. Das Tuch als Erinnerung und als Leichentuch ergänzen einander. Denn das Leichentuch ist weniger ein Symbol der Verdrängung oder des Abschließens, sondern der die Erinnerung als Totengedächtnis stabilisierende Stoff innerhalb des Gewebes der Erinnerung. In diesen letzten Zeilen wird nun wieder auf den Herbst und auf den Schnee verwiesen: »Blutete, Mutter, der Herbst mir hinweg, brannte der Schnee mich […].« Der Satz steht allerdings im Präteritum. Wird hier also ein Abschluss gesetzt? Erinnern wir uns an die Zeitstruktur des Gedichts: Die erste Zeitebene, die Gegenwart des Subjekts, wird vom ersten Vers gesetzt: »Schnee ist gefallen, lichtlos.« Hier steht das Subjekt, inmitten des gefallenen Schnees. Wäre hier etwas schon Vergangenes gemeint, müsste es heißen: »Schnee war gefallen …« Aus dieser Gegenwart erinnert sich das Subjekt an das Überbringen der Botschaft. Doch dann erinnert es die Botschaft in wörtlicher Rede. Das, was verdrängt und vergessen war, wird nun gegenwärtig. Das ›Es war‹ drängt sich ins ›Es ist nicht‹ : Die Mutter erscheint in anwesender Abwesenheit. Das ›Es war‹ wird zum ›Es ist‹. In diesem wiederum ist das ›Es war‹ der Erinnerung an die Verfolgungsgeschichte der osteuropäischen Juden (»Jaakobs himmlisches In der Bitte der Mutter um das Tuch geht es »um den Herstellungsprozess selbst, um das ›Weben‹. Es geht um die Entstehung des Gedichts. Die ›Mutter‹ formuliert, was das Gedicht leisten soll. Sie zeigt es als einen Akt der Bewahrung – der Erinnerung und des Gedächtnisses an all das, was mit dem ›Gebein‹ des ›Vaters‹ ›zerstäubt‹ und ›zerknirscht‹.« (Wiedemann-Wolf: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, S. 268).
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Paul Celan
Blut«; »[…] es watet ihr Hetman«) eingesprengt und gegenwärtig im Präsens. Es wird also ebenfalls zum ›Es ist‹ und baut damit eine Referenz zum ›Es ist nicht‹ der Gegenwart des Subjekts auf. Es werden also im Gedicht zwei Welten durch die überkreuzte Referenz von ›ist‹ und ›ist nicht‹ ›metaphorisch‹ behauptet: Die Welt der Mutter und in dieser wiederum die Welt der Verfolgung des osteuropäischen Judentums, die sich schließlich in der Verfolgung der Mutter fortsetzt. In dieser taucht dann nochmal das ›Es ist nicht‹ des Vaters und des zerknirschten Lieds von der Zeder auf (V. 10 ff.). Dieser wird seinerseits zur anwesenden Abwesenheit in der Wirklichkeit und Gegenwart der Mutter, insofern er als ›Es war‹ nicht einzuholen ist. Das Subjekt des Gedichts nimmt nun die anwesende Abwesenheit der Mutter in seiner Gegenwart und die anwesende Abwesenheit des Vaters in der Gegenwart der Mutter in sein Weben auf, womit auch die Erinnerung an den Vater zur anwesenden Abwesenheit in der Gegenwart des Subjekts wird. Doch ist das Weben des Gedichts einmalig. Wenn wir nun die wörtliche Rede der Mutter als Gedicht im Gedicht verstehen, welches das Subjekt des Gedichts dialogisch herstellt (evoziert durch die mémoire involontaire), so ist das entstandene Gedicht ein Schon-nicht-mehr und behauptet sich am Rande seiner selbst. 145 Am Rande seiner selbst aber steht der Dichter/ Leser, der mit seinem Sprechen in der vom Gedicht aktualisierten Sprache das Immer-noch des Gedichts mitspricht. Das Gedicht als sterbliches geht vorüber, aber es hinterlässt seine Spuren, die Teil der Erzählung werden, zu der es der Dichter/Leser verwebt. Das Präteritum der letzten Verse wäre dann eine Bestätigung dieser Spurenhaftigkeit in der Überkreuzung von Schon-nicht-mehr und Immernoch. Denn die Ermordeten sind ja faktisch nicht mehr da, sie wurden ermordet und sie bleiben es. Das Weben indessen geht weiter, es werden immer wieder neue Fäden aufgenommen, der Ermordeten eingedenk. Der Herbst blutete hinweg, der Schnee brannte: Die Erinnerung drängte sich schmerzhaft auf. Doch sie wird in die eigene Geschichte eingewoben, wird ihr Bestandteil, wird ihre Vergangenheit – allerdings eine solche, die nicht vergehen kann und nicht vergehen darf und immer wieder in die Gegenwart drängt. Das Subjekt des Gedichts als Dichter – und mit ihm der Leser – ist durch die Enge gegangen und kam zu sich selbst. Der Dichter, insofern er im Weben des Gedichts die Ermordung seiner Eltern verwoben hat. Der Leser, 145
Vgl. Celan: Der Meridian, S. 8.
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insofern ihm mit dem Gehen durch das Gedicht die Leid- und Schuldgeschichte gegenwärtig geworden ist und auch er die anwesende Abwesenheit der Ermordeten erfahren konnte, deren Geschichten er nun in seiner Lebenswirklichkeit bezeugt – und ihnen damit ihr geschichtliches ›Sie werden sein‹ eröffnet. Das Gewebe des Gedichts, das Tüchlein, wird nun auch zum integralen Bestandteil des GeschichtenGewebes des Lesers. Wiedemann-Wolf stellt mit Bezug auf das Subjekt des Gedichts fest: »Erst wenn das Bild der sommerlichen Mutter gefunden ist als der Person, mit der die Gedanken von Glück und Freude engstens verknüpft sind, erst dann kann Trauer und aus ihr Dichtung entstehen. Dichtung in diesem Sinn ist aktiv geleistete Trauerarbeit.« 146 Doch ist das wirklich so einfach? Wir müssen uns nicht in Spekulationen über Celans Psyche ergehen, um festzustellen, dass Dichtung zwar auch Trauerarbeit sein kann, aber nicht nur Trauerarbeit ist. Auch düstere Wahrheiten wollen behauptet werden. Es geht also nicht ausschließlich um Trauer, sondern ebenso um das Weitertragen von Leidens- und Schuldgeschichten über das Gedicht hinaus. 147 Trauer ist ein Teil davon, Bezeugung ein anderer. Für den nachgeborenen Leser, der keine Angehörigen persönlich zu betrauern hat, ist der zweite Aspekt von Bedeutung. So ist auch der »Hauch, ach des Sommers,« der wie die Mutter war (V 17 f.), ambivalent. Neben der evozierten positiven Erinnerung, die Wiedemann-Wolf herausstellt, kann der Hauch des Sommers auch nach Tod riechen und eine Zeit des Leidens bedeuten, weil auch in ihm – aufgrund der positiven Erinnerungen an gemeinsame Sommer – die anwesende Abwesenheit der Mutter spürbar bleibt. Die Träne mag die Voraussetzung des Webens (also des Dichtens) sein (»Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein.«). 148 Aber sie bleibt dem Tüchlein eingewoben: Die direkte Rede der Mutter ist die in das Gedicht eingewobene Träne. Diese Träne ist der immer wieder neu aufscheinende, einmalige Ausgangspunkt allen weiteren Webens – auch für den Leser. Wiedemann-Wolf: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, S. 269. So kritisiert auch Michael Jakob die Aussage Wiedemann-Wolfs, indem er anmerkt, dass aktive Trauerarbeit erst noch zu leisten sei (vgl. Jakob, Michael: Das ›Andere‹ Paul Celans oder von den Paradoxien relationalen Dichtens. München: Fink 1993, S. 133). 148 Vgl. Wiedemann-Wolf: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, S. 269. 146 147
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5.2.2. Das Gedicht und die Neubeschreibung der Wirklichkeit angesichts der Ermordeten: Hüttenfenster Wir haben nun gesehen, wie sich der Prozess des Dichtens als Verwebung der vergangenen Geschichten in das Gewebe der eigenen Geschichte vollzieht und wie durch diese erzählerische Ausgestaltung Zeitbrücken zwischen den Zeiten entstehen (Kap. 1.5.), die die Vergangenheit zu einer Vergangenheit, die nicht vergeht, machen. Analog zu diesem Prozess webt auch der Leser an seiner Geschichte. Er nimmt das Gedicht, wie mit der Atemwende beschrieben, als Gegenwort oder Gegengeschichte in seine Lebensgeschichte auf, indem er die Wahrheit des Gedichts am Rande des Gedichts behauptet und bewährt. Der Prozess der Neubeschreibung der Wirklichkeit des Lesers durch das Gedicht und dessen übernommene Bedeutungen soll nun an Hüttenfenster dargestellt werden: Das Aug, dunkel: als Hüttenfenster. Es sammelt, was Welt war, Welt bleibt: den WanderOsten, die Schwebenden, die Menschen-und-Juden, das Volk-vom-Gewölk, magnetisch ziehts, mit Herzfingern, an dir, Erde: du kommst, du kommst, wohnen werden wir, wohnen, etwas – ein Atem? ein Name? – geht im Verwaisten umher, tänzerisch, klobig, die Engelsschwinge, schwer von Unsichtbarem, am wundgeschundenen Fuß, kopflastig getrimmt vom Schwarzhagel, der auch dort fiel, in Witebsk, – und sie, die ihn säten, sie schreiben ihn weg mit mimetischer Panzerfaustklaue! –,
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geht, geht umher, sucht, sucht unten, sucht droben, fern, sucht mit dem Auge, holt Alpha Centauri herunter, Arktur, holt den Strahl hinzu, aus den Gräbern, geht zu Ghetto und Eden, pflückt das Sternbild zusammen, das er, der Mensch, zum Wohnen braucht, hier, unter Menschen, schreitet die Buchstaben ab und der Buchstaben sterblichunsterbliche Seele, geht zu Aleph und Jud und geht weiter, baut ihn, den Davidsschild, läßt ihn aufflammen, einmal, läßt ihn erlöschen – da steht er, unsichtbar, steht bei Alpha und Aleph, bei Jud, bei den andern, bei allen: in dir, Beth, – das ist das Haus, wo der Tisch steht mit dem Licht und dem Licht. 149
Wie in Schwarze Flocken geht es auch in Hüttenfenster um »Toposforschung«. 150 In Schwarze Flocken sind konkrete Orte genannt: Die »ukrainischen Halden« (V. 3), das »Land, wo der breiteste Strom fließt« (V. 5), 151 die zeitliche und räumliche Verortung des »Hetman« (V. 7). Mit dem ›Umweg‹ durch das Gedicht und die in es ein-
Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 161 ff. Celan: Der Meridian, S. 10. 151 Nach Firges ist hiermit »die Ukraine mit dem Dnjepr [gemeint], der, wie der Bug, bei Odessa ins Schwarze Meer fließt.« (Firges: Den Acheron durchquert ich, S. 72). 149 150
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geschriebenen Orte und Daten soll nun Wirklichkeit gesucht und entworfen werden, eine ansprechbare Wirklichkeit, wie es in der Bremer Rede heißt. 152 Das Gedicht als eigene, sprechende und angesprochene Wirklichkeit, die im Verlauf der Lektüre in ein Verhältnis zur außertextlichen Wirklichkeit tritt, welche ihrerseits die Daten und Orte des Gedichts eingeschrieben bekommt. Die Orts- und Zeitangaben strukturieren Hüttenfenster: Der Beginn ist mit der Analogisierung von Auge und Hüttenfenster gesetzt (V 1 f.). Das Hüttenfenster ist nach Osten gerichtet oder sammelt zumindest Bilder, die, ähnlich wie in Schwarze Flocken, der Sphäre des osteuropäischen Judentums zuzuordnen sind (V. 2–7). Felstiner bemerkt, dass das Gedicht »im Geiste des Sukkot [beginnt], des Laubhüttenfestes, eines Herbstfestes, das an die Wanderung der Israeliten durch die Wüste« erinnert. 153 Der erste (und einzige) im Text selbst explizit genannte konkrete Ort ist »Witebsk« (V. 20). Der Geburtsort des jüdischen Malers Marc Chagall war 1942 Schauplatz eines Pogroms, dem die jüdische Bevölkerung zum Opfer fiel. 154 Die nächsten Orte sind eher Nicht-Orte: Die Sterne »Alpha Centauri« und »Arktur« (V. 29) sowie »Eden« (V. 31), das in Verbindung mit einem nicht näher bezeichneten »Ghetto« genannt wird (V. 31). Den Nicht-Orten »Alpha Centauri« und »Arktur« sind zudem »Gräber […]« (V. 30) zugeordnet: Nicht wie die Sterne über, sondern unter der Erde. Dann am Ende »Beth« (V. 47), »das Haus« (V. 48). Diese Struktur zeigt den Weg des Gedichts: Vom Auge/Hüttenfenster, das grundsätzlich überall sein könnte, aber gen Osten ausgerichtet ist, über Witebsk als Kriegsschauplatz und Ort vernichteten jüdischen Lebens, über Unirdisches und allzu Irdisches, schließlich zu »Beth«, dem Haus, wobei sich fragen lässt, ob diesem Haus das eingangs erwähnte Hüttenfenster zuzuordnen ist. Der Weg geht also von einer scheinbar alltäglichen Erscheinung durch den Terror der Shoah, über die Sterne als U-topoi sowie Topoi der Geschichte (»Ghetto«) und des Mythos (»Eden«; sowohl Topos als auch Utopie), hin zu einem Haus, das möglicherweise die weltliche Entsprechung
Vgl. Celan: Bremer Rede, S. 186. Felstiner: Paul Celan, S. 250. 154 Vgl. den Kommentar zum Gedicht von Wiedemann in der inzwischen überholten Gesamtausgabe von 2003 (vgl. Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, S. 708). 152 153
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der Utopie ist. Es sei an die Meridian-Rede erinnert: Das Gedicht als Toposforschung »im Lichte der U-topie.« 155 Die Atemwende, von der man »in die Nähe eines Offenen und Freien gelangt. Und zuletzt in die Nähe der Utopie.« 156 Das Licht strahlt in Hüttenfenster vom Ende her (V. 49). Vielleicht vom Stern der Erlösung. 157 Doch zunächst sammelt das Auge als Hüttenfenster »was Welt war, Welt bleibt: den Wander-/ Osten, die/ Schwebenden, die/ Menschen-und-Juden,/ das Volk-vom-Gewölk […].« (V. 3–7) Das Auge als Hüttenfenster eröffnet einen Blick auf eine Welt, die nicht mehr ist (»was Welt war«), aber trotzdem weiterhin – mit dem ›richtigen Blick‹ auf die Welt als solcher, der der Wahrheit des Gedichts verpflichtet ist – in ihm erscheint (»Welt bleibt«). In diesem Blick erscheint das ›Es war‹ im ›Es ist nicht (mehr)‹. Das Gedicht (bzw. das Auge als Hüttenfenster innerhalb des Gedichts) obliteriert, es ist eine Wunde im Sein, es durchkreuzt dieses Sein in seinem Verlauf als sein und erinnert »an die Abnutzungen des Seins […], an die ›Ausbesserungen‹, von denen es bedeckt ist, und an die sichtbaren oder verborgenen Streichungen, in seinem Beharren zu sein, zu scheinen und sich zu zeigen.« 158 Es weist auf die Spuren der Vorübergegangenen hin, die nicht mehr sind, und zerreißt den Schein einer Wirklichkeit, aus der die Vergangenheit ausgeschlossen wird, und schreibt seine Wirklichkeit in diese Wirklichkeit ein. Es verweist in den Topoi der Wirklichkeit auf die U-topoi, die Orte, die nicht mehr sind, was zu Beginn von Hüttenfenster die zerstörte Welt des osteuropäischen Judentums und vor allem ihre vernichteten Bewohner meint, »die/ Menschen-und-Juden,/ das Volk-vom-Gewölk […].« 159 Orte und Bewohner sind ausgelöscht, doch sie ziehen weiterhin an der Erde (V. 8 f.), sie wollen weiterhin wohnen (V. 11), ihre Geschichten sind, Celan: Der Meridian, S. 10. Ebd., S. 11. 157 Worauf der ausführliche Kommentar von Hendrik Birus hinweist (vgl. Birus, Hendrik: Hüttenfenster. In: Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1997 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Folge 3, Bd. 149), S. 307–322. Hier: S. 315). 158 Levinas: Die Obliteration, S. 35. 159 »Volk-vom-Gewölk« ist mehrdeutig (vgl. auch die Ausführungen zu Gespräch im Gebirg, Kap. 5.1.1.). Es verweist auf das 1. Buch Mose: Gott führt die Israeliten als Wolkensäule durch die Wüste (vgl. Birus: Hüttenfenster, S. 311). Dieser befreiende und beschützende Aspekt, der außerdem die Beständigkeit der jüdischen Tradition betont, wird jedoch gebrochen durch die Assoziation des vernichteten Volkes, das ermordet und verbrannt, also zur Wolke wurde. 155 156
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gesammelt im dunklen Auge, weiterhin da, auch dann, wenn sie verdrängt werden sollen, weggeschrieben »mit mimetischer Panzerfaustklaue!« (V. 23). 160 Sie sind im »Verwaisten« (V. 13) anwesend, gerade durch ihre Abwesenheit, und gehen (»– ein Atem? ein Name? –« (V. 12) umher. Ihre ehemaligen Wohnhäuser sind also, wenn der Blick sie nur wahrnehmen will, weiterhin mit ihren Geschichten und ihren Namen erfüllt. Das Bild des Auges als Hüttenfenster erhält seinen einmaligen Sinn aufgrund dieser Bezüge, die im Allgemeinen nicht mit dem Wort ›Hüttenfenster‹ assoziiert werden. Es wird zum Grenz-Objekt, zum versammelnden Symbol. 161 Durch die zunächst sinnwidrig erscheinende Relation des Worts ›Hüttenfenster‹ zu dem mit ihm außerhalb des Gedichts nicht Assoziierten, wird das gesamte Gedicht zu einer metaphorischen Aussage – zu seiner eigenen Tatsächlichkeit im Gegenüber mit der Wirklichkeit des Lesers –, also zu einer lebendigen Metapher im Sinne Ricœurs. Die Wirklichkeit des Gedichts ist dem Leser zunächst fremd, wie das Auge, das ihn als Hüttenfenster anblickt – oder vice versa: das Hüttenfenster, das ihn als Auge anblickt – und ihm als das erscheint, was es nicht ist. Es ist zunächst kein menschliches Auge, es ist Geschichte, vernichtete Geschichte. Doch es hält stand, es sammelt und verbindet die Geschichten miteinander. Die Fremdheit des Auges bleibt ambivalent, je nachdem, ob es als das Auge eines Ermordeten oder als Auge dessen betrachtet wird, der überlebt hat, oder gar als Auge von jemandem, der von außen auf das Versammelte blickt. Wird es nicht als Auge der Ermordeten angesehen, sondern als Auge dessen, der mit ihren Zeugnissen konfrontiert wird, so zeigt sich in ihm die Auseinandersetzung eines Individuums mit einer Geschichte oder mit Geschichten, die nicht zwangsläufig seine eigenen sind, aber zum Teil seiner Geschichte werden (können). Für Celan freilich ist die Rolle des Überlebenden anzunehmen, es ist aber auch denkbar, dass es sich bei dem sammelnden Auge um die Beschreibung des Akts des Eingedenkens handelt, der für alle gilt, die sich dem, »was Welt war, Welt bleibt« (V. 3) annähern. In beiden Fällen aber ist das Auge dunkel, weil es ins Dunkle blickt und weil es in dieser Auseinandersetzung Dieser Vers und das gesamte Gedicht sind eine Auseinandersetzung mit dem Dichter Johannes Bobrowski, dem Celan damit vorwirft, sich als ehemaliger Wehrmachtssoldat unzulässigerweise mit dem Leiden der Juden zu identifizieren und damit seine Schuld zu verdrängen (vgl. ebd., S. 314 f.). 161 Ähnlich der Kerze in Gespräch im Gebirg (vgl. Tidona: Ding und Begegnung, S. 216). 160
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mit dem Fremden seine eigene Identität zurückstellt, wie wir mit der Atemwende gesehen haben. Es ist nicht mit Eigenem belastet und kann sich einer anderen Perspektive öffnen, um als Hüttenfenster zu sammeln, was ›außer ihm‹ ist und es als Gegenwort in seinem Lebensvollzug unterbricht, um dann mit dieser Geschichten-Sammlung zu sich selbst zurückzukehren und sie zum Teil seiner eigenen Geschichte zu machen. Eine mögliche Lesart des Gedichts ist es also, in ihm eine Identitätswerdung beschrieben zu sehen, mit der der Prozess des Lesens und Verstehens, der Prozess der Lektüre eines Textes einhergeht. Der oder das ganz Andere, der oder das im Anderen des Gedichts mitspricht, bleibt auch hier uneinholbar. Das dunkle Auge sammelt zwar ein »wir« in sich (V. 11), möglicherweise die »Menschen-undJuden,/ das Volk-vom-Gewölk« (V. 6 f.), das beansprucht, zum Akteur zu werden, doch bleibt das, was im »Verwaisten« umhergeht (V. 13), ein unbestimmtes »etwas« (V. 11). Ob es sich um einen Atem oder gar einen Namen handelt, bleibt ungewiss und muss mit einem Fragezeichen versehen werden (V. 12). Es kann nicht direkt angeredet werden, es ist geisterhaft, eine »Engels-/ schwinge, schwer von Unsichtbarem, am/ wundgeschundenen Fuß, kopf-/ lastig getrimmt/ vom Schwarzhagel, der/ auch dort fiel, in Witebsk […].« (V. 15–20) Der konkrete Ort Witebsk und das mit ihm transportierte Datum stehen für all jene nun verwaisten Orte, die mit der anwesenden Abwesenheit der Ermordeten erfüllt sind und auf die sich das Auge nun fokussiert. Die »Engelsschwinge«, die für die Ermordeten steht, sucht nun zusammen mit dem Auge, »sucht,/ sucht unten,/ sucht droben, fern, sucht/ mit dem Auge, holt/ Alpha Centauri herunter, Arktur, holt/ den Strahl hinzu, aus den Gräbern […].« (V. 25–30) Wenn wir das Auge als Hüttenfenster nun mit dem Auge desjenigen identifizieren, der dem Gedicht begegnet, so lässt sich also sagen, dass es den Weg zusammen mit den anwesenden Abwesenden des Gedichts durch das Verwaiste nimmt. 162 Die anwesenden Abwesenden, die kaum mehr Atem und Name sind, fordern das Auge des Betrachters in ihrer Manifestation als »Engelsschwinge« auf, ihnen zu folgen. Durch das Gedicht und letztendlich auch außerhalb des Gedichts, in der refigurierten Wirklichkeit, in der das betrachtende Auge das Der Leser ist in die Landschaft des Gedichts verbracht und durchschreitet das Gedicht, das zu seiner eigenen Realität geworden ist (vgl. Szondi: Durch die Enge geführt, S. 51 f.).
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Immer-noch des Gedichts behauptet, wenn es seinen Blick durch das Verwaiste wirft und in ihm das ›Es war‹ im ›Es ist nicht‹ als ›Es wird sein‹ bewährt. 163 Die Geschichten des »Volk-vom-Gewölk« – denn mehr ist nicht geblieben – verbinden die (Über-)Lebenden mit den Ermordeten. Und jene Geschichten sind es, die identitätsstiftend wirken. Auge und »Engelsschwinge« bauen den »Davidsschild« (V. 39) aus den Grundpfeilern jüdischer Geschichte: Aus dem Gestirn (»Alpha Centauri« und »Arktur«), das hier vielleicht für die ewige Schöpfung steht, und »aus den Gräbern« (V. 30), aus der vergänglichen Schöpfung als Gegenpol zum Gestirn, sowie aus »Ghetto und Eden« (V. 31) – aus dem Ort des Leidens und dem Paradies, die beide auf das Vergangene rekurrieren. Aus diesen Erinnerungen »pflückt« (V. 31) die »Engelsschwinge« gemeinsam mit dem Auge »das Sternbild zusammen, das er/ der Mensch, zum Wohnen braucht, hier,/ unter Menschen […].« (V. 32–34) Dieses Sternbild ist der genannte Davidstern oder Davidsschild, der Identität und Schutz bietet. 164 Wenn wir nun wieder an Rosenzweigs Stern der Erlösung denken, so ist der Stern zwar eindeutig jüdischen Ursprungs, hat aber, da in ihm die drei Elemente Gott, Welt und Mensch sowie das gesamte Geschehen Schöpfung-Offenbarung-Erlösung zusammengefasst sind, eine universale Bedeutung (vgl. Kap. 1.4.3.). Diesen Stern, diesen Schild nun braucht der Mensch »zum Wohnen […], hier,/ unter Menschen […].« Dies ist eine Reminiszenz auf »Menschen-undJuden« (V. 6). Damit wird einerseits auf die nationalsozialistische Entmenschlichung der Jüdinnen und Juden verwiesen, andererseits wird diese zugleich aufgehoben. Es ist daher anzunehmen, dass es zunächst der jüdische Mensch ist, der den Davidsschild zum sicheren Wohnen braucht, »hier, unter [nicht-jüdischen Anm. D. M.] Menschen […].« (V. 33 f.) Da aber derjenige seine Menschlichkeit verliert, der anderen Menschen ihr Menschsein abspricht, ist das Bauen (V. 39) des Davidsschilds eine Angelegenheit und Aufgabe aller Menschen, die Menschen sein und bleiben wollen, und vor allem jener, die Das Gedicht wird damit nicht nur selbst zum Gedächtnisort und bleibt dies, während geographische Orte ihren Status verändern. Es kann auch diesen Orten wieder einen Status als Gedächtnisort zuschreiben oder gar Orte zu Gedächtnisorten machen, die historisch keine Bezüge zur Shoah aufweisen (vgl. Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 297). 164 Celan übersetzt das hebräische ( מגן דודMagen David) wörtlich mit Davidsschild und nicht, wie gewöhnlich, mit Davidstern, und betont damit dessen wehr- und schutzhaften Charakter (vgl. Birus, Hendrik: Hüttenfenster, S. 317 f.). 163
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den Weg des Gedichts beschreiten, womit der Davidsschild wiederum seine universelle Geltung zugesprochen bekommt und zum Symbol des Menschlichen überhaupt wird, zum Symbol der Solidarität des Menschen mit den Verfolgten und Ermordeten. Der Davidsschild besteht nun aus den »Strahl[en]« (V. 30) der jüdischen Geschichte, die zusammen gepflückt werden aus Gestirn und Gräbern, Ghetto und Eden. Mit diesen Trägern von Geschichte und Erinnerung schreiten »Engelsschwinge« und Auge »die Buchstaben ab und der Buchstaben sterblich-/ unsterbliche Seele […].« (V. 36 f.) Wir haben schon angemerkt, dass nach der Vorstellung jüdischer Mystiker die Schöpfung aus den Buchstaben der Hebräischen Bibel bestehe, die allerdings in Unordnung geraten seien, und vom Menschen mit der göttlichen Wurzel verbunden werden müssen. 165 Diesen Prozess, der Jichud (Einung) 166 oder Tikkun (Wiederherstellung) 167 genannt wird und zur Erlösung führt, beschreibt nun auch Celan. Das Abschreiten der Buchstaben und ihrer »sterblich-/ unsterbliche[n] Seele« ist zunächst einmal der Weg des Lesers durch das Gedicht. Das Gedicht ist sterblich, einmalig und selbst Kreatur, der Spiegel der »sterblichen Seelenmonade Mensch.« 168 Wir haben gesehen, dass es sich ständig selbst widerruft und seine Bedeutungen nicht aufrechterhalten kann ohne den Menschen, der es im ›Draußen‹ behauptet und verantwortet. Dichtung ist – auch für den Leser im ›Draußen‹ – »Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!« 169 »Unendlichsprechung« meint ein unendliches Sprechen, das niemals zu einem Abschluss gelangt und vom Leser in der aktualisierten Sprache immer wieder aufgenommen werden muss. Dies erscheint als einzige Möglichkeit, das Gedicht als sterbliche Person der Unsterblichkeit anzunähern, und zwar einer Unsterblichkeit, die eine unabschließbare (Wieder-)Aufnahme der Sterblichkeit des Gedichts durch einen anderen Sterblichen ist – ergo eine Art von Stellvertretung als Vollzug des Tikkun im diesseitigen, kreatürlichen und sterblichen Leben. Die sterblich-unsterbliche Seele der Buchstaben kann ebenso auf jenes lebendige Sprechen übertragen werden, das mit dem Text erstirbt, da mit dem Text die ostensive Zeichenfunktion des menschVgl. Talabardon, Susanne: Chassidismus, S. 52. Ebd. 167 Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 294 ff. 168 Celan: Der Meridian, S. 113 (Frgm. 301); De Roche: Die Monadologie des Gedichts, S. 192 f. 169 Celan: Der Meridian, S. 11. 165 166
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menschlichen Dialogs abbricht (Kap. 4.1.). Der Buchstabe ist im Text unsterblich, insofern er – als Zeichen – nicht mehr sterben kann. »Unendlichsprechung« wäre dann – komplementär und parallel zur Annäherung des Sterblichen an die Unsterblichkeit in der Stellvertretung durch den Leser – eine Verlebendigung des Textes durch das Ansprechen des Gedichts als Du. So würde das sterbliche Element der sterblich-unsterblichen Seele der Buchstaben betont, ihre Unsterblichkeit würde in die Kreatürlichkeit zurückgeholt. Das Gedicht wird zum Menschen: Der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, »Aleph« (V. 38), ist mit dem »Jud« (V. 38) zusammengeschlossen. »Jud« setzt für den Buchstaben Yod den Menschen, den Juden. Das Gedicht ist mit seinen Buchstaben, mit »Aleph und Jud« also ebenso ansprechbar und sprechend wie ein Mensch. Es ist ein Zeuge des Menschen, ein Zeuge der Ermordeten und steht für diese ein. Der Buchstabe (»Aleph«) steht für einen Menschen (»Jud«). Doch den Davidsschild, der nun das Gedicht selbst sein kann, gebaut aus Erinnerung, Tradition und Sprache, lässt die »Engelsschwinge« nach einmaligem Aufflammen wieder erlöschen (V. 40 f.). Das Gedicht ist schon nicht mehr, der ganz Andere – die »Engelsschwinge«, Atem und Name – entzieht sich mit dem Erlöschen des Gedichts als Davidsschild erneut. Wie das Gedicht als Tüchlein in Schwarze Flocken ist auch das Gedicht als Davidsschild, zu dem es aus der Sammlung des Hüttenfensters geworden ist, ein Ausdruck von Hoffnung und Tragik zugleich. Die erhoffte Begegnung bricht wieder ab, die Identität (des Überlebenden) bleibt bedroht und prekär. Doch es gibt noch eine Wendung: Der Davidsschild ist erloschen, aber er steht weiterhin, wenn auch unsichtbar (V. 41 f.), steht bei Alpha und Aleph, bei Jud, bei den andern, bei allen: in dir, Beth, – das ist das Haus, wo der Tisch steht mit dem Licht und dem Licht.
Das Gedicht – das Eingedenken, die Begegnung mit der »Engelsschwinge«, mit Atem und Name sind flüchtige Momente. Aber sie schreiben sich ein in die Welt als unsichtbare Spuren, die wieder auf408 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
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flammen können. Als Gedächtnis der Toten steht der Davidsschild »bei Alpha und Aleph, bei Jud,/ bei den andern, bei/ allen […].« (V. 43 ff.) Er steht also sowohl bei der griechisch-hellenistischen Tradition (»Alpha«) als auch bei der biblisch-hebräischen (»Aleph«), beide haben die Identität des europäischen Judentums geprägt. Ebenso steht er bei »Jud« – als der Buchstabe, der für die Juden selbst steht, für die Menschen, die der Alpha-Aleph-Tradition angehören – und »bei den andern, bei/ allen […]«, wobei die Frage ist, ob hier Buchstaben oder Menschen gemeint sind. 170 Gemäß dem, was wir nun bereits über das Gedicht gesagt haben, ist wohl beides der Fall. Hier ist wieder der Aufruf zur Solidarität zu vernehmen: Gemeinsam den Davidsschild zu bauen und ihn immer wieder zum Leuchten zu bringen. Sie alle, Menschen und Buchstaben, sind aufgehoben »in/ dir,/ Beth, – das ist/ das Haus, wo der Tisch steht mit/ dem Licht und dem Licht.« (V. 45 ff.) Beth ist der zweite Buchstabe des hebräischen Alphabets: ב. Er ist aber auch der Buchstabe, mit dem die Thora beginnt: ְבּ ֵראִשׁית ָבּ ָרא ֱאל ִֹהים ֵאת ַהָּשַׁמ ִים ְוֵאת ָהאָ ֶרץIm Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Himmel und Erde, also die gesamte Schöpfung, und auf Hüttenfenster bezogen Alpha, Aleph, Jud und alle anderen Buchstaben und Menschen sind von Beth umschlossen. Beth ist aber auch das Haus. Beth ist der sogenannte status constructus, die Genitivform von Bayit (Haus), und auch der Buchstabe selbst ist als stilisiertes Haus deutbar. Celan nutzt diese Genitivform, um jene Doppeldeutigkeit zu erzielen. Sie verweist aber auch auf das, was fehlt, nämlich auf das zum Haus gehörige Genitivobjekt, das im Gedicht ausgespart bleibt. Es ist unsichtbar, wie auch der Davidsschild. Es lässt sich in etwa an Beth-El denken, das Haus Gottes, 171 das nun leer steht – verwaist wie der Ort, an dem die »Engelsschwinge« umhergeht und ein neues Heim für die Überlebenden und die Ermordeten zu erbauen versucht. Beth fordert aber auch die Verbindung Beth Knesset heraus, das Haus der Versammlung: Die Synagoge, »wo der Tisch steht mit/ dem Licht und dem Licht.« Der Tisch mit den beiden Sabbatkerzen. 172 Das Licht also ist noch da, auch im Haus, das nach Vgl. Birus: Hüttenfenster, S. 318 f. Vgl. Meinecke, Dietlind: Wort und Name bei Paul Celan. Zur Widerruflichkeit des Gedichts. Bad Homburg v. d. H.: Gehlen 1970 (Literatur und Reflexion, hrsg. v. Beda Allemann; 2), S. 136. 172 Vgl. Kommentar von Wiedemann, in: Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 831. 170 171
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der Shoah leer ist, brennen noch Lichter. Es sind Lichter, die von der Abwesenheit Gottes im Verwaisten zeugen, aber auch von seiner (wieder) möglichen Anwesenheit; Lichter, die den Strahl aus den Gräbern (V. 30) repräsentieren und den erloschenen Davidsschild, der unsichtbar ist und wieder aufflammen kann. Sie versprechen Hoffnung in aller Tragik und erscheinen im dunklen Auge, das sich im Verlauf des Gedichts vom Hüttenfenster über den Davidsschild zum Haus erweitert. Sie erleuchten das Auge/das Hüttenfenster/das Haus, das nun nicht mehr dunkel ist. Das Licht und das Licht stehen auch dann, wenn Erinnerung und Identität bedroht sind, wenn das Haus eine Leerstelle offen hält und bloß als verstümmelte Genitivkonstruktion ohne Bewohner erscheint. 173 Damit sind die Lichter nicht bloße Gedenkkerzen, keine obligatorischen Insignien eines hohlen Ritus, sondern Ausdruck einer Transzendenz, die zwar gebrochen ist und unsichtbar im Verwaisten erscheint, aber dennoch die Präsenz des Anderen im Eigenen markiert. Sie sind Zeichen der Verschränkung von Selbstheit und Fremdheit, mit der beladen das Ich zu sich kommt. Dies gilt sowohl, wenn man das Auge als Auge des Überlebenden betrachtet, als auch dann, wenn man es mit dem Leser des Gedichts identifiziert. Beide Identitäten bedürfen der Andersheit, können nur im Antlitz der Ermordeten und in der Erinnerung an sie zu sich selbst kommen (im Sinne der Ipséité Ricœurs). In Totalität und Unendlichkeit von Levinas haben wir die Verbindung des Subjekts zum Anderen im Haus gesehen, das der Gastgeber dem Anruf des Anderen öffnet (Kap. 3.1.). 174 Bei Celan wird das Eigene erst zu einem Selbst, das bestehen kann, insoweit es das Andere in sich aufnimmt und sich so Wohnung und Heimat schafft, im Mit-sein mit der anwesenden Abwesenheit der Ermordeten. Hierfür steht das Licht, das ein anderes Licht hat, von dem es sein Strahlen empfängt. Meinecke weist auf die mögliche DoppelbedeuCelan gebraucht die Lichtmetaphorik entgegen seiner Tendenz häufig ganz traditionell als Ausdruck von Hoffnung, Weiterbestehen, Überleben und Möglichkeit von Heimat. So in etwa in seinem Gedicht Einmal (Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, S. 218) oder Du sei wie du (ebd., S. 308 f.), wo er – auf Meister Eckhart rekurrierend – in der Gehugnis (dem Gedächtnis) das Band zum Anderen und zu Jerusalem als Prisma jüdischer Identität neu geknüpft sieht. Zu Einmal lässt sich allerdings anmerken, dass das Licht bereits vergangen ist: »Licht war. Rettung.« (V. 9) Muss das Licht erst verlöschen, damit Rettung sein kann? Oder ist auch die Rettung nur ein kurzer, flüchtiger Moment? Es zeigt sich, dass Celan den Ausdruck von Hoffnung und Erlösung nur selten ungebrochen und eindeutig formuliert. 174 Vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 103. 173
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Begegnungen mit dem Gedicht – Zwei Beispiele
tung des zweifachen Lichts hin, auf die mittelalterliche Unterscheidung von lux (physikalisches Licht) und lumen (metaphysische Erleuchtung), 175 zieht aber keine weiteren Schlüsse aus dieser Feststellung. Es lässt sich jedoch, so wie Levinas es tut, an die Idee des Guten bei Platon anschließen, die als ein Licht gedeutet wird, das absolut von sich her kommt und benötigt wird, »um das Licht zu sehen.« 176 Das Gute bringt mit seiner exterioren Strahlkraft von Jenseits des Seins das weltliche Licht zum Leuchten, das von sich aus niemals erstrahlen könnte. Freilich lässt sich aufgrund der tendenziellen Negativität der Dichtung Celans nicht von einer reinen Idee des Guten ausgehen, von der alle Schöpfung abhängig sei und von der sich ihr Sein speise. Doch kann dieser Gedanke mit Hinweis auf die Meridian-Rede adaptiert werden, insofern Celan im Gedicht nach der eigenen Herkunft sucht und nach den Orten, die nun auch jenseits des Seins sind und, wie die Idee des Guten, auf dem direkten Wege unerreichbar scheinen. Er wählt den Weg über die Buchstaben, Alpha, Aleph und Jud, über die sterblich-unsterbliche Seele des Buchstaben, der den Menschen bezeugt und in dem der ganz Andere mitspricht, um zu den Orten seiner Kindheit zu gelangen, 177 die für ihn utopischen Charakters sind und von dem künden, was einst gut war, aber an das Grauen der Verfolgung und Ermordung grenzen. Hier baut er sein Beth, sein leeres Haus, das zur einzigen noch zugänglichen Wohnung wird und ihm Zuflucht und Licht in seiner doppelten Bedeutung verspricht. 178 Die Dichtung zeugt vom Jenseits des Seins und in ihr ist auch das Vergessene zu Hause. Und wenn das Vergessene beziehungsweise sich zum Vergessen Neigende, der erloschene Davidsschild, dort bei »dem Licht und dem Licht« steht, so ist zumindest sein Schatten zu sehen, der zugleich auf die Utopie der rettenden Heimat und auf diejenigen verweist, die nicht mehr gerettet werden können. Das metaphysische lumen steht in einem Spannungsverhältnis zum defizitär Faktischen, antizipiert aber ebenso die Möglichkeit, den Davidsschild in der und durch die eigene Identität wieder erstrahlen zu lassen. Daran zu arMeinecke: Wort und Name bei Paul Celan, S. 136. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 275. 177 Vgl. Celan: Der Meridian, S. 12. 178 Für die physisch-metaphysische Doppelbedeutung des Lichts spricht auch, dass in einer Vorstufe von Hüttenfenster »mit/ dem Licht und der Leuchte« zu lesen ist (Celan, Paul: Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull. Frankfurt: Suhrkamp 1996 (Tübinger Celan-Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Wertheimer), S. 122). 175 176
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Paul Celan
beiten ist dann die Aufgabe des Lesers, der aus dem Gedicht heraus dessen Immer-noch in seiner Lebenswirklichkeit behauptet und im Verwaisten nun die »Engelsschwinge« vernehmen kann – eingedenk der Daten und Orte und Menschen überall dort, wo das blickendsammelnde Auge in der Neubeschreibung seiner Wirklichkeit durch das Gedicht mehr sieht und sehen will als nur ein leeres Hüttenfenster.
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6. Abschließende Bemerkungen: Der Leser als Zeuge
Der Weg des Bezeugens ist nicht abzuschließen. Er führt über Umwege, über die Welt des Gedichts, seine Orte und Nicht-Orte, und führt schließlich zurück in die Welt, ebenfalls auf Umwege deutend und auf Orte und ihre Menschen, die einmal waren. Er ist selbst ein Weg jenseits aller gewohnten und abgesicherten Wege. Oft schwankt man auf diesem Weg, der sich nicht befestigen lässt. Aber man kann lernen auf ihm zu gehen. Man kann lernen, auf das Unvertraute zu vertrauen und mit dem Verdacht gegenüber der eigenen Geschichte (Kap. 4.3.3.), der sich nicht umgehen lässt, konstruktiv umzugehen. Das hat sich, so hoffe ich, in den letzten Kapiteln gezeigt. Mit Paul Ricœurs Theorie der narrativen Identität haben wir die Möglichkeit gefunden, trotz aller Prekarität, die immer bleibt, die Einsamkeit der Stellvertretung als integralen Bestandteil des Daseins anzunehmen und mit ihr letztendlich auch die eigene Lebensgeschichte sinnvoll auszugestalten – im Bewähren und Bewahren der Leidens- und Schuldgeschichten (vgl. These 6). Nicht, dass damit auch nur ein Quantum der Absurdität der Abwesenheit der Ermordeten aufgehoben wäre! Aber einer Bestätigung dieser Absurdität käme es gleich, die eigene Stimme, angereichert von den Leidensgeschichten der Ermordeten, die zugleich auf die Schuldgeschichten ihrer Mörder verweisen, nicht mehr gegen die Leere und das Rauschen des Es-gibt zu erheben (Kap. 3.3.4.). Das Dasein kann dann bedeutsam sein, wenn es diese andere Weise zu bedeuten, die ein Hindeuten auf den Entzug der ganz Anderen ist, die nicht mehr sprechen können (Kap. 3.3.), in gewisser Weise ›verinnerlicht‹ hat. Verinnerlichen, das heißt, die Fähigkeit zum Erschüttertsein oder zur Fassungslosigkeit in sich zu bewahren. Dies ist keineswegs sentimental zu verstehen. Es bedeutet aufmerksam zu sein, es bedeutet eine Wachheit und Wachsamkeit und die Möglichkeit eines Wiedererwachens. Es bedeutet eine Haltung anzunehmen, die sich aktualisieren lässt. Im Betrachten von Kunstwerken, im Lesen von Literatur, im Gespräch. Letztendlich im Alltag, sodass die Straßenzüge, die Häuser, die Natur mit anderen, 413 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Abschließende Bemerkungen: Der Leser als Zeuge
mit offenen Augen im Hinblick auf Leidens- und Schuldgeschichten betrachtet werden können, mit dem Auge als Geschichten sammelndes Hüttenfenster. 1 So wird der Leser zum Zeugen für die Geschichten der Ermordeten weit über das Gedicht hinaus. Und kann so seinen Beitrag leisten, die Kraft des Eingedenkens und der Versöhnung in der Sprache zu bewahren und zu bewähren und das »Es wird sein« oder eher das »Sie werden sein« zu behaupten. Die Toten und Ermordeten haben noch mitzureden – nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in Gegenwart und Zukunft. Dies ist ein Beitrag, ein Mosaiksteinchen innerhalb eines Konzepts einer auch in Zukunft noch möglichen und notwendigen Erinnerungskultur, mit dem es sich – so die in dieser Arbeit formulierte Hoffnung – vermeiden lässt, die Toten und Ermordeten sowie die noch lebenden Überlebenden oder ihre Nachfahren zu instrumentalisieren. Ein Konzept, das freilich nicht nur den Beitrag einer reflektierenden Philosophie benötigt, sondern auch pädagogische, literaturwissenschaftliche und theologische Ansätze miteinbeziehen muss – und wahrscheinlich vieles mehr. Denn es hat sich gezeigt, dass das philosophische Sprechen und Denken mit der Reflexion über die Ermordeten und ihre Geschichten an seine Grenzen stößt. Es bedarf, wie Sprechen und Denken überhaupt, der Dichtung, um empathiefähig und wachsam bleiben zu können und über den Begriff hinauszugehen, der vom Nichtidentischen des Anderen gesprengt wird. Das Gesagte kann im Sagen widerrufen werden – dann tritt aus dem Gesagten die Gegenwart des Anderen hervor, auch wenn sie nicht gegenwärtig bleiben kann und uneinholbar bleibt. Aber vielleicht ist das Gespräch dann, auch über diese Begegnung hinaus, näher am Anderen und weniger nahe am Verbrechen.
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Sach- und Personenregister
Abel 203, 306 Abendmahl 187–188 Abgeschlossenheit 177, 254, 262 Abraham 203, 283 Absolutes 250, 255, 277–278 Absolutheit 114, 251 Absolution 250, 253 Absurdität, absurd 298, 307–309, 413 Abwesenheit, abwesend 14–15, 26– 28, 30–31, 38, 95, 99, 114–115, 181, 191, 201, 224–225, 248, 274–275, 278, 280, 290, 293–294, 298–311, 329–330, 336, 339, 344, 347, 349– 350, 355, 360–361, 368–369, 377– 378, 394, 396–399, 404–406, 410, 413 Adam 91 Adorno, Theodor W. 20, 137, 327– 328, 354 Affektion, affizieren 259, 269, 336, 346 Affirmation 43–44, 58, 78, 81, 90–91, 99, 163, 347 Ahnen, s. auch Vorfahren 23, 103– 105, 166–167, 186, 354 Akkusativ 258, 283, 285, 345–346 Akkusativ-Identität 260 Aktualität, Aktualisierung 41, 73, 118, 171, 275, 327, 371–373, 378 Album, s. auch Familienalbum 195, 214, 244 Alexander der Große 43 All 34–35, 80, 83, 85–86 Allgemeines 42–44, 47, 84, 95 Allheit 100, 102 Alltag, alltäglich 17, 30, 49–50, 66, 78, 89, 97, 108, 110, 120, 151, 154,
156–157, 170, 199, 205–206, 218– 219, 233, 248, 251, 303, 305–306, 308, 310, 315, 330–331, 333, 337, 342, 349, 386, 402, 413 Ambivalenz, ambivalent 217, 224, 272, 366, 391, 393, 399, 404 Améry, Jean 23–24, 122–123, 133– 153, 174, 198, 200, 230, 234–235, 246, 309–310 Amnesie 171 An-archie, an-archisch 258–260, 284–286 Andenken 31, 165, 363, 365 Anders-als-sein (Levinas) 271, 297, 303 Andersheit 26, 64, 66, 80, 94, 116, 169, 225, 237, 249, 256, 259, 275, 278, 309, 384, 410 Aneignung, aneignen 112, 116, 120, 139, 208, 225, 278, 301 Anerkennung, anerkennen 24, 26, 42, 44, 48–49, 62, 66, 94, 132, 166, 174, 195, 210–211, 213–214, 220, 224– 227, 237, 239, 257, 272, 277, 283, 301, 315, 326, 358, 392 Anfang 54–55, 78, 112, 120, 184, 196–197, 259, 263, 270, 334–335, 383–384 Anfangslosigkeit, s. auch An-archie 284 Angebot, anbieten 252–254, 263, 365 Angst 34, 141, 163, 295 Anklage 124, 127, 129, 133, 258–259, 261, 276, 285–286, 345 Anonymität, anonym 95, 303, 305– 306, 308–311, 360 Anrede 64, 68–69, 95, 397, 405
429 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Anruf 91–92, 158, 193, 252, 261, 283, 296, 356, 410 Anspruch der Vergangenheit 24, 40, 50, 174, 177, 198, 220, 239, 242, 339, 347 anthropologisch 62, 74, 76, 79–80, 152–153, 166–167, 187, 193, 359 Antike, antik 79, 82, 84–85, 206–207, 209 antinomisch 68, 77, 82, 84 Antisemitismus 16, 18–21, 31, 107, 136–137, 171, 240, 242, 358, 375 Antlitz 26, 56, 175, 248–252, 263, 265–266, 269, 271–272, 274–278, 282–283, 288, 293–294, 297, 305, 311, 410 Antwort, antworten 23, 62, 64, 66, 68–69, 71, 89–92, 94, 113, 196, 252, 265–266, 281, 283, 285–286, 316, 328, 336–337, 345, 356–357, 380 Apriori der Beziehung (Buber) 63 Arendt, Hannah 152, 342 Aristoteles 207, 371 Armengaud, Françoise 26, 292 Assmann, Aleida 15, 180–181, 183, 186–187, 196–197, 200, 214, 217, 220–221, 226, 289 Assmann, Jan 15, 180, 221 Ästhetik, aisthēsis 26–27, 75, 216, 223, 248–249, 254, 262, 265, 293, 296, 300, 310–311, 336–337, 343, 368, 395 asymmetrisch 26, 185, 346 Atem (Celan) 383–385, 400, 404– 405, 408 Atempause (Celan) 378, 381, 383 Atemwende (Celan) 27, 379, 383– 384, 386, 388, 396, 400, 403, 405 Auferstehung 303 Aufgefordertsein als Struktur der Selbstheit (Ricœur) 346 Aufhebung der Zeit 148–149 Aufklärung 136–138, 140 Aufmerksamkeit 31, 116, 283, 294, 380 Aufschub, s. auch différance 38, 115– 117, 300, 317, 319, 371, 383
Augustinus 28, 189 Auschwitz 21, 28, 31, 122, 133–134, 138–139, 147, 150–151, 215–216, 241, 247 Ausdruck, poetischer (Levinas) 268– 271, 279, 298 Autobiographie, autobiographisch 111, 168 Autonomie, autonom 115, 153–154, 159, 251, 298, 308, 315–317, 336, 369, 390 Bachmann, Ingeborg 374–376 Bahlmann, Katharina 265, 305 Barth, Heinrich 198 Barthes, Roland 316 Bedeutsamkeit der Bedeutung (Levinas) 279, 281, 295, 322, 329 Bedeutung –, metaphorische 269, 325, 327 –, wörtliche 319, 322, 353 Befehl, befehlen 54, 91, 198, 200, 236, 252, 254, 276, 284–285, 310, 366, 396 Befleckung, s. auch Miasma 25, 207, 209–212, 237 Befremdung, befremdet 59, 120, 345, 380, 383 Begehren (Levinas) 250, 253–254, 263, 269, 275, 291 Begriffsnetz (Ricœur) 332 Beherrschungshermeneutik 59, 169 Bejahung (Rosenzweig) 75, 78, 80– 81, 83–85, 90–91, 99 Benennung 51, 54, 91, 94–96, 98–99, 157, 159, 198–199, 264 Benjamin, Walter 24, 37–40, 49–50, 97, 117–119, 121, 173–179, 181, 183–184, 198–199, 210, 216, 221– 223, 240, 242–244, 278, 298–299, 338, 349, 369, 374, 381, 390 Bennke, Johannes 292–294, 296 Bergmann, Werner 20 Berührung 56, 210, 274–276, 280– 281, 287–288, 297, 309, 317, 324 Besessenheit (Levinas) 259, 269–270, 275
430 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Besinnung 165, 167, 170–171, 180, 193, 236 Besitz 49, 159, 252–254, 258, 308 Besonderes, Besonderer 34, 42–44, 54, 71, 84, 91, 94, 163 Bewährung, bewähren 22, 27, 31–32, 87, 92, 94, 102, 107, 121, 132, 196, 200, 211, 223, 229, 248, 257, 262, 284–285, 288, 290–291, 328, 336, 347, 361, 374, 376, 385–386, 392, 396, 400, 406, 413–414 Bezeugung, Bezeugen 29, 32, 106, 302, 313, 330, 341, 344–348, 399, 413 Beziehungsgeflecht 73 Beziehungskraft 69, 73 Bibel, biblisch 65, 81, 94, 96, 98, 106, 178, 180, 184, 202, 385, 407, 409 Bild 38–39, 58, 117–118, 171, 173, 179–180, 183, 242, 249, 259, 279, 283, 288–290, 296–297, 300, 320, 325, 355, 371, 402 Birus, Hendrik 403, 406, 409 Bleibe, s. auch Haus 251–252, 255, 308 Bobrowski, Johannes 404 Bodemann, Michal Y. 217 Bonaparte, Napoleon 43 Böning, Thomas 360 Borowsky, Peter 238–239, 243–244 Brecht, Bertolt 13–14, 21 Brierley, David 384 Broszat, Martin 244 Bruch 113, 116, 147, 174, 202, 218, 229, 280–281, 286, 310, 323, 331, 333, 336, 379, 385, 388 Brumlik, Micha 216, 221, 238 Buber, Martin 22, 40, 60–73, 75–76, 89, 91, 93, 96–98, 101, 108, 110, 121, 158, 164, 204–206, 251, 260, 282, 306–307, 326, 350–351, 356, 363–364, 367, 381 Büchner, Georg 377 Buhr, Gerhard 378–379, 384 Bundesrepublik, bundesrepublikanisch 17, 30, 131, 137, 170, 212, 215, 222, 227, 237–238, 240
Camus, Renaud 19 Cäsar, Julius 43 Casper, Bernhard 36–37, 67–70, 75– 77, 101 Celan, Paul 13–14, 20–21, 25, 27, 74, 114, 116, 265, 270, 277, 280–282, 289–290, 293–294, 297, 300, 311– 313, 321, 325–326, 330, 334–335, 344, 348–354, 356–357, 359–389, 391–393, 395–399, 401–404, 406– 407, 409–411 Chagall, Marc 402 Chassidismus, chassidisch 98–99, 203–205, 221, 363–364, 407 Chmielnicki (Hetman) 394–395 Christentum, christlich 32, 36, 59, 78, 87, 102–103, 105–107, 154, 163, 168, 187–190, 192, 219, 222, 357– 358, 394 conatus 256, 262, 290, 301 Conditio humana 152 conscientia 23, 156, 158, 163, 165– 166, 172, 187–188, 193, 236, 246, 304, 333, 363 Daseinsschuld, s. auch existentielle Schuld 153, 155, 157, 163, 182, 186–187, 191 Davidsschild, s. auch Davidstern 401, 406–411 Davidstern, s. auch Davidsschild 77, 406 de Roche, Charles 369–370, 375–376, 388, 407 Demnig, Gunter 304 Demut, demütig 91–92, 94, 99, 130 Der-Eine-für-den-Anderen, s. auch Stellvertretung (Levinas) 255, 258, 264, 271, 279, 282–286, 288–289, 296, 298, 304, 308–309, 344 Derrida, Jacques 27–28, 114–116, 274, 317, 339 désintéressement (Levinas) 254–255, 258, 263, 283, 290, 297 Desubstantiation des Ich 282, 289 Determiniertheit 58, 254
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Sach- und Personenregister Diachronie, diachron 37, 255, 258, 264, 267, 271, 273, 279, 282, 300, 302, 332 Dialektik, dialektisch 29, 40, 42–43, 45, 47–48, 71, 81, 119, 136–138, 256, 259, 294–295, 327–328, 343– 344, 347 Dialog 22–23, 29, 58, 74–75, 89, 91– 93, 107, 113, 340, 350, 352, 363, 365, 368, 376, 380, 393, 408 –, innerer 30, 101 Dialog der Sprachen 97 Dialog der Zeiten 178, 182, 247, 363, 390 Dialog mit der Vergangenheit 185 Dialogik 29, 40, 66, 72, 253, 282 dialogisch 27–28, 33, 40, 51, 54, 58– 60, 65, 72, 76–77, 91, 121, 128, 158– 159, 210, 220, 257, 281, 314, 349– 350, 352, 384, 387, 398 Dialogische Identität 111 Dialogisches Erinnern 220 Dialogizität 78 Dialogphilosophie 22, 60–61, 72, 76, 351 Dialograum 359, 367 Dialogsphäre 98 Diastatische Identität (Levinas) 260, 301 Dichtung, dichterisch 27–30, 116, 121, 212, 265, 270, 280, 288–289, 293, 297, 311, 313, 320, 324, 326– 328, 349–350, 366, 369, 371–373, 375, 382, 384, 387, 391, 399, 407, 411, 414 différance (Derrida) 115–117, 120, 182, 275, 294, 300, 317, 337, 372 Dinghaftigkeit 266, 297, 339 Dingwelt 62, 357 Diskontinuität 29, 39, 45, 110 Dissonante Konsonanz (Ricœur) 110, 342 Distanz, distanzieren 29, 57, 62, 69, 122, 212, 240, 249, 328, 361 Distanzierung 244, 328–330, 343– 344 Dokument 119, 173, 176, 340
Drama, dramatisch 75, 111, 116, 121, 159, 199–200, 204, 212, 256, 296, 313 Dritter 56, 74, 133, 135, 140, 143, 232, 237, 257, 271, 274, 278, 282, 289, 305, 349, 357, 379 Dunkelheit 113–114, 271, 294, 298, 378, 380, 382, 392–393 Dunker, Axel 28, 355, 406 Eckhart 410 Eggers, Maureen Maisha 169, 172 Egoismus, egoistisch 29, 42, 74, 109, 250, 253–254, 256–257 Ehrenberg, Hans 37 Eichmann, Adolf 152 Eigenes 31, 109, 163–164, 166, 178, 216, 253, 257, 279, 309, 354, 383, 405, 410 Eigengeschichte, s. auch Fremdgeschichte 54, 57, 59, 72–73, 257 Eigenname, s. auch Name 91, 94–95, 98, 100, 277, 280, 323, 352, 379 Einbildungskraft 335, 340, 347, 387 Einfühlung 39, 243–244, 304 Eingeborenes Du (Buber) 63–64, 68, 91 Eingedenken 14–15, 17, 23–24, 27, 31, 33, 99, 104, 106–107, 119, 150, 165, 167, 171–180, 182–187, 190, 192–194, 198, 213, 216–217, 220– 222, 229, 237, 239, 244, 247, 273– 274, 282, 286, 290, 304, 324, 329, 349, 363–364, 368, 387, 389–390, 392–393, 396, 404, 408, 414 Einzelner 34–35, 42, 44–45, 53, 55, 67, 72, 75, 84, 91, 93, 100, 102, 107, 109, 127–129, 131, 192, 194–195, 208, 233, 272, 341, 382 Einzigkeit 259, 261, 277, 341 Eisenman, Peter 216 Ekstase, ekstatisch 25, 209–212 Elemente, s. auch Urphänomene 35, 37, 77–81, 83, 85–90, 93, 99, 406 Eliezer, Israel ben 221 Emmerich, Wolfgang 27, 290, 364– 367, 375
432 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Engagement 263, 269, 371 Engel der Geschichte (Benjamin) 175–176 Entfremdung, entfremdet 29, 56–57, 109, 112, 116, 145, 190–191, 253, 261, 344, 355 Entinnerung 171 Entschlossenheit (Heidegger) 161 Entwurf 29, 85, 93, 153, 158–159, 163, 194, 372, 377, 391, 393, 396 Entzug 27, 29, 40, 216, 247, 249, 262, 265, 271, 274, 276, 278, 293–295, 297, 301, 303–304, 309–311, 323, 328, 339, 347, 350, 369, 378–379, 413 Erbschuld 209 Erbsünde 189 Erdmann, Eva 179 Erinnerungsarbeit 179, 183, 185, 192, 390 Erinnerungsfragmente 183, 392 Erinnerungsgemeinschaft 178, 220 Erinnerungskultur 15–17, 25, 180, 214–215, 217–218, 220, 222, 226– 227, 247–248, 414 Erinnerungssolidarität 222 Erkenntnistheorie, messianische (Rosenzweig) 87 Erklären, Erklärung 315–317, 319– 320 Erleben 78, 86, 101, 107–108, 138– 139, 143, 230, 247, 300, 304, 377, 394 Erlebnis 56, 101, 113, 196, 330, 332– 333, 337, 342, 368 Erlösung 18, 22, 32, 34–37, 71–72, 76–78, 80, 86–87, 89–90, 93, 95, 98–100, 102, 106–107, 155, 176, 184, 187, 201, 203–204, 218, 221– 222, 228–229, 338, 403, 406–407, 410 Erzählung vor der Erzählung 108, 120 Erzählzusammenhang, Erzählungszusammenhang 25, 103–104, 332
Es-gibt (Levinas) 305–311, 413 Eschatologie, eschatologisch 38, 184, 222–223, 291, 303 Eswelt (Buber) 62–63, 65, 67, 69, 71, 73–75, 92, 98, 109–110, 112, 251, 360, 381 Eucharistie 184, 187, 190, 192, 209, 218 Existenzmöglichkeit (Heidegger) 158, 162–163 Exteriorität 26, 66, 102, 114, 160, 249, 260, 284, 411 Familienalbum, s. auch Album 30, 245 Familiengedächtnis 30, 195, 214 Familiengeschichte 131, 166, 185, 195, 213, 215–216, 227, 240, 246, 248 Faus, José Ignacio González 188 Feld, Itzak 395 Felstiner, John 351, 354, 357, 362, 396, 402 Fest, Festtag 104, 177, 183–184, 186 fiendum 198–202, 204, 208, 210, 212, 224–225, 227, 236–237, 239, 247, 304, 327, 338–340 fiendum-fieri-factum 198, 200 Fiktion, fiktional 121, 313, 318, 326, 331, 338–342, 369, 371 Firges, Jean 392–395, 401 Flashar, Hellmut 207 Fragment, fragmentarisch 39, 173, 179, 270, 299–300, 304, 333–334, 386 Frege, Gottlob 318 Freiheit und Schuld 34, 46, 131, 133, 153–154, 187, 189, 196, 203, 253– 254, 396 Fremder, Fremdes 16, 27, 73, 88, 163, 169, 172, 180, 226, 230, 252, 276– 278, 290, 349, 351–352, 354, 362– 366, 369, 374–376, 378, 383–385, 405 Fremdgeschichte, s. auch Eigengeschichte 53–55
433 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Fremdheit 116, 225, 263, 270, 276, 278, 282, 318, 335, 343, 383, 404, 410 Friedländer, Saul 237, 239, 242–245, 340 Fritsche, Johannes 161–162 Frye, Northrop 320 Fundamentalontologie 158, 165–166 Funke, Hajo 216, 221, 223 Funktionsgedächtnis 180, 183, 196 Gabe, Geben 23, 116, 159–160, 163, 188, 193, 253, 255, 263–264, 281, 284, 291 Ganz Anderer, ganz Anderes (Celan) 277, 283, 368, 378–384, 386, 388, 390, 396, 405, 408, 411, 413 Gastlichkeit (Levinas) 251 Gebet, Beten 76, 93, 103, 174, 177, 183, 287–288 Gebot 91–92, 95, 99, 180, 205, 252, 284 Gedächtnis –, kollektives 150, 171, 181, 220–221 –, kommunikatives 15 –, kulturelles 15, 117, 150, 180–181, 221 –, latentes 181 Gedächtniskerze, Gedenkkerze (Waldmann) 16, 18 Gedicht als Person 369, 375, 407–408 Gegen-Erzählungen, Gegen-Geschichten 24–25, 28, 30, 166–167, 171–172, 185, 189, 194–195, 199– 200, 202, 211, 213–214, 217, 220, 223, 240, 245–246, 248, 257, 262, 337, 341, 343, 380, 386, 400 Gegen-Identifizierung 215 Gegenüber 63, 265, 289–290, 372, 375, 380, 404 Gegenwärtigkeit 72, 92–93, 101, 236, 248, 369–370, 378 Gegenwort (Celan) 377, 380–381, 386, 400, 405 Geisel, Geiselschaft 301 Geisel, Geiselschaft (Levinas) 258– 259, 301–302
Gemeinde 100–105, 187 Gemeinschaft 27, 67, 75, 94–95, 100, 102–103, 107, 153, 161, 178, 180, 186, 210, 217, 220, 261 Gemoll, W. 187 Generationengedächtnis 15 Generationenkonflikt 204 Genuss 48, 250–254, 308–309 Gerechtigkeit 170, 174, 229, 239, 291, 346 Gerhartz, Ingo Werner 25, 32, 206– 210 Gesagtes (dit) (Levinas) 13–14, 20, 263–265, 268–274, 277–281, 285, 287–288, 293, 296, 298–301, 303, 305–306, 310–311, 327, 364, 372, 414 Gesang 89, 97, 100–101, 103, 265, 291, 325 Geschichte vor aller Historiographie (Levinas) 268, 298 Geschichten-Philosophie, Philosophie der Geschichte(n) 22, 33, 58–59, 72, 300 Geschichtlichkeit 104, 160, 163, 346 Geschick (Heidegger) 161–164, 360 Gesicht, s. auch Antlitz 265–266, 271, 276, 294–295, 297 Gespräch 13–14, 20–21, 56, 73, 78, 89, 111, 113, 123, 128, 150, 194, 233, 268, 271–272, 314, 316, 328, 355–356, 360, 365, 380–381, 414 Geviert (Heidegger) 360 Gewaltgeschichte 215, 217, 220, 225, 242 Gewebe des Gedichts/der Erinnerung (Celan) 355, 365, 395, 397, 399 Gewissen 126–129, 147, 154, 158– 160, 163, 165, 172, 193, 228, 236, 346 Giordano, Ralph 226–227 Gleichzeitigkeit, s. auch Synchronismus 256–257, 267, 269, 271–272, 313, 322 Goebbels, Joseph 231 Goethe, Johann Wolfgang 231 Gogol, Nikolai 296
434 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Grammatik, grammatikalisch, grammatisch 33, 81, 89, 94, 103, 115, 260 Grass, Günter 236 Grätzel, Stephan 15, 21, 23–25, 32, 35–36, 40, 48, 54–56, 62, 67, 74, 86, 94–95, 97–98, 108–112, 117–118, 121, 129, 153–160, 162, 165, 171– 172, 182, 185–188, 193, 195–201, 203–204, 206, 209, 229–230, 286, 303, 313, 318, 324, 332 Grenz-Objekt 74, 359–361, 381, 404 Grenze des Verstehens 111, 115 Grenzsituation (Jaspers) 130, 150 Grosjean, Bruno 213–214 Grossman, Wassili 295 Grundwort (Buber) 60–63, 67–70, 72, 75–76, 101 Gruß 283 Güte 154, 253–255 Gutes, s. auch Idee des Guten 45, 154, 249–250 Ha, Kien Nghi 171–172, 180–181 ha-Levi, Juda 96 Hamartia 207 Handlung 55, 68, 82, 103, 108–109, 111–112, 125, 129, 147, 153, 177, 183, 191, 197–200, 205, 217, 230, 251, 256, 262, 286, 316, 330–334, 342, 345–346 Handlungsebene 204, 208, 332 Handlungsgeschehen 332–333 Haus, s. auch Bleibe 255, 266, 304, 351, 401–402, 408–411 Hebräisch 65, 81, 94, 96, 98, 106, 178, 180, 282, 307, 406–409 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 33–34, 36, 40–50, 53, 71–72, 83, 107, 169, 175 Heidegger, Martin 52, 74, 157–166, 172, 190, 303, 359–360, 369 Heimat 140, 145, 147, 230, 235, 290– 291, 302, 363–364, 366, 410 Heimatlosigkeit, heimatlos 145, 230, 277–278, 289, 291
Heine, Heinrich 231, 396 Heinrich, Caroline 24, 32, 45, 49, 174, 177, 285–286, 299–300 Heinze, Eva-Maria 205 Hermeneutik, hermeneutisch 24, 26, 29, 32, 79, 113, 223, 262, 278, 387 Heroischer Realismus (Jünger) 162 Herr, s. auch Knecht 48, 53, 57 Herrlichkeit 287, 301 Herrschaft 40, 45, 47–49, 110, 162, 188, 257, 260, 262–263, 268, 284, 298, 301, 326, 347 Herrschaftsgeschichte 39–40, 49, 164, 194–195, 223, 299 Heteronomie 298 Hier und Jetzt 28, 40, 114, 278, 283, 339, 373–374, 377, 380–381 Hier, sieh mich 282–283, 285, 288, 345 Hillgruber, Andreas 238 Himmler, Heinrich 231 Hingst, Marie Sophie 214 Historikerstreit 237–239, 241, 243– 244 Historischer Materialist (Benjamin) 39, 117–118, 174, 176, 349, 374 Historisierung 39, 178, 237–240, 242–244, 310 Historismus 38, 174–176, 242 Hitler, Adolf 119, 127, 146, 231, 235, 238, 241, 244 Höcke, Björn 17, 20, 30, 40 Hoffnung 36, 50, 124–125, 135–136, 140, 143, 145, 148, 163, 213, 222, 323, 335, 361, 378, 384, 391, 408, 410, 414 Hölderlin, Friedrich 235 Holocaust, s. auch Shoah 30, 195, 213, 215–217, 227, 237, 242, 244– 245 Holocaust-Mahnmal (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) 17, 215–216 Hören 54, 89, 91, 103, 111–112, 117, 120, 138, 158 horizontal-vertikal 66, 109, 118
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Sach- und Personenregister Horkheimer, Max 137 Husserl, Edmund 51–52, 61, 320 Hüttenfenster (Celan) 387, 400–406, 408–412, 414 Ich –, autonomes 159, 308 –, imperialistisches 260, 301 –, lyrisches 369 –, transzendentales 61 Ich-Du 60, 62–64, 66, 68–70, 72, 74– 75, 93, 98, 101, 108–109, 112, 199, 282, 363, 367 Ich-Einzigkeit (moi unicité) (Levinas) 261, 284, 302 Ich-Es 60–62, 65–69, 72, 74–75, 110, 282, 367 Ich-Identität 260, 262, 302 Idealismus 34–35, 45, 61, 79, 162, 259 Idee 43–45, 152, 249, 251, 274, 280, 288, 324 Idee der Freiheit 33–34, 42–43, 45–46 Idee des Guten, s. auch Gutes 411 Idem-Identität, s. auch Selbigkeit (mêmeté) 342, 344 Identifikation 30, 138, 217, 223, 225, 237, 322, 325, 328, 330, 347 Illeität (Levinas) 282–284, 287 Imaginative Variationen (Ricœur) 121, 336, 343 Imperativ 92–93, 100–101, 107, 159, 219, 252–254, 274, 304, 364 In-Geschichten-sein, In-Geschichtenverstrickt-sein 22, 53, 60, 72, 74, 76–77, 79, 85, 110, 121, 164, 167, 192, 201, 211, 213, 248, 296, 299, 302, 314, 326, 332, 346–347, 395 Individuation 61, 163, 252, 382 Inkarnation 196, 199, 285, 301 Inkommensurabilität 220, 300, 379 Innerlichkeit, verinnerlichen 67, 159, 251, 284, 413 Inspiration 70, 284–285, 288, 301, 384 Integration 23, 25, 117, 119, 150, 181, 197, 220, 244, 292, 294, 326, 330, 335
Integrierte Geschichte des Holocaust (Friedländer) 244–245, 340 Interessiertsein, s. auch désintéressement 256–257 Ipse-Identität, s. auch Ipseität, Selbstheit (ipséité) 344 Ipseität, s. auch Ipse-Identität, Selbstheit (ipséité) 342–344 Ipséité, s. auch Ipseität, Ipse-Identität, Selbstheit 262, 385, 410 Isaak 283 Israel 137, 180, 384 Jäckel, Eberhard 241 Jakob, Michael 399 Jancke, Gabriele 168 Jaspers, Karl 23–24, 122–134, 136, 139, 149–150, 152, 230 Jenseits-des-sein, Jenseits-des-Seins (Levinas) 248–249, 254, 258, 260, 269, 275, 278, 282, 288, 299–300, 305, 346, 411 Jesus 105–106, 191, 357 Jetztzeit (Benjamin) 49, 118, 176– 178, 183, 349, 374, 381, 390 Jiddisch 362 Joyce, James 111 Judentum, jüdisch 16–21, 31–32, 36, 77–78, 87, 102–107, 134, 137, 142, 145, 168–169, 174, 178, 183–184, 203–205, 213, 217, 240, 266, 286– 287, 307, 351, 353–354, 356, 358– 359, 362, 364–366, 384, 390, 394– 398, 400, 402–410 Jünger, Ernst 162–163 Jureit, Ulrike 213–221, 223–224, 227, 229 Kabbala 203–204, 289 Kain, Kajin 306–307 Katharsis 126, 207, 211, 219, 228, 362 Keilitz, Steffen 237 Klee, Paul 175 Klemperer, Victor 232–233, 235, 246 Knecht, s. auch Herr 48–49 Kohl, Helmut 226 Kohortativ 100–101
436 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Kolb, Raimund Th. 19 Kollektivschuld 126–129, 149, 240 Kolonialismus 24, 170–172, 180–181, 194–195 Konfiguration 104, 108, 111–112, 206–207, 313, 331, 333, 335–337, 342, 368–369, 376 Können (Levinas) 251, 253, 259 Kontrollierte Illusion (Ricœur) 340– 341 Kracauer, Siegfried 38, 222, 338 Kraft, Gideon 384 Kraus, Karl 140 Kreatürlichkeit, kreatürlich 382, 407– 408 Kredit, s. auch Vertrauen, Vertrauensvorschuss 345, 347 Kulturgut 119, 176, 303–304 Kunstwerk 58, 248, 265–266, 292– 293, 295–298, 303, 305–306, 320, 336, 359 Landsberg, Paul Ludwig 27–28, 163 Landwehr, Achim 14, 28, 181 Lanzmann, Claude 240 Lebendige Metapher 27, 29, 113, 312–313, 318–321, 323–325, 328– 329, 331, 333, 336, 343, 352–353, 369, 386, 393, 404 Lebensgeschichte 22–23, 25, 29, 38, 55, 78, 108, 111, 113, 172, 193–194, 213, 216, 220, 342, 391, 396, 400, 413 Lebenswelt 14, 27–29, 33, 49, 52, 78, 101, 108, 113, 117, 121, 151, 202, 206, 248, 270, 286, 303, 307, 329– 330, 336–337, 347, 381, 385, 390 Lebenswirklichkeit 317, 330, 338, 385, 399, 412 Leere 85, 96, 200, 259, 271, 295, 298, 302, 304, 307, 311, 345, 347, 381, 413 Leerstelle 28, 31, 113, 171, 193, 215, 220, 294, 322, 347, 356, 361, 410 Lehmann, Jürgen 289, 377, 403 Lehnstaedt, Stephan 31 Leib 55–57, 196, 255, 273, 285
Leiblichkeit 56, 58, 97, 284 Leidensgedächtnis 151 Leidensgeschichte(n) 21, 24, 40, 49– 50, 53, 110, 117, 119, 132, 150, 152, 165, 192–193, 195, 213, 216, 222– 223, 228–229, 248, 287, 349, 396, 399, 413 Lektüre 30–31, 75, 112, 116, 120, 175, 183, 264, 271, 278–279, 282, 299, 302, 310, 316–317, 320, 330, 335, 337, 349–352, 354, 376, 385, 388–389, 392, 402, 405 Lesky, Albin 207–210 Levi, Primo 151 Levinas, Emmanuel 26–27, 32, 66– 67, 92, 159–160, 166, 248–250, 252, 254–262, 265–269, 271–283, 287, 290–302, 305–311, 322–323, 327, 339, 344–346, 349, 371, 379, 403, 410–411 Liebe 91, 94, 99, 163, 358 Liebesgebot 92, 107 Liebestat 99–100, 102 Liturgie 90, 103, 105, 107, 183–184, 212 Liturgik 103 Logik 84, 88, 136, 263, 316, 321, 380 Logos 27, 83–84, 267–268, 270, 280, 287–288, 298, 309, 322 Logozentrismus 83 LTI (lingua tertii imperii) (Klemperer) 232–233, 235–236 Luther, Martin 96 Lysis, lytisch 223–224 Mandelstamm, Ossip 391 Mann, Klaus 235 Mann, Thomas 140, 231 Marchesoni, Stefano 173, 175, 178, 183, 349 Marr, Wilhelm 19 Marten, Dennis 66, 68 Marx, Karl 176 Matheus, Frank 96 Mattern, Jens 329 Mehr-als-Bedeutung 98, 298 Mehr-an-Bedeutung 98, 298
437 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Mehr-Bedeutung 96, 101 Mehrdeutigkeit, s. auch Polyvalenz 268–269, 352, 403 Meinecke, Dietlind 409–411 mêmeté, s. auch Idem-Identität, Selbigkeit 344–345 Mémoire involontaire 178–182, 185, 192–193, 282, 355, 358, 365, 394, 398, 419 Meridian (Celan) 27, 114, 265, 280– 281, 289–292, 362, 369, 371, 375, 377, 379, 382–388, 396, 398, 401, 403, 407, 411 Mersch, Dieter 292–293, 311 messianisch 38, 72, 87, 100, 174–176, 374 Metaphernnetz 324 Metaphorische Aussage 321, 325, 327, 343, 404 Metz, Johann Baptist 46, 59, 187– 193, 222, 229, 414 Miasma, s. auch Befleckung 25, 209– 212, 237, 307 Midrasch 178 Mikrogeschichte 169, 245 Mimesis, mimēsis 313, 331–333, 335–337, 371, 376 Mischna 306–308 Misstrauen, s. auch Verdacht 344– 345 Mit-Sein mit dem Gedicht (Celan) 379, 388 Mittragen 152, 246, 310, 386, 388– 389 Moffie, David 245 Moller, Sabine 30, 195, 208, 213–214, 227, 244, 246 Monade 61, 374–375, 378, 390 Monadologie 117, 369–370, 375–377, 388, 407 Moralisierung der Geschichte (Améry) 138, 150–151, 153 Mördersprache 229, 236, 246, 366 Mosès, Stéphane 77, 88, 90, 107, 177, 183–184, 352, 354, 359, 361–362 Multiperspektivität 168 Münkler, Herfried 18
Muttersprache 132, 145, 229–231, 235, 366 Mystik 71, 92, 156, 188, 203–204, 407, 414 Mythos 25, 82, 90, 201–206, 208– 209, 211–212, 236, 331, 402 Nächster 27–28, 128, 163, 262, 265– 266, 269, 273, 277–278, 281–282, 285, 293, 297–299 Nachtragen 150, 152, 310 Nacktheit 252, 275–276 Nähe 249, 262–264, 266, 270–271, 273–277, 279–281, 283, 293, 311, 323, 381 Name, s. auch Eigenname 92, 94–97, 99–100, 119, 127, 134, 138, 145, 156, 186, 195, 199, 203, 287–288, 304, 307, 309, 351–353, 357, 400, 404–405, 408–409, 411 Narrative Identität 23, 27, 40, 108, 112, 311, 313, 317, 329–331, 341– 343, 345, 349, 363, 368, 413 Negation 42, 44–45, 47–48, 78, 81, 90–91, 99, 275, 280, 304, 306–307, 365, 368, 373 Negativität 210, 276, 293, 297, 330, 335, 355, 357, 388, 394, 411 Neologismus 97, 115, 268 Neuausrichtung 22, 130, 223, 329 Neubeschreibung 27–28, 121, 325, 352, 357, 360, 363, 384, 386, 400, 412 Neubesetzung des Selbst 302 Neuschöpfung 353 Nicht-Identität 83, 120, 211, 225, 247, 299–300, 302, 327 Nicht-Selbstisches 25, 194, 196–197, 199–200, 211, 217 Nichtidentisches 116, 264, 327–328, 347, 378, 414 Niemand 27, 289–290, 302, 311, 356 Nietzsche, Friedrich 146, 235 Noah, Noach 203 Noema 269, 297 Noesis 269, 297
438 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Nolte, Ernst 30, 219, 238–244, 247 Nominativ 258, 260 Nominativ-Identität 260 non-verbal 69, 159, 252–254, 274, 315 Objekt 21, 36, 42–43, 61, 73, 94, 98, 110, 199, 253, 259, 263, 274, 284, 306, 325–326, 339, 357, 373 Objektivierung 43–44, 49, 296 Obliteration 26, 292–298, 303–305, 309, 311, 339, 361, 365, 403 Obliterations-Kunst 26, 294 Obliterierten-Existenz 294 Offenbarung 22, 29, 36, 65, 71, 77– 78, 86, 88–94, 99, 101, 103, 109, 164, 205, 278, 283, 295, 381 Offenbarung des Anderen als Antlitz 26, 248, 254, 281, 292–293, 295 Offenbarung des Unendlichen 249 Ontologie 80, 115, 165, 249, 254, 258–259, 263, 265–267, 271, 274, 291, 296, 305–306, 311, 327, 346 opfer-identifiziert 213, 215, 217, 219, 228 opfer-orientiert 217 Opferinszenierung 213 Optik 274 Ordnung –, paradigmatische (Ricœur) 332 –, syntagmatische (Ricœur) 332–334 Ordnung des Seins 203, 286 Othering 169, 225 Pajevic, Marco 62 Parmenides 80 Passion 54, 69, 261 Passivität 53–54, 56, 74, 91, 94, 115, 129–130, 255, 258, 261, 336, 361, 371 Paulus 59 Person 95, 163, 168, 281, 307, 342, 377–378, 383 Perspektivwechsel 24, 29, 36–37, 53, 72, 117, 119–120, 174, 188–189, 213, 216, 222–223, 337–338, 344, 368, 385, 390, 396, 405
Phänomenologie 26–27, 50, 61, 77, 79, 86, 120, 137–139, 151, 159, 249, 273, 304 Pinochet, Augusto 135 Platon 250, 411 Plot 22, 55, 90, 102–103, 108 Pluralität 22, 33, 257 Poesie 265, 277–278, 288 Poetik 27, 281–282, 289, 294, 313, 327, 349–350, 377, 379, 384, 387, 389 Poetische Realität 371, 405 poiēsis 336 Polyvalenz, s. auch Mehrdeutigkeit 323, 353 Potential, Potentialität 41, 51, 73, 93, 185, 327, 353, 372, 378, 383 Präfiguration 108, 111, 113, 313, 331, 337 Proust, Marcel 178–179, 181–182, 355 Quasi-Welt (Ricœur) 272, 315, 319, 324, 350 Rahner, Karl 189, 222 Rassismus 19, 21, 24, 152, 169–171, 225, 241, 358 Rauscher, Josef 66, 252 Rechtfertigung 23, 50, 125, 154, 197, 199, 202, 207, 237 Reduktion –, eidetische 77 –, transzendentale 77, 320 Referenz –, außertextliche 114, 120, 271, 314– 315, 319 –, metaphorische 319, 324, 327–328, 330, 398 –, suspendierte 113, 318 –, verdoppelte 319–320, 322, 324, 328–329, 369–370 Refiguration 108, 112, 117, 206, 211, 220, 310, 313, 331, 338–339, 342, 383, 405 Reflexivum, reflexiv 95, 98, 242, 259, 342
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Sach- und Personenregister Reichert, Klaus 388 Rekurrenz 96, 260 Repräsentation 114–115, 180, 182, 297, 301, 368, 371, 377 Resonanz 74, 114, 219 Ressentiment 134, 136, 142, 145– 148, 150, 200 Revolte gegen das Wirkliche (Améry) 148–149 Reziprozität 51, 54, 66, 97, 165, 185, 379 Richtung (Celan) 367–368, 381, 383– 385 Ricœur, Paul 23, 27, 29, 32–34, 36, 56, 79, 108–111, 113, 121, 206, 210, 262, 269, 272, 310, 312–321, 323–332, 335–340, 342–347, 349, 363, 369–371, 383, 386, 404, 410, 413 Ritual 150–151, 173, 177, 184–186, 192, 194, 218–219, 222 Rosa, Hartmut 74 Rosen, Michael 45 Rosenstock-Huessy, Eugen 54, 60 Rosenzweig, Franz 22, 24, 32–40, 50, 60–61, 65, 67, 75–81, 83, 86–103, 105–107, 121, 183–184, 284, 306– 307, 350, 363, 406 Ruf 68, 98, 158–159, 346, 357, 382 Sabbat 104, 184, 361 Sabbatkerze (Celan) 359, 361, 365, 409 Sachs, Nelly 384 Safranski, Rüdiger 21 Sagen (dire) (Levinas) 255, 262–265, 269, 272–274, 277–281, 284–285, 287–288, 299, 301, 310–311, 327, 414 Sagen ohne Gesagtes (Levinas) 263, 285, 287, 292, 295 Saltzwedel, Johannes 18, 21 Salzborn, Samuel 16, 20–21, 30, 212– 213, 227, 240 Sartre, Jean-Paul 56–58, 164 Schapp, Wilhelm 21–22, 33, 40, 50– 56, 58–59, 66, 72–74, 79, 108, 110,
119, 121, 164, 194, 198, 210, 257, 299, 315, 360 Schechina 205 Scheit, Gerhard 23, 122, 134, 139 Scheler, Max 27 Schleier (Celan) 355–357, 359, 361 Schleiermacher, Friedrich 106, 250 Schlumbohm, Jürgen 169, 245 Schluss 112, 120, 335 Schlussstrich 226, 243 Schneider, Annika 214 Schneider, Christian 62, 67, 158, 214– 215, 217, 219, 223–225, 227–229, 242 Scholem, Gershom 22, 119, 203, 407 Schöpfung 65–66, 75–76, 78, 81, 87, 89–94, 97–99, 203–204, 222, 307, 406, 409, 411 Schöpfung-Offenbarung-Erlösung 22, 36, 77, 85, 89, 94, 101, 103–104, 107, 406 Schrift 15, 65, 114–115, 119, 182, 272, 274, 277, 314–316, 376 Schuld –, existentielle 23, 131, 153–156, 160–161, 165–167, 182, 192, 194, 197, 246, 363 –, kafkaeske 154 –, kausale 132 –, kriminelle 125–128, 130–131, 206, 208 –, metaphysische 125, 128–131, 133 –, moralische 125–131, 206, 208 –, politische 124–128, 130, 206, 209 –, subjektive 24, 131, 189, 206–208, 210–211, 218 –, tragische 25, 32, 206, 208–210 Schuldabwehr 21, 125, 212 Schuldbewusstsein 130–131, 133, 136, 193 Schuldgeschichte(n) 46, 166, 246, 347, 396, 399, 413–414 Schuldigsein 127, 157–158, 160, 164 Schuldübernahme 27, 130, 133, 136, 150, 185, 187, 191, 193, 213, 218, 229, 286, 288
440 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Schuldverhältnis, geschichtliches 20– 21, 24, 31, 122, 166, 183–185, 195, 198, 202, 204, 209, 248, 314, 351 Schuldverstrickung 132, 157, 189, 194, 218 Schweitzer, Albert 156–157, 165, 188, 205 Sein –, eröffnetes 159, 254 –, metaphorisches 326, 328 –, selbstgenügsames 159 –, verdanktes 158–159 sein (essence), s. auch Seinsvollzug 256, 284 Sein zum Text 329 Sein-für-den-Anderen 248, 253–254 sein-wie 325–326, 328, 333, 337, 347, 369 Seinsvollzug 251, 256–257, 262, 302, 310 Selber, Selbes 26, 29, 250, 262, 288, 313, 342 Selbigkeit (mêmeté), s. auch IdemIdentität 345 Selbst 25, 29–30, 41, 56, 58, 61, 85– 86, 91, 95, 99, 102, 110–111, 125– 126, 129–130, 144, 154, 158–159, 163, 166, 172, 182, 196, 199, 211, 217, 256, 263–264, 280, 302, 310– 311, 314, 317, 336, 342–347, 385, 388, 396, 410 Selbst des Lesers 28, 116, 281, 337 Selbstanklage 133, 154, 285 Selbstbehauptung 256, 260–261 Selbstbewusstsein 41–42, 61, 133 Selbstheit (ipséité), s. auch Ipseität, Ipse-Identität 330, 341, 343, 385, 410 Selbstverpflichtung 285 Selbstverweis 285 Semantische Impertinenz (Ricœur) 321, 324 Semantische Innovation (Ricœur) 319, 321–322, 334 Shoah, s. auch Holocaust 13, 15–16, 18–21, 24–25, 29, 31, 102, 130, 138, 151, 199, 209, 212–215, 220–221,
236–237, 240–245, 351, 362–363, 397, 402, 406, 410 Sich 95, 258–265, 272–273, 278–279, 285, 288, 301–302, 309, 311 Sich-Identität 260–262, 302, 311 Sieferle, Rolf Peter 17–21, 30, 40, 240 Signifikant-Signifikat-Relation 114 Signifikanten-Gewebe 114 Sinnmangel 337 Sinnüberschuss 29, 314–315, 327, 337, 353 Sinnwidrigkeit 307, 321, 404 Skandalon, s. auch Stolperstein 74, 98, 296 Solidarität nach rückwärts (Metz) 222, 229 Solidarität, anamnetische 216 Solidaritätsgemeinschaft 186 Sölle, Dorothee 189, 191–192 Sophokles 206, 209 Sosno, Sacha 26, 292–295, 297 Speichergedächtnis 180–181, 196, 221 Spontaneität 177–178, 260, 308 Sprachdenken 79, 82, 363 Sprache –, aktualisierte (Celan) 381–382, 384, 388, 398, 407 –, angereicherte (Celan) 233, 351, 366–370, 376 –, unverlorene (Celan) 366–367 Sprache in statu nascendi (Celan) 371 Sprache vor der Sprache 86 Sprechakt 314, 331 –, persuasiver 59 –, ursprünglicher 370–371 Spur 14, 25, 27–28, 49, 114–115, 144, 181, 216, 266, 271, 274–277, 279, 282, 284–288, 293–294, 298–300, 302–309, 329, 338–339, 341, 343– 344, 347, 349–350, 376–377, 379, 398, 403, 408 Stalin, Josef 119, 136 Stegmaier, Werner 283, 308–309 Steiner, George 230–236, 246
441 https://doi.org/10.5771/9783495825532 .
Sach- und Personenregister Stellvertreter 26, 183, 186, 279, 281, 290, 298, 300–302, 308, 311, 341, 344–345, 349 Stellvertretung 26, 191, 248, 254– 255, 258–259, 261–262, 264, 271, 274, 277, 285–290, 296, 298, 301, 304, 310, 344, 349, 357, 384, 407– 408, 413 Sterbliches Sprechen 375–376, 382 Sterblichkeit 84–85, 110, 276–277, 407 Sterblichkeit des Gedichts 390, 398, 407 Stimme 50, 129, 138, 281–282, 284– 285, 413 Stimme der Opfer 17, 38, 150–151, 175, 278, 298, 348 Stimme des Anderen 114, 266, 288, 301, 310 Stolperstein, s. auch Skandalon 74, 304 Story 22, 55, 102, 108, 195, 197, 200 Strauß, Franz Josef 238, 243–244 Stuppner, Ivan 260–261 Subjekt –, egoistisches 26, 250, 256 –, erkennendes 47 –, handelndes 28–29, 54, 346 Subjekt des Gedichts 27, 376, 389– 390, 392, 395, 398–399 Subjekt des Seins 251 Subjektivität 26, 28, 42, 44, 60–61, 64, 78, 250, 253, 255, 258, 260, 304, 309, 311, 368–369, 371, 373–374, 377 Substanz, s. auch Wesen 77, 79–80, 85, 88, 250, 258, 265, 283, 288, 342, 345 Sühne 127, 141, 156, 186–187, 203, 209, 277, 286, 309 Sünde 141–143, 149, 187, 189 –, strukturelle 188–189, 209 Symbol 30, 77–78, 130, 180, 187, 192, 210, 289, 358–359, 397, 404, 407 Symbolische Ressourcen 108, 386 Symbolische Vermittlung 108, 186, 332
Symbolischer Tausch 156–157, 163, 186–187, 190, 246 Symbolnetz 108 Synchronismus, s. auch Gleichzeitigkeit 256–258, 267–268, 275 Synthesis des Heterogenen (Ricœur) 111, 335, 342 Szondi, Peter 352, 370–371, 385, 405 Tabu, Tabuisierung 16, 172, 212, 362 Talabardon, Susanne 99, 203–204, 407 Talmud 178 Tanach 178 Täter-Opfer-Umkehr 18, 146 Tätergeneration 131, 143, 150, 195, 213, 215, 225 Täterschuld 123, 152, 218 Terkessidis, Mark 24, 170, 181 Text 111, 113–117, 120–121, 182, 267, 271–272, 277–279, 282, 286, 292, 294, 304, 314–320, 323, 328– 330, 333–337, 340, 343, 350, 353, 369–371, 376, 407–408 Textualität 370–371, 376 Theodizee 50, 359 theological argument (Kracauer) 38, 222 Theologie der Befreiung 188 Thora 65, 104, 174, 307, 409 Tidona, Giovanni 74, 359–360, 380– 381, 404 Tikkun 203–205, 211, 221, 407 Tod 34, 47, 56, 100, 109, 144, 156– 157, 159–160, 162–163, 165, 167, 185–186, 190–193, 199, 201, 204, 209, 215, 223, 268, 370, 375, 378, 384, 390, 392, 399 Tod des Anderen 27, 163, 165, 190, 202, 224, 374, 396 Toposforschung (Celan) 380–381, 385, 401, 403 Totalität 166, 232, 235, 249, 257, 269, 334 transgenerationell 143, 152, 206 Transzendentalphilosophie 62
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Sach- und Personenregister Transzendenz 26, 58, 67, 102, 107, 110, 156, 166, 172, 211, 249, 257– 260, 262–263, 270, 276–277, 282– 284, 287, 311, 358, 410 Trauer 223–225, 227–228, 370, 399 Trauerarbeit 399 Traverso, Enzo 138, 151 Trennung 48, 62, 66, 116, 120, 224, 251–252, 261, 280, 301 Trinitarisches Sprechen 35 Tschugnall, Karoline 30, 195, 208, 246 Tuch (Celan) 390, 392–393, 395–397, 399, 408 Überkreuzung von ›Es war‹ und ›Es ist nicht‹ 369–370, 376, 378, 380–381 Überlebensschuld 129, 359 Übersetzung 65, 96–98, 283 Ulbrich, Claudia 168 Umkehr 57, 72–73, 124, 128, 148, 194, 221, 262, 269, 284, 311, 329, 385, 397 Umkehrung der Geschichte 174, 198, 200, 228, 347, 391 Unabgeschlossenheit, Unabgeschlossenes 25, 50, 55, 177, 185, 197–202, 224, 236, 239–240, 247, 314, 327, 338–340 Unendliches 82–84, 249–251, 263, 271, 275, 283–285, 287, 295, 298, 407 Ungleichzeitigkeit 29, 277, 299–300 Unmittelbarkeit 67, 73, 381 Unschuld 14, 46–47, 142, 149, 154, 207, 212, 236, 246, 286 Unterbrechung 110, 113, 121, 193, 218–219, 223, 248, 253, 255, 266, 268, 271–272, 292, 296, 311, 338, 349 Unvergangenes 197, 204, 236 Unvordenklichkeit 182, 264 Urkategorie (Buber) 68 Urphänomene, s. auch Elemente 77, 79 Ursprung 165, 171, 182, 193, 202, 209–212, 254, 257, 260, 338, 345
Ursprung der Geschichte 189 Ursprung der Schuld 25, 212, 286 Ursprung der Welt 28, 114 Ursprung des Ethischen 66 Ursprung des Gedichts 370–371, 376–377 Ursprung des Lebens 203 Ursprung des Selbst 196 Ursprungsbezug 183, 192, 210–211 Ursprungslosigkeit 115, 259, 285, 372 Ursprungslosigkeit des Gedichts 114 Ursprungstat 206 Urworte (Rosenzweig) 78, 81–82, 84, 86, 91, 93 Utopie 278, 282, 285, 291, 379–380, 402–403, 411 Veralltäglichung 151 Verantwortlichkeit 139, 141, 143, 343 Verantwortung 66, 126, 131, 141, 149, 152–153, 171, 189, 196, 202, 204, 209, 255, 259–260, 262, 267, 271, 275, 278–279, 281, 285, 288– 289, 296, 311, 313, 344, 360 Verbum (Zeit-Wort) 88 Verdacht 347, 413 Verdanktheit 166, 182, 186–187, 210, 286, 363 Verdrängung der Schuld 165, 208, 224, 242 Verdrängung des Todes 34, 190 Vergangenheit –, anarchische 258–259 –, unvergangene 241 –, unvordenkliche 271, 274, 298 Vergangenheitsbewältigung 127, 149, 214–215, 223 Vergegenwärtigung des Vergangenen 116, 172, 177, 304, 340, 363, 394 Vergessen 38, 151, 178, 180–182, 216, 221, 229, 235–236, 292, 326, 393, 411 Verheißung 78, 87, 93, 103, 304 Verneinung (Rosenzweig) 80–82, 84–85
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Sach- und Personenregister Verpflichtung 66, 134, 140, 159, 163, 165, 167, 171, 182–183, 205, 211 Verschiedenheit, s. auch différance 116–117, 317 Verschuldung 152–153, 157–158, 165–167, 186–187, 201, 206, 246, 286, 333 Verschwörungsideologie 19, 240 Versöhnung 15, 17, 23, 28, 32–33, 48–50, 62, 86, 145, 226–227, 229, 257, 414 Versprechen 252 Verstehbarkeit als Logos 267 Verstehbarkeit als Nähe 267, 270, 280, 288, 298, 309, 322 Verstehen –, bezeugendes 345 –, ethisches 333 –, narratives 332–334 –, praktisches 332–333 –, zwischenmenschliches 280 Verstehen eines Gedichts 379–380 Verstehen eines Textes 280, 315, 337 Verstehensprozess 111, 248, 317, 334, 386, 405 Verstehensweisen 29, 57, 59, 121, 164, 167, 223, 258, 267, 269, 290, 325, 335, 377, 383 Verstehenszusammenhang 197 Vertrauen 86, 134, 345, 347, 413 Vertrauensverhältnis 347 Vertrauensvorschuss 345, 347 Verwundbarkeit 255 Villers, André 294–295 Vokativ 159, 252–254, 283 Volksgeist (Hegel) 42–43 Von-Angesicht-zu-Angesicht 264, 272, 274, 311, 368 vor-objektiv 326 vor-poetisch 368, 370–371, 376 Vor-Ursprüngliches 258, 260, 263, 267, 284 Vorfahren, s. auch Ahnen 30, 55, 194, 201, 204, 217, 226, 246, 354, 396 Vorgeschichte(n) 23, 54–55, 194, 196–197, 199, 201 Vorgrimler, Herbert 222
Vorladung (Levinas) 260, 269 Vorwelt (Rosenzweig) 80, 86 Vretska, K. 187 Wachheit, Wachsamkeit 261–262, 273, 277–280, 283, 294, 301, 413 Wahl, Jean 277 Wahrheit –, elementare 88 –, irdische 87 –, metaphorische 326, 369 –, moralische 147–148 –, narrative 87 –, philosophische 87 Wahrheit der Bewährung 23, 87, 92, 94, 102, 132, 284, 288, 386, 396 Wahrheit der Stellvertretung 285 Wahrheit des Gedichts 374, 385, 389, 392, 400, 403 Wahrnehmungshorizont 70 Waldmann, Peter 16, 18, 169 Waldschmidt, Christine 387 Walser, Martin 16 Wechselrahmung 213, 227 Weiß, Volker 18–19, 21, 155 Welt des Textes 113, 116, 120–121, 272, 314, 317–318, 324, 327–329, 353, 372 Weltgeist 35, 40, 42–44, 47, 51, 53, 83 Weltgeschichte 22, 33, 40–41, 43, 50, 53, 57, 59, 61, 104–105, 107, 176 Welthistorisches Individuum (Hegel) 34, 43, 45, 47, 169 Weltkonkretum (Buber) 65, 71, 98 Weltwahrnehmung 21 Welzer, Harald 30, 195, 208, 213–214, 227, 244, 246 Werner, Uta 27, 376 Wesen, s. auch Substanz 77, 79, 81– 83, 87, 91, 99, 250, 256 Widerrufen (Levinas) 264, 273, 279, 281, 285, 298, 327, 372, 414 Widerstand, ethischer (Levinas) 252 Wiedemann, Barbara 13, 369, 375, 384, 389, 393–397, 399, 402, 409 Wiemer, Thomas 256, 271, 275, 284 Wilkomirski, Binjamin 213
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Sach- und Personenregister Winkler, Heinrich August 241 Wirklichkeit des Gedichts 27, 390, 404 Wirklichkeit des Lesers 27, 113, 117, 318, 320, 353, 400, 404 Wirklichkeit des Textes 113, 318 Wozuding 51–53, 55–56, 119, 198– 199, 303, 305 Wunde 138, 143, 147–148, 262, 279, 307, 367, 380 Wunde im Sein 291, 403 Yerushalmi, Yosef Hayim 178, 180, 247, 363, 390 zakhor, s. auch Eingedenken 178–180, 182, 184 Zeichengeben 284–285 Zeigen 293, 295, 315 Zeit –, andere 109–110, 112–113, 115– 116, 258, 264, 267, 273, 299, 303, 307, 313, 315, 335, 381 –, erzählte 111, 197, 299, 331 –, gemeinsame 282 –, gestaltete 112, 115–116, 120, 202 –, historische 177, 340 –, kalendarische 339 –, lineare 110, 178, 315 –, refigurierte 339 –, unverlierbare 134, 139, 145 –, unwiederbringliche 255
–, verlorene 178, 182, 193, 198 –, wiedereinholbare 299, 303, 305 –, wiedererinnerbare 273 Zeit des Gedichts 282, 383 Zeit jenseits der Zeit 104–105 Zeitbrücke 36, 111–112, 116, 118, 120, 267, 400 Zeitebene 36, 74, 116, 118, 120, 174, 183–184, 198, 332, 389–390, 393– 394, 397 Zeiterfahrung 313, 340 Zeitlichkeit 103, 105, 163 Zeitumkehrung 148, 150, 153, 224 Zeitzeugen 15, 195 Zeuge 26, 28, 151, 248, 284–285, 289, 291, 293, 300, 302, 306, 308–311, 329, 336, 338, 344–346, 349, 374, 376, 378, 408, 413–414 Zeugengemeinschaft, sekundäre (Assmann) 289 Zeugenschaft 32, 277, 286, 288, 290, 302, 313, 344, 385, 387 Zeugnis 14, 29, 31, 49, 67, 134, 136– 137, 140, 245, 283–286, 288–289, 301–302, 309, 340, 344, 389 Zweideutigkeit 263, 274–275, 339, 380 Zwiegespräch 89, 93, 99–103 Zwischen (Buber) 67–73, 164, 381 Zwischen-Welt 73–75, 93, 98, 101, 110, 359
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