Schubert: Interpretationen 3515106774, 9783515106771

Franz Schuberts Musik hat auch zwei Jahrhunderte nach der Entstehung nichts von ihrer Faszination eingebüßt. In seinem e

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German Pages 234 [240] Year 2014

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
WERKINTERPRETATIONEN
SCHUBERTS OSSIAN-GESÄNGE
„AUF DIE SPITZE GESTELLTE SUBJECTIVITÄT“
ITALIANITÀ BEI SCHUBERT
DIE „SEELENVOLLE WEISE“ ALS POETIK DES MUSIKALISCHEN
„EIN SÜSSER, HEILIGER AKKORD VON DIR …“
TÖNEND BEWEGTE STILLE
SCHUBERTS QUELLEN
DER ZYKLUS ALS MYTHOS
KOMPOSITORISCHE VERFAHREN
KONZERTANTES BEI SCHUBERT
SCHUBERT UND KEIN ENDE?
REZEPTIONSPHÄNOMENE
THE UNCANNY GRACE
SCHUBERT-LIEDER MIT GITARRENBEGLEITUNG
FRAUENLIEDER – MÄNNERLIEDER?
BERGHAUS’ FIERABRAS
REGISTER
ABKÜRZUNGEN (SIGLEN)
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Schubert: Interpretationen
 3515106774, 9783515106771

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Ivana Rentsch / Klaus Pietschmann (Hg.)

Schubert : Interpretationen

Musikwissenschaft Franz Steiner Verlag

Schubert : Perspektiven – Studien 3

Ivana Rentsch / Klaus Pietschmann (Hg.) Schubert : Interpretationen

Schubert : Perspektiven – Studien 3 Her ausgegeben von Hans-Joachim Hinrichsen und Till Gerrit Waidelich In verbIndung mIt Marie-Agnes Dittrich, Walther Dür Anselm Gerhard und Andreas Krause

Ivana Rentsch / Klaus Pietschmann (Hg.)

Schubert : Interpretationen

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10677-1

Hans-Joachim Hinrichsen zum 60. Geburtstag

INHALT Vorwort.................................................................................................................... 7 WERKINTERPRETATIONEN Walther Dürr Schuberts Ossian-Gesänge. Vom Lied zur Szene ................................................. 11 Ivana Rentsch „Auf die Spitze gestellte Subjectivität“. Schuberts Bürgschaft und die Suche nach der musikalischen Form ........................................................ 27 Klaus Pietschmann Italianità bei Schubert. Die Drei Gesänge für Bassstimme und Klavier op. 83 (D 902) zwischen beruflichem Kalkül und Traditionsbewusstsein............ 41 Laurenz Lütteken Die „seelenvolle Weise“ als Poetik des Musikalischen. Erinnerung und Gegenwart im Lied vom Wolkenmädchen..................................................... 57 Arne Stollberg „Ein süßer, heiliger Akkord von dir …“ – Kunstreligion und religiöse Kunst in Schuberts Messvertonungen ............................................. 69 Anselm Gerhard Tönend bewegte Stille. Stillstand und Bewegung in der sogenannten vokalen „Gesellschaftsmusik“ des späten Schubert ............................................. 93 Hermann Danuser Schuberts Quellen. Über zwei Werke für Klavier zu vier Händen ..................... 105 Andrea Lindmayr-Brandl Der Zyklus als Mythos. Schuberts Allegretto in C (D 346) als Einzelsatz....................................................................................................... 119

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Inhalt

KOMPOSITORISCHE VERFAHREN Giselher Schubert Konzertantes bei Schubert .................................................................................. 135 Wolfram Steinbeck Schubert und kein Ende? Schlüsse bei Schubert ............................................... 145

REZEPTIONSPHÄNOMENE Karol Berger The Uncanny Grace: Kleist between Rossini and Schubert ............................... 155 Erich Wolfgang Partsch Schubert-Lieder mit Gitarrenbegleitung. Anmerkungen zu Bearbeitungen aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ......................... 165 Beatrix Borchard Frauenlieder – Männerlieder? Gedanken zum Thema Repertoire und Gender .......................................................................................................... 179 Manuela Jahrmärker Berghaus’ Fierabras. Die späte Moderne der zwanziger Jahre ........................... 205 Register ............................................................................................................... 225 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................... 234

VORWORT Franz Schuberts Musik hat selbst zwei Jahrhunderte nach der Entstehung nichts von ihrer Faszination eingebüßt. In dem ebenso umfangreichen wie vielschichtigen Œuvre, das sämtliche musikalischen Gattungen bedient, konzentriert sich gleichsam die Gedankenwelt des frühen 19. Jahrhunderts. Als eigentliche conditio sine qua non von Schuberts Schaffen erscheint dabei zweifellos der Ort seines Wirkens: Wien. Es ist dies allerdings nicht das aristokratische Wien Haydns oder Beethovens, sondern ein Wien, dessen Wurzeln im engen Wirkungskreis kleinbürgerlicher Vororte und zensurgefährdeter Geselligkeit liegen. Die latenten Widersprüche zwischen biographischen Voraussetzungen und künstlerischen Ambitionen sowie die Einbindung in intellektuelle Freundeskreise prägen nicht nur Schuberts Anfänge am Konvikt und als komponierender Hilfslehrer, sondern durchziehen selbst das umfangreiche Opernschaffen oder die Sinfonik. Wie von Hans-Joachim Hinrichsen in einer jüngst erschienenen Monographie eindrucksvoll skizziert,1 erweist sich Schuberts Œuvre aufs Engste mit den kulturhistorischen Bedingungen seines Wiener Umfeldes verflochten. Dass ein kompositorisches Werk nicht von seinem Entstehungskontext losgelöst werden kann, stellt – fernab eines historiographischen Gemeinplatzes – gerade für die Annäherung an Schuberts Musik ein richtungsweisendes Moment dar. Die prekäre biographische und ästhetische Situation, in der sich Schubert zeitlebens befand, zieht sich hintergründig durch sein gesamtes Schaffen – und dies für jede Gattung mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Genau solche Eigenheiten und gattungsspezifischen Differenzen aufzuspüren, ist ein wesentliches Anliegen des vorliegenden Bandes. Als notwendige Voraussetzung ergibt sich aus der Fragestellung eine Beschäftigung mit dem ganzen Werkkatalog, was jedoch nur bei einer gleichzeitigen Fokussierung auf repräsentative Fallbeispiele sinnvoll zu bewältigen ist. In acht Einzelbetrachtungen werden zunächst verschiedene Werke und Werkgruppen ausgehend von der Gattung des Liedes über die Oper, Kirchenmusik und vokale Gesellschaftsmusik bis hin zur Klaviermusik zur Diskussion gestellt; daran anschließend, rücken zwei weitere Untersuchungen spezifische kompositorische und ästhetische Aspekte des orchestralen und kammermusikalischen Schaffens in den Fokus. Ganz im Sinne des von Hinrichsen entworfenen Ansatzes wird Schuberts Musik dabei gezielt mit ihren kulturhistorischen Rahmenbedingungen konfrontiert. Um die methodische Ausrichtung nicht zu verwässern, und angesichts des enormen Umfangs von Schuberts Œuvre, gilt das Augenmerk dezidiert der Musik, den Partituren selbst. Biographie und historischer Kontext dienen zwar – wie gesagt – als primäre Bezugspunkte für die einzelnen Interpretationen, stellen jedoch nicht 1

Hans-Joachim Hinrichsen, Franz Schubert, München 2011 (C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2725).

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Vorwort

den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung dar. In letzter Konsequenz geht es in diesen Beiträgen darum, Schuberts Musik zu verstehen. Diese Perspektive wird abschließend ergänzt durch einen Blick auf die Rezeption, die dem früh Verstorbenen zu einem bemerkenswerten Nachruhm nicht ohne Schwärmerei, bisweilen Bizarrerie, oft genug aber auch in Form einer kongenialen Fortspinnung verhalf. Den Spielarten einer solchen Interpretation sind die vier verbleibenden Beiträge gewidmet, die den Blick auf Schuberts literarisches Umfeld, die frühe Bearbeitungs- und Besetzungspraxis in den Liedern sowie exemplarisch auf eine inszenierungsästhetische Auseinandersetzung mit dem als problematisch geltenden Opernschaffen lenken. Hans-Joachim Hinrichsen und seine langjährige Beschäftigung mit Franz Schubert bildeten den roten Faden für die Konzeption der Tagung Schubert : Interpretationen, die vom 12. bis 14. Oktober 2012 an der Universität Zürich stattgefunden hat. Die Themenwahl ergab sich geradezu zwangsläufig aus der Absicht, das geplante Symposion zu Ehren von Hans-Joachim Hinrichsens 60. Geburtstag durchzuführen. Sowohl seine einschlägigen Veröffentlichungen zu Franz Schuberts Schaffen als auch die offenkundige Präferenz für musikalische Analyse und Interpretationsforschung legten eine planvolle Kombination der beiden Perspektiven nahe. Der vorliegende Band vereint die überarbeiteten Beiträge der Referentinnen und Referenten, denen an dieser Stelle nochmals ganz herzlich für die Bereitschaft gedankt sei, sich auf das Thema einzulassen. Wegen der inhaltlichen Konzentration aller Beteiligten auf Schuberts Musik, die bereits der Tagung zu großem Erfolg verholfen hat, stellt die Veröffentlichung in erster Linie einen methodisch vielfältigen Beitrag zur aktuellen Schubert-Forschung dar. Dass es sich jedoch zumindest in zweiter Linie auch um eine verkappte Festschrift für Hans-Joachim Hinrichsen handelt, erklärt, warum ausgerechnet derjenige Schubert-Forscher, auf dessen Publikationen mit schönster Regelmäßigkeit rekurriert wird, hier nicht mit einem Aufsatz vertreten ist. Die Fokussierung auf Schubert ließ es überaus passend erscheinen, die in Zürich exponierten ‚Perspektiven‘ in der von Hans-Joachim Hinrichsen und Till Gerrit Waidelich begründeten Reihe Schubert : Perspektiven – Studien zu veröffentlichen. Dem Steiner-Verlag in Stuttgart und seinem Leiter Thomas Schaber sei für die Aufnahme in das Programm gedankt, der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung der Publikation. Esther Dubke vom Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg gilt unser Dank für die engagierte Hilfe bei der Redaktion. Für die Durchführung der Zürcher Tagung, auf die dieses Buch zurückgeht, danken wir dem Dr. Wilhelm-Jerg-Legat der Universität Zürich, der Fritz Thyssen Stiftung sowie dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF). Ganz herzlich danken möchten wir auch Sylvia Kreidler-Hinrichsen, die uns von Beginn der Planung an in unserem Vorhaben unterstützt hat. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem großen Engagement aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich, namentlich Franziska Frey, Damaris Leimgruber, Felix Michel, Margrit Straub und Fabian Tinner. Ivana Rentsch & Klaus Pietschmann (August 2013)

WERKINTERPRETATIONEN

SCHUBERTS OSSIAN-GESÄNGE Vom Lied zur Szene Walther Dürr Von Ossians Gesängen – jener Sammlung vorwiegend fiktiver, dem keltischen „Barden“ Ossian zugeschriebener epischer Dichtungen von James Macpherson (1736–1796),1 die seit Ende der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Deutschland verbreitet waren2 – hatte Schubert bereits frühzeitig einige Vertonungen kennengelernt. Im März 1811, als Schüler und Sängerknabe im Wiener Stadtkonvikt hatte er – so Josef von Spauns viel zitierter Hinweis – „mehrere Päcke Zumsteegscher Lieder vor sich und sagte mir, daß ihn diese Lieder auf das tiefste ergreifen. ‚Hören Sie‘, sagte er, ‚einmal das Lied, das ich hier habe‘, und da sang er mit schon halb brechender Stimme Kolma“.3 Johann Rudolf Zumsteegs Vertonung war 1763 bei Breitkopf & Härtel erschienen;4 ihm lag Goethes Übersetzung in den Leiden des jungen Werther zugrunde.5 Es ist nicht bekannt, was sich in den ‚Päcken Zumsteegscher Lieder‘ an Ossian-Gesängen sonst noch befand. Der Stuttgarter Komponist hat jedenfalls noch zwei weitere Ossian-Texte vertont: Ossians Sonnengesang (erschienen zuerst 1782) und Ossian auf Slimora (1790),6 – wenn Schubert sie gekannt hat, dann ist gleichwohl nicht ausgemacht, dass dem Dreizehnjährigen der keltische Sänger Ossian bereits ein Begriff war. Das ist auch zu bedenken, wenn man Gesänge wie Schuberts Minona zur Hand nimmt: Friedrich Anton Franz Bertrands umfangreiche Dichtung, die Schubert nach Zumsteegs Vorbild ‚durchkomponiert‘ hat (D 252, datiert mit 8. Februar 1

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Erschienen seit 1760 (Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland and Translated from the Gaelic or Erse Language); die umfangreichsten Gesänge – Fingal und Temora – sind 1762 bzw. 1763 zuerst herausgekommen. Vgl. hierzu Wolf Gerhard Schmidt, „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons „Ossian“ und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, Berlin und New York 2003, S. 11. Die früheste deutsche Übersetzung (des „Wiener Jesuitenpaters Johann Nepomuk Denis“) stammt von 1768/69, vgl. Manuela Jahrmärker, Ossian. Eine Figur und eine Idee des europäischen Musiktheaters um 1800, Köln 1993 (Berliner Musik Studien 2), S. 22. Deutsch, Erinnerungen, S. 108. Vgl. Gunter Maier, Die Lieder Johann Rudolf Zumsteegs und ihr Verhältnis zu Schubert, Göppingen 1971 (Göppinger akademische Beiträge 28), S. 247 (Liederverzeichnis Nr. 89). Hierzu Walther Dürr, „Kolmas Klage: Schuberts Auseinandersetzung mit Reichardts Liedästhetik“, in: „Schuberts Jugendhorizonte“. Symposion Düsseldorf 2008, hrsg. von Volkmar Hansen und Silke Hoffmann, Duisburg 2009 (Schubert-Jahrbuch 2006–2009), S. 109–126, hier S. 113–116. Maier, Die Lieder Johann Rudolf Zumsteegs und ihr Verhältnis zu Schubert (Anm. 4), Nr. 8 und 71.

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Walther Dürr

1815). Sie greift Ossianische Motive auf: Minona nämlich ist eine Sängerin am Hofe Fingals, der zentralen Figur der Ossian-Epen und Ossians Vater.7 Auch Bertrands Diktion orientiert sich an Ossian, so wenn Bertrand vom Mond als „lieblicher Leuchte“ spricht oder vom „moosigen Hügel“, vor allem aber, wenn die Sängerin den „schimmernden Felsen“ direkt anredet. Schubert kannte diesen Ton zwar sicher von Zumsteeg (und das hat ihn vielleicht auch zur Vertonung bewogen) – aber ob er dabei auch selbst an Ossian dachte, muss wiederum offen bleiben. Ähnliches gilt für zwei Lieder nach Texten von Ludwig Theobul Kosegarten, Der Abend (D 221) und Das Finden (D 219) vom 15. und 25. Juli 1815. In der von Schubert vermutlich benutzten Ausgabe von Kosegartens Gedichten von 18028 spielt der Dichter in Der Abend auf eines der großen Epen (Temora) an („Der Abend blüht / Temora glüht“), ersetzt Temora aber in späteren Auflagen durch „Arkona“; in Das Finden wiederum benennt er einen Fluss auf Rügen mit „Rinval“, nach einem Helden aus Carric-Thura.9 Als Schubert dann zuerst im Juni 1815 zu Ossians Originaltexten griff, war das anders. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es eben Kolmas Klage aus den Liedern von Selma (D 217) war. Zumsteegs von Spaun ausdrücklich genannter Gesang war dem nunmehr Siebzehnjährigen sicher noch in Erinnerung. Jetzt allerdings orientierte er sich nicht an dessen, sondern an Johann Friedrich Reichardts Vertonung. Diese hatte er nicht nur als Textvorlage benutzt,10 sondern sich auch von Reichardts Konzept einer Folge von drei Strophenliedern inspirieren lassen (bei Reichardt nach Art eines Zyklus als Nr. I–III gezählt, bei Schubert hingegen fortlaufend, wie ein ‚durchkomponiertes‘ Lied von dreimal drei Strophen).11 In den Jahren 1815/16 nämlich bemühte sich Schubert um strophische Komposition; die Mehrzahl seiner in dieser Zeit entstandenen Lieder sind reine – nicht, wie vorher häufig, variierte – Strophenlieder; selbst längere balladenartige Texte, die er zuvor in der Regel durchkomponierte, setzte er damals als Strophenlieder (wie etwa Der Gott und die Bajadere D 254), und auch in längere Balladen und Monodramen hat er – wie allerdings bereits auch Zumsteeg – Strophenlieder eingebaut (siehe etwa Die Nonne D 208, Text von Ludwig Hölty, oder Adelwold und Emma D 211, Text wieder von Friedrich Anton Franz Bertrand).12 Wenn Schubert sich nämlich seit Herbst 1815, nur wenige Wochen nach der Entstehung von Kolmas Klage, plötzlich intensiv mit Ossians Gesängen beschäftigte, dann ging es ihm anfangs wohl auch um Möglichkeiten der Liedkomposition, nicht um Szenen und Balladen wie Minona oder in Zumsteegs Kompositionen. Vorausgegangen war ein Zufall. Ein Schulfreund aus dem Stadtkonvikt, Anton 7

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Bertrand selbst knüpft in der Handlung seiner Ballade allerdings vermutlich an Heinrich Wilhelm Gerstenbergs Melodram Minona oder die Angelsachsen (1785, Musik von Johann Abraham Peter Schulz) an, vgl. Schmidt, „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (Anm. 1), S. 536–542. Ludwig Theobul Kosegarten, Ludwig Theoboul Kosegarten’s Poesieen. Erster Band. Neue verbesserte Auflage, Leipzig 1802. Vgl. NGA IV:8, hrsg. von Walther Dürr, 2009, Vorwort, S. XXVI. Siehe ebenda, S. XXIV–XXV, sowie im Abschnitt „Quellen und Lesarten“, S. 243. Ausführlich dazu Dürr, „Kolmas Klage“ (Anm. 5). Eine Zusammenstellung siehe ebenda, S. 109–110.

Schuberts Ossian-Gesänge

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Holzapfel, hatte dem Komponisten, wie er später schildert, eine „alte Scharteke“, eine „miserable Übersetzung Ossians“ geliehen, „an welche er unglücklicherweise mehrere seiner genialsten Arbeiten verschwendete“.13 Bei dieser Scharteke handelte es sich um die zweite, bedeutend erweiterte Auflage der von Edmund von Harold (einem irischen Baron und Oberstkommandanten des Kurpfälzischen Füsilier-Regiments, der „mit Herder in engem Kontakt stand“)14 ins Deutsche übertragenen Gesänge Ossians. Sie waren 1782 erschienen15 und hatten in Deutschland, entgegen Holzapfels Diktum, durchaus Anklang gefunden.16 „Freyherr von Harold“, so liest man im Vorbericht der Herausgeber dieser zweiten Auflage,17 „gab Deutschland die erste prosaische Uebersetzung der sämtlichen bekannten Werke Ossians 1775. Als einem Ausländer, mußte das Lob, das Männer von Einsicht und Geschmack gaben,18 sehr schmeichelhaft seyn.“ Allerdings fügen sie dann auch hinzu: Inzwischen „erweiterte er seine Kenntnisse der deutschen Sprache, nutzte die Bemerkungen und Urtheile der Kritiker, und bearbeitete sein Werk auf ein neues“; die zweite Auflage war das Ergebnis. Der Hinweis auf die Prosaübersetzung ist von Bedeutung: Frühere Übersetzungen – wie die von Michael Denis – sind in Versen geschrieben (bei Denis meist Hexameter als das dem ‚Homer des Nordens‘ gebührende Versmaß). Goethes Übersetzung der Lieder von Selma im Werther allerdings war ebenfalls in Prosa gehalten, und damit auch Zumsteegs Vertonung. Das hat Schubert offenbar gereizt: Prosatexte lassen dem Komponisten mehr Freiheit; wir werden noch darauf zurückkommen. Es scheint, dass Schubert für seine Kompositionen grundsätzlich die kleineren Epen der Sammlung herangezogen hat – seine sämtlichen Vertonungen entstammen diesen, mit einer Ausnahme: Das Mädchen von Inistore (D 281) vom September 1815. Wir wollen uns mit diesem Gesang etwas ausführlicher beschäftigen, denn er ist der erste einer Trias, die Schuberts Freund Eduard von Bauernfeld, den Schubert allerdings erst zehn Jahre später kennengelernt hat, in seinem Nekrolog auf den Freund besonders heraushebt: „‚Das Mädchen von Inistore‘, ‚Loda’s Gespenst‘, ‚Kolmal’s [sic!] Klage‘ u. a. sind herrliche Zeugnisse seiner Begeisterung für den melancholischen Heldendichter.“19 13 14 15 16 17 18

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Deutsch, Erinnerungen, S. 47. So Jahrmärker, Ossian (Anm. 2), S. 22. Die Gedichte Ossians des Celtischen Helden und Barden. Aus dem Englischen und zum Theile der Celtischen Ursprache übersetzt von Freyherrn von Harold […] Zweyte verbesserte mit vielen bisher unentdeckten Gedichten vermehrte Auflage, Mannheim 1782. Schmidt, „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (Anm. 1), Bd. 2, S. 1136, meint, die Übersetzung sei „unterschiedlich beurteilt“ worden. Biographische Angaben zu Harold ebenda, S. 1134. Die Gedichte Ossians des Celtischen Helden und Barden (wie Anm. 15), S. X.4r.; Harolds Übersetzung erschien „im Verlage der Herausgeber der ausländischen schönen Geister“. Jahrmärker (Ossian [Anm. 2], S. 26), charakterisiert sie folgendermaßen: „Harold behält die Simplizität der Macphersonschen Formulierungen bei und reiht Perioden aneinander, in denen die englische Satzstellung von Subjekt – Prädikat – Objekt beinahe sklavisch befolgt ist. So einfach die Satzkonstruktion, so auffallend-gewählt ist deren Wort-Inhalt. Hier will Harold sprachschöpferisch sein […].“ Siehe Eduard von Bauernfeld, „Über Franz Schubert“, in: Wiener Zeitschrift für Kunst, Litera-

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Walther Dürr

Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Das Mädchen von Inistore (D 281), T. 1–5 (NGA IV:9, S. 34. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Abermals, wie für das frühere Lied nach Reichardts Vorbild, wählt Schubert ein Klagelied. Es stammt, wie gesagt, aus einem der beiden großen Epen: Fingal. König Fingal hat – wie mehrfach in den Gesängen – die Aufgabe, einen belagerten befreundeten Herrscher (in diesem Fall Cuthullin) zu entsetzen. In sechs Büchern berichtet Ossian davon, und zwar so, als beobachtete er den Vorgang (nach Art einer Teichoskopie). In das erste Buch, ganz versteckt eingebaut, ist das kurze Klagelied, das mit der eigentlichen Handlung kaum etwas zu tun hat. Das „Mädchen von Inistore“20 hat Trenar, den Geliebten, verloren, der im Zweikampf mit Cuthullin gefallen ist. Es ist aber nicht das Mädchen selbst, das klagt; ein Erzähler berichtet davon, und dieser Umstand bestimmt hier – wie in fast allen von Schubert vertonten Ossian-Gesängen – die Struktur des Textes. In einem ersten Teil wendet dieser sich, das ist eine rhetorische Figur, an das Mädchen, ruft sie an („Mädchen Inistores“) und beschwört sie dann: „wein auf dem Felsen der heulenden Winde, neig über Wellen [von Tränen] dein zierliches Haupt“ (Notenbeispiel 1). Dann begründet er in einem mittleren Abschnitt diese Aufforderungen: „Er ist gefallen; der Jüngling erliegt, bleich unter der Klinge Cuthullins.“ Schließlich kehrt in einem Schlussteil der Anruf wieder („O Mädchen Inistores“) und mündet in einen Epilog: „In seiner [des toten Trenar] Halle ist der Bogen ungespannt. Man hört auf dem Hügel seiner Hirsche keinen Schall!“

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tur, Theater und Mode, 9. Juni 1829, S. 561–564, 569–574 und 578–581, hier S. 563, zitiert nach: Schubert. Dokumente 1817–1830, Dokument Nr. 731. Macpherson weist in einer Fußnote darauf hin, das anonyme „Mädchen“ sei die Tochter Corlos, des Königs von Inistore (der „orkadischen Inseln“).

Schuberts Ossian-Gesänge

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Schubert vertont diesen Text als ein Lied im engeren Sinne und entwickelt jedoch zugleich, meine ich, so etwas wie ein Paradigma für diese Art Ossianischer Gesänge. Der Gesang ist knapp gehalten (er umfasst nur 28 Takte) und – das ist eben nicht nur bezeichnend für eine Totenklage, sondern für die Gattung Lied überhaupt – in einheitlichem Ton. In allen drei Teilen des Textes bestimmt ein einziger Affekt die Komposition. Zugleich aber macht sich bemerkbar, dass Schubert einen Prosatext in Musik setzt. „Das Lied besteht aus Phrasen ganz unterschiedlicher Länge“, bemerkt Manuela Jahrmärker dazu,21 Phrasen, die sich überdies ungleichmäßig gliedern: Die erste von sechs Takten,22 die Jahrmärker konstatiert, besteht zunächst aus dem Anruf und zwei (auch musikalisch) parataktisch formulierten Abschnitten (in vier Takten), dann folgt – nach einer ersten kurzen Pause – ein viertaktiger, syntaktisch einheitlicher, geschlossener Satz,23 der mit einem Halbschluss auf der Dominante endet, wie sich das für ein Lied gebührt. Bezeichnend für Schuberts Setzweise ist, dass er uneinheitlich deklamiert, teils gewichtig und gedehnt in Vierteln und Achteln (so im Anruf und in den korrespondierenden Takten), teils flüchtig, wie verwehend in den „heulenden Winden“, in Achteln und Sechzehnteln. In anderen Liedern sucht Schubert oft mühsam Parallelbildungen zu vermeiden, die sich aus regelmäßigen Metren ergeben, oder er wählt Pentameter, die sich von vornherein mit ‚quadratischen‘ (vier- und achttaktigen) Metren reiben.24 Harolds Prosaübersetzung gibt ihm die gesuchte Freiheit. Der Komponist variiert dabei auch die Bewegungsvorstellungen, und zwar nicht nur in der Singstimme, der Deklamation, sondern auch in der Klavierstimme. Diese imitiert in unterschiedlichen Mustern die Harfenfiguren des Barden: Wir hören nachschlagende repetierte Sechzehntel (T. 1–3), arpeggierende Sechzehntel (T. 4–6) und eine Art verzögerte Bewegung (anapästische Figuren) im Epilog (T. 7–9). Solche changierenden Figuren sind charakteristisch für Schuberts Strophenlieder im Sommer und Herbst 1815, während er dies in späteren Jahren eher vermied. Dagegen meidet Schubert hier das damals bezeichnende Übermaß an Modulationen – er hält an seiner einmal gewählten Tonart c-Moll fest (die er ein Jahr später, im Titel seiner Vierten Symphonie, als ‚tragisch‘ bezeichnet). Das gilt dann auch für den dramatischeren Mittelteil, der – für solche Abschnitte – nur zaghaft ausweicht, etwa in die ‚Todestonart‘ As-Dur, den engeren Umkreis des c-Moll aber nie wirklich verlässt. Diesen kurzen Abschnitt (T. 10–14, Notenbeispiel 2) hat Schubert gleichwohl ganz anders konzipiert als den ersten: Ohne die Deklamationstypen des ersten aufzugeben, schreibt er nun eine Art Accompagnato-Rezitativ; kräftige Akkorde im f und ffz, kämpferische, auch bedrohliche Unisono-Figuren,25 während er zuvor 21 22 23 24 25

Manuela Jahrmärker, Art. „Das Mädchen von Inistore“, in: Schubert. Liedlexikon, hrsg. von Walther Dürr u. a., Kassel etc. 2012, S. 218–219. Gegliedert in 1+1+1+2+1 Takte. Gegliedert in 1+3 Takte. Vgl. hierzu Rufus Hallmark und Ann Clark Fehn, „Text Declamation in Schubert’s Settings of Pentameter Poetry“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 9 (1979), S. 80– 111. Durch das Unisono verstärkt Schubert „solche Figuren emphatisch, die heftige Bewegungen,

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Walther Dürr

Notenbeispiel 2: Franz Schubert, Das Mädchen von Inistore (D 281), T. 9–11 (NGA IV:9, S. 34. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

durchweg im p und pp verharrte. Es ist, als breche die Realität des Todes ein in den Bericht des Erzählers. Mit Beginn des dritten Teils aber nimmt der sich wieder zurück, greift mit dem erneuten Anruf die Diktion und die Instrumentalfiguren des Beginns wieder auf, in den ersten beiden Takten auch die melodische Linie der Singstimme – so den liedhaften Charakter des Ganzen betonend. Dann aber, überraschend, stockt der Sänger. Die Begleitungsfigur ändert sich wieder. Wir hören schwingende Sechzehntelfiguren, die ziellos um As-Dur kreisen, und einen Einwurf des Erzählers: „Sie [die Mädchen] sehn seinen gleitenden Geist.“ Mit einem Neapolitaner (Des-Dur über c-Moll) erreichen wir den Epilog, der zunächst wieder kreisend konstatiert: „In seiner Halle liegt sein Bogen ungespannt“. Mit dem letzten Satz kadenziert er dann ab, regelrecht, liedgerecht. Den Text – „man hört auf dem Hügel seiner Hirsche keinen Schall“ – wiederholt Schubert gleichwohl noch wie ein imaginiertes Echo, im ppp und mit einem zusätzlichen Diminuendo im Schlusstakt. Der gleitende Geist ist verweht. Das kleine Lied, das so zahlreiche Elemente aufgreift, die Schubert für seine Strophenlieder von 1815 entwickelt hat, erweist sich so als komplex und ‚durchkomponiert‘, auf ein Ziel hin angelegt, das dem Sänger und Erzähler vorbehalten bleibt. Es ist ein episches Lied. In kurzen Abständen nun schreibt Schubert drei weitere Ossianische Gesänge, in mancherlei Hinsicht ähnlichen Charakters: Vermutlich noch im selben Heft, das einst die (heute verschollene) erste Niederschrift von Das Mädchen von Inistore enthalten hatte, stand die (heute unvollständige) erste Niederschrift von Ossians Lied nach dem Falle Nathos (D 278).26 Es entstammt dem kleinen Epos Darthula.

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wie Kampf, oder etwa Wind, Sturm und Wasser, oder dramatische, pathetische Gesten darstellen“, siehe Henriette Sanders, Studien zur musikalischen Semantik in Schuberts Liedern, Diss. Universität Tübingen 1997, S. 82; Sanders bezieht sich damit auf Paul Mies, „Die Bedeutung des Unisono im Schubertschen Liede“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 11 (1928/29), S. 96–108. Vgl. NGA IV:9, hrsg. von Walther Dürr, 2011, Vorwort, S. XIX–XX, und den Anhang „Quellen und Lesarten“, S. 252. Das Heft dürfte auf dem verschollenen ersten Blatt die (sicher datierte) erste Niederschrift von Das Mädchen von Inistore enthalten haben, auf dem zweiten Blatt die Takte 1 bis 29 der erhaltenen (undatierten, da das vorangehende Lied ja datiert war) ersten

Schuberts Ossian-Gesänge

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Darin tritt Ossian selbst als Sänger auf, der König von Morven (= Fingal) fordert ihn auf, „die zitternden Saiten“ zu rühren, um – als Finte – Nathos Tod zu beklagen und jene Feinde irrezuführen, die Nathos später dann tatsächlich töten werden. Ossian singt das Lied, eindeutig wieder ein Einschub in der Erzählung, als Gebet an die Ahnen, das am Ende die Anfangszeilen wieder aufnimmt: „Beugt euch aus euren Wolken nieder, ihr Geister meiner Väter, beuget euch!“ Schubert nutzt dies, macht daraus ein dreiteiliges Lied (ABA). Er setzt den ersten Teil (T. 1–16), dem Gebetston entsprechend choralartig, im Alla-breve-Tempo und in E-Dur in fließender Deklamation (Halbe und Viertel), die den Prosarhythmus unmittelbar in Musik überträgt – ganz ähnlich wie ein Jahr zuvor Die Betende auf einen Text von Friedrich von Matthisson.27 Wie in Das Mädchen von Inistore endet der Abschnitt mit einer Fermate und einer diesmal kompletten Kadenz in cis-Moll, der Paralleltonart zur Grundtonart E-Dur. Im wieder stärker modulierenden Mittelteil (T. 17– 29) ist der Klavierpart selbständiger, bringt eigene Figuren ins Spiel, unterscheidet sich von den Rahmenteilen aber nicht so deutlich wie im vorigen Lied. Dann aber kommt es, dem Text entsprechend, zu einer effektiven Reprise, identisch mit dem Beginn bis auf die abschließende Kadenz. Schubert hat so – zählt man Kolmas Klage mit – drei Lieder geschrieben, die auch in der allgemeinen – der ‚Berliner‘ – Liedästhetik seiner Zeit als Lieder gelten könnten. Er hat dazu aus den Ossianischen Epen Texte ausgewählt, die für sich schon als unabhängige Lieder erscheinen, in ähnlicher Weise wie er Romanen Gedichte entnimmt (man denke an Wilhelm Meister) oder in späterer Zeit epische Dichtungen (wie Walter Scotts The Lady of the Lake). Nun aber geht er einen Schritt weiter. Ebenfalls noch im September 1815 schreibt er ein imaginäres Duett (Cronnan D 282, 2. September) und ein reales (Shilric und Vinvela D 293, 20. September), die beide dem kleinen Epos Carric-Thura entstammen. Schubert lässt dabei ein das Epos einleitendes Lied an die Sonne aus (obwohl das ein Thema wäre, das er sonst gerne aufgreift).28 Er will offenbar kein weiteres ‚Lied‘ schreiben, sondern Dialoge, die jedoch wie eingeschobene Lieder außerhalb der eigentlichen Handlung stehen. Den im Epos vorangehenden (Shilric und Vinvela) Gesang tragen Minona und Cronnan, zwei Sänger am Hofe Fingals, gemeinsam vor, den folgenden (bei Schubert unter dem Titel Cronnan), singt Cronnan allein, bevor Fingal nach Carric-Thura, der belagerten Hauptstadt von Inistore, abreist, um wieder einmal einem Freund, dem dortigen König, beizustehen. Schubert hat Cronnan, diesen fiktiven, da in der Dichtung nur von einem Sänger gesungenen Dialog zuerst vertont, nannte ihn daher auch nach dem Sänger und gab im erhaltenen Autograph allenfalls versteckte Hinweise auf den Personenwechsel (wenn der Geist Vinvelas singt, ist dies von Schubert – wenn auch nicht konse-

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Fassung von Ossians Lied nach dem Falle Nathos, auf einem verschollenen dritten Blatt den Schluss dieser Fassung und vielleicht noch ein weiteres Lied. Die Betende (D 102), Takte 1–9: 2+3+2+2 Takte; Ossians Lied nach dem Falle Nathos, Takte 1–10: 3+2+2+3 Takte. Man denke aus den Jahren 1815–1817 an die Lieder An die Sonne (D 270 und D 272) und An die untergehende Sonne (D 457) sowie an das Quartett An die Sonne (D 439).

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Notenbeispiel 3: Franz Schubert, Cronnan (D 282) T. 7–12 (NGA IV:9, S. 36. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

quent – in Anführungszeichen gesetzt).29 Im Vordergrund stand für ihn offenbar der Erzähler, der aber – anders etwa, als in Schuberts kurz darauf entstandenem Erlkönig (D 328, Oktober 1815) – nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern in der Maske Shilrics, des Helden, der um Vinvela, die Geliebte, trauert. Mehrfach setzt Cronnan an, als wollte er – wie in Schuberts früheren OssianVertonungen und nach deren Vorbild − effektive Lieder singen: so als Shilric sich zum ersten Mal an Vinvela wendet (T. 41–44, „Erschienst du aber, o meine Geliebte, wie ein Wandrer auf der Heide!“) oder beim Anblick von Vinvelas Erscheinung (T. 59–67, „Komm du, o Mädchen, über Felsen, über Berge zu mir“). Nach wenigen Takten aber brechen die durch Sequenzen, durch geprägte Formeln und spezifische Klavierfiguren befestigten Lieder ab und wechseln in rezitativische Deklamation. Diese aber steht – viel deutlicher noch als bei Zumsteeg – unter dem Signum einer besonderen Art von Recitativo accompagnato, in Anlehnung an das ‚epische Lied‘ möchte ich von ‚epischer Szene‘ sprechen. Denn: Der Sänger beginnt liedhaft, dann aber rezitiert er seinen Text (er könnte ihn auch sprechen, aber der Komponist intensiviert durch Gesang die Affekte, definiert sie auch melodisch). 29

So in der ersten Fassung des Gesangs (basierend auf der ersten Niederschrift, heute geteilt, T. 1–113 in Wiener Privatbesitz, T. 114 bis Schluss in der Wienbibliothek im Rathaus, Musiksammlung, Signatur: MH 85/c); die zweite Fassung, der wohl eine Reinschrift zugrunde liegt, ist allerdings nur mehr in der postumen Erstausgabe überliefert (Franz Schuberts nachgelassene musikalische Dichtungen, Heft 2, Wien, Diabelli & Co., Juli 1830). Sie gibt konkrete Personenangaben, die so, im Einzelfall, auch bereits in der verschollenen Reinschrift gestanden haben mögen, wahrscheinlich aber sämtlich vom Verleger herrühren.

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Das Instrument hingegen bildet komplexe Strukturen aus, die in der Regel durch den Text – man möchte fast sagen: eine Art Bühnensituation – inspiriert sind. So bilden in Cronnan die musikalisch korrespondierenden Anfangs- und Schlusstakte (T. 1–21 und 109–130) einen Rahmen, der zugleich eine Art Bühnenbild errichtet, die ‚Szene‘ bestimmt (Notenbeispiel 3). Shilric, singt Cronnan zu Beginn, sitzt „am Gipfel des stürmischen Hügels“, die Bäume rauschen, und er blickt auf die bewegte See. In Terzenketten malt Schubert die Wogen, durch heftige Akzente die Windstöße. Und in derselben Umgebung findet Shilric am Ende sich wieder, auch wenn die Gedanken des Sängers ganz andere Bilder heraufbeschwören („Ich will sitzen […] am Gipfel des Hügels. Wenn alles im Mittag herum schweigt“). Der andere, von Cronnan und Minona im Wechsel vorgetragene Dialog Shilric und Vinvela (D 253) kehrt die Situation um. Nun ist es Shilric, der Vinvela erscheint. Sie lebt noch, ist „allein auf dem Hügel“, meint, das Schicksal des Geliebten zu erspüren, ahnt dessen vermeintlichen Tod. Nun aber scheint er ihr – im Ton eines Heldenliedes – zu sagen: „Wenn ich im Felde muss fallen, heb hoch, o Vinvela, mein Grab“, und am Ende antwortet sie ihm mit einem Versprechen: „Ach mein Shilric wird fallen, aber ich werd’ meines Shilric gedenken.“ Schubert formuliert diese letzten Sätze als eine kleine dreiteilige Arie, die eine zuvor ausgeführte Szene beschließt. In dieser setzt Vinvela wieder zweimal zu kleinen Liedern an, die dann aber entweder nicht entwickelt werden (ihr erster Anruf an Shilric, T. 21–26, „Ruhst du bei der Quelle des Felsen“, spielt bereits auf die Ausgangssituation von Cronnan an), oder sich zu einem Arioso auswachsen (ihr Abschiedsgesang, T. 88– 109, „So bist du gegangen, o Shilric“). Shilric antwortet hingegen in breiter ausgeführten Liedern, die allerdings aus der Tonart führen, offen modulieren: „Ich sitz nicht beim neigenden Schilfe“ (T. 61–87, in e-Moll beginnend, in B-Dur endend), oder auch – in dem erwähnten Heldenlied – unvermittelt abbrechen (T. 110–120, f-Moll – As-Dur).30 Im Ganzen wirkt dieser Dialog geschlossener als der frühere, steht den zuvor komponierten Ossian-Liedern näher. Gemeinsam ist beiden jedoch: Harfen-Figuren spielen keine Rolle mehr, nicht mehr jedenfalls, als in Schuberts Klavierliedern überhaupt. Dem Komponisten war klar, dass er – wenn er eine größere Anzahl von Ossian-Gesängen komponieren wollte (und das hatte er wohl bereits im September 1815 geplant) – an der Vorstellung des Barden als eines Harfners nicht festhalten konnte. Man hat eher den Eindruck, als orientiere sich der Komponist an einem imaginären Orchestersatz, ähnlich der Szene aus Faust (D 126), die ein dreiviertel Jahr zuvor entstanden war; dort hatte Schubert einige Instrumentationsangaben eigens hinzugesetzt. Noch im November wendet Schubert sich einem weiteren Klagelied zu, führt es aber nicht zu Ende: Lorma, von Aldo aus dem Gefolge Fingals entführt – und zwar mit ihrem Einverständnis – ist in der Schlacht von Lora gefallen, im Kampf 30

Manuela Jahrmärker (Art. „Shilric und Vinvela“, in: Schubert. Liedlexikon [Anm. 21], S. 232) konstatiert für diesen Gesang vier feste Zentren, „deren Anfänge durch die Tonart klar markiert sind (B-Dur, [vermutlich T. 88ff.], F-Dur, f-Moll [T. 110ff.], A-Dur [T. 151]), die im weiteren Verlauf zwar noch an der gleichen Gangart der Begleitung festhalten, harmonisch aber in andere Regionen entgleiten.“

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mit König Erragon, Lormas Ehemann. Schubert vertont hier eine Szene, in deren Zentrum Lormas Lied steht, noch nicht eigentlich ein Klagelied, doch von dunkler Vorahnung erfüllt.31 Voraus geht eine Einleitung dazu („Lorma saß in der Halle von Aldo“), es folgt noch der Beginn des Fortgangs („Sie wandte ihre Augen gegen das Tor“), dann aber bricht die Komposition ab. Im Februar 1816 greift der Komponist den Text nochmals auf, wieder ist die Vertonung als Fragment auf uns gekommen, diesmal allerdings wahrscheinlich als Überlieferungsfragment – das Manuskript bricht am Ende einer vollständig beschriebenen Seite ab. Es ist denkbar, dass Schubert die Komposition bis zu Lormas Tod weitergeführt hat.32 Lormas Gesang ist in dieser zweiten Komposition ein in sich geschlossenes, dreiteiliges Lied in c-Moll, eingebaut in die dramatische Erzählung. Bedenkt man die Entwicklung vom Lied zum episch-szenischen Dialog, scheint es fast konsequent, wenn Schubert wenige Wochen später, unter dem Datum vom 17. Januar 1816, eine erste große Szene mit komplexer Handlung komponiert, wieder aus Carric-Thura: Lodas Gespenst (D 150). Fingal ist dem befreundeten König von Inistore zu Hilfe geeilt, befindet sich vor dessen belagerter Hauptstadt CarricThura. Bevor er aber in den Kampf eingreift, steigt er auf einen Hügel vor der Stadt, auf dem Loda, der Geist Odins (eigentlich eines germanischen Gottes), verehrt wird. Die Szene ist in sich abgeschlossen: Der Geist, das Gespenst, hat die Partei des (skandinavischen) Belagerers ergriffen, verlangt von dem fremden König, sich zurückzuziehen. Dieser aber nimmt den Kampf auf – und das Gespenst ist (ein überraschend aufklärerischer Gedanke) der Konfrontation mit der Realität nicht gewachsen: „Der blitzende Pfad des Stahls [Fingal hatte sein Schwert erhoben] durchdrang den düstern Geist. Die Bildung zerfloss gestaltlos in Luft“. Fingal kehrt als Sieger in sein Lager zurück. Für den Fortgang der Erzählung spielt diese Begegnung keine Rolle mehr. Es ist auch wieder im Wesentlichen ein Dialog, doch ist die Einleitung (und in geringerem Maße auch der Schluss) für die Szene als Ganze wichtig – Schubert macht das in seiner Vertonung deutlich. Er beginnt mit einem Vorspiel (g-Moll), als wollte er ein echtes Lied schreiben, ein Vorspiel, das (mit T. 6) in die Dominante moduliert, um der Singstimme Gelegenheit zum Einsatz zu geben. Dann aber folgt ein Secco-Rezitativ („Der bleiche, kalte Mond erhob sich in Osten“). Das ‚Vorspiel‘ kehrt wieder, als sollte nun wirklich das Lied beginnen (man hat den Eindruck, es gebe die Atmosphäre der ersten Textworte wieder),33 moduliert in die parallele DurTonart und mündet wieder in das Rezitativ. Gegen Ende des Gesangs, 20 Takte vor Schluss, wiederholt Schubert den Vorgang mit verkürztem Vorspiel zu den Worten „Der Mond rückt’ in Osten voran“: Der Dichter kam auf das Eingangsbild zurück, um für die ganze eingeschobene Erzählung einen Rahmen zu schaffen, ein Szenenbild; Schubert folgt ihm darin, betont dies noch, denn das jeweils doppelte Vorspiel 31 32 33

Lormas Gesang beginnt hier zunächst als Lied, wird aber dann zunehmend dramatisch. Vgl. NGA IV:10, hrsg. von Walther Dürr, 2002, Vorwort, S. XXXIII–XXXIV, und den Anhang „Quellen und Lesarten“, S. 354. Manuela Jahrmärker (Art. „Lodas Gespenst“, in Schubert. Liedlexikon [Anm. 21], S. 95) geht noch darüber hinaus: Die „in ihrem ruhigen Schreiten prägnant hervortreten[den] Akkorde“ umreißen „so etwas wie einen Ossian-Ton“.

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ist ungleich wirkmächtiger als das kurze Textzitat, wir kennen das Verfahren bereits aus Cronnan.34 In diese Szene nun gliedert Schubert eine Reihe mehr oder weniger festgefügter Episoden ein: Wir hören ein geschlossenes, heroisches Lied, dreiteilig (ABA) in F-Dur, eigentlich, dem Bühnengeschehen, der Szenenbildung entsprechend, fast eher eine Ariette. Es ist des Königs erste Anrede an Loda (T. 64–96). Der Geist antwortet mit einem freien Arioso („Vor mir beugt sich das Volk“, T. 101–129); der König setzt dem ein eigenes entgegen („Steigen meine Schritte aus meinen Hügeln“, T. 133–150). Daraufhin wird der Geist energisch, singt nun seinerseits ein dreiteiliges Lied in heroischem Ton (in c-Moll, T. 157–181: „Fleuch zu deinem Land“), dessen Mittelteil allerdings als erzählendes Rezitativ angelegt ist. Den folgenden Kampf und die Flucht des Geistes komponiert Schubert − erwartungsgemäß – als dramatisches Accompagnato-Rezitativ. Blicken wir auf das Ganze, dann bietet sich wieder der Begriff des ‚epischen Rezitativs‘ an – ein Begriff, der mir allerdings noch nicht ganz glücklich erscheint –, fast sollte man sagen: ‚ossianisches Rezitativ‘. Da sind, wie gezeigt, Wiederholungen und Sequenzen möglich, auch liedhafte Elemente; es unterscheidet sich jedoch vom Arioso, das in der Regel, auch bei Zumsteeg, einen einheitlichen Duktus durchhält. Nur drei Tage später, am 20. Januar 1816 griff Schubert noch einmal zu einem kurzen Liedtext und gestaltete ihn als Terzett. Er schrieb einen Bardengesang für zwei Tenöre und Bass (D 147).35 Comala, die Heldin des kleinen, gleichnamigen Epos und Fingals Freundin („das weißbusigte Mädchen meiner Liebe“), ist gestorben, bittet aber als Geist die Barden des Königs um ein Lied. Sie singen ein Friedenslied, und Schubert konzipiert es nach Art der Kompositionsübungen, die er seit 1813 für seinen Lehrer Salieri geschrieben hat – möglicherweise auch diesmal.36 Gleichwohl fügt es sich gut in die Reihe der Ossian-Lieder, es enthält lyrische Momente (Mittelteil: „Nun wird die Sonne in Frieden aufgehn“), ist aber im Übrigen geprägt durch Motive der Jagd, des friedlichen Gegenstücks zum Kampf („Die Stimme der Jagd wird vernommen, die Schilde hangen in der Halle“). Das Terzett freilich bleibt Episode. Im Februar 1816 entsteht noch eine ähnlich große Szene wie Lodas Gespenst. Diesmal vertonte Schubert ein vollständiges Gedicht, Der Tod Oskars (D 375), vielleicht das kürzeste in Harolds Sammlung.37 34 35

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Dass es Schubert um einen Rahmen geht, nicht nur um Textillustration, zeigt der Umstand, dass er nicht alle Anspielungen des Textes auf die ‚Szene‘ entsprechend aufgreift – die Worte „der Mond verbarg in Osten sein rotes Gesicht“ (T. 40–43) sind als simples Secco-Rezitativ gesetzt. Schubert hat das Terzett wohl irrtümlich – zu Beginn eines neuen Jahres (20. Januar) noch mit 1815 statt 1816 datiert; das Datum hat Fritz Racek richtiggestellt, vgl. „Von den SchubertHandschriften der Stadtbibliothek“, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Wiener Stadtbibliothek 1856–1956, Wien 1956 (Wiener Schriften 4), S. 98–124, hier S. 117–118. Das Terzett entspricht in allen Zügen den früheren, vgl. Nr. 1–17 (1813), 18–20, 27–29 (1815), 35–39 (1816), in: NGA III:4, hrsg. von Dietrich Berke, 1974. Dieser Band enthält auch den Bardengesang, aufgrund der autographen Datierung irrtümlich eingereiht als Nr. 21 unter die Kompositionen von 1815. Harold, der Übersetzer, hat Zweifel an der Echtheit von Der Tod Oscars angemeldet: Er glaubt, „gute Ursachen zu haben, dieses Fragment als ein Werk Ossians zu verwerfen“ (siehe Die Gedichte Ossians [Anm. 15], Bd. 2, S. 281–282 [Anmerkung]). Schubert kannte diese Zweifel

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Macpherson allerdings deklarierte es als Fragment (er entwarf es also als kunstvollen Torso, im Sinne seiner Zeit); allerdings sah er darauf, dass es für den Leser inhaltlich befriedigend blieb. Der Sänger Caruth erzählt von seinem Sohne Oskar und von dessen Freund Dermid. Beide gemeinsam hatten „den mächtigen Dargo“ bezwungen und getötet, beide liebten dieselbe Frau (Dargos Tochter), und diese wiederum liebte Oskar. Dermid fordert Oskar zum Duell und fällt – Oskars Geliebte kann das nicht akzeptieren; sie erschießt Oskar (vielleicht auch, um ihren Vater zu rächen) und ersticht sich dann selbst. „Ihre Gräber liegen beim Bache des Hügels.“ Dabei fügen die Worte des Erzählers sich zwar zu einem Rahmen mit einer ausgedehnten Einleitung, die gut ein Drittel der Komposition umfasst (T. 1–129), und einem knappen Schluss (T. 272–287). Anders als in Lodas Gespenst nutzt Schubert dies aber nicht auch für einen musikalischen Rahmen. Umso deutlicher treten dann die eingebauten geschlossenen Lieder hervor: In einem davon, das aber auch ein umfangreiches Rezitativ enthält, stellt Caruth seinen Sohn vor („Führer der Helden, o Oskar, mein Sohn“, Es-Dur, T. 15−54). Die auf das Rezitativ folgende Wiederkehr des Beginns (T. 42ff.) erscheint daher weniger als abschließende Rundung denn als da capo. Ein anderes Lied besingt die Freundschaft Oskars und Dermids („Eins war Dermid und Oskar“, F-Dur, T. 66−88).38 Das Zentrum der Komposition bilden dann zwei Dialoge: zwischen Oskar und Dermid (T. 130-200), mit einem eingebauten erzählenden Abschnitt (T. 175–191, 200–207), sowie zwischen Oskar und der Geliebten (T. 208–271), wieder mit einer eingefügten erzählenden Partie (T. 252–260). Im Ganzen wirkt die Szene – des fehlenden Rahmens wegen – offener, unverbindlicher als Lodas Gespenst, gleichsam als hätte auch Schubert ein Fragment komponieren wollen. Ein einziges Mal nur vertonte er danach noch einen Ossian-Text: Die Nacht (D 534), im Februar 1817. Wieder wählte er einen in sich geschlossenen, diesmal explizit nicht zu dem Corpus der Dichtung – Croma – gehörigen Text; sie ist von Macpherson vielmehr als Fußnote zum Haupttext formuliert. Am Ende der Erzählung vom Kampf um Croma – man feiert den Sieg über den Angreifer – werden, so heißt es, zehn Harfen gespannt und fünf Barden singen „wechselweis Ossians [des Siegers] Lob“. Daran knüpft Macpherson an. Er wolle, schreibt er, eine Vorstellung eines solchen Bardengesangs geben, habe aber nur ein Gedicht gefunden, das dazu passe, es sei tausend Jahre jünger als Croma; er teile es im Folgenden mit.39 Es sind im Wesentlichen lyrische Stimmungsbilder, keine epischen Erzählungen, düstere

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natürlich – das war aber kein Grund für ihn, auf die Vertonung zu verzichten. Auch seine letzte Vertonung eines Gedichtes von Ossian – Die Nacht – sollte ja nicht von diesem selbst herrühren. Auf eine Besonderheit dieses Liedes sei aufmerksam gemacht: Seine Anfangstakte 66−69 und die Takte 83−86 umschließen einen Mittelteil (davon abgesehen, ist das Lied zwei-, nicht dreiteilig, zielgerichtet). In den Schlusstakten der Singstimme aber werden die Anfangstakte vertauscht: Diese enden offen für eine Weiterführung (F-Dur, T. 66−67; g-Moll, T. 68−69), jene sind naturgemäß schließend (g-Moll, T. 83−84; F-Dur, T. 85−86); die Takte 66–67/85–86 und 68–69/83–84 entsprechen einander auch melodisch und im Klaviersatz, sind aber nicht gespiegelt. Zu Einzelheiten hierzu siehe NGA IV:11, hrsg. von Walther Dürr, 1999, Anhang „Quellen und Lesarten“, S. 268.

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Notenbeispiel 4: Franz Schubert, Die Nacht (D 534), T. 148–156 (NGA IV:11, S. 101. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Bilder der Barden zumeist, denen der „Gebieter“ am Ende die Aufforderung entgegenstellt: „Stellt hundert Kerzen in die Höhe. Jünglinge, Mädchen, beginnet den Tanz!“ Schubert vertont daraus allerdings nur einen Großteil des Gesangs des ersten Barden und die Schlussansprache des „Gebieters“ der Sänger, die ihrerseits Wendungen aus Croma, Ossians Erzählung, aufgreift.40 Für die Komposition hat dies jedoch keine Bedeutung – Schubert verzichtet ja auf die erläuternde Einleitung und damit auch auf den textlichen Rahmen. Wo allerdings der von ihm zur Vertonung bestimmte Text es nahelegt, unterstreicht Schubert das auch durch musikalische Korrespondenzen: Mit den Worten „Die Nacht ist dumpfig und finster“ beginnt der erste Barde sein Lied, mit „Die Nacht ist düster, dunkel und heulend“ seine letzte Strophe. Wieder, wie in Lodas Gespenst, betreffen die musikalischen Korrespondenzen nur die Klavier-, nicht auch die Singstimme, ja deutlicher noch als dort, denn die Rezitative am Ende sind auch nicht mehr in Anlehnung an die des Beginns formuliert. In die Szene eingebaute geschlossene Lieder finden sich nicht mehr, wohl aber mehrfach Ansätze dazu.41 Eines aber fällt auf: Was musikalisch ge40

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„Man vernimmt die Muscheln des Mahls. Zehn Harfen werden gespannt; fünf Barden rücken voran“, heißt es in Croma (Die Gedichte Ossians [Anm. 15], Bd. 1, S. 180), mit „ertönet das Lied, und schlaget die Harfen; sendet die fröhlichen Muscheln herum“, beginnt des „Gebieters“ Schlusspassage (ebenda, S. 189, bei Schubert T. 151–157). Etwa: „Düster und keuchend, zitternd und traurig verlor der Wandrer den Weg“ (Barde, T. 57–

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schieht, prägt noch klarer als zuvor die Klavierstimme. Und da sein Gesang kein Ziel hat, vielmehr der Barde und der „Gebieter“ ihre jeweiligen Stimmungen einander entgegensetzen, begegnen wir auch nur einer Folge wechselnder musikalischer Bilder. Sie möglichst eindringlich darzustellen, ist dem Klavier übertragen. Deutlicher noch als in früheren Ossian-Gesängen, ja deutlicher noch, als wir das in Cronnan beobachten konnten, verweigert Schubert dem Sänger geschlossene Strukturen. Das führt sogar dazu, dass das Klavier rein instrumentale Tänze andeutet (eine Polonaise etwa, T. 148–151, 153–155, 157–159, 161–162, oder eine Ecossaise, T. 163–172, 175–184), jeweils vom Rezitativ unterbrochen (Notenbeispiel 4). Schubert hat, wie bereits erwähnt, danach keinen weiteren Gesang aus Ossians ‚Gedichten‘ mehr vertont – wie er auch auf andere Dichter nicht mehr zurückgekommen ist, mit denen er sich in den Jahren 1815/16 intensiv beschäftigt hat. Ich denke da gerade auch an solche Dichter, für die Macphersons Gesänge von Bedeutung waren, an Kosegarten, von dem schon die Rede war, oder auch an Klopstock, dessen Dialog Hermann und Thusnelda in manchen Zügen an Ossian erinnert – das gilt auch für Schuberts Vertonung (D 322, vom Oktober 1815).42 1817 – unter dem Einfluss seines Freundes Johann Mayrhofer – wendet er sich dezidiert der Antike zu und findet dann ab 1818/19 zur romantischen Dichtung. Zugleich aber mag ihm dann das, was er sich in der Beschäftigung mit Ossian erobert hat, auf dem Weg vom Lied über den Dialog zur offenen, episch-dramatischen Szene, als Weg in eine Sackgasse erschienen sein. Er hat daher keinen einzigen dieser Gesänge zum Druck gegeben, obwohl er 1816 doch plante, sie in zwei Heften herauszugeben,43 und obwohl er doch auch vor größeren Balladen im Zumsteegschen Stil wie Der Liedler (D 209) nicht zurückschreckte. Die Freunde allerdings dachten da anders, ihr Enthusiasmus – und auch der des Verlegers Anton Diabelli – brach sich Bahn, sobald Schuberts Erben diesem ihre Rechte an den Liedern abgetreten hatten.44 In enger Folge – in fünf Heften und sämtlich im Juli 1830 – erschienen unter dem Sammeltitel Ossians Gesänge für Singstimme und Pianoforte (später Heft 1–5 von Franz Schubert’s nachgelassene musikalische Dichtungen) sämtliche Ossian-Kompositi-

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70, beginnend als Lied in g-Moll, dann aber sich verlierend nach b-Moll), „Laß Wolken an Hügeln ruhn“ (Gebieter, T. 101–114, liedhaft beginnend, dann aber in ein Arioso mündend) und „Schweigend sind die Felder ihrer Schlachten“ (Gebieter, T. 132–141, beginnend als dreistimmiger Kanon, den Schubert aber bereits in T. 136 aufgibt und als freien Kontrapunkt fortführt). Hans-Joachim Hinrichsen („Episode oder Wendepunkt? Schuberts Auseinandersetzung mit der Dichtung Friedrich Gottlieb Klopstocks“, in: Schubert : Perspektiven 3 [2003,] S. 155–175, hier S. 158) weist auf den patriotischen Aspekt des Dialogs hin, der Schubert „im Zeitalter der Befreiungskriege“ angesprochen haben mag – und auch in der Begeisterung für Ossian, den „Homer des Nordens“ (Schmidt [Anm. 1]), durchdringen sich Patriotismus und romantisches Interesse für Exotik. In Josef von Spauns vielzitiertem Brief an Goethe vom 17. April 1816 (Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 41), in dem er – in Schuberts Namen – den Plan ankündigte, Schuberts Lieder in acht nach Dichtern geordneten Heften herauszugeben, heißt es: „das 7 und 8te [Heft] enthalten Gesänge Ossians, welche letztere sich vor allen auszeichnen“. Deutsch, Erinnerungen, S. 337–340; Ferdinand Schubert erklärt am 29. November 1829: „Gegen ein Honorar von 2400 f. K. M. [Gulden Konventionsmünze] überlasse ich Ihnen sämtliche Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Piano-Forte von der Composition meines Bruders.“ Die Miterben bestätigten das vermutlich Anfang 1830.

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onen Schuberts, ausgenommen natürlich die beiden Lorma-Fragmente und das Terzett Bardengesang. Und bezeichnenderweise bildete Die Nacht, der offenste, freieste von ihnen, die Eröffnungsnummer dieser Hefte.

„AUF DIE SPITZE GESTELLTE SUBJECTIVITÄT“ Schuberts Bürgschaft und die Suche nach der musikalischen Form Ivana Rentsch „Das Princip der Gegenwart ist die auf die Spitze gestellte Subjectivität“1 – mit diesen Worten erklärte Franz Brendel in seiner 1855 erschienenen Geschichte der Musik die ästhetische Verabsolutierung des Subjekts zum alleinigen Kern des musikalischen (selbstredend: ‚neudeutschen‘) Entwicklungsgangs. „Durch Beethoven erst wurde der Anstoss gegeben zu grösserer Erweiterung und innerlicher Vertiefung, eine Richtung, die in Schubert sich fortgesetzt und hier ihren ersten Culminationspunct erreicht hat“.2 Und es war laut Brendel explizit das „Gebiet des Liedes“, auf dem Schubert den Weg in die Zukunft gewiesen habe: „Er [Schubert] wurde hier der Mittelpunct für die gesammte neuere Entwicklung“.3 So geradlinig die Entwicklung vom Lied zum Musikdrama in der Geschichte der Musik auch dargestellt wird, so heikel erscheint eine implizite Voraussetzung dieses Denkmodells, nämlich die Bedeutungslosigkeit der Gattungsgrenzen. Zwar lässt sich angesichts der enormen Bandbreite lyrischer Vertonungsformen seit dem späten 18. Jahrhundert keine allgemeingültige Lieddefinition aufstellen, was in neuerer Zeit etwa Hermann Danuser zu der Entscheidung veranlasst hat, den Lied-Band im Handbuch der musikalischen Gattungen mit dem Sammelbegriff „Musikalische Lyrik“ zu betiteln.4 Dass jedoch trotz aller dramatischen Grenzüberschreitungen in Schuberts Liedœuvre mitnichten von einer Nivellierung zwischen Lied und Oper die Rede sein kann und sich der kammermusikalische Zugriff grundsätzlich vom opernhaften unterscheidet, dokumentieren paradigmatisch Schuberts zwei „Bürgschaften“: die Musikalisierung von Friedrich Schillers Die Bürgschaft als Ballade (D 246) vom August 1815 sowie als Fragment gebliebene Oper (D 435) von 1816. Die ästhetische Differenz spiegelt sich in der formalen Anlage der beiden Werke wider – eine Differenz, die umso gewichtiger erscheint, als es sich bei der kammermusikalischen Vertonung immerhin um eine Ballade, also um eine dramatisch gefärbte epische Form handelt. Paradoxerweise unterscheiden sich jedoch ausgerechnet diejenigen kompositorischen Mittel diametral von der damaligen Opernästhetik, denen die Ballade ihre musikalische Dramatisierung verdankt. Im Folgenden 1 2 3 4

Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Fünfundzwanzig Vorlesungen gehalten zu Leipzig, 2. umgearbeitete und vermehrte Aufl., Leipzig 1855, Bd. 2, S. 171 (Hervorhebung original). Ebenda, S. 176. Ebenda. Musikalische Lyrik, hrsg. von Hermann Danuser, Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen  Gattungen 8/1), Bd. 1, S. 11–33.

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gilt es daher, mit Hans Georg Nägeli die gattungsspezifische Ausformung des Dramatischen in Schuberts Bürgschaft zu diskutieren, um mit einem abschließenden Seitenblick auf den Gluck-Anhänger Ignaz Franz von Mosel die damit inkompatible dramatische Anlage in Schuberts Opernfragment der Bürgschaft kurz zu skizzieren. DIE BALLADE – „EINE NEUE ACQUISITION IM FACHE DER TONKUNST“ Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert provozierte der eng gesteckte Rahmen der Liedästhetik kritische Stimmen. So polemisierte von literarischer Seite etwa Joseph Martin Kraus bereits 1777: „Ist’s einem Dichter gegeben, ohne feur’gen Schwung bei seiner dicken Milch zu stehn, und mit Gelassenheit eine Stunde drinn rumrühren zu können, so ist er einer von denen, die zum Liederfache Beiträge liefern können.“5 Der literarischen ‚dicken Milch‘ entsprach in musikalischer Hinsicht ein Liedideal, das im frühen 19. Jahrhundert paradigmatisch E. T. A. Hoffmann in seiner berühmten Rezension über Wilhelm Friedrich Riems Zwölf Lieder in der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1814 auf den Punkt bringen sollte.6 Der Liedkomponist, so Hoffmann, habe sämtliche Affekte des Gedichtes gleichsam in einem „Brennpunkt“ aufzufassen und müsse durch seine Fokussierung auf den Klang des Textes zum „Dichter des Liedes“ werden.7 Damit war der Rahmen der Vertonung vorgegeben: Gliederung und metrische Beschaffenheit des Gedichtes bestimmten eine musikalische Anlage, die als kompositorisches Pendant zur strophischen Gedichtform zwangsläufig im Ideal des Strophenliedes gipfeln musste. Daraus ergab sich im Umkehrschluss eine grundsätzliche Ablehnung durchkomponierter Vertonungen – so auch bei Hoffmann: Die „Mode des Durchkomponierens“ ist „dem Rez., falls der Text nicht ins Dramatische fällt, und also aufhört, Lied zu seyn, sehr abhold“.8 Genau an dieser Stelle, an der aufgrund ‚feuriger‘ Texte – statt ‚dicker Milch‘ – das Lied aufhöre, Lied zu sein, kommen nun diejenigen Balladenkomponisten ins Spiel, die unter dem Eindruck von Joseph Andrés und insbesondere Johann Rudolf Zumsteegs Lenore das ‚lyrische‘ Strophenlied zugunsten einer ‚ins Dramatische‘ fallenden Durchkomposition aufgaben. Angesichts der von Hoffmann kritisierten ‚Mode des Durchkomponierens‘ um 1800 sticht unweigerlich ins Auge, dass die 5

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Joseph  Martin  Kraus,  Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777,  Frankfurt  am  Main  1778,  Reprint hrsg. von Friedrich W. Riedel, München und Salzburg 1977, S. 100–101. Siehe auch  Marie-Agnes Dittrich, „‚Für Menschenohren sind es Harmonien‘. Die Lieder“, in: SchubertHandbuch, S. 145. E. T. A. Hoffmann, „Zwölf Lieder alter und neuerer Dichter, mit Begleitung des Pianoforte in Musik gesetzt von W. F. Riem, 27stes Werk. Leipzig, bey Breitkopf und Härtel“, in: AMZ 16 (1814), H. 41, Sp. 680–692. Vgl. u. a. E. T. A. Hoffmann. Leben, Werk, Wirkung, hrsg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 422. Hoffmann, „Zwölf Lieder alter und neuerer Dichter, mit Begleitung des Pianoforte in Musik gesetzt von W. F. Riem“ (Anm. 6), Sp. 682. Ebenda, Sp. 683.

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theoretischen Beschreibungen der Ballade fast ausschließlich ex negativo – von der Warte einer verabsolutierten Liedästhetik aus – erfolgten.9 Mit Blick auf Schuberts Bürgschaft ergibt sich dann als balladentypische Charakterisierung die Aufzählung nicht-liedhafter Momente wie eine kleinteilige Anlage der Großform, die satztechnische Bandbreite von Secco- und Accompagnato-Rezitativen über Ariosi bis zu liedhaften Anklängen oder eine avancierte Harmonik ohne übergreifende Haupttonart. Da jeder normativ liedfokussierte Ansatz eine durchkomponierte Balladenvertonung wie Die Bürgschaft notgedrungen nur defizitär bestimmen und gar nicht umhin kann, sie in letzter Konsequenz mit Thrasybulos Georgiades als „unbedeutende[n]“ und „ungekonnte[n] Liedversuch“ abzutun,10 gilt es im Folgenden, anstatt eines lied- einen dezidiert balladenästhetischen Blickwinkel zu erproben. Erst auf der Grundlage eines ‚positiven‘ Ausgangspunktes ist ein Verständnis denkbar, demzufolge eine Komposition wie die Bürgschaft nicht implizit als ‚dramatisch‘ deformiertes Lied taxiert wird. Für ein solches Vorgehen spricht erstens der Umstand, dass für Schubert eine ausladende Ballade wie die Bürgschaft noch zu einem Zeitpunkt eine valable Vertonungsmöglichkeit darstellte, als er mit den Goethe-Liedern und namentlich dem legendären Gretchen am Spinnrade bereits einen Weg gefunden hatte, den lyrischen Rahmen der Gattung dramatisch auszuloten; die strikte Durchkomposition der Bürgschaft vom August 1815 erweist sich vor diesem Hintergrund als planvolle Entscheidung und keineswegs als bloße Vorstufe zu dem Schubert-Lied im emphatischen Sinne des Wortes. Und zweitens findet sich im theoretischen Schrifttum zumindest ein frühes Zeugnis für eine positive Bestimmung der musikalischen Ballade: Hans Georg Nägelis ebenso umfangreiche wie positive Rezension von Zumsteegs Lenore in der Allgemeinen musikalischen Zeitung vom Mai 1799.11 Die theoretische Voraussetzung für seinen begeisterten Kommentar über Zumsteegs Lenore-Vertonung von Gottfried August Bürgers 32strophiger Ballade exponiert Nägeli gleich zu Beginn seiner Kritik: Er erklärt die Art der musikalischen Umsetzung zu einer „neue[n] Acquisition im Fache der Tonkunst“.12 Und diese ‚neue Acquisition‘, die „keine geringe Aufgabe für einen Tonsetzer“ bedeute, unterscheidet Nägeli nicht nur von „Oden und Liedern“,13 sondern ausdrücklich auch von der Oper, obwohl „die Composition der Ballade mit der letztern einerley Berührungspunkte habe“.14 Aus dieser doppelten Abgrenzung gewinnt Nägeli die gattungsspezifischen Kriterien der Balladenkomposition, die er an Zumsteegs Lenore 9

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So hegte im Jahr 1803 auch ein anonymer Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung angesichts der Gefahr einer „langweiligen Eintönigkeit“ strophischer Vertonungen bei umfangreichen Gedichte durchaus Sympathien für Zumsteegs Balladen, beharrte jedoch auf einer „nie ganz zu besiegende[n] Schwierigkeit“, denn: „eine Romanze ist doch kein Drama“. [N. N.], „Arion, Romanze von A. W. Schlegel, in Musik gesetzt von Wilhelm Schneider“, in: AMZ 5  (1803), H. 30, Sp. 494–495. Thrasybulos G. Georgiades, Schubert: Musik und Lyrik, Göttingen 1967, Bd. 1, S. 46. [Hans Georg  Nägeli],  „Lenore  von  G. A.  Bürger,  in  Musik  gesetzt  vom  I. R.  Zumsteeg“,  in:  AMZ 1 (1799), H. 34, Sp. 536–541. Ebenda, Sp. 536. Ebenda, Sp. 537. Ebenda.

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exemplifiziert und die in einem eklatanten Gegensatz zur gängigen Liedästhetik stehen: erstens die „Rhythmopoie zur lebendigen Darstellung des Gedichts“, zweitens die „Abwechslung in den Modulationen“ und drittens der „Reiz der Neuheit“ in der „Farbengebung“ des Klaviers.15 Bezeichnenderweise findet sich somit bei Nägeli positiv zu den wichtigsten Parametern der Balladenkomposition aufgewertet, was in der zeitgleichen Lieddefinition als defizitär abgelehnt wurde. DIE BÜRGSCHAFT – EINE BALLADE Wie nahe Schubert – unter dem Eindruck von Zumsteegs Gattungsbeiträgen16 – Nägelis Auffassung der Ballade gekommen ist, dokumentiert seine Vertonung von Schillers Bürgschaft. So findet sich die balladenhafte „Rhythmopoie“ in einer Singstimme verwirklicht, die von dem Streben nach prosodisch exakter Umsetzung zeugt, jedoch ohne Rücksicht auf die „natürlich[e] rhythmisch[e] Form“ der Ballade, die poetologisch „an ein gleiches Sylbenmaas gefesselt“ sei.17 Im genauen Gegensatz zum Strophenlied kommt der metrischen Gedichtstruktur in der Balladenvertonung, wo diese laut Nägeli zu einem „ekelhaften Einerley“ führen würde, keine Bedeutung zu. Mehr noch: Ein Festhalten am metrischen Muster würde gar grundsätzlich der „lebendigen Darstellung des Gedichts“ im Wege stehen.18 Nicht nur im zweiten Teil der Bürgschaft, in dem Schubert auch über Strophenzäsuren hinweg komponiert, sondern gleich zu Beginn zeigt sich die Bedeutungslosigkeit von Versstrukturen, wenn die Achtelpause das letzte Wort des allerersten Verses – „schlich“ – aus rein inhaltlichen Gründen abspaltet und auftaktig dem zweiten Vers zuschlägt (Notenbeispiel 1). Die von Nägeli eingeforderte „schöne und richtige Deklamation“ der Ballade entspringt im Gegensatz zum Lied nicht der musikalischen Spiegelung metrischer Gedichtstrukturen,19 sondern ausschließlich der prosodischen Genauigkeit der musikalischen Umsetzung. Der Bezugspunkt der Deklamation erweist sich dabei als ein doppelter: Er betrifft sowohl das Betonungsmuster als auch den kleinteilig changierenden Ausdrucksgehalt des einzelnen Wortes. Indem die Prosodie von den 15 16

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Ebenda, Sp. 537–538.  Zur Zumsteeg-Rezeption bei Schubert siehe Walther Dürr, „Hagars Klage in der Vertonung von Zumsteeg und Schubert: Zu Eigenart und Wirkungsgeschichte der ‚Schwäbischen Liederschule‘“, in: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts, hrsg. von Gudrun Busch und Anthony J. Harper, Amsterdam 1992, S. 309–327. Gunter Maier, Die Lieder Johann Rudolf Zumsteegs und ihr Verhältnis zu Schubert, Göppingen 1971 (Göppinger  akademische Beiträge 28). Ein für das Repertoire der Balladenvertonungen um 1800 erhellender Vergleich mit den Bürgschaft-Vertonungen von Gottlob Bachmann und August Mayer findet sich bei Christine Martin, „Schuberts Bürgschaften. Epische und dramatische Tondichtung  im Lied (D 246) und im Opernfragment (D 435)“, in: Dichtungen Friedrich Schillers im Werk Franz Schuberts. Bericht über das Schubert-Symposion Weimar 2005, hrsg. von Michael Kube,  Duisburg 2007 (Schubert-Jahrbuch 2003–2005), S. 69–73. [Nägeli], Lenore (Anm. 11), Sp. 537. Ebenda. Ebenda, Sp. 540.

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Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Die Bürgschaft (D 246), T. 5–13 (NGA IV:8, S. 153. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

emotionalen Wechselfällen der Geschehnisse unmittelbar betroffen ist, eignet der Rhythmisierung und Diastematik der Singstimme eine affektive Qualität. Als Kehrseite dieser direkten – gleichsam distanzlosen – Ausdrucksqualität der Stimme ergibt sich zwangsläufig eine untergeordnete Rolle der Melodik. Die von Christine Martin konstatierte Formelhaftigkeit der überwiegend rezitativischen Stimmführung sowie das weitgehende Fehlen prägnanter melodischer Wendungen in der Bürgschaft wären unter liedästhetischen Gesichtspunkten überaus problematisch.20 Im Kontext der Ballade handelt es sich jedoch um die Charakteristika einer ‚schönen und richtigen Deklamation‘ im Geiste Nägelis, die mit der Nähe zum Rezitativ unmittelbar an die Theoriebildung um 1800, etwa an den Rezitativ-Artikel in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der Künste erinnert: das Rezitativ als „eine Art des leidenschaftlichen Vortrages der Rede, die zwischen dem eigentlichen Gesang, und der gemeinen Declamation das Mittel hält“.21 20 21

Martin, „Schuberts Bürgschaften“ (Anm. 16), S. 72–73.  [Johann Abraham Peter Schulz], Art. „Recitativ“, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, vermehrte 2. Aufl., Leipzig 1794, Bd. 4, S. 4. Zur Rolle des Rezitativs im Lied siehe Matthias Wessel, „Rezitativ und Deklamation im klavierbegleiteten Sologesang um  1800“,  in:  Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der GfM Freiburg im Breisgau 1993, hrsg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Kassel etc. 1998, S. 409–412.  Zur  engen  Verbindung  zwischen  Ballade  und  Melodram  im  19.  Jahrhundert  siehe  Matthias  Nöther, Als Bürger leben, als Halbgott sprechen. Melodram, Deklamation und Sprechgesang im wilhelminischen Reich, Köln etc. 2008 (KlangZeiten. Musik, Politik, Gesellschaft 4), S. 49– 58;  Monika  Schwarz-Danuser, Art.  „Melodram“,  in:  MGG2,  Sachteil,  Bd.  6,  1997,  Sp.  68,  82–83. Joachim  Kramarz’ strenge  Fokussierung nur  auf die  Rezitative in Schuberts Liedern 

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Weit über eine bloß rhythmisch adäquate Rezitation hinausgehend, erfordert jede ‚schöne und richtige Deklamation‘ notwendigerweise die Hervorkehrung des affektiven Gehalts mit musikalischen Mitteln. Davon ist keineswegs nur die – je nach Situation eher drängend oder lyrisch ausschwingend deklamierende – Singstimme betroffen, sondern in hohem Maße auch die Harmonik. Im Gegensatz zur Melodik, die bei Nägeli so gut wie keine Erwähnung findet, kommt der ‚Abwechslung in den Modulationen‘ unmittelbar nach der ‚Lehre des Rhythmus‘ eine zentrale Bedeutung zu. Auch in der Oper sei der Komponist zur harmonischen Ausdeutung herausgefordert, nur müsse er dort wegen der Unterteilung der einzelnen Nummern durch Dialoge nicht auf die Übergänge zwischen den einzelnen Stücken achten.22 „[…] hingegen [herrscht] bey der Ballade ein fortlaufender Fluss des Gesangs […], den der Tonsetzer, der hier wie dort zur Abwechslung der Tonarten determinirt wird, nicht unterbrechen kann. Soll nun seine Arbeit nicht das trockene Gepräge der Genealogie der Tonarten in auf- und absteigender Linie schlechtweg an sich tragen: so muss er hier in einem weit höheren Grade zeigen, dass er Harmonieverständiger sey, d. h. er muss die Verbindung der verschiedenen Tonarten auf eine Art zu bewirken suchen, nicht wie ihm solche blos der todte Buchstabe seines Tonsystems; sondern auch der Geist seines Dichters zum Gesetze macht.“23

Unter Einhaltung der harmonischen Regeln hat sich der Komponist einer Ballade dem Gesetz des Dichters zu fügen. So naheliegend die Ausrichtung des Tonsatzes an der dichterischen Intention im Rahmen einer grundsätzlich textbezogenen Liedtheorie auf den ersten Blick auch anmuten mag, so spektakulär sind die Konsequenzen für die harmonische Faktur. Es ist genau diese Koppelung der ‚lebendigen‘ Harmonik an die affektiven Wechselfälle, die eine ästhetische Erklärung für die rastlosen Modulationen in Schuberts frühen Balladen liefert. Kompromisslos umgesetzt erscheint die Unterordnung der Harmonik unter den Text insbesondere in der Bürgschaft: Es gibt keine großformale harmonische Geschlossenheit, keine übergreifende tonale Architektur, ja nicht einmal eine Haupttonart – der ‚todte Buchstabe‘ des ‚Tonsystems‘ ist ausgespart. Von einem tatsächlichen „Verzicht auf harmonische Logik“,24 wie dies gerne aus liedästhetischer Warte konstatiert wird, kann jedoch keine Rede sein. Die von Nägeli eingeforderte ‚Harmonieverständigkeit‘ findet sich vielmehr im Kleinen, in oftmals ambivalenten Fortschreitungen. Exemplarisch lässt sich das Verfahren von der zehnten bis zur zwölften Strophe der Bürgschaft darlegen, an jener Stelle also, wo Möros auf der Rückreise zum Tyrannen (um den Freund, der als Bürge statt seiner hingerichtet werden soll, zu retten) gerade einen Sturm überwunden hat und nun von Räubern überfallen wird (Notenbeispiel 2). In dieser Passage zeigt sich deutlich die Umsetzung einer scheinbar affektiv haltlosen Harmonik, die allerdings hintergründig durch das Bestreben zusammen-

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schließt leider eine übergreifende Einordnung in die grundsätzliche Problematik der Deklamation aus; Joachim Kramarz, Das Rezitativ im Liedschaffen Franz Schuberts, Diss. FU Berlin 1959. [Nägeli], Lenore (Anm. 11), Sp. 537. Ebenda, Sp. 538 (Hervorhebungen original). Dittrich, „Für Menschenohren sind es Harmonien“ (Anm. 5), S. 161.

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Notenbeispiel 2: Franz Schubert, Die Bürgschaft (D 246), T. 210–247 (NGA IV:8, S. 164–165. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

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gehalten wird, die von Nägeli eingeforderte ‚Verbindung der verschiedenen Tonarten‘ auf eine Art und Weise jenseits schulmäßig ‚todter Buchstaben‘ zu bewirken. Trotz ihrer Unvorhersehbarkeit im Großen ist die Vertonung keineswegs frei von harmonischer Logik im Kleinen. So spiegelt sich in einer der vielen Sequenzierungen der Bürgschaft zu Beginn der zehnten Strophe die Errettung des Helden aus den stürmischen Fluten im kadenzierenden Schwanken zwischen Des-Dur und Ges-Dur sowie anschließend im Wechsel von dominantischem Es-Dur und tonikalem as-Moll (T. 210–214). Ebenso unerwartet, wie die Räuber hervorstürzen, führt der as-Moll-Akkord zu E-Dur, und das für Schuberts Ballade charakteristische harmonische Verfahren gewinnt erneut die Oberhand: Der harmonische Gang beruht im Extremfall auf fragmentarischen Dominantverhältnissen, die bloß zwischen zwei aufeinanderfolgenden Akkorden überhaupt wirksam sind und bereits bei der nächsten Akkordfortschreitung zu neuen Dominantisierungen führen. Entsprechend wird in Takt 215 das überraschend eingetretene E-Dur sogleich mit einer Septime ergänzt, um als Dominantseptakkord nach a-Moll zu führen – eine vermeintliche Tonika, die schon im nächsten Takt zu einem verminderten Septakkord über cis mutiert und dominantisch nach d-Moll führt (T. 217–218). Auch dieses d-Moll bleibt flüchtig: Die Harmonik leitet in einer freien Sequenz über einen verkürzten Septnonakkord mit tiefalterierter Quinte zu Fis-Dur weiter (T. 223–226). Über die Strophengrenze hinweg führt dieses Fis-Dur sogleich dominantisch nach H-Dur und kadenziert auf dem zentralen Wort „Leben“ nach e-Moll (T. 229). Dieses e-Moll entpuppt sich nun – auch rückwirkend – als verborgener harmonischer Kern der elften und zwölften Strophe, selbst wenn bei der Reminiszenz an die Bürgschaft des Freundes („muß ich dem Könige geben“) prompt die Paralleltonart G-Dur als Dominante in den Tonikagegenklang C-Dur abkadenziert (T. 230–231). Obwohl nochmals durch H-Dur eingeleitet, treibt die Angst um den Freund das e-Moll weiter zu einem dominantischen E-Dur-Septakkord (T. 234) und gipfelt im verzweifelten Ruf um Erbarmen (T. 235) auf einem übermäßigen Quintsextakkord – in der Bürgschaft über ein Dutzend Mal als Chiffre höchster Anspannung aufblitzend. Von diesem übermäßigen Quintsextakkord ausgehend, entfaltet sich ein harmonischer Gang, der bei der Flucht der Räuber und nach einem erneuten übermäßigen Quintsextakkord auf dem Totschlag kurzzeitig in h-Moll Beruhigung findet (T. 237–241). Sogleich nach der Fermate zu Beginn der zwölften Strophe erfolgt allerdings eine mediantische Rückung nach D-Dur (T. 242) – ein D-Dur, das durch die Septime c (T. 243) dominantisiert, jedoch nicht aufgelöst, sondern seinerseits mediantisch zu einem H-Dur-Septakkord geführt wird, um den Boden für das anschließend in e-Moll einsetzende Gebet an Zeus zu bereiten. Es dürfte nicht überraschen, dass e-Moll nicht lange Tonika bleiben wird und die Harmonik weiter durch Terzen- und Quintenzirkel mäandert, bis zum erlösenden Ende, wenn der Tyrann, gerührt durch die unerschütterliche Treue von Möros, um Aufnahme in den Freundschaftsbund bittet. Das G-Dur dieses happy end wird auf eine Art und Weise erreicht, die bereits die gesamte Ballade geprägt hatte – über punktuelle Dominant- und Mediantverhältnisse (Notenbeispiel 3). Ein an sich unerwartet erklingender übermäßiger Quintsextakkord (T. 433) wird dominantisch nach H-Dur geführt (T. 434), dieses jedoch weder bestätigt, noch zu einem denkbaren

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Notenbeispiel 3: Franz Schubert, Die Bürgschaft (D 246), T. 433–452 (NGA IV:8, S. 173. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

e-Moll geleitet, sondern über einen mediantisch angesprungenen D-Dur-Dominantseptakkord ins ‚erlösende‘ G-Dur umgebrochen (T. 436–437). Die im Kleinen durchaus ‚logisch‘ wirkende Modulation nach G-Dur erfolgt von großformaler Warte aus genauso unvorhersehbar wie das Erreichen aller anderen harmonisch stabilen Felder in den vorangegangenen Strophen. Gerade die Bürgschaft führt jedoch deutlich vor Augen, dass die von Nägeli formulierte Absage an den ‚todten Buchstaben‘ der Harmonielehre keinen Freibrief für inkohärente Fortschreitungen – keinen ‚Verzicht auf harmonische Logik‘ – bedeutete, sondern ganz im Gegenteil einen ‚harmonieverständigen‘ Komponisten erforderte. Die balladentypische ‚Harmonieverständigkeit‘ erweist sich bei Schubert darin, sequenzierende und von harmonisch mäandernden Akkordfortschreitungen geprägte

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Passagen fast unmerklich in tonal stabile Abschnitte übergehen zu lassen, die oft erst rückwirkend als solche überhaupt erkennbar sind. Damit erreichte er auf kleinteiliger Ebene eine hintergründige tonale ‚Logik‘, mit der er einerseits die – vom ‚gesetzgebenden‘ Dichter diktierten – dramatischen Wechselfälle der Ballade berücksichtigen konnte und zugleich den harmonischen Vorgaben, die er bis ins Äußerste auslotete, Rechnung trug. Die grundsätzliche Funktionalisierung der Musik für die Deklamation erklärt schließlich auch Nägelis Kritik an „musikalischen Malereyen“ und zugleich Schuberts fast vollständigen Verzicht auf musikalische ‚Bebilderung‘ (etwa das Lösen der „Bande“ in T. 101).25 Der „malerische Ausdruck“ tauge laut Nägeli nur für emotionale Aspekte und habe „mit körperlichen Gegenständen“ nichts gemein, auch nicht – wie in Zumsteegs Lenore – mit einem „Wirbelwind im Haselbusch“.26 Von genau dieser Differenzierung zwischen Affektgehalt und körperhafter Charakterisierung dürfte nicht zuletzt die für Schuberts Liedœuvre typische Gleichsetzung äußerer Geräusche mit innerer Unruhe herrühren, wie sie etwa die Sturm-Passage der Bürgschaft, das galoppierende Pferd des erschütterten Vaters im Erlkönig oder das schnurrende Klavier des Gretchen am Spinnrade prägt: Ohne die affektive Entsprechung in der Erregung des Helden oder der Heldin fehlte den Tonmalereien ihre ästhetische Berechtigung.27 Ebenso wie die Singstimme fokussiert auch das Klavier ausschließlich die Leidenschaften der Deklamation, und dies nicht nur in der Harmonik, sondern auch in der Faktur des Satzes. Angesichts eines auf das Klavier beschränkten Instrumentariums müsse der Komponist unbedingt an den „Reiz der Neuheit denken, wenn die Farbengebung nicht ins Matte fallen soll“, so Nägeli.28 Die parataktische Kleinteiligkeit, die von der unbedingten Unterordnung unter die Dichtung herrührt, verhindert sämtliche Aspekte einer großformalen musikalischen Architektur. Zugespitzt formuliert, ist die Suche nach einer musikalischen Großform in der Ballade obsolet, wird diese doch gänzlich von der literarischen Deklamation absorbiert.29 Genau darin wurzelt der essentielle Unterschied zur Oper. BALLADE – OPER Die Diskrepanz zwischen musikbestimmter Oper und deklamationsabhängiger Ballade ließe sich kaum prägnanter auf den Punkt bringen als durch die Ermahnung des mit Schubert persönlich bekannten Ignaz Franz von Mosel:30 In der Oper dürfe der 25 26 27 28 29 30

[Nägeli], Lenore (Anm. 11), Sp. 540. Ebenda (Hervorhebung original). Zur Kritik an Tonmalereien siehe Dittrich, „Für Menschenohren sind es Harmonien“ (Anm. 5),  S. 150–153. [Nägeli], Lenore (Anm. 11), Sp. 538. Zur Nähe der Deklamation zur Improvisation vgl. Till Gerrit Waidelich, Art. „Die Bürgschaft  (D 246)“, in: Schubert. Liedlexikon, hrsg. von Walther Dürr u. a., Kassel etc. 2012, S. 179–182,  hier S. 182. Zur  Bedeutung  Mosels  für  Schuberts  Opernästhetik  siehe  Walther  Dürr,  „Schuberts  romantisch-heroische Oper  Alfonso und Estrella im Kontext französischer  und  italienischer Tradition“, in: Der vergessene Schubert. Franz Schubert auf der Bühne, hrsg. von Erich Wolfgang 

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Dichter „nie vergessen, dass sein Werk für die Musik bestimmt ist, und dass diese nur Bilder und Leidenschaften, nicht rednerisches Wortgepränge fordert. Hat er selbst musikalische Kenntnisse: desto glücklicher!“31 Die funktionale Bestimmung des Librettos für die Oper prägt die Disposition des Textes. Zwar ruft Mosel in seinem Versuch einer Aesthetik des dramatischen Tonsatzes von 1813 ausdrücklich dazu auf, dass man Rhythmus und Diastematik der Singstimme „möglichst genau nach denjenigen wähle, welche in der gewöhnlichen Declamation gebraucht worden wären“.32 Auch erinnert die Aufforderung, „Prosodie, Declamation, Ausdruck der Empfindungen, Characteristik der singenden Personen u. s. w.“ genau zu berücksichtigen, auf einen ersten Blick an die Ballade.33 Spätestens jedoch Mosels Erläuterungen dazu, wie die eingeforderte Charakterisierung eines bereits mit Blick auf die Vertonung konzipierten Librettos musikalisch zu bewältigen sei, legen die Differenz offen. Fernab balladentypisch kleinteiliger Parataxe gelte es in der Oper, den „allgemeinen Character“ und den „Hauptton des Gemähldes“ festzusetzen – den Blick vom Ganzen auf die Einzelteile zu lenken. Dem affektiven Potenzial der Harmonik kam dabei eine besondere Bedeutung zu, allerdings nicht auf ständige Modulationen hin ausgerichtet, sondern im Sinne einer tonalen Architektur, wobei Mosel anfügte, dass bei „der Bestimmung der Tonarten […] Schubart’s Charakteristik der Töne jene Componisten leiten“ könne, „welche hierin nicht schon ihr eigenes, richtiges Gefühl zum Führer haben“.34 Auf der Grundlage einer passenden harmonischen Stimmung entfaltete sich eine Melodik, die mit Ausnahme „stürmischer Leidenschaften u. d. gl.“ prinzipiell symmetrisch sein sollte. Bezeichnenderweise ergab sich daraus ein Bezug ausgerechnet zum lyrischen Lied, wohingegen die an sich dramatisch deklamierende Ballade keinerlei Erwähnung fand. Denn: „wenn die Strophen eines Liedes symmetrisch seyn müssen; so ist dieses eben so gut von den Gesangstücken einer Oper zu verstehen, wenn gleich die Melodie der letzteren mehr zusammengesetzt, und für eine grössere Mannigfaltigkeit empfänglich ist“.35 Zwar warf Mosel namentlich den italienischen Komponisten vor, ihre Arien ungeachtet des Affektgehalts ausnahmslos periodisch zu gestalten, und forderte in Abgrenzung davon, die achttaktige Periodik zu erweitern, wenn es das „Gefühl“ verlange.36 Faktisch bedeutete der Aufruf zu gelegentlicher Erweiterung jedoch ein prinzipielles Festhalten an der Periodik als musikalischem Formprinzip. Wie sehr sich Schubert selbst 1816 über die gattungsästhetische Differenz zwischen musikalischer Form in der Oper und musikalisierter Deklamation in der Ballade im Klaren gewesen sein dürfte, zeigen die Selbstzitate aus der Bürgschaft in der Bürg-

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Partsch und Oskar Pausch, 2. verbesserte Aufl., Wien etc. 1997, S. 79–105; Peter Gülke, „Die  Oper: Ambitionen und Katastrophen – anhand Fierrabras“, in: ebenda, S. 107–119.  Ignaz Franz von Mosel, Versuch einer Aesthetik des dramatischen Tonsatzes, Wien 1813, S. 15  (Hervorhebung original). Ebenda, S. 41 (Hervorhebung original). Ebenda, S. 66. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 18–19. Ebenda, S. 42.

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schaft.37 Die Übernahme kurzer melodischer Wendungen aus der Ballade zeitigte für die musikalische Form des Bühnenwerks keinerlei Konsequenzen. Aus der kleinteiligen Deklamation der Ballade herausgelöst, fügten sie sich nahtlos in die Architektur der Oper ein. Ganz im Gegenteil zu Brendels Konzept erfuhr damit bei Schubert die „auf die Spitze gestellte Subjectivität“ ausgerechnet bei der Überführung auf die Opernbühne ihre ästhetische Objektivierung.

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Zu  einer  detaillierten  Beschreibung  der  Selbstzitate  im  Opernfragment  der  Bürgschaft siehe Martin, „Schuberts Bürgschaften“ (Anm. 16), S. 78–79.

ITALIANITÀ BEI SCHUBERT Die Drei Gesänge für Bassstimme mit Klavier op. 83 (D 902) zwischen beruflichem Kalkül und Traditionsbewusstsein Klaus Pietschmann Italienische Stileinflüsse zählen sicherlich nicht zu den primären Eigenschaften, die man mit dem Œuvre Franz Schuberts in Verbindung bringt. Und doch ziehen sie sich beginnend mit den Übungsstücken, die aus dem Unterricht bei Salieri hervorgegangen sind, durch sein Schaffen und treten immer wieder punktuell, gänzlich unverbunden, aber sehr explizit hervor. Mitten in die ‚Jahre der Krise‘ fallen etwa die vier Canzonen nach Texten von Vittorelli und Metastasio, die im Januar 1820 ohne erkennbaren Anlass entstanden sind; Luigi Lablache, dem bedeutendsten Bassisten der 1820er Jahre, sind die effektvollen Drei Gesänge op. 83 (D 902) gewidmet, die – so unglaublich es erscheinen mag – während der Arbeit an der Winterreise entstanden sein müssen; und im Dezember 1827, nach der Komposition des Es-Dur-Trios, wurde zur Genesung von Rafael Kiesewetters Tochter die kleine Kantate Al par del ruscelletto aufgeführt. Die zeitliche Nähe dieser augenscheinlichen Petitessen zu bedeutenden Marksteinen des Schubertschen Schaffens mag sie wie Sedimente einer wirkmächtigen Komponistenkarriere erscheinen lassen, kaum mehr als ein Ausweis der Vielseitigkeit, aber auch der Konzession an den Massengeschmack, dem der finanziell stets knappe Musiker Tribut zu zollen hatte. In der späteren Stilisierung Schuberts hatten diese Ausflüge keinen Platz – schon gar nicht, wenn sie in die Nähe ‚Rossinischer Trivialität‘ abzugleiten schienen. So wurden vor allem die beiden Ouvertüren vom November 1817, denen Ferdinand Schubert den Beinamen „im italienischen Stile“ gab, durch Kreißle von Hellborn als beiläufige Rossini-Aemulatio gekennzeichnet: Schubert habe, durch das Wiener Rossini-Fieber dieser Jahre gereizt, binnen kürzester Zeit derlei in ähnlichem Stil niederzuschreiben angekündigt – und auch vermocht.1 Die jüngere Schubert-Forschung hat diesen Stücken gewisse Beachtung geschenkt und sie in den größeren Kontext von Schuberts Schaffen einzuordnen versucht. Insbesondere die Ouvertüren bildeten nicht zuletzt aufgrund der Untersuchungen Hans-Joachim Hinrichsens2 den Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit Schuberts kompositorischer ‚Italianità‘; „motivische Kleingliedrigkeit der The1 2

Heinrich Kreißle von Hellbronn, Franz Schubert. Eine biographische Skizze, Wien 1865, Reprint: Hildesheim etc., 1978, S. 129–130. Hans-Joachim  Hinrichsen,  „Schuberts  Ouvertüre  ‚im  italienischen  Stile‘  D-Dur  D  590  –  Druckfassung und Originalgestalt“, in: IFSI. Mitteilungen 5 (1990), S. 7–14, sowie ders., „Auf  dem  Weg  zur  ‚tondichterischen‘  Ouvertüre.  Die  kleineren  Orchesterwerke“,  in:  SchubertHandbuch, S. 513–547.

42

Klaus Pietschmann

menbildung und die ‚quadratische‘ Regelmäßigkeit der Perioden“ wurden nachfolgend etwa von Walther Dürr als Beispiele für Schuberts kompositorische ItalienRezeption benannt.3 Kaum gestellt wurde indes die Frage, was speziell die Gesangsstücke über Schuberts grundsätzliches Verhältnis zu der in Wien so überaus präsenten italienischen Musik- und Opernkultur aussagen. Es muss irritieren, dass sich Schubert, wenn auch nur punktuell, so explizit einem Repertoire zuwandte, das gerade in seiner engeren Umgebung auf Skepsis stieß, die in ihm primär den Repräsentanten einer neuen literarisch fundierten Liedkultur und Hoffnungsträger der deutschen Oper sah. Selbst opernaffinere Wiener Komponistenkollegen wie Franz Lachner oder Conradin Kreutzer exponierten sich nicht mit italienischen Kompositionen. Nachfolgend soll dieser vermeintlichen Querständigkeit von Schuberts Ausflügen in die Nähe der italienischen Oper an einem konkreten Fall nachgegangen werden, der heraussticht und für grundsätzliche Erwägungen besonders geeignet erscheint: den mit der Opuszahl 83 versehenen Drei Gesängen für Lablache von 1827, deren stilistische Nähe zu älteren und auch aktuellen Verfahren der italienischen Opernkomposition bereits verschiedentlich festgestellt wurde.4 Dabei wird die These zu vertreten sein, Schubert habe sich mit diesen Gesängen einerseits in eine spezifisch wienerische Tradition italienischer Opernkomposition einschreiben wollen, sie andererseits zugleich aus einem genau berechneten Kalkül heraus platziert, da er im Jahre 1827 allem Anschein nach eine Anstellung als Hoftheaterkapellmeister anstrebte, wie eine – freilich umstrittene – Episode nahelegt, die Schindler kolportierte. Um dieser Hypothese nachzugehen, sollen zunächst einige kurze Überlegungen zu Beethovens ähnlich gelagerter kompositorischer Italienrezeption angestellt und sodann die Situation an den Hoftheatern der Jahre 1826 und 1827 resümiert werden. Vor diesem Hintergrund werden dann die Drei Gesänge in ihrer Genese, Einbindung in Schuberts Schaffen sowie ihrer Faktur betrachtet und ihre Beziehung zum Widmungsträger darzulegen sein. Neben der konkreten Verortung von op. 83 in Schuberts beruflichen Plänen des Jahres 1827 ist es freilich das übergeordnete Ziel der Ausführungen, Schuberts Affinität zum italienischen Gesangsidiom in seinem Schaffensspektrum der letzten Jahre zu verorten, über dessen Spätwerkcharakter er sich selbst kaum bewusst gewesen sein dürfte. *** Die eingangs benannten Beispiele sind als direkte oder indirekte Resultate von Schuberts Unterricht bei Salieri zu sehen. Es dürfte sich um mehr als eine zufällige Koinzidenz handeln, dass sich schon der von Schubert so verehrte Beethoven dieser Ausbildung in der Vertonung italienischer Texte unterzogen hatte. Auch Beethoven 3 4

Walther Dürr, „Schubert in seiner Welt“, in: Schubert Handbuch, S. 1–76, hier S. 14. Vito Levi, „Le arie e ariette di Schubert su testo italiano“, in: Festschrift für Erich Schenk, Graz etc. 1962 (Studien zur Musikwissenschaft 25), S. 307–314; Walburga Litschauer, „Das WortTon-Verhältnis in den italienischen Liedern von Franz Schubert“, in: Wort und Ton im europäischen Raum. Gedenkschrift für Robert Schollum, Wien 1989, S. 115–132. Vgl. ferner die einleitenden Bemerkungen von Walther Dürr zu NGA IV:4b.

Italianità bei Schubert

43

hatte die zweifellos ambivalenten Erfahrungen mit dem Lehrer, die in der späteren, oft von nationalistischer Polemik gekennzeichneten Wahrnehmung als Deviation ohne Relevanz für Beethovens ‚eigentliche‘ Bedeutung erscheinen mussten, in einige ambitionierte, immerhin mit Opuszahl versehene Kompositionen münden lassen, so etwa das Terzett Tremate, empi, tremate op. 116. Es dokumentiert die Fähigkeit, auf die spezifischen Qualitäten führender Sänger im italienischen Repertoire der Hoftheater zu reagieren, sowohl zur Entstehungszeit 1803 als auch zur Zeit der Uraufführung 1814.5 Die enge zeitliche Verflechtung dieser Komposition mit dem Entstehungsprozess des Fidelio zeugt dabei von Beethovens strategischer Perspektive auf die besondere Wiener Situation, in der italienische und deutsche Oper in einer Weise nebeneinander existierten und sich institutionell durchdrangen wie in keiner anderen Opernmetropole: Führenden Ensemblemitgliedern passende Bravourstücke in ihrem bevorzugten italienischen Repertoire zu liefern, konnte angesichts von deren besonderem Einfluss auf die Spielplangestaltung auch für die Platzierung von deutschen Novitäten vorteilhaft sein. Über bloßes Kalkül hinaus zeugen diese und weitere Kompositionen mit Nähe zur italienischen Oper jedoch von einer Orientierung an dem großen Vorbild Mozart, dessen musiktheatrale Meisterschaft sich eben gleichermaßen im deutschen und italienischen Repertoire artikulierte. Eine solche Verbindung aus strategischen Überlegungen und emphatischen Zügen erscheint auch im Zusammenhang mit Schuberts ‚Italianità‘ nicht abwegig; allein in der engen Beziehung zu dem einstmals im italienischen wie deutschen Repertoire gleichermaßen gefeierten Johann Michael Vogl, den Beethoven bei der Komposition seines Terzetts op. 116 mit größter Wahrscheinlichkeit im Blick hatte, löst sich der scheinbare Widerspruch des Nebeneinanders von italienischen Gesängen op. 83 und Winterreise auf, da der ehemalige Hofoperist geradezu als Verkörperung einer ebenso pragmatischen wie auch ästhetisch überhöhten Verflechtung der unterschiedlichen Sphären gelten kann.6 *** Die Wiener Opernsituation hatte sich gegenüber der Zeit von Vogls Triumphen und Beethovens Opernambitionen in der Pacht-Ära Domenico Barbaias nicht grundsätzlich verändert. Noch immer rangen die Verfechter der deutschen Oper mit der besonderen Vorliebe von Teilen des Wiener Publikums für italienisches Repertoire, das allerdings durch das zwischenzeitlich entfachte Rossini-Fieber neuen Antrieb erhalten hatte. So bemerkte Conradin Kreutzer in einem Brief an Carl Friedrich Peters (Leipzig) vom 20. Februar 1827, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Entstehung von Schuberts Drei Gesängen op. 83: 5 6

Klaus Pietschmann, „Beethoven und die Wiener Hoftheater in den Jahren vor dem Fidelio“, in:  Festschrift für Hellmut Federhofer zum 100. Geburtstag, hrsg. von Axel Beer, Tutzing 2011  (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 45), S. 339–347. Die ausgewogenste Darstellung zu Vogl, die dessen gesamte Karriere würdigt, bietet nach wie vor Andreas Liess, Johann Michael Vogl. Hofoperist und Schubertsänger, Graz und Köln 1954.

44

Klaus Pietschmann „Ich habe Lust diesen Sommer eine italienische Oper zu componieren – da doch die Wiener gar so sehr an dem fremden hängen! – Mit der deutschen sind hier immer noch schlechte Auspicien. Der Pächter des Theaters – Barbaya – ist – italiano – der Administrator und Director desselben – Duport – est un françois! – was kann der Deutsche da hoffen?“7

Eine Beurteilung der Situation der Wiener Hoftheater während Barbaias Pacht fällt aufgrund der nach wie vor mangelhaften Aufarbeitung nicht leicht. Zwar ist die Aktenlage angesichts der Vermischung der Zuständigkeiten zwischen Pächter und Hoffinanzverwaltung kompliziert, allerdings zeigten die gründlichen Untersuchungen Elisabeth Grosseggers zum Zeitraum 1794 bis 1814,8 der auch die Pacht Peter von Brauns umfasst, dass hier durchaus mit präziseren Informationen zu rechnen ist.9 Bekannt ist, dass nach einer Krise mit Schließung der Hoftheater im Winter 1825/26 ein neuer Pachtvertrag mit Barbaia abgeschlossen und Ende April 1826 der Spielbetrieb wieder aufgenommen wurde. Der Impresario stieg damit endgültig zum mächtigsten Theatermann Europas auf, denn im selben Jahr übernahm er zusätzlich zu seiner schon bestehenden Impresa an den königlichen Theatern von Neapel auch die Leitung der Mailänder Scala. In den ersten Monaten wurde neben Ballett vorwiegend deutsches, französisches und italienisches Repertoire in deutscher Sprache gespielt, einzelne Aufführungen von Rossinis Tancredi auch bereits in der Originalsprache mit italienischer Besetzung.10 Zu den meistbeachteten Ereignissen zählten die Debüts der jungen Sopranistin Anna Schechner zunächst als Emmeline in Weigls Die Schweizer Familie und wenig später als Ninetta in Rossinis Diebischer Elster, wobei die Kritik besonders ihre idiomatischen Interpretationen lobte.11 Sie wanderte allerdings schon im Mai 1827 nach Berlin ab.

7

8 9

10 11

Vgl. Till Gerrit Waidelich, „Conradin Kreutzers Die beiden Figaro (Wien 1840). Anknüpfungen an ältere Muster und aktuelle Tendenzen der opéra ‚comique‘ und ‚buffa‘ bei der Fortsetzung  eines  bewährten  Sujets“,  in:  Albert Lortzing und die Konversationsoper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,  hrsg.  von  Irmlind  Capelle,  München  2004,  S.  173–214,  hier  S. 176. Elisabeth Grossegger, Das Burgtheater und sein Publikum, Bd. 2: Pächter und Publikum 1794– 1817, Wien 1989. Während  noch  Norman  McKay  davon  ausging,  dass  das  Kärntnerthortheater  1827  völlig  geschlossen gewesen sei (Elizabeth Norman McKay, Schubert’s Music for the Theatre, Tutzing  1991,  S.  296),  wird  in  der  NGA,  wohl  gestützt  auf  Hadamowskys  unpräzise  Darstellung  in  seiner Wiener Theatergeschichte, festgestellt, dass man „wegen eines Umbaus in der Zeit von  November 1826 bis April 1827 lediglich den kleinen Redoutensaal der Hofburg als Bühne“  genutzt habe (NGA II:17, S. XI, Anm. 12). Dieser diente zwar in der Tat für das Gastspiel einer  französischen Operntruppe von Hyacinth Price (Franz Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien 1988/21994, S. 346), allerdings wurde das Kärntnerthortheater gleichzeitig von den deutschen Operisten sowie ab Februar zusätzlich von einem italienischen Ensemble bespielt (Michael Jahn, Die Wiener Hofoper von 1810 bis 1836: Das Kärntnerthortheater als Hofoper, Wien 2007, S. 622ff.). Ebenda. „War diese in der Schweizerfamilie ganz deutsche Sängerin, welche die gemüthliche Tondichtung auch nicht durch einen willkürlichen Vorschlag verunzierte, so entfaltete sie hier die glänzendste Kunstausbildung der brillanten italienischen Schule.“ AMZ 28 (1826), Sp. 555.

Italianità bei Schubert

45

Ab Herbst kamen Aufführungen französischer Opern in der Originalsprache im Kleinen Redoutensaal hinzu, bevor am 20. Februar 1827 noch zusätzlich eine namhafte italienische Sängerequipe mit Pacinis Amazilia sowie etlichen weiteren italienischsprachigen Aufführungen den Spielplan ergänzte.12 Hier traten die renommiertesten Kräfte der Zeit auf, wobei Barbaia seine Position sicherlich zum Abschluss von günstigen Rahmenverträgen genutzt haben dürfte, bei denen die einträglichen Produktionen in Neapel und Mailand die weniger lukrativen, aber ehrenvollen Wiener Aufführungen mittrugen. Ungeachtet der verschiedenen Glanzpunkte sowie auch der erstaunlichen Breite des Angebots war die Auslastung sehr schlecht. Bereits drei Monate nach der Eröffnung berichtete die Allgemeine musikalische Zeitung im August 1826 von ersten Bemühungen Barbaias, den auf drei Jahre befristeten Pachtvertrag vorzeitig aufzulösen.13 Gelingen sollte dies allerdings erst zwei Jahre später: Ende April 1828 stellte Barbaia den Wiener Spielbetrieb ein, bevor dann erst wieder im Januar 1829 der neue Pächter, Graf Gallenberg, das Kärntnertortheater mit einem spektakulären Gastspiel der Pasta eröffnen konnte.14 Barbaias Bevollmächtigte in Wien waren der frühere Ballettmeister Louis Antoine Duport und dessen Assistent Carlo Balochino. Ungeachtet der weitgehenden Befugnisse dieser Leitung verblieben andere zentrale Ämter in bewährten Händen: So war Georg Friedrich Treitschke weiterhin Hoftheaterökonom, Georg von Hoffmann blieb Hoftheatersekretär, zu dessen Aufgaben auch die Anfertigung und Übersetzung von Libretti zählte, und das Burgtheater leiteten Moritz von Dietrichstein und Ignaz Franz von Mosel, die dort zwar nur für das Sprechtheater zuständig waren, jedoch ein anhaltendes Interesse an den Vorgängen im Opernbereich zeigten. Dietrichstein übte zusätzlich als Hofmusikgraf zwischen 1819 und 1826 die Oberaufsicht über die musikalischen Belange bei Hof aus, auf ihn folgte Carl Leonhard von Harrach. Zum künstlerischen Personal finden sich in der Literatur lediglich verstreute und zum Teil widersprüchliche Hinweise. Allerdings bietet eine Aufstellung in der Allgemeinen musikalischen Zeitung vom August 1826 einen guten Überblick über die Personalsituation im vorangegangenen Juni:15 Kapellmeister: Weigl, Gyrowetz, Kreutzer, Würfel, Krebs Musikdirektoren: Kalter, Hildebrand, Schindler Solo-Spieler: Mayseder (Violine), Merk (Violoncello), Heilingmayer (Harfe) Korrepetitor: Benesch Ohne Funktionsbezeichnung: Prévôt, Hr. Dirzka Chor: 80 Personen

12

13 14 15

Jahn, Die Wiener Hofoper von 1810 bis 1836 (Anm. 9), S. 24–25. Zu Barbaias erster Pachtperiode und ihrer Bedeutung für Schuberts Opernschaffen der frühen 1820er Jahre vgl. Thomas  A. Denny, „Schubert’s Fierrabras and Barbaja’s Opera Business“, in: Schubert: Perspektiven (2005), S. 19–45. AMZ 28 (1826), Sp. 561. Jahn, Die Wiener Hofoper von 1810 bis 1836 (Anm. 9), S. 25. AMZ 28 (1826), Sp. 561–562.

46

Klaus Pietschmann

Opernsängerinnen: Grünbaum, Waldmüller, Töpfermann, Schechner, Franchetti, Schröder, Uetz, Bondra, Heckermann, Dotti, Teimer, Dirzka Opernsänger: Cramolini, Schuster, Eichberger, Müller, Gottdank, Prinz, Forti, Preisinger, Fürst, Zeltner, Meier, Ruprecht, Dirzka, Röckel, Hasenhut 3 Ballettmeister Erste Tänzer: Rozier, Ferdinand, Stullmiller, Hullin, Taglioni (Vater u. Sohn), Briol, Fleury Solotänzerinnen: Rozier, Roland, Pierson, Heberle, Torelli, Saint Romain, Ramacini, Taglioni, Hasenhut, Abegg, Rabel, Schäffel Pantomimiker: Pitrot, Destefani, Greiner, Reyberger, Springer Bezogen auf Schuberts Interessen an den Hoftheatern sind die Angaben zur Besetzung der verschiedenen Kapellmeisterstellen besonders wertvoll, zumal hierzu in der Forschungsliteratur große Unstimmigkeiten zu verzeichnen sind. So zeigt sich, dass Josef Weigl zusätzlich zu seiner neuen Position als Vizehofkapellmeister auch Opernkapellmeister blieb, und sein anhaltender Einfluss spiegelt sich in der Eröffnung der Pachtperiode mit seiner Oper Die Jugend Peters des Großen. Während Adalbert Gyrowetz (eingestellt 1804) und Kreutzer (eingestellt 1822) weiterhin im Amt blieben, kam es auf den weiteren Positionen zu personellen Veränderungen. So schied der langjährige Opernkapellmeister Michael Umlauf 1825 aus, ebenso wie Julius Benedict, der auf Veranlassung Carl Maria von Webers seit 1823 an den Hoftheatern tätig gewesen war.16 Offensichtlich an ihrer Stelle wurden 1826 Karl August Krebs und Wenzel Würfel als 3. und 4. Kapellmeister eingestellt,17 Krebs allerdings wechselte bereits im April des Folgejahres 1827 an das Hamburgische Stadttheater.18 Sein Nachfolger wurde offenbar Adolf Müller, der bereits seit dem 1. Mai 1826 als Sänger am Kärntnertortheater engagiert gewesen war und am 24. März 1827 einen Vertrag als Kapellmeister erhielt.19 Allerdings muss nachfolgend auch Franz Lachner eine Kapellmeisterstelle an den Hoftheatern erhalten haben, denn in dieser Funktion wird er erstmals im August 1827 als Komponist zweier Einlagen zu Spohrs Faust erwähnt;20 da im Jahre 1827 keiner der übrigen Kapell16 17 18

19 20

Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 361. Deutsch weist darauf hin, auch Kreutzer sei 1825 abgegangen; vermutlich handelt es sich um eine Verwechslung mit Umlauf. In der AMZ 28 (1826), S. 315, die das deutsche Personal der neuen Pachtperiode vorstellte,  wurde nur Krebs als Vizekapellmeister der Unternehmung erwähnt. Johann  Wilhelm  Christern,  Carl Krebs, als Mensch, Componist und Dirigent: Eine biographisch-musikalische Studie, Hamburg und New York 1850, S. 20–21. Demnach habe Krebs nach dem 6. Juli 1826 in Wien die Erstaufführungen von Boieldieus Weiße Frau (mit Nanette Schechner) und Die umgeworfenen Wagen sowie von Aubers Der Maurer dirigiert. Walter Obermaier, Art. „Müller, Adolf sen.“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 12, 2004, Sp. 784– 788, hier Sp. 785 (Angabe ohne Beleg). AMZ  29  (1827),  S.  664.  In  der  Forschungsliteratur  wird  zumeist  das  Einstellungsjahr  1826  genannt, wohl zurückgehend auf W. Neumann (d. h. Arthur Friedrich Bussenius), Franz Lachner, Kassel 1856 (Die Componisten der neueren Zeit 39), S. 18–19. Der Passus bei Neumann  ist jedoch in vieler Hinsicht fehlerhaft, so dass auch dieser Angabe kein großes Gewicht zukommt. Andere Autoren datieren Lachners Einstellung (ebenfalls ohne Belege) auf das Jahr  1827, so z. B. Jahn, Die Wiener Hofoper von 1810 bis 1836 (Anm. 9), S. 41.

Italianità bei Schubert

47

meister ausgeschieden zu sein scheint, wurde für ihn offenbar eine zusätzliche Stelle geschaffen. Vor diesem Hintergrund erlangt ein Bericht Anton Schindlers gewisse Plausibilität, demzufolge man 1826 auf Vogls Fürsprache hin daran gedacht habe, Schubert als Nachfolger von Krebs „den Platz eines Novizen am Direktionspulte im kaiserlichen Opern-Theater nächst dem Kärntnertore“ zu übertragen.21 Die zur Tauglichkeitsprüfung gestellte Aufgabe, ein vorgegebenes Libretto Georg von Hoffmanns in kurzer Zeit zu vertonen, habe Schubert zwar zur Zufriedenheit bewältigt, allerdings sei er nicht bereit gewesen, Änderungswünsche der Schechner zu akzeptieren, habe die Partitur zugeschlagen und sei nach Hause gegangen. An dieser Darstellung des zum Fabulieren neigenden Schindler sind oft Zweifel geäußert worden, und tatsächlich folgt die Episode allzu deutlich den Topoi beliebter Musikermythen, wie sie in ähnlicher Weise auch über Beethoven zirkulierten. Dennoch erscheint sie im Kern angesichts der geschilderten personellen Situation an den Hoftheatern durchaus plausibel, sofern man Schindlers Hinweis auf die Regelung der Nachfolge Krebs ernst nimmt und seine Datierung (1826) auf das Jahr 1827 korrigiert. Die fragliche Prüfung müsste demnach vor dem Vertragsabschluss mit Müller am 24. März erfolgt sein. Denkbar wäre indes auch, dass in den nachfolgenden Wochen bis zum Abgang der Schechner im Mai ein Verfahren zur Besetzung einer zusätzlichen Kapellmeisterstelle stattfand, in dem dann Lachner seinen Freund Schubert ausstach. Dies würde auch erklären, dass die Begebenheit im Freundeskreis keinerlei Erwähnung fand, denn im gemeinsamen Umfeld wäre eine derartige Rivalität kaum offen thematisiert worden. *** Betrachtet man nun die Drei Gesänge op. 83 näher, so erweisen sie sich als ein zusätzliches Indiz dafür, dass Schubert im Frühjahr 1827 eine Anstellung als Opernvizekapellmeister anstrebte und diese Bewerbung planvoll verfolgte. Die Gesänge müssen spätestens Ende April 1827 fertiggestellt gewesen sein, bevor der italienische Bassist Luigi Lablache am 30. April den Erlaubnis-Schein für die an ihn gerichtete Widmung unterzeichnete.22 Das Erscheinen von Haslingers Druck wurde dann am 1. September in der Grätzer Zeitung angezeigt.23 Bislang tendierte man dazu, einen Kompositionsauftrag durch den gefeierten Bassisten anzunehmen und die Kompositionen demnach als bloße Gelegenheitsarbeiten einzustufen – ohne allerdings zu bedenken, dass ein solcher Auftrag an den im italienischen Repertoire kaum ausgewiesenen Komponisten höchst ungewöhnlich gewesen wäre und auch nichts darauf hindeutet, dass Lablache die Kompositionen in der Folge öffentlich zur Aufführung brachte, womit im Falle eines Auftrags 21 22 23

Anton Schindler, „Erinnerungen an Franz Schubert (in vier Abtheilungen)“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler 5 (1857), S. 75–77. Vgl. auch SchubertHandbuch, S. 60. Otto Erich Deutsch, Franz Schubert: Briefe und Schriften, Wien 41954, S. 166. Schubert. Dokumente 1817–1830,  S.  353.  Möglicherweise  war  Schuberts  Graz-Reise  ein  Grund für diese Anzeige, die noch zwei Wochen vor der ersten Wiener Anzeige erschien.

48

Klaus Pietschmann

wohl zu rechnen gewesen wäre. Naheliegender erscheint demgegenüber die Hypothese, Schubert habe die Komposition der Drei Gesänge und ihre Widmung an Lablache aus einem strategischen Kalkül heraus realisiert, das aus seinen Opernambitionen erwuchs. Luigi Lablache zählte zu den namhaftesten und vielseitigsten Bassisten seiner Zeit.24 Seit seinem Wien-Debüt in Rossinis Zelmira im Juni 1823 erfreute er sich insbesondere als Mozarts und Rossinis Figaro größter Beliebtheit und war bis zum April 1828 immer wieder an den Hoftheatern in insgesamt etwa 130 Aufführungen und 24 Rollen zu erleben (vgl. Tabelle). Damit zählte er zu den wichtigsten Stützen der Wiener Pachtperioden Barbaias. Er war auch an der schon erwähnten Premiere von Pacinis Amazilia am 20. Februar 1827 beteiligt, die Barbaias letzte italienische Stagione einleitete. Während der folgenden Monate blieb er in Wien, und neben den Auftritten im Kärntnerthortheater ist auch seine Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten für Beethoven bezeugt. Tabelle: Wiener Auftritte von Luigi Lablache Jahr

Monat Oper

Rolle

Anzahl Aufführungen

1823

6–8

1823

7–9

Carafa, Abufar

Abufar

5

Cimarosa, Il matrimonio segreto

Geronimo

6

1824 1825

7–12

Cimarosa, Il matrimonio segreto

Geronimo

13

1–3

Cimarosa, Il matrimonio segreto

Geronimo

4

1827

5–6

Cimarosa, Il matrimonio segreto

Geronimo

10

1827

3–5

Donizetti, L’ajo nell’imbarazzo

Gregorio Cordebono 7

1824

12

Fioravanti, Le cantatrici villane

Bucephalo

2

1825

1–2

Fioravanti, Le cantatrici villane

Bucephalo

3

1824

11

Fioravanti, Musicomania (Akademie)

1824

9

Generali, Le lagrime d’una vedova

Don Solitario

1

1825

3

Generali, Le lagrime d’una vedova

Don Solitario

1

1824

9

Mercadante, Doralice

Ubaldo

2

1824

7–12

Mercadante, Elisa e Claudio

Conte Arnoldo

10

1824

11

Mercadante, Il podestà di Burgos

Sinfonario

2

1825

1

Mercadante, Il podestà di Burgos

Sinfonario

1

1827

7–8

Mercadante, L’ultimo giorno di Pompei

Salustio

5

1828

4

Mercadante, L’ultimo giorno di Pompei

Salustio

4

1824

11

Mercadante, Le nozze di Telemaco ed Antiope

Ulisse

2

1824

8–12

Mozart, Le nozze di Figaro

Figaro

10

24

1

Zu  Lablache  vgl.  insbesondere  Clarissa  Lablache  Cheer,  The Great Lablache, Bloomington 2009.

49

Italianità bei Schubert 1825

1–2

Mozart, Le nozze di Figaro

Figaro

3

1827

2–7

Pacini, Amazilia

Cabana

7

1825

2–3

Paer, Agnese

Uberto

4

1827

4–7

Paer, Agnese

Uberto

7

1827

3

Rossini, Barbiere di Siviglia (Duett in Akademie Schoberlechner)

1823

4

Rossini, Il barbiere di Siviglia

Figaro

1

1827

8

Rossini, Il barbiere di Siviglia

Figaro

1

1828

3–4

Rossini, Il barbiere di Siviglia

Figaro

2

1825

3

Rossini, Il turco in Italia

Don Geronimo

2

1827

3–8

Rossini, L’inganno felice

Tarabotto

2

1823

5

Rossini, La Cenerentola

Dandini

1

1825

3

Rossini, La Cenerentola

Dandini

1

1823

7–8

Rossini, La donna del lago

Douglas

2

1825

1–3

Rossini, La gazza ladra

Fabrizio

2

1828

4

Rossini, La gazza ladra

Gottardo

2

1824

10

Rossini, Mosè in Egitto

Faraone

1

1827

6

Rossini, Mosè in Egitto

Faraone

1

1823

2

Rossini, Otello

Doge

2

1823

9

Rossini, Semiramide

Assur

1

1827

7

Rossini, Semiramide

Assur

1

1827

3

Rossini, Turco in Italia (Duett in der Akademie Schoberlechner)

1823

6–9

Rossini, Zelmira

Leucippo

2

1824

9

Rossini, Zelmira

Leucippo

1

1827

6

Rossini, Zelmira

Leucippo

1

1

1

Josef von Spaun zufolge sei Schubert von Lablaches Gesang „hingerissen“ gewesen.25 Ansonsten ist über beider Verhältnis wenig bekannt. Bereits im Jahr 1823 hatte Lablache die Gelegenheit gehabt, Schuberts Nachtigall bei einem nächtlichen Konzert zum Namenstag Barbaias zu hören.26 Nachfolgend boten sich mehrere Möglichkeiten des Kennenlernens, insbesondere wurde immer wieder auf die Abendveranstaltungen im Hause Kiesewetter verwiesen, an denen beide wiederholt teilnahmen. In der Dresdner Morgen-Zeitung hieß es im Februar 1828 dann ganz explizit: „Der wahrhaft große Lablache, der die deutsche Musik versteht und ehrt, und z. B. Schuberts Liedercompositionen sehr hoch schätzt, äußerte wiederholt seine Verwunderung über den Mangel alles Patriotismus in Wien und über die Lobeserhebungen, die hier dem Fremden selbst 25 26

Deutsch, Erinnerungen, S. 158. Schubert. Dokumente 1817–1830, S. 163.

50

Klaus Pietschmann dann zum Nachtheil des Einheimischen gedeihen, wenn dieses weit vorzüglicher ist, während alle Völker der Welt ihren Patriotismus laut aussprechen.“27

Es erscheint also durchaus stimmig, dass Lablache mit der Annahme der Widmung dem nur drei Jahre jüngeren Komponisten eine Gefälligkeit erweisen wollte. Aus der Perspektive Schuberts wiederum bot sich Lablache als wichtiger Fürsprecher bei seiner Bewerbung um die Kapellmeisterstelle geradezu an. Abgesehen von seiner enormen Popularität sprach hierfür insbesondere Lablaches enges Vertrauensverhältnis zu Barbaia,28 so dass der Bassist entgegen der Angabe bei Schindler für eine Empfehlung Schuberts wohl auch weit eher in Frage kommt als Vogl, der die Hoftheater fünf Jahre zuvor verlassen hatte und in keiner erkennbaren Verbindung mehr zu deren Leitung stand.29 Ungeachtet dieser persönlichen Komponente, die in der Widmung explizit gemacht wurde, lassen sich jedoch die Drei Gesänge bzw. speziell der dritte, Il modo di prender moglie, auch per se als eine Art Probearbeit interpretieren, die Schuberts Befähigung für die Aufgaben eines Opernkapellmeisters zu dokumentieren vermochte – verbunden jedoch mit einer Reverenz an die spezifische Wiener Tradition der italienischen Oper. Hierfür spricht allein die Wahl jeweils einer Arie aus Attilio regolo und Gioas re di Giuda, also zwei Wiener Libretti des ehemaligen Hofpoeten Pietro Metastasio. Dass die drei Texte zudem die Bereiche der Opera seria, des Oratoriums und der Opera buffa abdecken, könnte in dieser Hinsicht ebenfalls als programmatische Setzung verstanden werden, auch wenn der Druck die jeweilige Gattungszugehörigkeit ebensowenig explizit macht wie die konkrete Herkunft der Arien und es fraglich erscheinen muss, ob im Jahre 1827 ein breiteres Publikum die beiden ersten Arien mit Metastasio in Verbindung zu bringen vermochte; eine Zuordnung des anonymen dritten Arientextes ist bis heute nicht gelungen. Auch die kompositorische Anlage verrät ein deutliches Kalkül, denn unverkennbar wird der Versuch unternommen, einen Bogen von traditionellen zu aktuellen Schreibweisen der Opernkomposition zu schlagen. Wie bereits Walburga Litschauer feststellte, hat Schubert „den ersten Gesang […] als großzügig angelegte Da-Capo-Arie gestaltet“.30 Die Kenntnis der stilgerechten Ausführung wird dokumentiert, indem die Singstimme in der Wiederholung des A-Teils anfangs mit einigen notierten Verzierungen versehen wird. Auffällig ist die schlichte Klavierbegleitung, die sich konsequent darauf beschränkt, in Oktaven geführte Bassfiguren mit darüber liegenden repetierten Dreiklängen zu kombinieren. 27 28

29 30

Ebenda, S. 398. Von dem engen Einvernehmen zeugt etwa ein Brief vom 1. Juli 1824, in dem Lablache aus  Wien dem in Neapel weilenden Barbaia von diversen Intrigen berichtet, die die Unterminierung seiner zu dieser Zeit noch sehr erfolgreichen Tätigkeit zum Ziel hatten. Tatsächlich endete  Barbaias ursprünglich auf 12 Jahre veranschlagte erste Pacht im März des Folgejahres 1825.  Lablache Cheer, The Great Lablache (Anm. 24), S. 53–54. Nach Ablauf von Barbaias letzter Pacht im April 1828 trat Lablache nie wieder in Wien auf (ebenda, S. 592ff.). Liess, Johann Michael Vogl (Anm. 6), verzeichnet nach 1822 keinerlei Kontakte Vogls zu den Hoftheatern mehr. Litschauer,  „Das  Wort-Ton-Verhältnis  in  den  italienischen  Liedern  von  Franz  Schubert“  (Anm. 4), S. 126–127.

Italianità bei Schubert

51

Auf diese formal schulmäßige, insgesamt schlichte Eröffnung folgt mit „Il traditor deluso“ eine dramatische Szene, deren opernhafter Charakter sehr viel ausgeprägter ist. Die Begleitung ahmt durch Tremoli, Unisoni und andere Effekte einen Orchestersatz nach, während die Gesangsstimme durch eine markante Motivik hervortritt, die der affektgeladenen Situation angepasst ist. Die klare Periodik und die Einheitlichkeit der Gestaltungsmittel entsprechen allerdings nur noch sehr bedingt den Ausdrucksmitteln des Melodramma der 1820er Jahre und verweisen eher in die Generation Cimarosas oder Salieris. Dasselbe gilt für den zwar unkonventionellen, jedoch deutlich an traditierten Modellen orientierten formalen Aufbau. Die Dacapo-Form der Arie wird zunächst scheinbar befolgt, am Ende der (variierten) Wiederholung des A-Teils jedoch aufgebrochen, indem der Text des B-Teils wieder aufgegriffen und mit neuem musikalischem Material zu einer finalen Klimax geführt wird. Diese Mittel legen einen Zusammenhang der beiden Gesänge mit Schuberts Unterricht bei Salieri sehr nah, wie Walther Dürr vor allem aufgrund der Überlieferungslage vorgeschlagen hat: Beide Stücke existierten in früheren Bearbeitungen, die jedoch nur noch aus Erwähnungen in Auktionskatalogen bekannt sind.31 Für das dritte Stück, Il modo di prender moglie, sind dagegen keine älteren Vorstudien bekannt. Tatsächlich löst sich die Arie in vielerlei Hinsicht von den Modellen Salieris und orientiert sich an den Gestaltungsspektren der Opera buffa, wie sie auf den Wiener Bühnen der 1820er Jahre präsent waren. Im Gegensatz zu den anderen beiden Gesängen ist die Arie zudem deutlich auf den Widmungsträger Luigi Lablache zugeschnitten. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Wahl des Textes, der den Entschluss eines alten Hagestolz zum Inhalt hat, aus rein pekuniären Erwägungen heraus zu heiraten:

31

Orsù! non ci pensiamo, Coraggio e concludiamo, Al fin s’io prendo moglie, Sò ben perché lo fò.

Wohlan! und ohne Zagen Ich muß es einmal wagen, Muß schnell ein Weib erjagen, Warum? das weiß ich schon.

Lo fò per pagar i debiti, La prendo per contanti, Di dirlo, e di ripeterlo, Difficoltà non ho.

Ich tu’s, nun ich tu’s ob dem Gelde. Das ist’s, was mir noch fehlte, Ich sag es sans façon, Geld ist mein Schutzpatron.

Fra tanti modi e tanti Di prender moglie al mondo, Un modo più giocondo Del mio trovar non sò.

Von all den falschen Laffen, Die nach den Weibern gaffen, Der Kuckuck soll mich strafen, Ist ein jeder ein Wicht.

Vgl. Walther Dürr, in: NGA IV:4, kritischer Bericht, S. 63 bzw. 71.

52

Klaus Pietschmann Si prende per affetto, Si prende per rispetto, Si prende per consiglio, Si prende per puntiglio, Si prende per capriccio, È vero, si o nò?

Der nimmt ein Weib aus Liebe, Der andre aus andrem Triebe, Der, weil man’s ihm geraten, Der wegen Patronaten Der, weil sich’s schon verraten, Ist’s also? oder nicht?

Ed io per medicina Di tutti i mali miei Un poco di sposina Prendere non potrò?

Und ich für all die Schmerzen Im Beutel und im Herzen Soll nicht ein bißchen Weibchen Nehmen als Medizin?

Ho detto e’l ridico, Lo fò per li contanti, Lo fanno tanti e tanti Anch’ io lo farò.

Ich sag’ es laut und immer, Ich tu, was manche taten, Ich heurat die Dukaten, Das Weibchen laß ich zieh’n.

Die Struktur, bestehend aus sechs Settenario-Strophen mit abschließendem Verso tronco, ist typisch für die Opera buffa des späten 18. Jahrhunderts und korrespondiert insofern etwa auch mit der populären Auftrittsarie des Don Geronimo „Udite, tutti udite“ aus Il matrimonio segreto, Cimarosas erfolgreichster Oper für Wien. Auch inhaltlich sind Parallelen erkennbar: Zwar geht es bei Cimarosa nicht um Geronimos eigene Heiratsabsichten, sondern um entsprechende Pläne für seine Tochter; die niederen Beweggründe sind jedoch identisch. An diese Arie zu denken, liegt vor allem deshalb nah, weil die Partie des Geronimo zu Lablaches Wiener Paraderollen zählte. Zudem erinnert der für sich genommen eher unspezifische, eröffnende Quartsprung auf „Orsu“ an den markanten Arienbeginn bei Cimarosa. Weitere kompositorische Parallelen zu der ebenso raffinierten wie komischen Arienanlage Cimarosas sind jedoch nicht zu verzeichnen. Vielmehr weisen der ungewöhnliche 6/8-Takt und seine Handhabung merklich in die Richtung einer anderen Paraderolle Lablaches: Rossinis Figaro, dessen erste Cavatine „Largo al factotum“ in derselben Taktart steht. Auffällig sind vor allem die Analogien in der Gestaltung des Beginns. Rossini eröffnet das Vorspiel mit der scharfen Markierung des 6/8-Taktes mit akzentuierten, kreisenden Achtelbewegungen. Allein die beiden ersten Takte dürften genügt haben, um beim erfahrenen Hörer eine musikalische Spanien-Assoziation auszulösen, denn hierbei handelt es sich um typische Charakteristika des Fandango, der als musikalische Spanien-Chiffre in der Oper um 1800 weit verbreitet war.32 Bereits in Takt 6 wird dieser Effekt jedoch durch einen anderen konterkariert: Die aufsteigende Achtelfigur mündet überraschend in eine viermalige pointierte Bestätigung der Dominante, die die 6/8-Bewegung brüsk beendet und stattdessen ein Zweiermetrum markiert (Notenbeispiel 1).

32

Zur Verwendung des Fandango in der Oper um 1800 vgl. Klaus Pietschmann, „Die musikalische Wahrnehmung Spaniens in der deutschen Oper um 1800“, in: Von Spanien nach Deutschland und Weimar-Jena. Verdichtung der Kulturbeziehungen in der Goethezeit, hrsg. von Dietrich Briesemeister und Harald Wentzlaff-Eggebert, Heidelberg 2003 (Ereignis Weimar-Jena,  Kultur um 1800, Ästhetische Forschungen 3), S. 135–157.

53

Italianità bei Schubert

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Notenbeispiel 1: Gioachino Rossini, Il barbiere di Siviglia, Akt I, Nr. 2, Cavatina „Largo al factotum“ (Figaro), T. 1–7

Schubert greift Rossinis Eröffnung in seiner Vertonung auf, kehrt das Verfahren allerdings um: Die vier Akkorde werden an den Anfang gestellt und verschleiern die Taktart damit gleich zu Beginn, bevor erst mit dem Einsetzen der Singstimme die markante 6/8-Bewegung anhebt und dann in die Dominante geführt wird. Wie in Rossinis Vorspiel wird der Vorgang in der überraschend eingeführten Subdominantparallele wiederholt – die Rückkehr zur Tonika erfolgt dann erst in der nächsten Phrase, mit der Schubert zugleich die erste Textstrophe beschließt (Notenbeispiel 2). Allein diese Eröffnung macht deutlich, wie explizit sich Schubert auf Lablaches Paraderolle bezieht. Dies ist auch Heinrich Marschner aufgefallen, der in seiner Besprechung in der Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung feststellte: „Il modo di prender moglie ist zu sehr Nachahmung der ersten Arie des Rossinischen Barbiers, ohne ihr in Leichtigkeit, Glut, Effekt, ja in Genialität nur nahezukommen.“33 Marschners Kritik ist nachvollziehbar, denn im weiteren Verlauf beschränkt sich Schubert darauf, relativ gleichförmig am Text entlang zu komponieren. Allerdings demonstriert er durchaus die Beherrschung gängiger Parameter der Buffa-Komposition wie etwa des Parlandostils oder der beschleunigten Schluss-Stretta, in der frühere Textteile wieder aufgegriffen werden. Insofern wird mit der Arie keinesfalls eine Ebenbürtigkeit mit Rossini beansprucht, aber immerhin die Fähigkeit zur versierten Nachahmung dokumentiert. Mit Blick auf die möglicherweise anvisierte Kapellmeisterstelle wäre dies auch völlig ausreichend gewesen. Speziell mit dieser Arie ließ sich verdeutlichen, dass Schubert über eine zentrale Kernkompetenz des Opernkapellmeisters verfügte, nämlich die kurzfristige Abfassung einer maßgeschneiderten Gesangsnummer für einen gefeierten Interpreten – und das sogar im italienischen Repertoire, denn für 33

Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 501. Vgl. auch Litschauer, „Das Wort-Ton-Verhältnis in den italienischen Liedern von Franz Schubert“ (Anm. 4), S. 129.

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Klaus Pietschmann

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Notenbeispiel 2: Franz Schubert, Drei Gesänge für Bassstimme mit Klavier op. 83 (D 902), Nr. 3: „Il modo di prender moglie“, T. 1–19

Italianità bei Schubert

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eine deutschsprachige Produktion hatte Schubert bereits 1821 die beiden Einlagenummern zu Herolds Zauberglöckchen geliefert, die auch zur Aufführung gelangt waren.34 Von einem Ausgreifen in das populäre italienische Repertoire mag er sich einen besonderen Vorteil in der Konkurrenz mit anderen potentiellen Anwärtern versprochen haben, denn Einlagearien für die italienischen Gäste von den in Wien ansässigen Kapellmeistern scheint es nicht mehr gegeben zu haben, seit Weigl um 1800 eine Reihe solcher Zusätze für die italienischen Opern Mozarts und Mayrs geschrieben hatte – allerdings wären die Wiener Aufführungsmaterialien der 1820er Jahre diesbezüglich noch einer gründlicheren Auswertung zu unterziehen, als dies bislang erfolgt ist. Daher kann einstweilen auch nicht entschieden werden, ob aus Sicht der Verantwortlichen überhaupt noch ein Bedarf an solchen hausgemachten italienischen Einlagen bestand, oder ob diese nicht, wie im Falle von Pacinis Amazilia, allenfalls vom Komponisten selbst geliefert werden sollten.35 *** Eine abschließende Interpretation der Drei Gesänge op. 83 wird behutsam ausfallen müssen, da sie sich lediglich auf eine Indizienkette mit vielen Unbekannten stützen kann. Außer Zweifel steht lediglich, dass Schubert Il modo di prender moglie sehr präzise auf den Widmungsträger Luigi Lablache abstimmte, indem er charakteristische Elemente von dessen Paraderollen gezielt aufgriff. Ob die Komposition als eine Art Probearbeit im Zusammenhang mit seiner – freilich nicht zweifelsfrei belegbaren – Bewerbung um eine Stelle als Opernvizekapellmeister im Frühjahr 1827 angesehen werden kann, muss dagegen Vermutung bleiben. Sollte dieser Zusammenhang bestanden haben, so bleibt freilich die Frage nach der Veröffentlichung bei Haslinger, die ja realisiert wurde, obwohl Schubert keine Anstellung an den Hoftheatern erhielt. Hier wäre vor allem der schon angesprochene stilistische Bogen zu nennen, der von der metastasianischen Oper zur Opera buffa Rossinis geschlagen wird und den Schubert sicherlich als Ausweis kompositorischer Vielseitigkeit verstanden wissen wollte – ganz unabhängig vom Widmungsträger und den Hoftheatern, zu denen die Metastasio-Vertonungen keine Bezüge aufweisen. Schubert und sein Verleger mögen hier ein neues Marktsegment erprobt haben, denn neben populären Einzelnummern mit Klavierbegleitung aus dem aktuellen Hoftheater-Repertoire gab es keinerlei Parallelen zu Schuberts Opus 83. Gleichzeitig boten die Widmung und das dritte Stück durchaus einen sehr direkten Bezug zum aktuellen Hoftheaterspielplan, allerdings in deutlicher Abgrenzung zu den Ariensammlungen.36 Als Adressaten wird man sich jenes opernaffine 34 35

36

Vgl. NGA II:18. Vgl. Thomas  G.  Kaufman,  „Giovanni Pacini’s  Reception and  Fortune  outside  Italy“, in: Intorno a Giovanni Pacini, hrsg. von Marco Capra, Pisa 2003, S. 47–66, hier S. 50. Aufführungsmaterialien zu dieser auf zwei Akte erweiterten Fassung des Einakters scheinen sich, zumindest in Wien, nicht erhalten zu haben; vgl. Franz Hadamowsky, Die Wiener Hoftheater (Staatstheater). Ein Verzeichnis der aufgeführten und eingereichten Stücke mit Bestandsnachweisen und Aufführungsdaten, Teil 2, Wien 1975, S. 15. Auffällig  ist  in  diesem  Zusammenhang,  dass  in  unmittelbarer  zeitlicher  Nachbarschaft  zu 

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Klaus Pietschmann

Publikum vorzustellen haben, über das der anonyme Wien-Berichterstatter der Allgemeinen Musikzeitung im fraglichen Jahr 1827 klagte: „In allen häuslichen Zirkeln wird immer nur Rossini, Mercadante, Caraffa, Pacini et Comp. getrillert, gegirrt und gestöhnt; ernst gehaltene Instrumentalsätze solide[r] Meister haben sogar das Concilium abeundi erhalten, und werden nur sub conditione sine qua non tolerirt, wenn sie mit Anklängen des vergötterten Idols durchspickt und von diesem gleicher, pikant frivoler Natur sind.“37

Die Gesänge erfuhren nur ein durchwachsenes Echo bei den Rezensenten, keine Nachfolger in Schuberts Schaffen und ebensowenig eine nennenswerte Rezeption. Man geht daher wohl nicht zu weit, wenn man dieses Experiment als gescheitert bezeichnet. Dass es unternommen wurde – ob mit berufsstrategischem Kalkül oder nicht –, wirft jedoch ein interessantes Licht auf Schuberts kompositorisches Selbstverständnis am Ende seines Lebens. Es dokumentiert die auch bei Beethoven anzutreffende Auffassung, dass die idiomatische Adaption traditioneller und aktueller Schreibweisen der italienischen Oper ebenso zu den Kernkompetenzen eines Komponisten von Rang zählt wie die Fähigkeit, auf das Stimmpotential und die spezifische Fama eines italienischen Gesangsstars zu reagieren. ‚Italianità‘ gerät also zur Eigenschaft eines vollwertigen Komponisten – ein weit ins 18. Jahrhundert zurückweisender Anspruch, der auch noch den späten Schubert eng mit der Wiener Klassik verbindet und in seinem Opus 83 vielleicht zum letzten Mal überhaupt artikuliert wurde.

37

op. 83 noch ein weiterer, zwar anders gearteter, für Schubert aber ebenso ungewöhnlicher Rekurs auf das aktuelle Repertoire der Hoftheater zu beobachten ist: Etwa zeitgleich erschien als  op. 82 ebenfalls bei Haslinger Schuberts einziger Variationszyklus über die Melodie aus einer  Repertoireoper,  nämlich  Herolds  Marie,  die  ihre Wiener  Erstaufführung  im  Dezember  1826  erlebt hatte und sich angesichts der recht häufigen Wiederholungen offenbar großer Beliebtheit  erfreute (vgl. Hadamowsky, Die Wiener Hoftheater (Staatstheater) [Anm. 37], S. 288). Solche Variationszyklen verkauften sich bekanntlich seit Joseph Gelineks zahllosen Beiträgen zu diesem Genre nicht nur in Wien sehr gut. Vgl. zu diesem Phänomen Axel Beer, „Die Oper daheim.  Variationen als Rezeptionsform“, in: Jenseits der Bühne. Bearbeitungs- und Rezeptionsformen der Oper im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Joachim Hinrichsen und Klaus Pietschmann, Kassel etc. 2011 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung 15), S. 37–47. AMZ 1 (1827), Sp. 284.

DIE „SEELENVOLLE WEISE“ ALS POETIK DES MUSIKALISCHEN Erinnerung und Gegenwart im Lied vom Wolkenmädchen Laurenz Lütteken AUSGANGSPUNKT Der zweite Akt von Franz von Schobers und Franz Schuberts Oper Alfonso und Estrella wird mit einer eigenartigen Szene eröffnet. Sie spielt in jenem Gebirge, welches das idyllische Tal des gestürzten Königs Froila von der Außenwelt abschirmt. Offenbar befinden sich dort allein Froila und sein eigener Sohn Alfonso, der von seiner Abkunft nichts weiß. Der Akt beginnt mit einem G-Dur-Andante con moto, einer Orchestereinleitung, die als instrumentatorische Besonderheit – zum ersten und einzigen Mal in der Oper – eine Harfe aufweist. Nach der Einleitung folgt ein Accompagnato-Rezitativ. Alfonso bittet seinen Vater, das „schöne Lied vom Wolkenmädchen“ anzustimmen. Froila ist der Ansicht, sein Sohn sei mittlerweile in der Lage, es selbst zu singen. Alfonso jedoch verneint, es fehlten ihm noch „die Kraft“ sowie die „seelenvolle Weise“ des Vaters.1 So singt der König Froila das Lied selbst. Diese außergewöhnliche Szene hat in der Forschung nur gelegentlich Beachtung gefunden.2 Um sie genauer verstehen zu können, erscheint es zunächst notwendig, sich ihre Position in der Handlung zu vergegenwärtigen. Das Hauptproblem bei einer solchen Bestandsaufnahme liegt zweifellos in der Quellenkenntnis, die nur auf der Partitur beruht; diese enthält, wie üblich, kaum Regieanweisungen

1 2

Grundlage aller Zitate ist Franz Schubert, Alfonso und Estrella, NGA II:6, hrsg. von Walther Dürr, 3 Bde., 1994. Einzelnachweise werden nicht gegeben. Vgl. v. a. Till Gerrit Waidelich, Franz Schubert: „Alfonso und Estrella“. Eine frühe durchkomponierte deutsche Oper. Geschichte und Analyse, Tutzing 1991 (Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 7), S. 40–41; zum Werk generell v. a. Thomas A. Denny,  „Archaic and Contemporary Aspects of Schubert’s Alfonso und Estrella“, in: Eighteenth Century Music in Theory and Practice. Essays in Honor of Alfred Mann,  hrsg.  von  Mary Ann  Parker,  Stuyvesant  1994  (Festschrift  Series  13),  S.  241–261;  Helga  Lühning,  „Schubert  als  Dramatiker: Alfonso und Estrella. Vorurteile, Mißverständnisse und einige Anregungen zu einer  Neuorientierung“,  in:  Schubert und das Biedermeier. Beiträge zur Musik des frühen 19. Jahrhunderts. Festschrift für Walther Dürr zum 70. Geburtstag, hrsg. von Michael Kube  u. a., Kassel etc. 2002, S. 25–43; Friedrich Dieckmann, „Die Überlistung der Konterrevolution.  Rhetorik und Realität in Schuberts Oper Alfonso und Estrella“, in: ders., Gespaltene Welt und ein liebendes Paar. Oper als Gleichnis, Frankfurt am Main 1999, S. 168–185.

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Laurenz Lütteken

und weder Zeit- noch Schauplatzangaben.3 Solche lassen sich also nur mittelbar rekonstruieren. Ort der Handlung ist das Königreich León im Nordwesten Spaniens, genauer dessen Hauptstadt Oviedo, zur Zeit der Reconquista am Ende des achten Jahrhunderts. Der erste Akt beginnt mit einer idyllischen Szene in einem verlassenen Tal. Dort huldigen die Bewohner Froila, dem gestürzten Regenten von León, der dort vor zwanzig Jahren Zuflucht gefunden hat. Das Königreich wird seitdem vom Tyrannen Mauregato regiert. Auf Wunsch der Talbewohner ernennt Froila seinen Sohn Alfonso, dem seine königliche Abstammung unbekannt ist, zu ihrem neuen Herrscher. Zum Zeichen der Bekräftigung übergibt Froila ihm die Herrschaftsinsignien, Horn und Schwert. Alfonso will daraufhin sofort in die Welt ziehen, doch wird ihm dies von Froila verwehrt; er müsse seine Kräfte für den Kampf gegen Mauregato sammeln und könne das Tal, so verlange es das Gesetz, nicht verlassen. Alfonso erhält zur Mahnung aus dem Kronschatz noch eine sagenumwobene Kette. Zweites Bild: Mauregatos Schloss in Oviedo. Die Hofgesellschaft bereitet sich auf die Jagd vor. Estrella, Mauregatos Tochter, verharrt in düsterer Melancholie, die erst durch die Ankunft von Adolfo, dem Feldherrn von Mauregato unterbrochen wird. Adolfo hat erfolgreich gegen die Mauren gekämpft und begehrt nun Estrellas Hand. Sie weist ihn ab, weil sie erkennt, dass sie nur Mittel zum Zweck des Thrones ist, woraufhin Adolfo erklärt, sie notfalls mit Gewalt zu zwingen. Mauregato erscheint mit den Kriegern, rühmt Adolfos Heldentaten und gewährt ihm eine Bitte. Dieser verlangt Estrella, doch Mauregato erkennt deren Weigerung sowie die Ursachen. Da er den Willen seiner Tochter nicht übergehen will, andererseits bei Adolfo im Wort steht, stellt er eine Bedingung: Nur der könne Estrella heiraten, der ihm die Kette Eurichs bringe. Adolfo durchschaut das Spiel und schwört Rache. Das erste Bild des zweiten Aktes spielt aber in jenem Gebirge, das Froilas Tal von der Außenwelt trennt. Dort singt Froila auf Bitten seines Sohnes Alfonso das Lied vom Wolkenmädchen. Während Froila den Ort verläßt, um die Kranken des Tals zu pflegen, bleibt Alfonso allein zurück. Er geht in den Wald und trifft dort auf Estrella, die sich von der Jagdgesellschaft entfernt und verirrt hat. Estrella und Alfonso erkennen sofort, ohne um die Gründe zu wissen, ihre Liebe. Im Augenblick der Trennung übergibt Alfonso, der das Tal ja nicht verlassen darf, Estrella zum Andenken die Kette Eurichs. Zweites Bild: geheimer Ort in Oviedo. Adolfo sinnt nach wie vor auf Rache und versammelt seine Verschwörer um sich. Denen erklärt er, dass Mauregato nur durch einen Putsch zur Regentschaft gelangt sei und daher keinerlei Anspruch auf den Thron habe. Das dritte Bild spielt wieder im Schloss Mauregatos, der seine vermisste Tochter tot glaubt. Als sie überraschend erscheint, erkennt er ihre Kette als die Kette Eurichs und erklärt ihr, dass diese das Pfand für ihre Hand sei. Estrella begreift die wundersame Fügung und bekennt, dass sie den Unbekannten, den sie im Wald getroffen habe, heiraten möchte. Doch da rücken die Verräter heran und stürmen auf das Schloss. Mauregato stürzt an der Spitze seiner Männer hinaus zum Kampf. 3

Zur  Überlieferung  vgl.  v. a. Waidelich,  Franz Schubert: Alfonso und Estrella (Anm. 2), v. a. S. 93ff.

Die „seelenvolle Weise“ als Poetik des Musikalischen

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Im dritten Akt erfolgt die Zuspitzung. Der Bürgerkrieg, aus dem Adolfo siegreich hervorzugehen scheint, hat das Land überzogen und nun auch Froilas Tal erreicht. Aus der Mauerschau berichten ein Jüngling und ein Mädchen von Mord und Verwüstung, die Bewohner fliehen. Adolfo hat Estrella entführt, und die nochmalige Annäherung, welche die Königstochter wiederum verweigert, mündet in einen brutalen Vergewaltigungsversuch. Im letzten Moment erscheint, alarmiert durch Estrellas Hilfe-Schreie, Alfonso mit seinen Mannen und nimmt den überwältigten Adolfo gefangen. Alfonso und Estrella erkennen sich; Estrella, nicht ahnend, dass ihr Vater denjenigen von Alfonso ins Unglück gestürzt hat, bittet ihren Verlobten, Mauregato bei dem immer aussichtsloser scheinenden Kampf beizustehen. Überraschend erscheint Froila, er begreift die Situation, schweigt jedoch und zwingt sich, seinen Hass zu besiegen. Während Alfonso in den Krieg zieht, bleibt Estrella, die Tochter seines Feindes, bei ihm. Zweites Bild: wieder in Froilas Tal. Mauregato ist gestürzt und hat sich in jenes Tal verirrt, das einst die Zuflucht Froilas vor Mauregato war. Mauregato erkennt seinen Rivalen und hält ihn für einen Geist, doch Froila gibt sich zu erkennen und lässt Gnade walten. Während Estrella und Mauregato ihr Wiedersehen besingen, kehrt Alfonso siegreich zurück; die Verschwörung ist niedergeschlagen. Estrella und Alfonso werden zu Eheleuten erklärt, Mauregato überlässt dem rechtmäßigen Regenten Froila den Thron. Doch dieser tritt zu Gunsten seines Sohnes zurück, Adolfo wird begnadigt. Neues Königspaar sind Alfonso und Estrella. In dieser symmetrisch angelegten Konstellation bildet der zweite Akt gewissermaßen die Scharnierstelle. Denn mit der geheimnisvollen Begegnung zwischen Alfonso und Estrella – Alfonso singt spontan: „Schon deine bloße Nähe / Beseligt dieses Herz“ – erfährt die Handlung nicht nur eine Wende, sie kommt im eigentlichen Sinne erst in Gang, wird durch sie doch ein langjähriger, bewegungsloser Zustand ungerechter Verhältnisse beendet. Umso auffälliger ist die Tatsache, dass diese Begegnung nicht dramaturgisch legitimiert wird. Sie bricht aber auch nicht plötzlich herein. Ihr geht vielmehr das vom Vater gesungene Lied voraus. In diesem Lied wird die Begegnung präfiguriert – dabei die Gefahr beschwörend, die ihr innewohnt. Es ist also das Lied nicht, wie im zeitgenössischen Roman, gleichsam in die Handlung eingebettet, es setzt sie eigentlich erst in Gang. Darauf spielt Alfonso ausdrücklich, jedoch fragend an, als er Estrella erblickt: „Was kühn das Lied gesungen, / Seh ich verwirklicht hier?“ Umgekehrt existiert für das Lied selbst kein erkennbarer dramatischer Kontext, ihm kommt nicht einmal eine klare Funktion zu. Mit ihm wird der Akt schlagartig eröffnet, und warum Vater und Sohn, Froila und Alfonso, sich überhaupt an diesem Ort, der Grenze ihres Tals, befinden und was sie dort eigentlich suchen, das bleibt ebenso ungenannt und rätselhaft wie die anschließende Begegnung zwischen Alfonso und Estrella.

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DRAMATURGIE DES GESANGS Doch erschöpfen sich die Konnotationen der Szene damit nicht. Schober hat an dieser Stelle eine achtstrophige Ballade eingeschoben. Sie handelt von einem Jäger, dem träumend eine schöne Frauengestalt erscheint, der er auf einen Berggipfel nachsteigt. Als er sie umarmen will – der Dichter wechselt in der fünften Strophe bezeichnenderweise ins Präsens –, zerbersten die Traumbilder, er stürzt vom Felsen zu Tode. Der Text präsentiert, vergleichbar der 1801 veröffentlichten Loreley-Ballade Clemens von Brentanos (Zu Bacharach am Rheine), keinen alten, sondern einen neuen, einen erfundenen, einen vorsätzlich entrückten Mythos.4 Dieser Umstand wird jedoch nicht verborgen, er wird regelrecht demonstriert. Der Gesang ereignet sich nicht bloß auf der Bühne, er wird dort sogar als Gesang vorgeführt. Das Vorspiel, das den Akt eröffnet, mündet nicht gleich in das Lied, sondern in den rezitativischen Dialog mit der Aufforderung zum Gesang: „O sing mir, Vater, noch einmal“. Damit wird das Singen zum Vorsingen, der bittende Alfonso zum Zuhörer. In der Szene zwischen Jason, Kreusa und Medea aus dem zweiten Akt von Grillparzers Medea, dem Herzstück der Trilogie Das goldene Vließ, uraufgeführt wenige Monate vor Vollendung des zweiten Aktes von Alfonso und Estrella, wird dieser Moment des erinnernden Vor-Singens auf identische Weise beschworen, wendet sich Jason doch an Kreusa mit den Worten: „Nimm du die Leier und sing mir das Lied / Und bann’ den Dämon, der mich würgend quält.“5 Dieser Konstellation entspricht der kurze, reflexive Austausch über die Voraussetzungen zu solchem Gesang, es sind „Kraft“ und „seelenvolle Weise“. Die Aufforderung Froilas: „So horche denn“, markiert daher das Folgende nicht als eine logische dramatische Begebenheit, sondern als ausdrückliche, kontextfreie Bekundung. Mit dem von Froila verwendeten Wort ‚horchen‘ wird diese Konstellation hervorgehoben, ist damit doch das konzentrierte, hingebungsvolle Zuhören gemeint, das ahnungsvolle Lauschen in die Ferne, der Wille, Verborgenes aufzuspüren. In ähnlicher Weise benennt dies die Prinzessin Julia in Hoffmanns gleichzeitig veröffentlichtem Kater Murr: „Horche doch nur, wie das ferne Lied so tröstend zu uns herüberhallt!“6 Die ausdrücklich performative Situation, in der es, auf der Bühne, einen Sänger – Froila – und einen Zuhörer – Alfonso – gibt, dient folglich dazu, das Lied als Lied vorzuführen. Es handelt sich um eine Aufführung – in jenen vielfältigen Brechungen, die durch diese Konstellation heraufbeschworen werden. Der Rahmen dieser Aufführung, eine archaisch-idyllische Landschaft, sowie ihre Form – es handelt sich um memorierten, vom Augenblick abhängigen Gesang 4 5 6

Vgl. Werner Bellmann, „Brentanos Lore Lay-Ballade und der antike Echo-Mythos“, in: Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift 1978, hrsg. von Detlev Lüders, Tübingen 1980 (Reihe der Schriften 24), S. 1–9. Franz Grillparzer, Das goldene Vließ, Medea, 2. Akt, Vers 918/19, hier zitiert nach: ders., Dramen 1817–1828, hrsg. von Helmut Bachmeier, Frankfurt am Main 1986 (Franz Grillparzer. Werke in sechs Bänden 2), S. 339. E. T. A. Hoffmann, Lebensansichten des Katers Murrs, hier zitiert nach: ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. von Hartmut Steinecke und Gerhard Allroggen, Bd. 5, Frankfurt am Main 1992, S. 348.

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ohne textuelle Grundlage – evozieren eine Ur-Situation des Singens. Im späteren 18. Jahrhundert, vor allem bei Herder, ist das Singen als eine affektive Ur-Äußerung des Menschen gedeutet worden, hervorgegangen aus einer ersten, sich Ausdruck verschaffenden seelischen Erschütterung. Schon in den 1774 zur Veröffentlichung geplanten Alten Volksliedern wollte Herder, anknüpfend an seine Sprachursprungs-Theorie, eine Auffassung des Singens entwerfen, in der sich Affekt und melodische Hervorbringung im Akt des Singens überblenden.7 Auch wenn damit, in Abgrenzung vor allem von Rameau, der Primat der Melodie über der Harmonie begründet werden sollte, so ließ er doch keinen Zweifel daran, dass in der eigenen Gegenwart ein solcher Gesang nicht einfach rekonstituiert, sondern allenfalls erinnernd heraufbeschworen werden könne. Es scheint, dass die Lieder im Volkston, die Johann Abraham Peter Schulz 1782 veröffentlicht hat, genau diesen Schritt der erinnernden Vergegenwärtigung tun wollten.8 Bedenkt man diesen Hintergrund, so erscheint das Lied vom Wolkenmädchen, also die ausdrückliche Vorführung des Singens als Gesang, wie ein Reflex solcher Brechungsgrade: Der ursprüngliche Gesang existiert allein in der Erinnerung, vergleichbar der archaischen Landschaft, die allein als Ahnung, als Bühnenlandschaft gegenwärtig sein kann. Diese Vorführung, diese Aufführung erweist sich daher als Vergegenwärtigung und als Entrückung zugleich, was Alfonso mit seinem abschließenden Hinweis auf das Performative der Situation bekräftigt: „Wie rühret mich dein herrlicher Gesang“. Dieser Habitus bestimmt auch Schuberts Vertonung. Das Lied selbst wird gerahmt von Vor- und Nachspiel, die performative Situation erfährt auf diese Weise eine Bestätigung, die sich jedoch vom Habitus einer Arie grundlegend unterscheidet (vgl. Tabelle). Der Komponist übernimmt die Achtteiligkeit von Schobers Gedicht, doch der anfängliche Eindruck, es könne ein variiertes Strophenlied folgen, unterstützt von der vier Strophen lang durchgehaltenen Wiederholung jeweils des letzten Verses, wird ab der dritten Strophe immer fraglicher, immer unschärfer. Schließlich, in den Teilen 5–8, verschiebt sich die musikalische Gliederung gegen die poetische. Um den Zäsuren gegen den Strophensinn Nachdruck zu verleihen, bedient sich der Komponist des stärksten Zäsurmittels, er notiert Doppelstriche. Diese Destabilisierung einer naheliegenden musikalischen Gliederung korrespondiert nicht bloß vordergründig mit der gefahrvollen Traumszenerie des Textes, sondern in ihr wird die Spannung zwischen der theatralischen Vorführung des Gesangs und der dennoch, vorsätzlich von ihm ausgelösten affektiven Wirkung kompositorisch regelrecht abgebildet. Die Erinnerung an den ursprünglichen, an den archai7

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Johann Gottfried Herder, Alte Volkslieder, in: ders., Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen, hrsg. von Ulrich Gaier, Frankfurt am Main 1990 (Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden 3 / Bibliothek deutscher Klassiker 60), S. 11–68 [Erstausgabe: geplant Riga 1774, jedoch zurückgezogen]. Johann Abraham Peter Schulz, Lieder im Volkston, Leipzig 1782; zu diesem Kontext vgl. vom  Verfasser,  „‚Es  herrscht  durchaus  die  simpelste  und  schönste  Harmonie‘.  Zur Typologie  der  musikalischen Idylle“, in: Johann Heinrich Voß (1751–1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994, hrsg. von Frank Baudach und Günter Häntzschel, Eutin 1997 (Eutiner Forschungen 5), S. 251–273.

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schen Gesang soll offenbar dessen Wirklichkeit verändern – und damit, gleichsam im nächsten Schritt, die Wirklichkeit des Menschen selbst. In den Worten, mit denen Alfonso die Aufführung beendet, erfährt dieser Wandel eine Bestätigung: Der Gesang „macht mir die gewohnte Nähe, die Felsenklüfte und den Wald, auf einmal neu und wunderbar.“ Anders als in Herders Vorstellung der bloß erinnernden Vergegenwärtigung, die zwar in die Jetztzeit einzubrechen und diese produktiv zu bewegen vermag, aber dennoch neben ihr, also nicht wirklich in ihr steht, soll der lyrische Gesang in der Auffassung Schobers und Schuberts tatsächlich in die Wirklichkeit eindringen, mit ihr verschmelzen – um sie dann zu verändern. Er legt in einem Akt plötzlicher Enthüllung – „auf einmal“ – Verborgenes frei. Schubert thematisiert diese Plötzlichkeit ausdrücklich. Der entscheidende Wandel der Erkenntnis im Gedicht („angedonnert bleibt er stehen“) wird mit sforzatissimo und plötzlicher Rückung nach C-Dur hervorgehoben – gerahmt von Doppelstrichen und Generalpausen, den einzigen des Liedes. Die damit eintretende Veränderung zeigt sich in der Transformation des Vorspiels im Nachspiel. Während anfangs zwar der Duktus zwischen G-Dur und e-Moll schwankt, die Grundtonart aber durch die klare Schluss-Kadenz nicht in Frage gestellt wird, wird diese Gewissheit im Nachspiel aufgehoben. Die Mollparallele ist nun verschwunden, doch verliert G-Dur durch das mehrfache Pendeln zum verminderten Dominantseptnonakkord in der Schlusswendung seine Stabilität. Nach dem Lied ist die Ausgangstonart in dem Maße ein andere, wie sich für Alfonso auf der Bühne die Natur verändert hat; die „gewohnte Nähe“ hat das Vertraute verloren. Gleichzeitig wird die für das spätere 18. Jahrhundert so zentrale Debatte über den Primat der Melodie auf spektakuläre Weise gelöst: Die „seelenvolle Weise“ ereignet sich nicht mehr als Melodie zur Begleitung, sondern als neue, unlösbare Interaktion von Melodie und Harmonie. Beide sind, wie die Wirklichkeit, die auf diese Weise besungen wird, in einem derartigen Gesang nicht mehr dieselben, die Durchdringung macht sie als ästhetische Erfahrung „auf einmal neu und wunderbar“. Es handelt sich also um eine komplexe Verflechtung der Wirkungen von Gesang mit seiner eigenen Beschaffenheit. Es bedingt nicht mehr das eine das andere, sondern es werden die Grenzen im Vollzug des Singens unscharf. DIE GESTALT DES BARDEN Demnach ist die Szene durchdrungen von Verweisen, die ausdrückliche Geltung beanspruchen und sich doch, in den bewussten Mehrdeutigkeiten, wieder verbergen. Besonders deutlich lässt sich dies an der zu Beginn der Szene so demonstrativ eingesetzten Harfe erkennen. Auch wenn mögliche Regiebemerkungen Schobers nicht erhalten sind, so erscheint es dennoch unwahrscheinlich, dass Froila auf der Bühne tatsächlich eine Harfe halten soll. Der ertönende Harfenklang kann daher nicht als Abbild einer Bühnensituation gelten – wie später etwa in Wagners Tannhäuser –, sondern er ist eine Chiffre mit einem weitgespannten Feld von Bedeutun-

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gen.9 Der archaische Gesang bedarf, so eine verbreitete Auffassung um 1800, der Harfe, nicht allein, weil sie, in Analogie zur Harfe König Davids, das Instrument des lyrischen Dichters ist. Vielmehr war sie seit dem mittleren 18. Jahrhundert, besonders nachdrücklich bei Klopstock, ein Zeichen für den inspirierten, schriftlosen Gesang. Dieser Gesang kannte zwei Bezugspunkte, die gleichsam hinter die konkrete Geschichte zurückreichten: die Psalmen als die begeisterten Gesänge in der unmittelbaren Anschauung der göttlichen Offenbarung und die Gesänge der vorzeitlichen Barden, als deren Muster die Gedichte Ossians galten. Es ist erstaunlich, dass die Harfe nach der endgültigen Entlarvung der Ossian-Fälschungen diese Bedeutung nicht verloren hat. Im Gegenteil, in dem Maß, in dem das Symbol seinen linearen Bezug eingebüßt hat, sollte es an Signifikanz gewinnen. Es verweist auf einen inspirierten Gesang, der nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch als Erinnerung gegenwärtig zu sein vermag. Als besonders vielschichtiger Reflex dieser Haltung kann der Harfner in Goethes Wilhelm Meister-Roman gelten, der 1796 erstmals erschien. Gleich beim ersten Auftritt der Figur zeigt sich die enge Verwebung von Erinnerung und Gegenwart in einem beschwörenden ‚Als-ob‘ des Gesanges selbst: „Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann in die Höhe, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Glück der Sänger und ermahnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug das Lied mit so viel Leben und Wahrheit vor, daß es schien, als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet.“10 Erinnerung und Imagination können sich im Augenblick des Singens durchdringen, doch bleibt der Gesang in Goethes Vorstellung noch in der Distanz des ‚Als-ob‘. Dies zeigt sich auch in zwei sehr gegenläufigen Gemälden aus der Zeit um 1800, in denen sich zudem Harfner- und Bardenfigur unmittelbar überblenden. François Pascal Simon Gérard malte 1801 den harfeschlagenden Ossian, der am Ufer der Lora mit seinem Gesang die Geister erweckt, dessen Gesang also die Imagination zur Gegenwart der Wahrnehmung zu erheben vermag.11 Und Nicolai Abildgaard hat um 1800 den zur Harfe singenden Ossian bei seinem Schwanengesang festgehalten – und damit, ähnlich wie in der Bühnenkonstellation von Alfonso und Estrella, eine performative Situation imaginiert.12 Der Ausführende ist der Barde selbst, der Zuhörer der Betrachter – und die Musik bleibt, nun ganz im Gegensatz zur Oper, ungehört. In Alfonso und Estrella gehen Dichter und Komponist daher den einen, entscheidenden Schritt weiter: Der Gesang erklingt nicht nur, er 9

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Vgl. hier Walter Salmen, „Zur Semantik von Schuberts Harfenspielergesängen“, in: SchubertStudien. Festgabe der österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Schubert-Jahr 1978, hrsg. von Franz Grasberger und Othmar Wessely, Wien 1978 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 341 / Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung 19), S. 141–149. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 7, Hamburg 101981, S. 128. Paris, Musée National de Malmaison; zu Gérard vgl. Udo Felbinger, François Gérard und das französische Portrait 1795–1815, Diss. FU Berlin 1999. Kopenhagen, Statens Museum for Kunst; zum Kontext siehe Patrick Kragelund, „Abildgaard, Füssli, and the First Shakespeare Paintings Outside Britain“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 73 (2010), S. 237–254.

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wird nicht bloß gehört, er verliert sein ‚Als-ob‘, da er die Wirklichkeit in der Wahrnehmung des Hörers tatsächlich zu verändern vermag. So werden in der Figur des singenden Froila die Figuren von Harfner und Ossian heraufbeschworen, doch ebenfalls weder linear noch brechungslos. Anders als der Harfner oder Ossian ist der gestürzte König kein Sänger, er tritt vor und nach dieser Szene nie wieder als solcher in Erscheinung. Umso wahrscheinlicher erscheint es, dass ihm das Attribut der Harfe auch auf der Bühne fehlt. Sein Auftritt als Sänger erweist sich lediglich als eine Allusion an die mythische Konstellation, es handelt sich um eine Rolle, die er temporär einnimmt, ohne dass in der Handlung dafür eine Begründung geliefert würde. Es erscheinen also nicht allein Lied und Gesang in einer performativen Konstellation, sondern sogar der Ausführende selbst. Er ist zwar, dies die Aussage Alfonsos, geübt im Singen, er ist jedoch kein Sänger. Solcher Gesang ist damit nicht bloß eine Erinnerung, sondern sein Entstehen ist an den bedeutungsvollen Augenblick gebunden. Darauf dürfte die erste von Alfonso geltend gemachte Voraussetzung zielen, das, was er „Kraft“ nennt, und nur solche Kraft kann dem Gesang sein ‚Als-ob‘ nehmen, ihn also zur wirklichkeitsverändernden Realität machen. KUNST UND LEBEN Die zweite von Alfonso beschworene Voraussetzung für das Singen, die ‚seelenvolle Weise‘, liegt demnach nicht in der Kunstfertigkeit oder im ‚Handwerk‘ des Singenden, sondern in der ahnungsvollen Vergegenwärtigung von bedeutungsvollen Augenblicken. Über diese Gabe verfügt zwar auch schon Alfonso, der den Vater zum Singen auffordert, aber von diesem selbst zum Singen eingeladen wird – allerdings noch unspezifisch, ungenau. Erst die durch den Gesang ausgelöste Erfahrung der plötzlichen Wirklichkeitsveränderung vermag es, ihn zum Sänger reifen zu lassen. Zu den zentralen Eigenschaften von Gesang in diesem Sinne gehört es also, das Spannungsfeld zwischen Ahnung und Gegenwart, zwischen Kunst und Leben auszuloten. Auf diese Weise kann der Gesang das Hypothetische des ‚Als-ob‘ verlieren und selbstreflexiv werden. Michael Kohlhäufl hat gezeigt, dass ein zentrales Motiv von Schobers Text die Vermählung von Verheißung und Erinnerung ist und dass die Bühnenhandlung deswegen kreisförmig in sich ruht.13 Gelegentlich ist für ein genaueres Verständnis von Alfonso und Estrella Ignaz Franz von Mosels 1813 erschienener Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes herangezogen worden.14 Das ist bis zu einem gewissen Grad plausibel, vor allem im Blick auf die Stoffwahl und die Hinwendung zu psychologischen Zustandsschilderungen, verbunden mit der Einführung großer Tableaus.15 Doch betrifft dies eben nur eine äu13 14 15

Michael Kohlhäufl, Poetisches Vaterland. Dichtung und politisches Denken im Freundeskreis Franz Schuberts, Kassel etc. 1999, S. 238–239. Ignaz Franz von Mosel, Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes, hrsg. von Eugen Schmitz, München 1910 [zuerst Wien 1813]. Vgl. auch Werner Thomas, „Bild und Aktion in Fierrabras. Ein Beitrag zu Schuberts musikalischer Dramaturgie“, in: Franz Schubert. Jahre der Krise 1818–1823. Arnold Feil zum 60. Ge-

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ßere Seite, mit der die Eigenart der Wolkenmädchen-Szene und des gesamten Werkes nicht schlüssig erklärt werden kann. Kohlhäufl nämlich hat auf die enge Verbindung zur romantischen Ästhetik hingewiesen. August Wilhelm Schlegel hat es in seinen Wiener Vorlesungen von 1808 als Aufgabe der Poesie definiert, zwischen „Erinnerung und Ahndung“ zu vermitteln.16 Diese Vermittlung erweist sich als das entscheidende Moment der Szene um das Wolkenmädchen, das vor diesem Hintergrund als Herzstück der ganzen Oper erscheinen muss. Die Vorstellung, Poesie sei der Aufschein von etwas Unendlichem, erstmals in aller Deutlichkeit in Friedrich Schlegels 116. Athenäums-Fragment ausgesprochen, wird damit geweitet auf jene Kunst, die nicht über eine eigene Poetik verfügt, auf die Musik. Erst so können die Musik und insbesondere das Lied zum Mittel werden, die disparaten Verhältnisse von Kunst und Leben zu überbrücken – und zwar jenseits von tagespolitischen Umständen, die noch Eichendorffs in Wien geschriebenen Roman Ahnung und Gegenwart durchdringen. Schon im kurz vor den Opernplänen, im März 1817 entstandenen Lied An die Musik erfährt dieser Anspruch seine ausdrückliche Bekräftigung: „Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden, / Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, / Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, / Hast mich in eine beßre Welt entrückt.“17 Im Lied vom Wolkenmädchen hingegen stehen die im Musik-Lied beschworene düstere Wirklichkeit und die Welt, wie sie sich am Ende erweisen wird, in einem inversen Spannungsverhältnis. Die Ahnung des Liedes lässt, so Alfonsos erste Reaktion, die Welt schlagartig in einem neuen Licht erscheinen – und erst damit wird die glückliche Wendung des Lebens möglich. Das Wolkenmädchen-Lied entrückt daher nicht mehr bloß, wie noch in An die Musik, in eine „beßre Welt“, die düsteren Ahnungen, die es nun durchziehen, vermögen es vielmehr, die Welt selbst zu bessern. Vor einer so komplexen Dialektik muss jedoch die reine Poesie versagen, zu ihrer Verwirklichung bedarf es notwendig der Musik. Damit wird das Lied vom Wolkenmädchen überhöht zu einem ästhetischen Programm, sichtbar daran, dass es, singulär in dieser Form, kein Klavierlied, sondern ein Orchesterlied ist. Die romantische Vorstellung, ästhetische Haltungen, ohnehin nur fragmentarisch möglich, materialisierten sich am besten im Kunstwerk selbst, erfährt hier eine Zuspitzung. Es ist nämlich eine Poetik des Liedes, die hier absichtsvoll im Lied vorgeführt wird – verbunden mit dem Anspruch, dass erst ein derart geläutertes Lied den Konflikt zwischen Kunst und Leben aufzulösen vermöge. Dies hat gewichtige Auswirkungen auch auf die Präsentationsform der Lieder im Freundeskreis. Eine, nolens volens, ‚Schubertiade‘ erscheint daher, als gebrochen performative Situation, nicht einfach als ein Privatissimum von Freunden; sie muss vielmehr als entscheidende Lebenswirklichkeit des Liedes im Sinne des Kunstwerkes gelten. Das Lied bedarf folglich eines solchen Kontextes, um sein

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burtstag, hrsg. von Werner Aderhold u. a., Kassel etc. 1985, S. 85–112; Nachdruck in: ders., Schubert-Studien, Frankfurt am Main etc. 1990 (Quellen und Studien zur Musikgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart 21), S. 159–199. August Wilhelm Schlegel, „Über dramatische Kunst und Litteratur“ (1. Vorlesung: 1809), in:  ders., Kritische Schriften, hrsg. Wolfdietrich Rasch, Bd. 5. München 1966, S. 26. Text zitiert nach Schubert. Liedlexikon, hrsg. von Walther Dürr u. a., Kassel etc. 2012, S. 446.

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eigentliches Ziel – die Vermittlung von Kunst und Leben, von Ahnung und Gegenwart herbeizuführen – wenigstens im Augenblick der Aufführung zu erreichen. ‚Kraft‘ und ‚seelenvolle Weise‘ erscheinen damit als Programmatik einer Kunst, die auf komplexe Weise in Interaktion steht mit dem äußeren Leben, das sie umgibt, sich jedenfalls nicht einfach von ihm abgrenzt. Die Form und die Darbringung in der Oper thematisieren daher die Prämissen von Musik und Wort im Sinne einer alles überwölbenden, umfassenden Poesie. Dies wirkt aber nicht allein auf das Verständnis von Schuberts Liedern zurück, sondern auf den Geltungszusammenhang der Oper. In der unglücklichen Rezeptionsgeschichte ist immer wieder das mangelnde dramatische Talent Schobers beklagt worden – obwohl doch Komponist und Librettist auf eine ganz ungewöhnliche Weise zusammengearbeitet haben. Bedenkt man jedoch den Status des Liedes, so wird deutlich, dass der Inhalt auf undeutliche, unnahbare Weise den Kontext präfiguriert – und damit jenen übergreifenden Zusammenhang, in dem sich schließlich alle Kunst ereignen soll. Die Oper im Sinne Schuberts und Schobers ist also nicht eine äußere Handlung, auch nicht einfach eine innere. Sie erweist sich als Versuch, die Poetik des Liedes gleichsam aufzufalten, die Bedingungen von Kunst und Leben unter den neuen Bedingungen einer eigenen Poetik des Liedes im Kunstwerk zu erkunden. In einer gewissen Überspitzung ließe sich also sagen, dass ‚Schubertiade‘ und Oper zwei Seiten, zwei Ausformulierungen eines einzigen Konzepts sind, zwei Geltungsweisen eines Kunstbegriffs, der auf die Durchdringung und projektive Versöhnung von Wirklichkeit angelegt ist. Dies ist möglicherweise der Grund, warum Schubert – in einem bei ihm isolierten Verfahren – die Ballade in der Winterreise zitiert hat. Akzeptiert man also den hier vorgeschlagenen Deutungsansatz, so könnte sich das Lied vom Wolkenmädchen als ebenso zentral erweisen für Schuberts Liedbegriff wie für sein in den 1820er Jahren vollständig isoliertes Opernkonzept, ja überhaupt für seine kompositorische Neuorientierung ab etwa 1821. Dass das eine, das Lied, in der Wirkung erfolgreich war, das andere dagegen, die Oper, nicht, ist offenkundig ein Problem der Rezeptionsgeschichte, nicht aber des Gegenstands. Lied vom Wolkenmädchen – Struktur Andante con moto [Vorspiel] (T. 1–10), 12/8, G-Dur Recit. [acc.] (T. 11–20), C-Dur, G-Dur Alfonso: O sing mir, Vater, noch einmal Das schöne Lied vom Wolkenmädchen. Froila: Schon solltest du es selber singen.

Die „seelenvolle Weise“ als Poetik des Musikalischen Alfonso: Wohl weiß ich es, Doch fehlt mir noch die Kraft Und deine seelenvolle Weise. Froila: So horche denn! Tempo I [Lied] (T. 21–96), 12/8, G-Dur [Vorspiel, T. 1–4] [Teil 1: T. 5–37] 1. Der Jäger ruhte hingegossen Gedankenvoll im Wiesengrün / Gedankenvoll im Wiesengrün, Da trat, vom Abendlicht umflossen, Das schönste Mädchen zu ihm hin. / Das schönste Mädchen zu ihm hin. – G-Dur [Teil 2: T. 38–59; Vorzeichenwechsel, Doppelstrich] 2. Sie lockte ihn mit Schmeicheltönen Und lud ihn freundlich zu sich ein. – Es-Dur „Dir ist das schönste Glück erschienen, Willst du mein Freund, mein Diener sein? / Willst Du mein Freund, mein Diener sein? – As-Dur 3. Siehst du dort auf dem Berg sich heben Mein vielgetürmtes, goldnes Schloß, – Es-Dur Siehst du dort in den Lüften schweben Den reichgeschmückten Jägertroß? / Den reichgeschmückten Jägertroß – Ges-Dur 4. Die Sterne werden dich begrüßen, Die Stürme sind dir untertan, – B-Dur Und dämmernd liegt zu deinen Füßen Der Erdenqualen dumpfer Wahn. / Der Erdenqualen dumpfer Wahn.“ – Es-Dur [Teil 3: T. 60–68; Vorzeichenwechsel, Doppelstrich] 5. Er folgte ihrer Stimme Rufen Und stieg den rauhen Pfad empor, – H-Dur Sie tanzte über Felsenstufen, Durch dunkle Schlünde leicht ihm vor. – H-Dur [Teil 4: T. 69–76] 6. Und als den Gipfel sie erreichen, Wo der Palast sich prachtvoll zeigt, – Cis-Dur Als mit der Ehrfurcht stummen Zeichen Der Diener Schwarm sich vor ihm neigt, – Dis-Dur 7. Da will er selig sie umschließen; – A-Dur [Teil 5: T. 77–79; Doppelstrich] Andante [Rec.] Doch angedonnert bleibt er stehn. – C-Dur

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[Teil 6: T. 80–83; Doppelstrich; Vorzeichenwechsel] Tempo I Er sieht wie Nebel sie zerfließen, Das Schloß in blaue Luft verwehn. – G-Dur [Teil 7: T. 84–90; Doppelstrich, Tempowechsel, Taktwechsel] Allegro, C-Dur [Recit.] 8. Da fühlt die Sinne er vergehen, Sein Haupt umhüllet schwarze Nacht, Und trostlos von den steilen Höhen – 9/7 (A-Dur) [Teil 8: T. 91–96; Doppelstrich, Taktwechsel; Nachspiel T. 93–96], Tempo I, 12/8 Entstürzt er in den Todesschacht. – G-Dur Recit. [acc.] Alfonso: Wie rühret mich dein herrlicher Gesang Und macht mir die gewohnte Nähe, – G-Dur Die Felsenklüfte und den Wald Auf einmal neu und wunderbar. – C-Dur

„EIN SÜSSER, HEILIGER AKKORD VON DIR …“ Kunstreligion und religiöse Kunst in Schuberts Messvertonungen Arne Stollberg I. „Musik ist heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut wie Cherubim um einen strahlenden Thron! Das ist Musik, und darum ist sie die heilige unter den Künsten!“1

Diese Worte legt Hugo von Hofmannsthal dem Komponisten am Ende des Vorspiels zur Oper Ariadne auf Naxos in den Mund. Nicht nur wird hier der Tonkunst das Epitheton des ,Heiligen‘ zugemessen, sondern das ,Heilige‘ darüber hinaus auch auf seinen liturgischen Ort bezogen, nämlich auf das Sanctus. Die Erwähnung der um einen ,strahlenden Thron‘ versammelten Cherubim lässt die entsprechende, ihrerseits der Berufungsvision des Propheten Jesaja (Jes 6, 1–4) entlehnte Akklamation aus dem Te Deum assoziieren, wo es heißt: „Tibi Cherubim et Seraphim incessabili voce proclamant: Sanctus, Sanctus, Sanctus, Dominus Deus Sabaoth.“

Dass die Musik in solch dezidiert religiösem, wenn nicht gar liturgischem Sinne ,heilig‘ sei, war auch für Franz Schubert kein fremder Gedanke. In einem selbst verfassten Gedicht, das durch den Brief des Komponisten an Franz von Schober vom 21. September 1824 überliefert ist, spricht er emphatisch – und angesichts der unmittelbar vorausgehenden Klage über die hoffnungslos trübselige Gegenwart auch ebenso eskapistisch wie nostalgisch2 – von der „heil’ge[n] Kunst“ als letztem Widerschein einer vergangenen „Zeit der Kraft u[nd] That“.3 Aufgegriffen wird hier, was der Empfänger des besagten Briefes, Franz von Schober, schon einige Jahre zuvor formuliert hatte, in seiner Textvorlage für eines der berühmtesten Schubert-Lieder überhaupt, nämlich An die Musik (D 547): „Oft hat ein Seufzer, deiner Harf entflossen, Ein süßer, heiliger Akkord von dir, 1 2 3

Hugo von Hofmannsthal, „Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge nebst einem Vorspiel.  Neue Bearbeitung“ [1913/1916], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 24: Operndichtungen 2, hrsg. von Manfred Hoppe, Frankfurt am Main 1985, S. 7–48, hier S. 24. Vgl. David Gramit, The Intellectual and Aesthetic Tenets of Franz Schubert’s Circle, Diss. Duke University 1987, S. 167–176. Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 258–259, hier S. 259.

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Arne Stollberg Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen, Du holde Kunst, ich danke dir dafür.“4

Die merkwürdige Verknüpfung des ,Heiligen‘ der Musik mit ihrer gleichzeitig benannten Fähigkeit, nicht nur den ,Himmel‘ zu öffnen, sondern konkret den ,Himmel bessrer Zeiten‘, also eine sozusagen ins Jenseits projizierte, mutmaßlich vergangene Epoche, die der irdischen Gegenwart als entrückte Utopie vorgehalten wird – diese Verknüpfung soll uns später noch beschäftigen, ebenso das darauf bezogene Symbol der Harfe.5 Entscheidend ist vorläufig, dass die um 1800 vollzogene kunstreligiöse ,Heiligung‘ der Musik, genauer gesagt: des bloßen, „mit […] himmlische[m] Geiste geschwängert[en]“ Stoffes der Töne, wie es bei Wackenroder heißt,6 die Grenze zwischen säkularen und religiösen Werken, zwischen weltlichen und liturgisch gebundenen Gattungen verschwimmen lassen musste. Dass Wackenroders halb fiktive, halb autobiographische Phantasiegestalt Joseph Berglinger einem „großen Concerte […] mit eben der Andacht“ lauscht, „als wenn er in der Kirche wäre“,7 ist schon von Carl Dahlhaus im Sinne jener grundlegend neuen Rezeptionshaltung gedeutet worden, die mit der religiösen Überhöhung des Phänomens Musik in allen denkbaren Ausprägungen zwangsläufig einherging.8 Das Hervorrufen von ,Andacht‘ war ursprünglich die exklusive Aufgabenstellung der Kirchenmusik, vor allem der Messkomposition gewesen, wofür man sogar noch Franz Schubert als Zeugen aufrufen kann, soll er doch durch Beethovens C-DurMesse, laut Anselm Hüttenbrenner, „am meisten zur Andacht“ gestimmt worden sein.9 Freilich: Die berühmte Äußerung Schuberts, dass sich „die rechte und wahre Andacht“ bei ihm nur deshalb einstelle, weil er sich „zur Andacht nie forcire“, sondern von ihr „unwillkürlich übermannt“ werde,10 ist bereits auf ein nichtliturgisches und nur im weitesten Verständnis ,gefühlsreligiöses‘ Werk gemünzt – auf Ellens Gesang III (D 839) nach Walter Scotts Verserzählung The Lady of the Lake, das allseits bekannte Ave Maria. Jenes unwillkürliche ,Übermanntwerden‘ wiederum, das Schubert als Modus ,rechter und wahrer Andacht‘ für sich reklamiert und dem er darüber hinaus die ergreifende Wirkung seiner Musik auf „alle

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Zitiert nach: Schubert. Liedlexikon, hrsg. von Walther Dürr u. a., Kassel etc. 2012, S. 446. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Laurenz Lütteken im vorliegenden Band. Wilhelm Heinrich Wackenroder, „Das eigenthümliche innere Wesen der Tonkunst, und die Seelenlehre  der  heutigen  Instrumentalmusik“, in: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, hrsg. von Ludwig Tieck, Hamburg 1799, zitiert nach: ders., Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Werke, hrsg. von Silvio Vietta, Heidelberg 1991, S. 216– 223, hier S. 217. Im gleichen Text ist auch die Rede von der „tiefgegründete[n], unwandelbare[n] Heiligkeit, die dieser Kunst“ – der Musik – „vor allen andern eigen“ sei (S. 218, Hervorhebung original). Wilhelm Heinrich Wackenroder, „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“, in: ders. und Ludwig Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797, zitiert nach: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Werke (Anm. 6), S. 130–145, hier S. 133. Vgl. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel etc. 1978, S. 81–90, bes. S. 84. Deutsch, Erinnerungen, S. 213. Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 299.

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Gemüther“ zuschreibt,11 dürfte wohl zwanglos mit der Idee von Inspiration gleichzusetzen sein. Der Künstler (Schubert) erscheint hier, einer Formulierung Friedrich Schlegels folgend, als „Mittler […], der Göttliches in sich wahrnimmt“ – wenn man so will: davon ,übermannt‘ wird – und es „allen Menschen […] in Worten und Werken“ verkündet,12 gleichsam die Rolle der biblischen Propheten auf dem Gebiet der Kunst aktualisierend (dieser Aspekt wird später zu vertiefen sein). Dass Schubert nicht nur mit der Dichtung, sondern auch mit der frühromantischen Ästhetik des Schlegel-Kreises vertraut war, darf angesichts neuerer Forschungen als sicher gelten,13 weshalb es legitim erscheint, Friedrich Schlegels Postulat von der ,Mittler‘-Funktion des Künstlers, durch dessen Werke sich der lesenden oder hörenden ,Gemeinde‘ ein „Zugang zum Göttlichen“ eröffne,14 auf das zitierte Diktum über die ,rechte und wahre Andacht‘ zu beziehen. Der hinter solchen Vorstellungen aufgespannte geistesgeschichtliche Horizont, von Klopstocks Begriff der „heiligen Poesie“ über Herder und Wackenroder bis zur Jenaer Romantik, kann hier freilich nicht einmal in Ansätzen dargestellt werden.15 Genügen muss die summarische Erwähnung des Grundgedankens, dass alle Ideen zur Kunstreligion letztlich auf der durch Spinoza vermittelten Prämisse einer „entgrenzten religiösen Orientierung“ basieren: dergestalt entgrenzt, dass die kanonischen Texte der Bibel – oder auch des Ordinarium missae – ihr jahrhundertealtes Privileg, als alleinige „Offenbarungsinstanz“ zu gelten, gleichsam an die gesamte Natur abtreten.16 Wenn sich aber das Göttliche, nach pantheistischer Vorstellung, in allem zu zeigen vermag, was ist, so bildet jedes Einzelne wiederum das umfassende, mit Gott identische Ganze ab. Das „Beschränkte“ wird, wie Schleiermacher sagt, zur „Darstellung des Unendlichen“.17 Und genau dies begründet die herausragende Wirkung von Kunstwerken, sofern sie es vermögen, die Totalität erlebbar zu machen, was aber – wiederum Schleiermacher zufolge – nur im Rezeptionsmodus einer blitzartigen Epiphanie zu haben ist, eben als ,Übermannung‘: „Ja, wenn es wahr ist daß es schnelle Bekehrungen giebt, Veranlaßungen durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit; so glaube ich, daß mehr als irgend etwas anders der Anblik [sic!] großer und erhabner Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann […].“18 11 12 13 14 15 16 17 18

Ebenda. Friedrich Schlegel, „Ideen“ [1800], in: ders., Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, hrsg. von Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn etc. 1988, Bd. 2, S. 223–234, hier S. 226. Vgl. Ilija Dürhammer, „Schlegel, Schelling und Schubert. Romantische Beziehungen und Bezüge in Schuberts Freundeskreis“, in: IFSI. Mitteilungen 16/17 (Januar 1996), S. 59–93. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie 323), S. 13. Vgl. grundlegend die in Anm. 14 genannte Studie von Bernd Auerochs. Ebenda, S. 259, 342. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], hrsg. von Günter Meckenstock, Berlin und New York 1999 (De Gruyter Studienbuch),  S. 82. Ebenda, S. 130.

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Zu den bisher schon versammelten Stichworten gesellt sich hier noch dasjenige des ,Erhabenen‘. Damit ist, wenn auch nur skizzenhaft, das ästhetische Koordinatensystem fixiert, in dem sich die nachfolgende Betrachtung der Relation zwischen Schuberts Messen und seinen nicht-liturgischen Werken vor dem Hintergrund der Idee musikalischer Kunstreligion ansiedeln wird. Konkret soll es darum gehen, Verbindungslinien vor allem zwischen der As-Dur-Messe (D 678) und dem Lied Die Allmacht (D 852) sowie der großen C-Dur-Symphonie (D 944) aufzuzeigen, als Beispiel für die Verschränkung unterschiedlicher Gattungen auf der Basis gleicher Konstruktionsprinzipien und semantischer Topoi, die – mit Ferruccio Busoni gesprochen – die ,Einheit der Musik‘ unter den Auspizien ihrer allumfassenden ,Heiligung‘ sinnfällig werden lassen. II. Im August 1825, während der gemeinsam mit Johann Michael Vogl unternommenen Reise nach Oberösterreich, Bad Gastein und Salzburg, trifft Schubert in Bad Gastein auf den ihm bereits bekannten Johann Ladislaus Pyrker, Verfasser großformatiger Versepen und historischer Dramen, darüber hinaus Patriarch zu Venedig, seit der ersten Begegnung 1820 ein erklärter Bewunderer der Musik Schuberts und Widmungsträger von Opus 4.19 Direkt durch Pyrker, so ist zu vermuten, erhält der Komponist bei dieser Gelegenheit zwei Texte zur Vertonung. Es handelt sich um Auszüge aus wenige Jahre zuvor erstmals publizierten Hexameter-Epen des dichtenden Patriarchen, im ersten Fall aus Tunisias (1820), im zweiten Fall aus Perlen der heiligen Vorzeit (1821). Uns interessiert hier das Letztgenannte, dessen Verse in der von Schubert musikalisierten Fassung folgendermaßen lauten: „Groß ist Jehovah, der Herr! denn Himmel und Erde verkünden Seine Macht. – Du hörst sie im brausenden Sturm, in des Waldstroms Laut aufrauschendem Ruf; in des grünenden Waldes Gesäusel, Siehst sie in wogender Saaten Gold, in lieblicher Blumen Glühendem Schmelz, im Glanz des sternebesäeten Himmels. Furchtbar tönt sie im Donnergeroll und flammt in des Blitzes Schnell hinzuckendem Flug, doch kündet das pochende Herz dir Fühlbarer noch Jehovahs Macht, des ewigen Gottes, Blickst du flehend empor und hoffst auf Huld und Erbarmen. Groß ist Jehovah, der Herr.“20

Eindeutiger ließe sich ein pantheistisches Bekenntnis kaum formulieren, unbeschadet der Tatsache, dass Pyrker im Laufe seiner glanzvollen Kirchenkarriere – zumindest nach außen – immer stärker zu orthodoxen Positionen tendierte, sich selbst 1844 als einen „Ultra-Ultramontan“ bezeichnete und dabei neben den „tollen Rationalisten […], Hegelianer[n], Straussianer[n] etc.“, und natürlich neben den Protestanten, auch die „Pantheisten“ ins Visier nahm, um der „schmählichsten Indiffe19 20

Vgl. Roland Dobersberger, Johann Ladislaus Pyrker. Dichter und Kirchenfürst, St. Pölten und Wien 1997, S. 199, 216, 271–273. Zitiert nach: Schubert. Liedlexikon (Anm. 4), S. 694.

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Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Die Allmacht (D 852), T. 1–9

renz“ auf dem Gebiet des Glaubens einen Riegel vorzuschieben.21 Schubert jedenfalls stand um 1820, was – mit Blick auf entsprechende Forschungsarbeiten22 – hier nur angedeutet sei, fraglos unter dem Einfluss pantheistischer Ideen, die ihm auch über seinen Freundeskreis vermittelt wurden, und ohne Zweifel hat er Pyrkers Verse in diesem Sinne aufgefasst. Betrachten wir zunächst die ersten acht Takte des Liedes, die wahrlich aufregend genug erscheinen (Notenbeispiel 1).23 Schon das viertaktige Klaviervorspiel kündigt Großes an: Obwohl es sich nominell um nichts anderes handelt als um eine 21

22

23

Vgl. Alexander Läuchli, Der Dichter Johann Ladislaus Pyrker (1772–1847), Diss. Universität Zürich 1994, S. 26, 24, 42. Die Zitate stammen aus Briefen Pyrkers an Joachim Heinrich Jäck  vom 8. Juni 1844 und vom 31. März 1839 sowie aus seiner zwischen 1845 und 1847 verfassten  Autobiographie Mein Leben (bibliographische Nachweise bei Läuchli). Vgl. Ilija Dürhammer, Schuberts literarische Heimat. Dichtung und Literaturrezeption der Schubert-Freunde, Wien etc. 1999, S. 98–116; Walther Dürr, „Die Allmacht (D 852). Schubert, Schelling und der Pantheismus“, in: „Laudato si, mi Signore, per sora nostra matre terra“. Zur Ästhetik und Spiritualität des „Sonnengesangs“ in Musik, Kunst, Religion, Naturwissenschaften, Literatur, Film und Fotografie, hrsg. von Ute Jung-Kaiser, Bern etc. 2002, S. 103–116. Notenbeispiel 1 ist der NGA, IV:3a (hrsg. von Walther Dürr, 1982, S. 158–163, hier S. 158)  entnommen.  Die  Notenbeispiele  2–8  reproduzieren  die  betreffenden  Seiten  der  Stuttgarter Schubert-Ausgaben (Sämtliche Lateinischen Messen. Urtext,  hrsg.  von  Manuela  Jahrmärker  [D 105, 324, 452], Bernhard Paul [D 167], Michael Heinemann [D 678] und Werner Bodendorff [D 950], Studienpartituren, Stuttgart: Carus [2010]). Notenbeispiel 9 aus der Symphonie  Nr.  8  in  C-Dur  (D  944)  entstammt  folgender  Edition:  Urtext der Neuen Schubert-Ausgabe, hrsg. von Werner Aderhold, Kassel etc: Bärenreiter 22007 (Bärenreiter Classics. TP 408). Der  Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der genannten Verlage: © Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel (Notenbeispiele 1, 9); © Carus-Verlag Stuttgart GmbH & Co. KG, Leinfelden-Echterdingen (Notenbeispiele 2–8).

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erweiterte C-Dur-Kadenz, bringt der durch ein fortissimo geschärfte verminderte Septakkord auf der Doppeldominante – in präziser Vorwegnahme der Klangidee vom Beginn des späten Streichquintetts (D 956) – einen Ton eigentümlicher Gespanntheit in die Harmonik, der bis zum Ende für die gesamte Komposition bestimmend bleiben wird. Die erste Gesangsphrase gibt diesbezüglich die Richtung vor: Ohne sich auch nur einen Moment in C-Dur aufzuhalten, was der Terzaufstieg der Singstimme (cʼʼ–dʼʼ–eʼʼ) ohne weiteres erlauben würde, strebt die Klavierbegleitung sofort nach A-Dur, trocken gesagt: zur Dominante der Subdominantparallele, was jedoch der überwältigenden, ,erhabenen‘ Wirkung dieses Moments schwerlich gerecht wird.24 Der Schritt hin zum A-Dur des siebten Taktes geschieht durch Vermittlung eines übermäßigen Sextakkordes, mit dem ,phrygischen‘ Halbtonschritt b–a im Bass. War es – salopp gesprochen – ein ,Zufall‘, dass sich Schubert gleichsam gezwungen fühlte, bei den Worten „Groß ist Jehovah, der Herr“ ohne Zögern mit dem übermäßigen Sextakkord nach A-Dur auszuweichen? Die Antwort lautet: Nein. Er komponierte hier vielmehr ein harmonisches Emblem, das sofort erklärbar macht, warum er das Lied überhaupt Die Allmacht nannte, ihm also einen Titel gab, der bei Pyrker nicht vorgegeben ist. Denn genau diese Wendung, der Schritt nach A-Dur vom übermäßigen Sextakkord oder vom übermäßigen Quintsextakkord aus, findet sich – unabhängig von der jeweiligen Grundtonart – in drei seiner sechs Messen an immer derselben Stelle des Gloria, nämlich bei den Worten „Deus Pater omnipotens“ (F-Dur-Messe [D 105]: T. 178–179; B-Dur-Messe [D 324]: T. 51–53; C-DurMesse [D 452]: T. 61–62; Notenbeispiele 2–4). Offenbar hatte der A-Dur-Dreiklang für Schubert, speziell in Verbindung mit dem übermäßigen Sext- oder Quintsextakkord, was sofort an die Art der Höhepunktsbildung in den langsamen Symphoniesätzen Bruckners denken lässt,25 einen festen semantischen Wert, der auf die Allmacht des „Deus Pater omnipotens“ zu verweisen scheint.26 Das Vorbild lag möglicherweise in Beethovens C-Dur-Messe 24

25

26

Eine assoziative Verbindung zu Schuberts Art der Sanctus-Vertonung, vor allem in der As-DurMesse, wird hergestellt bei Dürr, „Die Allmacht (D 852). Schubert, Schelling und der Pantheismus“ (Anm. 22), S. 108–109. Zum ,Erhabenen‘ des Sanctus in Schuberts Messen vgl. auch  Anselm  Gerhard,  „Schubert  und  die Aufklärung:  ,Erhabener‘  und  ,pastoraler‘ Ton  in  seinen  Sanctus-Sätzen“, in: Schubert: Perspektiven 1 (2001), S. 21–36. Alle Symphonien Bruckners ab der Dritten inszenieren den Adagio-Höhepunkt mittels der Akkordprogression übermäßiger Quintsextakkord → Dur-Quartsextakkord, wobei in vier Fällen, nämlich in den Symphonien Nr. 3, 4, 7 und 8 (erste Fassung), ein C-Dur-Quartsextakkord als Kulminationspunkt erscheint: für Bruckner offenbar das „Mittel hell erstrahlender Apotheose“ schlechthin, unabhängig von der Grundtonart des jeweiligen Satzes (vgl. Wolfram Steinbeck, Anton Bruckner. Neunte Symphonie d-Moll, München 1993 [Meisterwerke der Musik 60], S. 41–42, hier S. 42). Laut  Walther  Dürr  fungiert A-Dur  in  Schuberts  Liedern  häufig  als  „Tonart  des  ,Elysiums‘“  („Schuberts ,romantische‘ Lieder am Beispiel von Friedrich Schlegels ,Abendröte‘-Zyklus“,  in:  Schubert-Jahrbuch 1997,  S.  47–60,  hier  S.  51)  oder  dient  zur  Evokation  von  „heavenly  images“ („Schubert’s Treatment of the Liturgical Mass Text“, in: Goethe and Schubert: Across the Divide, hrsg. von Lorraine Byrne und Dan Farrelly, Dublin 2003, S. 214–233, hier S. 224).  Zu einem ähnlichen Ergebnis (A-Dur als Ausdruck von „positive[n] Stimmungen“, „Liebe“,  „Natur und Gott“) gelangt auch Richard Böhm, Symbolik und Rhetorik im Liedschaffen von

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op. 86, die Schubert – glaubt man den bereits zitierten Worten Anselm Hüttenbrenners – besonders schätze. Dort wird zwar nicht bei „Deus Pater omnipotens“ selbst, aber kurz zuvor, nämlich bei „Domine Deus, rex coelestis“ von F-Dur aus (im Kontext der Gloria-Tonart C-Dur) das harmonische Lichtzeichen eines A-Dur-Dreiklangs angesteuert, und zwar über den g-Moll-Sextakkord, also – wie dann später auch in den genannten Messen Schuberts – mittels einer ,phrygischen‘ Wendung, deren Eigenbedeutung sich nicht darin erschöpft, bloße Kadenzschritte zur kurzzeitig etablierten d-Moll-Tonika zu markieren (T. 88–89). Halten wir als erstes Zwischenergebnis fest, dass Schubert 1825 in einer nichtliturgischen, wenn auch zweifellos religiösen Komposition, nämlich dem Lied Die Allmacht, auf jene harmonische Formel zurückgriff, die er zuvor bereits in drei Messen mit den Worten „Deus Pater omnipotens“ assoziiert hatte. Wenn das Lied aufgrund des Pyrker-Textes pantheistische Vorstellungen offenbart, so könnte man daraus eine retrospektive Aufladung der Messen mit entsprechendem Gedankengut ableiten – oder umgekehrt das Eindringen einer ,liturgischen‘ Formel in den flagranten Pantheismus des Liedes als weiteren Beleg für Schuberts undogmatische Religiosität deuten.27 Doch außer einem Beitrag zur Auffindung werkübergreifender musikalischer Topoi bei Schubert wäre damit noch nicht allzu viel gewonnen. III. Wie steht es vor dem Hintergrund des bisher Gesagten nun aber mit der immer wieder als dezidiertes ,Bekenntniswerk‘ interpretierten As-Dur-Messe (D 678) aus den Jahren 1819–1822?28 Deren Affinität zum Lied Die Allmacht springt sofort ins Auge, wenn man die chorische Eröffnung des Credo-Satzes betrachtet (Notenbeispiel 5).29 Nicht nur, dass der Sopran bei „Credo in unum de[um]“ exakt denselben

27

28 29

Franz Schubert, Wien  etc.  2006  (Wiener  Schriften  zur  Stilkunde  und Aufführungspraxis  3),  S. 57. Die Frage, inwieweit sich Schuberts Haltung gegenüber dem katholischen Glauben anhand überlieferter  Äußerungen  und  vor  allem  anhand  der  signifikanten  Textauslassungen  in  den  Messvertonungen zuverlässig rekonstruieren lässt, sei hier bewusst ausgeklammert, zumal dieser Aspekt die Forschungsliteratur zu Schuberts Kirchenmusik bis heute einseitig dominiert.  Der – gerade bei österreichischen Autoren auffällig beliebten – Ansicht, dass die Textlücken in  Bezug auf Schuberts Frömmigkeit nichts zu besagen hätten, stehen Positionen entgegen, die  dem eigenwilligen Umgang des Komponisten mit der Liturgie die Qualität eines weltanschaulichen Bekenntnisses zuschreiben (vgl. hierzu etwa John Gingerich, „,To how many shameful  deeds must you lend your image‘: Schubert’s Pattern of Telescoping and Excision in the Texts  of His Latin Masses“, in: Current Musicology 70 [2000], S. 61–99). Zur  Entstehung  und  biographischen  Kontextualisierung  der  As-Dur-Messe  vgl.  Thomas  A.  Denny, „The Years of Schubert’s A-flat-Major Mass, First Version: Chronological and Biographical Issues, 1819–1822“, in: Acta Musicologica 63 (1991), S. 73–97. Eine Bezugnahme auf den ,stile antico‘, möglicherweise konkret auf Palestrinas Stabat mater, sowohl am Beginn des Credo der As-Dur-Messe als auch in den entsprechenden Passagen des  Liedes Die Allmacht glaubt Elmar Seidel zu erkennen („Schubert und die Fuge. Erwägungen  über die Fugen in Franz Schuberts Missae solemnes“, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 83 [1999], S. 109–136, hier S. 121, 135–136).

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Notenbeispiel 2: Franz Schubert, Messe F-Dur (D 105), Gloria, T. 169–180

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Notenbeispiel 3: Franz Schubert, Messe B-Dur (D 324), Gloria, T. 45–56

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Notenbeispiel 4: Franz Schubert, Messe C-Dur (D 452), Gloria, T. 52–71

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Notenbeispiel 5: Franz Schubert, Messe As-Dur (D 678), Credo, T. 1–10

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Terzanstieg vollzieht wie die Singstimme in den Takten 5–7 der Allmacht; der harmonische Verlauf führt ebenfalls von C-Dur zu einem zwischendominantischen ADur, und zwar mit der schon bekannten ,phrygischen‘ Bassfortschreitung c–b–a, wobei das b hier allerdings den Grundton eines B-Dur-Dreiklangs bildet. Wäre daher nicht zu erwarten, dass Schubert bei der oben diskutierten Stelle des Gloria, bei „Deus Pater omnipotens“, seinem A-Dur-Topos treu bleibt? Er tut es nicht – oder besser gesagt: Er bleibt sich erst auf den zweiten Blick treu. Was an dem betreffenden Punkt des in E-Dur stehenden, mit Beginn des „Gratias“ (T. 113) aber nach A-Dur und bei „Domine deus“ (T. 150) schließlich nach a-Moll gewendeten Satzes geschieht, ist durchaus geläufig (T. 158–162, Notenbeispiel 6): Auf b-Moll und f-Moll folgt ein übermäßiger Quintsextakkord, resultierend aus der Addition des enharmonisch verwechselten Tones ges (= fis) zum As-Dur-Dreiklang, und dieser übermäßige Quintsextakkord löst sich – doppeldominantisch interpretiert – bei „[o]mnipotens“ kadenzierend nach C-Dur auf. Schubert knüpft also einerseits an die Klangidee der früheren Messen an, aber er denkt diese Idee kompositorisch andererseits auf neue Art weiter. Denn entscheidend ist, dass es sich bei der Zieltonika gerade um C-Dur handelt: War das A-Dur auf dem Wort „omnipotens“ bisher für Schubert gleichsam eine stehende Wendung gewesen, unabhängig von der Grundtonart des jeweiligen Gloria, so bindet er den in seiner Vertonungsstrategie offenbar zentralen Moment nun konstruktiv in die harmonische Architektur der gesamten Messe ein. Dass sich mediantische Relationen im Großen wie im Kleinen durch die gesamte As-Dur-Messe ziehen, ist bekannt und muss nicht mehr in extenso nachgewiesen werden.30 Aber es lohnt sich, noch einmal den Blick darauf zu lenken, wie konsequent die Grundtonart As-Dur an vielen Punkten des musikalischen Verlaufs strukturell an die Obermediante C-Dur gekoppelt ist oder mit ihr in eine Art formbildenden Dialog tritt. Die Stelle „Deus Pater omnipotens“ aus dem Gloria wurde bereits genannt. Das Credo beginnt in C-Dur, sinkt aber beim „Et incarnatus“ nach As-Dur hinab (T. 131ff.), um anschließend – auf harmonisch spektakuläre Weise, was hier jedoch nicht weiter vertieft werden kann31 – zurück nach C-Dur (T. 139ff.) und von dort wiederum nach As-Dur zu gleiten (T. 151ff.). Der zentrale Glaubensartikel „et homo factus est“ verbindet sich so zunächst mit einer C-Dur-, dann mit einer As-Dur-Kadenz (T. 141–142, T. 153–154). 30

31

Vgl. Ronald Scott Stringham, The Masses of Franz Schubert, Diss. Cornell University 1964, S. 246–287, bes. S. 273–274; Kenneth James Nafziger, The Masses of Haydn and Schubert: A Study in the Rise of Romanticism, Diss. University of Oregon 1970, S. 152–163, 189–190; Hans Jaskulsky, Die lateinischen Messen Franz Schuberts, Mainz etc. 1986, S. 205–270, bes. S. 207–208. Hans Jaskulsky (ebenda, S. 243–248) deutet die harmonische Progression als enharmonisch  notierten Abstieg in die „Doppel-B-Tonarten“ (S. 248), so dass das C-Dur (T. 142) als DesesDur, das daran sich anschließende As-Dur (T. 154) als imaginäres „Heseses-Dur“ zu verstehen  wäre.  Diese  Interpretation  ist  ohne  weiteres  denkbar,  lässt  sich  doch  bereits  das  E-Dur  des  Gloria als enharmonisch verwechseltes Fes-Dur auffassen. Doch angesichts der harmonischen  Gesamtarchitektur der Messe dürfte die direkte Verknüpfung von As-Dur und C-Dur im „Et  incarnatus“ (gemäß der von Schubert gewählten Orthographie) von noch größerer Relevanz  sein.

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Notenbeispiel 6: Franz Schubert, Messe As-Dur (D 678), Gloria, T. 157–163

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Ein anderer erhellender Moment folgt etwas später im Credo. Die Tonart ist wieder C-Dur, doch findet zu den Worten „Et iterum venturus est cum gloria“ eine signifikante Eindunklung statt. Der Es-Dur-Sekundakkord in Takt 225 scheint den Weg nach As-Dur zu bahnen, doch führt die Entwicklung bei „judicare“ vorerst über den verminderten Septakkord zu einem richtungslos bleibenden Des-DurDreiklang (T. 227–228). Das „vivos“ hängt zwischen zwei Generalpausen merkwürdig in der Luft (T. 229) – harmonisch wiederum, als Resultat der Hinzufügung des Tones ges (= fis) zum As-Dur-Dreiklang, auf einem übermäßigen Quintsextakkord. Dessen Auflösung erfolgt tatsächlich (doppeldominantisch) nach C-Dur, jedoch erst als Zielpunkt einer harmonisch schwindelerregenden Zwischenstrecke zu den Worten „et mortuos, cujus regni non erit fi[nis]“ (T. 230ff.), und dann auch dergestalt, dass das C-Dur sofort mit Septime versehen und in Richtung F-Dur weitergeleitet wird (T. 249ff.). Wie sehr Schubert an einer konsequenten Fokussierung der ganzen Messe auf die Relation As-Dur/C-Dur gelegen war, dokumentiert abschließend das „Dona nobis pacem“ (Agnus Dei, T. 55ff., Notenbeispiel 7): Der eröffnende Achttakter mit seiner klaren As-Dur-Kadenzharmonik schert am Ende, also dort, wo die Tonika erscheinen müsste, trugschlüssig ausgerechnet nach C-Dur aus (T. 62) und benötigt zusätzliche vier Takte, um wieder in die Gleise von As-Dur zurückzufinden. Gegen Schluss der Messe kehren sich die Verhältnisse sogar kurzzeitig noch einmal um, wenn zwei Achttakter infolge der erwähnten Trugschluss-Wendung (T. 117–118) tatsächlich mit strahlendem C-Dur beginnen (Notenbeispiel 8), im Chor zunächst fortissimo, dann forte, und erst der jeweilige Nachsatz wieder nach As-Dur einlenkt (T. 119–134). IV. Die Frage drängt sich auf, ob mit der strukturell so bedeutsamen Konstellation AsDur/C-Dur semantische Implikationen verbunden sind. Hier lohnt es, wieder das Lied Die Allmacht in den Blick zu nehmen, denn dessen musikalischer Verlauf bewegt sich ebenfalls zwischen den tonalen Zentren C-Dur und As-Dur. Rein von der Harmonik her ließe sich die Komposition als eine ABA-Form beschreiben, deren Rahmenteile auf C-Dur bezogen sind (T. 1–17, T. 69–93), während der Mittelabschnitt, nach einer modulierenden Passage, für längere Zeit in As-Dur verweilt, und zwar ab jenem Moment, in dem der Text eher idyllische Manifestationen der göttlichen Macht aufzuzählen beginnt (T. 31ff.: „du hörst sie in des grünenden Waldes Gesäusel“ usw.). Erst als das flehende Emporblicken zu einem ewigen Gott erwähnt wird, von dem sich der Mensch „Huld und Erbarmen“ erhofft, kehrt die Musik nach C-Dur zurück (T. 69ff.). Wäre demnach As-Dur mit dem Menschlichen verbunden, mit der zwar von Gott immanent durchwirkten, aber gleichwohl irdischen Natur, und C-Dur mit der Unbegreiflichkeit einer transzendenten, ,himmlischen‘ Existenz, die man nur ,flehend‘ aus der Ferne anbeten kann? Es scheint so – erst recht, wenn man noch das 1822 entstandene Vokalquartett Gott in der Natur (D 757) auf ein Gedicht Ewald Christian von Kleists einbezieht, wo ausgerechnet vor den Worten

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Notenbeispiel 7: Franz Schubert, Messe As-Dur (D 678), Agnus Dei, T. 55–62

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Notenbeispiel 8: Franz Schubert, Messe As-Dur (D 678), Agnus Dei, T. 119–134

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„Er [Gott] sieht mit gnädʼgem Blick zur Erde hinab“ die Musik schlagartig von C-Dur nach As-Dur rückt (T. 31).32 Beinahe unmöglich ist es, vor dem Hintergrund dieser Befunde nicht auch an die große C-Dur-Symphonie (D 944) zu denken, deren Entstehung, zumindest in den Anfängen, bekanntlich ebenfalls mit Schuberts Reise nach Oberösterreich, Bad Gastein und Salzburg zusammenhing und die dementsprechend auch schon direkt, im Sinne einer „Hymn to Nature“,33 auf das Pyrker-Lied Die Allmacht bezogen wurde.34 Unterbelichtet blieb dabei aber jene harmonische Architektur, die für das Lied wie für die As-Dur-Messe – und eben auch für die C-Dur-Symphonie konstitutiv ist. Es muss an dieser Stelle genügen, daran zu erinnern, dass Schubert schon in der langsamen Einleitung des Kopfsatzes ein vom ,Mittelpunkt‘ C-Dur ausgehendes Terzgefüge entfaltet, das nach oben hin – wie auch im Gloria der As-DurMesse – E-Dur (T. 35–36), nach unten hin As-Dur umfasst (T. 48ff.). Dieses As-Dur beherrscht nachfolgend die gesamte Durchführung: Es ertönt prominent bereits an deren Beginn (T. 254bff.) und markiert ebenso den Höhepunkt im dreifachen forte (T. 316ff.) wie die anschließende Rückleitungspartie zur Reprise (T. 340ff.). Dass die Quintversetzung der Es-Dur-Passagen vom Ende der Exposition das so wichtige As-Dur am Schluss des Satzes noch einmal ins Spiel bringt, notabene im Wechsel mit C-Dur, rundet den Eindruck einer planvollen harmonischen Disposition ab (T. 508ff., vgl. auch T. 190ff.).35 Gleichsam gespiegelt wird der erste Satz im Scherzo, dessen Durchführungsteil, von derselben Grundtonart C-Dur ausgehend, ebenfalls mit As-Dur beginnt (T. 57ff.). Und eingelöst findet sich dies alles in der Coda des Finales (Notenbeispiel 9), wenn Schubert ein bereits schlusskräftig wirkendes Unisono-C noch zweimal überraschend zur Terz von As-Dur umdeutet (T. 1057ff., T. 1085ff.), was den rauschenden C-Dur-Ausklang umso heller erstrahlen lässt. Könnte von hier aus, also mit Bezugnahme auf Lied und Messe, eine ,programmatische‘ Deutung der Symphonie erreicht werden, und sei es im Sinne dessen, was bei Beethoven als ,poetische Idee‘ bis heute Gegenstand der Diskussion ist?36 Mög32

33 34

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Eine Parallelstelle findet sich in Carl Maria von Webers Der Freischütz (1821), genauer gesagt in Agathes Kavatine aus dem dritten Akt (Nr. 12: „Und ob die Wolke sie verhülle“), wo es bei der Formulierung „das Auge [Gottes], ewig rein und klar, / nimmt aller Wesen liebend wahr“  auf dem Wort „klar“ ebenfalls zu einer Rückung von As-Dur nach C-Dur kommt, bevor die  Musik kadenzierend wieder zum Ausgangspunkt As-Dur zurücksinkt. Leo Black, Franz Schubert. Music and Belief, Woodbridge 2003, S. 144. Vgl. die zwar virtuose, aber letztlich doch allzu gezwungen, ja gewaltsam wirkende „prosodische Analyse“ von Harry Goldschmidt, „Franz Schubert – Der erste Satz der großen C-DurSinfonie. Eine prosodische Analyse“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 21 (1979), S. 235– 297. Sehr  ähnliche  Strategien  zur  Fokussierung  eines  ganzen  Werkes  auf  die  Relation  zwischen   c-Moll/C-Dur  und As-Dur  finden  sich  bereits  in  Schuberts  Vierter Symphonie (D 417), was einmal mehr den bedeutsamen Rang dieser Partitur bestätigt; vgl. Arne Stollberg, „Der ,allertragischste  Kampf  und  Sieg‘?  Schuberts  Vierte Symphonie im Kontext der zeitgenössischen Tragödientheorie“, in: Schubert: Perspektiven 7 (2007), S. 137–225. Vgl. Walther  Dürr,  „Zyklische  Form  und  ,poetische  Idee‘:  Schuberts  große  C-Dur-Symphonie“, in: Probleme der symphonischen Tradition im 19. Jahrhundert, hrsg. von Siegfried Kross unter Mitarbeit von Marie Luise Maintz, Tutzing 1990, S. 455–469.

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Arne Stollberg

Notenbeispiel 9: Franz Schubert, Symphonie Nr. 8 C-Dur (D 944), Finale, T. 1055–1064

„Ein süßer, heiliger Akkord von dir …“

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licherweise – doch etwas anderes scheint mir wichtiger, dass nämlich Schuberts kompositorische Strategien offenbar gattungsübergreifend zu denken sind. Das klingt banal, doch dahinter steht, wie eingangs angedeutet, eine generelle, kunstreligiöse Aufwertung der Musik an sich, die es ermöglicht, dass Lied, Symphonie und Messe gleichsam ein und derselben Sphäre angehören und in gewisser Weise untereinander austauschbar werden. Pointiert gesagt: Semantisierungen ergeben sich nicht nur dadurch, dass man etwa untersucht, wo in Liedern oder Instrumentalwerken musikalische Topoi der Messvertonung zu finden sind, sondern auch umgekehrt. Die Musik galt Schubert als das Primäre, als eine ,mit himmlischem Geiste geschwängerte‘ Substanz, die so zu formen war, dass – gemäß Schleiermacher – im Einzelnen das Ganze, im Beschränkten das Unendliche offenbar werde. Auch eine in ihrer bloßen Struktur mit Sinn erfüllte Symphonie konnte somit leisten, was vorher der Messe vorbehalten war, nämlich die andächtig lauschenden Hörer am Göttlichen teilhaben zu lassen. V. Ist diese Deutung zu hoch gegriffen? Sie ist es, so meine ich, nicht. Und dafür spricht wiederum das Lied Die Allmacht, zumindest dann, wenn man, was hier abschließend getan sei, den Kontext der Verse im Rahmen von Pyrkers Epos miteinbezieht. Denn der bei Schubert vertonte Text ist dort einem Harfner zugeteilt, den der Prophet Elisa zu sich hat rufen lassen, damit „er [ver]eine die zaubernden Töne / Meinem heil’gen Gesang“.37 Der Harfner spielt sich darauf in jene pantheistische Verzückungsvision hinein, die dem Lied Schuberts zugrunde liegt und der bei Pyrker folgende Verse unmittelbar vorausgehen: „Sitzend dort auf der Bank, durchfuhr er mit prüfenden Fingern, Allʼ die goldenen Saiten zugleich, und in Milde verkläret Ward sein Gesicht, da er leisʼ aufhorchte dem schwebenden Wohllaut. […] bis […] Immer sanfter entwirrt aus vielverschlungenen Tönen, Sich auflösʼte des heil’gen Gesang’s ersehnete Weise. Erst aufhorchte dem Harfenklangʼ der heilige Seher, Ruhigen Blicks, doch jetzt entflammtʼ er sich: glühende Röthe 37

Johann Ladislav [Ladislaus] Pyrker, „Perlen der heiligen Vorzeit“ [1821], in: ders., Sämmtliche Werke. Neue durchaus verbesserte und vermehrte Ausgabe,  Bd.  3,  Stuttgart  und  Tübingen  1834, S. 169. Zugrunde liegt hier 2. Könige 3, 15ff.: „15So bringet mir nun einen Spielmann! Und da der Spielmann auf den Saiten spielte, kam die Hand des HERRN auf [Elisa], 16und er sprach: So spricht der HERR: Macht hier und da Gräben an diesem Bach! 17Denn so spricht der HERR: Ihr werdet keinen Wind noch Regen sehen; dennoch soll der Bach voll Wasser werden, dass ihr und euer Gesinde und euer Vieh trinket. 18Dazu ist das ein Geringes vor dem HERRN; er wird auch die Moabiter in eure Hände geben, 19dass ihr schlagen werdet alle festen Städte und alle auserwählten Städte und werdet fällen alle guten Bäume und werdet verstopfen alle Wasserbrunnen und werdet allen guten Acker mit Steinen verderben.“ Siehe auch Michael Maier, „Franz Schuberts ,Gasteiner Lieder‘ op. 79 nach Texten des Patriarchen von Venedig, Ladislaus Pyrker“, in: Archiv für Musikwissenschaft 55 (1998), S. 332–353, bes. S. 336.

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Arne Stollberg Färbte sein blasses Gesicht; er hob in schwebender Haltung Von dem Boden sich auf, und begann in hoher Begeistʼrung: […]“38

Der durch (Instrumental-)Musik, durch ,schwebenden Wohllaut‘ ausgelösten Vision des Harfners, wie Schubert sie vertont hat, folgt ihrerseits als Resultat sofort die Weissagung des Propheten Elisa. Die von Friedrich Schlegel beschworene ,Mittler‘-Funktion des Künstlers, durch den Göttliches offenbar wird; die Macht der ,heiligen‘ Musik als eines ,mit himmlischem Geiste geschwängerten‘ Stoffes, dem dieses Göttliche bereits von selbst inhärent ist – Schubert fand in der von Pyrker gedichteten Szene alle Ingredienzen romantischer Kunstreligion vor, was sein Lied Die Allmacht mitsamt der darauf bezogenen (oder zumindest beziehbaren) Werke, inklusive der Messe in As-Dur, tatsächlich zum ästhetischen Glaubensbekenntnis werden lässt. Mehr noch: Dem ganzen Epos Perlen der heiligen Vorzeit ist als Proömium ein Gedicht mit dem Titel An die Harfe vorangestellt, das schildert, wie der Dichter – Pyrker – von den Tönen einer „an der Wand“ hängenden, „goldenbesaitete[n] Harfe“, offenbar einer Art Äolsharfe,39 regelrecht in Trance versetzt wird und sich plötzlich aus dem „öden Gefilde“ der „Gegenwart“, einer „schrecklichen Zeit […] voll Grau’ns“, „auf die Pfade der schöneren Vorwelt“ geleitet fühlt.40 Nicht nur ein metaphysisches Musikverständnis ist hier greifbar, sondern auch der damit verbundene, nostalgische Eskapismus, aus einer trüben Realität wegführend in den zum Klingen gebrachten, aber eben allein unter den Bedingungen ästhetischer ,Andacht‘ zu erfahrenden ,Himmel bessrer Zeiten‘, wie es in Franz von Schobers Gedicht An die Musik heißt. Messe, Lied und Symphonie geben in diesem Sinne nicht nur Zeugnis von kunstreligiöser Emphase, sondern auch von deren Kehrseite, einer schmerzlich empfundenen Weltflucht, die schon Wackenroder hellsichtig an sich selbst (beziehungsweise an dem alter ego Joseph Berglinger) diagnostiziert hatte. Seine Worte mögen daher, hoffentlich nicht allzu pessimistisch, als Schlussbemerkung dienen: „Die Kunst ist eine verführerische, verbotene Frucht; wer einmal ihren innersten, süßesten Saft geschmeckt hat, der ist unwiederbringlich verloren für die thätige, lebendige Welt.“41

38 39

40 41

Pyrker, „Perlen der heiligen Vorzeit“ (Anm. 37), S. 170. Vgl. hierzu allgemein – allerdings ohne Erwähnung von Pyrkers Gedicht – Walter WindischLaube,  Einer luftgebornen Muse geheimnisvolles Saitenspiel. Zum Sinn-Bild der Äolsharfe in Texten und Tönen seit dem 18. Jahrhundert, 2 Bde., Mainz 2004 (Musik im Kanon der Künste 3). Pyrker, „Perlen der heiligen Vorzeit“ (Anm. 37), S. [3]. Wilhelm  Heinrich  Wackenroder,  „Ein  Brief  Joseph  Berglingers“,  in: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, hrsg. von Ludwig Tieck, Hamburg 1799, zitiert nach: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Werke (Anm. 6), S. 224–227, hier S. 225.

TÖNEND BEWEGTE STILLE Stillstand und Bewegung in der sogenannten vokalen „Gesellschaftsmusik“ des späten Schubert Anselm Gerhard Schuberts mehrstimmige Vokalmusik wird gewöhnlich als „Gesellschaftsmusik“ abgetan.1 Mit diesem – wohl nicht zuletzt mangels besserer Alternativen gewählten – Begriff werden ausdrücklich auch Kompositionen bezeichnet, bei denen es sich offensichtlich nicht um Werke für die gesellige private Runde, sondern um Konzertmusik mit hohem Anspruch handelt: Man denke an den Gesang der Geister über den Wassern für acht Männerstimmen, 2 Violen, 2 Violoncelli und Kontrabass (D 714), der am 7. März 1821 im Hoftheater am Kärntnertor in einer „großen musikalischen Akademie“ neben Kompositionen von Mozart, Rossini und anderen zur Uraufführung gelangte,2 und an die Komposition von Seidls Gedicht Nachthelle (D 892), die am 25. Januar 1827 in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde dargeboten wurde.3 Die exzeptionelle musikalische Qualität dieser und anderer Kompositionen steht dabei offensichtlich in einem Spannungsverhältnis zu einem generischen Begriff, dem zwangsläufig etwas Abwertendes anhaftet. Dies zeigt sich nicht zuletzt im einschlägigen Überblicksartikel des 1997 erschienenen Schubert Handbuchs: Dort ist das Ständchen (D 920/921) der Kategorie „Kasualmusiken“ zugeordnet – mit guten Gründen, gewiss, und im Bewusstsein, dass dieser Komposition der „Rang eines Zeit und Stunde des konkreten Anlasses überdauernden autonomen Kunstwerks“ zukommt,4 aber doch ohne eine grundsätzliche Reflexion über den schiefen Gegensatz zwischen „konkretem Anlass“ und ästhetischer Autonomie; auch die zunächst für die Bischofsweihe in Olmütz intendierte Missa solemnis Beethovens ist in gewisser Weise ‚Kasualmusik‘. Im Folgenden sollen also zwei mehrstimmige weltliche Vokalkompositionen, beide für Solostimme, vierstimmigen Chor und Klavier, aus Schuberts letzten Lebensjahren genauer betrachtet werden: das erwähnte Ständchen (D 920/921) aus dem Juli 1827 und die zehn Monate zuvor, im September 1826 beendete, aber sehr viel weniger bekannte Komposition mit dem Titel Nachthelle (D 892). Die Gründe für diese Auswahl sind subjektiv: Der Verfasser dieser Zeilen ist versucht, beim 1 2 3 4

Vgl. zum Beispiel Walburga Litschauer, „Gesellschaftsmusik“, in: Reclam Musikführer Franz Schubert, hrsg. von Walther Dürr und Arnold Feil, Stuttgart 1991, S. 306–333. Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 116–117. Ebenda, S. 404. Dietrich Berke, „‚Leise, leise, laßt uns singen‘. Die mehrstimmigen Gesänge“, in: SchubertHandbuch, S. 269–301, hier S. 276 und 295.

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Anhören und Spielen dieser beiden Stücke – genauso wie es Schubert bei der Komposition des Ständchen zugeschrieben wird – auszurufen: ‚Aber wie das schön ist!‘ Bevor jedoch auf die Frage eingegangen werden kann, was denn präzise das ‚Schöne‘ dieser beiden Kompositionen ausmacht, sind einige terminologische Überlegungen unabdingbar. Denn die uns eingeschliffene Nomenklatur ist irreführend und gefährlich zugleich. Wenn die begleitenden Stimmen dieser und vieler anderer Kompositionen stereotyp als ‚Chor‘ oder als ‚Männerchor‘ bezeichnet werden, scheint dies – wie fast ausnahmslos in der heutigen Aufführungspraxis realisiert – eine mehrfache Besetzung jeder der vier Stimmen zu implizieren. Dabei hat Schubert unter ‚Chor‘ offensichtlich nur das Zusammenklingen mehrerer Vokalpartien verstanden. Für den Gesang der Geister über den Wassern ist belegt, dass die Komposition bei ihrer Uraufführung solistisch besetzt wurde,5 was der Transparenz des Klangbildes übrigens mehr als zuträglich sein dürfte. Freilich hat Schubert zumindest scheinbar einer gewissen Abwertung solcher mehrstimmigen Vokalmusik selbst Vorschub geleistet. In einem oft zitierten Brief an Leopold von Sonnleithner, der vielleicht, aber nicht sicher aus dem Frühjahr 1823 stammt, schrieb er: „Sie wissen selbst, wie es mit der Aufnahme der spätern Quartetten stand; die Leute haben es genug. Es könnte mir freylich vielleicht gelingen, eine neue Form zu erfinden, doch kann man auf so etwas nicht sicher rechnen.“6 Allerdings ist es in Unkenntnis des Kontextes des konkreten Briefwechsels wohl kaum möglich, Schuberts kryptische Formulierung angemessen zu interpretieren. Ging es wirklich um Vokalquartette? Und nicht um Streichquartette? Gleichwohl lohnt es, Schuberts Formulierung im Blick zu behalten. Auch wenn sich die beiden hier zu betrachtenden Stücke offensichtlich nicht durch eine ‚neue Form‘ auszeichnen – in einem Fall haben wir es mit einer dreiteiligen Anlage ABA’ zu tun, im anderen mit drei Strophen und abschließender Reprise der ersten Strophe –, könnte es lohnen, auf das ‚Neue‘ in Ständchen und Nachthelle zu achten. Beide Stücke überraschen mit ebenso subtilen wie präzisen kompositorischen Strategien, die einerseits so souverän, andererseits so zahlreich eingesetzt werden, dass es meines Erachtens durchaus erlaubt ist, von einer ‚neuen‘ Qualität zu sprechen und solche Kompositionen im Bewusstsein eines künstlerischen Niveaus zu betrachten, das etwa den beiden späten Klaviertrios (D 898, D 929) oder dem Streichquintett (D 956) in keiner Weise nachsteht. (Dabei wäre überdies die Frage nach möglichen Wechselwirkungen zwischen vokalem und instrumentalem Quartettsatz von einigem Interesse, worauf in diesem Rahmen allerdings nicht eingegangen werden kann.)

5 6

Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 117. Ebenda, S. 182.

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INSTABILE METRIK Nachthelle, das Gedicht von Schuberts Freund Johann Gabriel Seidl, entwirft in drei kurzen Strophen das Bild einer enthusiastischen Seele, die angesichts der leuchtenden Nacht in einer Stadt alles vergangene Leid vergessen glaubt und sich an dem Wunsch berauscht, sich selbst zu entgrenzen. Die Nacht ist heiter und ist rein, Im allerhellsten Glanz. Die Häuser schau’n verwundert drein, Steh’n übersilbert ganz. In mir ist’s hell so wunderbar, So voll und übervoll, Und waltet drinnen frei und klar, Ganz ohne Leid und Groll. Ich fass’ in meinem Herzenshaus Nicht all’ das reiche Licht. Es will hinaus, es muß hinaus, Die letzte Schranke bricht.

In metrischer Hinsicht bedeuten zwei ungewöhnliche Entscheidungen Seidls eine Herausforderung für jede Komposition des Textes. Zum einen weisen sämtliche zwölf Verse eine stumpfe Endung auf, zum anderen ist das Gedicht heterometrisch aufgebaut – konsequent wechseln in allen drei Strophen vier- mit dreihebigen Jamben ab. Schubert, der für seine Komposition den 2/4-Takt wählt, zieht daraus in seiner weitgehend syllabischen Umsetzung des Textes eine naheliegende Konsequenz: Die Phrasen zeichnen sich durch unterschiedliche Längen aus. Während der erste Vers der ersten Strophe drei Takte umfasst (Solo: T. 9–11, Chor: T. 13–15), genügen Schubert für den zweiten und vierten Vers zwei Takte (Solo: T. 17–18 und 29–30, Chor: T. 20–21 und 32–33). Schwieriger zu bestimmen ist der Umfang der Vertonung des dritten Verses: Die Phrase umfasst neun Achtel, also mehr als zwei, aber weniger als drei Takte (Solo: T. 23–24, Chor: T. 26–27). Wie an diesen Taktzahlen bereits abgelesen werden kann, folgen jedoch die einzelnen Verse nicht unmittelbar aufeinander. Sie sind vielmehr jeweils durch einen Pausentakt voneinander getrennt, in dem nur das Klavier spielt. Diese Klavierstimme, in der zumindest der Rhythmus, meist aber auch die Töne der Vokalstimmen verdoppelt werden, gibt in ihrem „Vorspiel“ – es handelt sich um nichts anderes als die Setzung eines einzigen B-Dur-Dreiklangs, wenn man so will, um ein Rheingold-Vorspiel en miniature – eine ‚normale‘, viertaktige Phrasenbildung vor: Takt 1–4 und Takt 5–8 sind identisch (Notenbeispiel 1). Indem auch anschließend die jeweils erste Phrase der Solostimme (T. 9–11/12) und des Chors (T. 13–15/16) mit einem zusätzlichen Takt im Klavier ‚aufgefüllt‘ wird, korrigiert Schubert sozusagen die unregelmäßige Dreitaktigkeit dieser Phrasen zur regulären Viertaktigkeit. Allerdings ‚füllt‘ Schubert die nur zweitaktigen Phrasen des zweiten und vierten Verses der ersten Strophe

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Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Nachthelle für Tenor und Männerchor (D 892), T. 1–16 (AGA XVI:13, S. 98)

ebenfalls mit einem zusätzlichen Takt im Klavier ‚auf‘, so dass hier die reguläre Zweitaktigkeit der Phrase zu einer irregulären Dreitaktigkeit ‚verbogen‘ wird. Anders formuliert – und hier zeigt sich die ganze Meisterschaft Schuberts: Die Ambivalenz des Nebeneinanders von geradzahligen vierhebigen und ungeradzahligen dreihebigen Jamben im Gedicht Seidls wird in der Komposition potenziert, indem das geradzahlige Metrum des ersten Verses durch ein ungeradzahliges Taktmetrum abgebildet wird, das aber aufgrund des zusätzlichen vierten Taktes im Klavier wieder als geradzahlig erscheint, während das ungeradzahlige Metrum des zweiten Verses durch ein geradzahliges Taktmetrum abgebildet wird, das aber aufgrund des zusätzlichen dritten Taktes im Klavier wieder als ungeradzahlig erscheint. Überdies spielt Schubert mit der Ambivalenz von volltaktigem Beginn des Klavier-

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vorspiels und – aufgrund des jambischen Versmaßes unvermeidlichem – konsequent auftaktigem Beginn der Gesangsphrasen; Scharnierstelle ist hier der Übergang von Takt 8 zu Takt 9. Schaut man nun aber auf die – für den weiteren Verlauf der Komposition entscheidende – Abfolge eines auftaktigen Achtels und eines volltaktigen Viertels in der linken Hand des Klaviers, erkennt man leicht die gliedernde und gleichzeitig zwischen Vier- und Dreitaktigkeit vermittelnde Funktion dieses zunächst in leeren Quinten, dann auch in Terzen, in der Oktave und einstimmig gesetzten ‚Motivs‘: Dieser Rhythmus begegnet in den Takten 3, 4, 7, 8, (9), 12, (13), 16, (17), 19, 22, (23), 25, 28, 31, 34, 37 und 40. Gleichzeitig erlaubt diese Perspektive die Feststellung, dass Schubert den dritten Vers der ersten Strophe in der Tat taktmetrisch dem dreihebigen zweiten und vierten Vers angenähert hat: Zusammen mit der ‚Auffüllung‘ durch das Klavier erscheint auch diese Phrase als dreitaktig. In der zweiten Strophe (ab T. 41) wechselt Schubert sein Vorgehen. Nun werden sämtliche Verse – unabhängig von der Anzahl ihrer Hebungen – durch zweitaktige Phrasen abgebildet. Zum ersten Mal in der Komposition scheint eine reguläre Taktmetrik spürbar, und tatsächlich umfasst diese Strophe genau sechzehn Takte, die allerdings – diesmal einigermaßen überraschend – durch das bekannte rhythmische Motiv in Takt 57 mit einem ‚überzähligen‘ siebzehnten Takt verlängert werden. Am Beginn der Strophe macht Schubert außerdem offensichtlich, dass es sich bei diesem rhythmischen Element tatsächlich um ein entscheidendes Motiv handelt: Der Solo-Tenor beginnt in Takt 41 genau auf der vom Klavier vorgegebenen Tonhöhe seine Phrase, an deren Beginn – wie schon in den Takten 9, 13, 17, 23, 26, 28, 31, 35 und 38 – die Repetition desselben auftaktigen und volltaktigen Tons steht, also präzise das, was das Klavier im Vorspiel und ein weiteres Mal unmittelbar vor Takt 41 vorgegeben hatte. Trotz ihres vergleichsweise regelmäßigen Aufbaus ist die zweite Strophe jedoch durch einen vorwärtsdrängenden Charakter und eine stetige Intensivierung gekennzeichnet: Zu den Worten „so voll und übervoll“, also im zweiten Vers, bildet der Komponist das ‚Übervolle‘ des poetischen Ichs durch eine unerwartete Klangfülle ab. Zum ersten Mal fällt der Chor, der bisher mit seinen Wiederholungen immer das Ende des jeweiligen Verses im Solo abgewartet hat, dem Solisten ins Wort, überdies – wie in einer Engführung – im Abstand von nur einem Takt. Genau dieses Konzept des ‚Übervollen‘ liegt auch wesentlichen Entscheidungen der Komposition der dritten Strophe zugrunde. Bei deren drittem Vers („es will hinaus, es muss hinaus“) spaltet Schubert erstmals einen Vers in zwei Hälften, mit anderen Worten: Er verkürzt den Einsatzabstand zwischen Solo und Chor nach der ‚Engführung‘ der zweiten Strophe ein weiteres Mal, nun auf einen halben Takt. Wie wichtig diese taktmetrische Intensivierung für die Konzeption der Komposition ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass genau an dieser Stelle (T. 65 mit Auftakt) das erste Mal auch in der linken Hand des Klaviers durchgehend Sechzehntel-Repetitionen begegnen, die dann bis fast zum Ende dieser Strophe (T. 77) und erneut für die letzte Reprise des Textes der ersten Strophe (T. 120–158) beibehalten werden. Im Anschluss an die dritte Strophe wiederholt Schubert ab Takt 84 den Text der ersten, genauer: Er wiederholt den Text dieser Strophe zweimal vollständig (T. 84–

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117 und 120–145) und noch ein weiteres Mal deren ersten Hälfte (T. 147–156). Auch hier ist das Ziel offensichtlich zunehmende Intensivierung, gesteigerte Vergegenwärtigung des ‚Übervollen‘. Schubert lässt den ersten Vers („Die Nacht ist heiter und ist rein“) nicht – wie zu Beginn – zweimal singen, sondern dreimal, und bei dieser dritten Wiederholung zwingt er den ersten und zweiten Vers zusammen in eine einzige, fünftaktige Phrase (T. 92–96), die wiederum vom Klavier mit einem sechsten Takt ‚aufgefüllt‘ wird. Im Gegensatz zur antiphonalen Anlage, wie sie die Komposition bis dahin (mit Ausnahme des zweiten bis vierten Verses der zweiten Strophe) geprägt hatte, singen ab Takt 122 Solist und Chor grundsätzlich gemeinsam. Bleibt die Frage, wie Schubert den ermüdenden rhythmischen Effekt der immergleichen stumpfen Endungen von Seidls Versen vermeidet? Ganz einfach: Er setzt die letzte Silbe eines Verses nicht ausschließlich auf die erste Zählzeit eines Taktes, sondern verwendet wiederholt daktylische Wendungen am Phrasenende, setzt also die drittletzte Silbe eines Verses auf die erste Zählzeit, so bei „(ver-)wundert drein“ in Takt 24 und 27 sowie in Takt 102 und 105, bei „wunderbar“ in Takt 42 und 44, bei „frei und klar“ in Takt 50 und 51, bei „Herzenshaus“ in Takt 59 und 61 und bei „reiche Licht“ in Takt 63 und 64. Vor allem variiert er aber die Tonhöhen am Phrasenende, was hier exemplarisch nur an der ersten Strophe gezeigt sei: Der erste Vers endet im Solo auf der Quinte (T. 11), im Chor dann auf dem Grundton (T. 15), der zweite auf der zweiten Stufe (T. 18 und 21), der dritte auf der erhöhten vierten bzw. der zweiten Stufe (T. 24 und 27), der vierte schließlich auf dem neuen Grundton der Dominante (T. 30, 33, 36 und 39). Noch interessanter ist freilich der Beginn der jeweiligen Phrasen, auf den später noch genauer einzugehen sein wird. UNSICHERES AUFTRETEN Zunächst aber zum Ständchen: Dort finden sich ganz ähnliche Ambivalenzen in der taktmetrischen Organisation eines Ablaufs, der beim ersten Hören ganz natürlich fließend scheint, beim genaueren Hinsehen aber wiederum äußerst ungewöhnliche Entscheidungen erkennen lässt. Dies hängt wesentlich mit Grillparzers improvisiertem Gedicht zusammen, das im Gegensatz zu Seidls Nachthelle höchst unregelmäßig aufgebaut ist. Zwar gilt für alle vier Strophen, dass Grillparzer ausschließlich Trochäen verwendet, aber in diesen Trochäen wechseln auf unvorhersehbare Weise zwei- und vierhebige Verse, weibliche und männliche Endungen, Paarreime, reimlose Verse und am Ende sogar ein umschließender Reim. Auch die Länge der Strophen ist ungleich: Die erste Strophe umfasst sieben Verse, die zweite und die dritte jeweils sechs, die vierte acht, von denen Schubert jedoch nur sechs komponiert hat. Im folgenden Abdruck ist links Grillparzers Text wiedergegeben, wie er vom Dichter 1827 handschriftlich fixiert wurde, in der Mitte finden sich knappe Angaben zur Metrik und zum Reimschema, rechts die Textabweichungen in Schuberts Komposition. Zur schnelleren Orientierung sind die zweihebigen Verse durch Kursivdruck hervorgehoben.

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Grillparzer7

Textabweichungen bei Schubert

Zögernd stille In des Dunkels nächt’ger Hülle Sind wir hier; Und den Finger leicht gekrümmt, Leise, leise, Pochen wir An des Liebchens Kammertür.

2a 4a 2B 4C 2d 2B 4B

Doch nun steigend, Hebend, schwellend Stark und stärker, lauter, laut Rufen aus wir hochvertraut: Schlaf du nicht, Wenn der Neigung Stimme spricht!

2e 2f 4G 4G 2H 4H

Sucht’ ein Weiser nah und ferne Menschen einst mit der Laterne; Wieviel seltner dann als Gold Menschen, uns geneigt und hold. Drum, wenn Freundschaft, Liebe spricht: Freundin, Liebchen, schlaf du nicht!

4i 4i 4J 4J 4H 4H

Aber was in allen Reichen Wär’ dem Schlummer zu vergleichen? Was Du weißt und hast und bist, Zahlt nicht was der Schlaf vergißt! Drum statt aller Freundschaftsgaben Sollst du nun auch Ruhe haben. Noch ein Grüßchen, noch ein Wort! Es verstummet unsre Weise; Leise, leise, Schleichen wir uns wieder fort!

4k 4k 4l 4l 4m 4m 4N 4d 2d 4N

Zögernd leise nächt’ger Stille sanft gekrümmt

Schwellend, hebend Mit vereinter Stimme, laut

[gestrichen] [gestrichen] Drum statt Worten und statt Gaben Es verstummt die frohe Weise

Schubert fasst die beiden ersten Strophen zu einer einzigen Doppelstrophe zusammen und wählt für die so verbleibenden drei Teile eine scheinbar einfache ABA’Disposition. Bei der Verteilung der einzelnen Verse auf Solo und Chor scheint er zunächst einer Logik zu folgen, die für jeden Vers, sei er nun zwei- oder vierhebig, jeweils einen Takt vorsieht (Notenbeispiel 2). Aber bereits in Takt 11 kommt es beim vierten Vers („Und den Finger sanft gekrümmt“) zu einer Engführung wie in Nachthelle: Nachdem Solistin und Chor bis dahin konsequent alterniert hatten, fällt hier der Chor der Solistin gleichsam ins 7

Der Textabdruck folgt der kritischen Edition von Grillparzers Handschrift in: Franz Grillparzer,  Gedichte. Erster Teil, hrsg. von Reinhold Backmann, Wien 1932 (Franz Grillparzer, Sämtliche  Werke I/10), S. 90; ebenda, S. 91, findet sich auch der vollständige Abdruck der von Schubert  komponierten Textfassung.

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Notenbeispiel 2: Franz Schubert, Ständchen für Alt-Solo und Männerchor (D 920), T. 1–6 (AGA XVI:13, S. 108)

Wort, worauf im unmittelbar nachfolgenden Takt 12 der Einsatzabstand von Solo und Chor zusätzlich auf nur noch eine Viertelnote reduziert wird. Die beiden letzten Verse der ersten Strophe („Pochen wir / An des Liebchens Kammertür“) werden dann sogar in eine einzige Phrase zusammengebunden, bevor mit dem Beginn der zweiten Strophe durch die Wechsel zwischen Solo und Chor im Abstand einer Viertelnote dieses ‚Ineinander‘-Singen weiter gesteigert wird. Eine taktmetrische Gliederung von Schuberts Ständchen wäre aufgrund all dieser Unregelmäßigkeiten nur in einer höchst komplexen Darstellung zu erreichen, die mehr verdunkelt als erhellt. Allerdings fällt am Beginn der Komposition die ‚Verschränkung‘ beim ersten Einsatz der Singstimmen auf: Der vierte Takt des Klaviervorspiels ist gleichzeitig der erste Takt der ersten Strophe – ein Effekt, der dadurch potenziert wird, dass in Takt 4 des Klavierparts der Akkordwechsel vom ers-

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ten zum zweiten Viertel die Bewegung vom zweiten zum dritten Viertel in Takt 1 aufgreift. Dabei kann dieses – geht man von der viertaktigen Norm aus – verfrühte ‚Hineinstolpern‘ der Singstimmen als musikalische Entsprechung des unsicheren Hineintretens der Sänger verstanden werden. „Zögernd, leise“ scheinen diese nicht recht zu wissen, ob sie sich für F-Dur, G-Dur oder g-Moll entscheiden sollen. Zusätzlich akzentuiert wird diese Unsicherheit des Auftretens durch den Einsatz der Solostimme auf der Terz a, der führenden Chorstimme auf der Terz e der Dominante (in der späteren Fassung mit Frauenchor allerdings ein c) und außerdem durch die Andeutung mehrerer harmonischer Sequenzen: In Takt 4–7 folgt auf die Fortschreitung F-Dur – C-Dur – c-Moll als zweites Glied G-Dur – g-Moll – d-Moll, in Takt 11/12 erlaubt die Stufenbewegung des Basses cis – d – e – f die Auflösung der Zwischendominante A-Dur nach d-Moll und dann die Auflösung der Zwischendominante C-Dur nach f-Moll, in Takt 15–17 ergibt die Abfolge C-Dur – f-Moll – Cis-Dur – fis-Moll – D-Dur – g-Moll (allerdings zunächst als Quartsextakkord) sogar eine dreigliedrige (chromatische) Sequenz. Ein Sequenz-Modell scheint auch dem Beginn des in der Paralleltonart d-Moll einsetzenden und in der Subdominante B-Dur schließenden Mittelteils eingeschrieben. Das ‚Vorhaltgeschiebe‘, wie wir es (genauso wie Schubert) aus unzähligen barocken Kompositionen, etwa dem ersten Satz von Pergolesis Stabat mater, kennen, gerät allerdings durch geschickt eingeführte Chromatisierungen zu einem harmonischen Vexierspiel, in dem nicht nur die (Schein-)Polyphonie, sondern auch die unsichere und zeitweise ziellos wirkende Suche nach einer neuen Tonart (d – F – a – C – a – C – e – g – B) unmittelbar für den im Text versteckten Bezug zu Diogenes steht („Sucht’ ein Weiser […] mit der Laterne“). STILLSTAND UND BEWEGUNG Diese Ambivalenz von Stillstand und Bewegung ist aber bereits im Klaviervorspiel angedeutet: Über einem scheinbar stabilen Orgelpunkt auf dem Grundton f wechseln konsonante und dissonante Akkorde, bevor eine vollständige Kadenz erklingt. Dabei gelingt es Schubert sogar, einen Vierertakt zum Tanzen zu bringen. Denn auch wenn die drei nachschlagenden, einer Gitarren-Begleitung nachempfundenen Sechzehntel der rechten Hand zusammen mit der Bassnote auf dem jeweils ersten Sechzehntel einen vierteiligen Rhythmus ergeben, wird in diesen nachschlagenden Sechzehnteln doch ein latenter Dreier-, sozusagen ein Walzer-Rhythmus erkennbar. (Am einfachsten lässt sich dieser Kunstgriff nachvollziehen, wenn man – in Abweichung von Schuberts Notation und um den unvermeidlichen Preis der Trivialisierung – das erste und zweite Sechzehntel gleichzeitig anschlägt, also die Klavierbegleitung versuchsweise in einem 12/16-Takt spielt.) Unter diesem Blickwinkel ist es überdies sehr auffällig, dass alle drei Formteile der symmetrisch gebauten Komposition 27 Takte umfassen: Der A-Teil reicht von Takt 1–27, der B-Teil von Takt 28–54, und nach einer Überleitungspassage von sieben Takten beginnt der C-Teil in Takt 62, um mit dem Schlussakkord in Takt 88 zu enden. Angesichts der Tatsache, dass sich diese 27 Takte in keinem Fall auf drei-

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mal neun Takte zurückführen lassen, sondern die dritte Potenz von Drei auf kompliziertere Weise zustande kommt, muss es dahingestellt bleiben, ob diese fast perfekt wirkende Potenzierung der Dreiteilung der Komposition auch in der Anzahl der Takte bewusst oder unbewusst erfolgte. Auf jeden Fall trägt einerseits die vollkommen symmetrische Disposition, andererseits die unklare, sozusagen in der Schwebe gehaltene Taktmetrik wesentlich zu dem überwältigenden Effekt dieser Musik bei, wie ihn Heinrich Kreißle von Hellborn noch im Jahre 1865 erinnerte: „Die Wirkung der Nachtmusik bei heller Mondbeleuchtung im Freien war zauberisch. Viele Bewohner Döblings umstanden horchend den Garten. Schubert war (wie gewöhnlich) bei der Aufführung nicht gegenwärtig.“8 Überhaupt gehört dieses Ständchen zu den in den Erinnerungen der Zeitgenossen am häufigsten genannten Kompositionen, was gewiss auch mit dem Rang des Autors der literarischen Vorlage zu tun hat.9 Besonders farbenreich, wenn auch nur aus zweiter Hand, ist dabei der Bericht des vor allem aus der Beethoven-Forschung bekannten Chirurgen Gerhard von Breuning (Wien 1813 – Wien 1892) ausgefallen, den dieser in der Wiener Neuen Freien Presse vom 19. und 20. November 1884 publizierte: „Ein anderes Mal erzählte mir Anna [Fröhlich]: ‚So oft ein Namens- oder Geburtstag der Gosmar, der späteren Frau Sonnleithner’s, nahe war, bin ich allemal zu Grillparzer gegangen und habe ihn gebeten, etwas zu der Gelegenheit zu machen, und so habe ich es auch einmal wieder gethan, als ihr Geburtstag bevorstand. Ich sagte ihm: ‚Sie, lieber Grillparzer, ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sollten mir doch ein Gedicht machen für den Geburtstag der Gosmar.‘ Er antwortete: ‚No ja, wenn mir was einfällt.‘ Ich aber sagte: ‚No, so schauen’s halt, dass Ihnen was einfällt.‘ In ein paar Tagen gab er mir das ‚Ständchen‘: ‚Leise klopf’ ich mit gekrümmtem Finger …‘ Und wie dann bald der Schubert zu uns gekommen ist, habe ich ihm gesagt: ‚Sie, Schubert, Sie müssen mir das in Musik setzen.‘ Er: ‚Nun, geben Sie’s einmal her.‘ Ans Klavier gelehnt, es wiederholt durchlesend, rief er ein- über das anderemal aus: ‚Aber, wie das schön ist – das ist schön!‘ Er sah so eine Weile auf das Blatt und sagte endlich: ‚So, es ist schon fertig, ich hab’s schon.‘ Und wirklich, schon am dritten Tage hat er mir es fertig gebracht, und zwar für einen Mezzosopran (für die Pepy nämlich) und für vier Männerstimmen. Da sagte ich ihm: ‚Nein, Schubert, so kann ich es nicht brauchen, denn es soll eine Ovation lediglich von Freundinnen der Gosmar sein. Sie müssen mir den Chor für Frauenstimmen machen.‘ Ich weiß es noch ganz gut, wie ich ihm dies sagte; er saß da im Fenster. – Bald aber brachte er es mir dann für die Stimme der Pepi und den Frauenchor, wie es jetzt ist.“10

Aus diesem Bericht wird also auch plausibel, warum dieses Ständchen in zwei Fassungen überliefert ist, einer ersten für Solo-Alt und vier Männerstimmen (D 920) und einer zweiten für Solo-Alt und vier Frauenstimmen (D 921), die bei Diabelli – vermutlich Anfang 1840 – als Opus 135 im Druck erschien. Die heutige Auffüh8 9

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Heinrich Kreißle von Hellborn, Franz Schubert, Wien 1865, S. 474. Vgl. auch die Berichte von Auguste von Littrow-Bischoff (1880), in: Grillparzers Gespräche und die Charakteristiken seiner Persönlichkeit durch die Zeitgenossen, hrsg. von August Sauer, Erste Abteilung (Biographieen und allgemeine Charakteristiken 1841–1894),  Wien  1904,  S. 309–310, und von Freiherr Theodor von Rizy (1877), ebenda, Zweite Abteilung (Gespräche und Charakteristiken 1791–1831), Wien 1905, S. 330. Gerhard Breuning, „Aus Grillparzer’s Wohnung“, in: Neue Freie Presse vom 19. und 20. November 1884, Nr. 7266, S. 1–3, sowie Nr. 7267, S. 1–4, hier Nr. 7266, S. 3.

Tönend bewegte Stille

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rungspraxis hat der ersten Fassung den Vorzug gegeben, aus guten Gründen insofern, als Schubert im Gegenüber von Altstimme und ‚Männerchor‘ einen klanglichen Kontrast ausspielen kann und Akkorde in weiten Lagen bevorzugt. Bei der Bearbeitung des ‚Männerchors‘ zum ‚Frauenchor‘, bei der übrigens auch die SoloStimme in vielen Details verändert wurde, war er dagegen gezwungen, viele Akkorde enger zu fassen, damit das Solo nicht unter der obersten Chorstimme zu liegen kommt. Dennoch hat auch diese Fassung ihren Reiz, nicht zuletzt aufgrund ihrer klanglichen Homogenität und ihrer größeren Nähe zu Grillparzers poetischer Idee. Als verfehlt müssen hingegen Mischfassungen bezeichnet werden, wie sie zum Beispiel eine moderne Ausgabe präsentiert, die zwar in den Besetzungsangaben „Tenor I, II“ und „Baß I, II“ vorschreibt, diesen Stimmen aber die in die untere Oktave transponierte Fassung des ‚Frauenchors‘ aus D 921 zuweist.11 FLIMMERNDE ZEIT Wenn das Ständchen also wesentlich von der nicht zuletzt mit subtilen taktmetrischen Mitteln erreichten Ambivalenz von Stillstand und Bewegung geprägt ist, findet sich in Nachthelle ein wesentlicher Schritt über diese Dichotomie hinaus. In dem Moment, wo das Klavier auch in der linken Hand zu Sechzehntel-Repetitionen übergeht, scheint der – vorher so nachdrücklich mit dem auftaktigen ‚Motiv‘ skandierte – Rhythmus suspendiert, der Klang gerät ins Flimmern – ganz ähnlich übrigens wie in den Tremoli am Beginn des Streichquartetts in G (D 887). Dieses den Glanz einer strahlend hellen Nacht abbildende Flimmern erscheint aber nur als logische Konsequenz des gleichzeitig von sehr schnellen Bewegungen geprägten und doch eigentümlich bewegungslosen Klaviervorspiels, in dem im pianissimo die Terz des B-Dur-Akkords besonders nachdrücklich hervorgehoben wird: Unter den drei Noten der rechten Hand erklingt zweimal die Terz. Nun zeigen aber heute besonders populäre Kompositionen wie das erste Präludium aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier BWV 846 oder das allgegenwärtige Air aus dessen dritter Orchestersuite BWV 1068, welche Wirkung der häufige Einsatz von Akkorden in Terzlage haben kann. In Schuberts Nachthelle ist dieser Effekt noch zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Singstimme, der – so ein Freund Schuberts in einem scherzhaften Brief am Morgen der Uraufführung – „obligate, verdammt hohe Tenor“,12 in seiner ersten Phrase (und zwar in BassettFunktion) die Quinte und die Terz, auch die Sexte, nicht aber den Grundton anstimmt. Auch Kadenzwendungen am Ende von Strophen, Modulationen wie am Beginn der zweiten Strophe und nicht zuletzt der letzte Einsatz des Solo-Tenors stellen immer wieder die (Dur-)Terz in den Vordergrund. Damit wird gleichzeitig offensichtlich, wie fragil das strahlende Dur dieser Komposition ist, auch hier übrigens auf ganz ähnliche Weise wie im Ständchen. 11 12

Vgl. Franz Schubert, Ständchen für Alt- oder Bariton-Solo, vierstimmigen Männerchor oder vierstimmigen Frauenchor und Klavier opus 135, London: Schott, 1952 (ED 4339). Brief Ferdinand Walchers an Franz Schubert vom 25. Januar 1827, in: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 403.

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Wie in so vielen von Schuberts Kompositionen ist auch für diese beiden Stücke der ‚Beleuchtungswechsel‘ von Dur und Moll von kaum zu überschätzender Bedeutung. In Nachthelle wird bereits beim ersten Vers der ersten Strophe in Takt 14 die scheinbar so heitere Stimmung von F-Dur nach f-Moll eingetrübt, bevor in Takt 27 (und 105) ein verstörender Wechsel vom Dominantseptakkord über C nach e-Moll die „Verwunderung“ andeutet, von der im Text die Rede ist. Das „reiche Licht“, das „hinaus“ will, wird anlässlich des dynamischen Höhepunkts am Abschluss der dritten Strophe durch Es-Dur repräsentiert. Am Beginn dieser breit ausgeführten Kadenz in die Subdominante erklingt aber in Takt 63/64 es-Moll, danach in Takt 72 und 74 as-Moll. Solche Irritationen bleiben nicht folgenlos: Die Reprise der ersten Strophe setzt in Takt 84 nicht in B-Dur ein, sondern in C-Dur, und erst nachdem der erste Vers auch in g-Moll und d-Moll erklungen ist, zwingt Schubert die Phrase in die Grundtonart. Schließlich wird bei der letzten vollständigen Wiederholung der ersten Strophe zum selben Text, zu dem zuvor die verstörende Ausweichung nach e-Moll zu hören war („Die Häuser schau’n verwundert drein“), in Takt 136–141 die Harmonie von B-Dur nach fis-Moll gerückt. Auf vergleichbare Ausweichungen im Ständchen wurde bereits hingewiesen. Auch dort begegnen mit As-Dur und fis-Moll Tonarten, die von der Grundtonart F-Dur ähnlich weit entfernt sind wie e-Moll und fis-Moll von B-Dur. Auch wenn sich ein Beteiligter an der Uraufführung von Nachthelle, der damals als Praktikant im Marinedepartement des Hofkriegsrates tätige Jurist Ferdinand Walcher (Waidhofen an der Ybbs 1799 – Wien 1873) gegen die Idee verwahrt hat, in dieser Komposition könne es um „Somnambulism“ oder „Clairvoyance“ gehen,13 lässt sich nicht von der Hand weisen, dass mit solchen Entscheidungen sehr wohl die metaphysischen Assoziationen angesprochen werden, die das Betrachten einer hellen Nacht, aber auch „des Dunkels nächt’ger Stille“ bei sensiblen Betrachtern auszulösen vermag. In einem literarischen Essay mit dem emblematischen Titel Nachthelle hat Friedrich Dieckmann festgehalten: „,Nachthelle‘ und ‚Ständchen‘ bekunden es mit vielen anderen nächtig bewegten Ensemblestücken: daß diesem Komponisten der Nacht-Topos ein gesellig-umfassender ist; dann erfüllt sich der Frieden der Nacht in einem Miteinander, dessen Wesen tönende Stille ist.“14 Präziser noch lässt sich Dieckmanns paradoxe Formulierung von „tönender Stille“ in Anlehnung an einen anderen, bekannteren Autor der bereits genannten Wiener Freien Presse fassen: In der Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, für die das Nebeneinander von regulären und irregulären taktmetrischen Strukturen nur ein Beispiel ist, gestaltet Schubert unter dem Zeichen der Nacht tönend bewegte Stille.

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Ebenda. Friedrich  Dieckmann,  „Nachthelle.  Figuren  des  Einverständnisses  in  Schuberts  Werk“,  in:  Neue Zeitschrift für Musik 158 (1997), H. 1 (Januar/Februar), S. 20–23, hier S. 22.

SCHUBERTS QUELLEN Über zwei Werke für Klavier zu vier Händen Hermann Danuser Pflege und Studium der Musik, in jüngster Zeit politisch gefordert – durch Nordrhein-Westfalen schallt seit einigen Jahren der Slogan „Jedem Kind sein Instrument!“ –, beeinflussen die Intelligenz und das Sozialverhalten von Heranwachsenden positiv und werden darum in vielen Regionen der Welt gefördert. Aktives Musizieren – mehr als passives Hören – steigert die soziale Kompetenz. Wenn Menschen Musik machen und gar ein Werk realisieren, bewältigen sie eine nicht immer einfache Aufgabe und lernen, was gesellschaftliches Mit- statt Gegeneinander heißt. Kammermusik besitzt darum gegenüber dem Solo-Spiel Vorteile, im Unterricht, beim Lernen, auch im Konzert. Es gilt dies ganz besonders von jener Art, welche vom 18. bis zum 20. Jahrhundert für das, was heute musikalische Sozialisation – früher Bildung – heißt, ein großes Gewicht besessen hat: Vierhändig-Spielen am Klavier. Der Bogen von Musikern, die dieses Spiel praktiziert und dafür Werke bearbeitet oder komponiert haben, ist sehr weit gespannt. Der Höhenkamm reicht von W. A. Mozart bis György Kurtág, in seiner Mitte aber steht künstlerisch Franz Schubert. Symbolträchtig begann sein vierhändiges Klaviermusik-Schaffen mit einer Fantasie in G im Jahre 1810 (D 1) und kam im letzten Lebensjahr – 1828 – mit drei veritablen Meisterwerken, der Fantasie in f, dem Allegro in a („Lebensstürme“) und dem Rondo in A (D 940, D 947, D 951), zu Ende. Erlaubt uns dieses Schaffen, für Schubert, dessen soziale Existenz weniger auf adliger Patronage als dem Bürgerraum geselliger Freundschaft beruhte, eine Brücke zur Postmoderne zu schlagen? Seine vierhändige Klaviermusik, so scheint es, exemplifiziert im frühen 19. Jahrhundert tatsächlich Leslie Fiedlers Slogan: Cross the border, close the gap!, sie überwindet damit Grenzen – vom Volk zur Kunst, von der Kunst zum Volk – und verringert so die in der damaligen Klassen-Gesellschaft tiefen Gräben. Wenn eine als ‚metamusikalische Praxis‘ begriffene Musikologie zu validen Ergebnissen kommen will, muss sie eine Quadratur des Kreises insofern anstreben, als sie einerseits die Forschung über ausgewählte Probleme vergegenwärtigend sich durch Erkenntnis in Distanz zu der in Frage stehenden Kunst bringt, und andererseits durch erinnerte ästhetische Erfahrung mit Musik diese Distanz zum Schmelzen bringt und einen Schein unmittelbarer Praxis aufflammen lässt. Schuberts vierhändige Klaviermusik erfüllt für mich beide Voraussetzungen: Seit Kindheit und Studienzeit gehört sie zum Kern des eigenen musikalischen Lebens; und zugleich kann ich an Texte anknüpfen, in denen Wesentliches geschrieben steht – vom jungen Adorno über das Rondo, über die Fantasie in f von Hans-Joachim Hinrich-

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sen.1 Schuberts vierhändige Klaviermusik zeigt eine Liste von eindrücklicher Varietät: Tänze (Ländler, Walzer, Deutsche, Polonaisen), Märsche, Divertissements, Fantasien, Sonaten und manches mehr. Beim Publikationsprogramm durfte, damit der Verkauf lohnend blieb, ihr Schwierigkeitsgrad nie so hoch sein, dass Klavierspieler, die keine Virtuosen waren, ihre Parts nicht bewältigen konnten. In meinem Beitrag thematisiere ich die Trois Marches militaires op. 51 (D 733), komponiert im Jahre 1818, erschienen im August 1826, und stelle sie dem späten Allegro in a gegenüber, das erst posthum (1840) publiziert wurde. Ein Grundzweck von Militärmärschen ist es, gemeinsames Gehen, gemeinsames Drängen zu trainieren – Schreiten als Vorbedingung für den Kampf. Der ‚Militärmarsch‘ oder der ‚heroische Marsch‘, wie ein von Schubert ebenfalls gepflegter Typus hieß, war somit ein Übungsstück für gemeinsames Handeln. Von der neueren Musikwissenschaft favorisierte Ideen einer körperhaften Umsetzung von Musik haben hier keine bloß metaphorische Bedeutung; sie weisen in ihr Zentrum. Zu fragen wäre: Welche Stellung kommt Schuberts Militärmärschen in der langen, reichen Geschichte der Marschgattung zu, die sich vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart erstreckt?2 Welche Faktoren trennen Schuberts Märsche von trivialer oder gar schlechter Marschmusik? Warum machen sie den Spielenden Freude und vermitteln eine Erfahrung – nicht nur einen Vorgeschmack – von Kunst? Und: Wie verbindet Schubert die Sphären, wenn er aus Quellen volkstümlichen Musizierens Kunst entstehen lässt, an die Wiener klassischen Meister – zumal Haydn und Mozart – anknüpft und damit selbst zu ihren Meistern gerechnet wird? Ein im Jahre 1932 publizierter Roman von Joseph Roth trägt den Marschbegriff und den Widmungsträger eines bis in die Gegenwart gespielten Stücks in seinem Titel: Radetzkymarsch. Das zweite Kapitel schildert die Militärkapelle eines Infanterieregiments in Mähren: „Der Kapellmeister gehörte noch zu jenen österreichischen Militärmusikern, die dank einem genauen Gedächtnis und einem immer wachen Bedürfnis nach neuen Variationen alter Melodien jeden Monat einen Marsch zu komponieren vermochten. Alle Märsche glichen einander wie Soldaten. Die meisten begannen mit einem Trommelwirbel, enthielten den marsch-rhythmisch beschleunigten Zapfenstreich, ein schmetterndes Lächeln der holden Tschinellen und en1

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Theodor  W.  Adorno,  „Franz  Schubert:  Großes  Rondo  A-Dur,  für  Klavier  zu  vier  Händen,  op. 107“ [1934], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt  am Main 2003, S. 189–194; vgl. auch Theodor W. Adorno, „Schubert“ [1928], in: ders., Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928–1962, Frankfurt am Main 1964, S. 18–36; ders.,  „Vierhändig, noch einmal“ [1933], in: ders., Impromptus. Zweite Folge neu gedruckter musikalischer Aufsätze,  Frankfurt  am  Main  1968,  S.  142–145;  ders.,  Franz Schubert, Fantasie in f-Moll D 940 für Klavier zu vier Händen, Entwurf in The Pierpont Morgan Library New York.  Eigenhändige  Reinschrift  in  der  Musiksammlung  der  Österreichischen  Nationalbibliothek.  Faksimile-Ausgabe,  hrsg.  von  Hans-Joachim  Hinrichsen, Tutzing  1991;  Hans-Joachim  Hinrichsen, „Zwischen Terminologie und Metaphorik. Zu Theodor W. Adornos frühen Essays über  Franz Schubert“, in: Musikgeschichten. Vermittlungsformen. Festschrift für Beatrix Borchard, hrsg. von Martina Blick u. a., Köln etc. 2010 (Musik, Kultur, Gender 9), S. 213–228; HansJoachim Hinrichsen, „Produktive Konstellation. Beethoven und Schubert in der Musikästhetik  Theodor W. Adornos“, in: Musikalische Analyse und kritische Theorie, hrsg. von Adolf Nowak, Tutzing 2007 (Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 33), S. 157–175. Vgl. Achim Hofer, Artikel „Marsch“, in: MGG2, Sachteil, Bd. 5, 1996, Sp. 1667–1682. 

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deten mit einem grollenden Donner der großen Pauke, dem fröhlichen und kurzen Gewitter der Militärmusik. Was den Kapellmeister Nechwal vor seinen Kollegen auszeichnete, war nicht so sehr die außerordentlich fruchtbare Zähigkeit im Komponieren wie die schneidige und heitere Strenge, mit der er Musik exerzierte. […] Alle Platzkonzerte – sie fanden unter dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt – begannen mit dem Radetzkymarsch.“3

Dieser Marsch steht mit seiner einfachen Struktur ein für die politische Ordnung der österreich-ungarischen Monarchie. Die pedantische Ausführung des Marsches und die Regelhaftigkeit einer Musik, die jedem Beteiligten bis zum Überdruss geläufig ist, führt die Hohlheit, die Leere, die eines substantiellen Inhalts beraubte Form vor Augen. Und wie am Ende des Romans der Radetzky-Marsch nicht mehr erklingt, so ist die politische Gemeinschaft, die das Völkergemisch-Heer aus Soldaten und Offizieren tragen sollte, zerbrochen. Den Radetzky-Marsch hat Johann Strauss der Ältere 1848 zur Feier des gegen italienische Aufständische errungenen Sieges des damals 82jährigen Grafen Josef Wenzel Radetzky von Radetz, eines treuen Repräsentanten der Monarchie, unter welcher Franz Schubert gelebt und gelitten hatte, komponiert – eine Klang-Chiffre des Habsburger-Reiches bis heute, vielfältig bearbeitet und im Original quellenmäßig für Klavier zu vier Händen, nicht aber als Partitur für Orchester oder Harmoniegruppe überliefert.4 Während indes Roths Kapellmeister Nechwal seine Kraft auf die Kreation eines vermeintlich Immergleichen richtet, schöpft Schubert in den Trois Marches militaires Kontraste aus, verbindet den kräftigen Ton mit dem zarten, den zupackenden mit dem empfindungsreichen, den bewegten mit dem erinnerungsvollen, den aktiven mit dem passiven. So reihen sich die Märsche – Musik mit einem sehr eigenen Tonfall – neben den Impromptus und Moments musicaux in den Schubertschen Kosmos ein. Für alle gilt ein gattungstypischer Rahmen: Eine schwungvolle ‚Marcia‘ umrahmt ein introvertiertes Trio in der Subdominant-Tonart bei unverändertem Tempo; wie bei anderen Charakterstücken für Klavier herrscht eine Welt der Bogenform. Diese Disposition hat ihr Analogon im Schema Menuett–Trio–Menuett oder Scherzo–Trio–Scherzo, und sowohl die Bogenform (A–B–A) als auch die repetierten Abschnitte von A und von B zeitigen eine so stabile Basis, dass die Marschfunktion hier zu einem Teil der inventio wird. *** Nr. 1: Gattungstypisch beginnt der erste Marsch über sechs Takte mit einem vorbereitenden einstimmigen Auftakt des Secondo-Spielers, der kraftvoll zwischen Tonika und Dominante pendelt und einen Tonika-Dreiklang ausmisst (bei D 733/3 ist dies ein wachsender Dominantakkord, der sich in die ‚Marcia‘ entlädt). Indem der Vorspann später auch als Nachspann fungiert, erfüllt er für die Form eine Klammerfunktion. Im A-Teil bilden Metrik, Melodik und Harmonik eine militärische Metapher, denn zügiges, elastisches Schreiten (T. 7–22) wechselt ab mit Stocken und 3 4

Joseph Roth, Radetzkymarsch, Köln 242009, S. 26–27. Vgl.  Zoë  Lang,  „The  Regime’s  ‚Musical  Weapon‘  Transformed:  The  Reception  of  Johann  Strauss Sr’s Radetzky March Before and After the First World War“, in: Journal of the Royal Musical Association 134 (2009), S. 243–269.

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Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Trois Marches militaires (D 733), Nr. 1: Allegro vivace, T. 25–36 [Beginn des B-Teils] (NGA VII:1/4, S. 21. Abdruck mit freundlicher  Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Stampfen (T. 22–30). Der Mittelabschnitt dieses Teils (T. 22ff.) durchschneidet die reguläre Bewegung plötzlich und insistiert rhythmisch-metrisch auf akzentuierten Vierteln – dem Bild einer stehend stampfenden Soldatentruppe.5 In diesem A-Teil des Marsches bilden das Fundament des Materials die ‚kräftige‘ Quarte im Bass (vgl. T. 7ff.) und im Ganzen der Dreiklang, wobei die tonalen Linien Kraft und Energie innervieren, da sie weder plump noch starr einen elastisch-flexiblen Ablauf verkörpern (Notenbeispiel 1). Im Trio-Teil (B) dagegen bildet die schwache, schwebende Terz die Basis des Bass-Pendels (T. 1ff.). Jeweils zweitaktige Ton-Repetitionen bestimmen den lyrischen Charakter – das Insistieren vom mittleren A-Teil transformierend – und dokumentieren Schuberts Fähigkeit, mit kargen Elementen Vielfalt zu stiften, aus volkstümlichem Material Kunst hervorzuzaubern. Eine eigentümlich doppelte Melodik bringt im Trio Subjektivität zum Ausdruck: einerseits ein Auf-der-Stelle-Treten, ein Zögern, ein Verzicht auf Fortbewegung bei vier wiederholten Portato-Vierteln auf d1 (Takte 1f., 5f., 9f.), andererseits eine rasch bewegte Kadenzierung mit einem Aufschwung, der wieder zum selben Ton d1 führt. Der zweite Trio-Teil wendet sich zunächst nach Moll. Die leise, einstimmige Tonrepetition dieser Mollsphäre erinnert Spieler und Hörer daran, dass Militärmarsch-Topoi nicht nur Freuden des Geselligen erwecken, ihre bellizistische Kom5

Vgl. Arnold Feil, Studien zu Schuberts Rhythmik, München 1966, darin über das Moment musical f-Moll S. 83–87.

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Notenbeispiel 2: Schubert, Trois Marches militaires (D 733), Nr. 1: Trio, T. 31–42 [Ende des B-Teils] (NGA VII:1/4, S. 24. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

ponente vielmehr auch menschliches Leid, ja Todesassoziationen mit sich führt. Eine musikpsychologisch relevante Maggiore-Aufhellung stellt danach das Tongeschlecht des ersten Teils wieder her. Der Mittelteil – wie der zweite Teil insgesamt – greift die Tonrepetition auf derselben Höhe wie der erste Teil (d1) auf, wechselt aber – wie das Tongeschlecht – zu anderen Tönen, ja er gibt die viermalige Repetition des gleichen Tones auf: Auf viermal d2 folgt nämlich, eine kleine Terz höher gerückt, f2–f2–f2–g2, was Schuberts Willen, simples Wiederholen zu vermeiden, dokumentiert (Notenbeispiel 2). Nr. 2: Der zweite Militärmarsch von D 733 nimmt das Tempo zurück (Allegro molto moderato) und ergeht sich in einem 4/4-Takt (G-Dur). Dieweil bei Nr. 1 die Funktionsdifferenz Melodie/Begleitung die beiden Spieler band, ist beim zweiten Marsch ein körperlich begründeter, in eins verwachsener, aus einem Impuls geborener homophon-akkordischer Rhythmus hervorzuheben (T. 1–4), der leicht und imitatorisch fortgesetzt wird (T. 5–8), wonach das Tuttiprinzip die Partner bei gegenstrebiger Richtung der Akkorde – der Secondo nach unten, der Primo nach oben – ins Extrem treibt (T. 17–21). Im Anfangstutti, das beide Partner voll in die Tasten greifen lässt, manifestiert sich dieses Militärmarsches Essenz (Notenbeispiel 3). Während die Takte 1–4 das Bild eines geschlossen vorwärts schreitenden Heeres bieten, in welchem sich der Einzelne aufgehoben fühlt, setzt sich in den Takten 5–8 eine Kriegs- oder Gefechtsmaschinerie aus vielen Einzelnen zusammen, die im Dienst eines höheren Ganzen bereit sein müssen, ihr Leben für eine übergreifende

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Notenbeispiel 3: Franz Schubert, Trois Marches militaires (D 733), Nr. 2: Allegro molto moderato, T. 1–10 (NGA VII:1/4, S. 25. Abdruck mit freundlicher Genehmigung  des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Machtinstanz (Vaterland, Vaterstadt, Fürst, Partei, Nation etc.) zu verlieren. Kann man tatsächlich in den Motiven, die in diesen Takten 5–8 aus dem preisgegebenen Tuttiklang hervorstechen, das Bild einzelner Soldaten erblicken, die ihr Kriegsgeschäft verrichten? Nr. 3: Der dritte, letzte Marsch von D 733 setzt einen rhythmischen Zug, eine reißende Kraft in Gang, deren Energie die der anderen beiden deutlich übertrifft. Das Tempo ist „Allegro moderato“, der Marsch steht in Es-Dur, das Trio in As-Dur. Diesen großen Schwung begründen großräumige Harmonien, die oft ganze Takte währen und im 4/4-Metrum einen weiten Raum einnehmen. Die ständige Punktierung der Viertel setzt hier eine stete Energie frei, doch, nicht mechanisch durchgehalten, erhält sie erst durch gehaltene Töne und Überbindungen richtigen Schwung. Wäre alles einförmig, verpuffte die entfesselte Energie. Das Trio des dritten Marsches setzt die Funktionsdifferenzierung – einfache Hauptstimme für den Primo, akkordischer Begleitsatz für den Secondo – fort, ja verstärkt sie und erreicht dadurch eine Grenze. Als ergriffe ein Einerlei die künstlerische Subjektivität, kann sich der Ausdruck hier nicht mehr zur freien Schönheit

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der Trio-Teile der anderen Märsche emporschwingen. Zwar hat dieser Teil etwas Zartes, fast Graziöses an sich, aber es erscheint merkwürdig domestiziert, reglementiert, wenn nicht gar mechanisiert. Es stellt sich damit die Frage, wie sich Schuberts durch eine Opuszahl als Kunstwerk ausgewiesene Musik innerhalb seines Œuvres zu jenen Militärmärschen verhalte, die in der nachnapoleonischen Zeit das Wiener Stadtbild und das alltägliche Hören der dortigen Bevölkerung in überreichem Maße bestimmten. Die Märsche waren so etwas wie das tönende Spiegelbild der Metternichschen Repression, eine Klangstruktur, die zu erzwungener Gemeinsamkeit anhielt und auf die Bevölkerung disziplinierend wirkte. Zu dieser Sphäre der usuellen, funktionalen Militärmusik hält Schuberts Werk, weil es sie in seinem Titel führt und damit werkimmanent thematisiert, durch die Kraft der Reflexion eine künstlerisch geformte Distanz. Kunst übt hier, als Metamusik, durch ihren Gehalt Kritik an bewusstlosem Schreiten, an Exerzieren als Weg zu erfolgreichem Kampfe. Gerade diesen der Gattung eingeschriebenen, ihr zentral inhärierenden Zweck unterläuft Schuberts Musik. Der aus Hegels Dialektik bekannte Doppelsinn von ‚Aufheben‘ bedeutet nicht nur Verpflanzung in eine andere, höhere Sphäre, sondern auch Vernichtung, Beseitigung. In diesem Sinne übt Schuberts Opus 51 (D 733) Kritik an der militärischen Funktion der Gattung Marsch und ihrer politischen Verknüpfung mit dem Polizei- und Spitzelapparat der österreichischen Monarchie. Da der Begriff „Schuberts Quellen“, den dieser Beitrag trägt, einen Zusammenhang zwischen Funktion, Material und Form impliziert, steht Opus 51 als Exemplum für Adornos These ein, die autonomen Formen hätten sich aus Faktoren musikalischer Praxis herausgebildet: Die Funktion von Militärmärschen scheinen ihre Titel auszudrücken, aber die Existenz der Märsche als eine Musik, die nicht zum Marschieren taugt, sondern zum Nachdenken über das Marschieren und seine musikalische Basis zwingt, schafft hier eine Distanz, ohne aber die gestisch-körperlichen Elemente der Gattung völlig zu verdrängen. *** Zehn Jahre sind in Schuberts Leben eine fast unermesslich lange Zeitspanne. Sie trennt, wie erwähnt, die Trois Marches militaires von den vierhändigen Klavierwerken des letzten Jahres, darunter jenem Allegro in a, das der Verleger Diabelli 1840 unter dem Titel „Lebensstürme“ publizierte. Ist dieses Allegro in a der erste Satz eines unvollendeten zyklischen Werkes oder ein eigenständiges, abgeschlossenes Werk? Wenn man es mit Alban Bergs Klaviersonate op. 1 vergleicht, könnte man denselben Schluss wie Arnold Schönberg ziehen, der zu seinem Schüler sagte, wenn ihm keine weiteren Sätze mehr einfielen, sei der Kopfsatz eben das ganze Werk, und so ging Bergs Opus 1 tatsächlich in die Musikgeschichte ein. Ich neige zu dieser Auffassung: Aus Gründen des schaffensmäßigen Kontextes erscheint es mir plausibler, die zweifellos Werkcharakter aufweisende Fantasie in f von zwei weiteren Werken, dem Rondo und dem Allegro, umgeben zu sehen, statt die, sobald pejorativ gemeint, problematische Kategorie des Fragmentarischen auf diese abgeschlossenen Stücke zu beziehen. Das Allegro in a zeigt jedenfalls Schuberts vier-

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Notenbeispiel 4: Franz Schubert, Allegro in a (D 947), T. 1–13 (NGA VII:1/3, S. 70. Abdruck mit freundlicher Genehmigung  des Bärenreiter-Verlags Kassel)

händige Klaviermusik auf einem Niveau, das die Erinnerung an usuelle, funktionale Ursprünge dieser Musizierpraxis in Vergessenheit drängt: Die Partner – der Primo und der Secondo-Spieler – haben ein Werk von großer Spannweite zu realisieren, das gegensätzliche Weisen des Performativen auf die Spitze treibt. Da ist auf der einen Seite (Notenbeispiel 4) – den „Lebensstürme“-Charakter prägend – der homophone, rhythmisch äußerst konzentrierte Anfang, zumal wenn die beiden Spieler ohne Hast und ohne Zögern im „Allegro ma non troppo“-Allabreve-Tempo zu einem einzigen Klangkörper verschmelzen und das Hauptthema in präzisestem Rhythmus energiegeladen präsentieren. Hier gibt es keine Einleitung, kein Hinführen, die Hauptsache erscheint – mit vollster Kraft – gleich zu Beginn. Was trägt sich mit diesem Hauptthema im Satzverlauf zu? Es erklingt, typisch für Schuberts Sonatenform (Exposition T. 1–259, Durchführung T. 260–347, Reprise T. 348–577, Coda T. 577/578–Schluss), in der Exposition zweimal (T. 1ff., T. 37ff.), mit ihrer Wiederholung also viermal, am Anfang der Durchführung trugschlüssig überraschend nach f-Moll transponiert (T. 260ff.), beim Reprisen-Beginn indes wieder in die Haupttonart a-Moll zurückversetzt (T. 348ff.). Sechsmal erklingt es also fast identisch, und erst danach, das siebente und das achte Mal, er-

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scheint es substantiell verändert: beim zweiten Themenauftritt in der Reprise zwischen den Partnern dissoziiert (T. 389ff.) und beim letzten Erklingen in der Coda zwar wieder homophon, aber mit einer Aufwärts-Bewegung zur Kadenz im Bass (T. 577ff.). Bei der zweiten Wiederkehr des Hauptthemas in der Reprise (Notenbeispiel 5) ereignet sich insofern nachgerade ein Schock, als die zur Einheit zusammengeschweißten Partner, die bis dahin die musikalische Struktur sechs Mal völlig einheitlich realisiert hatten, nunmehr auseinandertreten; der Klangkörper erscheint entzweit (T. 389ff.). Wer mutmaßte, Schubert hätte sich hier einen Witz nach Art von Haydns Distratto gegönnt, indem er einen der Partner einen koordinierten Einsatz verschlafen ließe und damit ein humoristisches Spiel treibe, dürfte sich täuschen. Die Dissoziation der Partner ist kein Versehen, das der Korrektur bedürfte, sondern ein Mittel, den Kunstcharakter des Themas in die Höhe zu schrauben – und zwar auf folgende Weise: Die Homophonie wechselt in einen imitierenden, ja kanonischen Satz, soweit der Rhythmus betroffen ist; die Bewegungsrichtung der Partner, anfänglich vom Primo nach abwärts bestimmt, erhält einen Kontrapost durch den Secondo, der in Gegenbewegung aufsteigt und den Orgelpunkt preisgibt. Vor allem treibt eine Sequenzstruktur mit dem Hauptthema-Material den bislang stabilen Kreis der Harmonik durchführungsartig durch mehrere Tonarten in die Höhe: a → b → h → c → f. Der Hauptsatz des Allegro in a besteht indessen nicht nur aus dem ersten Kernthema, sondern auch aus dessen unmittelbarer Fortsetzung (T. 7–10), die im Laufe des Formprozesses mehrfach aufgegriffen und geradezu dramatisch gesteigert, sequenziert und imitiert wird, ferner aus einem weniger aufgewühlten Mittelteil, der nach einer Generalpause mit punktierten Halben und aufzulösenden Vorhalten ein weiteres Hauptmotiv einführt (T. 12f., siehe Notenbeispiel 4). Bereits der Hauptsatz ist also, für Schubert typisch, ein mehrphasiges Gebilde, das gleichwohl eine gewisse Einheitlichkeit aufweist. Er leitet von der Tonika a-Moll, auf dessen Dominante sich die Musik festhakt, unter enharmonischer Umdeutung der siebenten Stufe (gis als Terz der Dominante E-Dur) zu einer ersten Stufe kühn und direkt über zum As-Dur-Seitensatz, der nun einen eigenen Kontrast-Raum errichtet. Jetzt stiften Augmentationen von Metrik und Rhythmik ein neues Reich (Notenbeispiel 6). Ohne Veränderung des Tempos beginnt der Seitensatz-Komplex mit einer großräumigen Periode von sechzehn Takten Umfang – der Vordersatz leitet von As zu B, der Nachsatz von Ges zurück zu As. Das heißt: Auch wenn der Vordersatz ohne Halbschluss endet und der Nachsatz eine Art Sequenz in der Untersekunde bildet, vermittelt die tonale Identität von Ausgangs- und Zielpunkt – eben As – dennoch einen Eindruck periodischer Geschlossenheit. Der synkopierte Bass verleiht der Musik eine weitflächige Kontinuität und bildet zum harmonischen Großraum ein Korrelat. Ein zweitaktiger harmonischer Rhythmus verändert den Charakter der Musik, und ein Orgelpunkt auf der neuen Tonika As verankert das lyrische Geschehen auf einem stabilen Grund. Zur Überraschung derer, die bei vierhändiger Musik Simplizität erwarten, wird hier der Rhythmus intrikat: Der Primo spielt die Melodie im Alla-breve-Takt, der Secondo sekundiert mit synkopiertem Ostinato-Bass und einer Begleitfigur in Vierteltriolen – die nicht einfach zu realisierende Rhythmik entfaltet einen zauberhaften

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Notenbeispiel 5: Franz Schubert, Allegro in a (D 947), T. 387–403 (NGA VII:1/3, S. 92–93. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Schuberts Quellen

Notenbeispiel 6: Franz Schubert, Allegro in a (D 947), T. 99–117 (NGA VII:1/3, S. 75–76. Abdruck mit freundlicher Genehmigung  des Bärenreiter-Verlags Kassel)

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Reiz. Der Großraum As-Dur (T. 89–133) macht einem Großraum C-Dur Platz (T. 138–182), der das Vorangehende variiert, aber bei verändertem Klaviersatz mit schwebender Euphonik die Beschwingtheit noch deutlich steigert. Wer sich vergegenwärtigt, wie Schubert die tonalen Regionen der Exposition in der Reprise umwandelt, wird erkennen, dass die Dramaturgie dieses Stücks ganz auf einen Umschlag scheinbarer Sorglosigkeit, die lange Dur-Abschnitte des Seitensatzes gewähren, in die jähe, nun wohl endgültige Moll-Sphäre mit dem wieder körperhaft geschlossenen Moll-Hauptthema zu Beginn der Coda angelegt ist. Ist die Tonart-Relation der Sphären in der Exposition a-Moll → As-Dur/C-Dur, so in der Reprise a-Moll → F-Dur/A-Dur. Die lange Partie in A-Dur, der Variante der Ausgangstonika – eine weit über einhundert Takte lange Partie (T. 458–576) –, lässt das Tongeschlecht der Ausgangsregion fast vergessen, zeichnet aber, nach einer Generalpause vor dem Coda-Beginn, den Eintritt der Coda als schockhafte Wiederkehr des Unheils, der „Lebensstürme“, der Tragik des menschlichen Lebens. Und mit dieser künstlerischen Allegorie, einer Komposition mit Materialien des Hauptsatzes, steuert das Stück seinem Ende zu. *** Kann man nun die beiden hier betrachteten Werke, D 733 und D 947, in einen sinnvollen Vergleich zueinander bringen? In den Eckteilen der Militärmärsche gelangt die Sphäre aktiven Schreitens auf unterschiedliche Weise zur Erscheinung – Nr. 1 „Allegro vivace“, Nr. 2 „Allegro molto moderato“, Nr. 3 „Allegro moderato“ –, im Trio-Mittelteil unterbricht sie dann ein je lyrischer, einfach schwebender Ton. Den künstlerischen Kern der Märsche bestimmt also ein fundamentaler Kontrast, der bereits per se den einfachen Schreittypus nobilitiert, denn die Suspension des Marschierens in den Trios verändert die Kunstsphäre der Stücke im Unterschied zu funktionalen Märschen wesentlich. Die oben angesprochene Distanz von Schuberts Trois Marches militaires zur täglichen Marschsphäre, die jene wahrhaft zu MetaMilitärmärschen macht, spiegelt sich auch in Aspekten ihrer Rezeptionsgeschichte – etwa darin, dass Schubert mit seiner vierhändigen Klaviermusik (mit dem Militärmarsch D-Dur aus D 733) in der Operette Das Dreimäderlhaus von Heinrich Berté mit dem Kreis der Schubertiaden (die Handlung spielt 1826 in Wien) auf die Theaterbühne gebracht wurde, und zwar ausgerechnet im Januar des Kriegswinters 1916, als auf beiden Seiten Tausende, Zehntausende junger Männer fielen; oder auch darin, dass Igor Strawinsky – ebenfalls in einem Kriegswinter, im Januar/Februar 1942 – über George Balanchine im Auftrag der Ringling Brothers’ Circus Band ein kurzes Stück, Circus Polka: For a Young Elephant, komponierte und dabei denselben ersten Marsch aus D 733 zitierte, was man später zu Strawinskys Ärger als „Parodie“ charakterisierte.6 Damit ist die ohnehin aufgehobene Militärsphäre Schuberts in ein kleines Ballett für Elefanten verwandelt und dem Ursprungszweck so klar entfremdet wie einige Jahrzehnte später Mauricio Kagels 6

Igor Stravinsky and Robert Craft, Memories and Commentaries, London 2002, S. 234: „The  quotation from the Marche militaire came to me naturally, and I resent the characterization of  my use of it as a parody.“

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10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen – für Bläser und Schlagzeug (1978–1979) – den militärischen Funktionszweck listig unterläuft, karikiert und witzig in sein Gegenteil verkehrt. Ein ähnlicher, wenngleich viel raffinierterer Kontrast als bei der Bogenform der Militärmärsche D 733 beherrscht die Ästhetik des Allegro in a aus Schuberts letzter Schaffenszeit. Der Sonatensatz erlaubt – oder erfordert – eine verschlungenere, weniger primitive Anlage als der kleingliedrige Militärmarsch. Und für das Allegro der „Lebensstürme“ sind Kontrastfelder riesigen Ausmaßes, ganzer epischer Landschaften zu veranschlagen, aus denen das Werk seine Physiognomie bildet. Eine einfache Form erscheint ins Riesige gesteigert. Auch dies kann als Metamusik insofern gedeutet werden, als das Einzelstück erratisch in die Formgeschichte der Instrumentalmusik hereinragt, sich aber einer festen Verortung entzieht. Damit gewinnt der Einzelsatz an Autonomie, wird zu programmloser Programmmusik, zu einer Tondichtung für Klavier zu vier Händen. In ihr sind die Pole – Sturm versus Ruhe – in ihre Extreme auseinandergetrieben. Die Ästhetik beider Opera ist somit verschieden und enthält doch verwandte Züge, so dass es dem Hörer freisteht, eher die Gemeinsamkeiten oder die Differenzen zu beachten. Beides ist richtig, beides ist nötig. Ist aber beides in gleichem Sinne – als Ausprägung einer postmodernen Klassik – ‚Volkskunst‘? Ich möchte behaupten: ja. Die weiten Landschaften der Seitensätze im Allegro in a sind kompositionsgeschichtlich undenkbar ohne die Erfahrung statischer Räume, Regionen oder Felder, wie sie nur eine einfache Musik hervorbringen konnte – Stehenbleiben gilt meist als Stagnation und wird von der Kritik normalerweise abgelehnt –, aber das Populäre von Schuberts Ton ist vielfach gebrochen und hat gerade in den „Lebensstürmen“ einer außerordentlich komplexen Anlage Platz gemacht. Die Relation der Klavier-Partner zueinander, die – symbolisch genug – im Einklang der Homophonie einsetzt, diese mehrfach bekräftigt, in vielen weiteren Abschnitten zu anderen, imitatorisch-kontrapunktischen Arten des Zusammenwirkens gelangt und in der zweiten Phase der Reprise, wie geschildert, abrupt auseinanderbricht, diese Relation der Partner zeigt die vierhändige ‚Volkskunst‘ gesteigert, verwandelt zu einer hohen Kunst, die exemplarisch eine performative Konzeption von Musik beglaubigt. Der Gemeinschaftsgeist dieser Gattung – ein einträchtiges Spiel zweier Partner, das für das 19. Jahrhundert ideen-, musik- und sozialgeschichtlich eine besondere, erst in jüngster Zeit näher fokussierte Bedeutung gewonnen hat7 – war immer von Spannungen, Krisen, Zwisten durchsetzt, im Leben wie in der Kunst. Joseph Roth 7

Thomas Christensen, „Four-Hand Piano Transcription and Geographies of Nineteenth-Century  Musical Reception“, in: Journal of the American Musicological Society 52 (1999), S. 255–298; Adrian  Daub,  „Zwillingshafte Gebärden“. Zur kulturellen Wahrnehmung des vierhändigen Klavierspiels im neunzehnten Jahrhundert, Würzburg 2009; Tobias Bleek, „‚Nein, Geliebter,  setze dich mir so nahe nicht!‘ Verstreute Bemerkungen zur Phänomenologie und Geschichte  einer vierhändigen Spielfigur“, in: Ereignis und Exegese. Musikalische Interpretation, Interpretation der Musik. Festschrift für Hermann Danuser zum 65. Geburtstag, hrsg. von Camilla Bork u. a., Schliengen 2011, S. 84–94; William Lockart, Listening to the Domestic Music Machine: Keyboard Arrangements in the 19th Century, Diss. Humboldt Universität zu Berlin, 2012.

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hat, wie eingangs skizziert, die scheinbar immer gleichförmige Exekution des Radetzky-Marsches zum Symbol für ein immer größeres Auseinanderklaffen von Form und Inhalt der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Habsburger-Reich, dem im Ersten Weltkrieg terminalen mitteleuropäischen Vielvölkerstaat, genommen. Unser Versuch, die Trois Marches militaires und das Allegro in a Franz Schuberts, eines kritischen Untertans dieser Monarchie, auf ähnliche Weise zu verstehen, lässt Analogien und Differenzen zum Roman hervortreten: Diese Musik ist, weil sie in ‚Volkskunst‘ wurzelt, von anderer Dauerhaftigkeit als das politische System, dessen Erosion und drohenden Untergang Roths Erzählung zeichnet. Auch wenn das vierhändige Klavierspiel im 20. Jahrhundert, aufgrund der Möglichkeiten technischer Reproduktion von Musik, zurückgegangen ist – ganz verschwunden ist es nicht. So werden die Militärmärsche von 1818 und das Allegro in a von 1828 ihren Platz in den Annalen der Musikgeschichte, im Gedächtnis der sie spielenden Menschen und im Repertoire ihren virtuellen Ort behalten. So untauglich gelegentlich vierhändiges Spiel für die Konzertexekution erscheint, weil es nur schwer mit höchster Präzision realisierbar ist, so geben ihm die multimediale Reproduzierbarkeit, die Verbreitung im Rundfunk und die von der modernen Pianistik versperrte historische Klangwelt des Hammerflügels gleichwohl künstlerisch neue Lebenschancen. Schubert ist, wie Adorno und Hinrichsen richtig bemerkt haben, der wahre Klassiker dieses Gattungsbereichs. Mit seiner stilistischen Vielfalt und seiner Kunst, Einfaches und Komplexes – ohne Krämpfe, ohne Verkrampfungen – zu verbinden, ist er aber in bestem Sinn auch ein Postmoderner, der Kompliziertes aus Simplem heraustreibt und für all seine Kunst die Wurzeln im Boden nie vergessen lässt.

DER ZYKLUS ALS MYTHOS Schuberts Allegretto in C (D 346) als Einzelsatz Andrea Lindmayr-Brandl Liebhaber klassischer Musik schätzen vermutlich ebenso wie ich den Sender Radio Swiss Classic, auf dem man rund um die Uhr ein einschlägiges Programm hören kann, das nur durch kurze An- und Absagen unterbrochen wird.1 Irritierend ist jedoch, dass bei der Abfolge der einzelnen Musiknummern der Eindruck entsteht, dass kein zugrunde liegendes Konzept verfolgt wird, sondern vielmehr Zufall waltet. Dieses ‚Anti-Konzept‘ ist in Zeiten von streng durchkomponierten Musiksendungen in anderen Radiosendern, deren Gestalter sich den Kopf über die perfekte Wahl und über die sinnige Kombination der gespielten Werke zerbrechen, erstaunlich. Gewöhnungsbedürftig ist aber auch die Praxis, dass von mehrteiligen Werken in der Regel nur ein ausgewählter Satz gespielt wird, fast nie die gesamte Komposition. Auch das mag dem heutigen Hörer gegenüber dem Werk fast blasphemisch erscheinen, verstehen wir doch die Einzelsätze einer Sinfonie, eines Instrumentalkonzerts oder einer Sonate nur als Teil des Werkes, der erst in Bezug zu den restlichen Sätzen zur vollen ästhetischen Geltung gelangt. Dieses ‚andere‘ Werkverständnis, wie es die Radiomacher von Swiss Classic an den Tag legen, und die Buntheit des Programms entsprechen jedoch genau jener Aufführungspraxis, die wir aus dem Konzertleben zur Zeit Schuberts kennen.2 Der eigenartige Widerspruch von musikalischer Realität und zyklischem Gattungsverständnis bei mehrteiligen Werken hat damals offensichtlich weit weniger, vermutlich sogar gar nicht irritiert. Er wurde auch nicht in der zeitgenössischen Literatur thematisiert, sollte uns aber sehr wohl zu denken geben. Der Hang zum Zyklus freilich scheint der abendländischen Musikgeschichte eingeschrieben zu sein, auch wenn Art und Grad der Zyklusbildung sehr unterschiedlich ausfallen können. Grob gesprochen, können wir zwei grundlegend verschiedene Typen von Zyklen unterscheiden: einen, der ein Bedürfnis nach Ordnung und größerem Zusammenschluss stillt und gleichartige Werke zu einem formal Ganzen, einem Werkzyklus kombiniert – man denke etwa an Bachs Wohltemperiertes Klavier oder an die typischerweise sechsteiligen Sonaten-Publikationen des 17. und 18. Jahrhunderts; und einen anderen Typus, der auf einem engeren inhaltlichen Zusammenhang basiert, wie etwa im Fall mehrsätziger instrumentaler Formen, die 1 2

http://www.radioswissclassic.ch/de (Aufruf: 15. Juni 2013).  Z. B. Otto Biba, „Franz Schubert in den Musikalischen Abendunterhaltungen der Gesellschaft  der  Musikfreunde“,  in:  Schubert-Studien,  hrsg.  von  Franz  Grasberger  und  Othmar  Wessely,  Wien 1978, S. 7–31; siehe aber auch schon Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Wien 1869, S. 152, der rückblickend von „Zerstückelungssucht“ spricht.

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mit Hilfe von Tempokontrasten (schnell–langsam–schnell), verschiedenen Ausdruckscharakteren sowie systematischen Wechseln in Taktart und Tonart ihren mehr oder weniger starken inneren Zusammenhalt finden.3 Mit solchen zyklischen Werken geht auch eine gehobene Wertschätzung einher, die sich in Sulzers bekannter Enzyklopädie Allgemeine Theorie der Schönen Künste als „Größe“ definiert: „Ein Gegenstand bekommt den Charakter der Größe, wenn er aus mannigfaltigen Teilen besteht, die ein merkliches oder beträchtliches Verhältnis zum Ganzen haben.“4 Spätestens in der Wiener Klassik sind die Gattungen Sonate und Streichquartett, aber auch Sinfonie, Oper und Messe – allesamt zyklische Kompositionen – gegenüber Einzelwerken zu einer ästhetischen Dignität aufgestiegen, die auch noch bei Schubert ihre Wirkung zeigt. Als der Schott-Verlag im Februar 1828 den Wunsch äußert, einzelne Klavierwerke und Lieder des aufstrebenden Wiener Komponisten in sein Verlagsprogramm aufzunehmen, sendet Schubert zwar eine entsprechende Werkliste fertiger Kompositionen, fügt aber in einem beiliegenden Brief noch an, dass er außerdem drei Opern, eine Messe und eine Sinfonie vorliegen hätte: „Diese letztern Comp[ositionen] zeige ich nur an, damit sie mit meinem Streben nach dem Höchsten in der Kunst bekannt sind“5 – so seine Begründung für die Zugabe, nach der eigentlich nicht gefragt war. Einzelstücke hingegen wurden in Lessings Dramaturgie mit dem plastischen Bild eines „edlen Sandhaufens“ verglichen, der nicht in der Lage ist, einen dauerhaften Eindruck zu vermitteln.6 Größer besetzte einsätzige Instrumentalwerke waren zu Schuberts Zeit mit Ausnahme der Orchesterouvertüren und Schauspielmusiken (die aber wieder in anderer Hinsicht Teil eines zyklischen Werkes sind) tatsächlich keine Kategorie.7 Auch im Bereich der Kammermusik erwartete man Kompositionen, die aus mehreren Sätzen bestanden. In Schuberts Werkliste finden sich in dieser Abteilung nur wenige Einzelwerke – eine Fantasie oder ein Rondo für Violine und Klavier oder auch die Variationenreihe über Trockene Blumen D 802, die wiederum einen ‚inneren‘ Zyklus von Einzelvariationen darstellt. Die Frage nach der zyklischen Gestalt einer Komposition stellt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem im Lied und in der Klaviermusik. Zu beiden Gattungen hat Schubert neben alleinstehenden Werken auch komponierte Zyklen (beispielsweise Die schöne Müllerin D 795 oder Winterreise D 911 bzw. ausgewachsene Klaviersonaten) sowie Zyklen beigetragen, die von einem Verlag oder bereits vom Komponisten für eine Drucklegung als Serie 3 4 5 6 7

Ludwig Finscher, Art. „Zyklus“, in: MGG2, Sachteil, Bd. 9, 1998, Sp. 2528–2537. Zitiert nach Arnfried Edler, Gattungen der Musik für Tasteninstrumente, Bd. 2, Laaber 2003  (Handbuch der musikalischen Gattungen 7/2), S. 179. Brief von Franz Schubert an B. Schotts Söhne, vom 12. Februar 1828 aus Wien, abgedruckt in  Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 495. Zitiert nach Wilhelm Seidel, „Schnell-Langsam-Schnell. Zur ‚Klassischen‘ Theorie des Instrumentalen Zyklus“, in: Musiktheorie 1 (1986), S. 205–216, hier S. 206–207. Das Concerto in D für Violine und Orchester D 345 (2 Sätze) für seinen Bruder Ferdinand, das  einsätzige Rondo in A für Violine und Streichorchester D 438, die kurze Polonaise in B für Violine und Orchester D 580, ebenfalls für Ferdinand, und das Adagio e Rondo concertante in F für Klavierquartett D 487 sind frühe Werke (bis 1818) und haben erst posthum Öffentlichkeit  erlangt.

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zusammengestellt wurden. Bei Letzteren denkt man einerseits an den sogenannten Schwanengesang (D 957), oder an die unter einer gemeinsamen Opus-Nummer publizierten Lieder; andererseits zählen dazu aber auch die von Schubert in mehreren Anläufen intendierten Sonatenserien, die sich anhand ihrer Nummerierungen rekonstruieren lassen.8 Die schon in der Einleitung angesprochene seltsame Dichotomie zwischen Aufführungspraxis einzelner Sätze und zyklischer Werkgestalt in der Komposition ist im Bereich der Klaviermusik besonders evident. Auch wenn in den Konzertprogrammen Rondos, Variationen und Fantasien überwogen und bestenfalls einzelne Sonatensätze ihren Weg in die breite Öffentlichkeit fanden, war die Klaviersonate doch eine zentrale Gattung, der auch die höchste ästhetische Wertschätzung beigemessen wurde. Dass zugleich das etablierte Strukturmodell der klassischen Sonatenform spätestens seit der Jahrhundertwende nur mehr als Ausgangspunkt individueller kompositorischer Lösungen diente, ist am deutlichsten an dem vielgestaltigen Sonatenœuvre Beethovens abzulesen. Typisch für diese Auflösungstendenzen ist auch die Tatsache, dass oft nicht klar ist, ob Schubert mit einer Sonate in weniger als vier Sätzen ein unvollständiges Werk hinterließ oder mit der Gattung gezielt experimentierte. Von der Norm abweichende Kompositionen werden noch fragwürdiger, wenn ihr letzter Satz zudem nicht in der Ausgangstonart steht oder als Menuett gar einen ‚falschen‘ Satztypus verkörpert. Mit der Weiterentwicklung der Sonate9 fand aber auch eine Aufwertung des alleinstehenden Klavierstücks statt, das bislang nur nebenher lief, nun aber durch die Verbindung mit poetischen Ideen als neue romantische Gattung Geschichte schrieb. So erschienen zum Beispiel zwei der Impromptus zunächst als Einzelwerke, welche Schubert in dem besagten Brief an Schott auch als individuelle Publikationen anbot.10 Dass die verlagsmäßige Zusammenstellung der Impromptus in Vierergruppen von Robert Schumann als verkappte Sonate in vier Sätzen verstanden wurde, zeigt einerseits die lang nachwirkende Kraft der klassischen Sonatenidee, lässt andererseits aber auch den Verfall der normativen Form der Einzelsätze erkennen, die nun beinahe jegliche Gestalt annehmen konnten. Die Gattungsproblematik der Klaviersonate ging so weit, dass die Sonate in G (D 894) vom Verleger Haslinger sogar als Kompilation von Einzelsätzen, nämlich als „Fantasie, Andante, Menuetto und Allegretto“, bezeichnet wurde.11 Auch wenn die Klaviersonate als zyklische Form nach und nach an Kraft verlor, blieb doch der Mythos des Zyklus zumindest bei der Zusammenstellung von einzelnen Klavierstücken zu einem fiktiven Ganzen bestehen. So war es sicherlich 8 9 10 11

Andrea  Lindmayr-Brandl,  „Schuberts  Sonatenserien“,  in:  Schubert: Perspektiven 3 (2003), S. 28–53. Arnfried Edler spricht gar von einer „Krise der Klaviersonate“; ders., Gattungen der Musik für Tasteninstrument, Bd. 2 (Anm. 4), S. 178–197. Siehe Anm. 5. In Schuberts Auflistung heißt es: „c) Vier impromptu’s fürs Pianoforte allein,  welches jedes einzeln oder alle vier zusammen erscheinen können.“ Die Ankündigung als Sonate wäre nach der Einschätzung von Arnfried Edler sogar ein Verkaufshindernis gewesen. Vgl. dazu Edler, Gattungen der Musik für Tasteninstrument, Bd. 2 (Anm. 4), S. 266.

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kein Zufall, dass nach Schuberts Tod das nachgelassene Klavierwerk filetiert und alleinstehende Sätze durch Kombination in neue Zusammenhänge gebracht wurden. Wenn solche posthum konstruierten Werkzyklen, wie etwa die Drei Klavierstücke (D 946) oder die Fünf Klavierstücke (D 459/A), außerdem noch mit einer eigenen Deutschnummer versehen werden, suggerieren sie trotz neutralem Titel den Eindruck, nicht nur eine sinnfällige Sammlung, sondern ein zyklisches Werk zu sein.12 Der Mythos des Zyklus konnte aber auch in anderer Hinsicht den Blick auf einzelne Werke verstellen. Isolierte Einzelsätze von Schubert litten in ihrer Rezeptionsgeschichte immer wieder unter dem Bemühen, sie einer vermeintlich unvollständigen Klaviersonate zuzuordnen. Gelang das nicht, war das Interesse an der Komposition schnell verloren, das Werk an den Rand des Kanons gedrängt. Die neue Schubert-Ausgabe vereinte dieses ‚Rest-Œuvre‘ in den beiden Bänden Klavierstücke I und II.13 Zugespitzt formuliert, findet sich hier sozusagen der Bodensatz von dem, was nicht einer größeren, zyklischen Einheit zugeordnet werden konnte. Solch einem ‚vernachlässigten‘ Werk soll im Folgenden unsere Aufmerksamkeit gelten. *** Das Allegretto in C (D 346) ist auf drei losen Blättern im Quart-Querformat überliefert, die über den Besitz von Nicolaus Dumba in die Musiksammlung der Wienbibliothek gelangten.14 Ernst Hilmar, der den Bestand 1978 katalogisierte, bemerkt, dass es sich vermutlich „um einen […] Satz einer Klaviersonate“ handle.15 Der Hinweis auf die mögliche Zuweisung zu einem zyklischen Werk ist typisch für seine Zeit. Zusätzlich zu seiner Isoliertheit haftet der Komposition aber auch der Makel des Fragmentarischen an. Die autographe Niederschrift der immerhin 231 Takte16 bricht auf der Vorderseite des dritten Blattes gegen Ende der vorletzten Akkolade ab, die Rückseite blieb frei. Nichtsdestotrotz wurde das Allegretto bereits 1928 in einer Ausgabe des Steingräber-Verlags der Sonate in C (D 279) als vierter 12

13 14 15

16

In beiden Fällen hatte eine dritte Person ihre Hand im Spiel – einmal der Leipziger Verleger  Carl August Klemm, das andere Mal der Schubert-Verehrer Johannes Brahms. Vgl. dazu Andrea Lindmayr-Brandl, „Johannes Brahms und Schuberts ‚Drei Klavierstücke‘ D 946: Entstehungsgeschichte,  Kompositionsprozess  und  Werkverständnis“,  in:  Die Musikforschung 53 (2000),  S.  134–144;  dies.,  „Die  ‚wiederentdeckte‘  unvollendete  Sonate in E D 459 und die ‚Fünf Klavierstücke‘ von Franz Schubert“, in: Archiv für Musikwissenschaft 57 (2000), S. 130– 150. NGA VII:2/4, hrsg. von David Goldberger, 1988; Klavierstücke II, hrsg. von Christa Landon,  fertiggestellt von Walther Dürr, 1984. Siehe: http://www.schubert-online.at/ (15. Juni 2013). Ernst Hilmar, Verzeichnis der Schubert-Handschriften in der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Kassel etc. 1978 (Catalogus Musicus 8), S. 100; dort aufgenommen als „[Klavierstück (C-Dur)]“. Irrtümlicherweise wird dort von zwei losen Blättern (3 SS)  anstelle  von  3  losen  Blättern  (6  SS)  gesprochen.  Derselbe  Fehler  findet  sich  in  http://www. schubert-online.at/ (15. Juni 2013). Deutsch, Thematisches Verzeichnis, S. 205, gibt fälschlicherweise die Anzahl der Takte mit 261  an.

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Satz hinzugefügt, und auch der heute noch gängige dritte Band der Schubertschen Klaviersonaten, der im Henle-Verlag erschienen ist, kombiniert die beiden DeutschNummern miteinander.17 Während im Deutsch-Verzeichnis von 1978 die Datierung des Klavierstücks mit „1816 (?)“ angegeben wird, kommt Hilmar im Rahmen seiner Katalogisierungsarbeit zu einem davon abweichenden Ergebnis. Er vermutet aufgrund des Wasserzeichens und der Schriftcharakteristik des Autographs eine Niederschrift „Anfang Frühjahr 1815; auch Februar 1815 ist als Datierung möglich“,18 wobei jedoch keines der beiden Datierungskriterien systematisch nachgewiesen wird. So konnte ich etwa an anderer Stelle zeigen, dass Hilmars Einschätzung des Schubertschen Schriftduktus als „eine Art Reinschrift“ dem Vergleich mit anderen autographen zweihändigen Klavierwerken nicht standhält. Erstellt man eine Manuskripttypologie von ausgewählten Klavierwerken, so ergibt sich das Bild einer Gebrauchsschrift Schuberts, wobei allerdings ein Bemühen um eine gemessene Hand zu erkennen ist.19 Will man der Neudatierung Hilmars dennoch folgen, ändert dies den Bezug zur Sonate in C (D 279), die damit ja ergänzt werden soll. Dieses dreisätzige, zyklische Werk ist autograph mit „September 1815“ datiert; demnach wäre also das Allegretto als dessen vermeintlicher vierter und letzter Satz etwa ein halbes Jahr früher entstanden.20 Um die Hypothese des Werkzusammenhangs zu retten, müsste man sich in verwegene Vermutungen über einen für Schubert ungewöhnlichen Entstehungsprozess der Sonate einlassen. Ein alternativer Weg, der im Folgenden gegangen werden soll, ist die Betrachtung des Klavierstücks als Einzelwerk. Wir werden sehen, dass diese neue Sichtweise durchaus gewinnbringend ist und das Allegretto auch ohne Zyklusanschluss und ohne musikalische Vervollständigung zur Geltung kommt. Bevor wir uns einer analytischen Betrachtung des Werks zuwenden, sollte das Klavierstück gehört (oder selbst gespielt) werden.21 Die greifbaren Aufnahmen sind ein Spiegelbild der Editionspraxis bzw. des Werkverständnisses. Demzufolge kann man das Allegretto vor allem im Rahmen einer Gesamteinspielung der Schubertschen Klaviersonaten oder einer Sonatenauswahl hören. Namhafte Pianisten wie Malcolm Bilson oder Paul Badura-Skoda, die sich auch mit historischer Aufführungspraxis auseinandersetzen, spielen das Werk auf einem Hammerklavier und vervollständigen jeweils selbständig das Fragment. Andere Interpreten wiederum 17

18 19 20 21

Steingräber-Verlag,  Leipzig,VN 2381, Edition Nr. 2577; Franz Schubert, Klaviersonaten, Bd. III: Frühe und unvollendete Sonaten, hrsg. von Paul Badura-Skoda, neue verbesserte Ausgabe, München: Henle, 1997. Badura-Skoda bietet sogar eine Vervollständigung des Allegretto an. Hilmar, Verzeichnis der Schubert-Handschriften in der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (Anm. 15), S. 100. Andrea Lindmayr-Brandl, Franz Schubert. Das fragmentarische Werk, Stuttgart 2003 (Schubert: Perspektiven – Studien 2), S. 194. Vgl. ebenda, S. 224–225. Die Edition in der NGA VII:2/4, hrsg. von David Goldberger, 1988, S. 134–142, ist diplomatisch getreu übertragen, also ohne aufgelöste Faulenzer; leichter spielbar ist die Urtext-Ausgabe aus dem Henle-Verlag (Anm. 17).

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behalten in ihren Einspielungen des Allegretto den zyklischen Zusammenhang als Sonatensatz bei, lassen es jedoch als Fragment erklingen. Dazu zählen der italienische Pianist Massimiliano Damerini und der junge Wiener Pianist Gottlieb Wallisch.22 Erst neuere Aufnahmen gestehen dem Allegretto Eigenwert zu, indem sie es als Einzelwerk präsentieren. So hat etwa der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes eine sehr mechanische Interpretation am oberen Tempolimit vorgelegt.23 Ich persönlich empfehle die Einspielung von Damerini. Er vermag meines Erachtens, den zauberischen Charakter der Komposition am besten einzufangen.24 FORMALE GESTALT Beim Hören (und Lesen) des Klavierstücks sind drei deutlich voneinander abgegrenzte Themenblöcke zu erkennen. Sie bilden in sich geschlossene Abschnitte mit eigenen Tonartenbereichen, die zueinander im Terzverhältnis stehen (C–a–F) und unmittelbar aneinander anschließen: Formgestalt von D 346 Formteile Tonart Takt

A C 1

B a 60

C F 77

Fermate Des 120

Df/Rf –> 121

A C 157

B f 216

(C/Abbruch) ? 232

Die formale Anlage des Allegretto lässt aufgrund der abgeschlossenen Formteile A–B–C, die unvermittelt aneinandergereiht werden und sich nach einem überleitenden Abschnitt wiederholen, an ein Rondo denken. Zugleich sind in diesem einfach scheinenden Modell aber auch Elemente der Sonatensatzform festzustellen, die der ganzen Kompositionen den Eindruck einer formalen Ambiguität verleihen.25 So etwa endet Abschnitt A mit einer Art Schlussgruppe (T. 43–59), die in ihrer konträren musikalischen Gestaltung und den Oktavpassagen in der rechten Hand ein deutliches Bindeglied zum folgenden Abschnitt bildet. Weiters entsteht durch den abrupt eingeführten Des-Dur Akkord mit Fermate am Ende von Abschnitt C (T. 120) der Effekt eines Doppelstrichs zum Abschluss einer Exposition (Notenbeispiel 1). Dieser Klang – entweder als Neapolitaner mit Grundton gedeu22 23 24 25

ARTS 47173-2; NAXOS 8.557639. Schubert. Der Wanderer. Lieder und Fragmente,  mit  Ian  Bostridge,  EMI  Classics  5099951644352; ein Auszug davon ist unter dem Titel Schubert. Sonata / Lieder (EMI Classics  0094638432159) erschienen. Alle Aufnahmen, außer diejenigen von Badura-Skoda, sind online auf Naxos Music Library (www.naxosmusiclibrary.com/home.asp) abrufbar (Aufruf: 20. Februar 2013). Vgl. dazu Hans-Joachim Hinrichsen, Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts (Veröffentlichungen des internationalen Franz Schubert Instituts 11), Tutzing 1994.

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Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Allegretto in C (D 346), T. 115–120 (NGA VII:2/4, S. 137. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

tet, oder als chromatische Rückung, jeweils auf C bezogen – kann aber auch als Spannungsakkord gehört werden, der nicht das Ende, sondern den Anfang eines neuen Abschnittes bildet.26 Je nach Interpretation des Hörers bzw. der Hörerin folgt nun entweder eine Art ‚kleine Durchführung‘ (Df) in Des-Dur, die thematische Elemente aus Abschnitt A verarbeitet und über sequenzierende Passagen aus der ‚Schlussgruppe‘ zurück zur Dominante der Grundtonart C-Dur moduliert.27 Oder man versteht den gesamten Abschnitt als dramatisierte Rückführung (Rf), die unmittelbar zum Anfang des Rondos überleitet. Schließlich kann auch die Wiederholung der Abschnitte A und B mit der Transposition des zweiten Abschnitts um eine Terz nach unten (anstatt nach oben) als reprisenhaft und damit der Sonatenform zugehörig interpretiert werden. In welcher Tonart nun der Abschnitt C angelegt werden sollte, scheint auch Schubert nicht von vorneherein klar gewesen zu sein. Die Klärung dieser Frage hat bei der Niederschrift wohl einen Moment des Innehaltens hervorgerufen, der schließlich zum Abbruch geführt hat.28 Der Gesamteindruck des formalen Ablaufs von D 346 wird am besten mit den Worten von Hans-Joachim Hinrichsen beschrieben: „Viele der Jugendwerke lassen zwar die Ambition zu struktureller Mehrdeutigkeit erkennen, die denn auch zu einem der wichtigsten ästhetischen Markenzeichen des reifen Schubert werden sollte, bringen es aber bei aller Frische des Tonfalls meist nur zur formalen Undeutlichkeit.“29

26 27 28 29

So hört den Akkord z. B. mein Wiener Kollege Martin Eybl, dem ich an dieser Stelle für seine  Anregungen und die kritische Durchsicht des Textes herzlich danken möchte. Dass  Schubert  bei  der  in  beidhändigen  Oktaven  gestalteten  Modulation,  die  terzweise  nach  oben rückt, durch eine fünfte Sequenz (T. 137–138) des Guten zuviel tut, sei nur am Rande  erwähnt. Zur Frage des Abbruchs vgl. Lindmayr-Brandl, Franz Schubert (Anm. 19), S. 215–216. Harmonisch gesehen, wäre der einfachste Anschluss die Wiederholung von Abschnitt C in F-Dur.  Von dort aus könnte man auch leicht wieder in die Grundtonart C zurückmodulieren. Hans-Joachim  Hinrichsen,  Franz Schubert,  München  2011  (C. H.  Beck  Wissen),  S.  32  (gemeint sind damit allerdings Werke vor D 82, also vor Herbst 1813).

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Andrea Lindmayr-Brandl

THEMATISCHE GESTALTUNG Alle drei Abschnitte des Allegretto sind von sehr unterschiedlichem Charakter. Abschnitt A ist in einem typisch Schubertschen Ton gehalten; auf diesen wird weiter unten noch näher eingegangen werden. Abschnitt B ist im Stil „Alla hongharese“, einem beliebten Idiom der Zeit, das wir beispielsweise schon von Beethovens Rondo a capriccio op. 129 („Die Wut über den verlornen Groschen“) kennen. Der konkrete Anknüpfungspunkt für diesen Abschnitt ist aber bei einem Komponisten der älteren Generation zu finden, nämlich bei Wolfgang Amadeus Mozart. Der Finalsatz der Klaviersonate in A-Dur KV 331 (300i), der ebenso in einer etwas außergewöhnlichen Rondoform angelegt ist,30 scheint Schubert als direkte Vorlage gedient zu haben – bewusst oder unbewusst, vielleicht auf Basis seiner Hörerfahrung.31 Die Nähe zum A-Dur-Abschnitt bei Mozarts Komposition, die zudem mit „Alla turca“ überschrieben ist, ist freilich schlagend: unvermittelter dynamischer Einbruch nach dem vorangegangenen Abschnitt (piano / forte bzw. fortissimo bei Schubert); achttaktige Periode, bei Schubert zur Liedform erweitert (T. 69–76); leere Oktaven in der rechten Hand in ähnlicher thematischer Formulierung; schlichte Tonwiederholungen bzw. Akkorde in der linken Hand, die durch Arpeggios (Mozart) bzw. kurze Schüttelfiguren in Sechzehnteln (Schubert) das Rasseln der türkischen Schellen imitieren (Notenbeispiele 2a und 2b). Auch die Textur des bei Mozart unmittelbar daran anschließenden kontrastierenden Abschnitts – Lauffiguren in Sechzehnteln in der rechten Hand, schlichte Begleitung am Achtelschlag aus aufgespalteten Akkorden, alles im piano – wird bei Schubert zu Beginn von Abschnitt C übernommen. Das starke Interesse des jugendlichen Komponisten an Werken des großen Vorbilds Mozart ist nicht nur durch die Abschrift der Sinfonie in C-Dur KV 551 (ca. 1813) dokumentiert. Auch eigene Kompositionen weisen deutliche Spuren von Mozarts Musiksprache auf; dazu gehören etwa die frühen Balladen (1811),32 das Klaviertrio D 28 (1812), oder auch die Violinsonaten aus dem Frühjahr 1816.33 ABSCHNITT A Wie bereits oben angedeutet, sind die ersten 59 Takte des Allegretto D 346, die den Abschnitt A bilden, mit Blick auf das Gesamtwerk Schuberts der interessanteste Teil der Komposition. Er ist als klassische dreiteilige (Lied-)Form mit Schluss30 31 32

33

Vgl. dazu z. B. Ferenc László, „Die Rondoform in Mozarts Alla turca“, in: Acta Mozartiana 54 (2007), S. 71–74. Vgl. dazu Andrea Lindmayr-Brandl, „Schubert hört Mozart: Die Sonaten für Violine und Klavier op. 137“, in: Schubert: Perspektiven 4 (2004), S. 174–186. Andrea Lindmayr-Brandl, „Schillers ‚Leichenfantasie‘ in Schuberts Œuvre: Vom Lied zur Klavierfantasie, zu Mozart und wieder zurück“, in: Dichtungen Friedrich Schillers im Werk Franz Schuberts. Bericht über das Schubert-Symposion Weimar 2005, hrsg. von Michael Kube, Duisburg 2007 (Schubert-Jahrbuch 2003–2005), S. 111–127. Vgl.  dazu  auch  Walther  Dürr,  „Von  Modellen  und  Rastern:  Schubert  studiert  Mozart?“,  in:  Mozart-Studien 1 (1992), S. 173–193.

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Notenbeispiel 2a: Franz Schubert, Allegretto in C (D 346), T. 55–67 [Abschnitt B] (NGA VII:2/4, S. 135. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Notenbeispiel 2b: Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate A-Dur KV 331 (300i), 4. Satz („Alla turca“), T. 25–40 (Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke IX:25/2, Kassel etc. 1986,  S. 24–25. Abdruck mit freundlicher  Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

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Abbildung 1: Franz Schubert, Allegretto in C (D 346), Korrekturen in den ersten Takten des Autographs (Wien, Wienbibliothek,  Signatur MH 140/c. Abdruck mit freundlicher Genehmigung  der Wienbibliothek)

Notenbeispiel 3: Franz Schubert, Fantasie in f für Klavier zu vier Händen (D 940), T. 1–5 (NGA VII:1/3, S. 33. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Notenbeispiel 4: Franz Schubert, Allegretto in C (D 346), T. 1–15 [Abschnitt A] (NGA VII:2/4, S. 134. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

gruppe angelegt. Klingend, mit allen Wiederholungen ausgespielt, umfasst er genau 100 Takte und ist somit bedeutend länger als die folgenden beiden Abschnitte zusammen, die klingend 69 Takte ausmachen. Die ungerade Anzahl 59 der notierten Takte ergibt sich aus einer Korrektur, die Schubert schon während der Niederschrift des zweiten Taktes vornahm (vgl. Abbildung 1 und Notenbeispiel 4). Mit der Ausstreichung der Figur in der linken Hand, die in der neuen Version erst einen Takt später einsetzt, erzielt Schubert den Effekt

Der Zyklus als Mythos

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eines musikalischen Einschwingvorgangs, der typischerweise bei Klaviervorspielen zu Liedern auftritt. Im Genre von Schuberts Klaviermusik ist ein solcher ‚Vorspann‘ eher selten. Man kennt ihn dort ansatzweise aus dem Sonatensatz in fis D 571 (Juli 1817), der ebenso Fragment geblieben ist, oder aus zwei Sätzen von Klaviersonaten, beide 1825 entstanden.34 Der ‚Vorspann‘ als statischer Klangschleier mit auftaktigem Melodieeinsatz, wie er im vorliegenden Allegretto ausgebildet ist, findet sich spezifisch in der „Grazer Fantasie“ D 605A (1818?) und vor allem in einer sehr viel späteren Klavierkomposition, der vierhändigen Fantasie in f D 940. Sie wurde im Frühjahr 1828 komponiert und setzt ebenso mit einem ‚vorgesetzten‘ Takt in stabilen Achtelfiguren an (Notenbeispiel 3). Charakteristisch für Abschnitt A ist zum einen das statisch-gleichmäßige Pochen der Akkorde in der linken Hand, die als Mittelachse den Satz zusammenhalten. Zum anderen zeichnen sich die ersten Passagen durch ein durchgehendes pianissimo in der Grunddynamik aus (Notenbeispiel 4). Aus der Kombination beider Elemente entsteht ein Charakter des Heimlichen, des Zauberischen, der an die Ausdruckswelt einzelner Impromptus oder Moments musicaux erinnert, die ebenso erst viele Jahre später komponiert wurden. Auch der erwähnte Beginn der f-Moll-Fantasie spielt mit demselben Tonfall. Dieser spezifische Gesamteindruck des Allegretto wird schon durch die ersten Takte evoziert. Die vorangesetzte, repetierende kleine Terz e’–g’ lässt das harmonische Feld zunächst offen und erzeugt eine erwartungsvolle und zugleich vage Stimmung. Erst nach dem Aufgang der Bassstimme g–a–h–c’ stellt sich das Ohr des Hörers auf die Grundtonart C-Dur ein. Doch dieser Bass-Aufgang ist wiederum selbst verunsichernd: weil er am Taktschwerpunkt nicht die erwartete ‚Auflösung‘ bringt, sondern einen dissonanten Klang (T. 3: a–e’–g’), dann auf dem folgenden Achtel e-Moll als Quartsextakkord kurz anklingen lässt und schließlich erst auf der zweiten Takthälfte das zentrale C-Dur fixiert, indem er auf dem Finalton c beharrt und damit den Dreiklang eindeutig ergänzt. So gesehen, ist der Einsatz der Bassstimme eigentlich der melodisch eingeführte Grundton, der mit den repetierenden Terzen zu pochenden Akkorden verschmilzt. Erst wenn sich der imitatorische Einsatz dieser Eingangsfloskel in der Oberstimme wiederholt und damit der Tonraum vollständig aufgespannt ist, tritt die akkordische Mittelachse deutlich hervor, die bis zum Ende des Formteils beibehalten wird. Schön zu sehen ist auch, wie diese Eingangsfloskel in der Oberstimme melodische Gestalt gewinnt und mit einer verdichteten Geste in Sechzehntelnoten den Bogen schließt. Es folgt eine Wiederholung der ganzen viertaktigen Passage. In der zweiten Satzhälfte, ab Takt 11, wird diese aufsteigende Eingangsfloskel zunächst zweimal nach unten gespiegelt, dann wieder umgekehrt und schließlich kadenzierend abgeschlossen. Der übermäßige Dreiklang auf c mit e und gis (T. 10/4 bzw. 11/4) evoziert das Gefühl von kurz aufflammender Wehmut, die aber durch die sofortige Rücknahme ins pianissimo und durch die kurzgefasste Schlussbildung nach e nur angedeutet bleibt. Harmonisch changiert dieser Abschnitt zwischen 34

Trio aus der Sonate in a (D 845, op. 42, Mai 1825) und Rondo aus der Sonate in D (D 850, op. 53, August 1825).

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Notenbeispiel 5: Franz Schubert, Allegretto in C (D 346), T. 16–36 [Abschnitt A] (NGA VII:2/4, S. 134. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

e-Moll und C-Dur, zwei Tonarten, die schon in der eröffnenden Terz e–g angelegt sind. Zum Eindruck des Changierenden trägt auch der nächste Abschnitt mit seinen dominierenden Terzrückungen bei (Notenbeispiel 5). Indem am Ende des vorangegangenen Abschnitts die Unterstimme wieder auf die pochende Terz e–g reduziert wurde (T. 15f.), lassen sich diese Terzrückungen sozusagen unauffällig einführen: Schubert geht von g’ als Mittelachse aus, setzt die Terz nun darüber (statt darunter) und verschiebt damit auch die Eingangsfloskel in der Bassstimme um eine Terz nach oben. Dieselbe Vorgangsweise finden wir drei Takte später nochmals (T. 19/4), und der gleiche ‚Trick‘ funktioniert auch bei den beiden anschließenden Terzrückungen nach unten (T. 27/4 und 29/4). Mithilfe dieser unauffälligen akkordischen Verschiebungen entsteht ein ambiges harmonisches Feld, das – bevor sich das Ohr noch auf eine Grundtonart festlegen kann – schon wieder in eine neue Tonart weitergerutscht ist.35 Rückungen in Terzabständen spielen auch in der ‚Schlussgruppe‘ dieses Abschnitts eine Rolle, nämlich in jener Passage, die unmittelbar zum Des-Dur Akkord 35

Als Mittel der Verdichtung spielen Terzrückungen auch bei der Gestaltung am Ende des Abschnitts C, unmittelbar vor dem Des-Dur Akkord, eine wichtige Rolle (T. 113–119, siehe auch  Notenbeispiel 1). Ebenso zentral setzt Schubert sie für die Modulationspassage in der ‚Durchführung‘, T. 130/4–138, ein.

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hinführt (T. 114–119), sowie in der daran anschließenden ‚Durchführung‘ bzw. ‚Rückführung‘ (T. 131–138), hier allerdings noch stärker sequenziert mit dramatisierendem Effekt. Aber auch der schon genannte „Alla turca“-Satz von Mozart zeigt eine Vorliebe für Terzen und Terzrückungen: so etwa im unvermittelten Übergang von Takt 8 in E zum Beginn des neuen Abschnitts in C, oder im Tonartenverhältnis des Ritornells und des Couplets (A-Dur / fis-Moll). Zu der harmonischen Instabilität des Schubertschen Allegretto, die durch den subtilen Einsatz von Terzen ausgelöst wird, kommt eine metrische Verunsicherung, die ebenso schon in den Eingangstakten der Komposition angelegt ist. Die Eingangsfloskel hat ihren metrischen Schwerpunkt, wie bereits erwähnt, erst auf der zweiten Takthälfte, die reguläre Takteinheit wird erst mit der daran anschließenden Sechzehntel-Figur stabilisiert (T. 5). Zu Beginn des zweiten Abschnitts fehlt aber zunächst diese Figur. Die Eingangsfloskel in der Oberstimme klingt leer aus (T. 18/19), und der Einsatz der zweiten Terzrückung erfolgt in einem Freiraum, in dem die Orientierung an metrischen Schwerpunkten kurz verloren gegangen ist. Man hört nur mehr gleichförmiges Klopfen. Das Phänomen des ‚offenen Metrums‘ erscheint erneut in den Takten 26/27 und 28/29, hier in wiederum anderer Art und Weise. Anstatt den Takt zu dehnen, kommt es nun zu einer Verdichtung: Die Antwortfloskel in der Oberstimme wird um eine Viertelnote früher gebracht und fällt der Unterstimme damit sozusagen ‚ins Wort‘.36 Gerade diese Passagen sind etwas Besonderes, denn in diesem Schwebezustand blitzt die ganz außergewöhnliche Fähigkeit des späten Schubert auf, die Zeit gewissermaßen stillstehen zu lassen – man denke etwa an den langsamen Satz des Streichquintetts D 956 oder das Andantino der Sonate in A D 959.37 Beide Sätze sind dreizehn Jahre später entstanden, in den letzten Lebensmonaten Schuberts. Bemerkenswert ist schließlich auch das Ende der Schlussgruppe dieses Abschnitts (T. 55–59). Hier setzt Schubert die Technik des fade out ein, die man heutzutage aus der Popmusik kennt: Der Basston bleibt auf C liegen, die rhythmische Bewegung in der Oberstimme friert ein, und der gesamte, harmonisch stabile Satz verklingt durch ein kontinuierliches Diminuendo ins Nichts. Eine Fermate auf die darauffolgende Pause verstärkt diesen Effekt. Auch diese Technik findet man erst in einem späten Klavierstück Schuberts wieder, namentlich in dem letzten der Vier Impromptus D 935, entstanden im Dezember 1827.38 Ich komme zum Schluss: Was an diesem fragmentarischen, alleinstehenden Klaviersatz fasziniert, sind all die genannten Beobachtungen, insbesondere aber die klangliche und metrische Raffinesse in Abschnitt A – und nicht die Tatsache, dass die Komposition unvollendet blieb oder sich kein passender dazugehöriger Zyklus findet. In diesem Klavierstück hat Schubert für wenige Augenblicke einen Ton ge36 37 38

Dieselbe Art von Verschachtelung findet sich auch in der Rückmodulation der ‚Durchführung‘,  wenn auch größer angelegt. Vgl. dazu Peter Gülke, „Zum Bilde des späten Schubert. Vorwiegend analytische Bemerkungen  zum  Streichquintett  op.  163“,  in:  Franz Schubert,  hrsg.  von  Heinz-Klaus  Metzger  und  Rainer Riehn, München 1979 (Musik-Konzepte Sonderband), S. 107–166. Dort  gleich  in  mehreren  Anläufen  in  den  Takten  280–324  und  unmittelbar  vor  der  Coda  (T. 480–489).

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troffen, den er erst viel später wieder anklingen ließ, dann aber und über weite Strecken durchzuhalten vermochte. Diese Momente des Allegretto von 1815/16 erscheinen daher als eine Art Vorahnung auf Schuberts reifen Stil, sie sind ein kleines Fenster in seine kompositorische Zukunft.

KOMPOSITORISCHE VERFAHREN

KONZERTANTES BEI SCHUBERT Giselher Schubert Die scheinbar problemlos-selbstverständliche und – wie könnte es anders sein – selbstverständlich umstritten gebliebene Umgestaltung1 eines Werkes von Franz Schubert zu einem „Klavierkonzert“ durch Franz Liszt überrascht und beeindruckt auch dann noch, wenn diese Verwandlung der Fantasie in C (D 760, „WandererFantasie“) hybride Züge tragen mag und durchaus auch der Faktur einer Symphonischen Dichtung mit obligatem Klavier entspricht, wie sie Liszt selbst mit seinem Zweiten Klavierkonzert A-Dur (1839/49) oder Carl Maria von Weber mit seinem von Liszt oftmals aufgeführten und auch bearbeiteten Konzertstück für Klavier und Orchester f-Moll op. 79 (1821) komponiert haben.2 Der Werktitel „WandererFantasie“ scheint denn auch auf Franz Liszt zurückzugehen.3 Ohne die Fantasie 1

2

3

Vgl. Alfred Einstein, Schubert. Ein musikalisches Porträt, Zürich 1952, S. 93; Einstein glaubt, Schuberts „Wanderer-Fantasie“ habe das „Schicksal erlitten“, durch Liszt „sinfonisch“ – nicht etwa konzertant – „bearbeitet und im Klavier-Part noch virtuoser gestaltet zu werden“. Vgl. zu Liszts Bearbeitungen grundsätzlich die sehr differenzierten Bemerkungen von Charles Rosen, Musik der Romantik, Salzburg 2000, S. 572ff., sowie v. a. Thomas Kabisch, Liszt und Schubert, München 1984 (Berliner musikwissenschaftliche Arbeiten 23), S. 131ff. mit einer herrvorragenden Analyse der Lisztschen Umgestaltung der „Wanderer-Fantasie“. Einen Eindruck vom Vortrag des Konzertstücks durch Liszt vermittelt plastisch Robert Schumann: „Die genialste Leistung Liszts aber stand uns noch bevor: Webers Konzertstück, mit dem er in seinem zweiten Konzert anfing. Wie denn an diesem Abend Virtuose wie Publikum in besonders frischer Stimmung schienen, so überstieg der Enthusiasmus während des Spielens und zum Schluß auch beinahe alles hier Erlebte. Wie Liszt das Stück anfaßt, mit einer Stärke und Großheit im Ausdruck, als gälte es eben einen Zug auf den Kampfplatz, so führt er es von Minute zu Minute steigend fort bis zu jener Stelle, wo er sich wie an die Spitze des Orchesters stellt und es jubelnd selbst anführt. Schien er an dieser Stelle doch jener Feldherr selbst, dem wir ihn an äußerer Gestalt verglichen, und der Beifall darauf an Kraft nicht unähnlich einem ‚Vive l’empereur‘.“ Zitiert nach: Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hrsg. von Heinrich Simon, Leipzig [1888–1889], Bd. 3, S. 22–23. Vgl. Walther Dürr und Arnold Feil, Franz Schubert, Stuttgart 1991 (Reclams Musikführer), S. 297ff.; Dürr deutet dort für die Fantasie in C geradezu programmatische Momente an. Eine Interpretation aus dem Anschluss an das Klavierlied Der Wanderer bietet eindrucksvoll Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit, Laaber 21996 (Große Komponisten und ihre Zeit), S. 201ff.; freilich muss er „dialektisch“ ein bedeutungsvolles „Misslingen“ des abschließenden Fugato als höheres „Gelingen“ unterstellen; danach bleibe das ästhetische Subjekt dieses Finalabschnitts „zurück wie ein Überlebender ohne Aussicht, ins ‚Land das meine Sprache spricht‘ zu kommen, sein Vorhandensein freilich ein gegen die Unmöglichkeit gesetztes Trotzdem, verurteilt zur Buße dafür, daß in diesem gewagtesten Versuch, Lied und instrumentale Form zusammenzubringen, der Bezugspunkt außerhalb des Werkes liegt und die damit verbundene ‚Dramaturgie der Alternativlosigkeit‘ schon im Vorhinein entschieden hat, insofern es nicht beendet werden kann.“

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Giselher Schubert

in C (D 760) kompositionstechnisch im engeren Sinne durch formale und satztechnische Überformungen allzu rigoros zu verändern (erstaunlich wirkt eher Liszt’ Zurückhaltung etwa im Vergleich zu vielen seiner Klaviertranskriptionen Schubertscher Klavierlieder), hat Liszt einerseits konzertante Züge in die „Wanderer-Fantasie“ hineingetragen, andererseits nach außen gekehrt. Die hineingetragenen betreffen selbstverständlich in erster Instanz die veränderte Situation des öffentlichen Konzertierens, also des Konzertes als Institution einer nachdrücklichen und möglichst breiten Öffentlichkeit, und etwa auch das von Liszt sozialpsychologisch ausgespielte Verhältnis von dominierendem Solisten und begleitendem Orchester, und die nach außen gekehrten konzertanten Züge der Komposition die geradezu dramaturgisch durchgestalteten Beziehungen zwischen solistischem Klavier und kollektivem Orchester. Liszt rückt das Klavier wie einen Protagonisten in den Vordergrund, so dass seine Verwandlung der Schubertschen Komposition in ein Konzertwerk fast schon den Charakter einer Inszenierung gewinnt, die den Form- und Satzgliedern die konzertanten Bedeutungen gibt, die sie offenbar auch besitzen und die durch das Verändern des Aufführungskontextes ganz erfahrbar gemacht werden: Themenwiederholungen, die Liszt auf das Orchester und das Klavier aufteilt, wirken wie konzertant fundierte unterschiedliche Darstellungsarten von Thematik schlechthin; er gibt Seiten- oder Nebenthemen mit dem nachdrücklicher wirkenden solistischen Vortrag durch die aus dem Spielen hervorgehende Ausdrucksdifferenzierung eine eindringlicher wirkende Bedeutung, lässt Themen durch Auf- und Unterteilungen mit pointierenden Instrumentwechseln effektvoller, reicher und differenzierter wirken, macht die in Spielfiguren verselbständigte Virtuosität in der rechten Hand des Schubertschen Originals als eine der Konzertsituation geschuldete spielerisch-souveräne, gewissermaßen musikalisch überschüssige Geste fühlbar, verwandelt die im Original in der linken Hand des Klaviers liegenden, harmonisch grundierenden Begleitsysteme in charakteristische Einfärbungen des Orchesterklanges oder verleiht der Musik durch die in Melodieinstrumente wie das Solocello oder die Oboe gelegten Themen zur Klavierbegleitung geradezu ein Moment von öffentlicher Intimität. Der Ausdruckscharakter der Schubertschen Musik wird demnach gewissermaßen rhetorisch differenziert: Sie kann mit den genannten instrumentatorischen Maßnahmen wirklich monologisieren, duettieren, einfärben, zurücktreten, hervorheben, plastisch und direkt kommentieren, nach außen kehren, innehalten usw. Und selbst noch die durchaus beträchtliche spieltechnische Virtuosität des originalen Schubertschen Klaviersatzes der Fantasie in C – mit der übrigens Schubert selbst bekanntlich seine Schwierigkeiten hatte, so dass er meinte, „das Zeug“ solle der „Teufel spielen“4 – gerät durch Liszts aufführungspraktische Eingriffe wirkungsvoller, ohne sich jedoch (anders als im Schubertschen Original) allzu sehr aufzudrängen. Selbstverständlich ‚verbessert‘ Liszt durch seine Einrichtung keinesfalls das Schubertsche Original, und es wäre absurd anzunehmen, Liszt verhülfe dem Werk zu einer Wirkung, die Schubert intendiert haben mag, aber nicht realisieren konnte. 4

So die Erinnerung von Leopold Kupelwieser, zitiert nach: Deutsch, Die Erinnerungen seiner Freunde, S. 22.

Konzertantes bei Schubert

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Vielmehr verändert Liszt durchaus erfolgreich den Habitus der originalen Musik. Er versetzt sie in den großen Konzertsaal und macht sie komplementär durch konzertante Differenzierung gewissermaßen bestimmter, direkter und eindeutiger, so dass das Schubertsche Original etwas von seiner stimulierenden Ambivalenz vor allem des abschließenden Fugato verliert. Jedenfalls wird über diese Einrichtung des Werkes, wie immer man sie einschätzen mag, eine Position erkennbar, von der aus sinnvoll gefragt werden könnte, warum sich Schubert solche Gestaltungsmöglichkeiten durch das Konzertante, die seine Musik offensichtlich doch auch bietet, nicht selbst erschlossen hat; warum hat Schubert eine gewissermaßen konzertante Rhetorik als musikalisches Darstellungsmittel so gut wie gänzlich aus seiner Musik ausgeschlossen,5 deren konzertante Züge doch durchaus sinnvoll zu aktualisieren wären? Das Konzertante wäre also nicht länger ausschließlich mit solistischer Brillanz und Bravour zu identifizieren und vom Intimen mit ihren gesellschaftlichen Orten abzuheben (so sehr es auch diese spieltechnische Bravour mit sich führen mag, die ohne Öffentlichkeit fast schon sinnlos wirkte), sondern als eine spezifische Art von musikalischer Rhetorik aufzufassen, welche die Wirkung von Musik ebenso bedeutungsvoll wie vielschichtig auf unverwechselbare Art differenziert und vor allem präsent macht. Unwillkürlich lenkt Liszt durch seine Einrichtung die Aufmerksamkeit auf das Differenzieren von Musik durch reich abgestuftes Spielen oder Vortragen als solche, die von Musik wohl nicht zu trennen, aber doch zu unterscheiden sind; sie erweist drastisch, wie sehr die Wirkung6 von der Art abhängt, wie sie sinnlich präsent gemacht und in die Öffentlichkeit getragen wird, während bei Schubert das Moment von Wirkung gewissermaßen im Inneren der Musik eingeschlossen zu bleiben scheint, ohne inszeniert zu werden, ja sogar nach einer freilich pointierten Meinung Alfred Einsteins, kein Publikum, nicht einmal einen Zu-

5

6

Hans-Joachim Hinrichsen, „Auf dem Weg zur ‚tondichterischen Ouvertüre‘. Die kleinen Orchesterwerke“, in: Schubert-Handbuch, S. 544: „So früh und so intensiv sich schon der junge Schubert mit den großen Gattungen der Instrumentalmusik auseinandergesetzt hat, so auffallend ist eine signifikante Lücke in dieser Beschäftigung: Zur Gattung des Instrumentalkonzertes, die mit der klassischen Musikepoche Wiens zu ihrer Blüte gelangt war, hat Schubert keinen Beitrag geliefert.“ Vgl. hierzu auch die Meinung Einsteins (Schubert [Anm. 1], S. 92): „Es ist einer seiner entscheidenden Charakterzüge, daß er die virtuose Schaustellung, unabtrennbar verbunden mit dem Begriff des Konzerts, fast völlig vermieden hat.“ – Zur Diskussion des „Virtuosen“ vgl. Musikalische Virtuosität, hrsg. von Heinz von Loesch u. a., Mainz 2004 (Klang und Begriff 1). Die Kategorie der „Wirkung“ scheint in der unter dem Einfluss Theodor W. Adornos schreibenden Musikwissenschaft geradezu tabuisiert worden zu sein. Bei Adorno heißt es etwa: „Jede Rücksicht auf Wirkungen, wäre es auch unter dem Vorwand der gesellschaftlichen Funktion oder des Gedankens an den sogenannten Menschen, ist hinfällig; aber auch die Selbstherrlichkeit des Subjekts und seines Ausdrucks aus den heroischen Tagen der neuen Kunst. […] Die Kunstwerke heute, die allein als sinnvoll sich legitimieren, sind jene, die gegen den Begriff des Sinnes am sprödesten sich zeigen.“ Theodor W. Adorno, „Jene zwanziger Jahre“ (1962), in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main 21964 (Edition Suhrkamp 10), S. 65. Freilich ist gleichwohl unermüdlich der „spröde“ „Sinn“, aber sehr selten die „Wirkung“ analysiert worden. Immerhin wird erkennbar, auf welcher ästhetischen Folie die auf Wirkung nicht angewiesene Musik Schuberts so sehr favorisiert wurde.

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Giselher Schubert

hörer brauche, vor dem ihre Wirkung auszuspielen wäre.7 Das Konzertante, so die hier vertretene These, ist in der Instrumentalmusik Schuberts im Modus des Möglichen, weniger in dem des Wirklichen präsent; und überall dort, wo er es präsent macht, wird spürbar, dass es hinter dem Möglichen zurücksteht. Fraglich bleibt jedoch, wie solcher Modus des Möglichen, der von den zahlreichen, oft sogar spektakulären Schubert-Bearbeitungen bis in die jüngste Zeit hinein bestätigt zu werden scheint,8 ästhetisch einzuschätzen ist. Die These kann hier nur mit den wenigen Werken für Violine und Klavier bzw. Orchester9 etwas veranschaulicht werden, die Schubert in zwei Phasen mit einem Abstand von zehn Jahren komponiert hat. Die drei kleinen Sonaten (D 384, März 1816; D 385, März 1816; D 408, April 1816),10 die Sonate in A für Violine und Klavier (D 574, August 1817) und das Concerto in D (D 345, 1816), die Polonaise in B (D 580, September 1817) sowie das Rondo in A (D 438, Juni 1816) für Violine und Orchester bzw. Streichorchester von 1816/17 schrieb er vor allem für seinen Bruder Ferdinand, der kein Violinvirtuose war,11 das Rondo in h op. 70 (D 895, Oktober 1826) und die Fantasie in C (D 934, Dezember 1827) für Violine und Klavier von 1826/27 hingegen für den jungen Geiger Josef Slawjk (1806–1833), den immerhin Chopin einen zweiten Paganini nannte.12 Von diesen Werken ist lediglich das Rondo in h zu Schuberts Lebzeiten veröffentlicht worden, während etwa die Fantasie in C sogar nur in einer in der Violinstimme überarbeiteten Fassung bekannt wurde; und Rezensionen dieser Werke fielen, wenn sie überhaupt beachtet wurden, bis heute denkbar ambivalent aus. Danach belegen sie wohl die Meinung, Schubert habe das fast ausnahmslos mit Bravour und spieltechnischer Brillanz identifizierte „konzertante Prinzip als solches“ keinesfalls verworfen, doch gelten die genannten Kompositionen als „gesellschaftlich gedachte Werke“, also als 7 8

9 10 11 12

Alfred Einstein, Romantik in der Musik, mit einem Nachwort von Arnold Feil, Stuttgart 1992, S. 88. Zur Schubert-Bearbeitung Dieter Schnebels vgl. Hermann Danuser, „‚… als habe er es selbst komponiert‘. Streiflichter zur musikalischen Interpretation“, in: Aspekte der musikalischen Interpretation. Sava Savoff zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hermann Danuser und Christoph Keller, Hamburg 1980, S. 54ff., sowie ders., „Aktualisierende Interpretation – ein Spiegel der Kompositionsgeschichte? Zu den Bearbeitungen Dieter Schnebels“, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft 3 (1983), S. 123ff. – Vgl. auch Franz Schubert, der Fortschrittliche? Analysen, Perspektiven, Fakten, hrsg. von Erich Wolfgang Partsch, Tutzing 1989 (Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 4); „Dialektik ohne Erde“. Franz Schubert und das 20. Jahrhundert, hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien etc. 1998 (Studien zur Wertungsforschung 34), sowie auch neuerdings Christian Jungblut, Kompositorische Schubertrezeption in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2011. Das Thema Schubert und die Violine behandelt Boris Schwarz, „Die Violinbehandlung bei Schubert“, in: Zur Aufführungspraxis der Werke Franz Schuberts, hrsg. von Vera Schwarz, München etc. 1981 (Beiträge zur Aufführungspraxis 4), S. 87ff. Zu diesen kleinen Sonaten gibt es auch eine nur fragmentarisch erhaltene Orchesterbegleitung von Ferdinand Schubert, die Schubert durchgesehen hat. Ferdinand Schubert werden ‚beachtliche‘ technische Fähigkeiten nachgesagt. Zur Entstehung und Überlieferung der drei Werke für Violine mit Orchesterbegleitung vgl. das weit ausholende Vorwort von Michael Kube, in: NGA V:7, 2008, S. IXff. Vgl. Maurice J. E. Brown, Schubert. Eine kritische Biographie, Wiesbaden 1969, S. 242.

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Werke, die für ein etwas breiteres Publikum bestimmt sind und deshalb, so die Meinung, weniger ernst und tiefgründig ausfielen.13 Durchweg indiziert nach dieser Auffassung das auf Wirkung abhebende ‚konzertante Prinzip‘ grundsätzlich eine mindere ästhetische Qualität. Zudem wird auch noch das Niveau oder die Art dieser Schubertschen Virtuosität gänzlich unterschiedlich eingeschätzt: Einerseits bleibe diese gewissermaßen im Vorfeld von wirklicher Virtuosität stecken,14 andererseits wird sie technisch als schwerer als etwa Beethovens „Kreutzer-Sonate“ op. 47 eingeschätzt.15 Solchen Urteilen liegt offenbar eine unterschiedliche Auffassung des spieltechnisch ‚Virtuosen‘ zugrunde: Schuberts geigerische Virtuosität ist wohl knifflig, geht aber kaum über das Niveau etwa von Kreutzers Etüden oder Rodes Capricen hinaus und besitzt durchaus Etüdenhaftes, während sie sich kaum in eine spezifische Form musikalischen Ausdrucks zu verwandeln scheint, wie sie immerhin bereits die doch wohl etwas unterschätzten Konzerte von Viotti, Kreutzer oder Rode aufweisen, um von Paganini zu schweigen, den Schubert 1828 in Wien hörte und von dessen Spiel er sich ganz außerordentlich beeindrucken ließ: freilich eher vom lyrisch-kantablen Vortrag als vom unerhört virtuosen Passagenwerk.16 Im Concerto für Violine und Orchester kann von einer konzertanten Rhetorik im skizzierten Sinn schlechterdings keine Rede sein. Schubert gibt dem einsätzigen Konzertstück die Rondo-Form, der eine langsame Einleitung vorangestellt ist. Und in dieser Einleitung mit ihrer Reihung von Phrasen, die den Entwicklungssinn der Musik ganz im Sinne der Formsituation offen lässt, kommt es durchaus (T. 15–26) zu einem konzertanten Miteinander von Solo und Begleitung, doch im denkbar einfach und übersichtlich gestalteten, unmittelbar anschließenden Rondo mit seinem allzu trivialen Refrain-Thema, das auch noch nicht weniger als zehnmal wiederholt wird, dominiert dann unangefochten die Solovioline. Die volle Besetzung des kleinen Orchesters nutzt Schubert nur zu den vier gänzlich unveränderten Präsentationen des Refrain-Themas im Orchester, während die Begleitung zu den ausschließlich von der Solovioline dominierten Couplet-Teilen fast ganz auf die Streicher reduziert ist, die so einfach, ja konturlos wie nur möglich begleiten. Die Gestaltung der Solostimme in diesen Couplet-Teilen, die alle zumeist zwei parallele Abschnitte mit ganz geringen Varianten aufweisen,17 wirkt wie ein noch nicht einmal elegantes Substrat von einzuübenden Spielfiguren aus den genannten Etüden von Kreutzer oder Rode; jedenfalls ist das eine Stimmengestaltung mit Sechzehntelketten aus steigenden oder fallenden Skalenausschnitten oder mit latenter Mehrstimmigkeit, die sich wie von selbst fortspinnen und die ganz leicht mit Triolen und Trillern, Staccato- und Legato-Artikulationen oder Saitensprüngen differenziert werden, deren etüdenhafter Duktus mit den unveränderten Wiederholungen 13 14 15 16 17

So Einstein, Schubert (Anm. 1), S. 92–93. Vgl. ebenda, S. 159: Der Sonate in A bescheinigt Einstein eine „leise Wendung zum Virtuosischen“. So Paul Mies, Franz Schubert, Leipzig 1954, S. 115. Nach Anselm Hüttenbrenner soll Schubert ihm über Paganinis Spiel geschrieben haben: „Ich habe im Adagio einen Engel singen gehört!“ Zitiert nach Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 78; vgl. auch ebenda S. 214, 218, 261. Wiederholungszeichen schreibt Schubert nur im letzten Couplet Takt 304ff. (mit Auftakt) vor.

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durchaus im Sinne von vorsichtiger Einübung und sicherer Präsentation nur umso spürbarer wird, so dass auch kaum eine musikalische Nobilitierung der Etüde erkennbar wäre. Das Concerto präsentiert sich demnach wohl als ein konzertantes Werk, aber die musikalische Substanz erweist, dass kaum konzertiert werden soll: Im Grunde soll diese Musik wohl gespielt oder geübt, aber nicht unbedingt auch vorgespielt werden;18 Wirkung im Sinne differenzierender konzertanter Rhetorik kann sich durch den Primat des Selbstspielens kaum einstellen. Im Rondo in A für Violine und Streichorchester aus demselben Jahr 1816 gestaltet Schubert die gleiche Form wie im Concerto, doch verändert er die musikalischen Vorgänge erheblich. Die langsame Einleitung gewinnt im Rondo die Dimension eines selbständigen Formteils mit einer Vielzahl von charakteristischen Motiven, die wohl in die Haltung der Musik und die konzertante Faktur prägnant einführen, doch im eigentlichen Rondo nicht wieder aufgegriffen werden. Der Rondo-Teil wiederum differenziert die Ausgestaltung seiner drei Hauptthemen durchaus in konzertantem Sinne: Die beiden ersten Themen sind ausschließlich der Solovioline vorbehalten, das dritte Thema hingegen mit seinem formal gliedernden, ritornellartigen Charakter nur dem Streichorchester. Und auch die Faktur dieser Themen selbst differenziert Schubert unverkennbar nach konzertant-formalen Funktionen: Das erste Thema (T. 34ff.) trägt improvisatorischen Charakter im Sinne einer „zögernden Unentschiedenheit“ des Solisten,19 das zweite (T. 72ff. mit Auftakt) wirkt dagegen umso bestimmter und zählt durchaus zu jenen unvergleichlichen Schubertschen Eingebungen, in denen sich nicht nur der Ausdruck der Musik konzentriert, sondern die sich auch wie ein musikalisches Signet einprägen. Das satzartig geschlossen ausgestaltete, Formeinschnitte markierende dritte Thema integriert das Tutti des Streichorchesters (T. 184ff., T. 411ff., T. 612ff.) bemerkbar in den konzertanten Vortrag. Die Führung der Solovioline in den Couplet-Teilen mit notorischem Passagenwerk wirkt auf eine paradoxe Art vielfältiger und abwechslungsreicher als im Concerto, obwohl sie einfacher gehalten ist, doch fällt das Rondo mit dieser Einfachheit prägnanter und konsistenter aus, und virtuos Klingendes inszeniert Schubert durchaus effektvoll etwa in den Schlusstakten der Couplets durch exponierte Töne in höchster Lage.20 Freilich fehlt völlig eine rhetorisch-konzertante Belebung der Musik im beschriebenen Sinne. Die genannten konzertanten Züge differenzieren wohl – anders als im Concerto – Thementypen und die Ausarbeitung und Gestaltung der Form, wirken jedoch exklusiv und lassen die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten durch formal-substantielle Konzentration eben auch etwas schrumpfen: Auf eine Differenzierung der Themen durch unterschiedliche Vortragsarten ist schon deshalb verzichtet, weil sie, wie erwähnt, sehr charakteristisch erfunden und den Formsituationen zugeordnet sind. Die im Vergleich mit dem Concerto gesteigerte thematisch-konzertante Prägnanz der Musik, auch im Sinne effektvollerer Wirkung, schränkt die kompositorischen Möglichkeiten offenbar etwas ein. Das konzertante Prinzip entfesselt im Rondo also weniger Schuberts Fantasie 18 19 20

Hinrichsen („Auf dem Weg zur ‚tondichterischen Ouvertüre‘“ [Anm. 5], S. 544), charakterisiert das Concerto als Vortragsstück für das private, allenfalls halböffentliche Musizieren. Gülke, Franz Schubert und seine Zeit (Anm. 3), S. 172. Vgl. etwa die Takte 177ff., 401ff., 605ff.

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oder fordert sie heraus, als dass es sie gewissermaßen lenkt und, übertrieben ausgedrückt, diszipliniert. Entscheidend ist, dass diese Einschränkung durchaus spürbar wird. Das Rondo in A ist zweifellos Schuberts substantiellster Beitrag zum Genre des Konzertes, einem Genre, in dem sowohl die spieltechnische Virtuosität als auch die konzertante Rhetorik hinter seinen – hier einmal unterstellten – Möglichkeiten zurückzubleiben scheint: im Concerto als einer Musik zum Spielen mit eingeübten etüdenhaften Spielfiguren, im Rondo als paradoxe Einschränkung oder Konzentration von Gestaltungsmöglichkeiten auf die Art genuin funktionaler thematischer Erfindung. Doch welche Bedeutung nimmt das Konzertante in der konzertanten Kammermusik Schuberts an, zu der, anders als die drei kleinen Sonaten und die Sonate in A von 1816/17, das Rondo in h und die Fantasie in C jeweils für Violine und Klavier von 1826/27 stets gezählt wurden, und vor allem: Wie lässt sich seine Funktion gerade auch im Vergleich mit den beiden Konzertwerken bestimmen? Dabei bietet sich ein Vergleich des Rondo in h mit diesen umso mehr an, als alle drei Werke die gleiche Form aufweisen, die Schubert im Rondo in h gegenüber den beiden Konzertwerken freilich zu einem Sonatenrondo beträchtlich entwickelt und differenziert, ohne dass sich behaupten ließe, diese Entwicklung sei unzweifelhaft auf das kammermusikalische Genre zurückzuführen. Die langsame Einleitung zum Rondo in h kann sogar motivisch mit derjenigen zum Rondo in A unmittelbar verglichen werden, leitet jedoch, den motivischen Zusammenhang intensivierend, stringent durch rhythmisch-intervallische Antizipationen zum Rondo-Teil unmittelbar über;21 und zudem bezieht sich Schubert in diesem Rondo-Teil sogar auch direkt auf die Einleitung zurück.22 Das in seiner Faktur singulär gebliebene Hauptthema des Rondos teilt Schubert raffiniert gewissermaßen in zwei Versionen auf das Klavier und die Violine auf, die dann auch im Unisonospiel eine Art Synthese eingehen, und die kontrastvolle Fortsetzung erweist sich als eine melodische Variante dieses Themas (T. 65ff. mit Auftakt), an die sich eine weitere, nun eher rhythmischschwungvolle, ungemein einprägsame weitere Variante anschließt (T. 83ff. mit Auftakt). Darüber hinaus sind nun auch die reichen thematischen Konfigurationen in den Couplets prägnanter und abwechslungsreicher erfunden. Dabei ist das Thema, mit dem das erste Couplet anhebt (T. 110ff.), rhythmisch aus dem Hauptthema ebenso abzuleiten wie das Thema des zweiten Couplets (T. 346ff.), so dass die durchaus akzentuierten Grenzen der Formteile zugleich motivisch überbrückt werden und die Musik sich kontinuierlich zu erneuern scheint. Zudem arbeitet Schubert beide Couplet-Teile durchführungsartig aus; und auf diese Art ist jeder Takt motivisch vermittelt. Das gilt vor allem auch für jene Passagen, die spieltechnisch bravourös ausgestaltet sind durch eine Virtuosität, die sich gleichermaßen auf beide Instrumente bezieht.23 Es ließe sich sogar pointieren, dass mit den Durchführungstechniken, die Themen und Motive fragmentieren, herauslösen, sequenzieren oder kombinieren, diese Virtuosität mit Skalengängen, Doppelgriffen, Akkordfol21 22 23

Vgl. in Takt 44ff. die Exponierung des steigenden Ganztons, mit dem dann das Rondo in Takt 50 (mit Auftakt) geradezu anspringt. So Takt 269ff. Vgl. dazu besonders Takt 530ff.

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gen usw. stets motivisch fundiert ins Spiel gebracht wird. Entsprechend verzichtet Schubert weitgehend auch auf kontinuierliches, sich gewissermaßen wie von selbst fortspinnendes Passagenwerk. Und durch solche motivisch-thematisch durchführungsartig inszenierte Virtuosität, die fast schon wie ein übermütig-hemmungsloses Entfesseln des Spielens wirkt, jedenfalls keine rigide strukturelle Bedeutung besitzt, unterscheidet sich dieses Rondo in h etwa auch von der Virtuosität der Beethovenschen „Kreutzer-Sonate“, die eher die spieltechnischen Ansprüche grundsätzlich steigert, um der Kammermusik neue, „schwere“24 Ausdrucksdimensionen zu erschließen.25 Diese Schubertsche Inszenierung von Virtuosität im Rondo in h lässt sich mit einer grundsätzlichen Idee von Rainer Cadenbach auch als Ergebnis eines überschwänglichen „musizierenden Komponierens“ beschreiben,26 das einen impulsiven Musik-Duktus in Gang setzt, der sich eher auf Assoziationen, Einwürfe oder Pointen als auf strukturelle Korrelationen stützt. Sie trägt ihren sich nach außen wendenden und auf Wirkung bedachten Sinn in sich selbst, ohne einem innermusikalischen Funktionszusammenhang zu dienen, den Schubert gleichwohl, wie erwähnt, durch thematische Vermittlung gestiftet hat. Solch musizierendes Komponieren markiert auch einen Unterschied zu strengerer Kammermusik, die Schubert offenbar eher mit der Fantasie in C vorschwebte.27 Diese Fantasie zählt formal zu den originellsten Werken des Komponisten. Sie umfasst in ihrer Einsätzigkeit vier Teile,28 die zugleich voneinander abgehoben und unmittelbar aufeinander bezogen sind und harmonisch-tonal mit den notorischen Dur/Moll-Wechseln und den Terzbeziehungen Schuberts29 wesentlich komplexer gehalten ist als die angeführten 24 25

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27 28 29

Gemeint ist „schwer“ im Beethovenschen Sinne: „denn was schwer ist, ist auch schön, gut, groß“; vgl. Klaus Kropfinger, Beethoven, Kassel etc. 2001 (MGG Prisma), S. 197–198. Vergleichende Bemerkungen zum Rondo in h und zur „Kreutzer-Sonate“ finden sich auch bei Charles Rosen, Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven, München 1983, S. 513: „Bestürzender ist das Verhältnis zwischen der späten Komposition ‚Rondo‘ in h für Violine und Klavier [von Schubert] und dem ersten Satz der ‚Kreutzer-Sonate‘ von Beethoven, denn alles Geborgte wird hier trivialisiert und jedes dramatische Detail wird kleinlich, ja dekorativ.“ Rosens ungerechtes Urteil übersieht einerseits die Gattungsunterschiede und die Funktionsbestimmung, andererseits überzeugt es argumentativ kaum, eine Affinität zu unterstellen, um dann zu erweisen, dass sie misslingt. Selbstverständlich kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Beethovens Sonate in fast jeder Hinsicht das bedeutendere Werk ist, aber gleichwohl lässt sich auch Schuberts Rondo schätzen. Vgl. Rainer Cadenbach, „‚Streichquartette eines Bratschers, Musikantenmusik …‘. Zur Rolle der Bratsche in Hindemiths Kammermusik für Streicher“, in: Hindemith-Jahrbuch 25 (1996), S. 112–113. – Gülke (Franz Schubert und seine Zeit [Anm. 3], S. 171) spricht entsprechend von der „immer neu zündenden Inspiration am jeweils eben Erklungenen“. Gleichwohl nennt Hinrichsen die Fantasie zu Recht das „extrovertierteste“ unter Schuberts großen Werken; Hinrichsen, „‚Bergendes Gehäuse‘ und ‚Hang ins Unbegrenzte‘. Die Kammermusik, in: Schubert-Handbuch, S. 501. Zur Form der Fantasie vgl. ebenda, S. 500; Einstein (Schubert [Anm. 1], S. 315) hingegen beschreibt die Form des Werkes gänzlich falsch. Die Einleitung wendet sich von C-Dur nach E-Dur; das Allegretto steht im Expositionsteil mit seinen beiden Themengruppen in a-Moll und A-Dur, in der Reprise in a-Moll und C-Dur und der Durchführungsabschnitt in Es-Dur. Die Variationen legt Schubert nach As-Dur, die Reminiszenz der Einleitung wieder nach C-Dur und moduliert nun zur Dominante G-Dur, während

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Werke: einen langsamen Einleitungsteil (Andante molto),30 der weitgehend den Einleitungen in den drei genannten Rondos entspricht, ein Allegretto, das die konventionellen drei Glieder der Sonatenhauptsatzform freilich in der ungewöhnlichen Reihenfolge von Exposition (T. 1ff.),31 Reprise (T. 145ff.) und Durchführung (T. 226ff.) anzuordnen scheint und auf das – durch den Durchführungsabschnitt im Sinne einer Überleitung vermittelt und eingeführt – vier Variationen über Schuberts (verkürztes) Klavierlied Sei mir gegrüßt (Andantino) folgen.32 An die vierte Variation schließt Schubert dann, ungewöhnlich genug, eine Reminiszenz an die Einleitung an (T. 130ff.), die hier nun zu einem zweiteilig gereihten, wuchtigen Finalabschnitt (Allegro vivace) führt (T. 143ff., T. 204ff.), in dem vor seiner Presto-Coda (T. 314ff.) überraschend eine fünfte Variation (T. 288ff.) des Liedes Sei mir gegrüßt eingefügt ist (Schubert schreibt hier das Allegretto-, nicht das Andantino-Tempo vor).33 Auf eine dem Rondo in h entsprechende spieltechnisch-konzertante Bravour verzichtet Schubert weitgehend. Er bemüht sich einerseits um eine musikalische Angleichung von Violine und Klavier, indem er etwa durch unmittelbare Wiederholungen beide Instrumente gleichmäßig zu bedenken scheint, die Instrumentenstimmen oft rhythmisch komplementär aufeinander bezieht, die Hauptstimme des Tonsatzes teilweise von beiden Instrumenten in Oktavkopplungen spielen lässt oder etwa auch das Hauptthema des Allegrettos sogar kanonisch führt. Andererseits gestaltet er den Klavierpart nicht nur wesentlich reicher und variantenreicher, sondern dieser trägt auch durchweg den Formzusammenhang, jedenfalls initiiert kaum einmal die Violine den Formprozess. Zudem legt Schubert auch bedeutende Formglieder wie etwa die Präsentation des Variationsthemas vor allem ins Klavier. Gewiss ist die spieltechnische Virtuosität in beiden Instrumenten gegenüber den drei kleinen Sonaten oder auch der Sonate in A beträchtlich gesteigert, aber ihre Bedeutung liegt nicht im Bravourösen. Sie erschließt der Duo-Besetzung, zumindest intentional, konzertant anmutende Ausdrucksformen, die besonders mit der Gestaltung der Violinstimme in den Variationen über das Lied Sei mir gegrüßt deutlich werden, jedoch zwiespältig wirken. Im Grunde schreibt ihr Schubert durchweg wieder etüdenhafte Spielfiguren vor, die mit ihrer abwechslungsreichen Differen-

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der Schlussabschnitt in C-Dur steht und mit der 5. Variation vor der Coda wieder As-Dur aufgreift. Vgl. dazu auch ergänzend die thematische Integrierung der Abschnitte, die Michael Raab beschreibt; Michael Raab, Franz Schubert. Instrumentale Bearbeitungen eigener Lieder, München 1997 (Studien zur Musik 16), S. 256. Auf die Fantasie in C geht auch etwas ein: Dieter Schnebel, „Auf der Suche nach der befreiten Zeit“, in: Franz Schubert, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1979 (Musik-Konzepte Sonderband), S. 79. Er schreibt über die ersten Takte: „Das beginnt mit gestaltlos flimmernden Klängen, welche allmählich Konturen gewinnen. Beinahe unmerklich entwächst dem eine Melodie, die sich auszusingen anschickt, als ob sie wahrhaft unendlich wäre – Versprechen befreiten Gesangs und Versuch losgelassener Zeit.“ Inwieweit die Melodie „befreiten Gesang“ verspricht und versucht wird, „losgelassene Zeit“ zu imaginieren, wird freilich nur behauptet, nicht nachgewiesen. Die Takte werden jeweils separat nach den typografisch eingerückten Abschnitten durchgezählt. Vgl. hierzu Raab, Franz Schubert (Anm. 29), S. 241ff. Liszt stellte von dem Lied eine Fassung für Klavier her. Schubert selbst tolerierte auch eine Harfenbegleitung.

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zierung der Artikulation etwa durch Pizzicati (2. Variation, T. 60ff.) oder mit einer Stimmführung mit gleichsam wuselnden, jedenfalls kaum distinkt wahrzunehmenden kleinsten rhythmischen Unterteilungswerten (3. Variation, T. 84ff.) die Variationen klanglich gewissermaßen kolorieren, also eher als Klangfärbung, weniger als Stimme wahrzunehmen sind. Und im gleichen Sinne können in der Violinstimme auch Akzentuierungen durch Akkordgriffe, das Ausspielen von Harmonik durch Arpeggien, das Differenzieren der Stricharten, die genannten Verdopplungen von Stimmen in der höheren Oktave oder die unmittelbaren Wiederholungen wirken, zu denen die primären musikalischen Vorgänge durchweg im Klavier liegen. Konzertantes sowohl im Sinne der skizzierten konzertanten Rhetorik als auch als spieltechnische Virtuosität wären als Mittel innermusikalischer Form- und Ausdrucksdifferenzierung aufzufassen, das nicht wirklich darauf angelegt ist, sich als Spielen und Vortragen nach außen zu wenden, um virtuose Wirkung zu erzielen und eine Öffentlichkeit zu erreichen, aber doch gewissermaßen als konzertante Intention, als Möglichkeit stets zu spüren ist, sobald das Werk engagiert aufgeführt wird. Gerade dieser Modus des Möglichen scheint den Erfolg des Werkes, den es verdient hätte, beeinträchtigt zu haben. Schubert, „der beliebte Tonsetzer“, „habe sich hier geradezu verkomponiert“, heißt es in einer zeitgenössischen Kritik.34 Und über die Uraufführung berichtet ein anderer Kritiker: „Der Saal wurde allmählich leerer, und der Referent gesteht, daß auch er von dem Ausgang dieses Musikstückes nichts zu sagen weiß.“35 Vor dem Modus des Möglichen, so wäre einzugestehen, versagt die Fantasie, es sei denn, ein Musiker wie Liszt machte es wirklich und präsent, um dann kennerhaft womöglich als unnötig-triviale, grobe Verformung kritisiert zu werden.

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Zitiert nach Einstein, Schubert (Anm. 1), S. 316. Zitiert nach ebenda.

SCHUBERT UND KEIN ENDE? Schlüsse bei Schubert Wolfram Steinbeck Schubert hat man bekanntlich nachgesagt, er habe ein Problem mit Schlüssen, sogar mit ganzen Schlusssätzen. Seine Finali seien zu lang, überproportioniert und zu sehr auf Wiederholungen aus. Diese Einschätzung geht schon ins 19. Jahrhundert zurück1 und wird gern wiederholt, u. a. von keinem Geringeren als Theodor W. Adorno.2 Es mag auffallen, dass Schuberts fragmentarischen Werken mehrfach gerade die Vollendung des Schlusssatzes fehlt. Die ‚Unvollendete‘ steht dafür exemplarisch. „Am Schubertschen Finale“, schreibt Adorno, „erweist sich der fragmentarische Charakter seiner Musik material. Der Kreisgang der Liedergruppen verbirgt, was in jeder zeitlichen Folge zeitloser Zellen evident werden muß, sobald sie umstandslos der Entwicklungszeit der Sonate sich zu nähern bestrebt sind; daß das Finale der h-moll-Symphonie nicht geschrieben werden konnte, ist mit der Unzulänglichkeit des Finales der Wandererphantasie zusammenzudenken; nicht der Dilettant des vollen Herzens versagt vorm gefügten Schluß, sondern die Tartarusfrage, ‚ob noch nicht Vollendung sei‘, herrscht weit und bannend über Schuberts Region, und vor ihr verstummt Musik.“ Dagegen seien die „geglückten Finale, die von Schubert blieben [also offenbar die wenigsten], vielleicht die mächtigsten Signa der Hoffnung gerade, die sein Werk enthält“.3 Ein Blick in die Schubertschen Fragmente zeigt allerdings keineswegs ein deutliches Überwiegen finalen Scheiterns. Oft fehlen auch andere Sätze, oder es gibt überhaupt nur einen Satz. Man denke nur an den berühmten Quartettsatz c-Moll (D 703) oder an diverse Klaviersonatenfragmente, die über den Kopfsatz nicht hinaus gediehen.4 Dass es wirklich die Schlüsse gewesen wären, die Schubert zum Abbruch nötigten, ist eine schöne, aber wenig gewisse Mär. 1

2

3 4

Belege dazu u. a. bei Christian Ahrens, „Franz Schuberts Kammermusik in der Musikkritik des 19. Jahrhunderts“, in: Festschrift Rudolf Elvers zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ernst Herttrich und Hans Schneider, Tutzing 1985, S. 9–27; Friedhelm Krummacher, „Schubert als Konstrukteur. Finale und Zyklus im G-Dur-Quartett D 887“, in: Archiv für Musikwissenschaft 51 (1994), S. 26–50. Theodor W. Adorno, „Schubert“, in: Moments musicaux (1928), Frankfurt am Main 1964, S. 18–36 (Edition Suhrkamp 54). Vgl. auch Arthur Godel, „Anfangen und Schliessen als kompositorisches Problem in den Instrumentalwerken von Franz Schubert“, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft. Neue Folge 45 (1984/1985), S. 125–138. Adorno, „Schubert“ (Anm. 2), S. 30. Vgl. dazu u. a. Andreas Krause, Die Klaviersonaten Franz Schuberts. Form, Gattung, Ästhetik, Kassel etc. 1992.

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Wohl ist zu beobachten, dass Schuberts Schlusssätze ihren Schluss in der Tat oft nicht recht scheinen finden zu können, weil er v. a. der Wiederholung starken Raum lässt. Das ist oft kritisiert worden. Deshalb jedoch von „prinzipieller Unvollendbarkeit“ oder vom „Nicht-Enden-Können“5 zu sprechen, dürfte nicht nur zu kurz gegriffen, sondern einer unpassenden Formvorstellung entsprungen sein. Schon Beethovens Finalsätzen könnte man ihre Unvollendbarkeit nachsagen, etwa der Fünften, die mit ihrem Schlussgetöse den althergebrachten Tutti-Schluss ins Übertriebene steigert und damit homogenes Schließen in Frage stellt (zumal nicht feststeht, wie viele Tutti-Akkordschläge insgesamt das rechte Maß wären). Auch die Schlüsse etwa der Klaviersonaten-Rondos sind alles andere als einfach und homogen herausgearbeitet. Man nehme nur den (Tutti-)Schluss aus der „Waldsteinsonate“ op. 53, der am Ende in eine Stretta mündet, die zwar enden soll, aber zunächst nur den alten Wiederholmodus perpetuiert; oder man denke an den gleichsam solistischen Piano-Schluss aus Opus 90, in der eine lapidar und völlig unthematisch erscheinende figurale Geste dem immerfort wiederkehrenden RondoThema den erneuten Auftritt abschneidet.6 Es ist keineswegs ein ‚Nicht-Enden-Können‘, das Schuberts Schlusssätze kennzeichnet, sondern im Gegenteil ein spezifisches Konzept von Schlussbildung. Während Haydn noch das Schluss-Machen zu einem intellektuellen und ‚witzigen‘ Spiel gestaltet und es darin Hörern wie Musikern im wahrsten Sinne ‚vorführt‘, wird bei Beethoven der Schluss meist als gravierendes, schwergewichtiges Problem realisiert. Dabei haben diese ‚Vorführungen‘ des Schließens sowohl schon bei Haydn wie dann in besonderer Weise bei Beethoven eine selbstreflexive Komponente. Sie führen explizit vor, was sie auszuführen haben, sie verweisen selbstreflexiv auf das, was geschieht: Finale machen, Schließen, ein Ende erreichen – Finalität als Selbstreflexion. Und das geschieht auch bei Schubert, nur völlig anders. Schauen wir vor allem auf die zyklischen Instrumentalwerke der 1820er Jahre und hier auch nur auf ganz wenige (eine ausführliche Abhandlung über Schuberts Schlüsse, insbesondere seine Finali, wäre übrigens noch zu schreiben;7 Krummachers Feststellung, dass die Finali weit weniger Interesse in der Forschung gefunden hätten als die übrigen Sätze, gilt leider nach wie vor.8) Der Schein des nicht Zu-Ende-Kommen-Könnens bei Schubert erweist sich bei genauerem Hinsehen oft als drastische Vorführung von Schlussformulierungen, deren kreisende Abgeschlossenheit zu permanenter Fortsetzung auffordern oder gar 5 6 7

8

Godel, „Anfangen und Schliessen als kompositorisches Problem in den Instrumentalwerken von Franz Schubert“ (Anm. 2), S. 125 bzw. 135. Vgl. dazu Wolfram Steinbeck, „Dramen, Diskurse, Intermezzi. Die Sonaten op. 53 bis op. 90“, in: Beethovens Klavierwerke, hrsg. von Hartmut Hein und Wolfram Steinbeck, Laaber 2012 (Das Beethoven-Handbuch 2), S. 260ff. Die US-amerikanische Dissertation von Thomas Arthur Denny, The Finale in the Instrumental Works of Schubert, PhD University of Rochester 1981, ist kaum brauchbar. Der Autor geht aus von dem (Vor-)Urteil, die Finali seien zu lang, seien endlos und zu leicht, und es gebe zu viel Wiederholung. Im Übrigen wird eine Systematik der Aspekte versucht (u. a. unmittelbare Wiederholungen, gerundete Figuren, Endlosigkeit etc.), das alles als Fakten präsentiert und beschrieben. Krummacher, „Schubert als Konstrukteur“ (Anm. 1), S. 26.

Schubert und kein Ende?

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nötigen und die mitunter nah an die Grenze des ästhetisch Legitimierbaren reichen mögen. Man nehme als Beispiel etwa das vierhändige „Grand Duo“ (Sonate in C D 812). Seine diversen Couplets, die allesamt zu (teils) grandiosem Schluss tendieren, führen doch immerfort ins Hauptthema zurück, ein Thema aber, das nicht enden kann, weil es selbst schon offen angelegt ist. Gerade dieses Beispiel (aber auch andere) haben etwas Manisches, als habe Schubert Angst vorm Ende. Das mag Versagen signalisieren, ist aber doch nichts anderes als eine extreme Ausformulierung des Problems ‚Schließen‘. Schubert ‚kann‘ durchaus schließen, er scheint es jedoch nicht zu wollen. Er verschiebt das Endgültige und macht daraus Finalsätze. Er zögert den Schluss selbst so weit als möglich hinaus, wie später Thomas Manns Hanno, der sich der Auflösung seines e-Moll-Akkords mit der leittönigen großen Sext cis ins „entzückende und befreite Hineinsinken in H-Dur“ bis ins Unerträgliche lang verweigert.9 Für die Realisierung dieser Final-Verweigerung werden alle zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt. Das einfachste ist die Form. Die meisten Finalsätze haben die Rondoform (wo sie erweitert wird oder nur noch schwer erkennbar ist, bleibt sie dennoch Voraussetzung). Hier wird der Schluss schon per se nicht vorgegeben. Denn ein Rondo schließt nicht aus sich, sondern tendiert prinzipiell zu unabgeschlossen fortführender Reihung ursprünglich einmal selbst metrisch geschlossener Einheiten, insbesondere in den Ritornellen. Rondos muss ein Schluss künstlich geschaffen werden. Und selbst bei den Finali in Sonatensatzform, in der der Offenheit der Rondo-Reihung ja zugleich ein Moment von Reprisenanlage und damit prinzipieller Geschlossenheit eignet, da sie einem auf den Schluss hin konzipierten musikalischen Prozess folgt, überwiegt die Tendenz zur Wiederholung durchführungsartiger Momente in der Coda, die ebenfalls fürs Schließen eigens Kraftaufwand treiben muss.10 Ferner sind Schuberts Finali wie üblich schnelle Sätze, die eine – für Schubert typische – spielerische und zunächst durchaus leicht intonierte Motorik bevorzugen (in Rondo- wie in Sonatensätzen). Sie erinnern noch entfernt ans alte Kehraus-Finale und stehen der Beethovenschen Finalüberhöhung denkbar fern (z. B. die Finali der frühen Symphonien, vor allem das der Fünften). Spielerische Motorik, die auch durch leichte Sanglichkeit oder durch tänzerische Elemente ersetzt sein kann, geht wiederum einher mit der Tendenz zu kreisender Thematik, die aus offen endenden oder metrisch abgeschlossenen Einheiten besteht (z. B. in der Vierten Symphonie – einem der wenigen Finalsätze, die länger sind als der Kopfsatz), und evoziert damit – ebenfalls als Moment des Gesamtkonzepts – die angesprochene Neigung zur Wiederholung, variierte ebenso wie tongetreue, aber auch die Neigung zu überraschenden Kontrasten, zu ‚Episoden‘ oder vielfältigen und breit ausgeführten neuen Einfällen und Abschnitten. 9

10

Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt am Main 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 506. Vgl. dazu auch zuletzt: Albrecht Riethmüller, „Wem gehört Hannos cis? Notiz zu Thomas Manns Buddenbrooks“, in: Archiv für Musikwissenschaft 68 (2011), S. 181–194. Vgl. dazu Steinbeck, „Dramen, Diskurse, Intermezzi“ (Anm. 6), S. 282.

148

Wolfram Steinbeck

Meist ist es das motorische Moment, in dem Wiederholung im Motivischen wie im Großformalen des Rondos bzw. des Sonatensatzes eingeschlossen liegt, das bei Schubert zum Gegenstand der kompositorischen Bewältigung von Schlussbildung wird (z. B. in den beiden Sonaten in a D 784 und D 845 oder im Streichquartett in d D 810, aber auch im rossinesken Finale der Dritten; neben dem Liedhaften und Tänzerischen wie z. B. im Klaviertrio in B D 898 oder in dem fast ironisch zu nennenden Finale der Sonate in D D 85011). Aber das traditionell Spielerische und Leichte, das den Finalsätzen oft anzuhaften scheint, wird meist zunehmend durchsetzt mit Momenten von Auflösung: Auflösung der Form, Auflösung aber auch des Heiter-Unbeschwerten, mit dem diese Sätze anheben. Der Ansatz dazu findet sich dann schon im Thema selbst, dessen latente Unabgeschlossenheit die Übergänge in neue Partien (etwa den Couplets im Rondo) begünstigt. Nehmen wir das Streichquartett in G (D 887) als Beispiel (vgl. Tabelle 1). Hier  wird  das  Thema  noch  durch  Wiederholungszeichen  gegliedert,  es  endet  jedoch  nicht, sondern kreist in sich. Vielmehr muss dem zweiten (ebenfalls wiederholten) Abschnitt eine Codetta (C) angefügt werden, die zumindest dem Gestus nach den Abschluss  bilden  kann  und  dazu  später  auch  mehrfach  und  am  Ende  dann  auch  abschließend eingesetzt wird. Tabelle 1: Franz Schubert, Streichquartett in G (D 887), Formübersicht: Finale A(HS?)

a G 1

A1

Refrain :||: b G

16

Refrain a G-mod

a G

44

60

-

c As

256

A

2

a’ D

Refrain

-

-

A4

a

G

-

72

|

-

Couplet 1 C (SS) D - mod

D (Epil) h-D

-

-

93

| Exp

209

|

Couplet 2 E (Dfg) F mod cis-fis 278

c D

-

-

-

B (Ü)

Couplet 1 C (SS)

D (Epil)

-

-

-

-

|

323

Refrain

-

-

b

-

G

627

642

-

-

-

c

-

405

|

G 430

-

c G

Dfg

Ü G cis~

390

Refrain

680

11

| :|| B (Ü) mod

267

374

A3

c G

mod 442

|

-

G - mod 463

-

| Repr

e 579

-

|

-

-

-

-

Ü G’

b~ 650

-

Coda

Schl G 692

Letztere nannte „Florestan […] eine Satire auf den Pleyel-Vanhallschen-Schlafmützenstil; Eusebius findet in den kontrastierenden starken Stellen Grimassen, mit denen man Kinder zu erschrecken pflegt. Beides läuft auf Humor hinaus“; Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hrsg. von Martin Kreisig, Leipzig 51914, Bd. 1, S. 124.

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Schubert und kein Ende?

Dabei aber haben die Finalsätze – wie alle andern auch – durchaus ein Ziel, was sich jedoch dialektischerweise, um mit Peter Gülke zu sprechen, als „Widerspruch im System“ herausstellt.12 Denn wo das Ende nicht festzustehen scheint, weil unabsehbare Wiederholungen und Einschübe das Bild beherrschen und ans Beliebige grenzen, wird es problematisch, einen Schluss konsequent aus dem Material heraus abzuleiten. Dennoch: Die Sätze werden nicht abgebrochen und die tatsächlich beendenden  Schlüsse keineswegs irgendwo und beliebig angefügt. Es ist durchaus ein kompositorisch herbeigeführtes Ziel, das am Ende erreicht wird, durch alle tongetreue, zitathafte oder variative Wiederholung kleinerer wie größerer Einheiten hindurch, bei  aller Spontaneität neuer, kontrastierender Bildungen und Einschübe und bei aller  formalen  Offenheit  kaum  absehbarer,  weil  permanent  verschobener  Schlussbildung. Das Ziel ist meist die zur endgültig abschließenden Geste gewandelte Wiederkehr des Hauptgedankens (Refrain oder Thema bzw. Thementeil) nach langer und  ausufernder  Entfernung  davon  in  den  vorausgegangenen  Partien,  so  etwa  in  der  späten Sonate in c (D 958). Tabelle 2: Franz Schubert, Sonate in c für Klavier (D 958), Formübersicht: Finale ⤴



A: a

a [a

c

1



A’: a

c

c

9

[a]

429



A’’: a



a

b b c

17

-

c

25

c

57

Refrain -

c

445

-

aD aD-Schl ] ⤵

C

67

-

Refrain ⤴ a~ -



C

C/c

-

-



|

93

|



Ü Des-B

465

479

B1

Coupletcis~c B2

B3

cis

a-c-es

es-c

113

|

B1 b

499

145

197

Coupletb~c B2 B3 fis-a-c 531

|

c-

583

Episode (Dfg?) | C Ü D H

mod 302

235

414

-

-

-

Ü’’

-

-

-

627

243

|

c~

Ü’ c

c

aSchl c

669

= metrisch offen · = metrisch geschlossen ·

Ü Des

79

c

661

|



C/c

aD aD-Schl 453

c



Refrain ⤴ a~ aÜ a’...

701

D

= Dur · Schl = Schlussabschnitt · Ü = Überleitung · Dfg = Durchführung · mod = modulierend

Das Thema scheint in althergebrachter Wiederholungsform zu beginnen (a–b–a’).  Dabei wird jedoch der Wiederholungsteil (a’) zu einer Art großem Mittelteil erweitert und mündet schließlich und mit der Charakteristik des (schönen) Schlusses in die  Dur-Variante  (aD).  Dieses  ‚Thema‘  oder  dieser  ‚Refrain‘  will  jedoch  nicht  schließen, obgleich er in Gestalt eines durchaus typischen Refrains auftritt. Es lässt  seinen Schluss, auf den es angelegt ist, nicht zu, noch nicht zu (aD-Schl⤴, T.  79).  Dann folgt ein dramatisch-herrischer Eröffnungsabschnitt (Ü1), der zu einem bemerkenswert langen ersten Couplet überleitet. Das Couplet entgleitet in die entferntesten Tonarten: über cis-Moll, a-Moll, es-Moll etc. (vgl. Tabelle 2) zu einer eige12

Peter Gülke, „Introduktion als Widerspruch im System. Zur Dialektik von Thema und Prozessualität bei Beethoven“, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft 14 (1969), S. 5–40.

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Wolfram Steinbeck

nen  ‚Episode‘  in  H-Dur  und  von  hier  aus  zurück  zu  einem Abschnitt  wieder  in   c-Moll (Ü’), der jedoch noch immer nicht rasch zum Refrain zurückfindet, sondern  eine  Figur  aus  der  Überleitung  zur  H-Dur-Episode  verarbeitet,  die  zugleich  den  Gestus des Themas aufgreift und damit seine Wiederkehr um ein weiteres hinausschiebt, aber auch anbahnt. Und wenn endlich das Thema (A’, T. 429) doch wieder  einsetzt  (nach  mehr  als  320 Takten  –  der  Refrain  umfasste  rund  90 Takte),  dann  erscheint es wie eine Erlösung und abschließende ‚Heimkehr‘ nach ausgiebigem  Mittelteil, der zuletzt seine Rückkehr schon anklingen ließ.  Von diesem Thema (oder Refrain) aber bleiben nur der erste Rahmenteil (a und  a’ [a]) und der nach Dur gewendete Schlussteil (aD⤴) übrig, dessen Schluss selbst ja gewissermaßen gewaltsam verhindert wird. Was sich nun anschließt, ist die ziemlich getreue Wiederholung des ausgiebigen Couplets, nun insgesamt eine kleine Terz tiefer als zuvor – allerdings ohne die  H-Dur-Episode.  Deren  ausgedehnter  Rückführungsteil  wird  ersetzt  durch  eine  deutlich kürzere Variante dessen (Ü’’), die wiederum ins Hauptthema (Refrain) zurückleitet (T. 661). Diese letzte Wiederkehr aber wiederholt nach den ersten acht  Thementakten nicht wie zuvor den ‚schönen‘ Dur-Schluss (der nicht enden wollte),  sondern die eigentümliche Fortführung des Mitteilteils (a~⤴), der den Rahmenteil variierte und der erst recht nicht enden wollte, da er zur Dur-Variante führte. Freilich wird der Prozess abgebogen, um sich gleichsam ins Schicksal des nun doch  endgültigen Schließens zu ergeben (aSchl), in kürzester Zeit in die Tiefe abzusinken  und im pianissimo zu verklingen – nicht aber ohne abschließend zwei überraschende  und  so  nicht  gehörte  Tutti-Schläge  als  Schlusspunkt  zu  setzen  (T.  716– 717). Diese beiden Schlussakkorde wirken wie ein roher Kraftakt, scheinbar dazu angebracht, einen möglichen Wiederbeginn mit Macht zu verhindern. Dabei hatte  die  Motorik  des  Satzes,  die  durch  vielfache  Schlussformeln  und  seufzerartige   Endungen einen endgültigen Schluss permanent zunichte machte, am Ende durch  eine  einfache  Themenvariante  durchaus  zu  einem  endgültigen  Schluss  gefunden  (T. 715), wie er im Thema letztlich vorbereitet und exponiert war, nur in seiner beschließenden Variante noch nicht zum Einsatz kam. Dieser thematische Schluss ist also durchaus im gesamten Finalverlauf konsequent hergeleitet. Der bekräftigenden  Tuttikadenz hätte es im Grunde nicht mehr bedurft.  Gerade die beiden letzten Schläge, die so krass aus dem Kontext herauszufallen scheinen, dürften aber zugleich auf den Vorgang des Schließens im gesamten Satz einen besonderen Akzent setzen. Es sind keineswegs unpassende Relikte alter TuttiSchlussbildung. Sie scheinen vielmehr, narratologisch gesprochen, aus der intradiegetischen Ebene der Arbeit am Schließen in diesem Satz auf die extradiegetische Ebene  tradierter  Schlusstopoi  zu  wechseln,  scheinen  von  außen  zu  kommen,  um  damit auf sich als Schluss und auf den bisherigen Prozess des Schlussmachens um  so markanter zu verweisen. Ähnlich ist der Schluss des Streichquartetts in G gestaltet (vgl. Tabelle 1). Der  Schlussabschnitt des Themas, die Codetta (c, T. 60ff.), war ein echter Schlussteil  (wie die Dur-Variante in der Sonate in c), wurde aber zum Weitermachen umgebogen. Nach einer Überleitung (B oder Ü) folgt eine heitere ‚Episode‘ in der Domi-

Schubert und kein Ende?

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nanttonart, die alle Anzeichen eines Seitensatzes hat (C oder SS)13. Auch dieser besteht aus lauter Schlussfiguren, deren Ende permanent verhindert wird.  Nach langer Passage der Verarbeitung des Episodengedankens folgt ein erneuter Wechsel zu einer weiteren Art des Schließens. Krummacher nennt den Abschnitt  „Schlussgruppe“ (hier Epil), denn aufs Schließen ist auch er, und zwar in besonders  ausdrücklicher Weise, angelegt (von h-Moll nach D-Dur). Aber auch ihm wird sein  Schluss verweigert. Vielmehr verebbt der Satz in D-Dur, um schließlich in die Wiederkehr des Ritornells in der Grundtonart zu münden, das, wie in der Sonate in c, nur  aus  den  beiden  Eckteilen  besteht:  dem  Hauptgedanken  (a,  T.  256)  und  der  Codetta (c, T. 267). Letztere aber steht nicht in G-Dur, sondern in As-Dur, wird also  um ein weiteres Mal ‚umgebogen‘. Es folgt ein zweites Couplet (E), das alle Züge  einer Durchführung trägt und mit dem Themenkopf vielfältig durch die Tonarten  führt. Eingeschlossen in diesen Teil ist eine weitere ‚Episode‘ (F) mit neuem Thema  in cis-Moll.  Der  sich  anschließende  Refrain  besteht  wiederum  nur  aus  dem  a-Teil  (a’,  T. 374) und der Codetta (c, T. 390), steht aber in der ‚falschen‘ Tonart D-Dur, von  wo aufwendig über chromatischer Basslinie, aber gewissermaßen ergebnislos moduliert wird. Denn die folgende Codetta (c) steht ebenfalls in D-Dur. Daran schließt  sich ein aus dem b-Teil des Refrains gebildeter breiter Steigerungsabschnitt über  chromatisch abwärtsführender Basslinie an (G), der gleichsam mit großer Kraftanstrengung zurück nach G-Dur und in die leichtfüßige Codetta in der Grundtonart  mündet (c, T. 430). Statt den Satz aber zu Ende zu bringen, folgt die Wiederholung  des ersten langen Couplets einschließlich des Epilogs (Couplet 1), nunmehr eine  Quinte tiefer in G-Dur bzw. e-Moll (der Form des Sonatenrondos gemäß). Und wie  die frühere Version will auch dieses Couplet nicht zu Ende kommen, sondern mündet in die erneute Wiederkehr des Refrains (A4), und zwar zunächst in der originalen Gestalt des Satzbeginns, wie sie bislang nicht mehr erklungen war (a und b). Die folgende Überleitung führt zur Wiederholung jener ausgedehnten Modulationspartie (G’, T. 650), die nun jedoch auf den Umfang einer Dezime erweitert wird und  dadurch umso heftiger und drangvoller wirkt, um wie unter heftigen Schmerzen, aber in krassem Kontrast zum Ergebnis, die launige Codetta hervorzubringen (c, T. 680): Der Berg kreißte und – gebar eine Maus. Diese neuerliche Wiederkehr der  heiteren Schlussfigur führt nun endlich dahin, wohin sie schon mehrfach mit vergeblicher Anstrengung strebte, nämlich ins verebbende pianissimo eines Schlussteils, der auch wirklich ans Ende kommt (Schluss, T. 692) – wenn nicht erneut zwei  bemerkenswerte Akkordschläge das Geschehen besiegelten. Also auch hier hören wir  einen  versichernden  Schluss  durch  unvermittelt  von  außen  kommende TuttiSchläge, die in ihrer extradiegetischen Funktion den gleichen Verweischarakter haben wie in der Sonate in c. Themen, die aufs Schließen angelegt sind, ihr Ende aber nicht finden wollen,  zahllose Wiederholungen, die ihr Ende nicht kennen und ebenfalls nicht wirklich  herbeiführen, Episoden, die wie Fortsetzungen des Themas oder wie Exklaven in  weit entfernte Regionen entführen, die sich aus lauter Schlussformeln oder schlie13

Vgl. ausführlich dazu Krummacher, „Schubert als Konstrukteur“ (Anm. 1).

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Wolfram Steinbeck

ßenden Gesten zusammensetzen, um nur umso weiter wegzuführen von dem, wozu der Satz von vornherein angetreten ist, nämlich Schluss zu machen – all diese Charakteristika des Schubertschen Finale finden wir hier geradezu exemplarisch vereint. Und doch ist die Form in beiden Fällen konsequent, allerdings in unterschiedlicher  Weise,  als  Sonatenrondo  ausgeführt,  das  am  Ende  das  von  vornherein  als  Schlussbildung exponierte Themenstück zur endgültigen, das Ende tatsächlich herbeiführenden Version einrichtet, und zwar in gewissermaßen aufgelöster Form (das Thema wird zunehmend auf seine Kernsubstanz reduziert). Dazwischen, im Verlauf  des Satzes und seiner Glieder, hätte es allerdings durchaus noch weitere neue Einfälle geben können: Die fast ausufernde Form des Streichquartetts zeigt es im Vergleich zu dem auch formal kürzeren Finale der Sonate. Entsprechendes, insbesondere der auslaufende, verebbende Schluss mit überraschenden, extradiegetischen Schlussakkorden, findet sich auch in vielen weiteren  Werken, z. B. der früheren Sonate in a (D 537), der Sonate in H (D 575) oder der Sonate in A (D 664). Aber es gibt auch zarte Schlüsse, die ohne den akkordischen Verweis auf Endgültigkeit auskommen, z. B. die Sonate in G (D 894). Und es gibt selbstverständlich Schlüsse, die von vornherein auf einen großartigen Tuttischluss  aus sind. Alle Symphonien gehören dazu, das Oktett (D 803), das Streichquintett und etliche Streichquartette. Überwiegend aber wenden sie sich nach langer Weigerung oder, um nochmals frei mit Hanno zu sprechen: ‚nach langen Augenblicken  des Aufschubs, der Verzögerung, der Spannung, die unerträglich werden musste‘,  am  Ende  zu  einer  entsprechend  eingerichteten Themenvariante.  Das  bekannteste  und  berühmteste  Beispiel  dürfte  der  Schluss  der  Großen C-Dur-Symphonie sein. Und sie dürfte die erste der Gattungsgeschichte sein, deren thematische Finalformulierung zu einem derart grandiosen instrumentalen Hymnus oder Jubilus wird (wenn man nicht Beethovens Siebte dazu zählen möchte).14 So zeigen Schuberts Finalsätze alles andere als Unvermögen – sei es in negativem oder auch nur im übertragenen, poetischen Sinn. Sie realisieren ein Finalkonzept,  das  einmalig  und  typisch  Schubert  ist,  ein  Finalkonzept,  das  –  es  sei  noch  einmal zusammenfassend gesagt – aus scheinbar manischer Furcht vorm Ende Verschleppung  von  Schluss  zum  Gegenstand  eines  Satzes  macht,  dessen  zyklische  Funktion just im Schlussmachen liegt. In der mitunter überbordenden, bis ans Extrem geführten Verweigerung des Schlusses liegt zugleich ein Stück selbstreflexiver  Vorführung des Prinzips Schließen, ob mit extradiegetischen Akkordschlägen oder  ohne, ob in leisem Verklingen oder grandiosen Tuttischlüssen. Hier scheint mir der  Schlüssel zu Schuberts Schlüssen zu liegen. Möge unser Jubilar noch viele lange, schöne Episoden fruchtbarer Schlussverschiebung vor sich haben – wie in einem Schubertschen Finale.

14

Vgl. Steinbeck, „Dramen, Diskurse, Intermezzi“ (Anm. 6), S. 287.

REZEPTIONSPHÄNOMENE

THE UNCANNY GRACE Kleist between Rossini and Schubert Karol Berger The grand piano has now disappeared from the living rooms of the educated, but during the long nineteenth century it was an indispensable piece of equipment, as indispensable as the gramophone record player was during the short twentieth, or the portable media player has become since the early twenty-first – by far the most important musical tool. In retrospect, the piano’s climb to the dominant position in the kingdom of music seems inevitable. Already by the sixteenth century, if not earlier, the keyboard, perspicuously separating the basic seven white diatonic keys from the subordinated five black chromatic ones within each octave, and replicating such octaves up and down almost the whole audible range, provided musicians with their most important image of all the usable tones as well as the relationships obtaining among them – the image of the abstract order of music itself. And not just the image: the mechanism attached to the keyboard made music incarnate, putting the complete universe of tones under the fingertips of a single musician and making it possible for him to sound even the most complex polyphony. All that remained for the universal musical instrument to be perfected was Bartolomeo Cristofori’s invention that allowed the musician to control the dynamics (in an inventory of 1700, the new invention is described as making “soft and loud” sounds (“il piano e il forte”) and all earliest references to the instrument mention this its essential feature.1 A single musician could now not only call up with his fingers all the tones, but could also make them sing; the orderly but abstract tonal universe has been ensouled. By the last quarter of the eighteenth century, in the middle movements of Mozart’s concertos, the fortepiano has become the channel of the most intimate self-expression, as if an immediate and uninterrupted conduit linked the inmost recesses of the musician’s soul with his fingers and the sounds they summoned. This immediacy, however, is an illusion: unlike in the even more intimate clavichord, not to mention the violin or that supreme maker of the ensouled sound, the human voice, in the piano the link between the body and the sound is in fact broken. The pianist controls the velocity and force with which he strikes the key, but this is all he controls. Once the key is struck, the finger can no longer shape the produced sound, bend its pitch, make it vibrate, or swell. A multiple lever transmits and amplifies the motion of the key to the hammer, releasing it before the string is reached. 1

Edwin M. Good, “What did Cristofori call his invention?,” in Early Music 33/1 (2005), pp. 95– 97.

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Karol Berger

For the last portion of its voyage, the hammer travels freely, beyond the control of the pianist’s will and subject only to the same blind forces that control the motions of all medium-sized and large objects described by the classical Newtonian mechanics. Uncannily, behind the warm illusion of the self-conscious and free human soul expressing itself there stands the cold reality of the blindly ticking and determined mechanism. Of the two sides of the piano, the animate and the mechanical, the musicians of the long nineteenth-century age of raptures preferred to emphasize the illusion of the singing soul; the disabused short twentieth century brought the reality of the ticking mechanism to the surface. And nowhere more so than in the reproducing player piano, a piano that dispensed with a live player altogether, activating its mechanism instead by means of electrically propelled pneumatic switches controlled by a pre-recorded perforated paper roll. (In the first quarter of the twentieth century, this provided the intermediate link in the musical evolution of the middle class parlor between the piano and the record player.) To see (and not just hear) this instrument in operation is to come face to face with the uncanny: the keys seem to be moving on their own, as if struck by ghostly fingers. (The sense of the uncanny intensifies when one learns that the fingers belong to a long-departed musician: the reproducing player piano was the perfect musical instrument of the era of spiritist séances.) The illusion of a living human presence in the music is broken; the sounds are made by an automaton. What was implicit in the operation of the piano – the mechanism that runs independently of an immediate human control – has been made explicit. The musician who realized the artistic potential of the player piano most fully was Conlon Nancarrow. An American communist living since 1940 in self-imposed exile and isolation in Mexico, without easy access to performers, Nancarrow chose to bypass live players altogether and write directly for the ghostly player piano. (Like the blacklisted Hollywood scriptwriters of the 1950s, he, in effect, invented his own form of ghostwriting.) Punching piano rolls manually, he encoded music of often formidable rhythmic and contrapuntal complexity and breathtaking speed – far in excess of anything a live pianist would be capable of playing. To hear one of his Studies is an exhilarating and somewhat scary experience, even if one does not see the instrument in operation – as if Art Tatum has grown additional hands. This imaginative body of work, in turn, provided a central inspiration for one of the great masterpieces of late twentieth-century music – György Ligeti’s three books of piano Études, arguably the most significant extension of the piano repertoire since Debussy. It is the music of the sorcerer’s apprentice (indeed, one of the Études is entitled “Der Zauberlehrling” and some of Ligeti’s other characteristically Lisztian titles – “Désordre,” “Vertige,” “L’Escalier du diable” – are similarly suggestive): having emerged from the twilight zone of the player piano without forgetting its lessons, Ligeti’s live pianist conjures poems at once hilarious and frightening, blending anarchic slapstick with the terror of a mechanism running wildly out of control. The notion of the uncanny invokes that of the double – the going back and forth between the familiar and the strange, between the embodied and the ghostly. Music

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that elides the distinction between the animate and the mechanical is uncanny. Kleist may be our best guide to such slippery aesthetic phenomena. A marionette, recall, is a puppet suspended by one or more strings attached to its body (usually to the head, back, hands, and legs) and controlled from above by a manipulator. The marionette Kleist has mind in his 1810 essay, “On the Marionette Theater,” is most likely a single-string puppet (that is, one with limbs left free) which the manipulator operates relying on gravity and pendular motion.2 In explaining the “mechanism” (“Mechanismus” 556) of such puppetry, Herr C. tells the narrator not to imagine that it was “… as if every limb were individually … placed and pulled by the machinist” (“… als ob jedes Glied einzeln … von dem Maschinisten gestellt und gezogen würde” 556). Each puppet, he further explains, each moving mass, has an internal point of gravity. “… it would be enough to control this …; the limbs, which were nothing but pendulums, would follow … in a mechanical way of themselves” (“… es wäre genug, diesen, … zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten … auf eine mechanische Weise von selbst” 556). The fingers of the puppeteer set the marionette in motion and then the puppet’s limbs continue to move on their own, relying on the laws of Newton’s mechanics. Similarly, the finger of the pianist sets the hammer in motion and then the hammer flies on its own, subject to the same laws. And similarly, God sets the celestial bodies in motion and then allows them to move mechanically on their own. But I should not get ahead of myself. Herr C., himself a successful first dancer of the local opera, is fascinated by the dancing marionettes and believes he might learn from them, since he finds their motions “most graceful” (“sehr graziös” 556). This is a major provocation that dwarfs the minor one of preferring a lowly entertainment set up in the marketplace for the amusement of the “rabble” (“Pöbel” 556) to a high art involving live performers and polite society. Normally we attribute grace only to animate beings, seeing in a graceful gesture a bodily expression of a soul unconstrained and at peace with itself. One swallows this provocation, since one assumes that the soul that expresses itself through a graceful motion of a marionette is ultimately that of the manipulating puppeteer, just as one assumes that it is the pianist’s, and not the hammer’s, soul that sings in the music. And, indeed, Herr C. confirms: the line of motion that the point of gravity in the puppet should make is nothing less than “the path of the soul of the dancer” (“der Weg der Seele des Tänzers” 557) and it could be found only if “the machinist puts himself into the point of gravity of the marionette, that is, … dances” (“sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. … tanzt” 557). But just when we think that we have found a way of neutralizing the provocation, Herr C. springs another, much graver, one. Like those later inventors of the completely mechanical player piano, a piano that plays of itself, without a live player, Herr C. dreams of a completely mechanical marionette, one that dances 2

Heinrich von Kleist, “Über das Marionettentheater,” in Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, vol. 3, ed. Klaus Müller-Salget, Frankfurt am Main 1990, pp. 555–563. 

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without the manipulator’s fingers, moved by means of a “crank” (“Kurbel” 557), like a barrel organ. He would like to break the last link between the marionettes and the living human “spirit” (“Geist” 557) and thus move “their dance entirely into the realm of mechanical forces” (“ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte” 557). The dancing of such a marionette would surpass anything achievable by even the most skillful live dancer. Herr C. dreams of becoming the Conlon Nancarrow of dancing. And now his provocation can no longer be evaded: grace, a moral quality and hence normally attributable to an animate being only, inheres in a purely mechanical puppet. More: it is only in the motions of such an improved, completely mechanical marionette that grace will reach perfection. To justify this seemingly paradoxical claim, Herr C. offers a philosophy of history. A graceful motion, he believes, has to be instinctive, involuntary. (Anyone who has attempted to perform, by the way, whether as a dancer, musician, or actor, will recognize at least an aspect of what Herr C. is driving at: a performance has to be to a considerable extent mechanical, automatic; the performer cannot consciously control every motion he makes. Constant practice transforms what might initially have been conscious motions into something like a “second nature.” In fact, in a closely related “paradox” published a few days earlier, “On Reflection,” Kleist argued that all action, and not only a graceful one, had to precede reflection if it were to be effective: “Know that reflection is far more appropriate after than before the act.” (“Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat.”)3 The main cause of imperfections in the motions of a live dancer is “consciousness” (“Bewußtsein” 560) which puts his point of gravity and his soul, that is, the moving force (“vis motrix” 559), out of sync with one another and contaminates grace with “affectation” (“Ziererei” 559). Consciousness is also self-consciousness, the ability to see oneself as if from the outside; hence the distance it introduces between the moved body and the moving soul. Eliminate self-consciousness, not only that of the dancer, but even that of the puppeteer, and the problem disappears. With live dancers, however, such an elimination is impossible. Perfect grace can be an attribute of a mechanical puppet, or of a god, but not of a human being. It “appears at its purest in that human frame that has either no consciousness whatsoever or an infinite one, that is, in a puppet or god” (“in demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott” 563). Inanimate matter or god, total absence of consciousness or complete conscious self-presence – “here is the point where the two ends of the round world interlock” (“hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen” 560). And here Herr C. recommends to the narrator that he read Genesis 3 with attention: “with someone who does not know this first period of the whole human development one could not speak conveniently about the following ones, let alone about the last one” (“wer dieser erste Periode aller menschlischen Bildung nicht kennt, 3

Heinrich von Kleist, “Von der Überlegung. Eine Paradoxe,” in ibid., pp. 554–555. 

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mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger über die letzte, sprechen” 560). We have eaten from the Tree of Knowledge (that is, acquired consciousness, including self-consciousness), been expelled from Paradise (that is, lost the original oneness with nature), and there is for us no way back, only forward: “the Paradise is locked up and the Cherub behind us; we have to travel around the world and see whether it is perhaps open again somewhere in the back” (“das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist” 559). Such a return through the back door would constitute “the last chapter of the history of the world” (“das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt” 563). At the end of time, the infinite linear progress of consciousness and knowledge in human history would turn out to have been a cycle. It is obvious that Herr C. has read not only Genesis, but also Rousseau. We cannot simply go back to the lost original state of nature. The only way out of our present civilized alienation from nature and from ourselves is forward – toward the utopia of the perfected civilization and complete knowledge that would bring consciousness and nature together again. Seen from a distance, Herr C.’s philosophy of history appears Rousseauist and derivative. But, seen from up close, a difference can be noticed and it is this difference that makes Kleist’s text so intriguing. When Rousseau wants to capture the original state of nature, in the second Discours and elsewhere, he reaches for organic images and metaphors; his pre-alienated man resembles an animal, is an animal. Herr C., by contrast, is drawn by the mechanical; his prelapsarian humans resemble, or are, marionettes. To see a soul in an animal, or to expect that it might acquire one as it evolves, is one thing; to suspect that an ensouled being is a machine is something else again. It is precisely this difference that accounts for Kleist’s peculiar aesthetic sensibility, allowing him to formulate thoughts that speak directly to the aesthetic phenomena with which I have begun – to the uncanny cohabitations of the animate and mechanical. Moreover, we do not need to wait for the arrival of the player piano to find use for Herr C.’s aesthetics. Relevant musical phenomena can be found also closer to Kleist’s own time. Music-playing automata have been constructed since the early modern age and the century preceding Kleist’s own witnessed the invention of such celebrated examples as the 1737 flute player of Jacques de Vaucanson and the Jaquet-Droz female organist of 1768–1774; Kleist himself mentions the most widespread of such devices, the barrel organ. In 1816, just a few years after Kleist’s text appeared, E. T. A. Hoffmann immortalized the figure of an artistic automaton in Olympia, the harpsichord playing, singing, and dancing doll in “The Sandman” (“Der Sandmann”), a short story that, in turn, was to be the subject of Freud’s interpretation in the 1919 essay on “The Uncanny” (“Das Unheimliche”). (Hoffmann, by the way, seems to have been about the only reader to have noticed Kleist’s essay in the nineteenth century.4) In Hoffmann’s story, the protagonist comes to see his living fiancée, Clara, as an inanimate automaton and the actual automaton, Olym4

Ibid., p. 1137. 

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pia, as a living love object. Regardless of whether the story involves castration anxieties, as Freud would have it, it surely concerns itself also with the anxiety raised by the uncertainty as to whether we are confronted by a living being or a mechanism. But when I think of music from Kleist’s time that would deserve Herr C.’s attention most, I think of Rossini. In a thought-provoking essay on the “transcendental character of the Rossinian comic theater,” a text the very title of which, “To Die of Laughter,” announces the subtlety of its argument, Alessandro Baricco proposed a brief philosophical history of opera buffa.5 The genre was born, Baricco reminds us, as an alternative to opera seria, replacing its premodern dualistic picture of the world whereby the actual was wholly dependent upon the transcendent both for its development and for its sense with the modern picture that eliminated all transcendence and released the immanent worth and dynamism of the actual. Opera buffa replaced heroes driven by divine destiny with autonomous subjects driven by desires. It tested the Enlightenment hypothesis that the actual world has its own developmental dynamics in the desires of individual autonomous subjects and that a salvation is possible without any interference from a deus ex machina, that mutually satisfactory outcomes may be negotiated among the subjects communicating in dialogue. Its zenith was reached with Le nozze di Figaro and its limit with Don Giovanni. In the protagonist of the latter the autonomy is radicalized and the desires intensified to such a degree that the subject itself dissolves: for Baricco as for Kierkegaard, Don Giovanni is not a person – the hypothetical origin of desires, he is the desire itself. The autonomous subject, the master over desires and the source of authority in dialogue, is replaced by the uncontrollable force of desire and the equally uncontrollable mechanism of communication. The Enlightenment dream of autonomous rational subjects individually and collectively in charge of their future evaporates as the actual is revealed to be governed by irrational instincts and impersonal social mechanisms. But if Mozart and Da Ponte reach the outer limit of the Enlightenment experiment, they also stop at this limit: with the figure of the stone guest, the old-regime deus ex machina is brought back to reestablish the vertical authority of transcendence and provide the destiny of the otherwise incomprehensible non-hero with tragic significance. It was left to Rossini to leap beyond this limit. What Mozart still feared – the submergence of subjective autonomy in a sea of objective biological instincts and social mechanisms – Rossini embraced with full confidence in the possibility of human felicity. “The porcelain figurines preferred a hundred years earlier to the world of heroes and gradually elevated by the Enlightenment to the status of pure and proper subjects, allow themselves, finally, to go crazy … of happiness.” (“Le statuette di porcellana preferite cent’anni prima al mondo degli eroi e 5

Alessandro Baricco, “Morire dal ridere. Saggio sul carattere trascendentale del teatro comico  rossiniano,”  in Alessandro  Baricco,  Il genio in fuga. Due saggi sul teatro musicale di Gioachino Rossini, Genua 1988, pp. 13–47. I would like to thank Michal Bristiger for this reference.

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via elevate dal genio illuminista a veri e propri soggetti, si lasciano, infine, impazzire … di felicità.” 33) It is Rossini himself, rather than his librettists, who “stages the overcoming of the concept of the subject” (“mette in scena il superamento del concetto di soggetto” 34) by applying to it the solvent of his extraordinarily abundant and florid vocal ornamentation (otherwise uncommon in opera buffa) which tends to overwhelm and neutralize both the subjective expressivity of the melody and the significance of the sung words with the objective coloratura mechanism. While his predecessors have long endeavored to mimic in music the cadences of the speaking subject, it was “the fundamental tendency of Rossini’s music to liberate the musical language from the pre-forming logic of human language,” to replace both the rationality and the emotion of the subject with music’s own internal abstract logic. (“… la tendenza fondamentale della musica rossiniana: sottrare il linguaggio musicale alla logica pre-formativa del linguaggio umano.” 38) Rossini’s “is no longer the music made in man’s image; rather, it is man … who transforms himself into a pure musical fact.” (“Non è più musica fatta a imagine dell’uomo: sono gli uomini, piuttosto, … a trasformarsi in puri fatti musicali.” 38) In Rossini’s comic operas, especially in their finales, “the personages do not dominate the situations any more, but rather are possessed by them.” (“I personaggi non dominano più le situazioni: ne sono posseduti.” 40) They take leave of conscious subjectivity and sing “like machines or like lunatics.” (“come delle machine o come degli squilibrati” 41) Craziness, folly, insanity, madness – the specter of chaos sensibly feared by the Enlightenment is accepted by the “organized and complete lunacy” (Stendhal’s brilliant phrase) of the Rossinian comedy (“Una follia organizzata e completa,” quoted by Baricco, 42). Organized lunacy – the formula for a world no longer controlled by the autonomous subject, but nevertheless orderly after its own objective fashion and accepted by Rossini as offering a possibility of human happiness. The Rossinian subject achieves happiness by dissolving herself in folly, her coloraturas scurrying up and down the silken ladder of felicity. “Cenerentola,” concludes Baricco, “is the last heroine to get crazy of happiness. All the others after her, if it will be given to them to loose reason, it will be so that they may suffer.” (“Cenerentola è l’ultima eroina che impazzisce di felicità. A tutte le altre, dopo di lei, se sarà concesso di perdere la raggione, sarà per dolore.” 46) Thus, “what Kleist imagined … occurred in fact in Rossini” – a theater of marionettes, their individual psychological characterization and subjective autonomy severely reduced, their involuntary grace and beauty, that promise of happiness, all the greater (“ciò che Kleist immaginò … accade di fatto in Rossini” 33). Baricco’s characterization of Rossini’s art as leaning away from the mimesis of individual psychology toward a purely musical abstraction is not unprecedented, of course. Already Wagner saw Rossini in this light. According to Oper und Drama (1852), the “monstrous” (“monströse”) nature of all opera consisted precisely in its application of “absolute music” (“absolute Musik”) to drama (music is “absolute” when it can exist independently of words and follows its own laws), but Rossini pushed this general anti-mimetic tendency toward musical abstraction to its most

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radical and “frivolous” (“frivol”) extremes.6 What is uncommon, then, is not the characterization itself, but its positive valuation (and one can only guess that a reading of Kleist’s essay helped Baricco to arrive at his position). In the past two centuries, it was more usual for the non-mimetic, non-human, abstract, mechanical music to give rise to, or accompany, anxiety. No less then Rossini, Wagner was capable of showing a whole society in the grip of folly (in the finale of the second act of Die Meistersinger von Nürnberg); but the Wagnerian Wahn is something altogether more threatening and sinister than the happy abandon of Rossini’s follia. And when Rossini’s contemporary admirer, Schubert, reached for a mechanical instrument, it was not to celebrate the prospect of human liberation from excessive rational control in a delirious self-abandonment of ecstatic happiness. The static, repetitive, monotonous droning of the hurdy-gurdy (an instrument that relies on the use of a crank, like a barrel organ, or like Herr C.’s completely mechanized marionette) heard at the end of Winterreise (1827) – the era’s darkest musical vision – is the sound of the inhospitable universe slowly freezing over, a world offering neither exit nor consolation. Images of a mechanism turning in circular motion appear relatively rarely in Schubert’s work, but they do appear and in strategically exposed places: in addition to the ending of Winterreise, also at the beginning of Die schöne Müllerin (1823) and, of course, in his symbolic Op. 2, Gretchen am Spinnrade (1814). But to Schubert such images do not suggest a promise of happiness and abandon in a self-forgetting ecstasy, quite the contrary. The spinning wheel that accompanies Gretchen’s reverie is emblematic of the hypnotic power at once enchanting and terrifying in the grip of which she finds herself and over which she has no control, a power about to destroy her. And while at the outset the incessantly turning wheels and the cheerful dance of the heavy mill stones seem emblematic to the journeyman of Die schöne Müllerin of his joy in wandering, at the end he will perish in the waters of the brook that move these wheels and stones. It is not that Kleist’s and Rossini’s exhilaration at the mechanical is wholly untroubled. Rossini’s even greater admirer, Stendhal, famously defined beauty as “nothing but the promise of happiness.” (“La beauté n’est que la promesse du bonheur.”)7 I am inclined to believe him. But, if happiness needs to be promised, it means it is not here, not now. Beauty is an absence of happiness, Stendhal’s formula implies, something we hope for and perhaps remember, but not something we presently possess – a home we have left behind and long to recover. Pleasure and pain, past and future bliss but present suffering, are all intertwined and inseparable in the experience of beauty. Paradise, when contemplated from the perspective of the Fall, is beautiful. All the same, the distance between Rossini and Schubert is unbridgeable: Schubert promises nothing; his deadly winter, unlike that of Caspar David Friedrich, knows no hope whatever, no early sprouts of future growth. Who is right, then, Rossini or Schubert? How should the uncanny mechanical music produced by the spherically turning crank be heard, with hope or with dread? 6 7

Richard Wagner, Oper und Drama, ed. Klaus Kropfinger, Stuttgart 1984, pp. 40–48.  Stendhal, De l’Amour (1822), Ch. 17, n. 1, ed. Henri Martineau, Paris 1959, p. 41.

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Is it with hope or with dread that we should encounter the spectacle of the soul emerging from the motions of a mechanical puppet, or the as yet unfathomable mystery of consciousness being produced by a network of firing neurons? Our uncertainty in this regard began when Newton and his colleagues announced that the universe itself is a mechanism (and keep in mind the frequency with which Kleist reaches for terms like “mechanisch,” “Mechanismus,” “Maschinist,” as well as the whole tell-tale language of “mechanische Kräfte,” “Schwerpunkt,” “Gesetz der Schwere,” when describing the operation of his marionettes). The universe, on the surface so varied, unruly, protean, chaotic, and incomprehensible, turned out to be at bottom a machine regularly functioning according to a small number of immutable laws expressed in mathematical equations. Moreover, it functioned automatically: God might have been needed to wind up the clockwork mechanism at the beginning, but once wound up, the mechanism ticked on indefinitely on its own, like the independently flying piano hammer, or the pendulous limb of a puppet. (“I had no need of that hypothesis,” as Laplace was supposed to tell Napoleon when asked why he had never mentioned God in his Celestial Mechanics.) It was a vision at once consoling and chilling: the universe was perspicuously comprehensible and endowed with the beauty of a well functioning clockwork; but it was a soulless universe, one in which the spirit of the prime mover left an unforgettable trace, but from which it then permanently withdrew. Without the transcendent machinist striking keys and pulling strings, what hope was there that the music and dance will make sense, or that they will not grind to a halt in frozen immobility (“Erstarrung” [“Freezing”] is the title of one of the songs in Winterreise and the cycle’s central image)? For a time, that hope was provided by the invention of human autonomy, by Rousseau and Kant. Kleist’s language and images certainly suggest a memory of the Newtonian shock and perhaps also an early awareness that a further, even more troubling, shock to worry about has appeared on the horizon, the suspicion that the autonomous human subject, God’s spiritual successor, rests on unstable foundations, that it too might evaporate under the combined pressure of uncontrollable instinctual forces within and equally uncontrollable social mechanisms without. Herr C.’s philosophy of history suggests that the Enlightenment with the notion of autonomy at its center might be radicalized to the point of self-elimination. His is a vision of the linear progress of knowledge bending into a cycle in the end to allow us re-enter the Paradise of second nature through the back door. Some sixty years later, Nietzsche too will suggest this historical geometry in his image of the linear progress of the Socratic scientific optimism “that thought, as it follows the thread of causality, reaches down into the deepest abysses of being” encountering impenetrable limits (presumably at the Kantian distinction between the phenomenal and the noumenal) where “logic coils up … and finally bites its own tail” and thus transforming itself into a cycle.8 It is a tribute to Kleist’s independence of mind (independence from the idealist climate that prevailed in Germany of the time), to some8

Friedrich Nietzsche, The Birth of Tragedy, §15, in: The Birth of Tragedy and Other Writings, eds. Raymond Guess and Ronald Speirs, Cambridge 1999 (Cambridge Texts in the History of  Philosophy), pp. 73, 75. 

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thing that might be called a proto-Nietzschean instinct for freedom, that he did not panic in the face of this two-stage withdrawal of the spiritual authority, that he saw in it also an opportunity and a promise. It is a tribute to his sceptical sense of reality that he did not forget about the utopian nature of all such promises: a perfectly mechanical marionette has yet to be constructed; meanwhile, our art remains an index of our fallen state.

SCHUBERT-LIEDER MIT GITARRENBEGLEITUNG Anmerkungen zu Bearbeitungen aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Erich Wolfgang Partsch Im Jahre 1861 erinnerte sich Viktor Umlauff von Frankwell an mündliche Berichte seines Vaters, des Juristen und begabten Amateursängers Johann Karl, über dessen Zusammenkünfte mit Schubert: „Er besuchte ihn häufig des Morgens vor dem Amte und fand ihn meist im Bette liegend und musikalische Gedanken zu Papier werfend oder am Schreibtische komponierend. Da sang er oft frisch gesetzte Lieder mit Begleitung der Gitarre dem Komponisten vor, und wagte sich auch im Streite über den musikalischen Ausdruck einzelner Worte, aber Schubert, der äußerst starrsinnig war, wollte sich niemals zu einer Abänderung des einmal Gesetzten verstehen.“1

Das Thema ‚Schubert und die Gitarre‘ umranken einige wenige Erinnerungen und viele Legenden, aber kaum hieb- und stichfeste Dokumente. Vor allem im Zuge der Popularisierung des ‚Liederfürsten‘ bzw. der Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte man, das einprägsame Bild des Gitarre spielenden, ‚volkstümlichen‘ Komponisten zu festigen. In diesen Kreisen – vielleicht zusätzlich durch das berühmte Bild Ballspiel in Atzenbrugg von Franz von Schober, Moritz von Schwind und Ludwig Mohn inspiriert, auf dem Schubert neben einem Gitarre spielenden Freund zu sehen ist – entstand auch die These, Schubert hätte selbst die Klavierbegleitung mancher Lieder für Gitarre eingerichtet, was schlichtweg falsch ist.2 Noch in den 1950er Jahren verstieg sich ein Autor zu der amüsanten Behauptung, Schubert hätte seine originalen Gitarrenbegleitungen auf Wunsch von Verlegern später für Klavier umgeschrieben.3 Faktisch gibt es jedoch selbst für die entsprechenden zeitgenössischen Drucke mit Gitarrenversionen kein einziges Indiz für eine Autorschaft des Komponisten.4 Fest steht, dass das Terzett Zur Namensfeier meines Vaters (D 80), vom Sechzehnjährigen für eine Feier im Familienkreis geschrieben, bis heute das einzige Werk Schuberts mit Gitarrenbegleitung ist. Eine Besonderheit stellt das Lied Die Nacht dar, das in einer von Baron Franz von Schlechta angelegten handschriftlichen 1 2 3 4

Deutsch, Die Erinnerungen seiner Freunde, S. 432. Siehe z. B. Richard Schmid in: 10 Schubert-Lieder zur Gitarre. Mit einer musikhistorischen Skizze „Franz Schubert als Gitarrist“ op. 75, Leipzig: Hofmeister, 1918, S. 3. Philip J. Bone, The Guitar and Mandolin: Biographies of Celebrated Players and Composers. London 1954, S. 97. Darauf hat schon früh der Gitarrenforscher Josef Zuth wiederholt aufmerksam gemacht, siehe z. B. sein Vorwort zur Ausgabe Schubert. Lieder mit Gitarrenbegleitung aus der Zeit von 1820– 1850. Erste Folge, Wien etc.: Strache, 1929.

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Sammlung (1840–1846) enthalten ist. Diese unbekannte Vertonung eines Gedichtes von Karoline Pichler – in dieser Handschrift als Nr. 72 mit dem Vermerk „Schubert“ im Umfeld anderer, bekannter Schubert-Lieder in Gitarrenversionen enthalten – gilt bis heute als incertum.5 Des Weiteren sind keinerlei Äußerungen bekannt, ob Schubert das Instrument selbst gespielt bzw. wie er es überhaupt eingeschätzt hat. Nach der Überlieferung hat er angeblich eine oder zwei Gitarren besessen; ein Instrument (aus der Werkstatt von Johann Georg Stauffer) hat sich – über spätere Vermittlung von Ferdinand Schubert – im Archiv des Wiener Schubertbundes erhalten.6 Wovon man allerdings sicher ausgehen kann, ist eine Vertrautheit mit der zeitgenössischen Gitarrenpraxis. Nicht nur die oben zitierten Erinnerungen Umlauffs von Frankwell weisen darauf hin, auch öffentliche Aufführungen einzelner Männerquartette, bei denen die Gitarre als Begleitinstrument Verwendung fand. So wurden vereinzelt Vokalquartette mit Gitarrenbegleitung in Wiener Theatern aufgeführt, etwa am 27. August 1822 im Theater an der Wien und am 24. September 1822 im Kärntnerthortheater; vermutlich war beide Male Der Geist der Liebe (D 747) zu hören. Noch im selben Jahr konnte dieses Quartett zusammen mit Das Dörfchen (D 598) und Die Nachtigall (D 724) „für Pianoforte oder Guitarre“ von Cappi & Diabelli als neu erschienen angekündigt werden. Ohne Zweifel waren derartige Aufführungen bzw. diese Drucke dem Komponisten bekannt. Ob diese Bearbeitungen von ihm autorisiert wurden, ist hingegen mehr als fraglich. *** Die Gitarre erlebte in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen bedeutsamen Aufschwung und eine große Erweiterung des Repertoires. Persönlichkeiten wie Simon Molitor, Wenzel Thomas Matiegka, Anton Diabelli oder Mauro Giuliani setzten sich – vor dem Hintergrund des omnipräsenten Klaviers – für einen höheren Status des Instrumentes ein.7 Neben anspruchsvoller Sololiteratur wurde nun Kammermusik für verschiedenste Besetzungen und eben auch Liedbegleitung zu neuen Schwerpunkten in Hausmusik und halböffentlichem Konzertleben. In der Liedbegleitung konnte an die alte Tradition in der Lauten- bzw. in der Gitarrenmusik aus dem späten 18. Jahrhundert angeknüpft werden. So zählte Matiegka schon recht früh zu jenen Musikern, die Gitarren-Arrangements von Mozart- und Beethoven-Liedern herstellten. Gerade für die biedermeierlich-intime Musiziersphäre er-

5 6 7

Ausgabe von Karl Scheit und Erich Wolfgang Partsch: Franz Schubert, Die Nacht, Wien: Universal Edition, 1989. Abbildung in: Franz Schubert. Ausstellung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek zum 150. Todestag des Komponisten, hrsg. von Ernst Hilmar und Otto Brusatti, Wien 1978, S. 191. Zur Gitarrenszene zu Beginn des 19. Jahrhunderts siehe den instruktiven Überblick in: Stefan Hackl, Die Gitarre in Österreich. Von Abate Costa bis Zykan, Innsbruck etc. 2011, bes. S. 62– 70; Thorsten Hindrichs, Zwischen „leerer Klimperey“ und „wirklicher Kunst“. Gitarrenmusik in Deutschland um 1800, Münster 2012 (Internationale Hochschulschriften 576).

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wies sich die Gitarre als ein ideales Instrument, das noch dazu über ein differenziertes Klangspektrum verfügt.8 Zu Lebzeiten Schuberts sind knapp 30 Ausgaben seiner Lieder mit Gitarrenbegleitung erschienen. Im Mittelpunkt steht ohne Frage Anton Diabelli, der als Schubert-Verleger und Gitarrist nicht zuletzt erfolgreich wirtschaftliche Interessen verfolgte. Daneben ist in dieser Frühzeit noch Franz Pfeifer zu erwähnen, der Bearbeitungen der Opera 60 und 65 (Greisengesang [D 778], Dithyrambe [D 801] bzw. Lied eines Schiffers an die Dioskuren [D 360], Der Wanderer [D 649] und Heliopolis I [D 753]) vorgenommen hat. In der Regel sind diese Gitarrenversionen nach den Klavierausgaben oder zugleich mit diesen herausgegeben worden. Die These, dass ein oder zwei Lieder mit Gitarrenbegleitung zeitlich sogar vor der Klavierausgabe öffentlich vorlagen, ist bis heute strittig. Die Quellenlage in diesem Bereich erweist sich nämlich zum Teil als undurchsichtig, da zwar immer wieder Ankündigungen aufscheinen, exakte Daten aber nicht ermittelbar und manche Druckexemplare heute überhaupt nicht mehr nachweisbar sind. Ein besonderes Beispiel stellt der von Sauer und Leidesdorf angekündigte komplette Liederzyklus Die schöne Müllerin (D 795) dar, der aber letztendlich doch nie erschienen ist.9 Dieses Unternehmen war wohl in technischer und ebenso in ökonomischer Hinsicht zu gewagt; so blieb es lange Zeit hindurch bei ein paar ausgewählten Müller-Liedern.10 *** Die Übertragung eines Klaviersatzes auf einen Gitarrensatz birgt für den Bearbeiter grundsätzlich einige Schwierigkeiten in sich. Abgesehen vom Problem der dynamischen Begrenztheit (die im häuslichen Musizierkreis jedoch nicht so sehr ins Gewicht fällt), ist es zum einen das rasche Verklingen der gezupften Saite, das eine adäquate Abbildung von Liegeklängen bzw. spezifischen Zusammenklängen unmöglich macht. Zum anderen erlauben der Tonumfang (maximal drei Oktaven, E bis e2, der Raum ab der siebenten Lage nur bedingt verwendbar) sowie die Intervall-Struktur der sechs Saiten nur bestimmte Akkorde, Fortschreitungen, mehrstimmige Passagen u. a. (So stellt beispielsweise der Klavierpart zu Die Stadt [D 957/11] aufgrund des großen Ambitus und der harmonischen Anlage eine denkbar ungünstige Vorlage für eine Gitarrenversion dar.) 8 9 10

Es sei hier nur auf die Möglichkeit, Töne leer oder gegriffen zu spielen bzw. mit der rechten Hand „sul tasto“ oder „sul ponticello“ anzuschlagen, hingewiesen. Wiener Zeitung, 17. Februar 1824. Zieht man etwa die Ausgabe des Zyklus von Konrad Ragossnig und John W. Duarte heran, sind  die dort verlangten ästhetisch-technischen Anforderungen für einen Druck in der Biedermeierzeit nicht vorstellbar (Franz Schubert, Die schöne Müllerin, nach dem originalen Klaviersatz für Gitarre eingerichtet von Konrad Ragossnig und John W. Duarte, Mainz: Schott, 1980). In  dieser Transkription werden durch mehrfache Verwendung eines Kapodasters sogar die Originaltonarten beibehalten. – Seit dem Schubert-Jahr 1978 haben Gitarristen immer wieder neue  Ausgaben vorgelegt, zum Teil auf der Basis alter Drucke. Kürzlich hat auch Tilman Hoppstock  eine Auswahl  herausgegeben:  Franz Schubert. 110 Lieder für Tenor und Gitarre, hrsg. von Tilman Hoppstock, Darmstadt: Prim-Musikverlag, Nr. 99700-G, [2009].

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Häufig wurden für die – im Biedermeier zentrale Zielgruppe – der ‚Dilettanten‘ (mit zuweilen erstaunlichen Fähigkeiten) Transpositionen nach E, A oder D vorgenommen, um leere Basssaiten und grifftechnisch gute Akkordbildungen (auch für Subdominante und Dominante) zu gewinnen. Grundsätzlich ging es damit zugleich um eine Verringerung von Vorzeichen (typischerweise beim Erlkönig [D 328] mit einer Ganzton-Transposition von g-Moll nach a-Moll oder beim Nachtstück [D 672] von c-Moll nach a-Moll.) In Violin- und Bassschlüssel getrennt notierte, eigenständige motivische und akkordische Verläufe zwangen die Bearbeiter wiederum zu Alternierungen, d. h. die Grundfaktur wurde in eine sukzessiv orientierte Entfaltung geändert (Erlkönig, Ungeduld [D 795/7]), was natürlich erhebliche Störungen in der Dramaturgie bedeutete. Am Beispiel des Erlkönigs soll dies später noch verdeutlicht werden. Grundsätzlich ging es bei derlei Reduktionen um ein Primat der Melodielinie (v. a. im Sinne einer guten Erkennbarkeit) zuungunsten komplexer Begleitfiguren. An der Gitarrenversion des Liedes Hänflings Liebeswerbung [D 552] ist dies gut beobachtbar (Notenbeispiele 1a und 1b). Bei beibehaltener Tonart A-Dur wurde die Begleitfigur im Bassschlüssel auf einzelne Fundamenttöne (nach der Gliederung jeweils auf 1 und 4) beschränkt, um die Melodielinie originalgetreu abbilden zu können. Erst ab Takt 5 wurden Akkorde – dafür sogar vierstimmig – gesetzt. Mit dem Eintritt der Gesangsstimme ändert sich diese Faktur: Die vom Komponisten vorgeschriebene Begleitfigur erscheint – gitarristisch adaptiert und ohne Beachtung der Artikulation – im einfachen Begleitschema Einzelbass/geschlossener Akkord, wodurch allerdings die wichtige Grundintention der Gegenbewegung preisgegeben ist. Als optimal für Gitarre-Bearbeitungen erweisen sich Akkordzerlegungen in unterschiedlichen Varianten. Zieht man als einzige authentische Quelle die Gitarrenstimme aus dem Terzett Zur Namensfeier meines Vaters heran, sind darin eindeutig gitarrenspezifische Begleitmuster zu finden, nämlich einfache Akkordzerlegungen sowie der Wechsel von einzelnem Basston und geschlossenem Akkord. In etlichen Klaviersätzen Schuberts finden sich ganz ähnliche Bewegungsmuster, etwa in Andenken (D 99), An Mignon (D 161), Das Sehnen (D 231), Heidenröslein (D 257) (merkwürdigerweise nach dem Erstdruck 1821 nicht arrangiert), Der Schiffer (D 536), Das Wandern (D 957/1) und Wohin? (D 957/2). Liedbegleitungen dieser Art eignen sich damit sehr gut für ein Gitarren-Arrangement, wenn auch eine höhere Komplexität – in Verbindung mit dem Bass-Part – erhebliche Probleme schaffen kann (siehe Der Schiffer oder Wie Ulfru fischt [D 525]). Als 1826 bei Sauer und Leidesdorf das Opus 21 (diese genannten Gesänge zusammen mit Auf der Donau [D 553]) erschienen war, lautete das Urteil eines Rezensenten: „Drei gute Gesänge für eine Baßstimme. Die Begleitung ist zuweilen schwierig“11 – ‚trotz der bereits vorgenommenen Reduktionen schwierig‘, müsste es besser lauten. Dass dichte Bewegungsfiguren, gewissermaßen als ‚Klanggrund‘ unter die Gesangslinie gesetzt, durch radikale Strukturänderungen aufgehoben werden können, dokumentiert die Diabelli-Fassung von Nacht und Träume (D 827) (Notenbeispiele 11

Frankfurter Allgemeiner Musikalischer Anzeiger, 30. September 1826.

Schubert-Lieder mit Gitarrenbegleitung

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Notenbeispiel 1a: Franz Schubert, Hänflings Liebeswerbung (D 552), T. 1–12 (NGA IV:1A, S. 145. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

2a und 2b). Kann die Ganzton-Transposition von H-Dur nach A-Dur (im Sinne einer Vorzeichen-Verminderung) durchaus gerechtfertigt werden, stellt bereits der Einleitungsakkord im forte (!) mit Fermate eine irritierende Zutat dar. Mit diesem ‚Paukenschlag‘ (anstatt des viertaktigen Vorspiels im pianissimo) erfolgt schon zu Beginn eine Zerstörung des sensiblen Stimmungsbildes, die in den nachfolgenden simplen Akkordzerlegungen ihre Fortsetzung findet. Das irisierende Klanggewebe Schuberts verkommt in dieser Bearbeitung zur altbewährten ‚Volksliedbegleitung‘.

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Erich Wolfgang Partsch

Notenbeispiel 1b: Franz Schubert, Hänflings Liebeswerbung (D 552), Bearbeiter unbekannt (Schubert, Lieder mit Gitarrenbegleitung aus der Zeit von 1820–1850. Erste Folge [Anm. 4])

Schubert-Lieder mit Gitarrenbegleitung

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Notenbeispiel 2a: Franz Schubert, Nacht und Träume (D 827), T. 1–8 (NGA, IV:7, S. 184. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

172

Erich Wolfgang Partsch

Notenbeispiel 2b: Franz Schubert, Nacht und Träume (D 827), Bearbeiter unbekannt, T. 1–7 (Schubert, Lieder mit Gitarrenbegleitung aus der Zeit von 1820–1850. Erste Folge [Anm. 4])

Ein dankbares Beispiel hingegen stellt Das Wandern als ‚Prototyp‘ des Wanderliedes dar; die schlichte Begleitfiguration lässt ja schon im Original an eine Gitarre oder Laute denken. Der Klaviersatz ist daher nur mit geringfügigen Änderungen (z. B. Positionen der Septime in T. 2) auf die Gitarre übertragbar. An der Stelle „Das muß ein schlechter Müller sein“ bleibt die thematisch wichtige Basslinie durch Aufhebung der Oktavgänge und eine kleine melodische Änderung durchaus erhalten. Im Vergleich mit der Diabelli-Ausgabe (Notenbeispiel 3a) macht dies eine moderne, 1978 erschienene Transkription von Ragossnig und Duarte deutlich (Notenbeispiel 3b). *** In der Schubert-Zeit brachte die von Diabelli 1819 begründete Reihe Philomele eine Fülle an beliebten Gesängen für Singstimme und Gitarre auf den Musikmarkt. Der Verleger nahm selbst alle Einrichtungen vor. Mittels kostengünstiger Herstellung konnte so ein größerer Musikerkreis gewonnen werden, was sich natürlich auf die Verbreitung der Kompositionen positiv auswirkte. Bereits innerhalb des ersten Jahres wurden in der neuen Reihe 60 Nummern publiziert. Das erste Schubert-Arrangement war der Erlkönig (Nr. 106). In Philomele veröffentlicht wurden folgende

Schubert-Lieder mit Gitarrenbegleitung

173

Notenbeispiel 3a: Franz Schubert, Das Wandern (D 827), in: Philomele. Eine Sammlung der beliebtesten Gesänge mit Begleitung der Guitarre (Anton Diabelli, Wien 1821), T. 1–24

19 Schubert-Bearbeitungen:12 Erlkönig, Der Wanderer, Morgenlied, Schäfers Klagelied, Der blinde Knabe, Die Forelle, Das Wandern, Wohin?, Ungeduld, Morgengruß, Ständchen, Der Einsame, Hymne an die Jungfrau: Ave Maria, Lob der Trä12

Vgl. Philomele. Zwei Werkreihen von Anton Diabelli, hrsg. von Alexander Weinmann, Wien 1979 (Wiener Archivstudien 1).

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Erich Wolfgang Partsch

Notenbeispiel 3b: Franz Schubert, Das Wandern (D 827), Bearbeitung für Gitarre durch Konrad Ragossnig und John W. Duarte (1978), T. 1–12 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schott-Verlags Mainz)

nen, Der Alpenjäger, Trockne Blumen, Nacht und Träume, Trost in Tränen und Frühlingsglaube. Der Beginn mit dem Erlkönig (1821) stellte eine große Herausforderung – oder pejorativ ausgedrückt: eine riskante Reduktion – dar. Die eminenten Anforderungen im Klavierpart bedeuteten in der Praxis noch größere für Gitarristen. Die Möglichkeit, das wirkungsvolle Lied weiteren Musiker- und Publikumskreisen zu er-

Schubert-Lieder mit Gitarrenbegleitung

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Notenbeispiel 4: Franz Schubert, Erlkönig (D 328), in: Philomele. Eine Sammlung der beliebtesten Gesänge mit Begleitung der Guitarre (Anton Diabelli, Wien 1821), T. 1–14

schließen, erkaufte der Bearbeiter Diabelli musikalisch teuer durch radikale Eingriffe in den Klaviersatz (Notenbeispiel 4). In der grifftechnisch günstigen Tonart a-Moll entschied sich Diabelli – wohl oder übel – für eine klangliche Minimierung des Ostinato auf Einzelton-Repetitionen. Wie oben angesprochen, schied die simultane Präsentation der markanten

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Erich Wolfgang Partsch

Notenbeispiel 5: Franz Schubert, Schäfers Klagelied (D 121), in: Philomele. Eine Sammlung der beliebtesten Gesänge mit Begleitung der Guitarre (Anton Diabelli, Wien 1821), T. 1–16

Schubert-Lieder mit Gitarrenbegleitung

Notenbeispiel 6: Franz Schubert, Der Wanderer (D 493), in: Philomele. Eine Sammlung der beliebtesten Gesänge mit Begleitung der Guitarre (Anton Diabelli, Wien 1821), T. 1–12

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Erich Wolfgang Partsch

Bewegungsfigur im Bass grifftechnisch aus; dadurch verblieb nur die Möglichkeit eines sukzessiven Verlaufs, wobei der jeweils letzte Ton des Motivs zugleich den ersten Basston des neu einsetzenden Ostinato (mit notgedrungen veränderter Artikulation) bildet. Diese Lösung durch striktes Alternieren bedeutet natürlich eine empfindliche Störung – oder schärfer: Zerstörung – der Werkdramaturgie. Ab Takt 6 leitete der Bearbeiter schrittweise zu Arpeggien über, indem er die originalen Sekund- bzw. Terz-Zusammenklänge einfach auflöste. Damit führte er ein gitarristisches Begleitmuster ein, das weiterhin – mit einigen wenigen Ausnahmen – verbindlich bleibt. Mit der grundsätzlichen Beschränkung auf dieses Schema (auch am Ende der Ballade) werden aber die von Schubert fein differenzierten Begleitmuster völlig nivelliert. Eine andere Situation stellt des Schäfers Klagelied (D 121) dar (Notenbeispiel 5). Hier konnte die abwechslungsreiche Anlage des Klavierparts aufgrund der Transparenz weitgehend übernommen werden: Von c-Moll nach d-Moll transponiert, schaffen weder der harmonische Gang des akkordischen Satzes (Beginn bzw. ab T. 28) noch dessen Zerlegungen nennenswerte Probleme. Ganz in diesem Sinne gelingt ebenso die Differenzierung der Begleitfiguren (Drei-Achtel-Gruppen zu Sechzehntel). Ein markanter Eingriff allerdings ist der Strich des Klavier-Nachspiels; hier verzichtete der Bearbeiter auf die Wiedergabe des verästelten Klaviersatzes. Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf ‚das Wie und das Was‘ in der Bearbeitung des Liedes Der Wanderer (D 493) geworfen. Die Festlegung der Transposition nach e-Moll erleichtert bereits das instrumentale Vorspiel, weil damit die leere (obere) E-Saite und allgemein grifftechnisch günstige Positionen verwendet werden können.13 So enthält der erste Abschnitt durchweg drei- bis vierstimmige Akkorde. Ab der Stelle „Wo bist du“ (T. 32) erscheinen die beiden Klaviersysteme in die Gruppierung Basston/Terzfigur zusammengezogen. Im weiteren Verlauf des Liedes kann wiederum das Original ziemlich genau wiedergegeben werden. An der Stelle „Im Geisterhauch“ (T. 65–66) erscheinen sogar zunächst die leeren Oktaven, ehe das D eine natürliche Grenze zieht und Änderungen in der weiteren Akkordstruktur erfordert. Zugegebenermaßen waren manche Bearbeitungen durch die völlige Umstrukturierung der originalen Klavierbegleitung ästhetisch bedenklich. Gerade aber die beiden letztgenannten Lieder dokumentieren, von einzelnen Reduktionen abgesehen, dass die zeitgenössischen Gitarrenversionen durchaus eine interessante Alternative für neue Musikerkreise boten, zumal sich der Wegfall von Verdopplungen sowie die zum Teil erzwungene Tendenz zu Geringstimmigkeit und Transparenz gut in die akustische Sphäre damaliger Hausmusik fügten.

13

Am Rande sei hierzu ein interessantes Detail erwähnt: Der Hinweis „Daum“ in Takt 6 (Gis) dokumentiert den Einsatz des Daumens der linken Hand, beim Spiel alter Instrumente aufgrund kleinerer Mensur und Griffbrettbreite durchaus gängig.

FRAUENLIEDER – MÄNNERLIEDER? Gedanken zum Thema Repertoire und Gender Beatrix Borchard „Geschlecht ist nicht etwas, was wir haben, schon gar nicht etwas, was wir sind. Geschlecht ist etwas, was wir tun.“1 Singen ist eine Form des kulturellen Handelns, und so soll es im Folgenden anhand des Schubert-Repertoires ausgewählter Sängerinnen und Sänger um das Verständnis des Singens von Kunstliedern als doing gender bzw. als undoing gender gehen. I. ‚FRAUENLIEDER‘ / ‚MÄNNERLIEDER‘ Tabelle 1: ‚Frauenlieder‘ (chronologisch) „Hagars Klage“ D 5

Schücking

30.3.1811

2.

„Des Mädchens Klage“ D 6 (1. Fass.)

Schiller

1811/1812

3.

„Klagelied“ D 23

Rochlitz

1812

4.

„Thekla. Eine Geisterstimme“ D 73 (1. Fass.)

Schiller

22.8.1813

5.

„Gretchen am Spinnrade“ D 118

Goethe

19.10.1814

6.

„Ammenlied“ D 122

Lubi

12.1814

7.

„Nähe des Geliebten“ D 162

Goethe

27.2.1815

8.

„Des Mädchens Klage“ D 191 (2. Fass.)

Schiller

15.5.1815

9.

„Amalia“ D 195

Schiller

19.5.1815

10.

„Klärchen“ D 210

Goethe

3.6.1815

11.

„Kolmas Klage“ D 217

Ossian

22.6.1815

12.

„Agnes (Idas) Nachtgesang“ D 227

Kosegarten

7.7.1815

13.

„Von Agnes (Ida)“ D 228

Kosegarten

7.7.1815

14.

„Die Spinnerin“ D 247

Goethe

8.1815

15.

„Cora an die Sonne“ D 263

Baumberg

22.8.1815

16.

„An die Sonne“ D 270

Baumberg

25.8.1815

1

1.

Gitta  Mühlen Achs,  Geschlecht bewusst gemacht. Körpersprachliche Inszenierungen,  München 1998, S. 21. Vgl. auch Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Katharina Menke, Frankfurt am Main 1991. 

180

Beatrix Borchard

17.

„Lilla an die Morgenröte“ D 273

Anonym

25.8.1815

18.

„Vaterlandslied“ D 287

Klopstock

14.9.1815

19.

„Lambertine“ D 301

Stoll

12.10.1815

20.

„Wiegenlied“ D 304

Körner

15.10.1815

21.

„Sehnsucht“ D 310 („Mignon“, 2. Fass.)

Goethe

18.10.1815

22.

„(Idens) Schwanenlied“ D 317 (2. Fass.)

Kosegarten

19.10.1815

23.

„Luisens Antwort“ D 319

Kosegarten

19.10.1815

24.

„Mignon“ D 321

Goethe

23.10.1815

25.

„Klage der Ceres“ D 323

Schiller

11.1815

26.

„Des Mädchens Klage“ D 389 (3. Fass.)

Schiller

4.1816

27.

„Die verfehlte Stunde“ D 409

Schlegel

4.1816

28.

„Daphne am Bach“ D 411

Stolberg

4.1816

29.

„Pflicht und Liebe“ D 467 (Fragment)

Gotter

8.1816

30.

„Abendlied einer Fürstin“ D 495

Mayrhofer

11.1816

31.

„An die Nachtigall“ D 497

Claudius

11.1816

32.

„Wiegenlied“ D 498

Anonym

11.1816

33.

„Philine“ D 500

Claudius

11.1816

34.

„Am Grabe Anselmos“ D 504 (2. Fass.)

Claudius

4.11.1816

35.

„Gretchens Bitte“ („Gretchen im Zwinger“) D 564

Goethe

5.1817

36.

„Iphigenia“ D 573

Mayrhofer

7.1817

37.

„Thekla. Eine Geisterstimme“ D 595 (2. Fass.)

Schiller

11.1817

38.

„Blanka“ („Das Mädchen“) D 631

F. Schlegel

12.1818

39.

„Das Mädchen“ D 652 (2. Fass.)

F. Schlegel

2.1819

40.

„Berthas Lied in der Nacht“ D 653

Grillparzer

2.1819

41.

„Die Liebende schreibt“ D 673

Goethe

10.1819

42.

„Suleika II“ D 717

Willemer

3.1821

43.

„Suleika I“ D 729

Willemer

3.1821

44.

„Mignon I“ D 726

Goethe

4.1821

45.

„Mignon II“ D 727

Goethe

4.1821

46.

„Die junge Nonne“ D 828

Craigher

3.1825?

47.

„Lied der Anne Lyle“ D 830

McDonald

3.1825?

48.

„Gesang der Norma“ D 831

Scott

3.1815

49.

„Ellens Gesang I“ D 837

Scott

7.1825

50.

„Ellens Gesang II“ D 838

Scott

7.1825

51.

„Ellens Gesang III“ D 839

Scott

7.1825

52.

„Lied der Mignon I“ D 877

Goethe

1.1826

181

Frauenlieder – Männerlieder? 53.

„Lied der Mignon II“ D 877

Goethe

1.1826

54.

„Lied der Mignon III“ D 877 

Goethe

1.1826

55.

„An Myrtill“ D 922 (2. Fass.)

Klenke

9.1827

56.

„Die Unterscheidung“ D 866, 1

Seidl

6.8.1828

57.

„Die Männer sind mechant“ D 866, 3

Seidl

6.8.1828

58.

„Das Echo“ D 868 (D 990C, nicht datierbar)

Castelli

6.8.1828?

59.

„Wiegenlied“ D 867

Seidl

6.8.1828

Ursprüngliche ‚Frauenlieder‘, die Schubert in neutrale bzw. ‚Männerlieder‘ umänderte 1.

„Serafina an ihr Clavier“ D 342 (An mein Clavier)

Schubart

3.1816

2.

„Herbst“ D 945

Rellstab

4.1828

Wenn man diese Zusammenstellung von Werner Bodendorff aus dem Jahre 1996 sieht,2 könnte man folgern: ‚Frauenlieder‘ sind Lieder, in denen den Regeln der bipolaren Geschlechterordnung folgend eindeutig ein Mädchen oder eine Frau spricht. Was aber ist ein Mädchen oder eine Frau im Lied? Es ist eine Rolle, oft verknüpft mit einer weiblichen Roman- oder Bühnenfigur wie Gretchen, Mignon, Philine oder – wie im Falle der Suleika-Lieder – eine Rolle in einem dialogisch angelegten Gedichte. Die Bestimmung ‚Frauenlied‘ sagt also weder etwas über das Geschlecht des Textautors aus noch über das des Komponisten, sondern nur über die Geschlechtszuweisung des Dichters an das sprechende Ich. Mit dieser Zuweisung ist nicht nur bei Bodendorff ein Ausschlussmerkmal verbunden: Die Bezeichnung ‚Frauenlied‘, die ja nur einen Sinn ergibt, wenn man den Gegenbegriff ‚Männerlied‘ mitdenkt, dient als Hinweis an potenzielle Interpreten und Interpretinnen, welches Lied von wem gesungen oder nicht gesungen werden soll. Und so ist es auch kein Zufall, dass argumentativ eine nicht weiter hinterfragte Kategorie wie Authentizität angeführt wird, wenn es um die Frage geht, ob ein Mann oder eine Frau ein Lied singen kann, soll bzw. darf. Diese Kategorie wird bis heute nicht nur von Gesangslehrern und –lehrerinnen, sondern auch von wissenschaftlicher Seite bemüht, so etwa bei Christian Martin Schmidt: „Die Vernachlässigung der geschlechtsspezifischen Ausrichtung bringt – zumal im Hinblick auf die Texte – eine Einbuße an ästhetischer Authentizität mit sich, was freilich von der musikalischen Praxis […] nur allzu gern außer Acht gelassen wird.“3 Schmidts mit der Autorität eines Wissenschaftlers, der für sich beansprucht zu wissen, was ästhetisch und historisch richtig oder falsch sei, formuliertes Postulat setzt zum einen voraus, dass es eine Geschlechtsidentität zwischen dem singenden Menschen und dem lyrischen Ich eines Liedtextes geben 2 3

Werner Bodendorff, Franz Schuberts Frauenbild, Augsburg 1996, S. 126–127. Christian Martin Schmidt, Johannes Brahms, Stuttgart 1994 (Reclams Musikführer), S. 242– 243.

182

Beatrix Borchard

müsse, zum anderen, dass es sich bei dem, was in ‚Frauenliedern‘ bzw. ‚Männerliedern‘ textlich und teilweise auch musikalisch ‚gegendert‘ erscheint, nicht um Zuschreibungen handelt, mit denen in der sängerischen Darstellung gespielt werden könnte. Schließlich spricht er mit seinem Diktum weiblichen Sängern ab, das vermitteln zu können, was Reinhold Brinkmann als zentrales Charakteristikum der individualisierten Form musikalischer Lyrik hervorgehoben hat, nämlich die Thematisierung gefährdeter Subjektivität.4 II. BLICK ZURÜCK Wer hat welche Schubert-Lieder im 19. Jahrhundert gesungen? Eine Frage, die so gestellt, unbeantwortbar ist. Auf der einen Seite fehlen Repertoireuntersuchungen, auf der anderen – und dies erscheint noch entscheidender – ist für das Singen von Kunstliedern ein Changieren zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Aufführungsorten charakteristisch. Das gilt auch noch für eine Zeit, in der sich die innerhalb der Geschichte des Konzertwesens sehr spät entwickelte Veranstaltungsform des Liederabends bereits etabliert hatte, nämlich für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.5 Aussagen können wir also nur darüber treffen, wer welche Schubert-Lieder nachweislich – das heißt in der Regel: öffentlich – gesungen hat bzw. in eine eigene Notenausgabe aufgenommen hat. Gerade bezogen auf geschlechtsspezifische Fragen ist diese durch die Quellenlage bedingte Einschränkung problematisch, da besonders im 19. Jahrhundert Räume geschlechtsspezifisch markiert waren. So spielten ‚zuhause‘ Männer und Frauen selbstverständlich gemeinsam Kammermusik, im Konzertsaal hingegen nicht.6 Es liegt also nahe, auch in der Frage der Liedauswahl von unterschiedlichen ‚Toleranzen‘ auszugehen, je nachdem, ob jemand ein Lied nur für sich selber am Klavier singt, ob er/sie es im Rahmen des häuslichen Musizierens oder vor geladenen Gästen in den eigenen vier Wänden vorträgt oder gar in einem Konzertsaal präsentiert. Dieser „Strukturwandel der Aufführungssituation“ ist aus der Komponistenperspektive u. a. im Vorwort zu dem Band Öffentliche Einsamkeit. Das deutschsprachige Lied und seine Komponisten im frühen 20. Jahrhundert in seinen Konsequenzen diskutiert worden.7 Im Folgenden geht es jedoch um den Strukturwandel 4 5

6

7

Vgl. Reinhold Brinkmann, „Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert“, in: Musikalische Lyrik, hrsg. von Hermann Danuser, Bd. 2, Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/2),  S. 9–124, hier S. 18. Vgl. Beatrix Borchard,  „Öffentliche  Intimität?  Konzertgesang  in  der  zweiten  Hälfte  des  19. Jahrhunderts“, in: Liedersingen. Studien zur Aufführungsgeschichte des Liedes im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Katharina Hottmann, Hildesheim etc. 2012, S. 109–126 (Jahrbuch Musik und Gender 6). Vgl. dazu Beatrix Borchard, „Öffentliches Quartettspiel als geschlechtsspezifische ‚Raumgestaltung‘?“, in: Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. und 20. Jahrhundert. Verlage – Konservatorium – Salons – Vereine – Konzerte, hrsg. von Stefan Keym und Katrin Stöck (Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen. Kongressbericht Leipzig  2008 3), S. 385–399. Michael  Heinemann  und  Hans-Joachim  Hinrichsen,  „Vorwort“,  in:  Öffentliche Einsamkeit.

Frauenlieder – Männerlieder?

183

des Konzertrepertoires aus der Perspektive der Ausführenden, und zwar ausschließlich bezogen auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen. Das Augenmerk gilt dabei weiblichen Sängern, die sogenannte ‚Männerlieder‘, sowie männlichen Sängern, die sogenannte ‚Frauenlieder‘ – Balladen eingeschlossen – gesungen haben. So ist etwa in der Schubert-Dokumentation von Otto Erich Deutsch ein Brief vom 22. Januar 1828 abgedruckt, in dem der „seelenvolle“ Vortrag von Liedern aus dem ersten Teil der Winterreise durch eine Sängerin namens Franziska Tremier erwähnt wird;8 ob öffentlich, halböffentlich, privat – wir wissen es nicht. Diese Unterscheidung ist für die Schubert-Zeit bekanntlich äußerst problematisch. ‚Seelenvoll‘ ist jedenfalls keine ‚gegenderte‘ Charakterisierung, das Geschlecht der interpretierenden Person kein Thema. Anna Milder-Hauptmann sang im selben Jahr 1828 den Erlkönig, der als Ballade im vorliegenden Zusammenhang eine Sonderstellung einnimmt. Karoline Unger, die u. a. bei Johann Michael Vogl Unterricht hatte, interpretierte außer dem Erlkönig auch den Wanderer und den Einsamen. Zahllose andere Beispiele könnten genannt werden. Achtzig Jahre später erinnerte sich Max Kalbeck daran, im Konzertsaal Schumanns Frauenliebe und Leben op. 42 von einem „starkbärtigen, renommierten Künstler gehört zu haben“ – wahrscheinlich spielte er auf den für die Geschichte des Konzertgesangs stilprägenden Lied- und Oratoriensänger des 19. Jahrhunderts schlechthin, den elsässischen Bariton Julius Stockhausen, an, der den Zyklus im Repertoire hatte.9 Kalbeck verweist auch darauf, dass die Kennzeichnung einzelner Brahmslieder als „Mädchenlieder“ nur deshalb notwendig gewesen sei, „da damals in der Praxis noch weniger zwischen Männer- und Frauenliedern unterschieden wurde als heute“10 – mit ‚heute‘ ist selbstredend das frühe 20. Jahrhundert gemeint. Folgt man Kalbeck, dann hatten sich also erst um die Wende zum 20. Jahrhundert auch im Konzertsaal mit dem Zweigeschlechtermodell (nach Laqueur) Wahrnehmungsweisen durchgesetzt, die stark geschlechtsspezifisch gesteuert und auf den biologischen Körper gerichtet waren. Für die Sänger bedeutete dies: Die Geschlechtszuweisung an das ästhetische Subjekt durch den Textautor konnte nur durch eine Geschlechtsidentität mit dem singenden Menschen ‚beglaubigt‘ werden. Dadurch drohte das zur Verfügung stehende Liedrepertoire für weibliche Sänger empfindlich eingeschränkt zu werden. Dass es sich bei dieser ‚Genderisierung‘ des Liedrepertoires um eine neuere Entwicklung handelte, dokumentiert auch das Kalbeck-Zitat. Ein Vergleich des Schubert-Repertoires führender Schubert-InterpretInnen des 19. Jahrhunderts bestätigt seine Beobachtungen (siehe Tabelle 2).

8 9

10

Das deutschsprachige Lied und seine Komponisten im frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen in Verbindung mit Carmen Ottner, Köln 2009,  S. 7–10. Brief von Marie von Pratobevera (Schwester von Franziska Tremier) an Josef Bergmann vom  22. Januar 1828, in: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 481 (Hervorhebung original). Zum Nachweis einer Aufführung des vollständigen Zyklus für das Jahr 1862 in Köln vgl. Julia  Wirth-Stockhausen, Julius Stockhausen. Der Sänger des deutschen Liedes, nach Dokumenten seiner Zeit dargestellt, Frankfurt am Main 1927 (Frankfurter Lebensbilder 10), Repertoire von  Julius Stockhausen, S. 489–498, hier S. 497. Vgl. auch Anm. 5. Max Kalbeck, Johannes Brahms, Berlin 1904–1914, Reprint: Tutzing 1976, Bd. 3, S. 136.

184

Beatrix Borchard

Abbildung 1: Amalie Joachim (1839–1899), ca. 1870

Abbildung 2: Pauline Viardot-Garcia (1821–1910), ca. 1840

Abbildung 3: Julius Stockhausen (1826–1906), 1869

185

Frauenlieder – Männerlieder?

Amalie Joachim und Julius Stockhausen haben sehr lange als Lied- und Oratoriensänger gewirkt. Franziska Martienssen-Lohmann nennt sie die „großen Lisztgestalten [sic] des Liedgesangs“.11 Aber auch die französischsprachige Mezzosopranistin Pauline Viardot-Garcia, die vor allem als Opernsängerin berühmt wurde, kann als maßstabsetzende Schubert-Sängerin gelten. Alle drei Musiker haben unterrichtet und wirkten so traditionsbildend. Amalie Joachim und Pauline ViardotGarcia haben darüber hinaus eigene Ausgaben veröffentlicht, letztere sogar eine reine Schubert-Ausgabe. Zum Repertoire der Lied- und Oratoriensängerin Amalie Joachim (1829–1899) liegen bereits Publikationen vor, besonders mit Blick auf die Aufführungspraxis der Schönen Müllerin,12 sowie zu Julius Stockhausen, bezogen auf Schumanns Zyklen.13 Tabelle 2: Das Schubert-Liedrepertoire von Amalie Joachim, Pauline Viardot-Garcia und Julius Stockhausen Nr.

Liedanfang/Titel

Joachim

Viardot

Stockhausen

1.

„An die Leier“ D 737 (Text: nach  Anakreon, Franz von Bruchmann)

12

Nr. 31

ja

2.

„Kolmas Klage“ D 217  (Text: aus Ossians Gesängen)

4

3.

„Memnon“ D 541 (Text: Johann  Mayrhofer)

ja

4.

„Der Lindenbaum“ D 911, 5 (aus: Winterreise)

ja

Nr. 3

5.

„Mignon“ D 877, 2 (Text: Johann  Wolfgang von Goethe)

ja

Nr. 47 (D 321)

6.

„An die Musik“ D 547  (Text: Franz von Schober)

3

Nr.19

7.

„Blondel“ (= „Blondel zu Marien“)  D 626 (Text: Franz Grillparzer)

1

8.

„Des Mädchens Klage“ D 6 (Text: Friedrich von Schiller)

2

9.

„Ellen’s Gesang“ D 838  (Text: Walter Scott)

5

10.

„Lachen und Weinen“ D 777  (Text: Friedrich Rückert)

2

11 12 13

‚Frauenlieder‘

ja ja

Nr. 33

ja ja

ja ja

Nr. 49

Vgl.  Franziska  Martienssen-Lohmann,  Stimme und Gestaltung. Die Grundprobleme des Liedgesangs, Leipzig 1927, S. 201. Vgl.  Beatrix  Borchard,  „Die  Sängerin Amalie  Joachim  und  Die schöne Müllerin von Franz Schubert“, in: Frauen- und Männerbilder in der Musik. Festschrift Eva Rieger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Freia Hoffmann u. a., Oldenburg 2000, S. 69–80.  Vgl. Renate Hofmann, „Julius Stockhausen als Interpret der Liederzyklen Robert Schumanns“,  in: Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Matthias Wendt, Mainz 2005 (Robert Schumann Forschungen 9), S. 34–46.

186 Nr.

Beatrix Borchard Liedanfang/Titel

Joachim

Viardot

Stockhausen

11.

„Wonne der Wehmut“ D 260 (Text: Johann Wolfgang von Goethe)

2

12.

„Frühlingsglaube“ D 686 (Text: Ludwig Uhland)

ja

Nr. 48

ja

13.

Romanze aus Rosamunde D 797 (Text: Helmina von Chezy)

1

14.

„Suleika“ D 720 (Text: aus Goethes  West-Östlichem Divan; Marianne  von Willemer)

5

15.

„Du bist die Ruh“ D 776  (Text: Friedrich Rückert)

1

16.

„Ganymed“ D 544

ja

17.

„Geheimes“ D 719 (Text: Johann  Wolfgang von Goethe)

15

18.

„Taubenpost“ D 957 (aus: Schwanengesang) (Text: Johann Gabriel  Seidl)

3

ja

19.

„Erstarrung“ D 911, 4  (aus: Winterreise)

1 (siehe Winterreise)

ja

20.

Die schöne Müllerin D 795 (Text:  Wilhelm Müller)

17

21.

„Wohin?“ D 795, 2 (aus: Die schöne Müllerin)

3

22.

„Halt“ D 795, 3 (aus: Die schöne Müllerin)

2

23.

„Danksagung an den Bach“ D 795, 4 (aus: Die schöne Müllerin)

2

24.

„Mein“ D 795, 11 (aus: Die schöne Müllerin)

2

25.

„Pause“ D 795, 12 (aus: Die schöne Müllerin)

2

26.

„Eifersucht und Stolz“ D 795, 15  (aus: Die schöne Müllerin)

2

27.

„Die liebe Farbe“ D 795, 16  (aus: Die schöne Müllerin)

2

Nr. 37

28.

„Die böse Farbe“ D 795, 17  (aus: Die schöne Müllerin)

2

Nr. 36

29.

„Der Müller und der Bach“ D 795,  19 (aus: Die schöne Müllerin)

Ja

Nr. 44

30.

„Geheimnis“ D 491 (Text: Johann  Mayrhofer, „Sag an“) oder: op. 173,  Nr. 2 D 250/793 („Sie konnte mir“)

3

31.

„Waldes-Nacht“ (= „Im Walde“)  D 708 (Text: Friedrich Schlegel)

3

‚Frauenlieder‘

ja

Nr. 27

Nr. 13

siehe Einzeltitel

ja

ja (1854)

ja

187

Frauenlieder – Männerlieder? Nr.

Liedanfang/Titel

Joachim

Viardot

Stockhausen

32.

„Im Dorfe“ D 911, 17  (aus: Winterreise)

1 (siehe Winterreise)

Nr. 12

33.

„Der stürmische Morgen“ D 911, 18  (aus: Winterreise)

1 (siehe Winterreise)

34.

„Das Wirtshaus“ D 911, 21  (aus: Winterreise)

1 (siehe Winterreise)

35.

„Rastlose Liebe“ D 138 (Text:   Johann Wolfgang von Goethe)

2

36.

„Wehmut“ D 772 (Text: Matthäus  von Collin)

9

37.

„Daß sie hier gewesen“ D 775  (Text: Friedrich Rückert)

1

38.

„Im Freien“ D 880 (Text: Johann  Gabriel Seidl)

1

39.

„Der Zwerg“ D 771 (Text: Matthäus  von Collin)

1

40.

„An eine Quelle“ D 530 (Text: Matthäus Claudius)

1

41.

„Willkommen und Abschied“ D 767 (Text: Johann Wolfgang von Goethe)

2

42.

„An die Nachtigall“ D 497 (Text:  Matthias Claudius, „Er liegt und  schläft“) oder: D 196 (Text: Ludwig  Christoph Heinrich Hölty, „Geuß  nicht“)

2

43.

„Doppelgänger“ D 957, 13 (aus:  Schwanengesang) (Text: Heinrich  Heine)

ja

44.

„Liebesbotschaft“ D 957, 1 (aus:  Schwanengesang) (Text: Ludwig  Rellstab)

ja

45.

„Dem Unendlichen“ D 291 (Text:  Friedrich Gottlieb  Klopstock)

1

46.

Winterreise D 911 (Text: Wilhelm  Müller)

6

siehe Einzeltitel

ja (1851)

47.

„Erlkönig“ D 328 (Text: Johann  Wolfgang von Goethe)

ja

Nr. 6

ja

48.

„Nachtstück“ D 672 (Text:  Johann  Mayrhofer)

3

40

ja

49.

„Der Musensohn“ D 764 (Text:  Johann Wolfgang von Goethe)

6

‚Frauenlieder‘

ja

ja

ja

Nr. 43

ja

ja

ja

188 Nr.

Beatrix Borchard Liedanfang/Titel

Joachim

Viardot

50.

„Das Rosenband“ D 280 (Text:  Friedrich Gottlieb Klopstock)

1

51.

„Alinde“ D 904 (Text: Friedrich  Rochlitz)

1

52.

„Heidenröslein“ D 257 (Text: Johann  ja Wolfgang von Goethe)

53.

„Ständchen“ für Altsolo und Chor D 920

ja

54.

Schwanengesang D 957 (Text: Johann Gabriel Seidl, Heinrich Heine, Ludwig Rellstab)

4

55.

„Kriegers Ahnung“ D 957, 2 (aus:  Schwanengesang) (Text: Ludwig  Rellstab)

1

56.

„Ständchen“ D 957, 4 (aus: Schwanengesang) (Text: Ludwig Rellstab)

2

Nr. 2

57.

„Die Stadt“ D 957, 11 (aus: Schwanengesang) (Text:  Heinrich Heine)

1

Nr. 21

58.

„Schlummerlied“ D 527 (Text:  Johann Mayrhofer)

1

59.

„Gesang des Harfners“ D 478 (Text:  Johann Wolfgang von Goethe)

2

60.

„Frühlingslied“ D 243 (Text: Ludwig  1 Christoph Heinrich Hölty)

61.

„Gretchen am Spinnrade“  D 118 (Text: Johann Wolfgang  von Goethe)

1

Nr. 28

62.

„Ihr Bild“ D 957, 9 (aus: Schwanengesang) (Text: Heinrich Heine) 

1

Nr. 23

63.

„Auf dem Wasser zu singen“ D 774 (Text: Leopold zu Stolberg)

4

Nr. 10

64.

„Vor meiner Wiege“ D 927  (Text: Karl Gottfried von Leitner)

1

Nr. 11

65.

„Die Erwartung“ D 159  (Text: Friedrich von Schiller)

1

66.

„Nacht und Träume“ D 827 (Text: Matthäus von Collin)

1

67.

„Amalia“ D 195 (Text: Friedrich  von Schiller)

1

68.

„Der Jüngling am Bache“ D 638 (Text: Friedrich von Schiller)

1

69.

„Gruppe aus dem Tartarus“ D 583  (Text: Friedrich von Schiller)

1

70.

„Suleikas zweiter Gesang“ D 717 (Text: aus dem West-Östlichen Divan; Marianne von Willemer)

1

Stockhausen

‚Frauenlieder‘

Nr. 16

ja

Nr. 22

ja

ja

189

Frauenlieder – Männerlieder? Nr.

Liedanfang/Titel

Joachim

71.

„Auf dem See“ D 543 (Text: Johann  Wolfgang von Goethe)

1

72.

„Der Goldschmiedsgesell“ D 560  (Text: Johann Wolfgang von Goethe)

1

73.

„Waldesnacht“ D 561

ja

Viardot

Stockhausen ja

74.

„Les Grillons“ /  „Der Einsame“  D 800

75.

„La Truite / „Die  Forelle“ D 550

76.

„Hymne à la  Vierge“ / „Hymne an die Jungfrau“ D 839

77.

„Je t’aime encore“ / „Sei mir  gegrüßt“ D 741

78.

„La Poste“  / „Die Post“  D 911, 13 (aus:  Winterreise)

79.

„Je pense à toi“ /  „Ich denke Dein“  D 162 (2. Fass.)

80.

„Le Voyageur“ /  „Der Wanderer“  D 493

81.

„Le Corbeau“  / „Die Krähe“  D 911, 15 (aus:  Winterreise)

82.

„Élan d’amour“ /  „Ungeduld“ D 795, 7 (aus:  Die schöne Müllerin)

83.

„L’Illusion“ /  „Täuschung“  D 911, 19 (aus: Winterreise)

84.

„Mon Séjour“  / „Aufenthalt“  D 957, 5 (aus:  Schwanengesang)

85.

„Le Curieux“  / „Der Neugierige“ D 795, 6  (aus: Die schöne Müllerin)

ja

‚Frauenlieder‘

190 Nr.

Beatrix Borchard Liedanfang/Titel

Joachim

Viardot

86.

„Tu n’aimes pas“  / „Du liebst mich  nicht“ D 756

87.

„Le Départ“  / „Abschied“  D 957, 7 (aus: Schwanengesang)

88.

„La Rose“ / „Die  Rose“ D 745

89.

„Fleurs desséchées“ / „Trockne Blumen“  D 795, 18 (aus:  Die schöne Müllerin)

90.

„Sur une Tombe“ / „An Anselmo’s Grabe“ D 504

91.

„La Toute-puissance“ / „Allmacht“ D 852

92.

„Au Bord de la mer“ / „Am Meer“ D 957, 12 (aus: Schwanengesang)

93.

„Dithyrambe“ /  „Dithyrambe“  D 801

94.

„Sur la montagne“ / „Über Wildemann“  D 884

95.

„Où vais-je?“ /  „Wohin?“ D 795,  2 (aus: Die schöne Müllerin)

96.

„Éloge des larmes“ / „Lob der  Thränen“ D 711

97.

„La Jeune Religieuse“ / „Die  junge Nonne“  D 828

98.

„Mignon et le  harpiste“ / „Mignon und der Harfner“ Duett D 877

Stockhausen

‚Frauenlieder‘

ja

ja

ja

191

Frauenlieder – Männerlieder? Nr.

Liedanfang/Titel

Joachim

Viardot

Stockhausen

99.

„Erster Verlust“ D 226

100.

„Greisengesang“ D 778

101.

„Kriegers Ahnung“ D 957

102.

„Willkommen  und Abschied“  D 767

103.

„Der Tod Oscars“  D 375

104.

„Widerschein“  D 865

105.

„Fischermädchen“ D 957, 10  (aus: Schwanengesang)

106.

„Schäfers Klagelied“ D 121

107.

„Greisengesang“  D 778

108.

„Litanei“ D 343

109.

„Der zürnenden  Diana“ D 707

110.

„An Schwager  Kronos“ D 369

111.

„Der Sänger“  D 149

112.

„Der Schiffer“  D 694 oder 536

113.

„Der Tod und das  Mädchen“ D 531

114.

„Meeresstille“  D 215

115.

„Der Kreuzzug“  D 932

‚Frauenlieder‘

192

Beatrix Borchard

Die von Amalie Joachim am häufigsten gesungenen Einzellieder von Schubert sind nicht, wie man erwarten könnte, Der Erlkönig (D 328), Der Musensohn (D 764) oder Der Lindenbaum aus der Winterreise (D 911), sondern An die Leier (D 737), Ganymed (D 544) und Memnon (D 541).14 Alle drei Lieder gelten bis heute als ausgesprochene ‚Männerlieder‘, genauso wie das posthum veröffentlichte Zyklusfragment Schwanengesang (D 957), aus dem Amalie Joachim fast alle Nummern sang. Die sechs Heine Vertonungen (Nr. 8–13) führte sie ab Ende 1888 wiederholt auf; für den 12. Dezember 1890 lässt sich sogar ein Berliner Konzert nachweisen, in dem sie auch einige der Rellstab-Vertonungen im Zusammenhang mit den HeineLiedern auf das Programm setzte. Die schöne Müllerin (mit Rezitation von Prolog und Epilog und den nicht von Schubert vertonten Texten und Soloklavierstücken) sang sie auf ihren Konzertreisen, die sie bis nach Russland und in die USA führten, sehr häufig, die Winterreise hingegen das erste Mal vollständig erst sehr spät, nämlich am 25. Oktober 1896 in Berlin – ob wie Stockhausen in der Reihenfolge von Müllers Gedichten oder in der Schubertschen Reihenfolge ist nicht überliefert. Den Plan, die Winterreise zu singen, hatte sie bereits im Winter 1874/75 gefasst.15 Warum es dann – nach jetzigem Wissensstand – noch fast 20 Jahre dauerte, bis sie diesen Plan realisierte, lässt sich derzeit nicht beantworten. In der Tabelle ist zusätzlich markiert, welche Lieder Amalie Joachim in ihre  vierbändige Notenausgabe Das deutsche Lied von 1891 übernommen hatte, die als Begleitpublikation  zu  ihren  Konzerten  bei  Simrock  in  Berlin  erschien.16  Wieso  diese Bände nur wenige Schubert-Lieder enthalten, erklärt sich aus der Tatsache,  dass Schubert-Noten gut greifbar waren. Darauf verweist auch Heinrich Reimann,  ihr Klavierbegleiter und Herausgeber des Bandes, im Vorwort. 1885 war im Verlag Peters die Ausgabe von Max Friedländer erschienen. Diese ersetzte die bis dahin  gebräuchliche  Diabelli-Ausgabe  und  widerspiegelt  vor  allem  im  ersten  Band  die  damaligen Sängervorlieben.17 Die Funktion von Reimanns Edition bestand darin, das durch Amalie Joachims Konzerte populär gewordene und teilweise zum ersten  Mal gedruckte Liedrepertoire für den häuslichen Gebrauch zugänglich zu machen.  Diese Zielsetzung lässt sich auch am historisierenden Titelblatt und an Reimanns  Klavierbegleitungen erkennen (Abbildung 4). Für  die  Liedauswahl,  die  dieser  Ausgabe  zugrunde  lag,  war  die  Kategori sierung in ‚Frauenlied‘ / ‚Männerlied‘ offenkundig ebenso wenig ein Kriterium wie  14 15 16

17

Zu Amalie Joachims Interpretation von Ganymed vgl. Max Steinitzer, Meister des Gesangs, Berlin 1920, S. 185. Vgl. Amalie Joachims Brief an Joseph Joachim vom Winter 1874/75, Autograph, Hamburg,  Staats- und Universitätsbibliothek, Signatur: BRA: B3: 353. Die ersten beiden Bände erschienen 1891 (Berlin: Simrock Nr. 9621-22) und die Bände 3 und  4 1893 mit zusätzlichen Quellenangaben (Berlin: Simrock Nr. 10010-11); Volksausgaben dieser Bände und zweisprachige Editionen in Englisch und Deutsch (Elite Edition Nr. 626). Vgl.  Beatrix Borchard, „Amalie Joachim und die gesungene Geschichte des deutschen Liedes“, in:  Archiv für Musikwissenschaft 58 (2001), S. 265–299. Vgl. dazu Miklós Dolinsky, „Die schöne Müllerin – eine authentische Fälschung? Neue Dokumente zur Vorgeschichte der Diabelli-Ausgabe“, in: Die Musikforschung 52 (1999), S. 322– 330.

Frauenlieder – Männerlieder?

193

Abbildung 4: Das deutsche Lied (1891), Titelseite

für Amalie Joachims Konzertprogramme, zumal sich – wie bereits erwähnt – diese  Aus gabe nicht an professionelle KonzertsängerInnen wandte. Die Schubert-Ausgabe, die Pauline Viardot-Garcia 1873 in Paris herausgab, ist  in mehreren Ausgaben erschienen und wurde neben ihrer École classique du chant zu einer ihrer wichtigsten Veröffentlichungen (Abbildung 5).18 Pauline Viardot entstammte der berühmten Sängerfamilie Garcia. Sie war seit ihrem Debüt im Dezember 1837 eine international agierende Künstlerin. 1863 hatte sie sich von der Bühne zurückgezogen, trat jedoch weiter im Rahmen von Konzerten, vereinzelten Gastspielen und vor allem in Salons auf. Gleich ihre erste Konzerttournee hatte sie nach  Deutschland geführt. Auf dieser Reise komponierte sie auch die ersten deutschen  18

Pauline Viardot, Cinquante Mélodies de Franz Schubert, traduites par Louis Pomey, avec annotations et sous la direction de Mme Pauline Viardot, Paris [1873]; dies., École classique du chant [1861]. Die École classique du chant umfasst neben gesangstechnischen Hinweisen 75 Gesangsstücke verschiedener Gattungen (mit Klavierbegleitung) des 17. bis 19. Jahrhunderts. Vgl. Christin Heitmann, Pauline Viardot. Systematisch-bibliographisches Werkverzeichnis (VWV), Hochschule  für  Musik  und  Theater  Hamburg,  seit  2012,  Online-Datenbank:  http:// www.pauline-viardot.de/Werkverzeichnis.htm (Aufruf: 3. Juni 2013), VWV 6001–6075.

194

Beatrix Borchard

Abbildung 5: Cinquante Mélodies de Franz Schubert, hrsg. von Pauline  Viardot-Garcia (Paris 1873), Titelseite

Gedichte.19 Abgesehen von ihren Briefen zeigen bereits diese frühen Vertonungen deutschsprachiger Texte ihre Vertrautheit mit der deutschen Sprache. Von 1863 bis  zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 hatte sie mit ihrer Familie  in Baden-Baden gelebt. Dort unterrichtete sie in erster Linie weibliche Sänger aus  aller Welt und komponierte intensiv. Nach dem Sturz der ‚Commune‘ nach Frankreich zurückgekehrt, beteiligte sie sich nicht an der politisch – auch für das Musikleben – eingeforderten Abgrenzung gegen alles Deutsche. Wenn also zwei Jahre  nach dem verlorenen Krieg eine zweisprachige Ausgabe von Schubert-Liedern von  ihr erschien, hatte dies durchaus auch eine politische Dimension. Allerdings reichen  die  Pläne  für  eine  solche  Edition  in  die  frühe  Baden-Badener  Zeit  zurück,  wie  Christin  Heitmann  rekonstruiert  hat.  Pauline  Viardot-Garcia  hatte  am  31.  Januar  1865 an der Schubertfeier der Stuttgarter Künstlergesellschaft „Strahlendes Berg19

Während Pauline Garcias Deutschlandreise von Mai bis Oktober 1838 entstanden drei UhlandLieder: Die Kapelle (VWV 1017), Seliger Tod (VWV 1022) und Des Knaben Berglied (VWV  1030). Vgl. Heitmann, VWV (Anm. 18).

Frauenlieder – Männerlieder?

195

werk“ teilgenommen. Zwei Monate später, am 8. März, schrieb sie an den Leipziger  Verleger Barthold Senff: „J’ai à faire un choix d’une 40.ne de Lieder de Schubert,  et je viens vous prier de m’envoyer à cet effet la collection entière.“ Und am 14.  April  wandte  sie  sich  ein  zweites  Mal  in  dieser  Sache  an  ihn:  „les  Lieder  de  ce  maître [Schubert], que je désirais faire un choix d’une quarantaine à peu près pour  une  collection  que  mon  Editeur  de  Paris  va  faire  paraître.“20 Laut  Christin  Heitmann  ergibt  die  Datierung  der  Plattennummer  nach  Devriès  und  Lesure  den  Erscheinungszeitraum 1868/1869. Wahrscheinlich waren es nicht nur Kriegsgründe,  die die Verzögerung der Veröffentlichung verursacht haben.21 Bekanntlich gelten Adolphe Nourrit und sein Schüler Pierre Francois Wartel als  die ersten, die zu Beginn der 1830er Jahre in Frankreich Schubert-Lieder in Salons  und in instrumentierten Fassungen im Rahmen von öffentlichen Konzerten sangen.22 Wahrscheinlich wurde Nourrit durch Liszts Klavierarrangement des Erlkönigs  auf  Schuberts  Lieder  aufmerksam  (1833/1834).  Nourrits  bevorzugte  Lieder  waren Ave Maria, Die junge Nonne, Gretchen am Spinnrade und Die Gestirne.23 In  drei  dieser  Lieder  spricht  ein  weiblich  markiertes  Ich.  Aufgrund  mangelnder  Deutschkenntnisse war der Tenor auf (teils veröffentlichte, teils von Freunden eigens angefertigte) Übersetzungen angewiesen. Auch sein Schüler Francois Wartel  sang nur französische Übersetzungen,24 selbst in Wien (u. a. den Erlkönig). Pauline  Viardot-Garcia kann indes als die erste französischsprachige Sängerin gelten, die  Schubert-Lieder im Original sang. Sie kannte Nourrit bereits als Kind. Er war Schüler ihres Vaters Manuel Garcia, und sie begleitete schon in jungen Jahren seinen  Unterricht am Klavier. Gemeinsam mit dem Tenor studierte sie die ersten SchubertLieder, die in Paris bekannt wurden.25 In ihrem Vorwort stellt Viardot-Garcia Schuberts Lieder, die sie auch im Französischen „lieder“ nennt und nicht wie auf dem Titelblatt gedruckt „mélodies“, über  alle anderen nationalen Liedtraditionen wie italienische Canzoni, englische Songs,  französische  Mélodies  oder  spanische  Boléros  (Abbildung  6).  Ihre Ausgabe  begründet sie vor allem mit neuen Übersetzungen und gesangstechnischen Hinweisen, die speziell auf die französische Version zugeschnitten seien.

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Beide Briefe wurden bisher nur im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses zu Pauline Viardot-Garcia  veröffentlicht;  US-Wc,  Moldenhauer  Archives,  Box  55.  Vgl.  Heitmann,  VWV (Anm. 18). Vgl. ebenda, Kommentare zur Werkgruppe Editionen / 50 Mélodies de Franz Schubert, VWV  6101–6150. Vgl.  Walther  Dürr  und Andreas  Krause,  „Die  Schubert-Rezeption  außerhalb  des  deutschen  Sprachraums“, in: Schubert-Handbuch, S. 128–129. Zum Folgenden vgl. auch David Tunley,  Salons, Singers, and Songs. A Background to Romantic French Song 1830–1870, Aldershot 2002. So sang Nourrit am 18. Januar 1835 La Religieuse (Die junge Nonne) im Rahmen der Konzerte der Société des concerts du Consérvatoire.  Als Übersetzer war Bélanger, der zahlreiche Schubertlieder (u. a. Die Forelle, Sei mir gegrüßt, Erlkönig) übersetzt hatte, besonders bedeutend. Malcom Macinlay Sterling, Garcia the Centenarian and his Times, Edinburgh 1908, S. 94.

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Abbildung 6: Cinquante Mélodies de Franz Schubert, hrsg. von Pauline Viardot-Garcia  (Paris 1873), Vorbemerkung „Franz Schubert“26 26

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„Wir glauben Schuberts Bewunderern einen Gefallen zu tun, und ihm ein würdiges Denkmal  zu errichten, in dem wir 50 Lieder unter 300 ausgewählt haben, die sein Hauptwerk darstellen,  und die nur teilweise zu seinen Lebzeiten gedruckt wurden. Der vollkommen neuen französischen Übersetzung der Worte, so getreu wie möglich der Musik angepaßt, fügen wir den deutschen  Text  hinzu.  Die  Gesangsanweisungen  sind  speziell  für  die  französische  Fassung  gemeint.“ Vgl. Anm. 14.

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Abbildung 7: Cinquante Mélodies de Franz Schubert, hrsg. von Pauline Viardot-Garcia (Paris 1873), Inhaltsverzeichnis 

Ihre  Titelwahl  ist  nicht  identisch  mit  handschriftlichen  Abschriften  von  elf  Schubert-Liedern in ihren Arbeitsheften.27 Sie erklärt sich auch nicht, soweit derzeit überschaubar, aus dem, was auf dem französischen Markt an Schubert-Noten greifbar war und was nicht. Entscheidend waren wohl eher ihre eigene sängerische Praxis sowie der Kontext ihres Unterrichts. An ihrer Auswahl fällt außerdem auf, dass 27

Vgl. Antoine Virenque, „Pauline Viardot et Schubert“, in: Cahiers Ivan Tourguéniev, Pauline Viardot, Maria Malibran 2 (1978), S. 102–108, bes. S. 103 und 105.

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Abbildung 8: Elena Gerhardt (1883–1961), 1946

sie Lieder aus allen Schaffensperioden Schuberts beinhaltet – ein Hinweis darauf,  dass Pauline Viardot-Garcia auch einen Eindruck von der Entwicklung Schuberts  im Bereich der Liedkomposition vermitteln wollte.  Öffentlich sang sie selber sehr oft mit prominenten Begleitern, beispielsweise  mit Franz Liszt, Clara Schumann oder mit Camille Saint-Saëns den Erlkönig auf Deutsch und Französisch,28 Gretchen am Spinnrade und den Doppelgänger, also sehr  dramatische  Lieder  bzw.  Balladen,  die  bereits  vor  ihr  von  Sängerinnen  wie  Anna Milder-Hauptmann, Karoline Unger-Sabatier, Wilhelmine Schroeder-Devrient für eine Darbietung im Konzertsaal als ‚Liedinseln‘ innerhalb von Mischprogrammen bevorzugt wurden. In ihren Salons hingegen stellte Viardot-Garcia regelmäßig weniger bekannte Schubert-Lieder vor, behandelte sie auch in ihrem Unterricht. Der Vergleich der Ausgaben in einer tabellarischen Gegenüberstellung zeigt, dass es nicht viele Überschneidungen zwischen der Schubert-Auswahl von Pauline  Viardot-Garcia und Amalie Joachim gibt (Tabelle 2; Abbildung 8). Auch für Pauline  Viardot-Garcia  spielen  geschlechtsspezifische  Zuordnungen  keine  entscheidende Rolle, obwohl die Hauptadressaten ihrer Ausgabe vor allem weibliche Schüler waren, die eine professionelle Karriere anstrebten. Die dritte Spalte zeigt das  Repertoire von Julius Stockhausen. Diese Aufstellung aus der Dokumentarbiographie seiner Tochter Julia Wirth ist nicht vollständig, gibt aber bezogen auf die vor28

Virenque zitiert einige Zeugnisse für den tiefen Eindruck, den besonders Pauline Viardots Interpretation des Erlkönigs bei den Zuhörern hinterlassen habe, ebenda S. 102–103. 

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liegende Fragestellung zumindest eine Orientierung.29 Druckausgaben hat Stockhausen nicht vorgelegt. In seiner privaten Gesangsschule in Frankfurt arbeitete er  mit den Peters-Ausgaben und dann auch mit den Ausgaben von Amalie Joachim.  An der tabellarischen Gegenüberstellung lässt sich ablesen, wie wenige Lieder alle  drei in ihrem Repertoire gehabt haben. Laut Reinhold Brinkmann war die wesentliche Funktion des Liedes im 19. Jahrhundert die „künstlerische Repräsentation von Subjektivität“.30 Wenn auch im 19. Jahrhundert das Subjekt ausschließlich männlich gedacht war, kann man nach bisherigem Kenntnisstand aus der Perspektive von Sängern und Sängerinnen sagen: Entscheidend war nicht, wer was angeblich durfte oder auch nicht, sondern wer was wann wo und wie singen konnte. Sänger – gleich, welchen Geschlechts – sahen ihre durchaus auch kulturpolitisch verstandene Aufgabe darin, das Publikum mit dramaturgisch ausgefeilten Programmen auf der Basis des bereits Bekannten mit der Fülle der Erscheinungen bekannt zu machen. Der größte Einschnitt für den Wandel des Selbstverständnisses von Interpreten war zweifelsohne die Durchsetzung der Reproduktionsmöglichkeiten des eigenen Spiels und des Gesangs durch die Erfindung der Schallplatte. Eine unmittelbare Auswirkung auf Repertoirefragen hatte sie nicht. Heute ist das anders, da auf Tonträgern ein unvergleichlich breiteres Repertoire zur Verfügung steht als das, was im Konzertsaal zu hören ist. III. ‚GENDERISIERUNG‘ DES REPERTOIRES Wann sich die Vorstellung durchsetzte, dass das Liedrepertoire ‚gegendert‘ sei, lässt sich kaum bestimmen. Die bereits erwähnte Franziska Martienssen-Lohmann, eine der einflussreichsten deutschen Gesangspädagoginnen bis in die 1960er Jahre, unterscheidet mit ihrer Stellungnahme zu diesem Thema in Stimme und Gestaltung zwischen Sängerinnen „großen Stils“ und „echt weiblichen“ Sängerinnen: „Die Komponisten haben den Liedern, die der Frau in den Mund gelegt sind, immer einen spezifisch weiblichen Charakter gegeben, der in Häufung eben leicht allzu weiblich und damit einförmig wirkt. Die ‚männlichen‘ Lieder […] bieten eine unvergleichlich höhere Spannweite der wechselnden Empfindung. […] Das Format entscheidet. Hat sie [die Sängerin] die Kraft, ihr Frauentum ins Allgemeinmenschliche, ihr Ich ins Überpersönliche zu steigern, so hat ihr niemand mehr die Grenzen der Körperlichkeit vorzuhalten. Die anderen aber bleiben besser in ihren Grenzen. Schuberts Atlas von ‚echt weiblichem‘ Munde gesungen, ergäbe eine Jammerszene.“31

Franziska Martienssen-Lohmann argumentiert nicht mit der Forderung nach Geschlechtsidentität sondern mit der Glaubwürdigkeit der Darstellung. Was jedoch wem als glaubwürdig erscheint, ist, wie es das Wort schon sagt, eine Frage des Glaubens, damit vom einzelnen Rezipienten abhängig und einem historischen Wan29 30 31

Wirth-Stockhausen, Julius Stockhausen, Anhang (Anm. 9). Brinkmann, „Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert“ (Anm. 4), S. 18. Vgl. Martienssen-Lohmann, Stimme und Gestaltung (Anm. 11), S. 236 (Hervorhebung original).

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del unterworfen. Aufschlussreich an ihrer Argumentation ist, dass auch sie im ‚Weiblichen‘ das ‚Nichtallgemeinmenschliche‘ sieht. Mit der Position von Martienssen-Lohmann korrespondiert eine Äußerung aus den 1950er Jahren, und zwar von Elena Gerhardt (1883–1961). Gerhardt kann als eine der führenden Liedsängerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten. Sie floh vor den Nationalsozialisten nach England und gab, begleitet von Myra Hess, mitten im Zweiten Weltkrieg in der ausgeräumten National Gallery Liederabende auf Deutsch, während etwa die BBC keine deutschen Lieder senden durfte. Sie verkörperte – mit Erlaubnis der Behörden – gleichsam das bessere, das ‚eigentliche‘ Deutschland. Nicht zuletzt diese Ausnahmestellung zeigt die ihr zugeschriebene Bedeutung als Konzertsängerin. „Auf der Suche nach neuen Liedern, um mein Repertoire zu vergrößern, las ich immer zuerst die Gedichte, um herauszufinden, ob sie von einer Frau aufgeführt werden konnten. Dies allein war eine interessante Untersuchung. Die Ansicht ist häufig anzutreffen, dass für Männer geschriebene Lieder nicht von Frauen gesungen werden sollten. Dem stimme ich nicht ganz zu. Es gibt viele Lieder, die in ihrem Ausdruck ziemlich neutral sind und bei denen es keine Rolle spielt, ob ‚er‘ oder ‚sie‘ im Text erscheint. Wenn eine Frau die Stärke und Stimme besitzt, die Worte eines Mannes richtig zu interpretieren, wird es niemals lächerlich klingen. Doch gewöhnlich ist das der Fall, wenn ein Mann eine Frauenstimme imitiert. Warum, z. B. sollte eine Frau nicht Schuberts ‚Der Einsame‘ singen? Es könnte genauso gut ‚Die Einsame‘ sein, da eine Frau alleine vor dem Feuer sitzen kann, die im Gedicht beschriebene Einsamkeit genießend. Es gibt Dutzende weitere Lieder dieser Art in Schuberts Schätzen. Doch ein Zyklus wie seine ‚Müllerin-Lieder‘ sollte einem Mann zum Singen überlassen sein, da diese Lieder fast durchweg an eine Frau gerichtet sind. Für Robert Schumanns Zyklus Dichterliebe gilt das Gleiche. Doch ich habe eine andere Meinung über Schuberts Winterreise. Dieser Lieder-Zyklus kann gut von einer Frau interpretiert werden. Er bringt unglückliche Liebe, Hoffnungslosigkeit und Resignation darüber zum Ausdruck, dass das Leben nichts mehr bereithalten kann, wofür es sich zu leben lohnte. Warum sollte eine Frau, die diese Gefühle verstehen kann, nicht in der Lage sein, diesen Zyklus aufzuführen? Für mich ist die Psychologie dieses Zyklus die von unglücklicher Liebe überhaupt und hängt nicht von einem besonderen männlichen oder weiblichen Zugang ab. Aber es gibt einen anderen Lied-Typus, der nur von Männern gesungen werden sollte. Das ist derjenige, der eine männliche Farbe und gelegentliche Härte erfordert, wie z. B. in Franz Schuberts ‚Der Atlas‘. Ich sang dieses Lied, das ich schon lange liebte, noch ehe ich es auf die Idee von Nikisch und Bos hin aufführte – und es war ein enormer Erfolg! Denn ich konnte meine Stimme verdunkeln und ihr das nötige Gewicht verleihen und wich auch nicht zurück vor dem Erzeugen harter Töne um der Charakterisierung willen. Nur wenige Frauenstimmen verfügen über diese Farbenbreite, oder deren Besitzerinnen haben keinen Mut, sie zu benutzen. Deshalb denke ich, Lieder dieser Art sollten Männern überlassen sein. Gewöhnlich respektiere ich diese Grenzlinie, außer wenn die Schönheit einer Komposition mich dazu bringt, sie zu übertreten, z. B. Hugo Wolfs ‚Und willst du deine Liebsten sterben sehen‘ oder ‚Der Mond hat eine schwere Klag’ erhoben‘. Ich hoffe, mein Vortrag dieser Lieder rechtfertigte diese Grenzübertretung.“32

Der Begriff „Grenzübertretung“ zeigt deutlich, dass Elena Gerhardt nicht wie ihre Kolleginnen fünfzig Jahre zuvor davon ausging, dass ihr die gesamte Liedliteratur zur Verfügung stand und dass die Repertoire-Auswahl nur durch ihre sängerischen Fähigkeiten begrenzt war. Es ist kein Zufall, dass Max Steinitzer, der sie als poten32

Elena Gerhardt, Mein Lieder-Leben. Memoiren, hrsg. von Jutta Raab Hansen, Altenburg 2012, S. 160.

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zielle Nachfolgerin von Amalie Joachim sah, gerade auch ihren Namen nennt, wenn er beklagt, dass im Konzertsaal immer nur die gleichen Lieder gesungen würden.33 Argumentierend mit den Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen Stimme reklamiert Gerhardt für sich selbst eine Ausnahme von einer nicht hinterfragten Regel. Geschlechtsspezifische Denkmuster stehen in ihren Überlegungen pragmatischen sowie künstlerischen Aspekten gegenüber: Erweiterungsmöglichkeiten des Repertoires und der eigene Ausdruckswille. Aufschlussreich an dieser Äußerung ist auch die Berufung auf männliche Autoritäten, hier auf den Dirigenten Artur Nikisch und ihren niederländischen Klavierbegleiter Coenraad V. Bos. Diese teilten ihre Bedenken offenkundig nicht und gaben ihr gleichsam die ‚Erlaubnis‘ zu dem, was sie als Grenzüberschreitung interpretierte. Und die umgekehrte ‚Grenzüberschreitung‘? Franziska Martienssen-Lohmann: „Den männlichen Sängern fällt es kaum ein, weibliche Lieder zu wählen: ‚Ach süße Mutter, ich kann nicht spinnen‘ oder ‚An meinem Herzen, an meiner Brust‘ würde auf männlichen Lippen doch gar zu sehr fehl am Orte erscheinen.“34 Elena Gerhardt spricht sogar von Lächerlichkeit. Lächerlich jedoch wird das abwertend genannt, was nicht unseren Vorstellungen entspricht, unsinnig erscheint. Wie bereits erwähnt, sang Adolphe Nourrit mit Vorliebe Die junge Nonne und Gretchen am Spinnrade, Julius Stockhausen hatte Schumanns Frauenliebe und Leben im Repertoire. Ein aktuelles Beispiel kenne ich nicht. Als ich als Experiment für eine Rundfunksendung den Redakteur der Sendung bat, einen männlichen Sänger für Frauenliebe und Leben zu finden, war nur der Schweizer Tenor Christoph Homberger, begleitet von Christoph Keller, dazu bereit. Diese Vorbehalte, selbst gegenüber einem Experiment, zeigen, wie tabuisiert heute bzw. wie sehr mit der Assoziation Homosexualität behaftet ein crossing gender ist, wenn es um ‚Weibliches‘ geht. Tatsächlich war dann auch das Ergebnis der Aufnahme zunächst eine bewusst ins Lächerliche gezogene ‚schwule Karikatur‘ der Lieder, dann eine ‚seriöse‘ Darbietung. IV. SINGEN ALS DOING GENDER Jede/jeder, die oder der in Liederabende geht, weiß, wie groß der Anteil des „Theaters im Konzertsaal“ (Adolf Weissmann) ist und wie freudig das Publikum bereits auf zurückhaltend angedeutete Ansätze theatralischen Agierens von SängerInnen reagiert, sie geradezu herausfordert. Da rufen deutlich anderen als modernen Zeit zugehörige erotische Szenen wie sie in Liedern wie Der Kuß von Beethoven oder in den zahlreichen vergeblichen Ständchen von Johannes Brahms komponiert sind, schallendes Gelächter eines ansonsten auf Andacht gestimmten Publikums hervor. Niemand denkt über klischeehafte Geschlechterbilder in den Texten nach, niemand stört sich an Gesten und Körperhaltungen, die an überholt geglaubten Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern orientiert sind. Denn hier handelt es sich um ein 33 34

Vgl. Steinitzer, Meister des Gesangs (Anm. 14), S. 186. Vgl. Anm. 31.

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offenkundiges doing gender. Die Differenz zwischen der Frau oder dem Mann auf der Bühne und der dargestellten Männlichkeit bzw. Weiblichkeit ist Teil der Performance. Sie gehört mit zu den – wie ich sie nennen möchte – Spiel- und Denkräumen, die Kunst den Singenden und den Zuhörenden eröffnet. Personen erwerben – in der Regel – im Laufe ihres Lebens eine geschlechtliche Identität. Das gilt auch für die Körper der Singenden, nicht jedoch notwendigerweise für ihre Stimmen. So galt etwa auch im 19. Jahrhundert die Altstimme als ‚geschlechtsambivalent‘ bzw. als ‚objektiv‘,35 wie nicht zuletzt die Besetzungspraxis von Glucks Orpheus-Partie zeigt.36 Dank dieser Zuschreibung war auf der Bühne der Spielraum für Mezzosopranistinnen und Altistinnen sehr viel größer als etwa für Sopranistinnen. Im Bereich der Oper lässt sich seit geraumer Zeit eine interessante Entwicklung verfolgen: Nachdem – wie vor allem Rebecca Grotjahn anhand der Untersuchung von Gesangsschulen festgestellt hat37 – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Höhepunkt der Gesangsschule von Franziska Martinsen-Lohmann – da sind wir dann in der Mitte des 20. Jahrhunderts – in der Gesangspädagogik sowohl die Frauen- als auch die Männerstimmen möglichst geschlechtseindeutig gemacht wurden, leben wir nun in einer Zeit – nicht zuletzt dank der Wiederentdeckung der Barockoper –, die an dem Spiel mit Geschlechtszuweisungen erneut Geschmack gefunden hat. Die Trennung zwischen dem Geschlecht des Körpers des Sängers und seiner Stimme wird zu einem eigenen ästhetischen Reiz, aber auch zu einer Irritation und Gegenstand der immer gleichen auf die Sexualität des Sängers gerichteten Interviewfragen, die etwa Countertenöre oder männliche Altsänger beantworten müssen. Singen als doing gender wird dem Publikum gleichermaßen vorgeführt, auch wenn – historisch gesehen – in der Barockoper etwa die hohe Stimme durchaus nicht geschlechtlich konnotiert ist, sondern den Rang der Bühnenfigur charakterisiert. Auch in der zeitgenössischen Oper gewinnt der Geschmack an Geschlechtsambivalenz immer mehr Raum, allerdings sehr oft verknüpft mit der Charakterisierung von Homosexualität oder wie in Reimanns King Lear des ‚Ver-Rücktwerdens‘ der Figur des Edgar – also der Abweichung von sogenannter Normalität. Bühnen- und Konzertgesang kreieren jedoch verschiedene Räume. Ohne Maske, Kostüm und Rolle, deren geschlechtsspezifische Markierung durch Libretto und Komponist festgelegt sind, tritt im Konzertsaal der Sänger/die Sängerin – so 35

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Bezogen auf das Wiener Debüt der Altistin Hermine Spies 1886 heißt es in einer Kritik: „Das  Objective und gewissermaßen Geschlechtslose, welches dem Klangcharakter ihres Organs eigenthümlich  ist,  erlaubt  Fräulein  Spies  die  gesamte  Menschennatur,  soweit  sie  im  lyrischen  Gesange sich erschöpfen läßt, zur Darstellung zu bringen.“ Zitiert nach Minna Spies, Hermine Spies. Ein Gedenkbuch, 3. Aufl. mit Anhang, Leipzig 1905 (1. Auflage: Stuttgart 1894), S. 136. Vgl. Beatrix Borchard, „Mehr als eine Sängerin: Kulturschöpferin. Pauline Viardot-Garcia, der  Künstlerdiskurs in George Sands Consuelo und die Orpheus-Figur“, in: Singstimmen. Ästhetik, Geschlecht, Vokalprofil, hrsg. von Anno Mungen und Saskia Maria Woyke, Laaber [Druck in  Vorbereitung] (Thurnauer Schriften zum Musiktheater). Rebecca Grotjahn, „‚Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei große Kategorien‘.  Die  Konstruktion  des  Stimmgeschlechts  als  historischer  Prozess“,  in:  Puppen, Huren, Roboter. Körper der Moderne in der Musik 1900–1930, hrsg. von Sabine Meine und Katharina  Hottmann, Schliengen 2005, S. 34–57.

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die Vorstellung – als Person den Zuhörenden entgegen. Das gilt besonders für den öffentlichen Liedgesang. Auf ‚Personen‘ aber richten sich gesellschaftliche Erwartungen an Geschlechtseindeutigkeit, gerade auch in einer Zeit, in der sehr viel über transgender nachgedacht wird. V. SINGEN ALS UNDOING GENDER Wenn Frauen heute Kunstliedern eine Stimme geben, in denen ein durch den Text männlich markiertes Ich singt, dann nicht als ‚Als-ob-Mann‘, sondern sie machen hörbar, dass die beispielsweise in Schubert-Liedern künstlerisch verarbeiteten Erfahrungen nicht ausschließlich männlich, sondern menschlich sind. Sie erobern sich also das gesamte Repertoire zurück, indem sie den historischen Prozess der ‚Genderisierung‘ als überholte Denk- und Hörgewohnheit entlarven, der mit der Intention der Komponisten und Komponistinnen kaum etwas zu tun hat, denn einkomponierte Stimmlage ist eben nicht identisch mit biologischem Geschlecht. Warum jedoch singen dann vice versa heute anders als im 19. Jahrhundert männliche Sänger zwar wieder Wagners Wesendonck-Lieder wie Jonas Kaufmann, aber keine Lieder, in denen ein weibliches Ich spricht, das ja, wie bereits bemerkt, im Kunstlied zumeist ein fast ausschließlich von männlichen Schriftstellern und männlichen Komponisten entworfenes Rollen-Ich ist? Stellt man diese Frage an Gesangslehrende und Interpreten, ist wieder die Rede von mangelnder ‚Authentizität‘, während die Sopranistin Christine Schäfer nur noch ganz vereinzelt darauf verwiesen wird, dass die Winterreise ‚eigentlich‘ ein Männerzyklus sei. Es stimmt nachdenklich, dass anders als auf der Opernbühne im Liedgesang vorläufig eher Frauen die zurückgewonnenen Spiel- und Denkräume nutzen.

BERGHAUS’ FIERABRAS Die späte Moderne der zwanziger Jahre Manuela Jahrmärker Die Aufführung einer Schubertschen Oper, die mit Bravo-Rufen endet, deren nachdrücklichste der Regisseurin gelten und die also ein Publikum signalisieren, das nicht bloß überzeugt und angetan, sondern mitgerissen ist? Ruth Berghaus ist dies zusammen mit dem Bühnenbildner Hans-Dieter Schaal und der Kostümbildnerin Marie-Luise Strandt 1988 mit ihrer Inszenierung von Franz Schuberts Fierabras (1823) für die Wiener Festwochen gelungen.1 Sich dieser Inszenierung und im Besonderen der Chorbehandlung analytisch anzunehmen, ist in mehrfacher Hinsicht Hans-Joachim Hinrichsen geschuldet: Denn nicht allein Schubert, sondern auch die Aufführungsanalyse gehört zu einem seiner Spezialgebiete. Darüber hinaus hat er mit seiner Studie über Hans von Bülow wohl – die vorsichtige Formulierung sei der Korrektheit halber gestattet – die erste große Arbeit in diesem Bereich überhaupt vorgelegt und mit ihr zugleich vorgezeichnet, was sich – durchaus auf dem Boden der tradierten musikalischen Analyse und gestützt auf das Notierte und damit Nach- und Beweisbare – auch über das flüchtige Phänomen der Aufführung an Erkenntnis gewinnen lässt.2 Eben diesen Bereich beginnt sich die Musikwissenschaft erst in den letzten Jahren auf breiterer Ebene als eigenständiges Gebiet zu erschließen. Aufführungsaspekte innerhalb der Musikwissenschaft zu untersuchen, ist allerdings keineswegs völlig neu, war bislang jedoch an den Moment des Besonderen und Außergewöhnlichen gebunden, sei es – um Beispiele aus dem Theater anzuführen –, dass es sich um den Inszenierungsstil in Meiningen oder von Bayreuth handelte, sei es, dass dies berühmte Sänger mit einem genügend aufsehenerregenden Privatleben wie Maria Callas betraf. Die Inszenierung als eigener Bestandteil des Werkes – und nicht etwa als Realisierung eines Schrifttextes – ist dagegen zumindest von einigen 1

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Die  Inszenierung  am  Theater  an  der  Wien,  musikalisch  verantwortet  von  Claudio Abbado,  wurde vom ORF aufgenommen und 1989 im ZDF gesendet; sie beruhte auf der Zusammenarbeit der Wiener Staatsoper und der Opéra National de la Monnaie, Brüssel. Ein Interview mit  Abbado zu dem Werk in: Liane Speidel, Franz Schubert – ein Opernkomponist? Am Beispiel des „Fierrabras“, Wien etc. 2012, S. 172–175 (dem Titel zum Trotz bleibt der szenische Aspekt des Werkes und seiner Inszenierung völlig unberücksichtigt). – Dem bis dahin allgemein  üblichen Usus folgend, wurde der Titel Fierabras im Zusammenhang mit der Wiener Aufführung mit zwei „r“ geschrieben. Hier ist dies entsprechend der NGA II:8 (hrsg. von Christine  Martin, 2009) richtiggestellt; auf diese Ausgabe beziehen sich die Nummern- und Taktangaben  im weiteren Text.  Hans Joachim Hinrichsen, Musikalische Interpretation. Hans von Bülow, Stuttgart 1999 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 46).

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Einzelnen schon weit länger anerkannt. Denn nicht erst dank der sogenannten Rezeptionsästhetik und ihrer Debatten über die Ontologie des Kunstwerks in seinen verschiedenen Daseinsformen, sondern mindestens seit Richard Wagner und dessen Schrift Über die Aufführung des „Tannhäuser“ (1852) ist alles Szenische auch argumentativ als Teil des Werkes von prominenter Seite bestätigt, formulierte er darin doch den berühmt gewordenen Satz, dass „das Werk […] erst da seiner wirklichen Ausführung entgegengeht, wo es zur unmittelbaren Darstellung an die Sinne vorbereitet wird“.3 Dagegen zeigte Verdi in der Praxis, dass er denselben Grundgedanken vertrat, wenn er größten Wert auf die Regiebücher für seine Werke legte. Die heutige Umgangssprache schließlich hat die Wertung der Aufführung als werkhaft mit Formulierungen wie „der Ring von Chereau“, „Die Psalmensymphonie von Mariss Jansons“ längst zum anerkannten Faktum erklärt. In gleicher Weise lässt sich vom ‚Fierabras der Ruth Berghaus‘ sprechen: wobei im Sinne einer These, die es im Weiteren zu belegen gilt, über den stets damit implizierten Werkcharakter hinaus ein eigener Kunstcharakter gemeint ist. Berghaus geht vom Original aus, wie es für ihre Generation von Regisseuren selbstverständlich war,4 und baut darauf ihre Konzeption auf. Dabei gibt die fast leere Bühne trotz des tradierten und bei ihr weiterhin gültigen Prinzips der Einfühlung bereits die – für Berghaus typische – Grundrichtung weg von Illusionismus und Realismus an. So lässt sie nicht allein das Drama, also die Geschichte eines Kreuzzugs und zweier Liebespaare, sich entfalten, wobei sie sowohl auf Details der Aktion einging, als auch die Übereinstimmung von Gehörtem und Gesehenem anstrebte. Diesem Aspekt, der gleichsam die handwerkliche Korrektheit belegt, fügte Berghaus, die in der Schule Gret Paluccas zur Tänzerin ausgebildet worden und zunächst als Choreographin tätig war, als ein Markenzeichen ihres Inszenierens die choreographierte Bewegung hinzu.5 Sie fasst die Szenen zu großen Bildkomplexen zusammen, die von der kontrollierten Bewegung in meist gemessenem Tempo und vom Stillstand als Skulptur bzw. als Tableau oder deren Gleichzeitigkeit bzw. 3

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Richard Wagner, „Über die Aufführung des Tannhäuser“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volks-Ausgabe, Leipzig [1911–1914], Bd. 5, S. 123. Dazu Manuela Jahrmärker, „Über die  Aufführung des Tannhäuser“,  in:  Das Wagner-Lexikon, hrsg. von Daniel Brandenburg u. a., Laaber 2012, S. 756–757.  „Warum ein Rhythmus, ein Vers, warum Wort-Ton – das versuche ich zu finden und zu fassen.  Ich komme nicht mit einem Gedanken zum Stück. Ich finde den Gedanken im Stück“, so Berghaus in einem Interview etwa zwei bis drei Jahre vor dieser Inszenierung; in: Georg-Friedrich  Kühn, „‚… zeigen, daß, wenn Menschen in Bewegung sind, sie sich auch in sich selbst bewegen …‘. Das Musiktheater der Ruth Berghaus“, in: Musikalische Zeitfragen 17 (1986), S. 97. Die Inszenierungen von Berghaus werden generell als „gleichsam choreographiert“ beschrieben (ebenda, S. 85). Deren Charakteristikum sei, so Wolfgang Willaschek zu den Verdi-Inszenierungen von Berghaus, „die choreographisch wie dramatisch bestechende, Nerven aufwühlende und unter die Haut gehen Versinnlichung und Versinnbildlichung von Partituren“, Wolfgang Willaschek, „‚Regietheater‘ und Film. Zur Wirkungsgeschichte von Verdis Opern“, in:  Verdi Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Kassel und Stuttgart 2001, S. 551. – Eine erste Arbeit, die die Chor-Regien von Berghaus in einigen Werken, darunter der  Fledermaus, dem Wozzeck und Pelléas et Mélisande beschreibt, stammt von Friederike Nöhring, Bewegungsbiographie. Choreographische Chorarbeit bei Ruth Berghaus und ihre Inszenierungen von Musik, Berlin etc. 2011.

Berghaus’ Fierabras

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Kontrast geprägt sind. Gerade die Abweichung vom naturalistischen Bewegungstempo verleiht dem Agieren immer wieder den Charakter des Choreographierten und Artifiziellen. Die Artifizialität bildet eine eigene künstlerische Ebene und vermag als szenisches Äquivalent einer Musik zu wirken, die gleichfalls nicht auf die unmittelbare Entfaltung des dramatischen Augenblicks zielt, sondern ihm wie im Lied Dauer zu verleihen sucht. Indem die abstrakten Formen und deren Ablauf nicht neben dem Drama herlaufen, sondern engstens mit ihm und der Musik verzahnt sind und assoziativ korrekt im Einklang mit der dramatischen Situation stehen, konnte die Inszenierung das bis dahin als für die Bühne ungeeignet geltende Werk zum Erfolg führen. Im Folgenden nun geht es um den Versuch, anhand einer Reihe von Chorszenen die Konstruktionsprinzipien von Berghaus’ Inszenieren darzustellen, um dann den Bezug zu den künstlerischen Quellen aufzuzeigen. Denn die Anregungen stammen von Palucca und reichen über diese zurück in die künstlerische Moderne der 1920er Jahre. Chorszenen sind ausgewählt, weil die Gestaltung von Menschengruppen Berghaus schon in ihren ersten Arbeiten berühmt machte: so 1958 in dem Tanzstück Zugvögel für die Palucca-Schule und 1964 in der Inszenierung von William Shakespeares Coriolan am Berliner Ensemble,6 in dem die sonst stets problematischen Schlachtszenen dank Berghaus zum Zentrum des Stückes avancierten. Auch im Fierabras konzentrierte Berghaus ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Nummern mit Chor; die Art ihrer Behandlung erstreckt sich im Sinne einer Einheit der Gestaltung allerdings ebenso auf die Soloszenen und nicht minder auf die für heutige Inszenierungen ohnehin schwierige (und in diesem Falle nicht an allen Stellen gelungene) Realisierung der gesprochenen Dialoge. Fierabras handelt von einem Kreuzzug der Christen gegen die Mauren, in die eine Liebesgeschichte eingeblendet ist, in der Emma, die Tochter König Karls, den nicht standesgemäßen Ritter Eginhard liebt, der sich im Kampf erst noch zu bewähren hat, und die Tochter des Maurenfürsten Florinda in einen christlichen Ritter, den Franken Roland, verliebt ist.7 Schon das Sujet legte also eine Choroper nahe. Josef Kupelwieser hat denn auch in 16 der 23 Nummern den Chor vorgesehen, und Berghaus dehnt seine Präsenz auf drei weitere Nummern aus (Nr. 10, 19, 20). Nun eignete sich Berghaus insbesondere für eine Inszenierung dieser Oper, da sie den Chor bzw. die einzelne Chorgruppe niemals als eine homogene Masse versteht, sondern – wie Walter Felsenstein – als eine Zusammenstellung verschiedenster Individuen auffasst, die es als solche zu führen gilt. Aber anders als dieser, der eigens 6 7

Fotos und Kritiken zu Zugvögel in Sigrid Neef, Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, S. 12–14, 18–25; zu Coriolan siehe ebenda, S. 78–82. Indem  sie  das  Wort  „Kreuzzug“  gegen  „Religionskrieg“  austauschte,  erklärte  Berghaus  das  Werk als ein heute – also in den 1980er Jahren – hochaktuelles Werk. Womöglich meinte sie  damit weniger konkrete Religionskriege, obgleich sie dies so sagte, als vielmehr die politischen  und weltanschaulichen Gegensätze Ost-West, die sie so umschrieb. Wenn sie dann weiter behauptet, die Oper handle „über die enttäuschten Hoffnungen nach 1812/13, besonders der Jugend, einer Jugend, die auf ein einiges Europa gehofft hatte“, formuliert sie allerdings nur allzu  partei- und SED-getreu, was offiziell erwünscht war. Denn damit spielt sie auf die in der DDRIdeologie wichtige, wenngleich spätere Vorbereitung der Revolution von 1848 an. So in einem  Interview zu Fierabras, das obengenannter Fernsehsendung (Anm. 1) vorangestellt wurde.

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vom Chorsolisten spricht und das Abbild einer realistischen Menge anstrebt,8 ist das Ziel von Berghaus ein abstraktes und geht zum Teil so weit, dass man vielfach von einem Spiel von Formen und Farben sprechen kann. Um dies im Zusammenhang einer Handlungsdarstellung überhaupt zu ermöglichen, müssen die Gruppen – dem Tanz verwandt – rasch identifizierbar sein. Zu diesem Zweck tragen sie im Fierabras stets dasselbe Kostüm, dessen Farblichkeit auch im Blick auf die Zusammenstellung der Gruppen gewählt ist: die Franken weiße Hosen und blaue Jacken, die an die Mode des frühen 19. Jahrhunderts erinnern; die Mauren schwarze Kleidung oder weiße Umhänge; und die fränkischen Frauen weiße Kleider mit pastellfarbenen Partien. Als Wiedererkennungszeichen haben die Franken darüber hinaus ein Kreuz erhalten, das Berghaus als optisches Leitmotiv einsetzt, das die Träger aber nicht nur als Christen kenntlich macht, sondern das sich auch wie eine Waffe gebrauchen lässt und nicht zuletzt, angestrahlt von scharfem Licht, seiner markanten Form wegen und dank seiner weißen Farbe zu raffinierten Lichteffekten genutzt wird. Wie dieses Requisit der Inszenierung berühmt wurde, so auch die Krähen, die an dieser Stelle lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt seien. Berghaus zeigt nämlich keinen realistischen Holzstoß, auf dem die Franken ihren Tod finden sollen, sondern hat dies in eine kurze Szene übersetzt, in der sie von Krähen überfallen und zu Boden gezwungen werden (Nr. 21, T. 85ff.). Wenn der Inszenierungsstil von Berghaus als „gleichsam choreographiert“ oder „wie choreographisch“ beschrieben wird,9 machen die den Vergleich einschränkenden Wörter ‚gleichsam‘ und ‚wie‘ allerdings deutlich, dass es zunächst zu bedenken gilt, was denn darunter verstanden werden kann, zumal eine Regelung des Schrittes niemals damit verbunden ist. Offensichtlich nämlich meint die Formulierung die verschiedenen Arten dessen, was als gestaltete Bewegung wirkt. Nun gilt es grundsätzlich bei jeder Inszenierung, vor allem aber bei denjenigen von Berghaus, zwischen realer und implizierter Bewegung zu differenzieren. Eine reale Bewegung ist einerseits der Positionswechsel, anderseits die Bewegung ohne Positionswechsel, wenn also jeder Einzelne den Kopf, die Glieder oder den Oberkörper bewegt. Um solche Bewegungen zu erreichen oder zu verstärken, setzt Berghaus häufig Requisiten wie etwa auch das Kreuz ein, die die Funktion der sogenannten traditionellen Tanzgeräte übernehmen. Nicht selten werden bei Berghaus deren Zuordnung zueinander und ihr Gleichklang mit dem Charakter und dem Rhythmus der Musik zum primären Ereignis. Je deutlicher diesen Bewegungen ein bestimmtes Muster zugrunde liegt, das eventuell noch dazu alle vereint, und je klarer sich mit derartigen Positionswechseln auch die Veränderung einer vom Chor oder / und von Solisten gebildeten Figur oder geometrischen Form ergibt, und je weniger dies inhaltlich-szenisch begründet ist, desto eher und stärker drängt sich als Beschreibung das Wort ‚choreographisch‘ auf. 8

9

Man denke an seine szenische Umsetzung des Sturmchors von Giuseppe Verdis Otello 1969 oder auch an die Auftrittsszene des Toreros in George Bizets Carmen 1949. Felsensteins Verfilmung von Otello sowie der genannte Ausschnitt aus Carmen sind enthalten in der DVD-Ausgabe: Walter Felsenstein Edition, Arthaus Musik 2008.  Die Belege bei Anm. 5.

Berghaus’ Fierabras

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Außer den realen Bewegungen gibt es implizite oder auch implizierte Bewegungen, die bei Berghaus und Schaal eine besonders wichtige Rolle spielen: also Linien, die dem Gesamtbild nicht anders als in der Malerei und der Bildenden Kunst den Eindruck von Bewegung verleihen. Derartige implizite Bewegungen und derartige tendenzielle Bewegungsrichtungen können sich durch alle auf der Bühne präsenten Elemente ergeben und durch die Lichtführung und eine bestimmte Farbigkeit unterstützt werden. Bei Berghaus werden sie vielfach durch die Gestaltung des Chores evoziert, also durch Requisiten, Gewänder, Körperteile und Körperhaltungen. Sie sind aber auch in dem Bühnenbild von Schaal präsent, dessen Konstruktionslinien – etwa des säulenartigen Turmes in Akt I oder der überhöhten Flügeltüren in Akt III, jeweils in der Bühnenmitte – ebenfalls Bewegung implizieren und so zusammen mit der Drehbühne und der Lichtregie die Bühne als dramatischen Raum in das Geschehen miteinbeziehen. Dabei werden die Elemente oder auch Körperteile, die dazu beitragen, für einen Augenblick in dem Maße gewissermaßen verdinglicht und ästhetisiert, als die optische Form an sich in den Vordergrund tritt und damit ihr Sinn in dem ästhetischen Gebilde aufgeht. In solchem Falle also ist es die Gestaltung der dramatischen Abläufe nach Prinzipien der Bildenden Kunst bzw. die Übersetzung solcher Abläufe in Bilder, die denen der Bildenden Künste entsprechen, die das beschreibende Adjektiv ‚choreographisch‘ nahelegen. KONSTELLATION I: 1 CHORGRUPPE UND 1 SOLIST Zunächst sollen zwei kontrastierende Grundformen der Chorbehandlung zu Beginn von Akt I und am Ende von Akt II vorgestellt werden, wobei der Chor aus jeweils nur einer Gruppe besteht und dazu ein Solist auftritt. In der ersten Nummer verschränken sich nicht nur der gebaute Raum und die Bewegung des Chores zu einer ästhetischen Einheit, sondern auch die Absicht, die Szene im Gesamtzusammenhang des Werkes zu deuten, und die erwähnte detailgenaue, will sagen text- und situationsgetreue sowie musikalische Zäsuren berücksichtigende Arbeit von Berghaus. In der Mitte eines weißen Raumes, den eine runde Wand abschließt, erhebt sich eine drehbare, halb geöffnete Säule, die als moderne Übersetzung eines mittelalterlichen Turmbaus passieren kann.10 Hier haben sich Emmas Begleiterinnen um ihre Herrin versammelt und singen während ihrer Handarbeit in gefällig wiegendem 6/8-Rhythmus von Liebe. Optisches Ziel und Zentrum der Szene ist eine kreisrunde Scheibe,11 die die Mädchen um Emma und ihre Freundin12 herum bilden, jedoch keineswegs im Sinne einer feststehenden Form, sondern als eine in der Zeit entstehende und verfließende geometrische Gestalt. Deren Stationen kongruieren – wie selbstverständlich für Berghaus – mit den musikalischen Formteilen, nämlich 10 11 12

Berghaus zufolge symbolisiere sie das Eingeschlossensein der Figuren und lasse sich generell auf die Jugend um 1820 beziehen; vgl. das in Anm. 7 erwähnte Interview. Dieser optische Eindruck entsteht für den Zuschauer. Genau gesagt aber, setzen sich die Mädchen so, dass sie die Rundung, die der nach vorne offene Turm vorgibt, zu einer Scheibe ergänzen; siehe dazu das Foto in: Neef, Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 6), S. 197. Diese Figur trägt auch im Libretto keinen Namen.

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dem Wechsel von drei musikalisch identischen solistischen Strophen mit dem Chor. Zwei Strophen sind von Hoffnung auf Liebe erfüllt, in der letzten, die Emma singt, stellen sich düstere Grabesgedanken ein. So ist denn auch allein in den ersten beiden Strophen der 6/8-Rhythmus in Bewegung umgesetzt, während sich bei Emmas Strophe niemand regt. Dazu ist die originale Regieanweisung, dass die Mädchen spinnen sollen, leicht variiert. Statt dessen nämlich hält jedes der Mädchen einen Stickrahmen in der Hand und ist gehend und sitzend mit seiner Arbeit beschäftigt, indem es den Faden deutlich sichtbar und in gleichmäßig ruhigem Tempo festzieht; singt aber Emma, legen sie sich zu Boden.13 Die Bilder der enggedrängt stehenden und sitzenden Gruppe und deren immanente durch das Sticken entstehende Bewegung erscheinen als Ausdruck ihrer inneren Einigkeit und damit als optisches Äquivalent der heiteren Musik, während die optische Variante – die Ruhigstellung der Gruppe – der inhaltlichen Variante von Emmas Strophe entspricht. Zusätzlich versieht Berghaus das friedliche Bild, das auch klanglich frei von jeglicher dramatischen Spannung ist (wie das für die Eröffnung einer deutschen Oper von 1823 durchaus noch zeitgemäß war), mit dem Kreuz als bedeutungsvoll mahnendem Zeichen, das, wenn die Frauen sich um Emma drängen, plötzlich isoliert auf der leeren Bühnenfläche liegend sichtbar wird. Fast selbstverständlich ist die szenische Grundidee der Nummer dort variiert wiederaufgenommen, wo auch ein inhaltlicher Bezug gegeben ist, also als sich Emma mit ihren Freundinnen auf die Rückkehr des Geliebten und der anderen Ritter von dem Kreuzzug freut (III/1). Dort reichen sich die Mädchen, weitmöglichst voneinander entfernt im Kreis stehend oder sitzend, jeweils zu ihrem Gesang die Hände und deuten, sich abwechselnd leicht nach rechts und links ziehend, eine wiegende Bewegung an (Nr. 18, ca. T. 13–34 und T. 140– 153).

Abbildung 1: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt I, 1. Szene, Nr. 2 (ca. T. 43)14

13 14

Damit eine geregelte Bewegung entsteht, hat Berghaus offenbar vorgegeben, dass jede Dame langsam sticken bzw. den Arm langsam heben und senken und dabei den scheinbar langen Faden deutlich in die Höhe gleichsam festziehen solle. Die Taktangaben dienen hier lediglich dazu, die Bilder nachprüfbar zu machen.

Berghaus’ Fierabras

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Als kontrastierendes Pendant der Zusammenstellung Solist-Chorgruppe lässt sich die Inszenierung des Schlusses von Akt II bezeichnen, den Berghaus als Beginn von Akt III interpretiert.15 Die fränkischen Ritter, die dem Maurenfürsten Boland die Nachricht überbracht hatten, dass sein Sohn Fierabras zum christlichen Glauben übergetreten ist, sind gefangengesetzt, gedenken ihrer Heimat und glauben sich dem Tod nahe (Nr. 14). Roland hatte eigentlich auf Florinda zu treffen gehofft, und Eginhard, der seine Liebe zu Emma gesteht, ist bedrückt vom Gedanken, dass er Fierabras durch Karl zu Unrecht verhaften ließ (Dialog). Daraufhin erscheint Florinda, will die Ritter in die Freiheit führen und mit ihnen ihren geliebten Roland finden. Er, der unter den Gefangenen ist, erkennt sie wieder (Nr. 15). Sie öffnet den Rittern die Tore, auf dass sie die Mauren besiegen; doch sie unterliegen ihnen und kehren rasch wieder (Nr. 17). Für diese Szenenfolge hat Schaal einen runden, tiefblauen bis schwarzen Raum konstruiert, aus dessen schwarzem Hintergrund die Flächen einiger Kuben vom Licht scharf markiert hervortreten, und damit ein Bild, das den Eindruck des Eingeschlossenseins zu erwecken vermag. Vor allem aber ist diese Aufgabe dem Chor und dem Ausdruck seiner Posen übertragen. Halbliegend sitzen die Franken auf verstreut gestellten Stühlen, die Hände scheinbar hinter der Lehne gefesselt, eine erzwungene Position, in der alle gleichsam festgebannt sind und in die sich jeder mit etwas anderer Haltung fügt.16 Das grelle Licht lässt die weißen Kleidungsteile der so unterschiedlich Hingestreckten hervorstechen. So ergibt sich ein höchst lebendiges Tableau mit diskontinuierlichen, sich überschneidenden Linien, das unmittelbar als Abbild einer gequälten Gruppe deutbar ist. Indem die dramatische Situation solchermaßen optisch zum Ausdruck gebracht ist, kann das ungetrübte D-Dur des Gefangenenchores als Sehnsucht und ferne Illusion erklingen.

Abbildung 2: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt II, 11. Szene, Nr. 14 (ohne Taktangabe)

15 16

Sie erreicht dies, indem sie die einzige Pause vor diese Szene gelegt hat. Das ist insofern leicht  verständlich, als die vorangehende Szene mit sich feindlich gegenüberstehenden Chören eine dramatische Großszene darstellt und sich daher weit besser für einen Aktschluss anbietet. Allein bei zentralen Wörtern wie z. B. „bitter“ reagieren einzelne, indem sie sich mit einer Bewegung des Kopfes oder des Oberkörpers kurz aufbäumen.

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Diese szenische Grundidee dient auch als Lösung für die folgenden drei Nummern, wodurch nicht nur die formalen Zäsuren zum gesprochenen Dialog und anschließenden Melodram (Nr. 15) überbrückt werden, sondern auch ein anderes Problem geschickt gelöst ist, das die Partitur dem Regisseur stellt: Als Florinda die Fesseln der Ritter gelöst hat, brechen sie – dem Libretto zufolge – bewaffnet auf, können sich gegen die Mauren aber nicht durchsetzen. Florinda beobachtet und beschreibt das Geschehen, bis alle voller Enttäuschung in den Kerker zurückkehren (Nr. 16, T. 111ff., und Nr. 17). Berghaus folgt dem nicht. Stattdessen bleibt der Chor auf der Bühne, anfangs in stetig wechselnden Formationen verteilt,17 und drängt sich schließlich zu einer einzigen Gruppe vornüber gebeugter Menschen zusammen (Nr. 17, ab T. 24), während Florinda davor und daneben in einem Melodram vom Kampfgeschehen draußen berichtet. Diese vom Libretto abweichende Anordnung hat den praktischen Vorteil, einen kurz aufeinanderfolgenden Auf- und Abgang des Chores zu vermeiden; vor allem aber überbrückt sie das Melodram und die aus dem Drama stammende und opernferne, weil logisch abstrakte Teichoskopie mit der Präsenz einer Skulpturengruppe, die Unterdrückung und Knechtung optisch-bildhaft signalisiert.

Abbildung 3: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt II, 13. Szene, Nr. 17 (ca. T. 100)

KONSTELLATION II: MEHRERE CHORGRUPPEN UND MEHRERE SOLISTEN Werden dieselben Mittel der Bewegungsformung, des Stillstands im Tableau bzw. in einer Pose sowie die Kontrastierung von Bewegung und Stillstand auf mehrere, gleichzeitig auftretende Chorgruppen übertragen, ergibt sich nicht nur eine optisch wie dramaturgisch klare und zugleich differenzierte Szene, sondern kann dies als dialogische Interaktion wirken, ohne dass die Chorgruppen unbedingt miteinander agieren müssten. Dies ist der Fall in dem Marsch mit Chor (Nr. 3), in dem zwei Gruppen auftreten; drei Gruppen sind in dem anschließenden Ensemble (Nr. 4) von 17

Bald stehen die Einzelnen mit einem Buch in der Hand, dann sitzen sie und lesen. Das Buch, so darf man spekulieren, soll wohl zum Kampf anspornende Freiheitstexte enthalten.

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Akt I gegenwärtig; und vier18 in dem Chor sowie dem Quintett und Chor von Akt II (Nr. 11 und 12). In der Marschnummer von Akt I (Nr. 3) erscheint König Karl mit seinem Gefolge von Männern und Frauen. Während des Eingangsritornells treten die Männer mit Emma von hinten auf und markieren mit ihren Schritten die rhythmischen Schwerpunkte, bis jeder von ihnen beim Einsatz des Preisliedes abrupt in einer individuellen Pose verharrt: Einige halten ein mannshohes Kreuz aufrecht in der Hand, einige setzen oder stützen sich darauf, während andere sich neben ein Kreuz knien und wieder andere einzeln stehen oder in Gruppen zusammengetreten sind. Man kann sagen, dass die Chorgruppe mit diesen Posen die Bühne sozusagen verräumlicht, bietet sie der zweiten Gruppe, den ihnen nachfolgenden Frauen (Nr. 3, ab T. 33), bei deren Auftritt doch Gassen, die ihnen den Weg vorzeichnen, und Objekte, die es zu umgehen oder zu betrachten gilt. Während Karl und Emma die Gäste im Vordergrund links stehend empfangen, schauen die ankommenden Frauen bald zur Seite, bald wenden sie sich rückwärts, bald steigen sie unter einem aufrechtgehaltenen Kreuz hindurch, bis sie sich schließlich in die freigebliebenen Lücken setzen (ca. T. 56). Es wird also kein Marsch im realen Sinne vorgeführt, sondern vielmehr eine Art zeremonielle Handlung. Dabei spielt Berghaus mit dem Gegensatz von Bewegung und einer in einem Bewegungsmoment festgefrorenen Pose, so Feierlichkeit und Künstlichkeit untrennbar miteinander verwebend. Zugleich entsteht dank der Vielzahl und Individualität kleiner Einzelaktionen der Eindruck einer großen Volksmenge. Was bislang nur ein Nebenaspekt war, die Farbkomposition, tritt mit dem Erscheinen der dritten Chorgruppe in dieser Szene als kalkuliert eingesetztes Mittel in den Vordergrund, so dass man von einem eigenen ‚farblichen Bewegungsablauf‘ sprechen kann. Dabei sind die Bewegungsmomente und der Stillstand in einer Pose so komponiert, dass sich mit dem Szenenablauf ein Sich-Ineinanderschieben von Farben ergibt: Männer und Frauen verharren noch regungslos; da treten die Gefangenen auf (Nr. 4, T. 23ff.). Karl schenkt ihnen die Freiheit und entdeckt unter ihnen einen, der schließlich als Fierabras und als Sohn des Maurenfürsten identifiziert wird und der selbst in Emma seine Geliebte erkennen muss. Zuerst nun schieben sich die muslimischen Gefangenen, als solche sofort und eindeutig erkennbar an den emporgehobenen Armen und an ihren schwarzen Umhängen, als eine schwarze Linie in den Hintergrund. Charakteristisch für die Führung mehrerer Gruppen, lässt Berghaus zuerst allein die Frauen darauf reagieren, indem sie sich verunsichert umschauen und – eine Gruppe in weißer und pastellfarbener Kleidung – am Turm sammeln. Als Karl den Mauren dann die Freiheit angeboten hat, schreiten diese in gleicher Haltung wie zuvor langsam weiter nach vorne: schwarze Flecken zwischen den weiß-blauen Farben der Kostüme der Franken. Weiter vorne angekommen, lassen sich die Muslime zu Boden nieder und beugen sich langsam und jeder einzeln mehrfach zum Gebet zu Boden. 18

In  der  Inszenierung  lassen  sich  zunächst  allein  das  Volk  und  ein  Ensemble  einiger  Solisten  voneinander unterscheiden, während im Libretto „Maurisch Volk, Krieger, Priester, Mädchen  usw.“ angeführt sind.

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Abbildung 4: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt I, 4. Szene, Nr. 4 (ca. T. 70)

Derartige Abläufe tragen als geformte Bewegungen auch einen ästhetischen Eigenwert. In aller Regel sind sie bei Berghaus szenisch-inhaltlich begründet. In diesem Falle danken die Muslime offenbar für die ihnen zugesagte Freiheit. Noch klarer freilich ist der szenisch-inhaltliche Sinn des Stickens im besprochenen ersten Frauenchor oder wenn die Frauen später in der hier besprochenen Szene (Nr. 4, T. 216) in spielerisch schöner Bewegung Bänder werfen, durch die Reihen der Männer schreiten und ihnen, die stets in ihrer Haltung verharren, diese in ebenso anmutigen Bewegungen als Zeichen der Siegerehrung umlegen. Allerdings lassen sich solche Bewegungen auch verselbständigt und ohne dramatisch-szenischen Sinn einsetzen, so dass der Eindruck des ‚Choreographierten‘ umso stärker hervortritt. Ein Beispiel dafür findet sich in dem langen Chor gegen Ende dieser Nummer (ab ca. T. 323– 416 in Nr. 4), in dem die in den Kreuzzug aufbrechenden Ritter Abschied nehmen: Während die Franken und Mauren unterschiedlich gruppiert im Vordergrund sitzen und liegen, reihen sich die Frauen in zwei Reihen in einer Diagonale im Hintergrund auf. Beide Frauengruppen halten ein großes schwarzes Tuch in Händen, das sie in gegenläufigem Zyklus emporheben und, sich mit dem Oberkörper tief vornüber beugend, zur Erde herablassen. Ein Bezug zum dramatischen Sinn der Szene ist nicht erkennbar. Vielmehr scheint dies die Lösung eines anderen Problems: Angesichts eines für den dramatischen Gehalt ihrer Ansicht nach wohl allzu langen Chores führt Berghaus die Szene weg von der Konkretisierung einer Handlung in die Abstraktion des choreographierten Bildes, das seinen ästhetischen Sinn aus dem optischen Kontrast des ruhig in verschiedenen Posen verharrenden Chores im Vordergrund und der geformten Bewegung entlang einer schrägen Linie im Hintergrund gewinnt, und das auf diese Weise die Musik als Musik wirken lässt.

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Abbildung 5: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt I, 5. Szene, Nr. 4 (ca. T. 370)

Vermutlich aus ähnlichen Überlegungen heraus hat Berghaus den gleichen Weg der Abstraktion ausgerechnet auch für die dramaturgisch zentrale Szenenfolge in Akt II, den Höhepunkt der Konfrontation zwischen Franken und Mauren, gewählt. Sie hat also gar nicht erst versucht, die Chöre szenisch zu dramatisieren, sondern hat den Konflikt in ein eindrucksvolles Tableau aufgehoben und so ästhetisiert. Seine Wirkung bezieht es aus der Einheit von Raum- und Figurenkomposition: sowohl aufgrund der impliziten Bewegung, die sich aus dem statischen Anteil des Bildes ergibt, also der Gruppierung der Personen und ihrer jeweiligen Positionierung, als auch aufgrund der realen, abstrakten Bewegung, die aus dem doppelten Wechsel der Farbe – von Schwarz in Weiß und später (Nr. 12, ab T. 165) wieder in Schwarz – resultiert. Laut Libretto ereignet sich Folgendes: Unter Friedensgesängen erscheinen der Maurenfürst, sein Gefolge sowie fränkisches Volk und Ritter; dann berichtet Roland dem Fürsten, dass Fierabras den christlichen Glauben angenommen habe, und Florinda erfährt, dass Roland Gefangener der Christen sei. Solchermaßen herausgefordert, kündigt ihr Vater den Christen den Tod an und lässt sie gefangen nehmen (Nr. 11 und Dialog). Berghaus und Schaal präsentieren den Anfang so: Während sich die Bühne noch dreht, zeigt sich die herankommende singende Menge auf einer schräg nach rechts ansteigenden Ebene, vor der eine schmalere, gerade noch freie Fläche liegt; rechts ist sie begrenzt von einem mehrfach getreppten Turm, auf dessen Ebenen sich die fränkischen Ritter verteilen. Im Verlauf des Friedenschors tritt der genannte Farbwechsel von Schwarz nach Weiß ein.19 Der anschließende Dialog führt zum dramatischen Höhepunkt, der gewaltsamen Verhaftung der Franken durch die Mauren. Auch diesen Dialog hat Berghaus – mit Mitteln, die an Bertolt Brechts episches Theater erinnern – stilisiert, um ihn in das Gesamtbild eingliedern zu können, und wohl auch darum, weil sie ihn einer19

Der Verlauf ist folgender: Das Volk ist in schwarze Gewänder gekleidet, ein Teil hält Palmwedel, ein anderer weiße Tücher in der Hand. Zuerst werfen die weiter vorne stehenden Frauen  ihre schwarzen Umhänge ab, erscheinen in blendend weißen Kleidern und setzen sich, so eine weiße Linie vor der dunklen Schar der Männer bildend. Daraufhin legen sie sich gegenseitig  weiße Schleier über und streifen dann den Männern ebenfalls weiße Gewänder über.

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seits in fast originaler Form beibehalten wollte, seine Sprache anderseits aber allzusehr szenischer Dramatik entbehrt. Roland und der Fürst, allein inmitten der betend niedergesunkenen Menge stehend, sprechen also kaum miteinander, sondern treten wie in vielen Dialogsituationen dieser Inszenierung, seien es gesprochene Dialoge oder Nummern, fast aus ihrer Rolle heraus und sprechen mehr oder weniger frontal zum Publikum gerichtet. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit automatisch auf den Bildcharakter der Szene gelenkt, den Berghaus durch die neue Gesamtgruppierung betont: Die Gestalten der Betenden bleiben im Hintergrund, locker auf der schrägen Ebene verteilt; davor reihen sich nun in leicht geschwungener Linie auf der unteren, geraden Ebene die vielen fast parallelen Linien, die die Beine der sitzenden Frauen bilden.20 Im Kontrast dazu stehen einige wenige Personen in der Mitte und rechts auf der Turmspitze. Die Kunst des Berghausschen Einfalls besteht also darin, eine szenische Lösung gefunden zu haben, in der die Gruppen zwar dramatisch sinnvoll angeordnet sind, in der sich die dramatische Wirkung aber vor allem einem durch Farben und Linien konturierten Bild verdankt, innerhalb dessen die Solisten die Handlung langsam zelebrierend mit einigen wenigen und unmittelbar verständlichen Einzelmotiven und eindeutig konnotierten Gesten lediglich andeuten.21

Abbildung 6: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt II, 9. Szene, Dialog zwischen Nr. 11 und Nr. 12

*** 20

21

Der Positionswechsel der Frauen bzw. die Momente, wenn sie aufstehen, auf die untere Ebene  herabsteigen und sich setzen, sind, da allzu unbeholfen, allerdings misslungen und fallen aus dem Rahmen der sonst so geformten Bewegungen. – Zu diesem Bild vgl. etwa die Komposition  mit menschlichen Körper in Berghaus’ Inszenierung von Arnold Schönbergs Moses und Aron 1987  an  der  Deutschen  Staatsoper  Berlin;  siehe  in  Neef,  Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 6), S. 193, oder ähnlich im Freischütz, der Züricher Produktion, die 1993 Premiere hatte,  1999 aufgenommen und im Fernsehen gesendet wurde und seit 2004 auf einer DVD käuflich  zur Verfügung steht. Eine unbewegt stehende Frauengestalt birgt ihr Gesicht verzweifelt in ihren Händen; Florinda fleht den Vater mit erhobenen Händen um Gnade an; dieser sucht Roland langsam die Schlagader aufzuschlitzen. Unterdessen mischen sich auch die maurischen Männer ins Geschehen ein  und nehmen den Christen die Gebetbücher ab, bis am Schluss alle – wohl überwältigt – zu Boden fallen.

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So modern und neuartig das Inszenieren von Berghaus in den 1980er Jahren auch erschien und so modern ihr Fierabras selbst heute noch in der Fernsehaufzeichnung wirkt, neu sind die hier verwendeten Mittel keineswegs. Ihre ästhetische Herkunft führt über Palucca in die 1920er Jahre zum Ausdruckstanz sowie zu den damals modernen künstlerischen Bewegungen insbesondere vom Bauhaus und damit auch zum Beginn der sogenannten kinetischen Kunst. Berghaus, 1927 in Dresden geboren, erhielt ihre künstlerische Ausbildung bei Palucca. Diese hatte in Dresden ab 1924 den von ihr sogenannten „Neuen künstlerischen Tanz“ zu unterrichten begonnen, der – wie der Ausdruckstanz – wesentlich auf der individuellen und freien Improvisation beruht und keinerlei Gegenständlichkeit darzustellen bestrebt ist.22 In Paluccas Schule war Berghaus drei Jahre lang, von 1947 bis 1950, Tanzschülerin gewesen und drei weitere Jahre bis 1953 Meisterschülerin von Palucca und Wolfgang Langhoff. Ihre ersten eigenen Arbeiten waren Choreographien, die zum Teil für die Palucca-Schule, aber auch für Werke ihres Mannes Paul Dessau entstanden, der gleichfalls ein Verehrer Paluccas war.23 Über Choreographien für Operninszenierungen entwickelte sich Berghaus zur Opernregisseurin. Dabei übertrug sie Elemente der Choreographie auf die Operninszenierung, der sie sich von 1980 an fast ausschließlich widmete,24 und exportierte diesen Stil gleichsam in den Westen, wo sie von nun an überwiegend tätig war. Ein Import war dies insofern, als hier – anders als in der DDR – nicht einmal im Tanz ein Äquivalent für diesen Stil existierte. Denn die Tanzszene im westlichen Nachkriegsdeutschland wurde vom modernen Tanz bestimmt, den die Besatzungsmächte mitgebracht hatten: in Stuttgart durch die Engländer John Cranko, Kenneth MacMillan oder John Neumeier und in Hamburg durch die Amerikaner George Balanchine und dann Martha Graham sowie wiederum Neumeier. Ab den 1970er Jahren entwickelten sich neue Formen im Tanztheater von Pina Bausch oder Mats Egk. Wichtige Elemente von Berghaus’ Inszenierungsstil sind eben von Palucca vorgeprägt. In einem ihrer wenigen programmatischen Texte25 geht sie auf zwei Aspekte ein, die auch für Berghaus und ihren Fierabras von Interesse sind. Tauscht

22

23 24 25

Dieses Grundmerkmal stempelte Palucca in der SBZ und der DDR mit ihrem Ideal des Sozialistischen Realismus von Anfang an zum Systemfeind. Nur gegen den größten Widerstand der  Kulturfunktionäre konnte sie ihren Unterricht weiterführen, wobei sie es wohl allein ihrer Berühmtheit zu verdanken hatte, dass die Schule nicht völlig geschlossen wurde, von der sie sich ab 1965 allerdings immer stärker distanzierte. Zu Palucca siehe die hervorragende Arbeit von  Katja Erdmann-Rajski, Gret Palucca. Tanz und Zeiterfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik, Hildesheim etc. 2000; speziell hierzu S. 381. „Wäre ich jünger, ich ging zu ihr in die Lehre“, so Dessau, nach: Peter Jarchow und Ralf Stabel,  Palucca. Aus ihrem Leben. Über ihre Kunst, Berlin 1997, S. 78. Siehe die Liste ihrer Regiearbeiten in: Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion, hrsg. von Irene Bazinger, Berlin 2010, S. 254–263. Palucca war eher durch Unterricht traditionsbildend tätig, als dass sie ihre Theorien schriftlich  formuliert hätte. Gleichwohl gibt es einige Aufsätze, die überwiegend aus ihrer aktiven Zeit  als Tänzerin stammen und als Selbstäußerungen bezeichnet werden. Erdmann-Rajski, Gret Palucca (Anm. 22), S. 115–116.

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man darin lediglich das Substantiv ‚Tänzer‘ gegen ‚Darsteller‘ aus, ist er direkt auf Berghaus übertragbar. „Jede Tänzerin muß heute selbständig Gesetze und Mittel ihres Tanzes neu finden. […] Und hier sei gleich gesagt, daß auch die Gruppentänzerin Solistin bleibt. Die tänzerische Gruppe ist genau im Gegensatz zum mechanisierten Exerzierdrill der Revue-Girls zu denken [in diesem Verweis wird der Bezug zu den 1920er Jahren deutlich; Anm. M. J.] und eher mit [der] Polyphonie orchestral musizierender Einzelinstrumente zu vergleichen. […] Der Körper der Gruppentänzerin ist niemals Szene, nie dekorativ, sondern wird immer als Körper ganz ausgenützt. Er steht in seinem Raum. Und die Räume der Einzelkörper bilden den unendlich variablen Raum der Gruppe.“26

In Übereinstimmung mit diesem Grundsatz hat Berghaus – erstens – die Gruppe behandelt und – zweitens – die Gruppe zugleich als Körper in Bezug zum Raum gesetzt. Im Sinne der Polyphonie führt Berghaus jeden Einzelnen innerhalb einer Gruppe und lässt jedem seine Art, sich zu bewegen und einen Ausdruck anzunehmen. Die Bewegungen und Posen sind ganzkörperliche (soweit dies für Sänger möglich ist) und Teil eines natürlichen Bewegungsablaufs. Immer wieder sind die so entstandenen Posen und Gruppenbildungen denjenigen in der Ära des Ausdruckstanzes unmittelbar verwandt,27 den in erster Linie Isidora Duncan, Mary Wigman, die Lehrerin Paluccas, und Rudolf von Laban vertreten hatten (Abbildungen 7–12).28

26 27

28

Zitiert nach: Jarchow/Stabel, Palucca (Anm. 23), S. 35–36. Vgl. dazu auch in Berghaus’ Inszenierung der Les Troyens von Hector Berlioz den Moment in  Akt II, in dem die Menge Kassandra anfleht und sich allein schon aus den flehend zu ihr hinaufgereckten Armen der Choristen ein ausdrucksstarkes Bild ergibt, das zugleich voll innerer Bewegung ist; Mara Eggert und Hans-Klaus Jungheinrich, Durchbrüche. Die Oper Frankfurt. 10 Jahre Musiktheater mit Michael Gielen, Weinheim und Berlin 1987, S. 131. Zum Ausdruckstanz  siehe  vor  allem:  Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Gunhild Oberzaucher-Schüller unter Mitarbeit  von Alfred  Oberzaucher  und  Thomas  Steiert,  Wilhelmshaven  1997.  Zu  Palucca  siehe  auch  Gerhard Schumann, Palucca. Porträt einer Künstlerin, Berlin 1971 (mit vielen Fotos); zu Wigman siehe Hedwig Müller, Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin, Weinheim und  Berlin 1986, sowie Mary Anne Santos Newhall, Mary Wigman, London und New York 2009.  Hervorragende Fotos von Palucca, Vera Skoronel und vor allem von Wigman (auch von ihren  skulpturenartigen Gruppen in Chorische Bewegung 1928) enthält: Christiana Kuhlmann, Charlotte Rudolph. Tanzfotografie 1924–1939, Göttingen 2004. In dem erwähnten Band Ausdruckstanz finden sich Fotos zu den Werken verschiedener Choreographen: Zu besonders eindrucksvollen Raumgestaltungen siehe S. 131, 285, 287; zu skulpturenartigen Gruppenkonstellationen  S. 47 (Émile-Jacques Dalcroze), 65 (Valeria Kratina), 99, 103, 452 (von Laban), 109, 164, 195  (Wigman), 269 (Aurel von Milloss), 391 (Margarete Wallmann), 447 (Max Terpis), 452 (Heinrich Kröller).

Berghaus’ Fierabras

Abbildung 7: Gret Palucca, Improvisation im Freien, um 1921

Abbildung 9: Mary Wigman, Choreographie für das Tanzdrama Totenmal von Albert Talhoff, 1930 (Foto: Charlotte Rudolph)

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Abbildung 8: Gret Palucca, Gruppenimprovisation, ca. 1940er Jahre

Abbildung 10: Mary Wigman, Choreographie für das Tanzdrama Totenmal, 1930

Abbildung 11: Mary Wigman, Probe zu Der Tempel aus: Chorische Studien, 1953 (Foto: Liselotte Orgel-Köhne)

Abbildung 12: Ellen von Cleve-Petz, Choreographie für Die Elixiere des Teufels, 1925

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Die Binnenbewegungen ohne Positionswechsel, im Tempo angepasst an den Rhythmus und den Charakter der Musik, sind zum Teil durch die Auswahl der wie Tanzgeräte verwendeten Requisiten bestimmt. Auch dies erinnert immerhin an eine Übung Paluccas, in der die Aufgabe für ihre jungen Schülerinnen unter dem Titel „Fleißige Gärtnerin“ darin bestand, Gartenarbeiten nach dem Rhythmus und der Struktur einer vorgegebenen Musik zu ordnen.29 Zweitens hat Berghaus von Palucca die zitierte Grundidee übernommen, die Figuren als Körper im Raum zu begreifen und erfahrbar zu machen. Nicht zufällig hatte Palucca als Hauptaufgabe bei ihrem Auftritt zu den Olympischen Spielen 1936 die Lösung des Problems angesehen, wie der riesige Stadionraum zu gliedern sei.30 Bei Berghaus nun werden gerade die Auftritte des Chores dazu genutzt, die Bühne als dramatischen Raum erfahrbar zu machen bzw. den Raum und den Chor in einem Gesamtbild in Beziehung zueinander zu setzen: wenn etwa die Männer ein erstes Mal vom Bühnenhintergrund – hinter der Säule – aufgetreten sind und als Skulpturen verharren und daraufhin die Frauen durch die freigelassenen Gassen nach vorne kommen; wenn – durchaus ähnlich – sich die Gefangenen einen Weg durch die anderen Chorgruppen nach vorne bahnen. Räumlichkeit wird besonders auch im Zusammenhang mit diagonalen Raumgliederungen erfahrbar (Nr. 4, 8), ebenso in mancher Kontrastierung von Solist und Chor (Nr. 7, 22) bzw. von gefülltem und freiem Raum wie im Schlussbild (Nr. 23). Insgesamt ist dies ein die Bühne dramatisierendes Mittel, das Berghaus nicht allein, aber vor allem in Zusammenarbeit mit ihrem Bühnenbildner Schaal verfolgte (Abbildungen 13–15).31 29 30

31

Jarchow/Stabel, Palucca (Anm. 23), S. 86. Sie tanzte in dem Festspiel Olympische Jugend von Carl Diem, begleitet und umrahmt von 2.300 jungen Mädchen, einen Walzer. Zwei Fotos dieses Festspiels in: Oberzaucher-Schüller, Ausdruckstanz (Anm. 28), S. 463. Dazu schrieb Palucca – oder ein anderer Autor in ihrem Namen – im Berliner Tagblatt vom 15. Juli 1936: „Wie sollte ein Einzelmensch inmitten Tausender Mitwirkenden und in einem Stadion von so gewaltigen Ausmaßen überhaupt zur Geltung oder gar tänzerisch etwas sein? […] Da stand ich nun, die Musik setzte ein, die Bewegung kam ebenso selbstverständlich, wie der Ausdruck wegblieb. Und über allem lag der Raum, der nach allen Richtungen ausstrahlende Raum. In diesem Augenblick begriff ich, daß ein in weitestem Sinne tänzerischer Ausdruck nur dann entstehen könnte: aus großer Bewegung, einfachstem Bewegungsausdruck und weithin sichtbarem Raumweg. Den Raum zu gliedern wurde die Hauptaufgabe, es ergab sich für mich als Einzelmenschen in ovalem Rund der Kampfbahn der Kreis: Mittelpunkt, Peripherie, Radius und Diagonale. Erst als ich erfahren hatte, daß der Kreis das einzige Mittel war, mich auszuwirken, konnte ich tänzerisch weiterarbeiten.“ Zitiert nach: Erdmann-Rajski, Gret Palucca (Anm. 22), S. 273; zur Frage der Autorschaft siehe ebenda, S. 116. Vgl. dazu ihre mit Schaal und Strandt verwirklichte Inszenierung von Richard Wagners Tristan und Isolde, die im gleichen Jahr wie der Fierabras  an  der  Hamburger  Staatsoper  Premiere  hatte, Neef, Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 6), S. 167; oder die bereits erwähnte Inszenierung von Berlioz’ Les Troyens ebenso mit Schaal 1983 an der Oper Frankfurt; Eggert/Jungheinrich, Durchbrüche (Anm. 27), S. 130. Aber auch in Zusammenarbeit mit anderen Bühnenbildnern wie mit Axel Manthey wird dieses Prinzip deutlich, so in der Inszenierung von Wagners Parsifal 1982 für Frankfurt oder etwa des Walkürenritts in Wagners Die Walküre 1986 für dieselbe Bühne; ebenda, S. 119–121, und Neef, Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 6), S. 159.

Berghaus’ Fierabras

Abbildung 13: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt I, 9. Szene, Nr. 6 (ca. T. 104)

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Abbildung 14: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt III, 6. Szene, Nr. 21 (ca. T. 80)

Abbildung 15: Fierabras, Inszenierung von Ruth Berghaus 1988, Akt III, 9. Szene, Nr. 23 (ca. T. 250)

Wenn die Raumgliederung ein zentrales Anliegen von Berghaus ist, das sie mit Palucca verbindet, so geht es doch direkt auf die Bestrebungen der Bildenden Künste, insbesondere jene des Bauhauses in den 1920er Jahren zurück, die ihrerseits Palucca stark beeinflusst hatten. Abstrakte Raumkompositionen, das Verhältnis von Linie zu Fläche und Kubus sind Grundthemen im Bauhaus unter Walter Gropius: so bei Georg Muche, Josef Albers oder László Moholy-Nagy. MoholyNagy war einer der konsequentesten Vertreter der Bauhaus-Gruppe, hatte 1922 zusammen mit Alfred Kemeny sein künstlerisches Ziel, die „Konstruktion von Kräften, die untereinander in einem physisch-räumlichen Spannungsverhältnis stehen“, in Form eines Manifestes veröffentlicht.32 Und nicht nur er, sondern auch Maler wie Wassili Kandinsky und Paul Klee schätzten Paluccas Tanz gerade aufgrund der Qualität, Räumlichkeit und Körper miteinander zu vermitteln – Moholy-Nagy sprach von „raumlebendiger Spannung“ –, und sahen darin geradezu ein Vorbild für 32

Frank Popper, Die kinetische Kunst, Köln 1975, S. 30; vgl. dazu auch Birgit Möckel, „Ende  einer MaschinenSpielzeit? Die bewegte Figur – ein Segment kinetischer Kunst im 20. Jahrhundert“, in: Maschinen-Theater. Positionen figurativer Kinetik seit Tinguely. Ausstellungskatalog Städtische Museen Heilbronn, hrsg. von Andreas Pfeifer, Bonn 2001, S. 25–47.

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ihre eigenen künstlerischen Bestrebungen.33 In den 1920er Jahren verließ MoholyNagy die Malerei als sein angestammtes Metier und entwickelte sich zum „modernen Medienkünstler“, der nicht nur in den verschiedenen Kunstszenen – Film, Bühne, Bildende Kunst – aktiv war, sondern gerade auch mit Licht und Raum und der bewegten Plastik arbeitete. Sein 1930 in Paris vorgeführtes sogenanntes Lichtrequisit (bzw. sein Licht-Raum-Modulator) wird geradezu als Gründungsfanal einer Kunst gesehen, die das Licht und die in der Zeit sich abspielende Bewegung zu ihrem Gegenstand erhebt.34 Ihre erste Blüte und ihren eigentlichen Durchbruch erlebte sie in den 1950er und 60er Jahren – also genau zu der Zeit, in der Berghaus selbständig zu arbeiten begann. Ein Bezug zu diesen Tendenzen der Bildenden Kunst aus den 1920er Jahren tritt im Fierabras von Berghaus am auffälligsten in der Gestaltung der Bühnenräume und im Einsatz des Lichtes hervor: so schon im ersten Bühnenbild mit der in die Mitte gestellten Säule, dessen Aufbau und dessen Höhendimension gerade das von rechts oben kommende Licht räumlich erfahrbar machen; oder wenn sich in der Kerkerszene ein einziges Bild aus Architektur und menschlichem Körper ergibt, indem sich auf den Flächen der Kuben, die den Raum im Hintergrund begrenzen, und auf den weißen Kleidungsteilen der Gefangenen das Licht fängt und zu reflektieren scheint (vgl. Abbildung 2). Geradezu als Stilzitat erscheinen der Bühnenaufbau mit der schiefen Ebene und dem getreppten Turm und die ebenso nach malerisch-ästhetischen Gesichtspunkten dazu geordneten Chorgruppen in Akt II (vgl. Abbildung 6):35 Als Vergleich bieten sich hier Regieexperimente von Hanns Niedecken-Gebhard an, die die Händel-Renaissance in den 1920er Jahren prägten (Abbildungen 16 und 17).36

33 34 35 36

„Sie ist für uns das neu gefundene Gesetz der Bewegung, das exakteste Gefüge von immer  raumlebendiger  Spannung.“  Zitiert  nach:  Schumann,  Palucca (Anm. 28), S. 60; siehe dazu auch S. 57–63. So bezeichnet von Karl Ruhrberg in: Kunst des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Ingo F. Walther,  Bd. 2: Malerei, Köln etc. 2002, S. 454. Dem  ließe  sich  Schaals  Karthago-Bild  in Akt  III  von  Les Troyens zur Seite stellen; Eggert/ Jungheinrich, Durchbrüche (Anm. 27), S. 136–137. Zwischen Niedecken-Gebhard und Palucca gibt es auch biographische Bezüge: ein erstes Mal  1922,  als  Wigman  auf  Niedecken-Gebhards  Bitte  hin  die  Choreographie  für  Hans  Pfitzners  Oper Die Rose vom Liebesgarten (1901) übernahm und deren Einstudierung Palucca übertrug;  außerdem  1936  bei  der  Olympiade  in  dem  erwähnten  Festspiel  Olympische Jugend, dessen Leitung Niedecken-Gebhard innehatte; Ralf Stabel, Tanz, Palucca!, Berlin 2001, S. 92. – Die Beziehung  Paluccas  zu  Niedecken-Gebhard  war  allerdings  bald  belastet,  weil  sich  Palucca  nicht  den  Vorstellungen  von  Niedecken-Gebhard  bzw.  der  Nationalsozialisten  fügen  wollte;  Erdmann-Rajski, Gret Palucca (Anm. 22), S. 271–276.

Berghaus’ Fierabras

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Abbildung 16: Hanns Niedecken-Gebhard, Inszenierung von Händels Ezio, Münster 1926

Abbildung 17: Hanns Niedecken-Gebhard, Inszenierung von Händels Alexander Balus, Münster 1926 (Probe)

*** Berghaus’ Inszenierung von Schuberts Fierabras lässt sich kaum unter dem Stichwort ‚Szenische Umsetzung‘ oder ‚Realisierung‘ begreifen. Vielmehr ist sie ein eigenes Kunstwerk, das Musik, Raum, Bewegung und Licht zusammenbindet. Es ist bestimmt von ästhetischen Grundsätzen, in denen Elemente des freien Tanzes und der Bildenden Künste der 1920er Jahre eine späte Modernität erfahren: Kubenformen im Verein mit einer diese akzentuierenden Lichtregie; die mehrfache horizontale und vertikale Gliederung des Bühnenraumes (im zweiten Bühnenbild von Akt II); die Verdinglichung von Darstellern, indem von ihnen gebildete Formen und Linien integraler Bestandteil einer Bildstruktur werden; der Einsatz von natürlich

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sich ergebenden Ausdrucksposen. Und wenn es eine choreographische Qualität ist, die das Inszenieren von Berghaus auszeichnet, so liegt sie – im Bewusstsein der Tatsache, dass es sich bei den Darstellern um Sänger und nicht um Tänzer handelt – in einer gezielten Gestaltung des Zeitablaufs, so dass Bewegung – meist eine gemessene, die vom natürlichen bzw. naturalistischen Tempo abweicht – und Stillstand – in einer Pose oder einer Fixierung als Skulptur – als kontrastierende Äquivalente wirken. Diese Struktur ist in sich so kohärent, dass die Frage nach der Eignung der Schubertschen Oper für die Bühne sich gar nicht stellt. Mit anderen Worten: Die Artifizialität dieser Lösung ist Berghaus’ Lösung sowohl des Problems ‚Choroper‘ als auch des Problems ‚Schubertsches Musiktheater‘.

REGISTER Abegg 46 Abildgaard, Nicolai 63 Adorno, Theodor W. 111, 118, 145 Albers, Josef 221 André, Joseph 28 Andsnes, Leif Ove 124 Bach, Johann Sebastian 103, 119 Orchestersuite (BWV 1068) 103, 119 Wohltemperiertes Klavier (BWV 846) 103 Badura-Skoda, Paul 123 Balanchine, George 116, 217 Balochino, Carlo 45 Barbaia, Domenico 43–45, 48–50 Baricco, Alessandro 160–162 Bauernfeld, Eduard von 13 Baumberg, Gabriele von 179 Bausch, Pina 217 Beethoven, Ludwig van 27, 42f., 47f., 56, 70, 74, 89, 93, 102, 121, 126, 139, 146f., 152, 166, 201 Messe C-Dur op. 86 70, 74 Der Kuß op. 128 201 Fidelio 43 Klaviersonate Nr. 21 op. 53 („Waldsteinsonate“) op. 53 46 Missa solemnis op. 123 93 Rondo a capriccio op. 129 126 4. Symphonie op. 60 147 5. Symphonie op. 67 146f. 7. Symphonie op. 92 152 Tremate, empi, tremate op. 116 43 Violinsonate op. 47 („Kreutzersonate“) 139, 142 Benedict, Julius 46 Benesch 45 Berg, Alban 111 Klaviersonate op.1 111 Berger, Karol 155–164 Berghaus, Ruth 205–212, 214–218, 220–224 Berglinger, Joseph 70, 92 Berté, Heinrich 116 Das Dreimäderlhaus 116 Bertrand, Friedrich Anton 11f. Bilson, Malcolm 123 Bodendorff, Werner 181 Bonaparte, Napoleon 163

Bondra, Anna 46 Borchard, Beatrix 179–203 Bos, Coenraad Van 200f. Brahms, Johannes 183, 201 Braun, Peter von 44 Brecht, Bertolt 215 Brendel, Franz 27, 39 Brentano, Clemens von 60 Breuning, Gerhard von 102 Brinkmann, Reinhold 182, 199 Briol 46 Bruchmann, Franz von 185 Bruckner, Anton 74 Bülow, Hans von 205 Bürger, Gottfried August 29 Busoni, Ferrucio 72 Carafa, Michele 48, 56 Abufar 48 Cadenbach, Rainer 142 Callas, Maria 205 Catelli, Ignaz Friedrich 181 Chezy, Helmina von 186 Chopin, Frederic 138 Cimarosa, Domenico 48, 51f. Il matrimonio segreto 48, 52 Claudius, Matthias 180, 187 Cleve-Petz, Ellen 219 Collin, Matthäus von 187f. Craigher de Jachelutta, Jakob Nicolaus von 180 Cramolini, Ludwig 46 Cranko, John 217 Cristoferi, Bartolomeo 155 Dahlhaus, Carl 70 Damerini, Massimiliano 124 Danuser, Hermann 27, 105–118 Debussy, Claude 156 Denis, Michael 13 Dessau, Paul 217 Destefani 46 Deutsch, Otto Erich 123, 183 Diabelli, Anton 24, 102, 111, 166–168, 172, 174, 192 Dieckmann, Friedrich 104 Dietrichstein, Moritz von 45 Dirzka, Ignaz Karl 45f.

226 Donizetti, Gaetano 48 L’ajo nell’imbarazzo 48 Dotti, Fanny 46 Duarte, John W. 172 Dumba, Nicolaus 122 Duncan, Isidora 218 Duport, Louis Antoine 45 Dürr, Walther 11–25, 41, 51 Eichendorff, Joseph von 65 Egk, Mats 217 Eichberger 46 Einstein, Alfred 137 Felsenstein, Walter 207 Ferdinand 46 Fiedler, Leslie 105 Fioravanti, Valentino 48 Le cantatrici villane 48 Musicomania 48 Fleury 46 Forti, Anton 46 Franchetti, Fortunata 46 Freud, Sigmund 160 Friedländer, Max 192 Friedrich, Caspar David 162 Fröhlich, Anna 102 Fürst 46 Gallenberg, Wenzel Robert 45 Garcia, Manuel 195 Generali, Pietro 48 Le lagrime d’una vedova 48 Georgiades, Thrasybulos 29 Gérard, François Pascal Simon 63 Gerhard, Anselm 93–104 Gerhardt, Elena 198, 200f. Giuliani, Mauro 166 Gluck, Christoph Willibald 28, 202 Goethe, Johann Wolfgang 11, 13, 29, 63, 179–181, 185–189 Gottdank, Josef 46 Gotter, Friedrich Wilhelm 180 Graham, Martha 217 Greiner 46 Grillparzer, Franz 60, 98f., 102f., 180, 185 Gropius, Walter 221 Grossegger, Elisabeth 44 Grünbaum, Therese 46 Gülke, Peter 149 Gunzgen, Rosa 82 Gyrowetz, Adalbert 45f. Händel, Georg Friedrich 222f. Alexander Balus 223 Ezio 223 Harold, Edmund von 13, 15, 21

Register Harrach, Carl Leonhard von 45 Hasenhut 46 Haslinger, Tobias 47, 55, 121 Haydn, Joseph 106, 113, 146 Distratto 113 Heberle, Therese 46 Heckermann, Fanny 46 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 111 Heilingmayer, Therese 45 Heine, Heinrich 187f., 192 Heitmann, Christin 194f. Herder, Johann Gottfried 61f., 71 Herold, Ferdinand 55 Das Zauberglöckchen 55 Hess, Myra 200 Hildebrand 45 Hilmar, Ernst 122f. Hinrichsen, Hans-Joachim 41, 105, 118, 125, 205 Hoffmann, E.T.A. 28, 60, 159 Hoffmann, Georg von 45, 47 Hofmansthal, Hugo von 69 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 12, 187f. Holzapfel, Anton 12f. Homberger, Christoph 201 Hullin 46 Hüttenbrenner, Anselm 70, 75 Jahrmärker, Manuela 15, 205–224 Janson, Mariss 206 Joachim, Amalie 184–193, 198f., 201 Das deutsche Lied 192 Kagel, Mauricio 116 Kalbeck, Max 183 Kandinsky, Wassili 221 Kant, Immanuel 163 Karl, Johann 165 Katter, Joseph 45 Kaufmann, Jonas 203 Keller, Christoph 201 Kemeny, Alfred 221 Kierkegaard, Søren 160 Kiesewetter, Rafael 41, 49 Klee, Paul 221 Kleist, Ewald Christian von 85 Kleist, Heinrich von 155, 158–160, 162f. Klenke, Karoline Louise von 181 Klopstock, Friedrich Gottlieb 24, 63, 71, 180, 187f. Herrmann und Thusnelda 24 Körner, Theodor 180 Kosegarten, Ludwig Theobul 12, 24, 179f. Kraus, Joseph Martin 28 Krebs, Karl August 45–47

Register Kreißle von Hellbronn, Heinrich 41, 102 Kreutzer, Conradin 42f., 45f. Krummacher, Friedhelm 146, 151 Kurtág, György 105 Laban, Rudolf von 218 Lablache, Luigi 41f., 47–53, 55 Lachner, Franz 42, 46f. Langhoff, Wolfgang 217 Laplace, Pierre-Simon 163 Laqueur, Thomas 183 Leitner, Karl Gottfried von 188 Ligeti, György 156 Der Zauberlehrling 156 Désordre 156 L’Escalier du diable 156 Vertige 156 Lindmayr-Brandl, Andrea 119–132 Liszt, Franz 135–137, 144,156, 185, 195, 198 2. Klavierkonzert A-Dur 135 Litschauer, Walburga 50 Lubi, Michael 179 Lütteken, Laurenz 57–68 MacMillan, Kenneth 217 Macpherson, James 11, 22, 24 Mann, Thomas 147 Marschner, Heinrich 53 Martienssen-Lohmann, Franziska 185, 199–202 Martin, Christine 31 Matiegka, Wenzel Thomas 166 Matthisson, Friedrich von 17 Mayr, Giovanni Simone 55 Mayrhofer, Johann 24, 180, 185–188 Mayseder, Josef 45 McDonald, Andrew 180 Meier, Sebastian 46 Mercadante, Saverio 48, 56 Doralice 48 Elisa e Claudio 48 Il podestà di Burgos 48 Le nozze di Telemaco ed Antiope 48 L’ultimo giorno di Pompei 48 Merk, Joseph 45 Metastasio, Pietro 41, 50, 55 Milder-Hauptmann, Anna 183, 198 Moholy-Nagy, László 221f. Molitor, Simon 166 Mosel, Ignaz Franz von 28, 37f., 45, 64 Mozart, Wolfgang Amadeus 43, 48, 55, 93, 105f, 126f, 130, 155, 160, 166 Don Giovanni 160 Klaviersonate A-Dur KV 331 126f. Le nozze di Figaro 48, 160

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Sinfonie C-Dur KV 551 126 Muche, Georg 221 Müller, Adolf 46f. Müller, Jakob 46 Müller, Wilhelm 186f. Nägeli, Hans Georg 28–32, 35–37 Nancarrow, Conlon 156, 158 Neumeier, John 217 Newton, Isaac 157, 163 Niedecken-Gebhard, Hanns 222f. Nietzsche, Friedrich 163f. Nikisch, Artur 200f. Nourrit, Adolphe 195, 201 Ossian 11–19, 21–24, 63f., 179, 185 Pacini, Giovanni 45, 48, 55f. Amazilia 45, 48, 55 Paer, Ferdinand 49 Agnese 49 Paganini, Niccolò 138f. Palucca, Gret 206f., 217–221 Partsch, Erich Wolfgang 165–178 Pergolesi, Giovanni Battista 101 Stabat mater 101 Peters, Carl Friedrich 43 Pfeifer, Franz 167 Pichler, Karoline 166 Pierson 46 Pietschmann, Klaus 41–56 Pitrot 46 Ponte, Lorenzo da 160 Preisinger, Josef 46 Prévôt 45 Prinz 46 Pyrker, Johann Ladislaus 72–75, 89, 91f. Rabel 46 Radetzky von Radetz, Josef Wenzel 107 Ragossning, Konrad 172 Ramacini 46 Rameau, Jean-Philippe 61 Reichardt, Johann Friedrich 12, 14 Reimann, Heinrich 192, 202 King Lear 202 Rellstab, Ludwig 181, 187f., 192 Rentsch, Ivana 27–39 Reyberger 46 Riems, Wilhelm Friedrich 28 Rochlitz, Johann Friedrich 179, 188 Röckel 46 Rode, Pierre 139 Roland 46 Rossini, Gioacchino 41, 43f., 48, 52f., 55f., 93, 155, 160–162 Il Barbiere di Siviglia 48, 53

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Register

Il turco in Italia 48 La Cenerentola 48 La donna del lago 48 La gazza ladra 44, 48 L’inganno felice 48 Mosè in Egitto 48 Otello 48 Semiramide 48 Tancredi 44 Turco in Italia 48 Zelmira 48 Roth, Joseph 106f., 117–118 Rousseau, Jean-Jacques 159, 163 Rozier 46 Rückert, Friedrich 185–187 Ruprecht 46 Saint Romain 46 Saint-Saëns, Camille 198 Salieri, Antonio 21, 41f., 51 Schaal, Hans-Dieter 205, 209, 211, 215, 220 Schäfer, Christine 203 Schäffel 46 Schechner, Anna 44, 46f. Schiller, Friedrich 27, 30, 179f., 185, 188 Schindler, Anton 45, 47, 50 Schlechta, Franz von 165 Schlegel, August Wilhelm 65, 180 Schlegel, Friedrich 65, 71, 92, 180, 186 Schleiermacher, Friedrich 71, 91 Schmidt, Christian Martin 181 Schober, Franz von 57, 60–62, 64, 66, 69, 92, 165, 185 Schönberg, Arnold 111 Schott, Franz 121 Schroeder-Devrient, Wilhelmine 46, 198 Schubart, Friedrich 181 Schubert, Ferdinand 41, 138, 166 Schubert, Franz Abendlied einer Fürstin (D 495) 180 Abschied (D 957/7) 190 Adelwold und Emma (D 211) 12 Agnes (Idas) Nachtgesang (D 227) 179 Alfonso und Estrella (D 732) 57–68 Alinde (D 904) 188 Allegretto in C (D 346) 119, 122–126, 128–132 Allegro in a (D 947) 105f., 111–115, 117f. Am Grabe Anselmos (D 504), 2. Fass. 180 Am Meer (D 957/11) 190 Amalia (D 195) 179, 188 Ammenlied (D 122) 179 Andenken (D 99) 168 An Anselmo’s Grabe (D 504) 190

An die Leier (D 376) 185 An die Leier (D 737) 192 An die Musik (D 547) 65, 69, 92, 185 An die Nachtigall (D 196) 187 An die Nachtigall (D 497) 180, 187 An die Sonne (D 270) 179 An eine Quelle (D 530) 187 An Mignon (D 161) 168 An Myrtill (D 922), 2. Fass. 181 An Schwager Kronos (D 369) 191 Auf dem See (D 543) 189 Auf dem Wasser zu singen (D 774) 188 Auf der Donau (D 553) 168 Aufenthalt (D 957/5) 189 Bardengesang (D 147) 21, 25 Berthas Lied in der Nacht (D 653) 180 Blanka (Das Mädchen) (D 631) 180 Blondel (Blondel zu Marien) (D 626) 185 Concerto in D (D 345) 138–141 Cora an die Sonne (D 263) 179 Cronnan (D 282) 17–19, 21, 24 Danksagung an den Bach (D 795/4) 186 Daphne am Bach (D 411) 180 Das Dörfchen (D 598) 166 Das Echo (D 868) 181 Das Finden (D 219) 12 Das Mädchen (D 652) 180 Das Mädchen von Inistore (D 281) 13f., 16f. Das Rosenband (D 280) 188 Das Sehnen (D 231) 168 Daß sie hier gewesen (D 775) 187 Das Wandern (D 957/1) 168, 172f. Das Wirtshaus (D 911/ 21) 187 Dem Unendlichen (D 291) 187 Der Abend (D 221) 12 Der Alpenjäger (D 524) 174 Der Atlas (957/8) 200 Der blinde Knabe (D 833) 173 Der Einsame (D 800) 173, 183, 189, 200 Der Geist der Liebe (D 747) 166 Der Goldschmiedsgesell (D 560) 189 Der Gott und die Bajadere (D 254) 12 Der Jüngling am Bache (D 638) 188 Der Kreuzzug (D 932) 191 Der Liedler (D 209) 24 Der Lindenbaum (D 911/5) 185, 192 Der Neugierige (D 795/6) 189 Der Müller und der Bach (D 795/19) 186 Der Musensohn (D 764) 187, 192 Der Sänger (D 149) 191 Der Schiffer (D 536) 191 Der Schiffer (D 694) 168 Der stürmische Morgen (D 911/18) 187

Register Der Tod Oskars (D 375) 21, 191 Der Tod und das Mädchen (D 531) 191 Der Wanderer (D 493) 189 Der Wanderer (D 649) 167, 173, 177f., 183 Der zürnenden Diane (D 707) 191 Der Zwerg (D 771) 187 Des Mädchens Klage (D 6), 1. Fass. 179, 185 Des Mädchens Klage (D 191), 2. Fass. 179 Des Mädchens Klage (D 389) 180 Die Allmacht (D 852) 72–75, 83, 85, 89, 91f., 190 Die Betende (D 102) 17 Die böse Farbe (D 795/17) 186 Die Bürgschaft (D 246) 27–29, 31f., 34–38 Die Bürgschaft (D 435) 27f., 38 Die Erwartung (D 159) 188 Die Forelle (D 550) 173, 189 Die Gestirne (D 444) 195 Die junge Nonne (D 828) 180, 190, 195, 201 Die Krähe (D 911/15) 189 Die liebe Farbe (D 795/16) 186 Die Liebende schreibt (D 673) 180 Die Männer sind mechant (D 866/3) 181 Die Nacht (D 534) 22f., 25, 165 Die Nachtigall (D 724) 49 Die Nonne (D 208) 12 Die Post (D 911/13) 189 Die Rose (D 745) 190 Die schöne Müllerin (D 795) 120, 162, 167, 185f., 189f., 192 Die Spinnerin (D 247) 179 Die Stadt (D 957/11) 167, 188 Die Unterscheidung (D 866/1) 181 Die verfehlte Stunde (D 409) 180 Dithyrambe (D 801) 167, 190 Doppelgänger (D 957/13) 187, 198 Drei Gesänge (D 902) 41–43, 47f., 50, 54f. Drei Klavierstücke (D 946) 122 Du bist die Ruh (D 776) 186 Du liebst mich nicht (D 756) 190 Eifersucht und Stolz (D 795/15) 186 Ellens Gesang I (D 837) 180 Ellens Gesang II (D 838) 180, 185 Ellens Gesang III (D 839) 70, 173, 180, 189, 195 Erlkönig (D 328) 18, 37, 168, 172–175, 183, 187, 192, 195, 198 Erstarrung (D 911/4) 186 Erster Verlust (D 226) 191 Fantasie in C (D 760) 135f. Fantasie in C (D 934) 138, 141f. Fantasie in f (D 940) 105, 111, 128f. Fantasie in G (D 1) 105

229

Fierabras (D 796) 205–208, 211f., 214–217, 221–223 Fischermädchen (D 957/10) 191 Frühlingsglaube (D 686) 174, 186 Frühlingslied (D 243) 188 Fünf Klavierstücke (D 459/A) 122 Ganymed (D 544) 186, 192 Geheimes (D 719) 186 Geheimnis (D 491) 186 Gesang der Geister über den Wassern (D 714) 93f. Gesang der Norma (D 831) 180 Gott in der Natur (D 757) 85 Gesang des Harfners (D 478) 188 Grazer Fantasie (D 605 A) 129 Greisengesang (D 778) 167, 191 Gretchen am Spinnrade (D 118) 29, 37, 162, 179, 188, 195, 198, 201 Gretchens Bitte (Gretchen im Zwinger) (D 564) 180 Gruppe aus dem Tartarus (D 583) 188 Hagars Klage (D 5) 179 Halt (D 795/3) 186 Hänflings Liebeswerbung (D 552) 168–170 Heidenröslein (D 257) 168, 188 Heliopolis I (D 753) 167 Herbst (D 945) 181 Hymne an die Jungfrau: Ave Maria (D 839) 70, 173, 189, 195 Ich denke Dein (D 162), 2. Fass. 189 (Idens) Schwanenlied (D 317) 180 Ihr Bild (D 957/9) 188 Il modo di prender moglie (D 902) 50f., 55 Im Dorfe (D 911/17) 187 Im Freien (D 880) 187 4 Impromptus (D 935) 107, 121, 129, 131 Iphigenia (D 573) 180 Klage der Ceres (D 323) 180 Klagelied (D 23) 179 Klärchen (D 210) 179 Klavierstück I (D 946) 122 Klavierstück II (D 946) 122 Klaviertrio (D 28) 126 Klaviertrio in B (D 898) 94, 148 Klaviertrio (D 929) 94 Kolmas Klage (D 217) 12f., 17, 179, 185 Kriegers Ahnung (D 957/2) 188, 191 Lachen und Weinen (D 777) 185 Lambertine (D 301) 180 Liebesbotschaft (D 957/1) 187 Lied der Anne Lyle (D 830) 180 Lied der Mignon I (D 877) 180 Lied der Mignon II (D 877) 181

230

Register

Lied der Mignon III (D 877) 181 Lied eines Schiffers an die Dioskuren (D 360) 167 Lied nach dem Falle Nathos (D 278) 16 Lieder von Selma (D 217) 12f. Lilla an die Morgenröte (D 273) 180 Litanei (D 343) 191 Lob der Tränen (D 711) 173, 190 Lodas Gespenst (D 150) 13, 20–23 Lorma-Fragmente (D 376) 25 Luisens Antwort (D 319) 180 Meeresstille (D 215) 191 Mein (D 795/11) 186 Memnon (D 541) 185, 192 Messe in As (D 678) 72, 75, 82–84, 86, 88f., 92 Messe in B (D 324) 74, 78 Messe in C (D 452) 74, 80 Mignon (D 321) 180 Mignon (D 877/2) 185 Mignon I (D 726) 180 Mignon II (D 727) 180 Mignon und der Harfner (D 877) 190 Minona (D 152) 11f. Moments musicaux (D 780) 107, 129 Morgengruß (D 795/8) 173 Morgenlied (D 685) 173 Nacht und Träume (D 827) 168, 171f., 174, 188 Nachthelle (D 892) 93–96, 98f., 103f. Nachtstück (D 672) 168, 187 Nähe des Geliebten (D 162) 179 Oktett (D 803) 152 Pause (D 795/12) 186 Pflicht und Liebe (D 467) 180 Philine (D 500) 180 Polonaise in B (D 580) 138 Quartettsatz in c (D 703) 145 Rastlose Liebe (D 138) 187 Romanze aus Rosamunde (D 797) 186 Rondo in A (D 438) 138, 140f. Rondo in A (D 951) 105, 111 Rondo in h (D 895) 138, 141–143 Schäfers Klagelied (D 121) 173, 176, 178, 191 Schlummerlied (D 527) 188 Schwanengesang (D 957) 121, 186–192 Sehnsucht (D 310) 180 Sei mir gegrüßt (D 741) 143, 189 Serafina an ihr Klavier (An mein Clavier) (D 342) 181 Shilric und Vinvela (D 253) 19 Shilric und Vinvela (D 293) 17 Sonate in a (D 385) 138, 143

Sonate in a (D 537) 152 Sonate in a (D 784) 148 Sonate in a (D 845) 148 Sonate in A (D 664) 152 Sonate in A (D 574) 138, 141, 143 Sonate in A (D 959) 130 Sonate in C (D 279) 122f. Sonate in C (D 812) 147 Sonate in c (D 958) 149–152 Sonate in D (D 384) 138, 143 Sonate in D (D 850) 148 Sonate in g (D 408) 138, 143 Sonate in G (D 894) 152 Sonate in H (D 575) 152 Sonatensatz in fis (D 571) 129 Ständchen (D 920/921) 93f., 98, 100, 102–104, 173, 188 Ständchen (D 957/4) 188 Streichquartett in d (D 810) 148 Streichquartett in G (D 887) 103, 148, 150, 152 Streichquintett (D 956) 74, 94, 130, 152 Suleika (D 720) 186 Suleika I (D 729) 180 Suleika II (D 726) 180 Suleikas zweiter Gesang (D 717) 188 Symphonie in c (D 417) 15 Symphonie in C (D 944) 72, 89f., 152 Symphonie in D (D 200) 148 Symphonie in h (D 759) 145 Szene aus Faust (D 126) 19 Taubenpost (D 957) 186 Täuschung (D 911/19) 189 Thekla. Eine Geisterstimme (D 23) 179 Thekla. Eine Geisterstimme (D 595), 2. Fass. 180 Trockene Blumen (D 795/18) 190 Trockene Blumen (D 802) 120, 174 Trois Marches militaires (D 733) 106–111, 116–118 Trost in Tränen (D 120) 174 Über Wildemann (D 884) 190 Ungeduld (D 795/7) 168, 173, 189 Vaterlandslied (D 287) 180 Von Agnes (Ida) (D 228) 179 Vor meine Wiege (D 927) 188 Waldesnacht (D 561) 188 Waldes-Nacht (Im Walde) (D 708) 186 Wehmut (D 772) 187 Widerschein (D 865) 191 Wie Ulfru fischt (D 525) 168 Wiegenlied (D 304) 180 Wiegenlied (D 498) 180

Register Wiegenlied (D 867) 181 Willkommen und Abschied (D 767) 187, 191 Winterreise (D 911) 41, 43, 66, 120, 162f., 183, 185–187, 189, 192, 200, 203 Wohin? (D 957/2) 168, 173, 186, 190 Wonne der Wehmut (D 260) 186 Zur Namensfeier meines Vaters (D 80) 165 Schubert, Giselher 135–144 Schücking, Clemens August 179 Schumann, Clara 198 Schumann, Robert 121, 183, 185, 200f. Dichterliebe 200 Frauenliebe und Leben op. 42 183, 201 Schulz, Johann Abraham Peter 61 Lieder im Volkston 61 Schuster, Mathias 46 Scott, Walter 17, 70, 180, 185 Seidl, Johann Gabriel 93, 95f., 98, 181, 187f. Senff, Barthold 195 Shakespeare, William 207 Slawjk, Josef 138 Sokrates 163 Sonnleithner, Leopold von 94, 102 Spaun, Josef von 11f., 49 Spinoza, Baruch de 71 Spohr, Louis 46 Faust 46 Springer 46 Stauffer, Johann Georg 166 Steinbeck, Wolfram 145–152 Steinitzer, Max 200 Stendhal 161f. Stockhausen, Julius 183–192, 198f., 201 Stolberg, Friedrich Leopold zu 180, 188 Stoll, Joseph Ludwig 180 Stollberg, Arne 69–92 Strandt, Marie-Luise 205 Strauss, Johann (der Ältere) 107 Strauss, Richard 69 Ariadne auf Naxos 69 Strawinsky, Igor 116 Circus Polka. For a Young Elephant 116 Stullmiller 46 Sulzer, Johann Georg 31, 119 Taglioni, Filippo 46 Taglioni, Marie 46

231

Taglioni, Paul 46 Teimer, Henriette 46 Töpfermann 46 Torelli 46 Treitschke, Georg Friedrich 45 Tremier, Franziska 183 Uetz 46 Uhland, Ludwig 186 Umlauf, Michael 46 Umlauff von Frankwell, Viktor 165f. Unger-Sabatier, Karoline 183, 198 Vaucanson, Jacques de 159 Verdi, Giuseppe 206 Viardot-Garcia, Pauline 184–191, 193–198 Viotti, Giovanni Battista 139 Vitorelli, Jacobo 41 Vogl, Johann Michael 43, 46, 50, 72, 183 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 70f. Walcher, Ferdinand 104 Waldmüller, Katharina Anna 46 Walisch, Gottlieb 124 Wagner, Richard 62, 161f., 203, 206 Das Rheingold 95 Die Meistersinger von Nürnberg 162 Tannhäuser 62 Wesendonck-Lieder 203 Wartel, Pierre Francois 195 Weber, Carl Maria von 46, 135 Konzertstück für Klavier und Orchester f-Moll op. 79 135 Weigl, Josef 44–46, 55 Die Jugend Peters des Großen 46 Die Schweizer Familie 44 Weissmann, Adolf 201 Wigman, Mary 218f. Willemer, Marianne von 180, 186, 188 Wirth, Julia 198 Wolf, Hugo 200 Der Mond hat eine schwere Klag 200 Und willst du deine Liebsten sterben sehen 200 Würfel, Wenzel 45f. Zeltner, Leopold 46 Zumsteeg, Johann Rudolf 11–13, 18, 21, 24, 28–30, 37 Lenore 28f., 37

ABKÜRZUNGEN (SIGLEN) AGA: Franz Schubert’s Werke. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe, Leipzig 1884– 1897 (Alte Schubert-Ausgabe) Deutsch, Erinnerungen: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und erläutert von Otto Erich Deutsch, Leipzig 21966 Deutsch, Thematisches Verzeichnis: Otto Erich Deutsch, Franz Schubert. Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge. Neuausgabe in deutscher Sprache bearbeitet und herausgegeben von der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe und Werner Aderhold, Kassel etc. 1978 (NGA VIII:4) IFSI. Mitteilungen: Schubert durch die Brille. Mitteilungen des Internationalen Franz Schubert Instituts, hrsg. von Ernst Hilmar NGA: Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Kassel u. a. 1964 ff. (Neue Schubert-Ausgabe) Schubert. Die Dokumente seines Lebens: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Gesammelt und erläutert von Otto Erich Deutsch, Kassel etc. 1964 (NGA VIII:5) Schubert. Dokumente 1817–1830: Franz Schubert. Dokumente 1817–1830. Erster Band: Texte. Programme, Rezensionen, Anzeigen, Nekrologe, Musikbeilagen und andere gedruckte Quellen, hrsg. von Till Gerrit Waidelich, Vorarbeiten von Renate Hilmar-Voit und Andreas Mayer (Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 10/Teilband 1), Tutzing 1993 Schubert. Dokumente 1801–1830. Addenda und Kommentar: Franz Schubert. Dokumente 1801–1830. Erster Band: Texte. Programme, Rezensionen, Anzeigen, Nekrologe, Musikbeilagen und andere gedruckte Quellen. Addenda und Kommentar, hrsg. von Ernst Hilmar unter Mitarbeit von Werner Bodendorff (Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 10/Teilband 2), Tutzing 2003

234

Abkürzungen (Siglen)

Schubert-Handbuch: Schubert-Handbuch, hrsg. von Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel etc. 1997 Schubert-Lexikon: Schubert-Lexikon, hrsg. von Ernst Hilmar und Margret Jestremski, Graz 1997 MGG1: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von Friedrich Blume, Kassel etc. 1949–1986 MGG2: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. neubearb. Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel etc. 1994 ff.

Christine Blanken

Franz Schuberts „Lazarus“ und das Wiener Oratorium zu Beginn des 19. Jahrhunderts Schubert : Perspektiven – Studien Band 1

Die überlieferte Reinschrift seines Lazarus bricht kurz vor Ende des zweiten Teils jäh ab – hatte Schubert hier wieder kompositorisches Niemandsland betreten, eine kühne Vorwegnahme musikdramatischer Formprinzipien unternommen, deren Einlösung erst späteren Generationen vorbehalten sein sollte? Schaffenskrise oder schlicht eine geplatzte Auftragsarbeit? – zwischen diesen Polen orientiert sich die vorliegende Untersuchung an Kriterien, die die Autorin beim Versuch einer gattungsmäßigen Einordnung in die Wiener Traditionen nebst ihres schillernden oratorischen Umfeldes vorab erst entwickelt. Zugleich werden Materialien zur Geschichte des OratoriChristine Blanken Franz Schuberts „Lazarus“ und das Wiener Oratorium zu Beginn des 19. Jahrhunderts 379 Seiten mit zahlreichen Notenbeispielen. Geb. ISBN 978-3-515-07933-4

ums, zur Zensurpraxis der k.k. Polizeibehörde um 1820 und zur Kirchenmusikpflege in Österreich bereitgestellt. .............................................................................................................

Pressestimmen „…eine wertvolle Bereicherung sowohl der Schubertliteratur als auch der Musikgeschichte Wiens…“ Österreichische Musikzeitschrift „Die Arbeit von Christine Blanken zeichnet sich nicht nur durch eine imponierende Fülle an Material verschiedenster Art und durch ideenreichen Wechsel von Forschungsstandpunkten aus, sondern auch durch eine glückliche Hand im Aussondern oder Verknüpfen der gewonnenen Fakten. Sie darf daher über die interessante und wichtige Thematik hinaus geradezu als exemplarisch und für jeden Schubertianer als Pflichtlektüre bezeichnet werden.“ Schubert : Perspektiven

„Unbedingt zu empfehlen!“

Musicologica Austriaca

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Andrea Lindmayr-Brandl

Franz Schubert Das fragmentarische Werk Schubert : Perspektiven – Studien Band 2

Fragmente spielen im Werk von Franz Schubert eine außergewöhnlich große Rolle. Neben so bekannten Werken wie der „Unvollendeten“ oder der „ReliquienSonate“ finden sich in Schuberts Œuvre etwa 200 weitere fragmentarische Kompositionen im weitesten Sinn. Die vorliegende Studie ist die erste umfassende Untersuchung von Schuberts fragmentarischem Werk, in der auch grundlegende Fragen zur Definition und Kategorisierung diskutiert werden. Die Analyse ausgewählter Kompositionsfragmente gibt zusammen mit einer übersichtlichen Darstellung aller fragmentarischen Werke Schuberts einen außergewöhnlichen Einblick in die Arbeitsweise des Komponisten. Mit der zugrundeliegenden Fragmenttheorie bildet diese Andrea Lindmayr-Brandl Franz Schubert Das fragmentarische Werk 394 Seiten mit 19 Abbildungen. Geb. ISBN 978-3-515-08250-1

Studie über den Einzelfall hinaus ein Basiswerk für Untersuchungen zum Fragmentarischen in der Kunst. .............................................................................................................

Aus dem Inhalt Fragmenttheorie t Die Vielfalt der Fragmente t Die zentrale Fragmentkategorie: Kompositionsfragmente t Das Genre der Klaviermusik t Vier ausgewählte Beispiele t Fragmentrezeption t Fragmentkategorien im Überblick

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Franz Schuberts Musik hat auch zwei Jahrhunderte nach der Entstehung nichts von ihrer Faszination eingebüßt. In seinem ebenso umfangreichen wie vielschichtigen Schaffen, das sämtliche musikalischen Gattungen bedient, konzentriert sich gleichsam die Gedankenwelt des frühen 19. Jahrhunderts. Die prekäre biographische und ästhetische Situation, in der sich Schubert zeitlebens befand, zieht sich hintergründig durch die Musik – und dies für jede Werkgruppe mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Solche Eigenheiten aufzuspüren, haben sich die Autorinnen und Autoren des Bandes zur Aufgabe gemacht. Notwendigerweise er-

gibt sich aus der Fragestellung eine Auseinandersetzung mit dem ganzen Werkkatalog, was mit einer gleichzeitigen Fokussierung auf repräsentative Fallbeispiele geleistet wird. Seitenblicke gelten außerdem der spektakulären Rezeption. Der Band vereint Beiträge einiger der führenden Vertreter der Schubert-Forschung, die sie Hans-Joachim Hinrichsen zu seinem 60. Geburtstag widmen, und bietet aufgrund seiner thematischen Breite einen Überblick über den Forschungsstand sowie neueste Ansätze in der Auseinandersetzung mit einem der prägendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10677-1