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German Pages 78 Year 2007
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 41
GOTTFRIED DIETZE
Schuld und Schulden
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Gottfried Dietze
Schuld und Schulden
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 41
Schuld und Schulden Von
Gottfried Dietze
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12161-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Carl Schmitt in memoriam
Geleitwort des Verlages Als der Verfasser im Dezember 2003 sein Manuskript übersandte, schrieb er ahnungsvoll: „Es wird wohl meine letzte Arbeit sein“. Leider kam es auch so, wie er vorhersah. Der Verfasser verstarb im Juli 2006 in seinem 85. Lebensjahr. Leider hat er dadurch das Erscheinen seines Buches nicht mehr erlebt. Im Begleitbrief der Übersendung des Manuskripts schrieb er: „(Die Arbeit) geht auf den 92. Geburtstag Carl Schmitts zurück, zu dem er mich freundlicherweise nach Plettenberg eingeladen hatte, als einzigen Gast. Wir verbrachten den Nachmittag und den folgenden Vormittag zusammen in angeregtem Gespräch. Als ich ihm sagte, ich würde ihm gern eine Studie widmen, winkte er ab mit den Worten, daß dies mir schaden würde. Ich wurde mir so richtig des Problems der Schuld bewußt, unter der er litt und Deutschland infolge des Dritten Reiches leiden sah. Die beigefügte Arbeit behandelt dieses Problem. Ich trug sie lange mit mir herum und habe sie noch viel verbessert . . .“.
Wir legen heute diese Schrift nun der Öffentlichkeit vor, möge ihr eine freundliche Aufnahme beschieden sein. DUNCKER & HUMBLOT GMBH
Die Verleger Prof. Dr. Norbert Simon
Dr. Florian R. Simon
Vorwort Unser Sein fällt zu einer Zeit großen Unfriedens auf Erden, wo Menschen ein Wohlgefallen vergebens suchen. Schulden, Schuldzuschiebungen und deren Leugnungen umgeben uns, unerbittlich wachsend. Nachdem gehegte Kriege im vergangenen Jahrhundert totalen weichen mußten, die trotz Verwischungen von Kombattanten und Zivilisten jeden Alters und Geschlechts doch noch Fronten erkennen ließen, greift heute, vereinzelten Partisanenkämpfen folgend, weltweiter Bürgerkrieg um sich. Im internationalen Terror hat er derzeit einen Höhepunkt erreicht. Menschen bangen um ihre immer unberechenbarer werdende Existenz. Gegenseitiges Beschuldigen trübt das Dasein, oft mit einem lauten „Gott mit uns“, wo doch Gottlosigkeit weithin Platz greift. Die vorliegende Studie wagt nicht zu fragen, wer wo recht hat. Das wäre bei vorliegenden Irrnissen und Wirrnissen eine schier unlösbare Aufgabe. Sie beschränkt sich auf eine allgemeinere Untersuchung der Schuld und des Schuldens in der Hoffnung eines kleinen Beitrags zu einem alten Problem, das zur Zeit seine Problematik in wohl selten dagewesener Weise enthüllt. 1803 starb Kant, der Autor eines Werkes zum ewigen Frieden, 1804 sein ihm ergebener fleißiger Schüler Friedrich Schiller, der die Schuld als größtes Übel sah. 1805 erblickte Tocqueville das Licht der Welt, wie berufen, das von Moral und Sittlichkeit bestimmte Werk beider fortzuführen. Angesichts kommender liberaler Demokratien warnte der geborene Aristokrat, ein natürlicher Aristokrat im Sinne Jef-
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Vorwort
fersons, vor der Tyrannei demokratischer Mehrheiten, wie es der Verfasser der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung getan hatte. Des Franzosen Kommen vor zweihundert Jahren wurde 2005 vielerorts gewürdigt. Das gibt Hoffnung. 27. Januar 2006
Gottfried Dietze
Inhalt Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Schulden befreit, Schuld kasteit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Schuld Schuldgefühle sind menschliche Geißeln der Menschen. Gleich am Anfang seines Werkes vom Sozialvertrag bemerkt Rousseau, der Mensch sei frei geboren, doch überall in Ketten. Er verkettet hier das ursprünglich Freie mit dem zivilisatorisch Unfreien, die unschuldige Gabe der Natur mit der Nahme der schuldigen Kultur, das naive Kind mit der verbildeten Gesellschaft, die Hoffnung werdenden Lebens mit der Verzweiflung werbenden Strebens. Es bietet sich an, die bekanntesten Worte des Vaters der Französischen Revolution zu paraphrasieren und zu behaupten, der Mensch werde unschuldig geboren und sei überall schuldig. Man könnte also diese Worte, die nicht erklären, was denn eigentlich die Menschen ihrer Freiheit beraubt, dahin ergänzen, daß man sagt: die Schuld hält die Menschen gefangen. Schuldtragen wäre demnach menschliches Schicksal, des Menschen Weggenosse sein Leben lang, sein Leidensweg auf dieser Erde, ob nun er selbst sich für schuldig befindet oder von anderen so erachtet wird. Und wie das Leben eine Voraussetzung von Schuldannahmen ist, so sind solche Annahmen des Lebens Inhalt. Dem wohl bekanntesten Gebet zufolge will der Mensch sich der Schuld entledigen, sieht aber sein Unvermögen, dies ganz allein zu schaffen. Nach längerer anfänglicher Lobpreisung Gottes und der Anerkenntnis seiner Macht im Himmel und auf Erden kommt zuerst die Bitte um ein Existenzminimum mit den Worten „unser täglich Brot gib uns heute“. Darauf folgen die Worte „und vergib uns unsere Schuld“. Hier wird klar gesehen, daß das Leben eines in Schuld ist, deren Vergebung für die Lebenden sofort nach ihrem Wunsch kommt, am Leben bleiben zu können. Der Bitte um rein
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physische Existenz folgt also unmittelbar die um die Befreiung von der Lebensgeißel Schuld. Wenn einmal die Voraussetzung für erstere geschaffen ist durch das tägliche Brot, kommt es vor allem auf die Vergebung der Schuld an, auf das nicht in Versuchung geführt werden (damit keine zusätzliche Schuld entsteht), auf die Erlösung von dem Bösen, durch das neue Schuld kommen könnte. Bestehende und möglicherweise kommende Schuld ist also das zentrale Thema der Bitte, des Gebets, denn beten ist bitten. Das wird noch durch die Worte bekräftigt, „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Das auf das Bitten folgende Bekräftigen der Kraft und Herrlichkeit Gottes in Ewigkeit tut der zentralen Position der Schuld keinen Abbruch – ebensowenig wie die Lobpreisung Gottes zu Beginn des Gebets. Erlösung von Schuld wird zu allen Zeiten erbeten: Vergib uns unsere (in der Vergangenheit entstandene) Schuld; unsere (jetzt entstehende) Schuld; und führe uns nicht in Versuchung, damit wir uns (in der Zukunft) nichts zuschulden kommen lassen. Klarer, ausgedehnter und eindringlicher hätte das Vaterunser die Bedeutung der Schuld für das Leben kaum herausstellen können! Im Gegensatz zu dem Realisten Thomas Hobbes sah ein Idealist wie Friedrich Schiller das Leben nicht als das Wichtigste an. In der „Braut von Messina“ (IV, 10) heißt es: Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld.
In seiner „Ethik“ (1926) sieht mein verehrter Lehrer Nicolai Hartmann im Kapitel über Schuldbewußtsein in letzterem „eine die Person selbst negierende, erdrückende und im extremen Fall geradezu lebensfeindliche Tendenz“. Man hemmt das Leben der Person, wenn man in ihr ein Schuldbewußtsein erweckt, und zwar so radikal, daß man sie selbst negiert. Es ist da im Individuum ein gewisses Wissen, weshalb sein Gewissen ein Sichschuldigfühlen in ihm erweckt. In „The Theory of Moral Sentiments“ (1759), einem Bestseller, der dem über den Reichtum der Nationen (1776) vorausging, gab ihm Adam Smith die verschiedensten Namen: der große Halb-
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gott in der Brust, der große Richter und Schiedsrichter über das Verhalten; der groß in uns Seiende; die Autorität des Richters in der Brust; der ideale Mensch innerhalb der Brust; der innere Mensch; der Mensch innerhalb der Brust, der Sinn für das Propere, the sense of propriety. All diese Namen für das Gewissen, die oft miteinander erwähnt werden, sehen auf oder sind gar identisch mit ihm. Smith „erscheint dieser Halbgott in der Brust, wie die Halbgötter der Dichter, teils von unsterblicher, teils von sterblicher Herkunft. Wenn seine Urteile stetig und fest vom Sinn für Preis- und Tadelnswertes dirigiert werden, scheint er im Sinne seiner göttlichen Herkunft zu handeln. Wenn er es aber erlaubt, sich von den Urteilen ignoranter und schwacher Menschen erstaunen und verwirren zu lassen, entdeckt er seine Verbindung mit dem Sterblichen, scheint er eher gemäß dem menschlichen als dem göttlichen Teil seiner Herkunft zu handeln“. Eine ähnliche Rolle spielt der „Beobachter“, „the spectator“, der mit all den erwähnten Figuren (Halbgott, Mensch in der Brust usw.) verbunden zu sein scheint und in derart vielen Schattierungen auftritt, daß ihm A. L. Macfie in „The Individual and Society“ (1967) ein ganzes Kapitel unter dem Titel „The Impartial Spectator“ widmete. In ihm untersucht er Ausdrücke Smiths wie „der gleichgültige Beobachter“, „der gleichgültigste Beobachter“, „jeder großzügige Beobachter“, „jeder unparteiische Beobachter“, „der kühle und unparteiische Beobachter“, „jeder intelligente und unparteiische Beobachter“, „jeder menschliche Beobachter“, „der wirkliche Beobachter“, „der wirkliche, verehrte und unparteiische Beobachter“, „der abstrakte und irreale Beobachter“. (Vgl. „The Theory of Moral Sentiments“, London 1853, Neudruck New York 1966, insbes. Seiten 185, 186, 187, 194, 195, 206, 216, 222, 333, 359, 360, 363, 385, 428; 27, 50, 52, 73, 112, 115, 120, 141, 162, 165, 167, 172, 191, 203, 206, 207, 208, 209, 216, 219, 220, 221, 222, 275, 314, 331, 333, 335, 356, 366, 385, 386, 415, 426, 427, 486). Smiths Zeitgenosse Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, bekannt wegen seiner liberalen Ansichten, wies in seinen Schriften –
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vornehmlich Briefe – dem Gewissen einen ähnlich prominenten Platz zu. Am 10. August 1789, also im Monat der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, schrieb er an Thomas Carr, der Sinn für Moral oder das Gewissen seien ebenso Teil des Menschen wie sein Bein oder sein Arm, „allen Menschen in stärkerem oder schwächerem Ausmaß gegeben, wie es die Kraft ihrer Glieder in größerem oder kleinerem Ausmaß ist. Dieser Sinn kann durch Übung gestärkt werden wie irgend ein bestimmtes Glied des Körpers. Gewiß ist er bis zu einem gewissen Grade von der Vernunft abhängig, aber man braucht deren nicht allzu viel“. Maria Conway schrieb er am 12. Oktober 1786, er sei stolz darauf, daß die Natur ihn mit Moral, den Gefühlen der Sympathie, Wohltat, Dankbarkeit, Gerechtigkeit, der Liebe und Freundschaft bedachte. Er ließ keinen Zweifel darüber, daß die Moral im Vergleich zu anderen Fakultäten einen hohen Rang einnimmt. Am 28. März 1787 schrieb er seiner Tochter, es könne nichts mehr zu ihrer Glückseligkeit beitragen als Fleiß und Tätigsein – moralische Ehrbarkeit stets ausgenommen. Schon 1785, am 19. August, hatte er Peter Carr geschrieben, daß Tugend niemals durch all die anderen Errungenschaften des Körpers und des Geistes ersetzt werden kann. Daher sollten ihm folgende Imperative gelten: „give up money, give up fame, give up science, give up the earth itself and all it contains rather than do an immoral act.“ Zwei Jahre später, am 10. August 1787 bekräftigt und ergänzt er dies noch einmal, wenn er ihm schreibt, „vor allen Dingen versäume keine Gelegenheit bei deinen Bemühungen, dankbar und generös zu sein, mitleidig und human, wahrhaftig, gerecht, fest, ordentlich, mutig, etc. Betrachte jeden Akt dieser Art als eine Übung, die Deine moralischen Fähigkeiten stärken und Deinen Wert vergrößern wird“. Noch gegen Ende seines Lebens gab er, Thomas Jefferson, Smith diesen Rat: „Bewundere Gott. Ehre und schätze Deine Eltern. Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst. Sei gerecht. Sei wahr. Beklage Dich nicht über Dein Schicksal“. (Brief vom 21. Februar 1825). All diese Äußerungen lassen kaum Zweifel an Jeffersons hoher Einschätzung des Gewis-
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sens als eines gewissen Wissens darum, was sich ziemt. Dazu paßt, wenn er in der 14. Frage seiner „Notes on Virginia“ erwähnt, happiness – jener Begriff, dessen Verfolg er durch die Unabhängigkeitserklärung berühmt machte und der eine bedeutende Rolle in seinem und in Amerikas Denken spielt – sei in einem guten Gewissen begründet. Auch ist der innere Richter, der „spectator“ Smiths bei Jefferson ersichtlich. In einem Brief vom 24. November 1808 an Thomas Jefferson Randolph schreibt er von „diesen kleinen Insichgehen, dieser sich selbst befragenden Gewohnheit“ (these little returns into ourselves, this self-catechising habit), die weder unbedeutend noch nutzlos seien, sondern zu kluger Auswahl und stetem Verfolg dessen führten, was recht ist. Seinen Äußerungen nach vertrat der Mann, der weithin als Vater der amerikanischen Demokratie angesehen wird, Goethes Forderung in der ersten Zeile des Gedichtes „Das Göttliche“: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Die Aufforderung des alten Jefferson, sich nicht über das Schicksal zu beklagen, erinnert an die Kants in der Schlußanmerkung zu „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786): „Es ist aber von der größten Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein (ob sie uns gleich auf unserer Erdenwelt eine so mühsame Bahn vorgezeichnet hat): theils um unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen, theils um, indem wir die Schuld davon aufs Schicksal schieben, nicht unsere eigene, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser Übel sein mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der Selbstbesserung die Hilfe dagegen zu versäumen.“ Kant veröffentlichte diese Worte vor seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788), die reich ist an kategorischen Imperativen aufgrund moralischer Beschränkungen menschlichen Handelns. Deren gibt es so viele, daß sie als Kern der zweiten Kritik angesehen werden können. Das moralische Gesetz, von dem Kant oft spricht, demütigt „unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht“. Anerkennend spricht er von „einem höch2 Dietze
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sten, oder auch einem von aller Sinnlichkeit freien Wesen“. Bloß nach diesem Gesetz muß der Mensch handeln. „Das moralische Gesetz ist nämlich für den Willen eines allervollkommensten Wesens ein Gesetz der Heiligkeit, für den Willen jedes endlichen vernünftigen Wesens aber ein Gesetz der Pflicht, der moralischen Nöthigung und der Bestimmung der Handlungen desselben durch Achtung für dies Gesetz und aus Ehrfurcht für seine Pflicht.“ Kurz danach heißt es: „Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen. Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch praktische Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichs der Sitten, aber doch zugleich Unterthanen, nicht das Oberhaupt desselben, und die Verkennung unserer niederen Stufe, als Geschöpfe, und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben, dem Geiste nach, wenngleich der Buchstabe desselben erfüllt würde.“ Die Menschen sollen „in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus“ versuchen, dem „Gesetz aller Gesetze“, dem Gebot „liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst“ zu folgen. Dieses Gesetz verleugnet das Prinzip eigener Glückseligkeit, „liebe dich selbst über alles, Gott aber und deinen Nächsten um dein selbst willen“. Menschliche Freiheit ist das Vermögen, „mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Unabhängigkeit von Neigungen“. Weiter heißt es: „Das moralische Gesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fordert Heiligkeit der Sitten“. Es „gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstand alles Verhaltens zu machen“. Neigungen und Glückseligkeit sind ihm zu unterwerfen. Der Wert eines Individuums hängt allein von dem moralischen Wert seiner Handlungen ab und „das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen oder zu drohen“, fordert „von uns uneigennützige Achtung“. Bei aller Freiheit sollen wir ihm folgen und haben so „Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“. Im Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft liest man dann die
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berühmten Worte, die ich in Königsberg mehr ausgestellt sah als alle anderen Äußerungen des großen Sohnes und Bürgers dieser Stadt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“. (vgl. Band. V, Seiten 74, 76, 79, 80, 82, 83, 87, 93, 117, 128, 161 in „Kant’s Werke“, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907 – 12). Wie durch die Schriften Jeffersons, zieht sich also durch die Kants der Gedanke moralischer Verpflichtung. Und auch Kant macht klar, daß eine solche eine des Gewissens ist. In seiner Arbeit über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) lesen wir: „Daß der Mensch durchs moralische Gesetz zum guten Lebenswandel berufen sei, daß er durch unerlöschliche Achtung für dasselbe, die in ihm liegt, auch zum Zutrauen gegen diesen guten Geist und zur Hoffnung, ihm, wie es auch zugehe, genug thun zu können, Verheißung in sich finde, endlich, daß er, die letztere Erwartung mit dem strengen Gebot des ersteren zusammenhaltend, sich als zur Rechenschaft vor einen Richter gefordert beständig prüfen müsse: darüber belehren und dahin treiben zugleich Vernunft, Herz und Gewissen“. An Adam Smith erinnernd, spricht Kant in der gleichen Schrift vom „Ankläger in uns“, der den Antrag auf ein Verdammungsurteil über unsere Handlungen stellt, vom Urteil des künftigen Richters, des aufwachenden Gewissens. Er fügt hinzu: „Wenn man im Menschen den Richter, der in ihm selbst ist, anfragt, so beurtheilt er sich strenge“. Ähnliche Gedanken finden sich anderswo. So erwähnt zum Beispiel die Kritik der praktischen Vernunft „die Richteraussprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen“, den „inneren Richterstuhl“. In der Kritik der Urteilskraft sieht Kant bei Pflichtvergehen strenge Selbstvorwürfe, die eine Sprache im Menschen führen, „als ob sie die Stimme eines Richters wären“. Es gibt da eine Stimme, die Menschen in sich 2*
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wahrnehmen, wenn sie sich nicht recht verhalten haben. „Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflectiren anfingen, in einer Zeit, wo sie über die Zweckmäßigkeit der Natur noch gleichgültig wegsahen, sie nützten, ohne sich dabei etwas Anderes, als den gewohnten Lauf der Natur zu denken, mußte sich das Urtheil unvermeidlich einfinden: dass es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewaltthätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen; mithin mußte auch die, obgleich dunkle, Vorstellung von Etwas, dem sie nachzustreben sich verbunden fühlten, verborgen liegen, womit ein solcher Ausschlag sich gar nicht zusammenreimen lasse, oder womit, wenn sie den Weltlauf einmal als die einzige Ordnung der Dinge ansahen, sie wiederum jene innere Zweckbestimmung ihres Gemüths nicht zu vereinigen wußten.“ In „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre“ (1797) lesen wir: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt.“ Kant fährt fort: „Es folgt ihm wie ein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es in seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden“. Und so geht es in den folgenden Absätzen fort. Im Jahr darauf schreibt Kant im „Streit der Fakultäten“, er habe sich bei der Abfassung seiner Schriften stets einen Richter in sich als ihm zur Seite stehend vorgestellt (vgl. „Werke“, Bd. V, S. 98, 152; 458. Bd. VI, S. 76 f., 144 f.; 430, 438; Bd. VII, S. 9).
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Carl Schmitt bezeichnete das 18. Jahrhundert, in dem Smith, Jefferson und Kant wirkten, als das moralische Jahrhundert. Es war auch eines der Aufklärung, in dem die eben behandelten Zeitgenossen die als Liberalismus bekannt gewordene Bewegung zur Ausdehnung der Freiheit des Individuums vorantrieben. Gewiß unterschieden sie sich von einander. Smith wird vorwiegend als Nationalökonom gesehen, obwohl er in Glasgow den Lehrstuhl für Moralphilosophie innehatte und sein Freund David Hume ihn 1758 gern als Vertreter des Ordinariats für Natur- und Völkerrecht an der Universität Edinburgh gesehen hätte. Seine später veröffentlichten Vorlesungen über Gerechtigkeit, Polizei, Einkommen und Waffen zeigen, daß er von der Moralphilosophie über die Jurisprudenz zur politischen Ökonomie kam. Jefferson war auf hohem Niveau eine Art Hansdampf in allen Gassen. Die umfassende Literatur über ihn beschreibt den Architekten, den Erzieher, Farmer, Gärtner, den Kunstbeflissenen und, mehr im öffentlichen Leben, den Juristen und Politiker, den Revolutionär, Diplomaten, Staatsmann und Präsidenten der Vereinigten Staaten – sieht ihn als wahren Renaissancemenschen mit vielseitigsten Interessen. Kants Beitrag wird vor allem auf dem Fachgebiet der Philosophie gesehen. Er war so erheblich, daß man seitdem die vorkantische von der nachkantischen Philosophie unterschieden hat. Karl Jaspers’ Betonung seiner politischen Ansichten ändert daran wenig, bedeutend wie letztere sind. Smith, Jefferson und Kant, allgemein als „klassische Liberale“ angesehen, befürworteten einen freieren Handel und freiere Institutionen in der Regierung. Aber auch in diesem Bestreben gibt es Unterschiede, die angesichts der Facettenvielfalt des Liberalismus nicht überraschen. Smith und Jefferson dachten utilitaristisch, Kant äußerte Zweifel über den Utilitarismus. Smith erhoffte vom freien Markt den größeren Wohlstand der Nationen, weil Geld nicht mehr, wie unter dem Merkantilismus, in die Staatskasse floß, sondern in die Hände der Bürger. Er kannte John Locke, einen anderen klassischen Liberalen, dessen Hervorheben der Bedeutung des
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Privateigentums und sah der einzelnen Wohlstand hauptsächlich aufgrund ihres Eigentums. Auch Jefferson kannte Locke – so gut, daß er, wie Carl L. Becker in seiner Studie über die Unabhängigkeitserklärung (1922) betonte, einiges wörtlich aus Lockes zweiter Abhandlung über das Regierungswesen (1689) übernahm. Eines übernahm er auffallenderweise nicht: der Lockesche Dreiklang life, liberty, and property wird in der Unabhängigkeitserklärung zu life, liberty and the pursuit of happiness. Man hat darüber spekuliert, weshalb dies wohl geschah. Die Antwort wird vielleicht nie gefunden werden, denn die Schriften Jeffersons sind wohl bekannt und man wird schwerlich erforschen können, was im Gehirn der Menschen wirklich vor sich geht. Wichtig ist, daß Jefferson den Verfolg der Glückseligkeit anstelle von Eigentum erwähnte und damit in dem bekanntesten Dokument der Neuen Welt etwas Neues in die Welt warf. Kant war diesem Neuen recht abhold und forderte statt dessen Entsagung und Pflichterfüllung. Aber wie verschieden die Meinungen von Smith, Jefferson und Kant auch sein mochten, ließen alle drei doch keinen Zweifel über ihre hohe Einschätzung der Moral, forderten sie ein gewissenhaftes Verhalten aufgrund des Gewissens und von Gewissensbissen. Sie alle glaubten an einen inneren Ermahner, Ankläger und Richter, denen der Mensch Achtung und Beachtung zu schenken hatte. Wo aber Mahner, Ankläger und Richter sind, wo ein Gewissen ist, da ist ein gewisses Wissen um Schuld, da ist Schuld, nach Schiller der Übel größtes. Man muß sich fragen, warum denn gerade von denjenigen, die im 18. Jahrhundert die nach mehr Freiheit drängende, als Liberalismus bekannte Bewegung in einer Weise mitförderten, daß sie das 19. Jahrhundert derart beherrschte, daß man es das liberale Jahrhundert nannte, so eindringliche, gar aufdringliche Forderungen nach Schuldgefühlen ausgingen. Das kann verschiedene Gründe haben. Da ist einmal der zu ihrer Zeit vorherrschende oder jedenfalls noch nicht ganz überwundene Absolutismus. Es ist möglich, daß der Aufruf, das Gewissen zu beachten, von dem als
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gewissenlos empfundenen Verhalten der Herrschenden motiviert wurde. Wenn man anderer Benehmen kritisiert oder gar unter ihm leidet, ist man geneigt, es als schlecht, gewissenlos und schuldhaft zu bezeichnen. Smith, Jefferson und Kant hatten starke Ressentiments gegen derzeitige Regierungen. Als besonders schlimm erschien die Frankreichs unter den Bourbonen. Sie veranlaßte Montesquieu zu einem Besuch Englands, dessen Freiheiten er in seinem Werk vom Geist der Gesetze pries. Kant, der in Revolutionen furchtbare Verbrechen sah, kritisierte ausnahmsweise die Französische Revolution nicht, wohl weil er das Ancien Régime als überaus abscheulich empfand. Er war froh, im aufklärerischen Preußen Friedrichs des Großen leben zu können, wenn es ihm auch unter dessen Nachfolger, als die Zensur seine Schrift über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verbot, klar wurde, daß der gemilderte Absolutismus immer noch ein Absolutismus war. Obwohl England Montesquieu als Land der Freiheit erschien, war es doch eines des Merkantilismus, der absolutistische Züge trug. Wenn auch seit der Glorreichen Revolution der König kein Unrecht mehr tun konnte – the king can do no wrong – weil er keine Macht mehr hatte, so konnte es doch das Parlament. Smith war sich dessen wohl gewahr, ebenso wie die Amerikaner. Sie fühlten sich durch verschiedene vom Parlament verabschiedete Gesetze sowie durch Maßnahmen des Königs unterdrückt, woran Jefferson besonders in der Unabhängigkeitserklärung wenig Zweifel ließ. Was lag da näher, als an das Gewissen der Herrschenden zu appellieren und von ihrer Schuld zu reden? Das war auch bei Dingen der Fall, die weniger mit der Politik zu tun hatten und eher mit dem Amusement. Bekannt sind Maria Theresias warnende Briefe an ihre Tochter Marie Antoinette, es damit doch nicht zu übertreiben und an die Bescheidenheit des österreichischen Hofes zu denken. Man kann beim Betrachten der Gemälde Fragonards nicht umhin, die düsteren Wolken über dem rokokohaften fröhlichen Treiben der Aristokratie als böses Omen für die kommende Revolution zu sehen. Schon Montesquieus Persische Briefe, 1721
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wohl wegen ihrer gewagten Sittenbeschreibungen anonym in der Karnevalsstadt Köln veröffentlicht, zeigten die lose Moral des 18. Jahrhunderts an. Und wenn Carl Schmitt dieses Jahrhundert als das moralische bezeichnet, so meint er es wahrscheinlich eher im Sinne der von Autoren wie Smith, Jefferson und Kant vorgebrachten Ermahnungen als in dem vorherrschender Gepflogenheiten, denn die ließen in mancher Beziehung zu wünschen übrig. Sie führten zum viktorianischen Zeitalter mit seinen jedenfalls nach außen strengen Sitten, die John Stuart Mill veranlaßten, sein bekanntes Essay über die Freiheit zu veröffentlichen. Die Theorie ist eine Reaktion auf die Praxis, und neue Praxis folgt der Theorie. Neben solchen auf tatsächlich beobachteten Verfehlungen reagierenden Ermahnungen, sich vom Gewissen leiten zu lassen, Schuldgefühle zu haben und gewissenlose unmoralische Handlungen zu vermeiden, gibt es andere. Sie sehen Schuld nicht infolge von Beobachtetem, sondern des wahrscheinlich zu Beobachtenden, sehen sie also voraus. Nicht vom Gewärtigten gehen sie aus, sondern von dem in Zukunft vielleicht zu Gewärtigenden. Im Falle der erfahrenen Schuld des Absolutismus sähe das dann etwa so aus: Man begnügt sich nicht damit, absolutistisches Verhalten anzuprangern. Man warnt auch vor der Schuld, die als Reaktion auf ein solches entstehen kann. Man fürchtet heftige, zu weit gehende Gegenströmungen, die das Regieren überhaupt in Frage stellen. Sah man die Schuld absolutistischer Herrscher in deren Absolutismus, so erwartet man nun den Absolutismus der einzelnen Individuen, die auf ihre vermeintlichen Freiheitsrechte pochen. Sah man Schuld darin, daß diese Herrscher ihren Untertanen alle möglichen Freiheiten verwehrten, so fürchtet man nun, daß die Bürger alle möglichen Freiheiten beanspruchen, von ihnen übermäßig Gebrauch machen und dadurch Schuld auf sich laden. Man sah, was Schelling 1809 in seiner Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit betonte, nämlich, daß die Freiheit „ein Vermögen des Guten und des Bösen“ ist. Wie der Absolutismus, erzeugt der Anarchismus Schuld.
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Bei Smith, dem Advokaten des freien Handels, äußert sich dies darin, daß er nicht jede Art von freiem Handel will, sondern nur einen fairen. Er vergleicht bekanntlich den Handelswettbewerb mit einem sportlichen Wettlauf. Und wie man bei letzterem seinem Gegner kein Bein stellen darf, so darf man das auch bei geschäftlicher Konkurrenz nicht. Smith erteilt also unbeschränktem Laisser-faire und cut-throat competition eine ähnliche Absage wie übermäßiger staatlicher Kontrolle. Bei Kant ist es nicht anders. Trotz seiner Angriffe auf staatliche Kontrollen tendiert er keineswegs zum Anarchismus hin. Er ist für gewissenhafte Befolgung der Gesetze und erachtet ein Attentat auf ein Staatsoberhaupt als unentschuldbares Verbrechen, lehnt sogar den Tyrannenmord ab. Auch Jefferson, der allgemein als der größte Freiheitsapostel Amerikas gilt, verurteilte die Anarchie. Man hat hervorgehoben, er habe selbst nach der gescheiterten Shays Rebellion in Massachusetts, bei der von einem Aufbegehren gegen eine Diktatur wahrlich keine Rede sein konnte, Blutvergießen für die Freiheit der Bürger gutgeheißen (Brief vom 24. Dez. 1786 an Ezra Stiles). In einem Schreiben an W. S. Smith ging er dann am 13. Nov. 1787 sogar so weit zu sagen, der Baum der Freiheit müsse von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Tyrannen und Patrioten, seinem natürlichen Düngemittel, genährt werden. Dennoch durften nach erfolgreichen Revolutionen gegen unterdrückerische Regimes die Dinge nicht zu weit treiben. Am 24. Mai 1813 schrieb Jefferson Madame Stael, er hoffe, Frankreich möge wiedererstehen mit jener gemäßigten Portion Freiheit, die nicht zu Anarchie oder Dreistigkeiten führt und die die Regierung Frankreichs unter der Verfassung von 1789 genossen hätte, wenn die damalige Weisheit beibehalten worden wäre und dem glühenden, doch unklugen Eifer von Männern, die den Charakter ihrer eigenen Landsleute nicht kannten, Einhalt geboten hätte. Am 14. Februar 1815 drückte er sich Lafayette gegenüber ähnlich aus. Man brauchte, so bemerkte er, mehr als eine Generation unter vernünftigen Gesetzen, welche ein besseres Wissen der Masse des Volkes besorgten sowie eine unabhängige Sicherheit der Person und des Eigen-
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tums, bevor das Volk fähig sein werde, den Wert der Freiheit wie auch die Notwendigkeit einer heiligen Befolgung von Prinzipien, auf denen deren Erhaltung beruht, zu würdigen. Er fügte hinzu, eine unvernünftige Auffassung der Freiheit würde in den Händen nicht vorbereiteter Menschen zur Tyrannei vieler, weniger oder eines einzelnen führen. In der 14. Frage seiner „Notes on Virginia“ erhoffte er „bloße Freiheit zu rechten Unternehmen“. In einem Brief an Lewis Williams vom 18. Februar 1820 heißt es, er sei für „rechtmäßige Freiheit“ innerhalb der Grenzen, welche die gleichen Rechte aller ziehen. Wie Smith und Kant, war sich Jefferson der Moral als mächtiger Macht bewußt – und damit der Schuldgefühle, die diese im fürchtenden Menschen hervorruft. In seinem bekannten Wort sagte Kant, „der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“ seien zwei Dinge, die das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt. Hier gelang dem Königsberger ein großer Wurf, der sich in der Literatur sehen lassen kann. Wie Bibelstellen, verleitet er eher noch zu Exegesen als das Römische Recht unter mittelalterlichen Exegeten. Ich will eine solche versuchen, denn die Versuchung ist groß. Die Stelle erinnert an den letzten Brief des Greises von Weimar an Wilhelm von Humboldt: „. . . Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige. . . Die Organe des Menschen durch Übung, Lehre, Nachdenken, Gelingen, Mißlingen, Fördernis und Widerstand und immer wieder Nachdenken verknüpfen ohne Bewußtsein in einer freien Tätigkeit das Erworbene mit dem Angeborenen, so daß es eine Einheit hervorbringt, welche die Welt in Erstaunen setzt. – Treu angehörig J. W. v. Goethe.“ Wie der Dichter Nachdenken und immer wieder Nachdenken betont, spricht der Philosoph von öfterem und anhaltenden Nachdenken.
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Das erscheint konsequent bei einem Mann, der 1784 in „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ hervorhob, man lebe zwar in einem Zeitalter der Aufklärung, deshalb aber noch lange nicht in einem aufgeklärten, und damit zu anhaltenden weiteren Aufklärungen aufrief. Beide Autoren waren sich wohl darin eins, als vernünftige Menschen gegen Rechthaberei zu polemisieren. Goethes Warnung vor großer Wissenseinbildung erinnert an den Faustmonolog. Kants Stelle dagegen zeigt Resignation und Verzweiflung nicht. Sie spricht von Bewunderung und Ehrfurcht, ersetzt also jene Furcht, die fürchtende Menschen aufgrund des moralischen Gesetzes in ihnen, aufgrund ihres gewissen Gewissens haben, durch Ehrfurcht: Ich fürchte mich vor dem moralischen Gesetz nicht deshalb, weil es mir Böses und Übles will. In Gegenteil: weil es mich vom Bösen und vom Übel befreien und erlösen will, zolle ich ihm Ehrfurcht. Das moralische Gesetzt wird bewundert und verehrt, weil es mein ehrbares Handeln und damit meine Ehre selbst will, auf daß ich mich als ehrbares Wesen betrachten kann und von anderen als solches verehrt und bewundert werde. Auf wahrhaft großartige Art vergleicht Kant das moralische Gesetz in mir mit dem bestirnten Himmel über mir als die das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllenden zwei unvergleichlichen, einmaligen Dinge, welche auf erhebende Weise Bewunderung und Ehrfurcht erzeugen. Bei diesem Nebeneinander erübrigt sich wohl die Frage nach einem Primat. Die Möglichkeit, daß ein solcher dem zuerst genannten bestirnten Himmel zukommt, dürfte von der eines Primats des moralischen Gesetzes aufgehoben werden, weil dieses für den Betrachter am längsten nachklingt. Tatsächlich handelt es sich hier weniger um ein Nebeneinander, sondern eher um ein Beieinander, um eine Kombination zweier unermeßlicher Dinge, deren Symbiose ihre Unendlichkeit noch erhöht. Da ist der bestirnte Himmel, dessen imponierende Weite mit immer neuer und zunehmender Bewunderung wachsen dürfte, wie es dann mit fortschreitender Er-
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forschung des Weltalls ja auch geschah. Immer mehr Gestirne wurden entdeckt, der bestirnte Himmel, den Kant kannte, wurde immer bestirnter für all die, die mehr und mehr um ihn wußten. Da sind andauernde Pluralisierungen des menschlichen Daseins, ein stetes Anwachsen von Werten und Unwerten, des Gefallens und Mißfallens, des Geschmacks und der Geschmacklosigkeit, laufend ermutigt durch Enthüllung des Liberalismus in seinem eigentlichen Wesen als reinem Liberalismus, der sich in seinem unersättlichen Drang nach mehr Freiheit nicht darum schert, ob und wie diese zum Guten oder Bösen genutzt und ausgenutzt wird. Sie alle lassen immer mehr Facetten des moralischen Gesetzes in uns erscheinen und vibrieren. So wächst mit dem bestirnten Himmel das moralische Gesetz. Mit dem, was der Mensch über sich ahnt, wächst, was in ihm mahnt. Das „über mir“ ist bei dem „in mir“, denn das moralische Gesetz in mir ist qua Gesetz über mir, meinen Handlungen und Wandlungen. Ich bewundere es ehrfürchtig wie den Sternenhimmel, den ich, hoffnungsvoll zu ihm aufschauend, nicht nur als etwas Physisches sehe, sondern als etwas Erstrebenswertes in dem Sinne, daß ich einmal in den Himmel kommen und nicht zur Hölle fahren möge. So verdichtet sich das Nebeneinander beider Dinge nicht nur zu einem Beieinander und zu einer Symbiose. Letztere verschmilzt zu einer Einheit. Der bestirnte Himmel über mir wird zum moralischen Gesetz in mir und umgekehrt. Die von Kant bewunderten zwei Dinge amalgamieren sich zu einer als grandios empfundenen ästhetischen Einheit, der es an ethischer Reinheit nicht ermangelt. Kant, oft als Befreier gefeiert, läßt das Gewissen des Menschen zum großen Beschränker der Freiheit an sich, der von allen ästhetischen, ethischen, moralischen, rechtlichen usw. Begrenzungen freien und daher reinen Freiheit werden. Gerade in dieser Beschränkung, die mein Handeln bestimmen soll und hoffnungsvollerweise bestimmt, liegt für Kant der Schlüssel zur Zufriedenheit, der er größte Wichtigkeit bei-
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mißt, weil sie es den Menschen gewährt, der mühsamen Bahn, die ihnen auf dieser Erdenwelt vorgezeichnet ist, zu entrinnen. Dabei hat hier, wie auch bei der Bewertung des bestirnten Himmels und des moralischen Gesetzes, jeder seine eigene Meinung und auch sein eigenes Gewissen. Deshalb sprach ich von einem „gewissen Gewissen“. Das muß jeder für sich selbst mit sich selbst ausmachen und definieren, ebenso wie die aus ihm kommenden eigenen Gewissensbisse. Da dürfte dann klar werden, daß wir vieles nicht wissen können. Ob und inwiefern dieser Gedanke einzelnen allerdings das Herz verbrennen wird, ist eine andere Frage. Denn nicht allein die Weite, auch die Tiefe und Intensität des Gewissens ist reich an Möglichkeiten, Schwankungen und Schattierungen. Bei allen und den von ihnen herrührenden Gewissensbissen kann man an Francisco Goyas Radierung „El sueño de la razon produce monstruos“ (etwa 1793) denken. Das Bild ist furchterregend. Ein gebeugter Mann stützt sich erschöpft auf sein Pult, den Kopf wie zur Abwehr in die Arme vergraben, als ob er von dieser Welt genug hat und ihr entfliehen möchte. Um ihn herum häßliche Monster, drachenhafte, ihm naherückende Ungeheuer, die ihn nicht in Ruhe lassen. Bestienhaft, heimtückisch, höhnisch und habgierig sind sie dabei, ihn zu peinigen. Überall sind sie da auf dieser Welt: zu ebener Erde, in der Luft, auf dem Pult, hinter ihm, rechts und links, höllische, an Hieronymus Bosch erinnernde Fabeltiere. Man hat dieses Bild verschieden interpretiert. Gewöhnlich wird seine Inschrift wörtlich mit „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ übersetzt. Hayek aber meint in der Veröffentlichung der Antrittsrede, die er 1970 an Mozarts Geburtstag in Salzburg hielt, sie sei wohl im entgegengesetzten Sinn gemeint, nämlich daß, wenn die Vernunft schläft, Ungeheuer erstehen. Mir vermittelt das Bild auch den Eindruck der Furcht des Menschen vor seinem Gewissen und den aus diesem hervorgehenden Gewissensbissen. Werden sie von Goya als irrational angesehen? Als die großen Peiniger, die da sind, wenn die Vernunft schläft? Eine solche Fortführung des Hayekschen Gedankens scheint bei dessen immerwährenden Betonungen
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der Freiheit angebracht. Das Gewissen würde so als etwas Unvernünftiges erscheinen, Gewissensbisse vielleicht gar als noch unvernünftiger. Der auch als Befreier bekannte Philosoph aus Königsberg, Verfasser nicht nur der Kritik der reinen Vernunft, sondern auch der Kritik der praktischen Vernunft, in der es von kategorischen Imperativen und moralischen Gesetzen ähnlich wimmelt wie in Goyas Radierung von Monstern, dachte das offenbar nicht. Aber war seine Betonung des moralischen Gesetzes vielleicht der Tatsache zuzuschreiben, daß er annahm, die Menschen wären geneigt, die enorme Last des Gewissens und der Gewissensbisse, die auf ihr Schuldbewußtsein hinausläuft, als irrational zu empfinden, und darauf aus, sich von ihr zu befreien? Wie dem auch sei, dürften kaum Zweifel darüber bestehen, daß infolge wachsender Komplikationen und Pluralisierungen menschlichen Seins notgedrungen immer mehr kategorische Imperative und moralische Gesetze zustande kamen als verschiedene Aspekte des moralischen Gesetzes, welches Kant in seinem berühmten Ausspruch derart am Herzen lag, daß er es mit dem Sterngewölbe verglich. Wie aber moralische Gesetze partielle Erscheinungen des moralischen Gesetzes sind, so sind einzelne Schuldgefühle solche Erscheinungen der Schuld. Sie demonstrieren, daß der Schuldbegriff in seiner Eigentlichkeit und Ganzheit ähnlich unendlich weit ist wie der generelle Begriff der Freiheit, von dem wir bisher nur einige, von verschiedenen Menschen verschieden aufgefaßte Teilerscheinungen kennen. Die Schuld an sich ist in so großem Maße belastend wie die Freiheit an sich entlastend ist. Schuld ist in etwa dem Ausmaß bedrückend, wie nach Freiheit Drängende diese als beglückend erachten. Schillers Ansicht, der Übel größtes sei die Schuld, ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Sie wird von der eben beschriebenen Szene seines Zeitgenossen Goya ebenso unterstützt wie von der Behauptung des Neukantianers Hartmann, Schuldbewußtsein zeige eine die Person selbst negierende, erdrückende und im extremen Fall geradezu lebensfeindliche
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Tendenz. Diese kann in verschiedenen Graden auftreten. Man kann sich lediglich bedrückt fühlen infolge von Selbstvorwürfen und dem Leben nur insofern feindlich gegenüberstehen, als man seine altgewohnte Lebensfreude verloren hat und nicht mehr jeden Tag in vollen Zügen genießt. Das Dasein erscheint verdrießlich eher als ersprießlich. Man kann bedrückt sein, ohne daß Schuldgefühle so weit gehen, wie bei Luther vor seinem Turmerlebnis, als er sich wund schlug, seinen Körper geißelte, um seine seelischen Wunden zu heilen. Das mag noch angehen. Der Mensch leidet, verliert die Lebenslust, nicht aber den Lebenswillen. Immerhin achtet er das Leben noch, sauer wie es ihm sein mag. Wie Carl Zuckmayer es den Hauptmann von Köpenick aus dem Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vorlesen ließ, „etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden“. Das reflektiert die Ansicht des Hobbes: das Leben gilt als der Güter höchstes. Aber dann gibt es ein Erdrücktwerden von der Schuld, das über bloßes Bedrücktsein hinausgeht und im wörtlichen Sinne zu nehmen ist. Und es gibt eine Lebensfeindlichkeit, die sich nicht darin erschöpft, das Leben bloß nicht mehr ausgiebig zu genießen. Der Mensch verhält sich nicht mehr so, wie ihn der Psychologe von Malmesbury einschätzte. Er betrachtet nicht mehr das Leben als höchstes Gut. Wie Schiller findet er, das Leben sei der Güter höchstes nicht. Es bleibt nicht bei Selbstvorwürfen und Kasteiungen. Es kommt zum Selbstmord. Die auf Schuldgefühlen beruhende Lebensfeindlichkeit zeigt sich in ihrer letzten Konsequenz. Man hat gesagt, ein Selbstmörder sei nicht ganz bei Sinnen, nicht ganz richtig. Richtig ist, daß sein Sinnen eingesehen hat, daß allein der Tod von Schuld befreien kann, denn er hat den Glauben an eine Vergebung der Schuld durch Bitten und Beten, wie sie das Vaterunser erhoffen läßt, aufgegeben. Und wer den Glauben aufgibt, der gibt sich selbst auf. Die Verzweiflung treibt ihn in den Tod. Verzweiflung aufgrund von Schuldbewußtsein erscheint natürlich, wenn man die Schuld als der Übel größtes ansieht. Schuld scheint dem Menschen immanent. Es dürfte kaum normale Menschen geben, die nicht irgendwann irgendwelche
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Schuldannahmen hätten. Diese werden vergrößert und intensiviert durch die Umgebung. Freud meinte einmal, teure Begräbnisse zeugten von Schuldgefühlen gegenüber den Verstorbenen. Zweifellos gibt es solche Gefühle bei Verwandten. Es gibt sie auch wegen des Verhaltens gegenüber anderen. Papst Johannes XXIII. sagte kurz vor seinem Tode, er bitte all die, die er einmal gekränkt hat, um Vergebung. Ich kenne jemand, der sich scheut, Gehbehinderte zu überholen aus Furcht, ihnen infolge seiner besseren Gesundheit als überlegen zu erscheinen, denn Triumphe können kränken und beim Kränkenden Schuld erzeugen. Auch gegenüber der Natur kann man schuldig werden. Was andere Lebewesen angeht, sagt das Sprichwort „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie Du den Schmerz“ nicht alles, was Schuld herbeiführen kann. Auch ein Quälen, das nicht zum Spaß geschieht, gibt es. Und noch viel mehr in der Behandlung von Tieren, das zu Schuldannahmen führt, – nicht nur das Töten, und das nicht allein nach Meinung von Vegetariern. Schuld kann auch zu Umweltschäden wie Luftverpestung, Dezimierung von Baumbeständen führen, ob es sich nun um das Amazonasgebiet oder den Schwarzwald handelt. Das alles zeigt eine enorme Spannweite der Schuld im quantitativen wie im qualitativen Sinn. Kirchliche und andere Organisationen der unterschiedlichsten Richtungen haben das ihre getan, um Schuldgefühle wachzuhalten und sie darüber hinaus den Menschen einzubläuen. Der Mensch weiß nicht, woher sein nächstes Schuldempfinden kommen und wie stark es sein wird. Er kann es nicht ahnen. Der Schuld scheint keine Grenze gesetzt. Man kann dies in Kants berühmten Ausspruch hineinlesen. Sein moralisches Gesetz ist eine Generalklausel, die bei allen als schuldhaft erachteten Handlungen und Unterlassungen Platz greift und sie in die Flucht schlägt, wie weit sie auch geplant sein mögen. Sie können sehr weit gehen. Keineswegs werden sie nur durch die Zehn Gebote gehemmt, bei denen man sich immer fragen muß, ob die denn nicht alle gleichwertig sind und zum
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Beispiel der Ehebruch eine so schlimme Schuld schafft wie der Mord, weil bei ihm ja die Benachteiligten oft lange leiden müssen, während beim Mord alles doch recht schnell geht. Lust schafft häufig Schmerz. Neben diesen Geboten gibt es andere bei familiären und fremden Religionen mit ihren verschiedenen Riten. Und wird man nicht schon durch die Nichtbefolgung letzterer schuldig? Selbstverständlich brauchen Gebote und Riten nicht religiöser Art zu sein, um durch Ignorierung Schuld zu erzeugen. Weltanschauungen und andere Betrachtungsweisen, auf welchem Gebiet sie immer erfolgen und von Erfolg und Mißerfolg gekrönt sein mögen: sie alle und vieles andere noch sorgen in der modernen, immer komplizierter werdenden Gesellschaft für stetig wachsende Schuldkriterien, die in der Mode der Zeit nicht allein von den Medien aufgebauscht und darüber hinaus laufend wissenschaftlich und pseudo-wissenschaftlich – Max Weber betonte in „Wissenschaft als Beruf“ bekanntlich die Kurzlebigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse – fundiert werden. Wir brauchen nur an die Lehren von Marx, Hitler und Freud zu denken, deren Leere viele angähnt. Ja, das Reich der Schuld, das die Menschen gefangen nehmen und ihnen übel mitspielen kann, ist groß! Es wird noch vergrößert durch das, was in unserem Jahrhundert als Kollektivschuld in den Vordergrund geschoben wurde. Da wird dann ganzen Gruppen, ja ganzen Völkern Schuld zugeschoben. Bei Gruppen mag das noch angehen, besonders dann, wenn die Zugehörigkeit zu ihnen eine freiwillige ist. So kann man vielleicht von einer Schuld der Mafia, einer Terrororganisation, einer Partei wie der kommunistischen oder nationalsozialistischen sprechen. Zwar muß auch hier die Schuld der einzelnen Mitglieder unterschiedlich gewertet werten, aber eine ohne jeglichen Druck erklärte und aufrecht erhaltene Mitgliedschaft kann schon als prima facie Beweis von Mitschuld erscheinen. Anders ist es bei der Kollektivschuld eines ganzen Volkes. In einer die Freiheit der Bürger achtenden konstitutionellen Demokratie kann es eine solche Schuld nicht geben, solange ein Teil des Volkes an unlieb3 Dietze
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samen Entscheidungen seiner Regierung nicht teilnahm oder diese sogar verurteilte. Umso weniger kann es sie bei einem Volke geben, das unter einer Diktatur leben mußte, von dem mehr oder weniger große Teile nicht nur nichts zu sagen hatten, sondern von den Herrschenden sogar verfolgt wurden. Und doch wurde einem solchen Volk Kollektivschuld angelastet und von einigen Bürgern sogar angenommen – selbst von denen, die als vom Regime Deklassierte und Verfolgte angesehen wurden. Wir brauchen nur an Deutschland nach 1945 zu denken und an den Philosophen Karl Jaspers, einem eingehenden Kenner Kants, der um dessen strikte Ablehnung jeder Lüge gewiß wußte. Dennoch: obwohl er mit einer Jüdin verheiratet war, im Dritten Reich Lehrverbot hatte und sich leicht als Verfolgter betrachten konnte, zudem seine deutschen Landsleute unter dem Hitlerregime noch leiden sah und sich dessen Grausamkeit bewußt war, betrachtete er sich als schuldig, einfach deshalb, weil er Deutscher war. Das zeigt, wie weit das Sichschuldigfühlen gehen kann. Es zeigt auch dessen Bizarrerie. Diese tritt noch dadurch hervor, das es sich bei dem moralischen Gesetz in der hier kommentierten Stelle offenbar um etwas rein Moralisches handelt, das an einen moralischen Schuldbegriff denkt, weil es etwas Unmoralisches zu kontern hat. Zwar nennt Kant, der sich des Unterschieds von Moral und Recht bewußt war, „das moralische Gesetz in mir“, spricht er nicht etwa von einem moralischen Empfinden und moralischer Empfindlichkeit. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß er mit dem moralischen Gesetz vor allem die Moral im Sinn hatte – trotz seines Gebrauchs des Wortes „Gesetz“. Dieser deutet aber klar darauf hin, wie ernst er es mit der moralischen Autolimitation des Individuums und der Beschränkung seines eigenen Ichs nahm. So erscheint es als das unheimliche, weil nicht definierbare Überwältigende und geradezu Furchterregende der Moral, daß sie nicht, wie das Recht und das ihm eigene Gesetz, konkret zu fassen und in Rechtsnormen festgesetzt werden kann. Sie ist jenseits solcher Normen, die sie oft umfaßt, mächtig. Sie ist vorhanden in rie-
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sigem, unüberschaubaren Ausmaß, das oft alles Maß verloren zu haben scheint und über uns als gewaltige Macht thront, gegen die wir gewissermaßen ohnmächtig sind, arme Erdenwesen, die nicht genesen. Georg Jellinek, der als Rechtspositivist wohl die Ansicht Bernhard Windscheids in einer 1854 in Greifswald gehaltenen Rede teilte, der Traum des Naturrechts sei ausgeträumt, und 1895 eine vielbeachtete Studie über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte veröffentlichte, in der er diese Erklärung wegen ihres eher moralischen Charakters als rechtlich nutzlos abtat und sie den juristisch ergiebigen Bills of Rights der amerikanischen Staaten entgegenstellte, hat das gesehen. In seinem Buch über die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe findet sich die berühmte Behauptung, das Recht – wohl vor allem gesetztes – sei ein ethisches Minimum (2. Aufl. 1908, S. 45). Es ist auch ein moralisches Minimum. Im Gegensatz zur Moral ist es aber greifbar, konkret und durchsetzbar. Das Recht ist der erzwingbare Teil von Ethik, Moral und Sittlichkeit. Daher sollte Kants Gebrauch des Wortes „Gesetz“, wenn es auch von dem ihm vorangehenden, einen Primat anzeigenden Adjektiv überschattet wird, nicht übersehen oder leicht abgetan werden. Angesichts seines Wissens um den Unterschied von Moral, Recht und Gesetz benutzte er wohl das eher dem Recht zugehörige Wort „Gesetz“, um den kategorischen Imperativ des moralischen Gesetzes zu untermauern. Es sieht also aus, als ob er die Moral zu einer Höhe von Schuldigkeit erheben will, wie sie dem vom Staate erzwingbaren Gesetz zukommt. In Anbetracht des unendlich großen Umfangs der Moral erscheint diese so als wahrhaft kolossaler kategorischer Imperativ aufgrund eines wahrhaft kolossalen Schuldpotentials. Ob es sich dabei allerdings um eine Schuld handelt, die abgegolten werden kann und abzugelten ist, ist eine andere Frage. Sie hängt davon ab, ob tatsächlich ein Schulden vorliegt.
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Schulden Schuld heißt nicht notwendig Schulden. Wie sehr sich Kant auch bemüht haben mag, der Moral auf fast gesetzliche Weise Geltung und Nachdruck zu verschaffen, darf seine Äußerung doch nicht über den weitreichenden grundsätzlichen Unterschied zwischen Gesetz und Moral hinwegtäuschen. Die Beachtung dieses Unterschieds ist wesentlich für eine Bewertung der sich jeweils ergebenden Pflichten. Auf den ersten Blick scheint Kants Vergleich des moralischen Gesetzes mit dem bestirnten Himmel ersterem eine wahrhaft himmelhohe Bedeutung beizumessen. Diese scheint gar nicht höher sein zu können und weit über dem Recht und seinen Gesetzen zu stehen, denen Kant allgemein staatsgebundene Funktionen zuweist. Eine solche Betrachtungsweise übersieht aber, daß er auch die Befolgung der Gesetze des Rechts, das, was der Volksmund als Gesetzestreue bezeichnet, als Teil des Gehorsams gegenüber dem moralischen Gesetz betrachtet. Auch das von der Regierung gesetzlich festgelegte ist für ihn Teil des zu Tuenden, und rechtliche Verpflichtungen sind grundsätzlich Aspekte moralischer. Eine derartige Einstellung war natürlich zu einer Zeit, als Kodifikationen des Rechts zunehmend das Gewohnheitsrecht und das moralisch noch mehr saturierte Naturrecht ablösten, wenn sie es auch noch nicht überholten und völlig ausschalteten. Die Tendenz dahin erreichte mit dem Anwachsen des Rechtspositivismus wohl erst mit der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens ihren Höhepunkt, der 1923 in „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ (S. 249) bemerkte: „Ein Unrecht des Staates muß unter allen Umständen ein Widerspruch in sich selbst sein“. Sie veranlaßte Marschall von Bieberstein, sein
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„Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze“ 1927 zu veröffentlichen. Im gleichen Jahr beklagte sich Erich Voegelin in einen Aufsatz über Kelsens Reine Rechtslehre („Political Science Quarterly“, Bd. 42, S. 268) darüber, daß es als eine Art intellektueller Schande erachtet wurde, Anhänger naturrechtlicher Lehren zu sein. Und in Gustav Radbruchs „Rechtsphilosophie“ liest man, die positivistische „Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung. . . hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze. Sie setzt letzten Endes das Recht der Macht gleich, nur wo die Macht ist, ist das Recht“. (5. Aufl., S. 335). Aber trotz dieser Entwicklung kann nicht bezweifelt werden, daß auch heute noch, wie zur Zeit Kants, die Moral einen größeren Geltungsbereich hat als gesetztes Recht oder das Recht mit seinen vielen, meist kodifizierten Gesetzen – jedenfalls quantitativ. Die Frage ist, wie es vom Qualitativen her aussieht im Sinne des wirklich Zwingenden, weil Durchsetzbaren. Da ist es oft anders. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Die Frau eines Mieters und Mutter seiner minderjährigen Kinder wird durch einen tragischen Unfall verwitwet. Sie und die Nachbarn erwarten vom befreundeten Vermieter, daß er sie bei pünktlicher Weiterzahlung der Miete in der Wohnung, in der die Kinder aufwuchsen, läßt. Der aber macht sich ein staatliches Gesetz zunutze und kündigt ihr. Oder ein Beispiel aus der „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz: Der langjährig befreundete Polizist überbringt dem Maler das Malverbot des Hitlerregimes. Der Maler sowie seine Mitbürger im kleinen Ort erwarten vom Polizisten eine großzügige, dem Freunde angemessene Haltung. Der aber enttäuscht ihr Vertrauen, kommt sich wichtig vor und sieht darauf, daß der Befehl gegen den weltberühmten Maler rücksichtslos ausgeführt wird. In diesen und vielen anderen Fällen wird man wegen Nichtachtung des kantischen moralischen Gesetzes den Kopf schütteln. Kants Ausspruch hat schon viel für sich. In ihm spiegelt sich der Jahrtausende währende Kampf zwischen der Moral
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und dem gesetzten Recht, zwischen Naturrecht und positivem Recht, der Kampf des moralisch, ethisch und naturrechtlich verstandenen Rechts gegen staatliche Gesetze und Befehle, des übergesetzlichen Rechts gegen gesetzliches Unrecht – wie immer man die Antagonisten bezeichnen mag. Wir finden sie in der griechischen Tragödie in Gestalten wie Kreon und Antigone, Jason und Medea, Agamemnon und Klytemnästra, die Dietrich Bonhoeffer in seinem posthum veröffentlichten Werk über Ethik anführt. Nachdem er Kants Ansinnen, ich müsse selbst dem in meinem Haus eingedrungenen Mörder seine Frage, ob sich mein Freund, den er verfolgt, zu mir geflüchtet hat, wahrheitsgemäß bejahen, als groteske Folgerung des Imperativs der Wahrheitsliebe bezeichnet hat, zitiert er aus dem Dialog von Goethes „Iphigenie“, in dem Pylades Iphigenie gegen das innere, moralische Gesetz zur von ihm erachteten verantwortlichen Tat bringen will: Pylades:
Zu strenge Forderung ist verborgener Stolz.
Iphigenie: Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz. Pylades:
So hast du dich im Tempel wohl bewahrt; Das Leben lehr uns, weniger mit uns Und andern strenge sein: du lernst es auch. So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet, So vielfach ist’s verschlungen und verknüpft, Das keiner in sich selbst, noch mit den andern Sich rein und unverworren halten kann. Auch sind wir nicht bestellt, uns selbst zu richten; Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen, Ist eines Menschen erste, nächste Pflicht: Denn selten schätzt er recht, was er getan, Und was er tut, weiß er fast nicht zu schätzen. . . Man sieht, du bist nicht an Verlust gewohnt, Da du, dem großen Übel zu entgehen, Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.
Iphigenie: O trüg’ ich doch ein männlich Herz in mir, Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt, Vor jeder andern Stimme sich verschließt!
Immer wieder wurde der Kampf der Ethik und Moral gegen das bloßer menschlicher Recht- und Machthaberei, die oft
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eine gemeine Wachhaberei des Unrechts und des Bösen über das Gute war, zuzuschreibende gesetzte Recht geführt. Heinrich Rommen sprach nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und den Vereinigten Staaten von der ewigen Wiederkehr des Naturrechts, nachdem Rudolf Stammler 1902 „Die Lehre vom richtigen Rechte“ veröffentlicht hatte und dem Ansturm des Rechtspositivismus durch den Begriff eines Naturrechts mit wechselndem Inhalt Einhalt zu bieten trachtete. In unserer Zeit, über hundert Jahre nach Nietzsche, nach einem Jahrhundert, das manchen Mythos zerstörte, Faschismus und Kommunismus lädierte und bezüglich Demokratie und Liberalismus so einige Fragen aufwarf, das heiße und kalte und kühle und lauwarme Kriege und Auseinandersetzungen erfuhr wie auch die allgemein überraschende Reintegration Deutschlands und Desintegration der Sowjetunion und an weittragenden Ereignissen und Innovationen gewiß nicht arm war, kann man eines, glaube ich, mit einiger Gewißheit sagen: Auch heute, wo wir über das wohl bereits hinausgekommen sind, was Carl Schmitt in seinem dem Andenken von Johannes Popitz gewidmeten Aufsatz über die Lage der europäischen Rechtswissenschaft 1950 als ein Zeitalter motorisierter Gesetze und Verordnungen beklagte, wo wir von motorisierten Anordnungen und jetmäßigen Gesetzgebungs- und Dekretsverfahren sprechen können, gilt vielen immer noch das bekannteste Wort des nach Karl Jaspers mit Platon größten Philosophen, dessen Betonung in Königsberg mich dort bei einem kurzen Aufenthalt während des Zweiten Weltkrieges erfreute. Es sei gestattet, es noch einmal zu zitieren: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“. Wie eine ewige Wiederkehr des Naturrechts, dürfte es eine des moralischen Gesetzes geben, solange die Menschen den bestirnten Himmel schauen können, wieviel sie von der Historie mit ihrem Nachteil und Nutzen zu ihrem Nutzen und Nachteil für das Leben auch vergessen haben sollten im
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apollinischen und dionysischen Lebenswandel auf der Suche nach Freiheit. Bei Nichtbeachtung bürdet das moralische Gesetz dem Menschen Schuld auf, aber damit nicht notwendig ein Schulden im Sinne rechtlicher Verpflichtung gegenüber anderen. Beide, Schuld und Schulden, beruhen auf Verschulden, sind aber anderer Art in ihren Konsequenzen. Schulden ist abtragbar, Schuld ist es nicht. Ein Schulden kann man, jedenfalls im positivrechtlichen Sinne, loswerden. Auf Schuld trifft das nicht zu. Das macht sie zum größeren Übel, was die andauernde Betroffenheit des Individuums angeht – nach Schillers angeführter Stelle zum größten – zum mehr oder weniger fortwährenden Peiniger des Gewissens. Dagegen hört ein Schulden anderen gegenüber auf, sobald es beglichen ist, wenn auch ein gewisses Überbleibsel, ein gewisser schlechter Nachgeschmack an Schuld dableiben dürfte, solange der Verschuldende glaubt, er habe diese doch nicht ganz mit seinem Schuldensanerkenntnis und entsprechender Begleichung aus der Welt geschafft und sei sie nicht wirklich völlig losgeworden. In allen Fällen handelt es sich – auch bei Mittäterschaft – stets um die Schuld und das Schulden des Individuums. Wenn Kant vom moralischen Gesetz in mir spricht, kann daraus nur ein Verschulden von mir, eines durch mich ausgehen, durch mich allein. Die Tatsache, daß er hin und wieder davon spricht, daß das moralische Gesetz uns, d. h. alle Menschen, bindet, widerspricht dem nicht. (Vgl. z. B. „Kritik der Urteilskraft“, a. a. O., Bd. V, S. 271, 275, 444 f., 448 f., 450, 453, 460, 470 f., 474). Werfe ich unappetitlich und gar anstößig wirkenden Abfall auf einen gepflegten Parkweg, wo weit und breit kein Schild zu sehen ist, das dies verbietet; trage ich dazu bei, Wasser und Luft und Erde zu verschmutzen durch Abwässer und Abgase, weil Gesetze das nicht untersagen, so werde ich deshalb doch ein schlechtes Gewissen haben und ein Gefühl der Schuld. Eines des Schuldens habe ich nicht. Ich weiß, daß ich wegen meines Verhaltens gesetzlich oder von Rechts wegen nicht belangt werden kann. Dritte mögen mein Verhalten rügen und
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sozialethisch verwerflich finden. Dennoch: sollten sie mich das fühlen lassen, kann es bei mir eine heftige Reaktion geben, denn Kritiken anderer sind oft gegenproduktiv. Die Rüge wird zur Lüge insofern, als ich mich nun selbst belüge und so tue, als wäre die Kritik an mir nicht, aber auch gar nicht gerechtfertigt. Nur allzu häufig verdrängt Trotz die Wahrheit. Vielleicht bleibt es nicht einmal dabei, mich selbst zu meiner Verteidigung zu belügen. Ich habe ja nicht nur Kant gelesen, sondern auch Max Stirner. Abstoßend wie mir dessen schwülstiger Egoismus, Egotismus und Egozentrik erschienen im Vergleich zu dem altruistischen sittlichen Bollwerk Kants, kamen mir doch hin und wieder Zweifel über letzteres. War der Königsberger nicht auch als Verfechter der Staatsautorität bekannt? Und basierte diese nicht vornehmlich auf der Befolgung der von der Regierung erlassenen Gesetze und Verhaltensmaßregeln? Habe ich diese denn verletzt, als es mir gefiel, den Abfall gleich wegzuwerfen anstatt ihn mit mir herumzuschleppen bis zum nächsten Müllbehälter? Kann ich denn Luft, Wasser und Erde mit Abwässern und Abgasen nicht ähnlich beschmutzen wie viele meiner Mitbürger es tun, solange ich mich innerhalb des von der Regierung Erlaubten halte? Gewiß, Stirners Egoismus, Egotismus und Egozentrik sind schon ekelhaft, aber doch hauptsächlich wegen ihrer anarchistischen Tendenzen. So weit braucht man ja nicht zu gehen und so weit bin ich doch auch nicht gegangen. Zeigt mein Verhalten nicht die goldene Mitte oder jedenfalls eine Art Mittelweg zwischen der dem Individuum gegenüber allzu strengen Ansicht Kants und dem radikalen Überindividualismus Stirners? Und geht Kant vielleicht nicht ähnlich zu weit wie dieser aus Bayreuth kommende, an der dortigen Maximilianstraße unter dem Namen Schmidt Geborene, dessen einzigen größeren Buchtitel, „Der Einzige und sein Eigentum“, Carl Schmitt den besten der deutschen Literatur nannte? Ein solcher Mann ist sicherlich nicht einfach abzulehnen, hat einem doch ganz bestimmt etwas zu sagen. Aber darf ich’s wagen, den moralischen Titanen in Frage zu stellen? Wiederum: Muß man nicht alles in
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Frage stellen und kann einer wirklich als Befreier gelten, der mit seinem moralischen Gesetz den einzelnen mehr Restriktionen auferlegt als der staatliche Gesetzgeber? Überhole ich einen Gehbehinderten, mag ich ein schlechtes Gewissen haben und ein Gefühl der Schuld, weil ich ihm zeige, daß ich gesünder bin und ihn damit vielleicht kränke oder traurig mache. Ich mag letzteres verschulden, aber ein Schulden ihm gegenüber im rechtlichen Sinne kommt dadurch nicht zustande. Er mag mein Verhalten als taktlos ansehen, dürfte dabei aber kaum auf den Gedanken kommen, daß ich ihm etwas schulde. Jedenfalls kann er nichts einklagen. Aber obwohl ich ihm nichts schulde, werde ich den Eindruck einer Schuld nicht los. Ich denke an Kants moralisches Gesetz, das in mir sein sollte. Wenn Kant mit diesem Gesetz so weit geht, aus reiner Wahrheitsliebe seinen Freund einem Mörder zu verraten und auszuliefern, hätte er sich dann aus Mitleid oder Takt nicht auch gescheut, bei dem Behinderten vorbeizugehen? Hätte das nicht seinem steten Verlangen entsprochen, das, was wir gerne wollen, zurückzustellen hinter dem, was wir sollten; Neigung und Wunsch hinter die Pflicht? Warum ging ich nicht wenigstens auf die andere Straßenseite, um den Gehbehinderten zu überholen? Wäre ihm dadurch meine Überlegenheit nicht wenigstens weniger nahe gewesen und nicht so nahe gegangen, wie es vielleicht geschah? Warum habe ich das eigentlich nicht getan? Aus purer Bequemlichkeit wollte ich die paar extra Schritte nicht laufen, obwohl diese mir wahrscheinlich leichter gefallen wären, als dem Behinderten ein einziger Schritt! Ich mache mir Vorwürfe, fühle mich gepeinigt durch Schuld, wenn ich dem Armen auch nichts schulde. Und doch: sollte ich mir wirklich etwas vorwerfen? Geht das Verlangen Kants nicht zu weit? Nietzsches Kommentar zur Schuld unter Nummer 59 der Fröhlichen Wissenschaft kommt mir in den Sinn: „Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht vor-
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handen. So steht es mit aller Schuld“. Mit aller Schuld, wohlgemerkt, also auch der moralischen! Und müßte ich mir nicht nach der späteren Nummer 74 das Siegel erreichter Freiheit sichern, wenn ich mich nicht mehr vor mir selbst schäme? Warnt Nietzsche in der 28. Bemerkung der „Morgenröte“ nicht eindringlich vor dem Mitleid unter der Überschrift „Inwiefern man sich vor dem Mitleiden zu hüten hat“ und erscheinen diese Worte nicht genau so gesperrt gedruckt wie die vom moralischen Gesetz in der berühmten Stelle Kants? Und läßt er in seinem „Buch für Alle und für Keinen“ Zarathustra nicht gar sagen, „was fällt, das soll man auch noch stoßen!“? Wenn man aber das, was fällt, auch noch stoßen soll, muß man das nicht auch mit dem Kranken? Denn das hatte Nietzsche wohl im Sinn! Aber dieser Gedanke läßt mich schaudern. Hier geht er entschieden zu weit, ist er ekelhaft wie Stirner, und mag er noch so asketisch sein. Auch der Asket darf sich nicht allzu viel erlauben. So tröste ich mich wieder bei dem Gedanken des goldenen Mittelwegs. Nichts im Exzeß, so sagten die Alten, Solon 600, Theogenis 550, Sokrates 410, und bei dieser Einstimmigkeit muß es schon seine Richtigkeit haben. Mittelmaß die beste Straß’. Dieses Sprichwort bedeutet nicht notwendig ein Lob des Mittelmäßigen, das nicht nur Nietzsche haßte. Es deutet eher auf die Bedeutung des Regelmäßigen, Regulären, das, wie der Mittelstand nach Ansicht James Harringtons, den Staat erhält. Schließlich habe ich ja beim Überholen des Gehbehinderten nur das getan, was die meisten anderen tun, schneller und ostentativer noch als ich und offenbar ohne Bedenken. Oder haben sie doch ähnliche Bedenken wie ich? Ähnliche Gewissensbisse? Wie dem auch sei: sie verhalten sich wie ich und es ist nicht einzusehen, weshalb ich mich infolge kantischer Schuldgefühle ihnen gegenüber im Nachteil befinden sollte. Geht man außerdem von dem durch die Französische Revolution, die Kant nicht verurteilte, wiederbetonten Grundsatz vox populi vox Dei aus, scheint mein Verhalten sogar Gottes Segen zu haben, weil es dem des Volkes entspricht.
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Will mich der als Befreier bekannte Kant etwa in Ketten der Moral legen, die weiter gehen, als es der von ihm bewunderte Rousseau wohl im Sinn hatte, wenn er schrieb, der Mensch sei frei geboren doch überall in Ketten? In die Ketten seines eigenen Königsberger Moralbegriffs, den eines Professors, der nicht nur vor dem Lügen, sondern auch vor dem Beten warnte? Deutet letzteres – wahrscheinlich die Reaktion auf eine streng pietistische Erziehung in Schule und Elternhaus – nicht eine recht eigenwillige und eigenartige Auffassung der Moral an, wo doch das Beten allgemein als moralisch angesehen wird? Ginge ein solches Ansinnen nicht auf unerfreuliche Weise weiter als zum Beispiel der amerikanische Historiker Carl L. Becker, der 1935 ein Buch unter dem Titel „Everyone His Own Historian?“ herausgab, oder der Oberste Gerichtshof in Washington, der nach dem Zweiten Weltkrieg entschied, auf nationaler Ebene gäbe es keinen bestimmten moralischen Standard, jede Gemeinschaft innerhalb der Vereinigten Staaten könne ihre eigene Moral haben und das Verhalten ihrer Mitglieder entsprechend regeln? Gäbe das nicht Nietzsche recht, der die Existenz einer absoluten Moral verneinte und schrieb, daß über „höher“ und „niedriger“ in der Moral nicht nach moralischen Ellen abzumessen sei („Morgenröte“, 29). All diese Gedanken kommen mir in meinem mit John Stuart Mill geteilten Mißtrauen gegen allzu strenge moralische Gesetze. Andererseits weiß ich, daß Kant, als Vertreter des Idealismus bekannt, gewiß kein Egoist war, man ihn daher achten muß und keineswegs ignorieren darf. So werde ich Gefühle meiner Schuld nicht los und bleibe auf dem goldenen Mittelweg, den meine Gedanken ja nicht ausschließen. Über eines jedoch bin ich mir bei diesen Überlegungen zunehmend klar geworden: Meine Schuldgefühle, wie irrational und sentimental sie auch sein mögen, sind ganz individuelle. Sie gründen sich allein auf „das moralische Gesetz in mir“, in mir allein, sonst niemand. Allein auf eine einzige, nämlich meine eigene Autolimitation gehen sie zurück zu meinem Unglück wie zu meinem Glück!
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Die eben angeführten Beispiele, kleinlich wie die in ihnen angegebene Schuld erscheinen mag, wurden gewählt um zu zeigen, wie weit Schuldannahmen aufgrund moralischer Imperative gehen können, inwieweit letztere Schuld schaffen können, obgleich von einem Schulden im Sinne des Gesetzes keine Rede sein kann. Man könnte sie ergänzen und zu einer wahren Litanei fortführen, denn die Möglichkeiten moralischer Schuld, die sich nicht als rechtliches Schulden konkretisieren läßt, sind ungeheuerlich unendlich, und ungeheuerlich unendlich trägt der nicht gefühllose Mensch an der auf dem moralischen Gesetz in ihm beruhenden Schuld. Mein unheilvolles Schuldgefühl läßt sich nicht heilen, weil es mir zu wenig definiert und definierbar erscheint. Habe ich Tiere um mich, die mir Freude bereiten, so frage ich mich, ob auch ich sie denn froh mache. Sind sie nicht meine Gefangenen? Meine Geschwister haben mir manch Gutes zukommen lassen. Habe ich dies ihnen gegenüber auch getan? In gerechter Weise? Meine Eltern haben Opfer für mich gebracht und waren jederzeit bereit, Opfer zu bringen. Und ich dagegen? Habe ich sie nicht als selbstverständlich erachtet, mit Undank gelohnt? Die Erwägung, Undank sei der Welt Lohn, tröstet mich ebensowenig wie das Sprichwort „Freunde in der Not geh’n tausend auf ein Lot“, wenn ich meinen Freund sitzen lasse. Und meine Lehrer in der Schule! Wollten sie nicht mein Bestes, doch habe ich, mit meinen Klassenkameraden in der Masse agierend, ihnen nicht das Leben sauer gemacht? Bin ich überhaupt ein guter Bürger, der seine Schuldigkeit dem Staate und dessen Regierung gegenüber erfüllt? Das Argument anarchistischer Liberaler wie Stirner und Bakunin, der Staat sei mitsamt seiner Regierung abzuschaffen, hilft mir bei meinem Schuldgefühl kaum mehr als das maßvollerer Liberaler von Locke bis Hayek, Staat und Regierung seien notwendige Übel. So ist es auch mit der Ansicht, Politiker seien professionelle Lügner und mit Nietzsches Meinung, oft säße der Schlamm auf dem Thron und oft auch der Thron auf dem Schlamm. Ich leide unter meiner Schuld und sehe kein Ende von ihr, weil ich nicht
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weiß, wie ich sie loswerden kann. Denn ein Schulden, das ich loswerden könnte, ist sie ja nicht. Oder doch? Werden das durch elterliche Gewalt gezüchtigte Kind, der durch den Lehrer bestrafte Schüler nicht auf eine Weise gemaßregelt, daß hier ein durch Verschulden entstandenes Schulden abgetragen wird? Denken Kind und Schüler nicht selbst, daß dies geschieht, daß damit ihr tadelhaftes Verhalten abgegolten ist und sie sich deswegen nicht mehr zu grämen brauchen? Fühlen sie sich nicht einigermaßen, wenn nicht völlig, von ihrer Schuld befreit? Dennoch ist hier noch ein gewisses Element des Ungewissen. Sie sind sich nicht ganz sicher, was sie zu erwarten haben, wenn sie sich nicht tadellos benehmen. Weder Eltern noch Lehrer haben feste Regeln über das Abtragen des Schuldens, – im Gegensatz zu staatlicher Autorität. Diese aber hat in der Form von Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen rechtliche Mittel, die in präziser Weise feststellen, wie Verschulden in einer Weise geahndet werden, daß der Verursacher die Gewißheit und das Gefühl haben kann, sein Schulden abtragen zu können, es loszuwerden und damit auch einen großen Teil, wenn nicht gar das Ganze, seiner Schuld. Das ist am offensichtlichsten bei den bekanntesten Formen des durch Verschulden des Individuums entstandenen Schuldens, der Strafverbüßung des Strafrechts und der Begleichung seiner Obligationen durch den Schuldner im bürgerlichen Recht. Nach der offiziellen Feier zur Vollendung seines 90. Lebensjahres, in welcher der Jubilar Carl Schmitt eine Rede hielt, die der Frische und Qualität glich, deren ich mich aus dem Sommersemester 1941 in seiner Berliner Vorlesung über Verfassung erinnere, war es mir vergönnt, zu dem kleinen Kreis zu gehören, der nachmittags in sein Haus gebeten wurde. Dort zeigte sich erneut, was Hasso Hofmann gleich zu Beginn seines 1964 erschienenen Buches „Legitimität gegen Legalität – Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts“ hervorhob: Schmitts Reichtum an prägnanten und lebendigen Begriffen. Am besten wurde das Phänomen des
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Begriffs wohl durch seinen Titel „Der Begriff des Politischen“ bekannt. Aber es ist in seinem gesamten Œuvre zu finden. Hier nun, am 11. Juli 1978, erzählte er in seiner Geburtsstadt Plettenberg, wie er in frühen Jahren angetan war von Richard Demels Worten, „hinter diesem Fenster träumt’ ich meinen ersten Traum“. Daraufhin aber kam er auf sehr präzise Dinge zu sprechen. Auf seinen Dezisionismus angesprochen, sagte er, er habe sich immer gewundert, wieso diesem Begriff denn so viel Originalität zugemessen worden sei, wo doch die Entscheidung dem Juristischen immanent ist und ein juristischer Grundbegriff wie die Schuld. Die Bedeutung letzterer hat er offenbar früh erkannt. Seine erste Veröffentlichung, die, auf seiner Straßburger Dissertation fußend, 1910 herauskam, war „Über Schuld und Schuldarten – Eine terminologische Untersuchung“. Sie erschien in einer Reihe strafrechtlicher Abhandlungen. Indem Schmitt hier Schuld vor allem im strafrechtlichen Sinne untersuchte, behandelte er sie als etwas, das ein Schulden in seiner eklatantesten Form angibt. Er schloß sich der allgemeinen Volksmeinung an. Denn wie immer Schillers Ansicht, der Übel größtes sei die Schuld, dahin verstanden werden mag, er habe der Moral einen ähnlich hohen Rang eingeräumt wie Kant und in ihr den weitreichendsten Grund der Schuld gesehen, sahen doch mehr oder weniger ehrbare Durchschnittsbürger, diejenigen, die man in Amerika als „men in the street“ bezeichnet, den Begriff der Schuld anders. Wenn die von Schuld hören, denken sie meist sogleich an guilty bei einem Strafprozeß, einem Verfahren, das von den Medien nur zu gern zum Spektakel hochgespielt wird und entsprechendes allgemeines Interesse findet. Das entspricht der Erziehung des Menschen. Schon dem Kind wird ja von frühauf der Gedanke eingehämmert, ein schuldiges Verhalten ziehe Strafe nach sich. Die Strafe wird obendrein als etwas ganz Furchtbares hingestellt, als das, was wirklich am meisten zu fürchten ist, als Strafgericht, das den Sünder schwer richtet und den schweren Sünder gar hinrichtet – um damit alles richtigzustellen, auf daß dem Richtigen Genüge getan werde.
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Strafgesetze machen ja durch ihre Vorschrift genauer Strafmaße auch hinlänglich klar, daß durch die verhängte Strafe die böse Tat, wie sie auch dem Dichter nach fortwährend Böses gebären mag, zunächst einmal abgegolten wird. Tatsächlich läuft die ja infolge des über sie verhängten präzisen Strafmaßes auf etwas Abgeltbares hinaus, ob dies nun das Abzahlen einer bestimmten Geldsumme, Absitzen einer bestimmten Zeit, die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf eine bestimmte Zeit, das Abschlagen des Kopfes oder Abwürgen der Atemwege ist, was die Betroffenen je nach Geschmack das Zeitliche segnen oder verfluchen läßt. Durch dieses Abgelten der Strafe zeigt sich deutlich, daß Schuld und Schuldigsein zu einem abtragbaren Schulden wird. Am Ende fühlt sich der Bestrafte befreit – jedenfalls im rechtlichen Sinne. Frohlockendtrotzig wird er sich und anderen sagen, „ich habe meine Schuld gegenüber der Gesellschaft bezahlt und abgeleistet“, und die Gesellschaft, besonders die, welche sich als rechtsstaatlich ansieht, muß es ihm glauben. Nach dem Grundsatz ne bis in idem muß sie ihn nun in Ruhe lassen, kann sie ihm nicht noch einmal wegen desselben Verbrechens den Prozeß machen, falls sie denkt, er sei zu leicht weggekommen. In diesem Falle kann er sich eins ins Fäustchen lachen über rechtsstaatliche Grundsätze und die auf diese gegründeten Fehlentscheidungen. Ein Abzahlen und Ableisten des Schuldens gibt es nicht nur im Strafrecht, wo der Gedanke der Strafe in Ausdrücken wie Geldstrafe, Freiheitsstrafe, Todesstrafe besonders deutlich zutage tritt, und die Strafe auf eine Art entthronisiert erscheint, wie es im sonstigen Recht zur Abgeltung des Schuldens nicht der Fall ist. Aber auch dort wird abgegolten und zwar nicht nur im öffentlichen Recht, sondern auch im Privatrecht. In letzterem ist der Gedanke des Schuldens und von dessen Begleichung durch den Schuldner am deutlichsten im Recht der Obligationen, das sich im Grunde durch das gesamte Privatrecht zieht, wenn es auch als dessen Teil meist besonders aufgeführt wird. Es ist wohl der wichtigste Teil, war es schon im Römischen Recht und ist der Zweig dieses Rechts, der in
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großem Ausmaß, wenn auch teilweise abgeändert, bis heute in den verschiedensten Kodifikationen zu finden ist. Es ist wohl nicht von ungefähr, daß im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), das aus einer Mischung deutschrechtlicher und römischrechtlicher Prinzipien besteht, die dem Strafrecht nahestehenden unerlaubten Handlungen im Schuldrecht gebracht werden und so eine Brücke bilden zwischen dem Strafgesetzbuch und dem BGB. Dort heißt es in § 823, dem ersten Paragraphen des Abschnitts „Unerlaubte Handlungen“: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Das erinnert an die strafrechtlichen Tatbestände Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Raub, Diebstahl usw. Der Täter ist also Schuldner, der nach § 362 durch Abtragung oder Begleichung seiner Schuld frei wird: „Das Schuldverhältnis erlischt, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird.“ Ähnlich ist es im Schweizerischen Obligationenrecht: „Geht eine Forderung infolge ihrer Erfüllung oder auf andere Weise unter, so erlöschen alle ihre Nebenrechte, wie namentlich die Bürgschaften und Pfandrechte.“ Der von Friedrich Carl von Savigny geschätzte französische Code Civil spricht im Titel von Kapitel V „De l’extinction des obligations“. Darauf folgt in Art. 1234 gleich eine Aufzählung, wann die Obligationen erlöschen. Im nächsten Artikel heißt es, jede Zahlung setze eine Schuld voraus. Diese kann also durch Zahlung beglichen werden. Überall wird es hier klipp und klar gesagt: Schulden erlischt durch Leistung, geht durch Erfüllung unter, ist eine bloße, abzuleistende Last des Schuldners. Sein Schulden zeigt sich oft als ein in-Schulden-Sein, als Schulden haben in dem Sinn, daß er Gläubiger zufriedenstellen muß. Tut er das, wird er frei vom Schulden und von Schulden. Solches Schulden, solche Schulden sind etwas anderes als das, was Hartmann meinte, 4 Dietze
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als er unter der Überschrift „Schuldgefühl, Gewissen, Reue und Wille zur Schuld“ von „der Belastung der Person und ihres Tragenmüssens“ schrieb. Der Schuldner des Schuldrechts geht Schulden nur allzu oft geradezu gewissenlos ein – in der Hoffnung auf Profit. Sein Gefühl ist weniger ein Schuldgefühl als eines, daß nur auf Gewinn aus ist. Er bereut sein Schulden nicht, macht ja bloß Schulden, die er abzahlen kann. Im Gegensatz zu dem Schuldigsein Hartmanns, das über den Menschen wie ein Schicksal hereinbricht, ist das bürgerlich-rechtliche Schuldnerdasein ein vom Menschen gewolltes. Im Gegensatz zur Schuld Hartmanns kann die des gesetzlichen Schuldners abgewälzt und beglichen werden. Sie bringt eher den Gläubiger als den Schuldner zur Verzweiflung, besonders dann, wenn der Schuldner durch Zahlungsunfähigkeit frei wird. Denn von privatrechtlichem Schulden kann man sich nicht nur durch Leistung, sondern auch durch Nichtleistung befreien. Unter der Ägide vom Gesetz des Staates bringt es nicht nur für den gewissenhaften Ehrenmann, sondern auch für den gewissenlosen Gauner Befreiung, besonders dann, wenn ein Zivilprozeß auf das Niveau eines Lügenprozesses herabsinkt, was nicht selten geschieht.
Schulden befreit, Schuld kasteit Wenn Schulden befreit, braucht Schuld nicht zu vergehen. Die rechtliche Befreiung vom Schulden tritt nicht immer vollständig ein. Es fragt sich, ob denn selbst eine solche durch das ethische Minimum des Gesetzes auch von der Schuld befreien kann. Zu Ethik und Moral Neigende werden sich auch nach dem Abtragen ihres Schuldens fragen, ob sie denn damit zugleich ihre Schuld losgeworden sind, da ja dieses Abtragen nach den Normen des Rechts als eines ethischen Minimums ethisch nur ein minimales sein kann. Wer eine Strafe verbüßt hat, wird manchmal doch Gewissensbisse haben, ob er seine böse Tat denn wirklich ganz gebüßt hat. Dennoch dürften solche Gefühle bei Kriminellen die Ausnahme sein. Prinzipiell – und wir dürfen hier nur von Grundsätzlichem reden, das Ausnahmen gestattet – werden Missetäter denken, mit ihrer Strafe seien sie nicht nur ihr Schulden los, sondern auch ihre Schuld. Ähnlich wird es bei schuldrechtlichen Begleichungen sein. Selbst wenn das Schuldensverhältnis nicht wegen des Unvermögens des Schuldners beendet wird, könnte der sich fragen, ob denn durch seine Leistung mit seinem Schulden auch seine Schuld weg ist, ob mit der rechtlichen Begleichung auch die moralische Gleichung aufgegangen ist. Trotz dieser Zweifel wird er aber wohl allgemein geneigt sein, dies zu bejahen. Im Menschen steckt nun einmal der Wunsch, frei zu sein. Sogar Hegel, der zumeist – und besonders in Amerika – als Protagonist staatlicher Macht angesehen wird, wollte das freie Individuum im Staate, den er als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ sowie „der konkreten Freiheit“ bezeichnete und in dessen Institutionen er „eine Garantie des öffentlichen Wohls 4*
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und der vernünftigen Freiheit“ sah („Philosophie des Rechts“, §§ 257, 260, 301). Nach Bakunin und Nietzsche, kurz, nach dem liberalen englischen Jahrhundert kam dann das noch liberalere amerikanische, in dem man sich zunehmend dem von ethischen, moralischen, rechtlichen und sonstigen Begrenzungen ungehemmten reinen Liberalismus näherte. Da ist es wenig erstaunlich, daß diejenigen, die ihr Schulden abgetragen haben, immer mehr dem Glauben frönten, damit auch ihre Schuld los zu sein. Das Argument ihrer moralisierenden Mitmenschen, an ihnen bliebe trotz Strafverbüßung und anderer Schuldensabtragung doch ein gewisser Makel hängen, dürften sie immer weniger geneigt sein zu beachten. Vielmehr wird in ihnen der trotzige Wunsch erweckt werden, diesen zuzurufen so what, wie die Amerikaner sagen, oder „richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“, wie es in der Bergpredigt heißt (Matth. 7,1). Eine solche Haltung läge nur im Hang einer Zeit, in der offenbar wurde, daß trotz ewiger Wiederkehr des Naturrechts Rudolf Stammlers Idee vom Naturrecht mit wechselndem Inhalt laufend an Boden gewann, daß sich staatliches Recht immer weniger am Naturrecht orientierte, sondern eher neue Begriffe des Naturrechts an neuem staatlichen Recht in vermeintlichen, fortwährenden Befreiungsaktionen. So dürfte positivrechtliches Abtragen des Schuldens zunehmend der Elimination moralischer Schuld gleichgesetzt werden, wie auch das staatliche Gesetz dem moralischen Gesetz, das Kant im Sinne hatte. Bei all dem ist zu beachten, daß Kant das moralische Gesetz in mir erwähnte. Man kann daher bei einer strikt wörtlichen Interpretation seiner bekannten Äußerung nicht annehmen, daß er, dem die Freiheit des Individuums am Herzen lag, von diesem weg wollte und es etwa in seinem moralischen Empfinden und seiner moralischen Empfindlichkeit bevormunden, es der Regierung oder der Masse anpassen wollte. Dazu waren die vom Staat erlassenen Gesetze da, auch wenn sie seiner Ansicht nach nicht immer erlesen waren. Man mag darüber denken, wie man will. Jedenfalls war es im Zuge der nach dem Tode des Befreiers aus Königsberg einsetzenden, immer inten-
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siver werdenden Tendenz zu wachsenden Emanzipationen des Individuums wohl unausbleiblich, daß moralische Maßstäbe zunehmend von einzelnen festgelegt wurden – und nicht nur für sich selbst. Je nach ihrem Dafürhalten und Geschmack hielten sie diese Maßstäbe entweder als für sich allein verbindlich oder auch für andere, wenn sie nicht gar versuchten, sie ihren Mitmenschen vorzuschreiben und aufzubürden. Es kann auf diese Weise zu ganz bestimmten generellen Auffassungen der Moral kommen, wie zum Beispiel die viktorianische, gegen die Mill revoltierte, die der gesättigten Bourgeoisie, gegen die Nietzsche, Mann und andere in der Atmosphäre des fin de siècle zu Felde zogen, oder die Hitlers, der es an Kritik von den verschiedensten Seiten, von enormen Hitlerkomplexen hervorgerufen und solche hervorbringend, wahrlich nicht fehlte, fehl wie diese auch oft gingen. Nähere Überlegung ergibt, daß ein Aufbürden moralischer Werte auf andere fragwürdig ist. Sie ersetzt praktisch „das moralische Gesetz in mir“ durch eines außer mir, welches ein anderer für maßgebend erachtet. Im relativ ruhigen viktorianischen England mochte das angehen, auch noch zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, denn da standen Menschenrechte verhältnismäßig hoch im Kurs. In Diktaturen wie der des Dritten Reiches sah das schon anders aus. Da galten einzelne wenig gemäß dem Schlagwort „du bist nichts, dein Volk ist alles“, das sich in „Führer befiehl, wir folgen“ auswuchs und einen in der deutschen Geschichte einmaligen rousseauistischen Byzantinismus schuf, der frei geborene Menschen in Ketten legte, wie sie Hitlers Gerede von den vierzehn Jahren Knechtschaft unter dem Weimarer System auch betört haben mochte. Der amerikanische Oberste Gerichtshof hatte schon recht, wenn er entschied, es gäbe keinen bestimmten moralischen Standard für den Bundesstaat der Vereinigten Staaten, der als melting pot verschiedenster ethnischer und religiöser Gruppen schon lange nicht mehr jene Konformität aufwies, die John Jay in Essay 2 des „Federalist“ pries: „Es hat der Vorsehung
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gefallen, dieses eine, zusammenhängende Land einem geeinten Volke zu geben, einem Volk, das von denselben Vorfahren abstammt, die gleiche Sprache spricht, derselben Religion zugehört, die gleichen Regierungsprinzipien hochhält und sich in seinen Manieren und Gewohnheiten sehr ähnelt . . . Dieses Land und dieses Volk scheinen für einander bestimmt zu sein. Es ist wohl der Plan der Vorsehung, daß ein Erbe, das einer Gemeinschaft von Brüdern hinterlassen wurde, die durch stärkste Bande einander zugetan und verbunden sind, niemals in mehrere zusammenhanglose, eifersüchtige und entfremdete Staaten aufgespalten werden sollte.“ Die Ansicht des Gerichtes ist begreiflich angesichts der Tatsache, daß auch die Welt mit all ihren Verschiedenheiten keinen uniformen moralischen Standard haben kann. Wenn es aber weder auf der Welt noch in den USA einen solchen gibt, entsteht die Frage, ob es den dann in kleineren örtlichen Einheiten geben kann oder in der noch kleineren Einheit der Familie. Wir wissen, daß es sogar dort Streitigkeiten über die Moral gibt. So kann man durchaus glauben, es läge im Sinne Kants, der ja den einzelnen Menschen so hoch hielt, daß er ihn nicht als Mittel zu einem Zweck, sondern als Selbstzweck sah, das moralische Gesetz und die Entscheidung darüber, was es ist, im Individuum zu lassen. Und dieser Glaube kann noch durch die liberale Entwicklung seit Kant, die auf ein Fortschreiten des egoistischen, egotistischen und egozentrisches Liberalismus hinausläuft, verstärkt werden. Man kann über einen derart weitgehenden Individualismus Zweifel hegen. Er läuft ja auf den Einzigen und seine einzige Moral ähnlich hinaus wie Stirners Einziger und sein Eigentum. Ich selbst habe darüber in früheren Arbeiten Vorbehalte geäußert, die ich auch heute noch habe, wenn sie inzwischen nicht gar gewachsen sind infolge weiterer Demonstrationen der Tendenz zum reinen Liberalismus. Sie alle aber stellen nicht meine Meinung in Frage, daß sich niemand erkühnen oder auch nur erlauben sollte, anderen seine Ansichten und moralischen Werte aufzuoktroyieren und infolgedessen in ihnen Schuldgefühle wachzurufen oder ihnen solche einzu-
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flößen. Jeder hat so seine Sorgen, seine Schuld- und Reuegefühle, mit denen er fertig werden muß. Da braucht er nicht noch von anderen kommende Zugaben. Besonders wenn Ereignisse, die der Schuldaufladung dienen, so weit zurückliegen, daß sie infolge Verjährung nicht einmal mehr rechtlich geahndet werden können, selbst wenn ein straf- oder privatrechtliches Schulden ursprünglich vorlag. Umso mehr trifft das dann zu, wenn ein solches überhaupt nie vorgelegen hat. Mit anderen Worten: solange ein konkretes rechtliches Schulden nicht da ist, hat niemand Veranlassung, jemand eine diesbezügliche Schuld anzulasten. Er sollte eine Schuldwähnung dem Betreffenden selbst überlassen. Der aber sollte derartige anmaßende Zeihungen stolz und trotzig an sich abgleiten lassen. Er dürfte nach dem oben Gesagten in den meisten Fällen seinem Freiheitstrieb gehorchen und sich nicht um sie scheren. Er kann sich freuen oder wenigstens zufrieden sein: Freiheit vom Schulden hat ihm auch, jedenfalls seinen Mitbürgern gegenüber, Freiheit von der Schuld gebracht! Auch wenn er diese sich in einer forschen Behauptung seines Willens und Besinnung auf seine Menschenwürde einfach genommen hat! Die forsche Behauptung seines Willens und Besinnung auf seine Menschenwürde dürfte sich noch steigern, wenn ihm zugemutet wird, sich wegen der Fehler anderer schuldig zu fühlen, etwa die seiner Vorfahren oder seiner ihm vorangegangenen Landsleute und deren Regierungen. Das erscheint ihm doch zu sehr als Kollektivschuld – und erinnert ihn an Hitlers Sippenhaft! Da gefällt ihm Thomas Jeffersons in dessen Memorial in Washington eingemeißelter Gedanke schon besser, nach dem spätere Generationen nicht an den Gebaren früherer tragen sollten, oder die Worte Nietzsches, die da gleich am Anfang seiner Arbeit vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben stehen, und zwar gesperrt gedruckt wie die Kants vom moralischen Gesetz in mir, „es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur“. Ich stimme dem zu. Wenn jemand die Bürde, seine
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eigene Würde zu bewahren oder wiederzufinden, von sich stößt und sich nicht gegen die Zumutung stemmt, sich wegen der Fehler anderer schuldig zu empfinden, dann kann es sein, daß er nicht nur gegenüber sich selbst versagt, sondern auch im Hinblick auf sein Volk und dessen Kultur, und vielleicht der Kultur überhaupt! Nimmt er diese Bürde dagegen auf sich, und freudig noch dazu, rettet er vielleicht sein eigenes Leben, das seines Volkes und der Kultur. Dann dürfte er auch nach dem moralischen Gesetz in ihm handeln. Wenn er in Besinnung auf seine Menschenwürde durch Schuldabweisung stolz seinen Willen zum Leben behauptet, handelt er im Sinne Schopenhauers, von dem Nietzsche bewundernd sagte Seht ihn nur an! Niemandem war er untertan.
Mehr noch. Zwar kann ein solches Handeln bei einem Berufen auf den Glückseligkeitsideologen Jefferson als gegen den kantischen Imperativ verstoßend ausgelegt werden, weil es so aussieht, als ob er sich selbst über alles liebt, Gott aber und seine Nächsten um sich selbst willen, wo es nach Kant doch gerade umgekehrt sein sollte. Aber wenn er mit der Behauptung seiner Würde nicht nur sein eigenes Leben schützt, sondern auch das seines Volkes und der Kultur, dient er dann nicht seinen Nächsten, der Kultur? Und selbst wenn er bei seinem Handeln zuerst daran denkt, sein eigenes Leben zu bewahren, darf ihm das denn selbst unter diesem Imperativ verwehrt werden? Hobbes hätte diese Frage gewiß verneint. Ebenso wohl auch Kant, zumal mit dem Leben eines einzelnen ja auch ein Teil des Volkes und der Kultur bewahrt werden und damit beigetragen wird zur Bewahrung derselben in ihrem Ganzen. Überhaupt: wie soll ich das moralische Gesetz in mir eigentlich verstehen? Als etwas in mir Seiendes ist es doch ausschließlich der Auslegung in mir, also meiner eigenen Auslegung unterworfen! Schreibt es mir nicht vor, die Bürde meiner Würde gern und ohne Zögern rückhaltlos auf mich zu
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nehmen, wo doch Kant den Menschen als einen Selbstzweck betrachtete und darüber hinaus schrieb, derjenige, der sich wie ein Wurm verhält, verdiene, zertreten zu werden? Verstößt nicht nur der, welcher mir Schuldgefühle aufbürden will, gegen meine Menschenwürde? Verhöhne ich sie nicht auch selbst, wenn ich ihn gewähren und mich gar von ihm beeinflussen lasse? Lade ich dadurch nicht eine größere Schuld auf mich als der, der mir eine Schuld aufladen möchte? Ich denke nicht nur an Kants Bemerkung vom Wurm im Menschen. Auch die Goethes fällt mir ein: Hätt’ Allah mich bestimmt zum Wurm, So hätt’ er mich als Wurm erschaffen.
Gewiß, es kann bequemer und einfacher für mich sein, die anderen gewähren zu lassen, Schuldgefühle anzunehmen oder jedenfalls so zu tun und sie zur Schau zu tragen. Besonders dann, wenn es viele um mich herum tun und dies sozusagen zum guten Ton gehört. Aber muß ich denn bei dieser allgemeinen Verirrung oder Heuchelei mir nicht sagen, nun sei es umso mehr notwendig, meine Würde durch Schuldabweisung zu behaupten, nicht nur zur Rettung meines eigenen Lebens, sondern auch des Lebens meines Volkes, der Kultur? Gern wie ich es sein möchte, brauche ich zu einer solchen Einstellung noch lange kein Übermensch zu sein, sondern nur ein Mensch mit Würde, etwas, das nach dem Bonner Grundgesetz als unantastbar ja dem gemeinsten Verbrecher zusteht. Darf ich meine Würde denn sitzen lassen, auch wenn ich nur zur Masse all der vielen gehöre, die zum Übermenschlichen ohnehin nicht neigt und taugt? Nein, und nochmals nein! Mir und all meinen Mitmenschen, denen Feinde Schuldgefühle einjagen wollen, rufe ich die Worte Goethes zu, damit wir alle sie beherzigen mögen: Die Feinde, sie bedrohen dich, Das mehrt von Tag zu Tage sich; Wie dir doch gar nicht graut! Das seh’ ich alles unbewegt: Sie zerren an der Schlangenhaut, Die jüngst ich abgelegt.
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Schulden befreit, Schuld kasteit Und ist die nächste reif genug, Ab streif’ ich die sogleich Und wandle neubelebt und jung Im frischen Götterreich.
Und dann sollten wir alle noch an ein anderes Goethewort denken, solange wir harren und dulden, daß uns Schuldkomplexe angetragen und auf- und eingeredet werden ad nauseam: Was bringt in Schulden? Harren und Dulden!
Ein Harren und Dulden, das nicht nur Schuld da sein läßt, sondern gar zu einem Gefühl des Schuldens führt, ist besonders zweifelhaft, wenn es Einschüchterungsmethoden zuläßt, die rechtlich anstößig sind und sogar strafrechtlichen Delikaten nahe-, wenn nicht gar gleichkommen. Ich denke an das auf Harren und Dulden des Opfers zugeschnittene Delikt der Erpressung, eines Fortsetzungsdelikts. In seinen Strafrechtsfällen erwähnt Radbruch folgenden Fall. Ein Diener stiehlt seinem Herrn bei passender Gelegenheit eine Anzahl Zigarren in einer einmaligen Handlung. Ein anderer Diener kann der Versuchung nicht widerstehen, beim Vorbeigehen an der Zigarrenkiste seines Herrn hin und wieder eine zu entwenden. Wer von ihnen begeht das schlimmere Delikt? Nicht der erste, sondern der zweite, weil er ein Fortsetzungsdelikt begeht. Und das, was dieser Diener tat, ist eine Lappalie im Vergleich zur Erpressung, dem Fortsetzungsdelikt par excellence. Denn hier verlor der Geschädigte nur hin und wieder ein Sache, was er vielleicht gar nicht einmal merkte. Jedenfalls wurde er in keiner Weise wegen einer Handlung, die er sich hat zuschulden kommen lassen, unter Druck gesetzt und, weil er diesem Druck nachgab, mitschuldig an einem Fortsetzungsdelikt. Das besonders Verwerfliche der Erpressung wird vom Strafrecht selbst hervorgehoben. An der Verhinderung von Verbrechen interessiert, läßt es Erpreßte wegen der Handlung, aufgrund deren sie erpreßt werden, straffrei ausgehen oder mißt ihnen eine gemilderte Strafe zu, wenn sie, um weiteren Erpressungen zu entgehen, den Erpresser anzeigen. Die Erwägung dabei ist,
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daß Delikte durch eine einmalige Handlung schon schlimm genug sind, Fortsetzungsdelikte aber um so schlimmer. Man bestraft ja auch den Vorbestraften härter als den, der nicht vorbestraft ist, und ordnet am Ende gar seine Sicherheitsverwahrung an, um weitere Rückfälle zu verhindern. Der Erpresser, der wegen derselben strafbaren Handlung einen Menschen wiederholt erpreßt, kommt hier einem Vorbestraften gleich, einem Rückfälligen, der laufend Profit daraus zieht, daß er seinen Mitmenschen an eine Schuld erinnert, die durch eine Anzeige zum konkreten strafrechtlichen Schulden werden kann. Der Bosheit der Erpressung, die eine strafbare Handlung des Erpreßten voraussetzt, steht ein erpressungsähnliches Verhalten nicht nach, bei dem jemandem zu dessen Nachteil eine Schuld angelastet wird, die ein strafrechtliches Schulden gar nicht nach sich ziehen kann. Der Belastete wird von dem ihn Belastenden hier regelrecht düpiert. Ein solches Verhalten ist dann besonders zu kritisieren, wenn es, dem Fortsetzungsdelikt der Erpressung ähnlich, in Fortsetzungen geschieht. Noch schlimmer muß es erscheinen, wenn es sich gegen jemand richtet, der für Sünden, welche ihm Nahestehende begangen haben, gerügt wird. Tatsächlich kann es einen so Beschuldigten schwerer treffen als das Opfer einer echten Erpressung. Da bei der eine strafbare Handlung vorliegt, durch deren Geheimhaltung der Erpresser profitiert, wird dieser sich hüten, davon in der Öffentlichkeit etwas verlauten zu lassen. Bei einem erpressungsähnlichen Verhalten braucht dem Täter an einer Geheimhaltung dagegen nichts zu liegen. Ganz im Gegenteil! Er kann offen und öffentlich gegen sein Opfer vorgehen – mit allen ihn unterstützenden Mitteln und Medien. Man denke nur an Heinrich Bölls Geschichte von der verlorenen Ehre der Katharina Blum. Sie alle – denn meist wird es sich um eine ganze Meute handeln – dürfen ihr Opfer ins Rampenlicht setzen, es Schimpf und Schande, Verachtung und Zorn aussetzen. Sie können dadurch einen Menschen zugrunde richten und damit einen Teil des Volkes und der Kultur.
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Sie können das auch einer Vielheit von Menschen antun, gar der Mehrheit einer Gesellschaft und so einem ganzen Volke und der Kultur schaden. Nehmen wir einmal an, es seien unter der Jurisdiktion einer von einem Diktator geführten Nation furchtbare, abscheuliche Dinge gegen wehrlose Menschen passiert in flagranter Verletzung von Menschenrechten. Die ganze Nation und die in ihr lebenden Menschen werden hierfür verantwortlich gemacht, obwohl die meisten von ihnen von den Missetaten nichts ahnten, nicht wußten und viele davon sich selbst von dem Diktator, der in regulären, freien, nicht gefälschten Wahlen nie eine Mehrheit der Wähler für sich buchen konnte und nach legaler Machtergreifung die Macht usurpierte, unterdrückt fühlten. Lassen wir ruhig einmal das römische Prinzip inter arma silent leges, das einige vielleicht zur Entschuldigung dessen, was im Kriege geschah, anbringen wollen, außer Acht. Seine Anwendbarkeit wird in der zivilisierten Gesellschaft ähnlich bezweifelt wie das achselzuckende c’est la guerre. Dennoch kann man hier nicht von einer Kollektivschuld sprechen. Eine solche gibt es prinzipiell nicht weil, wie oben dargelegt, schuld nur das Individuum sein kann. Es gibt sie gewiß im vorliegenden Fall nicht, eben weil die meisten nichts ahnten und nichts wußten von den Grausamkeiten und, selbst wenn sie darüber gewußt hätten, es bei den schweren unmenschlichen Strafen von ihnen kaum zu erwarten war, daß sie gegen das Regime opponierten. Wenn der Tod drohend vor einem steht, hütet man sich, ihm ins Auge zu sehen oder gar in die Arme zu laufen. Es ist schlimm genug, wenn die Angehörigen einer Nation dauernd an vergangene Tage und Taten dort erinnert und ihnen deshalb Schuldgefühle eingejagt werden, selbst wenn die Einjagenden vornehmlich am Wiederkäuen und Wachhalten historischer Ereignisse interessiert sind, um bei den Ermahnten Schlaflosigkeit zu verursachen. Selbst da erhebt sich doch die Frage, ob denn ähnliches durch die Geschichte hindurch nicht auch anderswo passiert ist und ob ein spezifisch ausgesondertes Volk nicht diskriminiert wird. Aber ein solches Verhalten mag noch angehen. Es gibt nun einmal Leute – und
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sie sind überall zu finden – die es nicht lassen können und sich darin gefallen, Erinnerungen aufzuwärmen, und seien sie noch so makabrer Art. Sie sind sich des Risikos, dadurch selbst zu fallen, offenbar nicht bewußt. Ihr andauerndes Gemahne kommt einem Fortsetzungsdelikt wie dem der Erpressung nahe. Es kann durch entsprechende Aufbauschung und Verbreitung sogar größere Schuld- und Schuldensgefühle aufkommen lassen als eine reguläre, strafbare Erpressung. Aber bei einem bloßen Erinnern des Erinnerns wegen bleibt es meist nicht. Rücksichtslos stellen Geschädigte oder solche, die glauben, geschädigt zu sein, Ansprüche ideeller wie materieller Art. Zu deren Unterstützung machen sie nicht einmal davor Halt, ihre Toten zu – vermarkten! Ich war verschiedentlich doch verwundert und tief betroffen, wenn ich las, kurz nach dem Tode eines Angehörigen bei einem Unglücksfall sei eine der ersten Reaktionen auf das Traurige weniger die Trauer gewesen, sondern die spekulative Frage „who will pay for that? Und wieviel?“ Ich denke hier zum Beispiel an die Challenger-Katastrophe. Dort waren die verwitweten Ehefrauen allgemein mit einer Abfindung von knapp 1 Million Dollar zufrieden – bis auf eine, die gleich 15 Millionen wollte! Honi soit qui mal y pense! Immerhin könnte man hier noch zur Entschuldigung die Unmittelbarkeit des Ereignisses anführen sowie die Tatsache, daß eine einmalige Zahlung verlangt wurde, wenn man allgemein auch nicht erwartet, daß dem bereaved beim unerwarteten Tod des Gatten alsbald der Gedanke kommt, wieviel denn durch den Unfall für ihn finanziell abfällt. Bei Wegfall naher persönlicher Bindung von Toten an fordernde Schuldeinflößer ist die Wahrscheinlichkeit, daß erstere von letzteren zur bloßen Handelsware reduziert werden, noch größer, weil da der sentimentale Affekt eines wirklich betroffenen Leidenden weitgehend ausgeschaltet wird. Das ist auch der Fall, wenn die zeitliche Nähe des Todes zurückliegt, wie nahe sie vielen auch heute noch erscheinen mag angesichts Burckhardts Behauptung in seinen weltgeschichtlichen Be-
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trachtungen, man sähe näher liegende historische Ereignisse größer als weiter zurück liegende. Noch schlimmer aber ist es, wenn man sich zudem nicht mehr mit einer einmaligen Abfindung zufrieden gibt, sondern laufend weiterverlangt, auf welchem Gebiet dies auch geschehen möge. Man kann über das Wort des Jeremias (22,10), „Weinet nicht über die Toten und grämet euch nicht darum“, geteilter Meinung sein. Tote hat man von jeher beweint, denn Weinen bringt oft Trost und mildert die Gram. Dezentes Grämen dürfte schon Sympathie erwecken. Aber man sollte sich hüten, durch aufdringliches Wiederkäuen furchtbarer Ereignisse den Eindruck zu erwecken, man wolle aus Toten profitieren. Dadurch kann das Lebendige erheblich zu Schaden kommen und schnell zugrunde gehen, ob es nun bei einem Menschen, einem Volk oder einer Kultur ist, bei Schulderweckern oder bei Schuldeinsteckern. Diejenigen nämlich, die anderen deren Schuld und Schulden vorhalten, könnten in der Gegenwart infolge ihres fortgesetzten, auf Handel abzielenden Handelns als ähnlich verwerflich erscheinen, wie frühere Missetäter, für deren Handlungen deren Volksgenossen verantwortlich gemacht werden, obwohl sie damit gar nichts zu tun hatten. Diese Handlungen und Mißhandlungen werden mit der Zeit in die Geschichte zurücktreten und verblassen. Das ist nun einmal das Schicksal historischer Begebenheiten, wie sehr man sich in vergeblichen Unterfangen auch bemühen mag, sie der Geschichte nicht anheimfallen zu lassen. Zeitweise Tendenzen können der Zeit nichts anhaben. „Time and tide wait for no man.“ Die Geschichte kann den Menschen zwar viel antun, die Menschen können aber der Geschichte nichts antun – nur sich selbst in Historikerstreiten und -streitigkeiten, die unter dem selbstgefälligen Grinsen der Geschichte und ihrer Akteure stattfinden. Das Sein sein lassen: die Historie ist zum Nutzen und Nachteil, zum Guten und Bösen der Menschheit stärker als die, die sie machen und schon gar als die Historiker, die sich oft als Hysteriker entpuppen trotz Ranke und allen guten Willens.
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Über Schulderwecker und Schuldeinstecker kann man so seine Zweifel haben, wie auch über die Schuld selbst. Gleich im ersten Absatz seines Vorworts zur „Ethik“ spricht Nicolai Hartmann von der „unerhörten Behauptung“ des einsamen Mahners Nietzsche, „wir wüßten immer noch nicht, was Gut und Böse sei“. Um die Zeit, als auch Heidegger und Hannah Arendt in Marburg waren, versucht der Neukantianer, „mit bleischweren Widerständen ringend“, eine inhaltliche Analyse der Werte, also auch der Schuld, deren Urheberschaft nach ihm ausschließlich in der einzelnen Person selbst wurzelt. Wenn er schreibt, der Schuldbewußte sei „im höheren Sinne. . . der ethisch Lebensfähigere“ (S. 676), so ist das gewiß nicht leicht von der Hand zu weisen. Hier zeigt sich der Einfluß Kants, denn Schuldbewußtsein kommt bei einzelnen aufgrund des individuellen moralischen Gesetzes in ihnen zustande. Aber gleich anschließend heißt es weiter: „Aber eben auch nur der ethisch Lebensfähigere, nicht der im vitalen oder auch nur im sozialen Sinne Lebensfähigere. In ihm entfaltet sich dann jene innere und höhere Kraft, die man nur unter dem Gesichtspunkt ethischer Werte als Kraft verstehen kann, die Kraft des sittlichen Grundkönnens der Person.“ Das weist auf ein bedeutendes Problem des Problemkreises Schuld. Ist es ein Teufelskreis? Einer, der die Menschheit in ihrer Erbaulichkeit wie Erbärmlichkeit gefangen hält und sie nicht los und entkommen läßt? Die von Hartmann erwähnte Unterscheidung ist nicht neu. Schon lange wurde gefragt, ob der ethische, moralische, sittliche Mensch denn auch der im Leben vitalere ist, der sich unter den Menschen behaupten kann. Allzu oft fiel die Antwort verneinend aus. Edle, fromme einzelne suchten, aus dem Trubel und der Vielfältigkeit der Gesellschaft flüchtend, Zuflucht in der Einfalt der Einöde, um nicht mehr von ihren Mitmenschen angeödet und angeekelt zu werden. Sieht man sich diejenigen näher an, die als erfolgreich gelten und dem amerikanischen Imperativ „to be a success“ Genüge leisten, der anders gelesen werden kann als Shakespeares „to be or not to be, that’s the question“, so sind es häufig solche, die ethisch nicht genügen. Ihr Erfolg ist eher eine
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Folge wenig ethischer, moralischer, sittlicher Machenschaften und entsprechender Abwesenheit von Schuldgefühlen. Überall sind sie zu finden. In der Wirtschaft hat man sie in Amerika „robber-barons“ geheißen – und bewundert. In „Major Barbara“ läßt George Bernard Shaw einen reichen Industriellen auf die Anklage eines am Boden liegenden Proleten, er würde sein Gewissen nicht für all dessen Geld hergeben, spöttisch entgegnen, er gäbe nichts von seinem Geld für des Armen Gewissen. In der Politik ist es ähnlich, sowohl bei Berufspolitikern als auch bei Laien. Denn, wie ich 1989 in „PolitikWissenschaft“ in Antwort auf Max Webers berühmtes Essay von 1919 versuchte zu zeigen, im Grunde sind ja alle, die unter Menschen etwas für sich erreichen wollen, Politiker, die ethisch, moralisch und sittlich wenig befangen sind und daher kaum Schuldgefühle zeigen. Ihr Schuldgefühl beschränkt sich auf ein rechtliches Schulden. Es scheint sie wenig zu bekümmern, daß das Recht nur ein ethisches Minimum ist, welches eine Schuld lediglich im Sinne genau definierbaren Schuldens beschreibt. Wenn man im Straf- und Zivilrecht von soundsovielen Schuldarten spricht, meint man eigentlich bloß ein jeweils abtragbares Schulden, nicht aber eine viel umfassendere Schuld. Schmitt hat letztere in seiner Arbeit über Schuld und Schuldarten als etwas betont, das außerhalb des positiven Rechts liegt, wenn es dort im letzten Satz, der wie eine Konfirmation der Ergebnisse seiner Studie anmutet, heißt: „Die Frage nach der Schuld ist in jeder Hinsicht eine meta gesetzliche“. Denn die dort angeführte Behauptung, der Schuldbegriff gehöre nicht ins positive Strafrecht, kann dahin ergänzt werden, daß er auch nicht ins positive Privatrecht gehört, wie oft man auch – wie im BGB – vom „Recht der Schuldverhältnisse“ sprechen mag oder ganz allgemein vom „Schuldrecht“. Die im letzten Untertitel aufgeworfene Frage, ob Schulden befreit und Schuld kasteit, kann wohl nicht erschöpfend beantwortet werden. Aber vielleicht gelingt mir eine einigermaßen befriedigende – und gewissermaßen befreiende – Antwort.
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Diejenigen, denen rechtliches Schulden nicht angelastet werden kann, dürften doch unter Schuld leiden. Luther litt darunter bis zur Selbstzüchtigung, bis er beim Turmerlebnis in göttlicher Gnade Zuflucht und Trost fand. Wie oben erwähnt, wird selbst nach Abtragung seines straf- oder zivilrechtlichen Schuldens der Betreffende, wenn er ein Gewissen hat, sich oft nicht ganz frei von Schuld fühlen, selbst wenn er denkt, in der Gesellschaft sei aufgrund seines Schuldens nichts Abträgliches an ihm hängen geblieben und er werde von seinen Mitmenschen wieder voll akzeptiert. Was, muß man immer wieder fragen, hat es denn mit dem so umfassenden Begriff der Schuld auf sich? Gesetzlich erfaßtes und daher erfaßbares Schulden ist offenbar. Das zur Gültigkeit notwendige Erfordernis der Publizität sorgt dafür, daß es jedermann bekannt sein kann. Das trifft auf Rechtsstaaten sowie andere staatliche Gebilde zu. Auch ein brutaler Diktator dürfte zur Erleichterung seines Regimes daran interessiert sein, daß sein Wille von allen gewußt wird. Anders ist es bei der Schuld, die nicht gesetzlich festgelegt ist. Sie ist das Umfangreichere, Unbegreiflichere, in dem das kleinere, begreiflichere Schulden nur einen Teil ausmacht, groß wie der rechtlich Schuldenden auch erscheinen mag. Man kann wohl das Verhältnis der Schuld zum Schulden vergleichen mit dem der Pflicht zur Verpflichtung, die ebenfalls etwas rechtlich Faßbares darstellt. Und wie man in der Verpflichtung etwas Rechtliches sieht, so kann man in der Pflicht etwas Ethisches, Sittliches sehen. Wie auch nach Kants moralischem Gesetz, etwas Moralisches. Daher bietet es sich an, dessen bekannte Stelle über die Pflicht aus der zweiten Kritik (a. a. O., S. 86) zu zitieren: „Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nicht drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung, (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigun5 Dietze
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gen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein geben selbst können?“ Ist nicht das, was hier über Pflicht gesagt wird, auf Schuld anwendbar? Und kann die Frage nach der Wurzel der Pflicht nicht mit „die Schuld ist die Wurzel der Pflicht“ beantwortet werden? Die Schuld, die nach Hartmann ausschließlich in der Person selbst wurzelt, in deren gewissen Gewissen? Fühlt der Mensch seine Pflicht nicht infolge seiner Schuld, wie er auch seine Verpflichtungen aufgrund seines Schuldens anerkennt? Und wenn aus Schuld Pflicht entsteht, muß dann deren Nichterfüllung nicht Schuldgefühle hervorrufen? Haben wir es hier mit einem Circulus vitiosus zu tun, dem die Menschen in der Tat nicht entrinnen können? Es sieht so aus. Aber ist es, wie der Name es andeutet, wirklich ein Teufelskreis? Oder ist es göttlicher Herkunft, ein Circulus gloriosus? Man kann hier ähnlich geteilter Meinung sein wie die Dichterfürsten von Weimar, wo Schillers Ansicht, das Gute ginge zugrunde auf dieser Welt, nicht von Goethe geteilt wurde, der seine Iphigenie sich behaupten ließ. Man kam auch der Ansicht sein, Schuld demonstriere sowohl Göttliches als auch Teuflisches. Schuld, wie Pflicht wahrhaft ein großer Name, etwas, das Unterwerfung erheischt, ist zweifellos über MenschlichRechtliches erhaben. Demnach wäre sie es auch über Menschenrechtliches, soweit dieses in konkreten Normen festgelegt ist, die ein bloßes Schulden bestimmen. Aber sie geht darüber ähnlich hinaus wie über Strafrechtliches und Zivilrechtliches, die ihrerseits die Menschenrechte schützen können. In einer Funktion der Schuld, eine Pflicht herbeizuführen, Menschenrechte zu schützen, gar ein Schulden, dies zu tun, das zu entsprechenden Verpflichtungen führt, wird der Beobachter zunächst von Gott gewolltes Gutes sehen, besonders in einer von Menschenrechtsbehauptungen beherrschten
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Zeit wie der unseren. Hierüber darf aber nicht vergessen werden, daß diese Zeit auch durch Irrnis und Wirrnis der Menschenrechte charakterisiert ist. So könnte in dieser Funktion durchaus etwas Teuflisches liegen. Man ist geneigt, das Schuldgefühl, das zweifellos auf einem moralischen Gesetz und dem Gewissen beruht, wie diese als von Gott gewollt anzusehen. Denn das moralische Gesetz in mir, mein Gewissen befiehlt mir, Böses zu meiden und Gutes zu tun. Da das moralische Gesetz in mir und mein Gewissen und damit das Potential meines Schuldgefühls nun eine ins Unendliche gehende Größe sind, kann mir diese als gottähnliche Größe erscheinen, ja, als Gottheit, Gott selbst. Sie ist das Licht, das mich in lichte Höhen führt, wo ich enthusiastisch in den bestirnten Himmel über mir schauen darf. Sie ist die allund übermächtige Allmacht, die alles macht und mich alles zum Guten machen läßt, – wenn ich ihr nur gehorche. Durch Gehorsam ihr gegenüber, so wähne ich, kann ich meinen Frieden finden. Doch bald werde ich unruhig, ist es mit meinem Frieden aus. Ist mein Wähnen nicht ein Wahn? Ein wahrer Wahn-Sinn, ein Wahnsinn? Ist es mit dem Gehorchen nicht so eine Sache, die voller Zweifel steckt? Kein Gehorchen ist im Grunde freiwillig, immer steht hinter dem Gehorchenden eine Macht, die ihn mehr oder weniger zwingt. Wie aber steht es mit der Macht, der Zwingmacht? Ist sie nicht dubiöser noch als das Gehorchen? Ich denke an Lord Actons bekanntes Wort in seinem Brief an Bischof Creighton vom 5. April 1887 „power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely“, an Jakob Burckhardts Bemerkung in den weltgeschichtlichen Betrachtungen, die Macht sei an sich böse. Wenn Gott allmächtig ist, müßte er dann nach Acton nicht absolut korrupt sein? Aber gleich verwerfe ich diesen Gedanken, weil ja nur der korrupt sein kann, den andere korrumpieren, und Gott infolge seiner Göttlichkeit ja nicht korrumpiert werden kann. Ich finde Trost darin, daß Acton und Burckhardt, im liberalen Jahrhundert schreibend und als klassische Liberale bekannt, nur mensch5*
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liche, allzumenschliche Machtausübung im Sinn hatten, wie auch vor ihnen John Adams, der in „Defense of the Constitutions of Government of the United States of America“ (1787 – 88) schrieb, absolute Macht mache in gleicher Weise Despoten, Monarchen, Aristokraten, Demokraten, Jakobiner und sans culottes trunken – Menschen also, nur Menschen. So weiß ich: Gott in seiner gütigen Allmacht bleibt bestehen. Mein Trost währt nicht lange. Gütige Allmacht? Ich denke an Nietzsches Zeilen über die Redlichzeit Gottes („Morgenröte“, 20), die bange fragen, ob denn ein Gott, der allwissend und allmächtig ist und nicht einmal dafür sorgt, daß seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, ein Gott der Güte sein kann. Denn oft lassen mich ja mein Gewissen und das moralische Gesetz in mir im Zweifel darüber, was meine Schuld ist und meine Pflicht. Und Pascals Notlösung eines verborgenen Gottes vermag mir kaum weiterzuhelfen. Hat Gott nicht in der Tat eine Pflicht, mich klar wissen zu lassen, was ich tun soll? Ist es nicht seine Schuld, wenn ich dies nicht weiß? Aber damit nicht genug. Ist es nicht nur nicht gütig von Gott, mich im Unklaren über meine Pflicht und Schuld zu lassen, sondern auch, mich überhaupt in Schuld und Pflicht zu fassen? Sollte ich ihn dafür nicht hassen? Was meinte der die Freiheit liebende Schiller, als er schrieb, der Übel größtes sei die Schuld? Wenn ich aufgrund meines Gewissens und des moralischen Gesetzes in mir Schuldgefühle habe und Pflichtgefühle, bin ich dann, obwohl frei geboren, nicht in Ketten? Und wenn Schuld mich in Ketten legt und ein Übel ist (sie braucht nicht einmal der Übel größtes zu sein!), ist sie dann als etwas Übles nicht teuflisch, und als der Übel größtes nicht der Teufel selbst? Müssen das infolgedessen dann Schulderreger wie mein Gewissen und das moralische Gesetz in mir nicht auch sein? Deren Unerforschlichkeit und Unerschöpflichkeit erscheinen so eher als Höllenschlund denn als Weg zum Paradies. So erhebt sich die für die einen erschreckende, für andere beruhigende Frage, ob denn diejenigen, die Gott den Unzulänglichen, den Unredlichen, ja Gott den Teufel töteten, nicht recht hatten.
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Zur Zeit eines Liberalismus, der sich, besonders in Amerika, immer mehr im pursuit of happiness dem reinen Liberalismus nähert, dem von allen Beschränkungen freien Freiheitsdrang, dürften das mehr und mehr Menschen glauben. Als Kritiker des reinen Liberalismus bin ich nicht bereit, dies zu tun. Ich denke an Thomas Manns Zürcher Vortrag aus dem Jahre 1947, „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, der bei aller Bewunderung für den großen Zeitkritiker davor warnt, ihm zu blind zu weit zu folgen. Sicher haben wir im 20. Jahrhundert, das Amerikaner gern als das ihre gesehen haben, zu viel des Unerfreulichen von zu vielen Seiten her erfahren müssen, ob es sich nun um demokratische, faschistische, kommunistische oder andere Versionen des Freiheitsdranges handelte. Diese machten nur allzu klar, wie sehr Schelling recht hatte, wenn er die Freiheit als „ein Vermögen des Guten und des Bösen“ bezeichnete. Man kann hinzufügen, daß sich dieses Vermögen in großem Ausmaß als eines zum Bösen bewies. Wahrscheinlich waren viele von denen, die Böses ausführten, der Ansicht, Gutes zu tun, ihrem Gewissen zu folgen und dem moralischen Gesetz in ihnen oder etwas Ähnlichem, wenn sie Kant nicht kannten, was bei den meisten wohl anzunehmen ist. Andere hingegen, und nicht nur diejenigen, die unter ihnen leiden mußten, sahen deren Taten in Nutzung und Ausnutzung ihrer Freiheit als böse an. Hier zeigt sich etwas Gefährliches im kantischen Satz vom moralischen Gesetz in mir, das sich jeder nach seinem Dafürhalten zurechtzimmern kann, wie es ihm gerade gefällt und einfällt, ohne Rücksicht darauf, wie viele dadurch skrupellos zu Fall gebracht werden. Aber dann ist dieses Gesetz auch wieder ein moralisches: man sollte hoffen, es werde nach allgemeinen oder doch örtlich generell akzeptierten Grundsätzen von Treu und Glauben nicht allzu sehr abweichen, wie individuell es jeweils gehandhabt werden mag. Es sind Grundsätze, wie sie wohl Adam Smiths unparteiischer Beobachter hat, den er in seiner Arbeit über die Theorie der moralischen Gefühle so ausführlich behandelt. Sie werden, wie es schon Montesquieu in seinem Hauptwerk vom Geist der Gesetze zeigte, nach Ort
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und Zeit divergieren. Das schließt aber nicht aus, daß es einen weithin geteilten Geist der Moral gibt und geben sollte, so wie es einen allgemeinen Geist der Gesetze gibt. Um zusammenzufassen: Ich halte die These „jeder sein eigener moralischer Gesetzgeber“ für ähnlich bedenklich wie die Ansicht „jeder sein eigener positiver Gesetzgeber“ oder „jeder sein eigener Historiker“ und was nicht sonst alles noch. Doch weiß ich nicht, ob das, was ich für richtig halte, auch richtig ist. Das ist ja das Dilemma jeder Schuldfrage. Es beweist die schier unendlich erscheinende Weite der Schuld und Schuldannahmen sowie der Möglichkeiten ihrer göttlichen und teuflischen Ursprünge aufgrund von Gewissen und moralischem Gesetz. Erachte ich es zum Beispiel als meine Schuld, einem Armen zu helfen, um ihm ein bißchen Seligkeit in seinem dürftigen Erdendasein zu schenken, bin ich dann nicht – armselig? Armselig in dem Sinn, daß jener Arme mich durch Schenken selig macht, aber auch in dem, daß ich zu bedauern bin, weil ich ihm etwas geschenkt habe, anstatt ihn zu mehr Arbeit anzuhalten, damit er nicht arm ist? Wenn ich mich eines Menschen erbarme und seines Jammers annehme, bin ich dann nicht – erbärmlich und jämmerlich auf ähnlich zweideutige Art? Nehme ich jemand seine Schuld ab (mag es auch nur teilweise gehen), vergrößere ich dadurch nicht meine eigene Schuld, an der ich wahrhaftig schon genug zu tragen habe? Wird mein vermeintlich göttlich inspirierter Wille zu einem, der sich als teuflisch entpuppt? Oder sollte das, was sich so entpuppt, nicht eigentlich als das von Gott Gewollte angesehen werden? Hier streiten sich die Geister unter dem gefälligen, wenn nicht höhnischen Lachen der Schuld, die den Menschen nicht in Ruhe läßt, auch wenn er meint durch Erfüllung seiner Pflicht ihr gegenüber endlich einmal zur Ruhe gekommen zu sein. Der Mensch sollte immer versuchen, dem kantischen Imperativ zu folgen und mit der Vorsehung zufrieden zu sein. Ist er es nicht, sollte er sich bemühen, nicht zu klagen. Es hat mir in den Erinnerungen des Malers Emil Nolde gefallen, daß er
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Kummer von seinen Lieben fernhielt, von seiner Mutter und von seiner Frau, seiner Ada. Doch der war ein ungewöhnlicher Mann. Die meisten von uns suchen und brauchen Trost. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man. Ich selbst habe mich nicht als erbärmlich und jämmerlich empfunden, wenn ich mich des Jammers eines Mitmenschen erbarmte, nicht als kläglich, wenn ich mir sein Klagen anhörte. Auch nicht schuldig, wenn ich seine Schuld auf mich nahm oder jedenfalls einen Teil davon. Die Welt hat große Beispiele von Nächstenliebe gesehen. Wenige nur würden dabei auf den Gedanken gekommen sein, diese zu verurteilen. Ich helfe, selbst wenn ich nicht ausdrücklich darum gebeten werde. Ich tue es auch, wenn das geschieht. Am Schluß der Bergpredigt hat mir immer Matthäus 7,7 besonders gefallen: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Hilfeleistung verliert an Freudigkeit, sobald der Gebende das Gefühl oder gar die Gewähr hat, ausgenutzt zu werden. Das dürfte eintreten bei fortgesetztem Klagen und Bitten, die sich zu einem regelrechten Verlangen auswachsen können. Es läuft dann auf das Argument hinaus, „dir geht es besser als mir, also kannst du ruhig etwas für mich tun“, das sich verwandelt in „du solltest etwas für mich tun“ und „du mußt etwas für mich tun“. Ich habe dies erfahren und es hat mich betrübt. Nicht allein, weil ich die Wahrheit des Sprichworts „Undank ist der Welt Lohn“ feststellen mußte. Was mich mehr noch betrübte war, daß ich Hemmungen verspürte, der Ausnutzung einen Riegel vorzuschieben. Ich fühlte, es mangelte mir an Zivilcourage. Ich kam mir verächtlich erbärmlich, jämmerlich und kläglich vor. Das würdelose Verhalten derer, denen ich half, wurde zu meinem eigenen würdelosen Benehmen, weil ich nicht recht wußte, wie ich mich verhalten sollte oder – schlimmer noch – weil ich es mir nicht getraute, eine feste Haltung einzunehmen. Ich sah auf mich selbst geringschätzig herab, gestand meine Schuld ein ohne aber den Mut zu haben, sie durch entsprechendes mutiges Auftreten von mir abzuschütteln. Der kantische Gedanke, man solle Gutes tun ohne Erwartung, daß einem dafür Gutes getan werde, trö-
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stete mich kaum. Was nützt dem Menschen die größte ethische Lebensfähigkeit, wenn er seine Achtung vor sich selbst verliert und seinem Menschsein die Würde abgeht! Immerhin tröstete ich mich noch bei dem Gedanken, lediglich ausgenutzt worden zu sein und nicht etwa betrogen oder bedroht und meine Schuld allein mit mir herumtragen zu können. Denn trotz aller Menschenwürde ist der Mensch eher ein bürde- als ein würdevolles Wesen, ein recht kleiner und unbedeutender Aufgabenträger, ein Sklave von Schuld und Pflicht. Da muß man sich schon mit einigem abfinden. Ich bin wenigstens von der Schuld frei, sagte ich mir, andere wegen meiner Schuld leiden zu lassen. An meiner Schuld gehe vielleicht ich zugrunde, aber nicht mein Volk, nicht meine Kultur. Diese aber sind gefährdet, wenn Machthaber, wie sie auch auftreten und sich kleiden und verkleiden mögen, ähnliche Schuldgefühle zeigen, sich ähnlich würdelos geben und das Volk entsprechend beeinflussen. Denn die Beeinflussung des Volkes, ob es nun durch regierende und oppositionelle Parteien und Verbände oder durch die Medien geschieht, ist ein wichtiger Aspekt der Macht, die – und das sollte nie außer Acht gelassen werden – zum Bösen ausgeübt werden kann. Die hier gestellte Frage, ob Schulden befreit und Schuld kasteit, kann so zwar keine erschöpfende, aber doch eine einigermaßen befriedigende und gewissermaßen befreiende Antwort erhalten. Eine solche geht angesichts der enormen Komplexität des Schuldkomplexes notwendig einen Mittelweg, der darauf angelegt ist, daß Menschen sich infolge von Bezeigungen ihrer Schuld nicht weiter kompromittieren. Ich darf wiederholen: Selbst wenn eine Schuld durch ein Abtragen des Schuldens zum guten Teil gelöscht erscheint, dürfte der Mensch das Gefühl von Schuld doch nicht gänzlich loswerden. Zu groß ist die Größe der Schuld, um sich ganz schuldlos zu fühlen. Bei gewissenhaften Menschen – wenn nicht sogar bei „gewissenlosen“ – wird es wohl immer ein gewisses Gewissen geben, ein gewisses Wissen darum, wie man es hätte besser machen kön-
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nen, wie man hätte besser sein können, wie man sich bessern könnte, wie man sich bessern müßte. Ein solches Befragen sollte wohl nicht nur nach Kant eines jeden inneres moralisches Gesetz sein. Eine andere Frage ist es dagegen, ob einzelne durch ein Zeigen dauernd wiedergekauter und offenbar nicht verdauter Schuldgefühle die Schuld auf sich laden sollten, nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Volk und dessen Kultur zu gefährden und vielleicht zugrunde zu richten – und damit den diese schützenden Staat. Hier ist meine Antwort ein entschiedenes Nein. Auch Kant hätte, so glaube ich, diese Antwort gegeben. Sicher erachtete er den Einzelnen als wertvoller denn der Verfasser von „Der „Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ (1914), Carl Schmitt. Dennoch sah der Liberale Kant die Bedeutung des Staates für den Wert des Einzelnen. Nun ist klar, daß ein jeder froher wäre ohne jegliche Schuldgefühle. Bei dem Streben der Menschen nach Freiheit, von dem Hegel sprach, kommt es vielleicht einmal sogar so weit, daß sie das heute noch schier unmöglich Erscheinende vollbringen und frei von Schuld werden. Heute ist das noch nicht so. Deshalb empfände ich es als anmaßend, nun etwa nach der Devise „that’s water down the dam“ oder „it’s no use crying over spilt milk“ Betroffene zu drängen, ihre Schuldgefühle zu ignorieren und loszuwerden. Chacun à son goût! So utilitaristisch will ich nicht denken. Auch das ist wohl im Sinne Kants, der ähnliche Zweifel über den Utilitarismus wie über den Verfolg bloßer Glückseligkeit äußerte bei aller Sympathie für Freihandel und „Handelsgeist, der. . . früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“. („Zum ewigen Frieden“, 1795, a. a. O., VIII, 345, 368). Aber – und hier liegt meine einigermaßen befreiende, wenn auch nicht total befriedigende, Antwort – man kann kategorisch fordern, daß die einzelnen Bürger sich bemühen, nicht anderen durch ihr Bezeigen von Schuldgefühlen Schaden zuzufügen. Ein solches Bemühen erscheint besonders dann notwendig, wenn es einem ganzen Volk und seiner Kultur zugute kommt
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sowie dem Staatsgefüge, in dem diese gedeihen. Gewiß muß man dem Staat und seiner Macht skeptisch gegenüber stehen. Nietzsches Ausführungen im Blick auf den Staat („Menschliches, Allzumenschliches“, 110 ff.) wurden trotz Bewunderung für den Übermenschen offenbar mißachtet oder ignoriert. Andererseits darf man deshalb nun keinesfalls vergessen, daß staatliche Ordnung immer noch notwendig ist zum Wohle eines Volkes und seiner Kultur. Und wie die einzelnen in dieser Beziehung Verpflichtungen haben, so haben solche erst recht deren Regierungen. Schuldbezeigungen letzterer sind geeignet, das ganze Volk zu deprimieren, es unter Druck zu setzen und damit zu unterdrücken, wie freiheitlich die Verfassung, unter der es lebt, auch sein mag. Die liberalste, demokratischste Verfassung nutzt wenig, wenn dem Volke Schuldgefühle eingetrichtert werden und es auf diese Weise zum zahlenden Opfer jener wird, deren an Erpressung heranreichendes Verhalten von der Regierung zum Nachteil des Volkes, dem sie zu dienen gewählt ist, respektiert wird. Darin sehe ich ein überaus verantwortungsloses Verhalten. Es schafft eine wahrhaft verteufelte Situation, weil es nämlich gestattet, ja sogar hilft, das Volk, dessen Wohlergehen der Regierung am Herzen liegen sollte, in den Augen der Welt zu verteufeln.
Nachwort Ich habe hier den Unterschied zwischen Schuld und Schulden, dem ethisch / moralischen und dem rechtlichen Sollen behandelt. Der läuft nicht allein auf die Formel „Schulden vergeht, Schuld besteht“ hinaus. Er zeigt sich auch darin, daß Schuld an das Individuum gebunden ist, Schulden aber auch eine Mehrheit von Menschen treffen und als rechtlich Faßbareres auch von dieser abgetragen werden kann. Im Völkerrecht spricht man da von Reparation, eine Verpflichtung, die ein (unterlegener) Staat meist unter Zwang eingeht. Sie wird, im Gegensatz zu unter Druck eingegangenen privatrechtlichen Verpflichtungen, als gültig angesehen. In seiner „Grundlegung der Rechtswissenschaft“ (S. 45 ff.) betont Walther Schönfeld 1951 Schicksal, Schuld, Sühne. Gebraucht man das mittlere Wort im Sinn eines Schuldens, dürften viele fragen, ob denn ein im Krieg unterlegenes Volk, das unter einer Diktatur schicksalhafte Trübsal erfahren mußte, ein Schulden, eine Sühne, auferlegt bekommen sollte, und seine Angehörigen an Schuld leiden sollten. Wie Lenin nach der Zerstörung des Zarenreichs, hätte seine neue Regierung argumentieren können, daß keine Ansprüche bestehen, weil die Diktatur zerstört ist und es nicht für deren Taten aufzukommen braucht, weil es für diese nicht verantwortlich ist, und daher auch nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Das wäre eine weitere Dimension der Worte, die im Jefferson Memorial in Washington eingemeißelt sind und davor warnen, jüngere Generationen für die Handlungen älterer haftbar zu machen. Sie war von jeher umstritten, ein kleiner Aspekt nur des großen Problemkreises von Schuld und Schulden. Ganz anderer Ansicht der ehemalige sozialdemokratische Reichsjustizminister Gustav Radbruch, mein
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Nachwort
Rechtslehrer in Heidelberg. Nach ihm war infolge der Schwere von im Kriege begangener Verbrechen der Satz inter arma silent leges nicht anwendbar, waren also Schuld und Schulden gegeben. Es kommt wohl auf den Grad, die Schwere und den Umfang von Schuld und Schulden an. Ethische, moralische und rechtliche Argumente können hier gebraucht und mißbraucht werden, welche der Ethik, der Moral und dem Recht Hohn sprechen. Gefallen sie sich darin, Santayana folgend, an vergangenes Verschulden zu erinnern zum eigenen Nutzen, fallen sie oft ins Erpresserische, das Erpressung nährt, wenn das Opfer sich nicht wehrt. Sie machen dann deutlich, was Nietzsche als Nachteil der Historie für das Leben empfand. Sie lassen uns an Goethes aufmunternde Worte denken: Was bringt in Schulden? Harren und Dulden! Was bringt zu Ehren? Sich wehren!
Schiller nannte die Schuld der Übel größtes. Und junge Leute brachten nach den letzten Worten der Braut von Messina bei der Weimarer Erstaufführung ein begeistertes Vivat auf den Dichter aus. Das wurde als derart unmöglich erachtet im Hause des Herzogs, daß Schiller sich veranlaßt sah, die Beifallskundgebung niederzuzischen. Das sind in der Tat mächtige Worte, die da zu seinem Freiheitsstück, dem Tell, überleiten: Das Leben ist der Güter höchstes nicht. Der Übel größtes aber ist die Schuld.
Auch das Problem der Schuld ist übel. Man müht sich wohl oder übel mit ihm ab und muß dann doch, wie der frischgebackene Doktor der Rechte Carl Schmitt gleich auf der ersten Seite seiner strafrechtlichen Abhandlung entschuldigend bemerkt, an den Ausspruch M. Mittermaiers denken, „nach welchem in der Schuldlehre Hunderte mitarbeiten müssen, um die Erkenntnis auch nur um Haaresbreite zu fördern“. Mittermaier, Verfasser von kritischen Beiträgen zur Lehre von
Nachwort
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der Strafrechtsschuld (1909), und Schmitt dachten hier nur an den Schuldbegriff des Strafrechts. Aber, wie wir gesehen haben, gibt es auch einen im Zivilrecht, ja, wie im Strafrecht, viele. Und die gibt es auch in anderen Rechtssparten und in Disziplinen, die außerhalb der Rechtssphäre liegen, wie Ethik, Moral und Sittlichkeit. Vielleicht ist es mir gelungen, hier zum Begriff der Schuld einen kleinen Beitrag zu leisten. Schuldig geblieben bin ich gewiß viel, was bei der Komplexität kaum überraschen kann. Mittels der von Reinhard Frank und Robert Goldschmidt übernommenen normativen Schuldlehre versuchte Gustav Radbruch in den zwanziger Jahren unter Verzicht auf Definitionen von Schuldformen die Vorwerfbarkeit als allgemeinen Schuldbegriff gesetzlich anerkannt zu bekommen. Vielleicht kann die für ihn auf das Strafrecht bezogene Vorwerfbarkeit auch in größerem Rahmen auf das Problem Schuld angewandt werden. Dann wären all die von Schuld frei, denen bei objektiver Prüfung ihres individuellen Verhaltens kein Vorwurf gemacht werden kann. Dabei ist stets zu beachten, daß man das Verhalten der unter Diktatoren Lebenden und Aushaltenden nicht an Maßstäben messen sollte, die in liberalen Demokratien üblich sind.