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German Pages 360 [364] Year 2013
SchreibLust
SchreibLust Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert
Herausgegeben von
Renate Stauf und Jörg Paulus
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028563-5 e-ISBN 978-3-11-028572-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ” 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Kolorierter Stich nach Jan Vermeer, Briefleserin am offenen Fenster (1657) Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Renate Stauf, Jörg Paulus Schreibszenen des Liebens ................................................................................. 1
I. Ersehnte Gegenwart und Lust der Abwesenheit Roman Lach „Meine Selbstgespräche sind an dich gerichtet“. Goethes monologische Briefe an Charlotte von Stein ............................................... 15 Tanja Reinlein Verlangende Frauen, zögernde Männer. Strategien des Liebeswerbens in Briefen der Empfindsamkeit (Meta Moller und Klopstock, Caroline Flachsland und Herder) ............................................... 33 Robert Vellusig Der verliebte Philosoph. Moses Mendelssohns Brautbriefe ...................... 49
II. Losschreibungen Jörg Paulus Confessio und Sinceritas. Liebes- und Glaubensbekenntnisse in Briefen (1750–1780) .......................................................................................... 79 Ulrike Leuschner „[…] ein gar zu kostbahres pfand“. Modulationen der Zärtlichkeit in den Liebesbriefen des Georg Ernst von und zu Gilsa und der Henriette von der Malsburg ............................................................................. 99
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Inhalt
III. Liebende Vernunft und gebändigte Affekte Jochen Strobel „Philosophische Liebe“ als kognitives Gefühl. Louise Kulmus’ Briefe an Johann Christoph Gottsched ....................................... 119 Monika Ritzer Liebe in Zeiten der Leidenschaft. Leisewitz: Brautbriefe.......................... 141
IV. Epistolare Experimente Renate Stauf „[…] rette Dich, setze mich aus ans Ufer“. Aporien der romantischen Liebe im Briefwechsel zwischen Karoline von Günderrode und Friedrich Creuzer .............................................................. 165 Martina King Pygmalions Labor. Moderne Naturwissenschaft und literarische Tradition im Briefwechsel zwischen Jakob Henle und Elise Egloff ....... 187
V. Medienphantasien Carsten Rohde Authentizität, Fiktionalität und das Imaginäre. Zur Poetik von Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert am Beispiel des jungen Goethe ..... 215 Andrea Hübener „Ich bin das Blatt auf das die Erinnerung alle Seeligkeit geäzt“. Der Liebesbrief als pseudonymes Medium (Bettine von Arnim und Hermann von Pückler-Muskau) .................................................................... 239 Annette Simonis Musikalische Liebesbriefe. Zur Verwendung eines intimen Kommunikationsmediums bei Clara und Robert Schumann ................... 271
Inhalt
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Cord-Friedrich Berghahn Études d’Exécution Transcendante: Der Briefwechsel zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult .................................................................... 287 Cornelia Ortlieb Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé .......................................................................................... 307
Sonja Brandes Diskussionsbericht .......................................................................................... 331
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................... 343 Personen- und Werkregister........................................................................... 347
Renate Stauf, Jörg Paulus
Schreibszenen des Liebens „Pour être aimé, il faut se rendre aimable.“ Das Zitat aus Jean Jacques Rousseaus Èmile, ou De l’éducation steht als Motto auf dem Innentitel des im Jahr 1800 erschienenen Leipziger Briefstellers für Liebende beiderley Geschlechts. Nebst einer kleinen Orthographie für Frauenzimmer.1 Das Erscheinungsjahr dieses Liebesbriefstellers markiert nur rein rechnerisch die Mitte auf einer gedachten Linie von 1700 bis 1900, die man sich als Durchmesser der im vorliegenden Band betrachteten Korrespondenzen-Konstellation denken kann. Schon die Spannung zwischen dem an beide Geschlechter adressierten Haupttitel und dem Untertitel, der sich allein an die „Frauenzimmer“ richtet, verweist auf eine Unwucht im Rad der Kulturgeschichte. Und die Wahl des Mottos mit seiner impliziten briefstellerischen Aufforderung, sich liebeswert zu machen, um geliebt zu werden, verweist auf innere Spannungen, indem dieses Postulat jenem Gebot der Natürlichkeit zu widersprechen scheint, das 50 Jahre zuvor von Gellert und den ihm unmittelbar nachfolgenden Brieftheoretikern zum Ideal erhoben worden war. So stark und nachhaltig dieses Postulat der Natürlichkeit in der geselligen und literarischen Kultur auch akzeptiert und fortgeschrieben wurde, so wenig taugt es zu einer generalisierten Beschreibung von Liebesbriefwechseln. Allgegenwärtig ist zum Beispiel die Klage, dass der Brief die Zeit der Abwesenheit des Anderen nur unzureichend zu überbrücken vermöge, dass das mündliche Gespräch durch das schriftliche keineswegs kompensiert werden könne, dass die leibhaftige Gegenwart sich durch die erschriebene Nähe nicht ersetzen lasse. Insgesamt wird dabei der Versuch, Liebe im Brief zu kommunizieren, als defizitär begriffen, als Ersatz für einen unmittelbaren Ausdruck des Gefühls. So finden sich immer wieder Aussagen wie „Das Küssen in Gedanken will nicht so recht schmecken“,2 oder „Ich kann Dir nicht, gar nicht recht beschreiben, mit welchen ange1 2
Briefsteller für Liebende beiderley Geschlechts. Nebst einer kleinen Orthographie für Frauenzimmer und einem Verzeichnisse der gleichlautenden Wörter. Leipzig 1800. Brief von Arnold Rimpau an Betty Stiller. Braunschweig, 2. Oktober 1809. H: Stadtarchiv Braunschweig, Signatur G IX 40: 50. Transkription des Briefes von Regina Petrich im Rahmen eines Projektseminars zur Liebesbriefkultur an der TU Braunschweig.
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nehmen Empfindungen mir der Gedanke an unsre Verbindung verknüpft ist […].“3 Die Omnipräsenz solcher Formeln muss nun freilich nicht bedeuten, dass Liebesbriefwechsel generell unter dem in ihnen behaupteten Vorbehalt der Defizienz stehen. Die obsessiv wahrgenommene Möglichkeit einer schreibenden Selbstvergewisserung und einer erschriebenen Modellierung des Anderen, die Verschmelzung des Liebesgesprächs mit alltäglichen, künstlerischen, wissenschaftlichen und vielen anderen Themen bezeugen oft das Gegenteil – eine ungebrochene Schreiblust, die hinter aller oft (aber nicht immer) konventionellen Rhetorik in Erscheinung tritt und nicht selten den Ausgangspunkt und das Erhaltungsprinzip der Liebe bildet. Diese Janusköpfigkeit des Liebesbriefs, einerseits ein Medium der Proklamation von Mangel zu sein, andererseits aus dem Mangel seinen ganzen Reichtum zu beziehen, lässt Versuche, aufgrund von ‚Wesensmerkmalen‘ beziehungsweise spezifischen Kommunikationsstrukturen oder anthropologischen Prämissen zu einer allgemeingültigen Definition des Liebesbriefs zu gelangen, zumindest fraglich erscheinen. Das legt nahe, dass Liebesbriefkultur nicht als Begleiterscheinung einer allgemeinen Briefkultur anzusehen ist, deren Reglements und Dynamiken sich in ihr einfach fortsetzen. In einem Initialbrief an die Leserinnen, die er als „Meine Schönen“ anspricht, nimmt denn auch der als „Der Verfasser“ des Briefstellers für Liebende kontrasignierende Anonymus für sich in Anspruch, „eine Lücke“ im Bücherschrank auszufüllen, „die man bis jetzt noch nicht bemerkt zu haben scheint.“4 In der nachfolgenden Vorrede indes macht er deutlich, dass diese Lücke dann doch nicht allzu viel Freiraum bietet: Er habe nicht die Absicht, „Liebe à la Epicur anzuempfehlen“, aber auch deren Gegenteil, die platonische Liebe, halte er „zwischen jungen feurigen Personen“ für „ein Unding“, so dass er sich bemühen werde, „eine glückliche Mittelstraße zu treffen“.5 In einer Kulturgeschichte des Liebesbriefes, die aus den oben genannten Gründen immer nur approximativ verfolgt werden kann, wird es sinnvollerweise nicht oder nur partiell darum gehen, diesem normativen Mittelweg zu folgen; aber auch die Abweichung von der Norm kann kein tragfähiges Fundament für eine solche Kulturgeschichte bilden, wenn sie den Gedanken eines kulturellen Archivs aufrechterhalten will. Dies gilt
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Brief von Clemens Brentano an Sophie Mereau. Frankfurt, 8.–9. Oktober 1803. In: Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau. Nach den Handschriften hg. v. Heinz Amelung. Potsdam 1939, S. 246. „Meine Schönen!“. In: Briefsteller für Liebende, o.S. „Vorrede“. In: Briefsteller für Liebende, S. VIII.
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auch dann, wenn sie vom Gedanken Abstand nimmt, eine integrierende ‚große‘ Erzählung der brieflichen Liebe zu (re-)konstruieren. Vielstimmigkeit, ja Divergenz, sowie innere und äußere Widersprüche müssen gerade vor diesem Hintergrund nicht so sehr als Störung und Hindernis wissenschaftlicher Praxis begriffen werden, sondern vielmehr als deren eigentliches Element. Der unablässige enharmonische Wechsel von Verbergen und Offenbaren, von Nähe und Ferne, von Selbst-Sein und Selbst-Mitteilen (und damit eben auch Selbst-Erfinden: „se rendre aimable“), macht den Liebesbrief zu einem Phänomen, das nicht nur immer neu gedeutet, sondern in gewisser Weise auch immer neu in der Deutung nachvollzogen werden muss. So gesehen, kann eine Kulturgeschichte des Liebesbriefes letztlich nur eine vielstimmige und potentiell unabschließbare sein. Sie muss für prinzipielle Fragen offen sein, dabei aber stets auch den einzelnen Briefwechseln in ihrer Eigenständigkeit gerecht werden. Der vorliegende Band versteht sich als Fortsetzung eines solchen prinzipiell offenen Forschungsansatzes zur Liebesbriefkultur. Er schließt mit den Ergebnissen der internationalen und interdisziplinären Braunschweiger Tagung „SchreibLust“ vom 6. bis 9. Oktober 2011 an die vorausgehende Publikation „Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ an,6 die wie der Liebesbriefsteller aus dem Jahr 1800 auf eine Lücke aufmerksam machen wollte. Die Beiträge des ersten Teils bewegen sich im Spannungsfeld einer sich etablierenden, empfindsam geprägten Liebesbriefkultur. Mit der Überschrift „Ersehnte Gegenwart und Lust der Abwesenheit“ beziehen wir uns auf einen doppelt codierten Schreibgestus, der – den Raum des Imaginären mit einbeziehend – einerseits auf kommunikative Formeln zurückgreift, die den Wunsch nach leibhaftiger Gegenwart und Mitteilung ausdrücken, andererseits aber erkennen lässt, dass die Abwesenheit des geliebten Gegenübers für den Ausdruck des Liebesbegehrens und den Reiz einer fortgesetzten Selbstmitteilung eine ebensogroße Faszinationskraft besitzt. ROMAN LACHS Analyse des Briefwechsels zwischen Goethe und Charlotte von Stein greift zunächst die lange Zeit fortgeschriebene These auf, dass „das Zwiegespräch mit der Partnerin [hier] ganz dem Selbstgespräch weiche, das das Gegenüber nur noch als Anlass benötige.“ Dabei ranke sich der ganze Briefwechsel um den Leitbegriff der Entsagung. 6
Vgl. Stauf, Renate, Anette Simonis u. Jörg Paulus: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008.
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Entsagung im erotischen Kontext meint aber nicht, wie Roman Lach ausführt, die Zerstörung des Liebesobjektes und seine Ersetzung durch Produkte künstlerischer Imagination; Entsagung wird hier vielmehr zum Multiplikator der Liebe. Dies erschließt sich freilich erst dann, wenn man den Briefwechsel im Kontext eines mehrfach vermittelten Bezugssystems liest, über das diese Paarbeziehung hergestellt wird. Lach zeigt an Goethes italienischer Existenz die Fortsetzung eines brieflichen Zwiegesprächs mit Charlotte auf, das selbst im Medium des Tagebuchs den monologischen Redegestus zum dialogischen hin überschreitet; im sinnstiftenden Bezugsystem der Symbolisierung ist Charlotte von Stein als Adressatin stets präsent, müssen Abschiedsbriefe zugleich als Liebesbriefe gelesen werden, die auf Kontinuität setzen, wird der Verzicht zum Substitut für die Erfüllung. Das dialogische Schreibprojekt einer welterschließenden und ordnenden Liebe wird von Goethe bis zuletzt nicht aufgegeben, sondern in ein panerotisches Modell transferiert. Ob Charlotte von Stein diesen letzten Schritt dann doch nicht mitgehen wollte, weil ihr Modell von Entsagung, wie Lach annimmt, ein anderes gewesen ist, muss wohl spekulativ bleiben. Das Medialitätsbewusstsein, das bei Goethe an die Stelle einer schreibend anvisierten Unmittelbarkeit des Gesprächs tritt, deutet sich auch in den von TANJA REINLEIN untersuchten Briefwechseln an. Sie vergleicht das Liebeswerben in zwei Briefwechseln, die als exemplarisch für die Herausbildung einer neuen, gefühlsorientierten Sprachkultur im Zeitalter der Empfindsamkeit gelten dürfen. Diese ‚Herzenssprache‘, die ihren Reiz vorgeblich aus einer naiven Unmittelbarkeit der geäußerten Gefühle bezieht, tritt bei Klopstock und Meta Moller wie auch bei Herder und Caroline Flachsland fast spielerisch in den Dienst subtiler und raffinierter Schreibbewegungen. Wichtiger als die seit Gellert für die Briefsprache propagierten Ingredienzien der Aufrichtigkeit, Spontanität und Natürlichkeit scheint bei beiden Paaren die briefliche Verständigung durch einen Kommunikations- und Liebescode zu sein, der sich auf das eigene Begehren wie auf das des Anderen richtet und in einem gemeinsam erschriebenen ‚Gefühlsraum‘ die Möglichkeiten und Grenzen einer zukünftigen Verbindung auslotet. Davon profitieren vor allem Meta Moller und Caroline Flachsland. Es zeigt sich, dass beide Frauen ihre Briefe auf überraschend zielstrebige Weise zum Ort einer selbstbewussten Artikulation ihrer Bedürfnisse machen und Zuschreibungen, die den Weiblichkeitsvorstellungen der Zeit geschuldet sind, schreibend – und mit Erfolg – unterlaufen. Eine interessante Variante des ‚zögernden Mannes‘ beobachtet ROBERT VELLUSIG in den an Fromet Gugenheim gerichteten Brautbriefen von Moses Mendelssohn. Der verliebte Philosoph befindet sich dabei in
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einer Art Notstand: Im gelehrten Umfeld verbirgt er seine Gefühle scherzend unter der Maske des Narren, womit er der männlichen Gelehrtenkultur der Zeit Rechnung trägt, in deren Horizont die Philosophie als die wahre Geliebte erscheint; zugleich wird diese Fixierung auf Bücher und Buchgelehrsamkeit im Namen eines auf Alltag, Häuslichkeit und Geselligkeit bezogenen Menschseins ironisch in Frage gestellt. Von hier aus lassen sich verschiedene Deutungsoptionen ins Spiel bringen. Vellusig erkennt den wahrhaft Liebenden genau dort, wo der „Eigensinn“ des Schreibenden als Essenz der Briefliebe in Erscheinung tritt. Die unsentimentale, scherzhaft-spielerische und dennoch einen Raum des Vertrauens und der Seelenbildung schaffende Liebessprache ist indes auch ein Zeichen dafür, dass sich die Liebesbriefkultur einer definitorischen Festlegung entzieht. Sie kann wohl mit Vellusig als „kulturelle Modifikation eines anthropologischen Erbes“ begriffen werden; ihre akzidentellen Erscheinungsformen, wie sie in der Materialität von Briefen, in Briefbeilagen, Sprachspielen und Schreibanordnungen vorliegen, zeugen demgegenüber aber auch von einem Eigensinn der Korrespondenzsituation in jedem Augenblick der wechselnden Schreib- und Leseszenen. In den Beiträgen des zweiten Teils – „Losschreibungen“ – werden verschiedene Schreibbewegungen beobachtet, denen, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick erscheinen, eine erschriebene Divergenz gegenüber vorgegebenen gesellschaftlichen Traditionen sowie religiösen und philosophischen Denkmustern gemeinsam ist. Dies kann als einübendes Losschreiben innerhalb einer formalen Regelerfüllung geschehen, in listigen Schreibakten der Vernunft oder einem offenen Widerstand im Namen der Emotionen. JÖRG PAULUS folgt den Spuren der religiösen Rede und ihren Übersetzungen in die Liebesrede in zum Teil noch unedierten Briefzeugnisse der Zeit zwischen 1750 und 1780. In der hier beobachteten, von konfessionellen Prämissen und oft auch Spannungen geprägten Verquickung von Glaubens- und Liebesbekenntnis, lässt sich ein kulturgeschichtlich prägnantes Muster erkennen, das den bürgerlichen Liebesbrief als paradigmatische Form des persönlichen Bekenntnisses neu in den Blick bringt. In Wielands Briefen an Sophie La Roche, in denen er sich auf doppelbödige Weise – mit eingestreuten Zitaten aus seinem Briefwechsel mit dem katholischen Bürgermädchen Christine Hogel – beichtend von einer ehemals skandalös verlaufenen Liebesgeschichte losschreibt, wird diese Transformation manifest. Auch die bislang ungedruckten Liebesbriefe Marie Dorothea Schmids an ihren späteren Ehemann Johann Joachim Eschenburg zeugen von einer solchen Losschreibung, die den ursprünglichen Sinn der religiösen Abhängigkeit ins Gegenteil verkehrt. Eine sich selbst reproduzierende Aufrichtigkeitsbeteuerung, gespiegelt im
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„Vexierbild einer zerrissenen Seele“, bringt hier das Ideal der Natürlichkeit zu Fall. Paulus zeigt, dass solche individuellen sprachlichen Abweichungen von briefstellerischen Vorgaben à la Gellert im nicht-protestantischen deutschsprachigen Raum noch weitaus auffallender hervortreten – was sich an der individuellen Briefsprache katholisch geprägter Briefsteller und nicht zuletzt an den subversiven und freizügigen Sprachexperimenten in Mozarts Briefen ablesen lässt. ULRIKE LEUSCHNER bereichert unser Wissen über die Liebesbriefkultur des 18. Jahrhunderts durch die Auswertung eines Fundes, der als Glücksfall gelten muss. Die 130 Briefe, die zwischen Georg Ernst von Gilsa und seiner späteren Frau, Henriette Luise Christiane von der Malsburg, gewechselt werden, überraschen vor allem durch ihren freien, unsentimentalen Stil. Das aus zwei angesehenen Familien der althessischen Ritterschaft stammende Paar schreibt sich mit individueller Unbefangenheit vom galanten Konversationston und von der Einhaltung geschlechtlicher Rollenmuster los und kreiert in einer Mischung aus traditioneller Galanterie und neuer Natürlichkeit eine höchst originelle Paarsprache, in der häusliche und geschäftliche Angelegenheiten neben innersten Herzensbedürfnissen auf außergewöhnliche und sehr vertrauliche Weise verhandelt werden. Die wechselseitige Freude des Paares am Erotischen und Sexuellen kommt hier in einer eigenen, auf petrarkistische Formeln verzichtenden Sprache zum Ausdruck. In den Beiträgen des dritten Teils „Liebende Vernunft und gebändigte Affekte“ begegnen wir Wechselwirkungen in Liebeskorrespondenzen, in denen Emotion und Vernunft als Wirkkräfte auf eine spezifische, in anderen Diskursformationen vermittelte Weise in Erscheinung treten. JOCHEN STROBEL plädiert für eine Neubewertung der Briefe, die Louise Adelgunde Kulmus an ihren späteren Ehemann Johann Christoph Gottsched geschrieben hat und denen die Eigenheit, Liebesbriefe zu sein, zuweilen abgesprochen wurde. Strobel geht davon aus, dass Sprache ein System der Symbiose von Kognition und Emotion darstellt; Liebesbriefe können somit durchaus kognitive Strukturen aufweisen, was sich schon aus den Briefstellern der Zeit um 1700 ablesen lässt, in denen Liebesbriefe als Elemente einer rhetorisch organisierbaren Lebenspraxis behandelt werden. Gefühle werden einerseits mitgeteilt, andererseits durch Begründungsstrategien plausibilisiert; wenn sie, wie diejenigen der Louise Adelgunde Kulmus, dem Prinzip der Kognitivierung konsequent folgen, formieren sie den Diskurs einer „philosophischen Liebe“, deren Bedeutung in der Liebesbriefkultur des 18. Jahrhunderts durch die emotionale Spektralverschiebung der Werther-Zeit überdeckt wurde. MONIKA RITZER diskutiert Johann Anton Leisewitz’ Brautbriefe an Katharina Maria Sophie Seyler im Kontext der emotionalen Dynamik, von
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der die Dramenproduktion der jungen Generation um 1776 allgemein geprägt ist. Jene Anthropologie der Leidenschaft, die in Leisewitz’ Trauerspiel Julius von Tarent, aber auch in Klingers Zwillingen das sinnliche Begehren als eine durch die Natur auferlegte und gerechtfertigte Gefühldisposition ausweist, wird in den Brautbriefen Zug um Zug außer Kraft gesetzt. Schon im Drama erweist sich die ungezähmte Leidenschaft der Protagonisten als nicht gesellschaftstauglich und führt unausweichlich zur Tragik. In Leisewitz’ Briefen an die Braut (ihre Antworten sind leider nicht überliefert) wird der anfängliche Gefühlsenthusiasmus sukzessive gebändigt und in jene tugendempfindsame Freundschaftsliebe umgeschrieben, gegen die sich die emotionale Revolution der Dramenfiguren so nachdrücklich richtet. Ritzer erkennt an dieser Domestizierung seiner leidenschaftlichen Natur im Namen der Vernunft eine wesentliche Funktion des über vier Jahre hinweg geführten Liebesbriefwechsels. Das Briefgespräch – so ihre These – dient dazu, die Liebesbeziehung zu konsolidieren, sie vor einem tragischen Ausgang zu schützen und ihr eine lebbare Form zu geben; freilich um den Preis einer Negierung des Sinnlichen und einer beiderseitigen Weltabkehr. In den Korrespondenzen, die im vierten Teil – „Epistolare Experimente“ – untersucht werden, wird die Sprache der Liebe zum bewusst gebrauchten Instrument einer Modellierung des Anderen und des Selbst. Dies kann, wie im ersten Fall, auf der Grundlage einer beanspruchten und beiderseitig akzeptierten Gleichstellung der Geschlechter und der sozialen Geltung geschehen; es kann aber auch, wie im zweiten Beispiel, gerade die Differenzen voraussetzen und dabei gesellschaftliche Erwartungen als Maßstab internalisieren. Im Liebesbriefwechsel zwischen der Dichterin und Philosophin Karoline von Günderrode und dem Heidelberger Altphilologen Friedrich Creuzer, dem sich der Beitrag von RENATE STAUF widmet, stehen sich, wie die Verfasserin nachweist, Authentizität und Inszenierung nicht als Gegensätze gegenüber; sie bedingen sich vielmehr, gehen ineinander über, bringen sich gegenseitig hervor. Im grundlegenden Bewusstsein der Augenblicksverfallenheit aller Äußerungen werden Geschlechterrollen und soziale Zuschreibungen aufgelöst, die Korrespondenten nehmen sich nicht nur im Schreiben Freiheiten, von sich selbst Abstand zu nehmen, sie tauschen diese Freiheiten vielmehr untereinander aus. Daran wird ein wechselseitig erschriebenes Briefglück sichtbar, das sich durch wissenschaftliche und literarische Gespräche auf Augenhöhe sowie durch eine große seelisch-geistige Nähe auszeichnet; das bürgerliche Leben als Reich der Notwendigkeiten wird dabei keineswegs ausgeblendet, in der Topographie dieser Liebesbriefwelt ist es eine – stets beunruhigende und doch mächtige – Provinz; der Versuch aber, sich auch nur in Gedanken in diese
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Provinz zu versetzen, macht die Fragilität der gemeinsamen epistolären Konstruktion deutlich. Auch der Beitrag von MARTINA KING hat das Liebes- und Liebesbriefverhältnis eines Heidelberger Professors zum Gegenstand. Rund 40 Jahre nach Karoline von Günderrodes Freitod unternimmt der Naturwissenschaftler, Anatom, Physiologe und Pathologe Jacob Henle mit seiner Geliebten, dem Nähmädchen Elise Egloff, einen eigentümlichen Versuch: auf dem Wege einer in vieler Hinsicht anachronistischen Erziehung zur empfindsamen Briefstellerei soll sie sich in die Rolle der künftigen Professorengattin hineinschreiben. In diesem Projekt überlagern sich, so King, der Versuch, die Kontingenz einer Liebeskonstellation durch ein Experimentieren aufzufangen, das wiederum durch das Regulativ des Beurteilens kanalisiert wird und durch die Orientierung am Ideal universaler künstlerischer Weltsicht; beides verweist auf den wissenschaftsgeschichtlich zwiespältigen Ort des Professors, einer Schwellenpersönlichkeit zwischen philosophisch-experimentierender und einer positivistisch-experimenteller Wissenschaft. Der fünfte und letzte Teil „Medienphantasien“ versammelt Beiträge, die zeigen, wie die Schreiblust im Liebesbrief mediale Grenzen auslotet, ausdehnt, überschreitet und dabei der Liebesbotschaft neue und ungewöhnliche Reize verleiht. Um eine Poetik des Liebesbriefs und seines Pendants im Briefroman der Goethezeit geht es CARSTEN ROHDE. Er fragt danach, ob in Briefen, namentlich in Liebesbriefen, die Performanz des Realen beziehungsweise Authentischen im Vordergrund steht, oder ob vielmehr Verkleidungen, das Fiktive beziehungsweise Fingierte, für die Kommunikation grundlegend sind. Rohde plädiert dafür, den Raum des Imaginären in die Betrachtung der Liebesbriefkultur einzubeziehen, und zwar als Kategorie, die sich auf etwas Substantielles bezieht, auf eine Sphäre, in der sich erst eigentlich die poietische Arbeit an der Liebe vollzieht. Als solche lässt sie sich gleichermaßen in realen Briefen wie in Briefromanen nachweisen. Hier wie dort wird die Entscheidung über Authentizität oder Inszenierung unablässig in den Raum des Imaginären verschoben; beim jungen Goethe erkennt Rohde an dieser Verschiebung einen Typus für Schreibgebärden der Liebe, die stets fragmentarisch zu denken sind. ANDREA HÜBENER diskutiert anhand konkreter Briefbeispiele eine insbesondere in der Materialität (Beigaben, Tinte, Text- und Bildgestaltung) erkennbar werdende mediale Selbstinszenierung und -reflexion literarischer Autorschaft, die den Liebesbrief als prädestinierte Gattung einer spielerischen Erkundung geltender Normen in literarischer wie gesellschaftlicher Hinsicht begreift und nutzt. Pseudonymität auf Seiten von Briefschreibern, -empfängern und -adressaten wird dabei als eine
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Schreibstrategie erkennbar, die in der Überlagerung historischer und fiktiver Namen den Briefdialog um weitere imaginierte Teilnehmer erweitert. Der als „Gespräch unter Abwesenden“ definierte Brief avanciert dadurch zu einem Medium, das mittels Schrift und Bild die Anwesenheit und Gegenwart der Abwesenden behauptet und zu diesem Zweck auf Muster ritueller und religiöser Praktiken zurückgreift. ANNETTE SIMONIS geht von der starken Affinität zwischen musikalischen und sprachlichen Ausdrucksformen der Liebe aus, die den musikalischen Liebesbrief bzw. die musikalische Liebeserklärung in der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte zu einem bevorzugten, historisch vielfach ausgestalteten Kommunikationsmittel werden ließen. Sie weist exemplarisch nach, dass die Assoziation von Liebesbezeugungen und musikalischem Medium seit der frühen Neuzeit auftritt und im Zeitalter der Romantik eine besondere Bedeutung gewinnt. In den Briefen, die Clara und Robert Schumann als Braut- und Eheleute miteinander wechseln, lässt sich die musikalische Liebeserklärung vor dem Hintergrund der affinen semiotischen Systeme von Partitur und Schrift als variantenreiches Supplement der schriftlichen Liebesbezeugungen beobachten. Als spezifische Form der Hand-Schrift bildet der musikalische Liebesbrief einen transmedialen „Mehrwert“; entweder als eigene Komposition in Form einer Briefbeigabe oder als Widmung von musikalischen Werken, die unabhängig vom Briefwechsel stattfinden – Simonis spricht hier von „Ersatz-Liebesbriefen“ und „verschlüsselten Unterhaltungen“, die zu einer „Geheimsprache“ zwischen den Liebenden werden – oder auch als Gespräch über musikalische Fragen systematischer und theoretischer Art. In allen drei Fällen werden die Selbstinterpretation der Liebenden und ihre besondere Beziehung zur Musik als wiederkehrendes Motiv bedeutsam. In der fast durchgängig zu beobachtenden Doppelcodierung der Briefe sind musikalisch-künstlerische Selbstentfaltung und Liebesdiskurs – auch in Momenten einer durch Gegensätze und Spannungen ausgelösten Irritation – aufs engste miteinander verknüpft. Auch der leidenschaftlich geführte Liebesbriefwechsel zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult weist einen engen Bezug zur musikalischen Bildungsgeschichte und künstlerischen Selbstentfaltung von Liszt auf. Doch handelt es sich hier, wie CORD-FRIEDRICH BERGHAHN aufzeigt, nicht um musikalische Liebesbriefe. Weil Marie das musikalische Genie ihres Geliebten auf fast schon provokante Weise ignoriert, kann die Musik in den (leider nur lückenhaft überlieferten) Briefen dieses Paares nicht zu einer die Liebe aufgipfelnden Paarsprache werden, wohl aber die Literatur. Berghahn hebt die Literarizität der Brief- und Liebessprache hervor, die in stetem Bezug auf einen weiten gemeinsamen Lektürehorizont mit sichtbaren und verborgenen Zitaten aus Werken der Weltliteratur seismogra-
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phisch das Auf und Ab dieser illegitimen Liaison widerspiegelt. Von jenem „Gleichklang der Seelen“, den Marie d’Agoult noch in ihren Memoiren als verbindendes Element ihrer Liebe beschwört und der, auch von Liszt im Nachhinein befördert, als romantischer Liebesmythos die Lesart dieser Paarbeziehung bis heute prägt, ist in dem Briefwechsel wenig zu spüren. Vielmehr sind diese Liebesbriefe „auf eine verstörende Art monologisch“. Die Mélange aus deutscher, französischer und englischer Sprache, die Verwendung von Pseudonymen, das heimliche Versenden und Empfangen der Botschaften, die zahlreichen Eifersuchtsbekundungen, die wechselseitigen, von Standesbewusstsein und künstlerischem Überlegenheitsgestus durchwirkten Selbstdarstellungen und Rollenzuschreibungen – all dies verweist in dem Briefwechsel auf die Intensität der Liebe, aber auch auf die gesellschaftlichen Fallstricke, in denen sich die über mehr als ein Jahrzehnt hinweg bestehende Liebesbeziehung schließlich so hoffnungslos und tragisch verfängt, dass ihr auch die drei gemeinsamen Kinder keine Zukunftsperspektive zu geben vermögen. CORNELIA ORTLIEB hebt in ihrem Beitrag erneut den Aspekt der Materialität in der Liebeskommunikation hervor. Die ikono-graphische Gestalt der Briefe, die Stéphane Mallarmé an die von ihm umworbene Madame Laurent schreibt, spielt dabei mit einer Ökonomie des Überflusses; sie findet ihre Realisation in einer einzigartigen Mischung aus avantgardistischer Poetik, klassischer Bildsprache und dem Einsatz von besonderen Materialien, die zum Textgrund einer metaphorischen, ja metamorphotischen Zeichenproduktion gemacht werden; besondere Papiere, Fächer, Zeichnungen, Unterschrifts-Figurationen – all dies wird zu einer Menagerie der Objekte konstelliert; die beteiligten Individuen – der Dichter und die von ihm Verehrte – spiegeln sich in diesen Objekten, sie verweisen durch sie auf sich und den anderen und von sich selbst zurück auf die Objekte und deren Rätselcharakter. Die Beiträge dieses Bandes wurden auf der Braunschweiger Tagung rege diskutiert. SONJA BRANDES hat diese Diskussionen protokolliert und zusammengefasst. Zum Schluss möchten wir neben den Beiträgerinnen und Beiträgern all jenen danken, die uns bei der Entstehung dieses Buches unterstützt haben. Unser Dank gilt besonders Elke Schwemer für die Organisation der Braunschweiger Tagung, Andre Reichart für die technische Unterstützung sowie Frederike Schröder für die sorgfältige Herstellung der Druckvorlage und für ihre redaktionelle Mitarbeit. Ebenso herzlich bedanken wir uns beim Atelier Frank (Berlin) für die Gestaltung des Umschlagsbildes. Nicht zuletzt gebührt dem de Gruyter-Verlag ein großer Dank, der
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unsere Reihe zur Liebesbriefforschung seit 2008 kontinuierlich pflegt und mit dieser Publikation fortsetzt.7
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Vgl. Lach, Roman: Der maskierte Eros. Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter. Berlin, Boston 2012; Paulus, Jörg: Philologie der Intimität. Liebeskorrespondenz im Jean-Paul-Kreis. Berlin, Boston 2013.
I. Ersehnte Gegenwart und Lust der Abwesenheit
Roman Lach
„Meine Selbstgespräche sind an dich gerichtet“ Goethes monologische Briefe an Charlotte von Stein Der Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Charlotte von Stein hat, seitdem Adolph Schöll die Briefe zwischen 1848 und 1851 erstmals herausgegeben hat,1 vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert fasziniert.2 Vielleicht, weil die sich hier verschriftlichende Beziehung in ihrem Doppelcharakter zwischen verbotenem Verhältnis und programmatischer Selbstdisziplinierung und Verzicht dem anbrechenden Zeitalter einer sich etablierenden bürgerlichen Klasse, die sich selbst über die Widersprüche und Dualismen definiert,3 denen sie in ihrer neuen Machtsphäre ausgesetzt ist, in gewissem Sinne paradigmatisch und vorbildfähig erscheinen konnte. Dieser Briefwechsel steht aber auch an einer Grenzlinie zwischen dem gern als Zeitalter der Briefkommunikation bezeichneten 18. und dem 19. Jahrhundert, das demgegenüber als „monologisch“,4 selbstbezogen, als Zeitalter des Rückzugs ins Private gilt, in dem der schillernde Doppelcharakter des Briefs als Medium eines geselligen Öffentlich-Privaten vorgeblich verloren geht. Es sind Rilkes einsame „lange Briefe“5 des Herbstes, die das 19. Jahrhundert schreibt. Diesen Übergang des Kommunikationsmediums Brief in das narzisstische Medium Tagebuch, bzw. Brief1 2
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Goethe’s Briefe an Frau von Stein aus den Jahren 1776 bis 1826. Hg. v. Adolph Schöll, 2 Bde. Weimar 1848–51. Vgl. z.B. Dützer, Heinrich: Goethes Freundin Charlotte von Stein (1874); ders.: Charlotte von Stein und Corona Schröter. Eine Verteidigung (1874); Calvert, George W.: Charlotte von Stein. A memoir (1877); Bode, Wilhelm: Charlotte von Stein (1910); Seillière, Ernest Antoine Aimé Léon, Baron de: Charlotte von Stein und ihr antiromantischer Einfluß auf Goethe (1914) sowie (nach einem neuerlichen Angriff auf Frau von Stein in Eduard Egel: Goethe. Der Mann und das Werk, 1910): Boy-Ed, Ida: Das Martyrium der Charlotte von Stein (1916). Vgl. hierzu Gay, Peter: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. Übs. v. Holger Fließbach. München 1987, bes. S. 48ff. Baasner, Rainer: „Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis“. In: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. R. Baasner. Tübingen 1999, S. 25. Vgl. auch Hillard, Gustav: „Vom Wandel und Verfall des Briefes“. In: Merkur 23 (1969), S.343–351. Rilke, Rainer Maria: „Herbsttag“ (in: Das Buch der Bilder). In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. M. Engel, U. Fülleborn, H. Nalewski u. August Stahl, Bd. 1. Frankfurt/Main 1996, S. 281.
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Tagebuch konstatiert das 19. Jahrhundert selbst immer wieder, nicht ohne sich wehmütig darin zu gefallen. Für Oswald Spengler, dessen Werk in vieler Hinsicht die letzte Ausformung dieses behaglich-schauernden Abund Untergehens sein mag, das als Konsequenz aus dem Rückzug aus den Kommunikationsformen der europäischen Aufklärung erscheint, erfüllt sich darin am Ende nur die Tatsache, dass der Brief sowieso nie etwas „Deutsches“ gewesen sei: Auch der nordische Briefschreiber will – wie Nietzsche – ein Echo seiner selbst hören, aber es gelingt ihm selten oder eigentlich nie. Nietzsche hat immer vergebens den „anderen“, das alter ego, dazu gesucht. Der tiefe Wagner, der des Tristan, war nur der Wesendonk gegenüber nahe daran, echte Briefe zu schreiben. Selbst Goethe wird die Lyrik des Briefes nicht leicht. Er – diktiert. Die Frau von Stein der Briefe ist nicht der wirkliche Mensch, sondern eine Seite seines Ich noch einmal, eine Ergänzung seiner Person, und sie wird als Empfängerin unmöglich, als der südliche Zug seines Wesens in Rom von der Sehnsucht zur Wirklichkeit gelangte. Was dem „katholischen“ Menschen der Brief, ist dem protestantischen viel eher das Tagebuch, das Selbstgespräch der Gestalten in den Werken, das heimliche Geständnis durch Musik und Malerei – Hebbel, Boecklin, Beethoven.6
Dieses Erlöschen einer „Innerlichkeit, die Gesellschaft sehnsüchtig sucht“,7 die in Gellerts Briefen als erschriebenen Gesprächen,8 in den Briefwechseln und fiktiven Briefen der Berliner Aufklärer um Lessing und Mendelssohn und den Briefen einer Rahel Varnhagen, einer Bettina von Arnim, so mitreißend begonnen hatte, dieser Verzicht auf die geselligen und in gewisser Weise panerotisch zu nennenden Kulturen der Empfindsamkeit und der frühen Romantik verkörpere sich also geradezu exemplarisch in der Briefbeziehung Goethes zu Frau von Stein, bei der das Zwiegespräch mit der Partnerin ganz dem Selbstgespräch weiche, das das Gegenüber nur noch als Anlass benötige. Durchaus positiv konnte um die Wende zum 20. Jahrhundert ein antimoderner konservativer Autor wie Friedrich Lienhard, der 1903 Weimar gegen Berlin ausspielte, dieses erotisch-erzieherische Projektionsspiel als einen notwendigen Schritt im individuellen Zivilisierungsprozess des Autors auslegen: Wie Dante durch Beatricens verklärenden Geist, so wurde Goethe durch diese verklärt aufgefaßte Frauengestalt in eine reifere Sphäre des Menschtums hinübergeleitet. Im Keime lag das natürlich in ihm: es bedurfte bloß des elektrischen 6 7 8
Spengler, Oswald: „Dem Gedächtnis Willi Schmids“ (1935). In: Ders.: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 156–157. Ebd., S. 157. Vgl. Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000.
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Sonnenstrahls von ihr, und sein belebtes Inneres begann zu sprießen. Ein formenfröhlicher Künstler und empfänglicher Dichter blieb er nach wie vor, aber das geistige und das vergeistigende Auge in ihm war nun feinsichtiger geworden, und nicht nur sein Auge: seine ganze Natur, sein Stil, seine Lebensführung.9
Insbesondere der Konservativismus des frühen 20. Jahrhunderts ist fasziniert von der Idee einer sich hier vollziehenden Vergeistigung und Selbsterziehung, in der Goethe sich von außen ein Maß setze, durch das er den Stürmer und Dränger überwinde und zur Objektivität fände. Wohl nie ist so viel über Goethe und Charlotte von Stein geschrieben worden wie um die Jahrhundertwende. Auch für Friedrich Gundolf stellt das erste Weimarer Jahrzehnt – die Erzieherrolle gegenüber Karl August, die Goethe umtreibenden Projekte zu politischer Wirksamkeit und die Liebe zu Charlotte von Stein – einen „Objektivierungsprozess“ vom „Naturdurchfühler zum Naturforscher“10 dar, den Goethe durchlaufe und in dem er sich in von Stein ein notwendiges Leitbild setze – unabhängig von dem, was Charlotte „wirklich“11 gewesen sei. Frau von Stein ist für Goethe „Frô Mâze“, wie Gundolf minnisierend schreibt: Jetzt, da er sozialisiert und objektiviert werden sollte, kann auch die Geliebte für ihn nicht mehr der Gegenstand einer dumpf-süßen Begier sein, sondern ein deutliches und ihn verdeutlichendes Wesen, nicht eine passive Schönheit, um welche seine Flammen und Wellen gestaltlos schlugen, sondern eine aktive Seele, welche der seinen mit eignem Feuer und eigner Kühle antwortete.12
Die Geliebte als „Charakter“ würde hier zum „formenden Prinzip der Goetheschen Leidenschaft“, man könne „beinahe sagen das männliche Prinzip“. Liebe werde an dieser Stelle zum einzigen Mal in Goethes Leben selbst zu diesem „formenden Prinzip“.13 Vergeistigung und Verklärung, am Medium einer sittlich hochstehenden Frau – Christian Schärf lehnt diese idealisierende Perspektive in Bezug auf Charlotte von Stein zwar ab,14 bleibt aber durchaus bei einer Deutung dieser Brief-Liebes-Beziehung als eines Bildungsprogramms, das zumindest Goethe für sich in seinen Briefen an Stein stilisiert. In dem Moment, wo „Lebenspraxis“ – so Schärf – sich nicht mehr im „Erlebnistext“ aufheben lasse, wo also Hinderungen auftreten, das Subjekt sich nicht mehr unmittelbar inspiriert fühle, sondern sich erst über einen gött-
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Lienhard, Fridrich: Thüringer Tagebuch. Stuttgart 1903, S. 91. Gundolf, Fridrich: Goethe. Berlin 1916, S. 272. Ebd., S. 274. Ebd., S. 276. Ebd. Schärf, Christian: Goethes Ästhetik. Eine Genealogie der Schrift. Stuttgart 1994, S. 175.
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lichen Zusammenhang legitimiere, dienten die Briefe Goethes an Charlotte von Stein der Neuaustarierung des Leben-Text-Verhältnisses. Diesen Prozess nennt Goethe selbst in seinen Briefen einen des Entsagens. Laut Arthur Henkel auf die Beschäftigung mit der Ethik Spinozas zurückgehend, wird er virulent in der Beziehung zu von Stein als Projekt einer Überwindung des Subjektivismus durch Einordnung in die Bedingungen des „Ganzen“.15 Entsagung ist der Leitbegriff des Goethe-Steinschen Briefwechsels und des Mythos, der sich um diese Beziehung rankt. Entsagung wollen Paare des 19. Jahrhunderts aus diesem Briefwechsel lernen und wie sich Persönlichkeit an ihr bilden kann: „Ich hoffe, mein theuerster Freund“, schreibt die Geliebte des Evolutionstheoretikers Ernst Haeckel, Frida von Uslar Gleichen, am Höhepunkt einer fast ausschließlich auf den Austausch langer Briefe beschränkten heimlichen Liebesbeziehung, „daß es mir mit der Zeit gelingen soll, Dich soweit zu führen, wie Goethe durch Frau von Stein geführt wurde! – : daß Du über der großen Freude an dem Verständnis der Seelen die Sehnsucht nach dem Körperlichen vergißt“.16 Entsagung – und von Selbsterziehung bis Resignation durchläuft der Begriff alle Register – lautet von Stifter bis Nietzsche die Antwort des 19. Jahrhunderts auf die mit Spätaufklärung und Romantik aufbrechenden Subjektivismen. Vom „Bildungsroman“ bis zur Verherrlichung der al15
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Vgl. Henkel, Arthur: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman, Tübingen 1954, S. 114– 115. Henkel sieht drei Phasen der Beschäftigung mit Spinoza in Goethes Leben, von denen die beiden ersten in dem hier zu betrachtenden Zusammenhang die wichtigsten sind. Die erste, zwischen 1770 und 1774, steht noch unter dem Vorzeichen des Sturm- und Drang. Sie spiegelt sich in bestimmten Stellen des Shakespeare-Aufsatzes, des Werther und kulminiere in den „Spinozagesprächen“ (Ebd., S. 119) mit Friedrich Jacobi auf der Rheinreise am 24. Juli 1774 (Goethe, Dichtung und Wahrheit, MA 16, S. 667: „Uneigennützig zu sein in allem, am uneigennützigsten in Liebe und Freundschaft, war meine höchste Lust, meine Maxime, meine Ausübung, so daß jenes freche spätere Wort ‚Wenn ich dich liebe, was was geht’s dich an?‘ mir recht aus dem Herzen gesprochen ist.“). Resümierend für diese erste Phase gilt Henkel Goethes einziger Versuch, zumindest „eine Art“ (Henkel: Entsagung, S. 114) von Definition von Entsagung zu geben im 16. Kapitel des vierten Teils von Dichtung und Wahrheit. Hier sieht er – nachdem er die humoristisch-pragmatische, am Erfolg und Misserfolg des einzelnen Augenblicks ausgerichtete Definition, die Goethe zunächst gibt, abgetan hat – in der Formel „ein für alle mal im Ganzen resignieren“ den Ausdruck von Goethes Überzeugung vom „Ewigen, Nothwendigen, Gesetzlichen“, an dem sich zu orientieren dem Individuum Halt verschaffe. (Henkel: Entsagung, S. 116). Die zweite Phase bringt Henkel unmittelbar in Beziehung zum Verhältnis zu Charlotte von Stein, indem er sie auf den November und Dezember 1783 datiert, als Goethe sich mit Herder und Charlotte v. Stein „der eindringenderen Lektüre der ‚Ethik‘“ widmet (Henkel: Entsagung, S. 119). Haeckel, Ernst / von Uslar-Gleichen, Frida: Das ungelöste Welträtsel. Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel. Briefe und Tagebücher. Hg. v. Norbert Elsner. Göttingen 2000, Bd. 2, S. 680.
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tersweisen Gespräche mit Eckermann17 auf der einen Seite und der irritierenden ökonomischen Entsagungstheorie der „pädagogischen Provinz“ der Wanderjahre andererseits18 bildet Goethe dabei immer wieder die wichtigste Leitfigur. Im Rahmen einer Institutionalisierung Goethes zum Anleiter einer Bezähmung der subjektivistischen Impulse der Aufklärung stellt die Beziehung zu Frau von Stein das entsprechende Konzept einer „Liebe ohne Besitz“ dar.19 Und es ist hier, „im erotischen Kontext“, in den Briefen an Charlotte von Stein, wo „auch zum ersten Mal der Begriff der Entsagung auf[taucht]. So heißt es in einem Brief vom 9. April 1782: ‚Denn hätt ich wohl ohne dich ie meinen Lieblingsirrthümern entsagen mögen. Doch könnt ich auch wohl die Welt so rein sehn, so glücklich mich drinne betragen, als seitdem ich nichts mehr drinne zu suchen habe.‘“20 Wie für Gundolf,21 Koopmann22 und die Mehrheit der Exegeten dieser Briefe,23 steht auch für Christian Schärf das bereits am 14. April 1776 17
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Vgl. Nietzsche: „Wenn man von Goethes Schriften absieht und namentlich von Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es gibt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosaliteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden?“ („Menschliches, Allzumenschliches II“, „Der Wanderer und sein Schatten“, Nr. 109. In: KSA 2, S. 599). Im Widerspruch zu Arthur Henkel sieht Joachim Pfeiffer die Wanderjahre nicht als Goethes „social utopia“ an, sondern „rather his anti-utopia, his 1984. The masochism of renunciation, which first appears in Goethe as the condition that makes artistic creation possible [Prometheus, R. L.], has here become the functional condition of an economic system that has as its first supposition the ‚unconditional activity in business‘. There is no more room for the self-liberation of people through art.“ (Pfeiffer, Joachim: “Promethean Renunciation: On the Relationship between Artistry, Creativity, and Masochism in Goethe”. In: One Hundred Years of Masochism. Literary Texts, Social and Cultural Contexts. Hg. v. Michael C. Finke und Carl Niekerk. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 109–117, hier S. 116. Henkel: Entsagung, S. 125–141. Schärf: Goethes Ästhetik, S. 163. Der zitierte Brief vom 9. April 1782, in: Goethes Briefe an Charlotte von Stein. Hg. v. Jonas Fränkel. Umgearbeitete Neuausgabe. Berlin 1960, Bd. 1, S. 379. Gundolf: Goethe, S. 284: „Wir haben in Goethes Leben nur noch ein solches Gedicht aus der Dämmerung und zwar aus einer Abenddämmerung, wie dies eines der Morgendämmerung ist: ‚Selige Sehnsucht‘ aus dem Westöstlichen Divan.“ Koopmann, Helmut: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. München 2002. Vgl. z.B. Brandes, Georg: Goethe. Übers. v. Erich Holm und Emilie Stein. Berlin 41922, S. 195, Schmidt, Erich: „Frau von Stein“. In: Charakteristiken. Berlin 1886, S. 307: Er declamiert nicht klopstockisch von der Harmonie der Seelen, „die du einander, Natur, bestimmtest“, sondern er widmet, von einer Metempsychose durchdrungen, diesem gefundenen verwandtesten Wesen die wundervollen Verse: ‚Warum gabst du uns die tiefen Blicke‘“. Für Arthur Henkel bezeichnet dieses Gedicht „antezipierend eine Wandlung im Verstehen dieses Liebesvorgangs“ (Ebd., S. 133), Max Kommerell zitierend sieht er darin „den Anfang der Klassik in Goethes Herz“ (vgl. Kommerell, Max: Gedanken über Gedichte, Frankfurt/Main 41985, S. 146).
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(kennen gelernt haben sich beide im Dezember 1775) an Charlotte von Stein gesandte Briefgedicht Warum gabst du uns die tiefen Blicke programmatisch über dieser Beziehung, in dem sich die Unterwerfung der Gemeinschaft von Ich und Du unter ein höheres transzendentes Prinzip des Schicksals bekunde, die von nun an die „Seelenliebe“ bestimme, die Goethe sich und Stein auferlege. Bereits für Arthur Henkel hatte es einen „privaten Mythos“24 begründet. Indem der Dichter seine Liebe als das „Wiederfinden einer ‚alten Wahrheit‘“25 erführe, erschaffe er seiner Dichtung hier, jenseits aller Religion, einen mythischen Grund – worin der eigentliche „Sinn“ der Entsagung liege, nämlich in einer ästhetischen Verobjektivierung von Subjektivität. Nicht anders als Friedrich Gundolf sieht auch Schärf das zentrale, bindende Motiv dieser Liebe in der Figur der platonischen Seelenwanderung und Anamnesis, der Versicherung einer ideellen, vorzeitlichen Gemeinschaft, so dass ihr jetziges Lieben nur ein Wiedererkennen sei: Sag was will das Schicksal uns bereiten? Sag wie band es uns so rein genau? Ach du warst in abgelebten Zeiten Meine Schwester oder meine Frau.
Goethe, der „das Mittel des Traums […] nicht geliebt“ habe, wie Gundolf schreibt, da „der Traum mit seinem gleichzeitigen Hier und Dort das Auge verwirrt“, habe auch hier „lieber den Zeit-sinn ausgeschaltet, durch die Hereinziehung der Anamnese, als den Raumsinn, durch die doppelte Perspektive.“ Und er habe es getan „in diesem Moment, da wirklich durch Charlotte von Stein in seiner Liebe der Übergang vom dumpfen Verlangen zur hellen und erhellenden Seelendurchdringung sich vollzog.“26 Eine Konzeption, mit der gerade aus dem Verzicht auf die sexuelle Begegnung der Eros in dieser Weise totalisiert werden kann. Kurt Eissler betont, wie Liebe und Sicherheit hier durch das Konzept des Geschwisterlichen in Übereinstimmung gebracht werden.27 Deutlich akzentuiert darüber hinaus Schärf den projekthaften und prozessualen Charakter dieser Liebe: „Die Symbiose der Liebenden wird zeitüberspannend. Der Verzicht auf eine Erfüllung in der Präsenz des Sinnlichen steigert die Liebesvorstellung gerade in der Vergeistigung. So entsteht eine Art intimer Metaphysik, die
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Henkel: Entsagung,, S. 133. Ebd., S. 134. Gundolf: Goethe, S. 283. Eissler, Kurt R.: Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775–1786. Übers. u. hg. v. Rüdiger Scholz. 2 Bde. Basel, Frankfurt/Main 1985, Bd. 1, S. 226.
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den Liebenden einen von realen Umständen abgehobenen Eigenbereich zusichert.“28 Hier wäre der Ausgangspunkt für das Konzept der Entsagung im erotischen Kontext zu suchen. Weniger, wie Pfeiffer im Anschluss an Kurt Robert Eissler meint, zerstört der Künstler das Liebesobjekt und ersetzt es durch Produkte künstlerischer Imagination, 29 als dass er die Imagination – indem Brieflichkeit und Liebe, von beiden Partnern in eins gesetzt, zugleich auch mit Dichtung identisch sind – zum Multiplikator der Liebe macht, so dass ihm die Liebe als ein erinnertes wechselseitiges Erkennen erscheint, ein einstmaliges Ineinander-Lesen und damit als eine Möglichkeit der Zeitüberschreitung. Dieses Erinnern bedeutet für die Gegenwart allerdings Trauer und Melancholie ob des Vergangenseins dieses Zustandes: „Kanntest jeden Zug in meinem Wesen, / Spähtest wie die reinste Nerve klingt, / Konntest mich mit einem Blicke lesen“.30 Gerade nicht der prometheische Akt der Selbstermächtigung wird also verherrlicht, sondern Prometheus verobjektiviert sich im lesenden Blick der Geliebten. Eine Verbindung, deren Charakter explizit von jeder Art liebender Projektion, vom „Traumglück“ des unbewussten, nicht erkennenden Liebens abgegrenzt wird: „einander in das Herz zu sehn“ stellt gewissermaßen die Stufe des „Styles“ über der Liebe als bloßer Manier dar.31 „Das Gedicht an sie ist ein Brief; es hatte den Zweck eines Briefes. Nicht durch die Verse hebt es sich aus den Briefen heraus, sondern dadurch, daß es wegläßt, was ein Brief dazu sagen würde.“32 – Derartige Erläuterungen werden nämlich nicht mehr benötigt. Auf seiner höchsten Stufe ist der Brief für Max Kommerell Augenblicksäußerung und Vergewisserung in einem. Selbstvergewisserung und Vergewisserung des Geliebtwerdens. Autoren der Jahrhundertwende – Frida von Uslar-Gleichen gehört ebenso dazu, wie die Vertreter einer seherischen Philologie im Fahrwasser Stefan Georges wie Gundolf und Kommerell – scheinen insbesondere von dieser vermeintlichen Gewissheit angezogen, die die Briefe Goethes an Charlotte von Stein auszeichnet. In der allem Zweifel, allem Vorübergehenden abgetrotzten Dauer, dem unbeirrten Beharren, mit dem Goethe noch im 28 29 30 31
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Schärf: Goethes Ästhetik, S. 165. Pfeiffer: Promethean Renunciation, S. 112, s.a. Eissler: Goethe, Bd. 1, S. 521. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 1, S. 26. Vgl. den 1787, im zweiten Jahr des italienischen Aufenthalts, entstandenen Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (in: „Auszüge aus einem Reisejournal“, MA 3,2, S. 186– 191. Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 145–146.
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letzten Brief vom 29. August 1826 auf der Gültigkeit dieser Beziehung besteht: „Neigung aber und Liebe unmittelbar nachbarlich-angeschlossen lebender, durch so viele Zeiten sich erhalten zu sehen, ist das allerhöchste was dem Menschen gewährt seyn kann.“ In der anschließenden biblischen Formel „Und so für und für!“33 konserviert sich diese Liebe geradezu zu einem Sinnbild des Ausharrens und macht sich so tauglich für den diffusen Konservativismus des anbrechenden 20. Jahrhunderts. Denn das, was die Liebenden mit allen Liebkosungen wollen: daß sich eines dem anderen gibt, das tut der Brief vielleicht noch unmittelbarer. Wenn nämlich die Schreibenden über das Wort verfügen, das ihr Wesen ist. auch dann können sie’s nicht absolut, sie können nur mitteilen, was jeder jetzt gerade ist, was er ist als der an sein Liebstes Denkende. Und ist die Liebe wirklich Liebe, so ist sein „An Dich“ auch sein „An Sich“.34
In einem Brief aus Rom vollzieht Goethe selbst diese Umdeutung des Monologs zum Dialog: „Meine Selbstgespräche […] sind an dich gerichtet“.35 Verständlich, dass die solchen Stilisierungen kritisch gegenüberstehende neuere Forschung mit einer derartig affirmativen Aufnahme hat brechen wollen. Helmut Koopmann, für den die Briefe an Frau von Stein Ausdruck eines Bedürfnisses nach einer neuen Sprache sind, einer Sprachkrise, die sich in der in den Briefen an Augusta zu Stolberg in dem „inszenierten Wertherton“ zeige,36 sieht in Goethe einen monologischen Autor, der letzten Endes mit seiner Sprache allein ist, sich künstliche Gegenüber setze, um eigentlich immer nur wieder an sich selbst zu schreiben – und der damit das in die Welt setzen würde, was Rainer Baasner als Phänomen einer Briefkultur des Niedergangs im 19. Jahrhundert den „monologischen“37 oder erzählenden Brief genannt hat. Koopmann fragt: Aber an wen schrieb er wirklich? Ist es nicht doch, auch in den Briefen an Charlotte von Stein, eine immer wieder nur erdachte Geliebte, die sich vor die wirkliche stellt, eine mit Worten herbeigezwungene, eine, die derart ständig präsent war, auch wenn sie noch so oft abwesend war? Sind diese Briefe an Charlotte von Stein nicht doch hin und wieder und dann fast ausschließlich monologische Schreibkunst, Briefe, die zwar an eine andere geschrieben wurden, die aber dazu dienen sollten, den Schreiber gleichsam seiner selbst zu versichern? Lebt Goethe nicht doch in einer doppelten Welt, einmal in der, die ihn mit seiner Geliebten so oft, gelegentlich fast täglich zusammenbringt, und in einer anderen, in der er sie 33 34 35 36 37
Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 2, S. 481. Kommerell: Über Gedichte, S. 134. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 2, S. 342. Koopmann: Goethe und Frau von Seitn, S. 47. Vgl. Baasner: „Briefkultur“, S. 13–15 und S. 13:„[D]ie Zeiten eines individualisierten epistolaren Sturm und Drang sind spätestens nach 1830 endgültig vorbei.“
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geradezu herbeischreibt, indem er sich klar wird über seine Gefühle, sie in Worte bringt, sie immer wieder neu überprüft, um sie immer wieder richtiger und überzeugender, doch auch immer wieder gleichbleibend deutlich zu beschreiben?38
Eine reine Briefliebe sei diese Beziehung gewesen, in der Gefühl letzten Endes in Worte gefasstes, geschriebenes Gefühl gewesen sei. Jonas Fränkel spricht von einer Selbstsuggestion, dem Versuch, sich „ein Glück, das man entbehrt, durch Worte vorzutäuschen“.39 Mag dies aus psychologischer Sicht letzten Endes auch zutreffen, mag diese Liebe daran gescheitert sein, dass sie, statt der angestrebten Öffnung zur Welt doch nur eine Gegenwelt als Projektion gewesen ist, hinter der zumindest Goethe die Partnerin nicht mehr wahrgenommen hat – zum genaueren Verständnis dessen, wie hier, an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, der monologische Liebesbrief auftritt, muss noch Weiteres bedacht werden. Der monologische Schreibgestus trachtet das Augenblicksmedium Brief in einen Bereich des Dauernden zu überführenden und propagiert eine neue Form des Liebens: eine, die durchaus monistisch genannt werden könnte, eine, mit der die Liebe als Modus der Imagination konstruktiv gemacht werden und mit der das dualistische Konzept der Wertherliebe, in der sich das Subjekt als solches emphatisch konstituiert – wie Roland Barthes nicht minder emphatisch aufgezeigt hat – in ein Konzept weltstiftenden Schreibens umgebaut werden soll. Das lässt dort am besten beobachten, wo dieses Programm nicht aufgeht oder nicht aufzugehen scheint, nämlich im Augenblick der Krise. Der Umstand, dass es die Briefe Charlotte von Steins nicht mehr gibt – sie hat sie zuletzt vernichtet – trägt vermutlich einiges dazu bei, dass die Forschung Goethes Briefe als monologisch charakterisiert hat und entweder davon ausgeht, Charlotte von Stein müsse als die angesehen werden, die Goethes Briefe aus ihr machen, oder (wie Koopmann) die Behauptung aufstellt, über die wahre Briefempfängerin sei hinweggeschrieben worden. Beides möchte ich im Folgenden widerlegen. Am deutlichsten als Teil eines Briefwechsels erkennbar sind Goethes Briefe an den Krisenpunkten, die die Beziehung von Anfang an ebenso begleiten wie die Beteuerungen der Unverbrüchlichkeit und Dauer: „Wir können einander nicht seyn und sind einander zu viel“40, schreibt Goethe im Juni 1776, und kurz darauf, womöglich schon am nächsten Tag, heißt es: „Bleiben Sie mir immer die liebe, unveränderliche von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“41 Figuren der religiösen Erhöhung folgen auf Momente 38 39 40 41
Koopmann: Goethe und Frau von Stein, S. 270. Fränkel, Jonas: „Einleitung“. In: Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 1, S. XVIII. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 1, S. 35/36. Ebd., S. 37.
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der Resignation oder auf Aufkündigungen – bis zuletzt bleibt beides nebeneinander bestehen. In eine tiefe Krise gerät die Beziehung durch Goethes Italienische Reise, die daher oft auch als ihr eingeleitetes Ende angesehen wird. Vor seinem frühmorgendlichen Aufbruch aus Karlsbad Richtung Süden am 3. September 1786 schreibt Goethe Charlotte von Stein noch einen geheimnisvollen Abschiedsbrief, in dem er die Hoffnung ausdrückt, dass beider „Verhältnis sich so herstellen möge, daß keine Gewalt ihm was anhaben könne.“ „Sonst mag ich nicht in deiner Nähe wohnen“, beteuert er – „und ich will lieber in der Einsamkeit der Welt bleiben, in die ich ietzt hinaus gehe“. Er verspricht ihr: „Wenn meine Rechnung nicht trügt; kannst du Ende September ein Röllgen Zeichnungen von mir haben, die du aber niemanden auf der Welt zeigen mußt. Du sollst alsdann erfahren, wohin du mir schreiben kannst.“42 Es wird aber noch bis zum 14. Oktober dauern, bis Goethe die beiden ersten Hefte seines Tagebuches an Charlotte von Stein nach Weimar sendet. Eingeschlossen in die erste Briefsendung, die Goethe daraufhin am 9. Dezember von den Freunden aus Weimar erhält, ist auch ein Billet von Charlotte von Stein, in dem sie ihre früheren Briefe zurückfordert. Mit dieser Reaktion hat er offenbar nicht gerechnet. Er schreibt zurück: Rom d. 8. Dez. 86. Diese Tage her, hab ich wieder mancherley Guts genoßen. Vom Wetter hab ich etwas an Herdern gesagt, das ich nicht wiederhohlen will. Wir haben mit unter die schönsten Tage. Der Regen der von Zeit zu Zeit fällt macht Gras und Gartenkräuter grünen, die immer grünen Bäume stehen auch hin und wieder, so daß man das abgefallen Laub kaum vermißt. In den Gärten stehen Pomeranzen Bäume voller Früchte aus der Erde wachsend unbedeckt pp. Wir waren am Meere und hatten einen schönen Tag. Abend beym hereinreiten, brach der gute Moritz, indem sein Pferd auf dem glatten römischen Pflaster ausglitschte den Arm, das zerstörte die genoßne Freude und hat auch unsre – Soweit war ich am 9. Dez. als ich einen Brief von Seideln erhalte und ein Zettelgen drinne von deiner Hand. Das war also alles was du einem Freunde, einem Geliebten zu sagen hattest, der sich so lange nach einem guten Worte von dir sehnt. Der keinen Tag, ja keine Stunde gelebt hat, seit er dich verließ ohne an dich zu dencken. Möge doch bald mein Packet das ich von Venedig abschickte ankommen, und dir ein Zeugniß geben wie sehr ich dich liebe. Heut Abend kann ich nichts mehr sagen dieses Blat muß fort.
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Ebd., Bd. 2, S. 171.
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Die Kasten auf dem Archive gehören dein, liebst du mich noch ein wenig; so eröffne sie nicht eher als biß du Nachricht von meinem Tode hast, so lang ich lebe laß mir die Hoffnung sie in deiner Gegenwart zu eröffnen. Von hier habe ich an dich geschrieben d. 11. Nov. d. 18. d. 25. d. 2. Dec. Möge alles glücklich angekommen seyn. Ich sage dir nicht wie dein Blätgen mein Herz zerrißen hat. Lebe wohl. du einziges Wesen und verhärte dein Herz nicht gegen mich.43
Bilder des Bruches und Risses bestimmen den Brief auf mehreren Ebenen und stellen einen symbolischen Zusammenhang her zwischen Moritz’ gebrochenem Arm, Aufkündigung der Beziehung durch Charlotte von Stein der Beziehung und dem Riss, der sich daraufhin durch das Herz des Briefschreibers zieht. Doch im selben Moment, wo er die Bilder des Bruchs in überdeutlicher Klarheit ausstellt, nimmt er bereits eine implizite Überwindung desselben in Angriff, indem er zuvor Geschriebenes und Nachfolgendes, das wie durch einen wunderbaren Zufall voraus- und rückzuverweisen scheint, zu einer wechselseitig aufeinander bezogenen Sinnstruktur verknüpft. Gerade über die Bilder des Bruches und Risses wird die Verbindung wieder herstellt. Indem Moritz’ Bruch, Charlottes Brief und Goethes zerrissenes Herz aufeinander verweisen und in einem ahnungsvollen Rapport miteinander zu stehen scheinen, bestätigt sich ja bereits wieder der Zusammenhang von Ich und Du und Welt, den die Briefe von den ersten Billets an in dieser Beziehung stets aufs Neue festigen sollten. Wenn Norbert Miller diesen Brief charakterisiert als einen: „Antwortbrief, ein Wertherscher Aufschrei“, der „wie an Zauberfäden die ferne Geliebte wieder an sich“ gezogen habe,44 so geht er nur dem Anschein nach glättend über die hier vollzogene Entzweiung weg, denn der Ausgleich, die Neuanknüpfung liegt in der Tat in deren Bildern selbst, die über die räumliche Distanz die Augenblicke zu einem einzigen verbinden, in dem der Geliebte von der Absage durch die Geliebte erfährt. Die sich aus der Brieflichkeit dieser Absage ergebende Verzögerung des Zwiegesprächs wird so produktiv gemacht für dessen Fortbestand. Koopmann dagegen will diesen Brief nur noch als Ausdruck einer Weigerung auffassen, die Realität des Endes der Beziehung wahrzunehmen: Er antwortet ihr, entschlossen, dieses eigentümliche Verhältnis, das er zu ihr gewonnen hatte, nicht zu beenden, ihrer Absage zum Trotz. […] er möchte so etwas wie eine Seelenfreundschaft aufrecht erhalten, sie ist aufs bitterste enttäuscht von ihm als Menschen. […] Goethe hat nicht verstanden, was er angerichtet hat, 43 44
Ebd., Bd. 2, S. 319–320. Miller, Norbert: Der Wanderer – Goethe in Italien. München 2002, S. 154.
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und mehr noch: er will nicht akzeptieren, daß Charlotte von Stein die Beziehung abbricht.45
Was auf dem Spiel steht, ist Sinn oder Unsinn des ganzen italienischen Projekts, in dem einerseits „die weite Ferne, die Abwesenheit gleichsam“ wie Goethe schreibt, wegzuläutern „hat, was die letzte Zeit über zwischen uns stockte“46 und andererseits die Begegnung mit der Kunst, die Anverwandlung an die Antike die Ordnung und Einordnung des Ich in ein Ganzes vollenden soll, wie es im Begriff der „Solidität“ erfasst ist, mit dem Goethe in einem Brief an von Stein vom 7. November 1786 zu Beginn seines römischen Aufenthaltes sein Programm umreißt: […] wer mit Ernst sich hier umsieht und Augen hat zu sehen muß solid werden, er muß einen Begriff von Solidität fassen der ihm nie so lebendig ward. Mir wenigstens ist es so als wenn ich alle Dinge dieser Welt nie so richtig geschätzt hätte als hier. Welche Freude wird mir sein, dich darin zu unterhalten.47
Ein Programm der Verobjektivierung wird hier also ausgebaut, wie es die Verbindung zu Charlotte von Stein von den ersten Weimarer Tagen an bestimmt hatte. „So hat“, wie Norbert Miller im Anmerkungsteil zum Reisetagebuch in der Münchner Ausgabe schreibt, „jeder Bau, jede Antike und jedes Gemälde, über die sich Goethe Gedanken machte, stellvertretenden Charakter. Aufgenommen in das Selbstgespräch des Tagebuchs konnte nur werden, was diesem Gespräch integrierbar war.“48 In diesem expliziten Stellvertretercharakter kündigt sich ein Medialitätsbewusstsein an, das im 19. Jahrhundert an die Stelle der im Brief der Empfindsamkeit schreibend immer anvisierten Unmittelbarkeit des Gesprächs, des Mündlichen tritt. Ein Verfahren des symbolischen Bezugsetzens, das sich seiner „Schattenstellvertreter“49 (so wird Adalbert Stifter Fotografien – und damit indirekt überhaupt Dinge, die einen derartigen Transmissionsauftrag erfüllen –, nennen) stets bewusst bleibt. Aber das Selbstgespräch des Tagebuchs ist von Anfang an explizit ein Zwiegespräch. Nicht nur hat es, wie Miller an anderer Stelle schreibt, darüber hinaus „den Sinn, die Kette der Ereignisse und Einsichten so, in sich erweiternden Kreisen und in wechselseitigen Spiegelungen, festzuhalten, daß dem Erleben am Ende die Erkenntnis als ein objektiv vom Ich ablös45 46 47 48 49
Koopmann: Goethe und Frau von Stein, S. 226–227. Am 18. April 87 aus Palermo. In: Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 2, S. 355. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 2, S. 311. MA 3.1: Italien und Weimar, Anmerkungsteil zum Reise-Tagebuch, S. 626. Adalbert Stifter an Amalia Stifter, 3.11.1866. In: Stifter, Adalbert: „Briefwechsel“. In: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 17–24 (= Bd. 1–8), hg. v. Gustav Wilhelm. Prag (Bd. 1–4) und Reichenberg (Bd. 5–8) 1919–1939, Bd. 6, S. 9. Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in: Lach, Roman: Der maskierte Eros. Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter. Berlin, Boston 2010, S 241–248.
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barer Gewinn zurückbleiben konnte“,50 sondern diese anvisierte Objektivität ist eine, die aus dem brieflichen Zwiegespräch mit Charlotte bereits in den ersten Jahren der Beziehung konzipiert wurde und auch hier durch die immer mitzudenkende Adressatin erst wirksam wird. „Anfangs gedacht ich mein Tagebuch allgemein zu schreiben“, schreibt Goethe am 14. Oktober 1786, dann es an dich zu richten und das Sie zu brauchen damit es kommunikabel wäre, es ging aber nicht es ist allein für dich. Nun will ich dir einen Vorschlag tun. Wenn du es nach und nach abschriebst, in Quart, aber gebrochne Blätter, verwandeltest das Du in Sie und ließest was dich allein angeht, oder du sonst denkst weg; so fänd ich wenn ich wiederkomme gleich ein Exemplar in das ich hinein korrigieren und das Ganze in Ordnung bringen könnte.51
Was vielleicht als Zumutung erscheinen mag, der Kopistenauftrag an die Geliebte, ist doch zugleich subtil sinnbildlich in Bezug auf das mehrfach vermittelte Bezugsgeflecht, über das diese Paarbeziehung hergestellt wird. Zu einer Lebensgemeinschaft kann ihr Verhältnis nicht führen, das ist offenbar früh von Charlotte ausgeschlossen worden. Die anfänglich hin und wieder geäußerte Klage hierüber („Wenn ich mit Ihnen nicht leben soll, so hilft mir Ihre Liebe so wenig als die Liebe meiner Abwesenden, an der ich so reich bin“52) weicht nach und nach einer Sinnstiftung, die aus dem Dilemma der unmöglichen Vereinigung den Sinn dieser Beziehung macht. Dieser aber besteht vor allem in der Domestizierung durch den freiwilligen Verzicht und die quasi-religiöse Beschwörung der Dauer der Beziehung als Substitut für deren Erfüllung. Steht die Formulierung „Ich seh dich eben künftig wie man Sterne sieht! – denk das durch“ noch für eine nicht ohne Trotz geäußerte Resignation, so wird die Unmöglichkeit der Vereinigung immer mehr zu einer Art alles inkludierenden Andacht umgedeutet: Meine Seele ist fest an die deine angewachsen, ich mag keine Worte machen, du weist daß ich von dir unzertrennlich bin und daß weder hohes noch tiefes mich zu scheiden vermag. Ich wollte daß es irgend ein Gelübde oder Sakrament gäbe, das mich dir auch sichtlich und gesezlich zu eigen machte, wie werth sollte es mir seyn.[…] – Die Juden haben Schnüre mit denen sie die Arme beym Gebet umwickeln, so wickle ich dein holdes Band um den Arm wenn ich an dich mein Gebet richte, und deiner Güte Weisheit, Mäsigkeit und Geduld theilhafft zu werden wünsche. Ich bitte dich fusfällig vollende dein Werck, mache mich recht gut! du
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MA 3.1, S. 615. Ebd. S. 635. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 1, S. 32.
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kannsts, nicht nur wenn du mich liebst, sondern deine Gewalt wird unendlich vermehrt wenn du glaubst daß ich dich liebe. Lebe wohl.53
„In der Liebe ist alles ein Zeichen“54 wird Stendhal 30 Jahre später schreiben und ein solches Verfahren der Symbolisierung liegt auch dieser Beziehung zugrunde. Umgekehrt gibt auch erst die Gewissheit der Resonanz, das Bewusstsein, geliebt zu werden, der antiquarisch-künstlerischen Arbeit Sinn. Der Brief, mit dem die Geliebte die Beziehung beendet, macht daher auch diese Arbeit unmöglich. Seitdem ich in Rom bin hab ich unermüdet alles sehenswürdige gesehen und meinen Geist recht damit überfüllt, in der Zeit da sich manches zu setzen und aufzuklären schien, kam dein Zettelgen und brach mir alles ab. Ich sah noch einige Villen, einige Ruinen, mit den Augen blos. Da ich merckte daß ich nichts mehr sah, lies ich ab und ging nur so vor mich hin.55
schreibt er am 14. Dezember, als noch immer keine Nachricht von ihr kommt. In den Brief, den er, nachdem ein einlenkender Brief ihrerseits ihm wieder Hoffnung gemacht hat, am 25. Januar schreibt, hat sich dann allerdings ein Moment von Skepsis in sein Projekt einer Arbeit am Ganzen eingeschlichen. Und sie [meine Lage] wird es [glücklich] seyn, sobald ich an mich allein dencke, wenn ich das, was ich solang für meine Pflicht gehalten, aus meinem Gemüthe verbanne und mich recht überzeüge: daß der Mensch das Gute das ihm wiederfährt, wie einen glücklichen Raub dahinnehmen und sich weder um Rechts noch Lincks, vielweniger um das Glück und Unglück eines Ganzen bekümmern soll. Wenn man zu dieser Gemüthsart geleitet werden kann; so ist es gewiß in Italien, besonders in Rom. Hier wo in einem zusammensinckenden Staate, jeder für den Augenblick leben, jeder sich bereichern, jeder aus Trümmern sich wieder ein Häusgen bauen will und muß.56
In geradezu Adam Smith’scher Manier wird hier der Einzelegoismus zur Voraussetzung des Glücklichseins erklärt. Goethe bezieht sich in diesem Brief zwar auf seine Pflichten gegenüber Ernst August, der Gedanke an das Verhältnis zu Charlotte ist – gerade so kurz nach der erst halbwegs beigelegten Krise – aber kaum wegzuschieben. Dass Charlotte von Stein „als Empfängerin“ von Goethes Briefen deshalb „unmöglich“ wird, weil – wie Oswald Spengler behauptet – „der südliche Zug seines Wesens in 53 54
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Goethe an Charlotte von Stein, Neuenheiligen, 12.3.1781. In: Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 1, S. 286–287. Stendhal: „Über die Liebe“. Deutsch mit einer Einführung von Friedrich von OppelnBronikowski. In: Stendhal (Herni Beyle): Werke. Hg. v. Carsten Peter Thiede, Ernest Abravanel, Bernhard Frank, Ursula Mathis, Kurt Wais. Bd. (ohne Zählung): „Über die Liebe“, „Armance“, „Lamiel“. Berlin 1982, S. 165. Goethes Briefe an Frau von Stein, Bd. 2, S. 321. Ebd., Bd. 2, S. 339.
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Rom von der Sehnsucht zur Wirklichkeit gelangte“,57 widerlegt nicht zuletzt ein fragmentarisch erhaltener Brief vom 1. Februar, den Goethe verfasst, nachdem er endlich ein längeres Schreiben von ihr erhalten hat. Nun kann ich auch fröhlicher an das Werck gehn, denn ich habe einen Brief von dir in welchem du mir sagst, daß du mich liebst, daß du dich meiner Briefe und Nachrichten freust. Könnt ich dir nur recht viel geben. Meine Selbstgespräche bey den besten Gegenständen sind an dich gerichtet, wenn sie nur gleich auf dem Blatte stünden. Was den Gedancken an dich betrifft; kann ich dem Rath des Peruginischen Grafen [„Non deve fermarsi l'huomo in una sola cosa, perche allora divien matto: bisogna aver mille cose, una confusion nella testa.“ – den Ratschlag hatte ihm besagter Graf am 25. Oktober auf der Reise nach Perugia gegeben58] nicht folgen, sonst hab ich würcklich jetzt eine […] [Der untere Streifen des ersten Blattes ist abgerissen.] Daß ich nicht zuviel sage, täglich ordnet sich mehr was ich sehe und gesehn habe und indem die großen Gegenstände an ihre – rechten Plätze kommen; so ist für sehr viele Platz und Raum. Vom einzelnen kann ich fast gar nichts mehr sagen. Meine Liebschafften reinigen und entscheiden sich mehr und mein Gemüth kann sich dem größeren mit gelaßner Theilnehmung entgegen heben. Erstaunend schwer ist es sehen zu lernen ohne selbst Hand anzulegen und doch habe ich keine Zeit dazu, auch würde es mich auf eine Weile beschräncken und zu sehr aufs einzelne führen. Ich spanne alle Seegel meines Geists auf um diese Küsten zu umschiffen. Nun kommt das Carneval, das uns eine edle Woche und mehr rauben wird. Es sey drum da man Volck sieht, ist auch zu lernen. ich habe […] schon drei Junonen neben einander stehen. Durch diese Vergleichung lern ich in Geschwindigkeit was andre nur in Jahren zusammen suchen. 59
Ein merkwürdig zwischen Zerstreuung und Fokussierung auf die Geliebte schwankender Brief. Der Rat des Grafen wird nicht befolgt, alles sammelt und bündelt sich – und doch ist er voller Ungeduld, will sich in der Aneignung der neuen Gegenstände nicht aufs Einzelne beschränken und sieht auch den Ablenkungen durch den Karneval gelassen entgegen. Der durch das fehlende Briefstück nur noch fragmentarisch erhaltene Satz von den drei Junonen gibt einen versteckten Hinweis: es handelt sich um die Gipsabgüsse der Juno Ludovisi,60 die Goethe in seinem römischen Zimmer aufgestellt hatte und die in der Karikatur, die Tischbein vom gemeinsamen Leben der beiden gegeben hat, hoheitsvoll von der Wand über das 57 58 59 60
Spengler: Dem Gedächtnis Willi Schmids, S. 157. „Tagebuch der italienischen Reise“. In: MA 3,1, S. 143. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 2, S. 342–343. Vgl. auch Assel, Jutta und Georg Jäger: Goethes Juno. Eine Dokumentation. http://www.goethezeitportal.de/wissen/projektepool/goethe-italien/rom-aesthetik/ goethes-juno.html (Stand: 01.05.2012).
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Geschehen hinweg aus dem Bild hinausschauen, während Goethe darunter das auf dem Bett liegende verräterische „verfluchte zweite Küssen“ zu verstecken sucht. Am 6. Januar 1787, also in demselben beschwörenden Brief, den er gleich nach ihrer Aufkündigung der Beziehung geschrieben hatte, hatte er Charlotte von Stein zum ersten Mal von einem Juno-Abguß in seiner Unterkunft berichtet: Seit gestern hab ich einen kolossalen Junokopf in dem Zimmer oder vielmehr nur den Vorderteil, die Maske davon. Es war dieser meine erste Liebschaft in Rom und nun besitz ich diesen Wunsch. Stünd ich nur schon mit dir davor. Ich werde ihn gewiss nach Deutschland schaffen und wie wollen wir uns einer solchen Gegenwart erfreuen. Keine Worte geben eine Ahndung davon, er ist wie ein Gesang Homers.61
Die strenge Juno Ludovisi, dem 18. Jahrhundert Inbegriff klassischer Idealität, hier mit Homer in Verbindung gebracht, wird in diesem Brief als „erste Liebschaft“ sogleich mit der Geliebten (der selbst immer wieder „junonische Züge“ bescheinigt wurden) assoziiert und ein gemeinsames Betrachten herbeigesehnt. In dem fragmentarisch erhaltenen Brief wird indes nur drei Wochen später – und mit der ‚Klassizität‘ der Juno eigentlich nicht vereinbar – die Möglichkeit der Vervielfältigung und eine Vergleichbarkeit behauptet, die in Bezug auf die Wohnung am Corso, wie auf das während des zweiten römischen Aufenthalts gemeinsam mit dem Freund bewohnten Tischbein’schen Ateliers immer wieder betont wird. Bei der späteren Aufstellung im Junozimmer am Frauenplan beherrscht demgegenüber wieder nur ein Junokopf den Raum. Tischbeins Karikatur legt nahe, dass sich um die Juno und ihre diversen Gipsabgüsse herum eine frivole Mythologie entwickelt haben könnte, in der Goethes mittlerweile aufgenommenes Verhältnis zur römischen „Faustina“ eine Vergleichbarkeit herausforderte, die eine Neudeutung seines Verhältnisses zu Charlotte von Stein zur Folge hatte. Diese wird nicht mehr als Geliebte sinnlich herbeigesehnt, bildet aber für den Romreisenden weiterhin einen vertrauten Bezugspunkt in allen seinen seelischgeistigen Konfusionen. Gleich nach dem Karneval schreibt er ihr am 21. Februar: An dir häng ich mit allen Fasern meines Wesens. Es ist entsetzlich was mich oft Erinnerungen zerreisen. Ach liebe Lotte du weist nicht welche Gewalt ich mir angethan habe und anthue und daß der Gedancke dich nicht zu besitzen mich doch im Grunde, ich mags nehmen und stellen und legen wie ich will aufreibt und aufzehrt. Ich mag meiner Liebe zu dir Formen geben welche ich will, immer immer – Verzeih mir daß ich dir wieder einmal sage was so lange stockt und ver61
Goethes Briefe an Charlotte von Stein, Bd. 2, S. 329.
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stummt. Wenn ich dir meine Gesinnungen meine Gedancken der Tage, der einsamsten Stunden sagen könnte. Leb wohl. Ich bin heute konfus und fast schwach. Leb wohl Liebe mich, ich gehe nun weiter und du hörst bald von mir und sollst durch mich noch ein Stück Welt weiter kennen lernen.62
Nun scheint er sich an der Reihe zu fühlen, die Beziehung zu beenden. Aber was wie ein Abschiedsbrief klingt, ist zugleich ein Liebesbrief und beschwört eine Kontinuität über das Ende des intimen Verhältnisses hinaus. War ihre Liebe seinerseits für ihn die Voraussetzung dafür, die Welt zu sehen, so soll seine Liebe zu ihr nun dadurch fortbestehen, dass sie die Welt durch ihn „kennen lernen“ wird. Das Projekt einer Welt erschließenden und ordnenden, sozusagen transzendentalen Liebe, in dem das paulinische „und hätte die Liebe nicht“ (1 Kor. 13,1–8) säkularisiert werden sollte, wird also in und nach Italien von Goethe nicht aufgegeben, sondern in letzter Konsequenz aus dem anfänglichen Modell herausgehoben und ganz in ein panerotisches transferiert. Dass der Briefwechsel zwischen den Liebenden dennoch mehr oder weniger zum erliegen kam, lag wohl auch daran, dass Charlotte von Stein diesen letzten Schritt Goethes nicht mitgehen wollte. Ihre Vorstellung von Entsagung war – so darf man vermuten – eine andere. Sie kreiste um ein dualistisches Begehren und Verweigern, hatte eher einen romantischen Anklang, wie er sich an ihrer Kontrafaktur des goetheschen „An den Mond“ – das er ihr im März 1778 als Briefgedicht geschickt hatte – vom September 1786 offenbart. Der Körper wird hier durch die Seele ersetzt und das Begehren durch Ahndung und Andacht. Man wird sich Charlotte von Stein, die laut Ernest de Seillière einen „antiromantischen Einfluß auf Goethe“ hatte,63 als eine romantische Frau vorstellen müssen:
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Ebd., S. 353. de Seillière, Ernest: Charlotte von Stein und ihr antiromantischer Einfluß auf Goethe. Autorisierte Übersetzung v. Lydia Jacobs. Berlin 1914.
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Charlotte von Stein An den Mond nach meiner Manier
Goethe An den Mond
Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Seine Seele rein erhält, Ahndungsvoll genießt,
Selig wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Mann am Busen hält Und mit dem genießt,
Was den Menschen unbekannt Oder wohl veracht In dem himmlischen Gewand Glänzet bei der Nacht.64
Was den Menschen unbewußt Oder wohl veracht Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht.65
MA 2.1, S. 561. MA 2.1, S. 34.
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Verlangende Frauen, zögernde Männer Strategien des Liebeswerbens in Briefen der Empfindsamkeit (Meta Moller und Klopstock, Caroline Flachsland und Herder) Liebeswerben in Briefen der Empfindsamkeit Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Als Friedrich Gottlieb Klopstock und Meta Moller sich am 4. April 1751 in Hamburg das erste Mal begegnen, ist Moller vom Aussehen des ihr bis dahin nur durch seine Schriften bekannten Mannes, den sie bei der Erstbegegnung als „süß“ und „bis zur Vollkommenheit schön“ empfindet, überwältigt.1 Auch wenn sie, wie sie selbst schreibt, gar nicht erwartet hat, dass ein „ernsthafter Dichter finster u mürrisch aussehn, schlecht gekleidet seyn, u keine Manieren haben müsse“, 2 ist sie doch von der körperlichen Anziehungskraft, die Klopstock auf sie ausübt, überrascht. Folgerichtig finden sich in ihrem zwei Jahre später verfassten Rückblick auf die ersten Begegnungen, der bezeichnenderweise auch in Briefform verfasst ist, zahlreiche Anspielungen, die die sinnliche Anziehung zwischen den beiden in den Mittelpunkt rücken. Die Register, die Meta Moller demnach bei ihrer ersten Begegnung gezogen hat, reichen vom gezielten Einsatz vorteilhafter Kleidung („Ich hatte mich sehr sorgfältig geputzt.“3 und „Es war mir angenehm, dass meine Kleidung bemerkt wurde, weils Kl war“4) über die Wahl berührungsträchtiger Sitzgelegenheiten („Ich reichte Rahn einen Teller mit Aepfeln, u weil Kl und Hagedorn zwischen uns sassen; so musste ich mich fast über Kl. seinen Schooß legen, um hin zu kommen. Kl sah sehr aufmerksam nach meiner Tour-de-gorge, u.seufzte“5) bis hin
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Moller an Giseke, 4.4.1751. In: Franziska und Hermann Tiemann: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Klopstock und mit ihren Freunden 1751– 1758. München 1980, S. 9. Ebd. Moller an Giseke, 11.12.1753: In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12.
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zur Schaffung körperlich begleiteter Leseerlebnisse6 („Ich fieng an zu lesen, konnte aber nicht fortfahren, weil ich einen zu starken Fluß auf den Augen hatte. Kl las. Er hielt meine eine Hand. Das Herz schlug mir gewaltig, unsere Hände wurden immer heisser, immer heisser, ich fühlte sehr viel u, ich glaube, Kl. auch.“)7 Leider bleibt der erwünschte Erfolg erst einmal aus, wie Mollers entwaffnend offen gewährter Blick in die Belohnungserwartung ihrer Bemühungen belegt: „Ich dachte, warum küst der Affe dich denn nicht? Du kannst ihm den Kuß ja nicht geben!“8 Moller formuliert an dieser Stelle überraschend selbstbewusst, mit welchen Erwartungen sie sich in Szene setzt. Die Inszenierung ihrer eigenen Person erscheint gut geplant und noch sorgfältiger durchgeführt, führt aber – auch wegen des nur kurzen Aufenthalts Klopstocks in Hamburg – nicht dazu, dass sich die beiden des jeweils anderen bereits ‚sicher‘ sein können. Die Ungewissheit über den Status des sich anbahnenden Verhältnisses lässt sich in den Briefen, die in der Folgezeit zwischen Klopstock und Moller gewechselt werden, nachvollziehen. Dies gilt auch für den zweiten Briefwechsel, der im Folgenden betrachtet werden soll, den zwischen Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder. In beiden Briefwechseln geht es in der Anfangsphase zuallererst darum, einen gemeinsamen Kommunikationscode zu etablieren. Die Mühen, die beide Paare dafür auf sich nehmen, werden verständlich, wenn man sich den Mehrwert des gemeinsamen Kommunikationscodes vor Augen führt. Hier geht es nicht nur um den banalen Austausch von Alltagsgeschichten oder um die rhetorische Beteuerung der gegenseitigen Zugewandtheit, sondern vor allem darum, durch die Art der Kommunikation Grenzen und Möglichkeiten einer zukünftigen Verbindung zu bestimmen. Der Brief wird so zum Ort, an dem das Gerüst, das die Verbindung in der Zukunft stützen soll, aufgestellt, vielleicht sogar erst erfunden wird. Dies geschieht – so lautet eine erste These – besonders im Falle der schreibenden Frauen durchaus zielbewusst. Sie sind es, die den Briefwechsel dazu nutzen, sich und ihren 6
Der Zusammenhang von Autorschaft und Erotik ist gerade mit Blick auf Klopstock bestens erforscht und belegt. Vgl. unter anderem: Koschorke, Albrecht: Die Verschriftlichung der Liebe und ihre empfindsamen Folgen. Zu Modellen erotischer Autorschaft bei Gleim, Lessing und Klopstock. In: Lesen und Schreiben im 17. Und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Hg. von Paul Goetsch. Tübingen 1994, S. 251–264. Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003. Trunz, Erich: „Die Sprache der Freundschaft und Liebe. Meta Klopstock, geb. Moller, in ihren Briefen“. In: Weltbild und Dichtung im Zeitalter Goethes. Hg. v. Erich Trunz. Weimar 1993, S. 40–58.
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Moller an Giseke, 11.12.1753: In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 13. Ebd.
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Bedürfnissen eine Stimme zu verleihen. Welche Strategien dabei zum Anschlag gebracht werden und welche Dynamik die Briefwechsel dadurch erhalten, soll im Folgenden untersucht werden. Dass die genutzten Strategien dabei situationsgebunden und individuell sind, macht den Vergleich der beiden Briefwechsel umso reizvoller. Als Herder Mitte August 1770 als Begleiter des 17-jährigen Erbprinzen von Holstein-Gottorp nach Darmstadt reist, wo Caroline Flachsland im Hause ihres Schwagers Hesse wohnt, treffen sich die zukünftigen Brautleute zum ersten Mal; zunächst in Gesellschaft, dann aber auf Initiative Flachslands im Anschluss an eine Predigt Herders auch allein. Ein gemeinsamer Waldspaziergang bietet die Projektionsfläche, vor der in den darauffolgenden Wochen und Monaten die Tragweite der Beziehung ausgelotet wird. Bereits am 20. August, nur einen Tag nach dem ersten Treffen unter vier Augen und noch während Herders Aufenthalt in Darmstadt, setzt der Briefwechsel ein. Der zweite Brief Herders liest sich bereits wie ein Rückblick und gleichzeitig wie eine Interpretation der gemeinsam verbrachten Tage in Darmstadt. In allen Schattierungen evoziert Herder dabei immer wieder ein Thema: das der Tugend und Unschuld. Alles, was Caroline Flachsland betrifft, scheint diesem Code zu gehorchen oder auch gehorchen zu müssen. So werden Herders und Flachslands erwachende Gefühle, „die so sehr auf das heiligste Gefühl der Unschuld und Tugend gewebt sind“, 9 vor dieser Interpretationsfolie gesehen; ebenso charakterisiert er Flachsland selbst ausführlich mit diesen Vokabeln. Aber noch mehr wird in der Beschreibung seiner zukünftigen Frau deutlich: Wenn ich mir die Unschuld, die süßeste, reineste, seligste Zärtlichkeit, die ganze Gefühlvolle schöne Natur einer Menschlichen Seele vorstellen will: so wird kein andres als Ihr Bild draus – Ihr Bild mit jedem kleinsten Zuge. Ihr Unschuldiges, einfaches, freies Gesicht, Ihr blaues, stilles, fühlendes Auge, Ihr leichter Körper, in jeder Stellung ganz Natur, ganz Munterkeit, ganz sanfte Zärtlichkeit und Anmuth: die unschuldige Natur, die mit jedem Worte von Ihren Lippen spricht, und nicht argwohnet, daß Böses in der Welt sey: die muntre, rege Freundschaft, die Sie zu empfinden fähig sind […].10
Die Details des Tugendgemäldes, das hier entworfen wird, sind signifikant. Herders Beschreibung erhält durch die Nennung der „Seele“ und der „Freundschaft“ eine Rahmung, die nicht nur für das Zitat selbst gilt, sondern insgesamt das Szenario umreißt, das sich Herder für seine Ver9
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Herder an Flachsland, 25.8.1770. In: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hg. v. Hans Schauer. Bd. 1: August 1770 bis Dezember 1771. Weimar 1926, S. 2. Ebd. Hervorhebungen durch die Verf.
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bindung zu Flachsland ausmalt. Gesicht, Auge, Körper und Lippen werden dabei ganz der Sphäre des unschuldig Tugendhaften überschrieben. So ganz scheint Herder seinem Präventivprojekt des Körper-Ausschlusses jedoch nicht zu trauen: Wie anders ist zu erklären, dass das Wort „unschuldig“ in allen Flexionsformen noch neun Mal zur Beschreibung Flachslands in diesem Brief aufgerufen wird? Flachslands Antwort, am gleichen Abend verfasst und am nächsten Morgen vollendet, schlägt einen ganz anderen Ton an. Sie benennt, was Herder noch wortreich ausspart, und wagt es, das Verb „lieben“ für ihr Verhältnis zu bemühen. „Nein! Ich will nicht länger mein Herz dem redlichsten besten Freund verhelen, eben so stark, und wann es möglich ist noch stärcker, liebe ich Sie, wie Sie mich lieben […].“11 Rhetorisch geschickt vergleicht sie ihre Liebe mit derjenigen Herders, die ihr demnach (real oder supponiert) bereits erkennbar geworden ist. Auch das Bild, das sie von ihrem zukünftigen Ehemann zeichnet, liest sich völlig anders als jenes, das er von ihr entworfen hat. Herder ist ihr ein „feuriger Freund“, dessen „Bild“ zudem „[d]ie ganze Nacht“12 bei ihr war: Von „Unschuld“ jedenfalls ist in dem gesamten Antwortbrief nicht die Rede. Bezeichnend jedoch ist, dass Flachsland bereits in ihrem ersten Brief an Herder vergleichend auf ein anderes Paar Bezug nimmt. Kokett fragt sie Herder: „[G]lauben sie daß ich wie eine Meta Sie liebe?“ und nimmt die Antwort im nächsten Satz gleich vorweg: „Freylich fehlt mir zu einer Klopstockin noch viel, aber hierinn nichts mehr.“13 Mit dem Bezug auf das paradigmatische Liebespaar des 18. Jahrhunderts, das Ehepaar Klopstock, modelliert Flachsland ihr eigenes, noch sehr junges und unbestimmtes Verhältnis zu Herder.14 Auch hier lässt sich zeigen, dass Flachsland eine andere Verbindung vorschwebt, als Herder sie in seinen ersten Briefen zeichnet. Durchaus offensiv und voller Hoffnung weist sie der Verbindung den Weg in eine Liebesbeziehung. Der Grad der Enttäuschung über das vereitelte Abschiednehmen (Herder und Flachsland hatten nach Aussage Herders keine Gelegenheit sich so zu verabschieden, wie sie es sich gewünscht hätten15), mehr aber noch über Herders bilanzierenden und einen endgültigen Abschied zumindest nicht ausschließenden ersten Brief nach seiner Abreise muss groß gewesen sein; dieser hatte geschrieben: 11 12 13 14
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Flachsland an Herder, 25. u. 26.8.1770. In: Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 1, S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Vgl. dazu auch: Anton, Annette C.: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995. Herder an Flachsland, 27.8.1770. In Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 1, S. 8.
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Und sollten wir uns auch nie in der Welt einander mehr sehen: sollte es gestern das letzte ewige Mal seyn, da ich Ihre Hand geküsst, lassen Sie uns noch nicht beklagen uns gekannt zu haben, denn ist wohl je in der Welt eine Bekanntschaft süßer, unschuldiger, tugendhafter, und dem Gefühl der Menschheit würdiger gewesen, als die Unsrige?16
Dass Herder hier erneut das Attribut „tugendhaft“ für die Kennzeichnung ihrer Verbindung bemüht, wirkt beinahe schon ignorant angesichts der offenkundigen Bemühungen Flachslands, die Verbindung in eine andere Richtung zu lenken. Dass auch Herder die im Brief Flachslands vorherrschende Gefühlstiefe und den darin erkennbaren Kontrast zu seinem eignen Brief wahrgenommen hat, zeigt sich am Ende seines ersten Briefes nach dem Abschied: „sie [seine Briefe, Anm. d. Verf.] werden vielleicht manchmal den kalten Ton des Wohlstandes haben müssen, aber die Ihrigen dörfen ihn nicht haben.“17 Geschickt stellt er damit Flachsland anheim, die gefühlvolleren Briefe zu schreiben; man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass Herder sich an dieser Stelle implizit damit einverstanden erklärt, auch künftig Liebesbriefe von Flachsland zu erhalten.
I. Kommunikations(frei)räume Auch Klopstock nutzt die ersten Briefe, um einen gemeinsamen Kommunikationsraum mit Moller abzustecken, bedient sich dabei aber vollständig anderer Mittel als Herder. Klopstock selbst ist es, der das Wort „Liebe“ zur Kennzeichnung der Beziehung ins Spiel bringt und die Rollenverteilung zwar scherzend, aber eben immerhin, anspricht: Sehen Sie, weil Sie keinen grössern Beweis der Freundschaft, als das Schreiben verlangen, so schreibe ich schon an Sie. Kaum habe ich mich von dem Schrecken erhohlt, in das ich gerieth, als ich Sie beym Abschiede krank sah. Werden Sie mir ja nicht wieder krank, meine kleine liebe Freundinn. Und gehen Sie fein hübsch früh zu Bette. Ferner bessern Sie sich auch darinn, daß Sie mich nicht mehr auf den Fuß eines neuen Freundes ansehen. Das verlange ich durchaus von Ihnen. Ich habe Sie recht sehr lieb. Sie können mir, dächte ich, nur auch immer ein bischen gut seyn. Das hat mich so schrecklich verdrossen, daß Sies, in Betrachtung der neuen Robe nicht gerade zu auf meinen Geschmack wollten ankommen lassen. Sehen Sie, was Sie für Unheil damit angerichtet haben. […] Ich merke, daß ich anfange böse zu werden. Ich will nur schliessen.18
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Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Klopstock an Moller, 08.4.1751. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 21.
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Mollers Reaktion auf seinen eigentümlichen Briefstil ist abwägend, aber auch entschieden. Stück für Stück entkräftet sie seine Vorwürfe bzw. setzt seinen Forderungen eine eigene Sichtweise entgegen. So erklärt sie ihm, dass sie zwar „grosse Lust“ gehabt habe, ihn schon in Hamburg „nicht als einen neuen Freund anzusehen“,19 rechtfertigt dann aber ihr Verhalten mit folgendem Argument: „Ich muste mir aber doch Gewalt anthun mich dieser Lust nicht so gleich zu überlassen, weil es doch möglich war, daß die guten Eigenschaften, die ich an Ihnen bemerkte, nur so schienen.“20 Und zum Vorwurf des zurückgewiesenen Geschmacksurteils erklärt sie: „Woher könnte ich aber wissen, daß Sie, als eine Mannsperson einen guten Geschmack darinn hatten.“21 Auch wenn man gerne zugeben möchte, dass hier nicht die „großen Themen“ verhandelt werden, bleibt doch nicht verborgen, dass es nicht nur hier unterschwellig um das Aushandeln einer gleichberechtigten Partnerschaft handelt. Dass es dabei unweigerlich auch zu Situationen kommen muss, die nicht konfliktfrei beigelegt werden können, zeigt folgende Begebenheit. Klopstock schreibt am 17. April 1751, also keine zwei Wochen nach dem ersten Kennenlernen, folgende Zeilen an Moller: Wenn sie mir auch ein bischen gut sind, so hätte ich wohl eine Bitte an Sie, die Ihnen alsdann nicht zu kühn vorkommen würde. Und welche? Wissen Sie was? wenn Sie mir gut sind, müssen Sie die Bitte errathen können. Ja, wirklich ein Mädchen von so geistvollen Augen muß das können, u die noch dazu an Ihrer Toilette so oft Gelegenheit hat, die Bitte zu sehen.22
Der Ton, der hier von Klopstock angeschlagen wird, ist ohne viel Übertreibung fordernd und sogar herrisch zu nennen. Zweimal verbindet er seine Bitte mit dem Konditionalsatz „wenn sie mir […] gut sind“ und nimmt in den darauf folgenden Hauptsätzen vorweg, wie eine ‚angemessene‘ Reaktion auf seine Bitte auszusehen habe. Seine Setzungen: 1. Meine Bitte kann Ihnen nicht kühn vorkommen; 2. Sie müssen meine Bitte erraten können, schließen in ihrer Diktion kategorisch eine andere Reaktion des Gegenübers aus. Dass Moller trotz Klopstocks verbalen Ausschlussklauseln nicht in der Lage ist (oder nicht in der Lage sein will) zu erraten, dass er sich ein Porträt von ihr wünscht, führt zum ersten ernsthaften Dissens zwischen den beiden Briefpartnern. Aus dem Antwortbrief Mollers geht deutlich hervor, dass sich Klopstock in seiner Empörung im Ton vergriffen hat.
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Moller an Klopstock, 13.4.1751. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 24. Ebd., S. 25. Ebd. Klopstock an Moller, 17.4.1751. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 27.
Liebeswerben in Briefen der Empfindsamkeit
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Sind Sie aber nicht ein rechter kleiner Affe Klopstock! Sie nehmen es so übel daß ich Ihre Bitte nicht so beantwortet habe, als Sie es sich vorgestellt. Sie können ja wol denken daß ich sie nicht errathen habe. Was kann ich dafür, daß Sie mir mehr Verstand zutrauen als ich habe. Warum haben Sie es nicht gerade heraus gesagt, daß Sie mein Portrait haben wollten? […] Haben Sie nun Recht, mein lieber Klopstock, mir so sehr böse zu seyn? Sie fragen nicht einmal, wie ich Ihre Bitte auslege. Es ist Ihnen ganz gleichgültig. Genung, ich bin verdammt, weil ich sie nicht recht ausgeleget. Ich bin nun nicht mehr das süße Mädchen, die liebe, kleine Moller; ich bin nur Ihre Freundinn. Dieser Titel ist mir freylich sehr angenehm; aber nicht wenn er mit solcher Kaltsinnigkeit gegeben wird. […] Es ist eine erstaunliche Kaltsinnigkeit, die in dem ganzen Briefe herrscht.23
Zwar entschuldigt sich Klopstock in seinem nächsten Brief und auch Moller beteuert, dass sie ihm wieder gut sei,24 dennoch bleibt von dieser ersten Auseinandersetzung etwas übrig: Auch im weiteren Verlauf des Briefwechsels werden Missverständnisse und Empfindlichkeiten, die letztlich als Ausdruck von Unsicherheit – sowohl über den Status der gemeinsamen Verbindung als auch der eigenen Person gegenüber – gelesen werden können, weiter thematisiert. Das Ziel bleibt die Herstellung eines gemeinsamen Gefühlsraums. Der Briefwechsel zwischen Herder und Flachsland folgt einer ähnlichen Dynamik. Auch hier lässt sich das Bemühen, einen passenden Schreibgestus und einen verlässlichen Gefühlsraum herzustellen, beobachten. Während aber im Briefwechsel zwischen Klopstock und Moller Klopstock derjenige ist, der mit seiner fordernden, vorpreschenden Art Moller ein ums andere Mal in Zugzwang bringt und ihr damit Kommunikationsräume öffnet, deren Nutzung oder Zurückweisung er interessiert, verärgert oder auch erfreut zur Kenntnis nimmt, stellt sich dies in der Korrespondenz zwischen Flachsland und Herder anders dar. Hier ist es eher sie, die bestimmte Dinge zur Sprache bringt und sich wünscht, Herder würde die oftmals versteckten Kommunikationsangebote anders nutzen. Nur so ist zum Beispiel die Heftigkeit ihrer Reaktion bereits in einem der ersten Briefe erklärbar, als der Briefwechsel zu einem vor allem literarischen Austausch zu werden droht: Nachdem Herder am 20. September 1770 auf eine in einem vorhergehenden Brief gemachte Bemerkung Flachslands zu Lessings Minna von Barnhelm hin angesetzt hat, seine Korrespondentin über die seiner Meinung nach rechte Lesart des Stückes aufzuklären – weniger als Komödie denn als eine „Dialogirte Geschichte“ über die menschliche Natur will er es verstanden wissen –,25 scheint sie 23 24 25
Moller an Klopstock, 14.5.1751. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 35ff. Moller an Klopstock, 27.5.1751. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 42. Herder an Flachsland, 20.9.1770. In Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 1, S. 48–49.
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ihm mit dem Abbruch des Briefwechsels gedroht zu haben. Leider ist ihr Brief, auf den Herder dann wiederum am 1. Oktober 1770 Bezug nimmt, nicht erhalten, sodass sich nur im Spiegel seiner Äußerungen rekonstruieren lässt, was Flachsland bewogen haben mag, einen solchen Abbruch in Betracht zu ziehen. Flachslands Kritik – soweit man dies aus den von Herder übernommenen Zitaten aus dem verlorenen Schreiben Flachslands entnehmen kann – richtet sich gegen mehrerlei. So ist ihr die Vorhersehbarkeit seiner Reaktion auf eine literarische Bemerkung von ihr ein Dorn im Auge: „Ich habe mich nicht vergebens auf Ihre Verweise wegen Minna gefaßt gemacht.“26; aber auch, dass Herder überhaupt andeutet, ihre Lesart der Komödie sei nicht angemessen: „[…] ich gestehe gern, dass ich die Comödie nicht recht gelesen! Künftig will ich mich an alles Delikate und Undelikate gewöhnen, es mag vorkommen, wo es will!“27 Besonders aber stören sie Herders „öftere Anfragen ‚Haben Sie das gelesen?‘“28 und sein an sie herangetragener Wunsch, seine Briefe nach der Lektüre zu verbrennen. Letzteres quittiert sie mit der Bemerkung: „Daß ihnen aber der Briefwechsel nicht wieder gereuen soll: so schreiben Sie von jetzt an keinen Brief mehr an mich.“29 Und weiter heißt es: „Ich habe mich getäuscht! Ich soll mich nicht länger hintergehen! Es schauert mir vor einem langjährigen Briefwechsel: aller Zwang sei zu Ende!“30 Herder selbst hat angesichts der vielschichtigen Kritik Flachslands Probleme zu verstehen, worauf diese hauptsächlich abzielt. Zwar versucht er, so gut es geht, die einzelnen Vorwürfe zu entkräften beziehungsweise sich zu erklären, stochert aber bei all dem mehr oder weniger im Nebel und bittet Flachsland darum, ihm in einem letzten Brief wenigstens darzulegen, womit genau er ihren Unmut verdient habe. Vielleicht ist es genau diese dem heutigen Leser erkennbare Begriffsstutzigkeit Herders im Zwischenmenschlichen gewesen, die Flachsland so vehement gegen ihn hat argumentieren lassen. Ganz so unklar wie Herder es offenbar gerne sehen will, ist die Zielrichtung der Kritik eben nicht: Natürlich ist Flachsland nicht in erster Linie über die Zurückweisung ihrer Lesart der Lessing’schen Komödie gekränkt, sondern darüber, dass Herder in dem besagten Brief nicht den richtigen Ton findet und damit die Herstellung eines gemeinsamen Kommunikationscodes nicht vorantreibt. In diesem soll es weniger um Literatur im Allgemeinen gehen – diese soll nur dazu genutzt werden, einen gemeinsamen Gefühlshorizont aufzubauen – als 26 27 28 29 30
Herder an Flachsland, 1.10.1770. In Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 1, S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71.
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um ihre Liebe. Wenn Flachsland explizit äußert, sie wolle nicht so häufig gefragt werden, ob sie dieses oder jenes Buch gelesen habe, dann steht unausgesprochen hinter dieser Äußerung, dass sie selbst diejenige sein möchte, die im übertragenen Sinn gelesen und damit verstanden werden will. Als kränkend empfindet sie eben auch, dass Herder schnell auf ihre literarischen Bemerkungen eingeht, die Kommunikationsspielräume, die sie ihm auf der Gefühlsebene anbietet, aber weit weniger enthusiastisch nutzt. Zusammenfassend könnte man sagen, dass Flachsland ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck verleiht, dass Herder zu Beginn des Briefwechsels eine Modellierung der Korrespondenz zum eindeutigen Liebesbriefwechsel, der zudem die Funktion hätte, eine verbindliche Beziehung anzubahnen, zu vermeiden sucht: „Auch Ihnen schaudre es für dem Briefwechsel ein wenig: Sie sehen eben so wohl als ich, die Unmöglichkeit ein, uns jemals wieder zu sehen und oft zu sehen! Aller Zwang sei zu Ende!“31 Herders nachfolgende Erklärungen dafür, warum er sich in seinen Briefen bis dahin wenig gefühlvoll und noch weniger verbindlich geäußert habe, können unter dem Schlagwort „gesellschaftlicher Zwang“ subsumiert werden. Dass er sich dabei aber genauso äußert, wie Flachsland es sich erhofft hat und endlich von Liebe spricht, kann als Erfolg ihrer Kommunikationsstrategie gewertet werden. „Stößest Du mich von Dir, o so wisse, es ist der aufrichtigste Deiner Freunde, den du von Dir stößest, den Sie je gehabt haben und haben können, und mir wird wenigstens mein Gewissen sagen, was mich Allein kennet – mehr, mehr hab ich dich geliebet, als ich Dir je hab kund gemacht.“32
II. Die Nebenbuhlerin als Katalysator Wie tragfähig die genutzten Kommunikationscodes und die in ihnen konstituierten Liebesbeziehungen sind, lässt sich in beiden Briefwechseln dort zeigen, wo der Grenzfall der Liebe, nämlich das Auftreten einer die eigene Liebe bedrohenden anderen Frau, thematisiert wird. Sowohl Moller als auch Flachsland werden mit dieser Situation konfrontiert; beide müssen sich auf der Grundlage ihrer bisherigen Erfahrungen überlegen, welches briefliche Verhalten den gewünschten Erfolg – das Verschwinden der Nebenbuhlerin – begünstigen könnte. In der Beziehung zwischen Moller und Klopstock ist diese Konstellation in gewisser Weise bereits vorab gegeben, da Klopstock bei seiner 31 32
Ebd., S. 72. Ebd., S. 76.
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ersten Begegnung mit Moller noch unglücklich in seine Cousine Maria Sophia Schmidt verliebt ist. Bereits bei seiner zweiten Begegnung mit Meta Moller berichtet er seiner späteren Ehefrau ausführlich von dieser unglücklichen Liaison. Moller selbst hatte sich ja bereits für ihre Begegnung einen anderen Ausgang („Warum küst der Affe dich denn nicht?!“) gewünscht, sodass sie das auf eine andere Frau bezogene Liebeseingeständnis Klopstocks in eine schwierige Lage gebracht haben muss: „Ich empfand so viel dabey, daß ichs gar nicht ausdrücken kann. Ich musste auch einmal hinausgehn.“33 Dennoch nimmt sie an Klopstocks Leiden „freundschaftlichen Antheil“34 und sichert so ihrer noch sehr fragilen Verbindung den Fortbestand. Dass die Anteilnahme nicht Ausdruck uneigennütziger Freundschaft ist, sondern strategischen Charakter hat, belegt Mollers rückblickende Kategorisierung ihrer eigenen Gefühle: „[…] aber nachdem ich recht darauf Acht gegeben; so habe ich gefunden, dass mein Gefühl mehr der Eifersucht als der Freundschaft ähnlich war. Dieses Gefühl hat sich hernach sehr oft wieder merken lassen.“35 Zu fragen ist, wie es Moller gelingen konnte, Klopstock von der Leidenschaft für seine Cousine zu befreien und gleichzeitig sich selbst als lohnenswertes Objekt seiner Liebe anzubieten. Klopstock selbst scheint sich in der Rolle des unglücklich Liebenden zu gefallen, auch zu Zeiten, in denen er längst die neue Verbindung zu Moller mit der Vokabel „Liebe“ belegt hat. Mollers Reaktionen auf die oftmals stilisierten Darbietungen seiner Liebe zu einer anderen Frau sind besonnen, sachlich und von einem äußerst freundschaftlichen Ton geprägt. Es scheint so, als sei sie in der Lage gewesen, ihre eigenen Gefühle zurückzustellen, wenn es um die unglückliche Liebe ihres Klopstock geht. Verzweifeln Sie nicht Klopstock, ich glaube doch Sie werden geliebt. Ich will das gar nicht als einen Grund anführen, daß es mir unbegreiflich scheint, daß ein Mädchen, das ein freyes Herz hat und von Ihnen geliebt wird, Sie nicht wieder lieben sollte.36
Die Häufigkeit, mit der die Schmidtin in den Briefen zwischen Moller und Klopstock thematisiert wird, legt die Vermutung nahe, dass es neben dem offensichtlichen Austausch über die unglückliche Liebe um mehr gegangen sein muss. Sowohl Klopstocks Stilisierung des eigenen Leidens als auch Mollers selbstlose Begleitung des Freundes durch diese Zeit müssen einen funktionalen Mehrwert besitzen. Dieser wird deutlich, wenn man die Liebe zu seiner Cousine als einen Intertext versteht, an dem sich die 33 34 35 36
Moller an Giseke, 21.3.1754. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 14. Ebd. Ebd. Moller an Klopstock, 27.−28.55.1751. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 42f.
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beginnende Beziehung zwischen den Briefpartnern orientiert und von dem sie sich gleichzeitig − da die beiden an einem gelungenen Liebesentwurf schreiben − distanzierten. Dazu gehört dann auch, dass die neue Liebe zu Moller die alte übertrifft:37 „Und −− ich liebe Sie mehr, als ich Fanny geliebt habe. Es ist mir izt lieb, daß ich mich so kurz ausdrücken, u so alles auf einmal sagen konnte. Gewiß mehr, als Fanny; u dies daher, weil Sie mehr meine Freundin zu sein scheinen.“38 Hier benennt Klopstock zum ersten Mal genau, welchen Mehrwert die Verbindung zu Moller für ihn hat. Über die Gefühle hinaus etabliert sich in der neuen Verbindung etwas, das eine solide Basis für lebenslange Verbindung sein könnte: Freundschaft.39 Mollers Strategie, sich als freundschaftliche Begleiterin in von Liebeskummer getrübten Zeiten anzubieten und Klopstock das Gefühl zu geben, dass die Zurückweisung seiner Liebe ein unverzeihlicher Fehler der anderen Frau sei, bringt sie ihrem Ziel sehr nah. Wie sehr Moller ihre freundschaftliche Gesinnung zu inszenieren weiß, belegt auch ihr Angebot, auf Klopstock zu Gunsten der ersten, leidenschaftlich vorangetriebenen Liebe zu verzichten: Denken Sie aber nicht, daß ich durch das, was ich geschrieben habe, Ihnen Ihr Herz wieder zurückgebe. Nein mein lieber Klopstock, dazu ist es mir viel zu schätzbar. Lassen Sie es mir. Erlauben Sie, daß ich es so lange aufhebe, ganz heilig aufhebe, bis ich einmal werth werde es zu behalten, oder bis ich es einmal an Fanny wieder abtreten muß. So sauer mir dieses auch ankommen würde, so müste ich es doch ihr (aber auch sonst niemand in der Welt) überlassen, wenn Sie es forderten. Und wenn ich Sie auch wirklich liebte, u Fanny sollte sich erklären, daß sie Sie auch liebte, so würde ich Sie selbst bitten, sich für Fanny zu erklären. Ich machte ihr hierdurch zwar ein Opfer, das mit nichts in der Welt könnte vergli-
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Vgl. auch: „Sie lieben mich also nicht! −− Sie sind dennoch viel süsser, als Fanny, daß Sie mirs sagen. Und ich darf zu Ihnen kommen, u mit Ihnen darüber reden.“ − Klopstock an Moller, 1.5.1752. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 147. „Nein! Mädchen, nein! So ist keine Geliebte geliebet worden. Von so etwas hab ich noch niemals etwas in den würdigsten Geschichtsbüchern gefunden. Ich will nur ganz aufhören, etwas davon zu sagen, wie ich dich liebe.“ − Klopstock an Moller, 21.7.1752. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 172. Klopstock an Moller, 13.5.1752. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 151. Trotzdem erschreckt Klopstock der Gedanke an eine rein freundschaftliche Liebe: „[…] aber wenn dieses Herz auch nur Freundschaft für mich empfindet, so ist doch dießmindstens sanfte Ruhe, obgleich bisweilen nur die Minen davon. Aber wenn ich nun zu Ihnen komme, wird mein Herz dann auch mit dieser Ruhe, oder mit diesen Minen derselben zufrieden seyn wollen? Jetzt kömmtmirs vor, als wenns es seyn würde. Nur denkt es sich eine einzige kleine Bedingung hinzu. Und die ist diese: daß meine süsse Moller manchmal, nur ein ganz klein bischen Liebe (wenn Sie kann) unter die Freundschaft mische […].“ Klopstock an Moller, 14.3.1752. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 128.
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chen werden, aber eine von uns beydenmüste denn doch unglücklich seyn, u Fanny hat zu Ihrem Herzen doch das älteste Recht. −−−40
Inhaltlich erscheint Mollers Verzicht in seiner Rigorosität unbegreiflich; in seiner Zielorientierung jedoch ist er wohl kalkuliert. Durch ihr unter bestimmten Prämissen angebotenes Opfer inszeniert sie sich selbst als besonders tugendhafte und selbstlose, einzig auf das Wohl des Partners bedachte Partnerin und gerade dadurch als die einzig richtige Wahl. Auch Caroline Flachsland wird während des Briefwechsels mit Herder immer wieder mit Situationen konfrontiert, die aus der Ferne – Herder befindet sich beruflich in Bückeburg und Flachsland wohnt weiterhin im Haus ihres Schwagers in Darmstadt – schwer einzuschätzen und noch schwerer zu lösen sind. Angesichts der vielen Stimmungsschwankungen, die Herder auch wegen seines als einsam empfundenen Lebens in Bückeburg in seinen Briefen zu erkennen gibt, ist es Flachsland, die mit ihren Briefen für Ausgleich und damit für Beständigkeit sorgen muss. Herders Geständnis, dass er „seit 14. Tagen in Bückeburg zu leben an[fange]“, weil sich ihm alles „zu verändern [scheint] durch die Veränderung Einer Seele“,41 muss Flachsland hellhörig gemacht haben. Herder führt in seinem Brief vom 24. Januar 1772 wortreich aus, wie er die Gräfin Maria Eleonore kennen und schätzen gelernt habe. Seine Beschreibung der Gräfin ist durchaus euphorisch zu nennen: „[…] wollen Sie sich ein Bild der Carita, der Sanftmuth, liebe und Engelsdemuth in eine Person denken, so denken Sie sich sie.“42 Tatsächlich irritierend aber muss auf Flachsland gewirkt haben, welchen Umgang er mit der Gräfin pflegt und welche gemeinsamen Aktivitäten unternommen werden. So berichtet er freimütig darüber, dass die Gräfin ihn darum gebeten habe, „ihr eine Predigt zu geben“43 und wie sehr er von ihr und ihrem Wunsch angetan war: „Ihre sanfte holdselige Mine da vor mir – ich habe lange nicht süßere Stunden gehabt,
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Moller an Klopstock, 8.2.1752. In: Tiemann: Meta Klopstocks Briefwechsel, S. 117f. Vgl. auch Herders Einschätzung des wenig geglückten Anfangs zwischen den beiden späteren Brautleuten: „Die Schmidtin, an die Sie auch in der Ode auf die Zürcherfahrt gedacht finden, soll die erste Liebe Klopstocks gewesen [sein], da seine Frau nachher, eine Mollerin gewesen. Ich habe über diese Veränderung oder Untreue mancherlei Urtheile gehört, denen ich aber allen nicht traue: unter meinen Papieren in Liefland liegt auch eine Ode, die diese Doppelliebe zum Thema hat, da Kl[opstock] um die erste bittet, und ein Engel ihm die zweite giebt. Weil aber auch diese Ode zu stolz und fast abgöttisch ward, so hat man in eben dem Schweizerblatte, wo sie erschien, sie bald nachher Klopst[ock] abgeläugnet: ich glaube aber doch, dass sie von ihm ist, und sie hat vortrefliche Stellen.“ – Herder an Flachsland, 12.9.1770. In: Schauer: Herders Briefwechsel. Bd. 1, S. 43. Herder an Flachsland, 24.1.1772. In: Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 2, S. 10. Ebd. Ebd., S. 11.
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als da ich ihr die Predigt abschrieb.“44 Bedenkt man, dass auch in der Verbindung zwischen Flachsland und Herder eine Predigt den Anlass zur Kontaktaufnahme geboten hatte, so wird die Brisanz dieser Konstellation deutlich. Und auch der briefliche Austausch bleibt nicht exklusiv Flachsland vorbehalten,45 wie Herder ihr in einer Nebenbemerkung offenbart: O Himmel, wie hab ich gewünscht, ihr den Meßias doch vorlesen zu können! nur oft mir ihr sprechen zu können! Aber das geht nicht an! Sie hats noch selbst im letzten Briefe gesagt, dass es nicht angehe! […] Bei allem wahrhaftig Großen und Guten des Herrn ist er in manchem Betracht abscheulich. Mir bleibt also nur übrig von der Kanzel mit ihr zu reden […].46
Ein ähnliches Kennenlernen, heimlich gewechselte Briefe, gemeinsam erhoffte Leseerlebnisse: Noch offensichtlicher kann Herder kaum kommunizieren, dass die Exklusivität der Verbindung zwischen ihm und Flachsland gefährdet ist. Sein Hinweis, dass die Gräfin an Flachsland „eine Freundin […] haben [würde], wie sie noch nicht viele im Leben gehabt“, erhält angesichts der Gefährdung der Beziehung durch die Gräfin und in Anbetracht seines Zögerns, Flachsland als Ehefrau nach Bückeburg zu holen, eine unklare Mitteilungsfunktion. Flachslands bewusst in keinem Punkt argwöhnende und viel zu euphorische Reaktion auf diesen Brief – sie evoziert sogar ein freundschaftliches Beisammensein im Dreierkreis47 – lässt gerade die Vermutung aufkommen, dass sie die Implikationen seines Umgangs mit der Gräfin sehr wohl verstanden hat. Auch aus diesem Grund ist es wenig verwunderlich, dass es letztlich Caroline Flachsland ist, die dafür sorgt, dass die Verbindung mit Herder endgültig in eine Ehe überführt wird. Zu unverbindlich müssen ihr Herders Zukunftspläne, die doch immer auch eine Argumentation enthalten, warum eine Hochzeit derzeit nicht möglich ist, vorgekommen sein.48 In ihrem Brief vom 24. August 1772 stellt sie Herder dann vor vollendete Tatsachen. Bemerkenswerterweise gelingt es ihr, den damit verbundenen Affront so abzumildern, dass Herder sich am Ende sogar mit allem ein44 45 46 47 48
Ebd., S. 12. Im Herder-Nachlass finden sich immerhin 106 Briefe der Gräfin an Herder, vgl. Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 2, S. 416. Herder an Flachsland, 24.1.1772. In: Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 2, S. 12f. Vgl. „Ach Gott! Könnten wir 3 doch zusammen seyn, die Thüren verschließen und Freunde seyn – ach wie bedaure ich Sie als armer CanzelFreund!“ – Ebd., S. 21. Vgl.: „Sie sehen meine Aufrichtigkeit, meine liebste Fr[eundin], und daß es also von mir eine Sündenschuld ist, die ich von Morgen bis Abend fühle, und allemal, wenn ich auf meinem Walle jetzt unter dem lieben Mondschein mit großen Schritten spatziere, wenn ich täglich Millionen mal die Last meines Nichtsseyns und meiner Einsamkeit fühle, und Dich, holdes M[ädchen], zu meiner Führerin, Muse, Freundin, und Ordnungsstifterin wünsche – reiflich überlege. Harre also noch auf wenige Zeit, mein liebes Mädchen.“ – Herder an Flachsland, 22.8.1772. In: Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 2, S. 207.
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verstanden erklären kann. Flachsland schildert in diesem Brief, wie ihr Schwager, von dem sie nicht zum ersten Mal Negatives zu berichten hat, seinem Sohn und damit auch allen anderen Bewohnern des Hauses mit seinen ständigen Streitereien das Leben schwer gemacht habe. Eines Abends weigert sie sich, am gemeinsamen Abendessen weiter teilzunehmen, weil ihr der Streit zwischen Hesse und seinem Sohn im wahrsten Sinne des Wortes Magenschmerzen verursacht. Hesse ist nicht bereit, dies seiner Schwägerin durchgehen zu lassen, und stellt sie zur Rede. Im Laufe des Streitgesprächs kündigt Flachsland an, das Haus des Schwagers in Kürze zu verlassen: „[…] es ist vorbey, meine älteste Schwester kommt in 8 Tagen in das und das Dorf und ich werde zu ihr ziehn, und damit sie noch mehr wissen, so sage ich Ihnen, dass ich mit Herder versprochen bin – .“49 Die Reaktion des Schwagers ist die von ihr kalkulierte, er bittet sie, nicht das Haus zu verlassen, „es würde Aufsehen machen“50 und wünscht ihr für die „Vereinigung“ „tausend Glück.“51 Um sie bis zur Vermählung mit Herder im Haus zu halten, verspricht er ihr sogar, dass künftig beim „Essen […] alles ruhig zugehn“52 werde. Flachslands Brief ist seinem Gestus bemerkenswert. Natürlich ist ihr bewusst, dass es nicht tolerabel ist, dass sie als Frau den Heiratsantrag macht. Außer sich zu sein – oder in Flachslands Diktion „krank, aufgebracht, misvergnüngt“53 – jedoch ist nichts, für das sie sich im gängigen Rollendenken schämen müsste; die damit verbundenen Attribute „Schwachheit, Thorheit und Unbesonnenheit“54 lesen sich sogar eher wie Klischees weiblicher Rollenzuschreibungen. Der strategisch geschickte und zielführende Schachzug ihrer Argumentation aber findet sich am Ende des Briefes. Nachdem sie Herder mit einigermaßen zerknirschtem Ton die abendliche Begebenheit geschildert hat, bewertet sie nun ihr eigenes Verhalten und verweist auf den aus ihrer Sicht kritischen Punkt. Dieser jedoch liegt nicht darin, dass sie Herder entgegen dem gängigen Rollendenken einen – wenn auch indirekten – Heiratsantrag gemacht hat, sondern darin, dass sie ihm den Vortritt genommen hat, ihre Vereinigung öffentlich zu machen. Ihr lakonischer Kommentar dazu: „[…] vielleicht wollten Sies auf eine ganz andere Art entdecken“. 55 Interessant ist, dass Flachsland im gesamten Brief nirgendwo in Betracht zieht, dass Herder die Ehe mit ihr prinzipiell ablehnen 49 50 51 52 53 54 55
Flachsland an Herder, 24.8.1772. In: Schauer: Herders Briefwechsel, Bd. 2, S. 211. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 112.
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könnte, und ihre Verfehlung nur in der voreiligen Entdeckung ihrer Verbindung sieht. Man könnte hier so weit gehen, zu behaupten, dass sie Herders Reaktion damit bewusst kanalisiert: Folgt er ihrem Gedankengang, dann kann auch er nur gegen die Umstände der Enthüllung Groll hegen. Herder nimmt diesen Punkt in seiner Reaktion geschickt auf und bewertet Flachslands Vorstoß mit der Pope’schen Formel: „Was ist, ist gut“56 und signalisiert damit sein prinzipielles Einverständnis mit der ehelichen Verbindung. Tadelnd aber verweist er darauf, dass Flachland mit der Behauptung, Herder und sie seien sich versprochen, „feierlich eine Unwahrheit gesagt habe[ ]“.57 Augenzwinkernd aber gibt er zu, dass ihn der „nette Frauenzimmerstreich herrlich [freut]“.58 Am 2. Mai 1773 heiraten Herder und Flachsland.
III. Fazit – Den eigenen Wünschen Stimme verleihen Auch wenn von Liebesbriefen mehr noch als von anderen Briefen angenommen werden müsste, dass sie als „Herzensschrift“ vor allem spontan und natürlich, also wenig inszeniert seien, offenbart sich in den beiden hier untersuchten Liebesbriefwechsel ein gänzlich anderer Gestus. Sowohl Moller als auch Flachsland nutzen den Briefwechsel mit ihren jeweiligen Partnern selbstbewusst zur Herstellung und Sicherung einer gemeinsamen Zukunft. Obwohl sich die Ausgangssituationen bei Moller und Klopstock auf der einen und Flachsland und Herder auf der anderen Seite deutlich unterscheiden, lassen sich doch in beiden Liebesbriefwechseln ähnliche Themen und auch ähnliche Strategien nachweisen. Während zu Beginn des Briefwechsels vor allem die Erstbegegnung mit allem, was gezeigt und verhüllt werden soll, im Mittelpunkt der Briefe steht, wird schon bald an einer gemeinsamen Zukunft geschrieben. Grenzen und Möglichkeiten einer künftigen Ehe werden sorgsam ausgelotet, ohne dass man konkret darüber spricht. Die Auseinandersetzung um Zukünftiges findet vielmehr im Medium des Gegenwärtigen statt und geschieht primär als Auseinandersetzung über Selbst- und Fremdzuschreibungen. Die dabei genutzten Strategien reichen von der Eröffnung von Kommunikationsräumen und der Androhung des Verlassens derselben (Flachsland) hin zur spielerischen Zurückweisung von als zu übermütig und herrisch empfundenen Anspruchshaltungen (Moller). Während bei Klopstock eher das ruhige 56 57 58
Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Ebd.
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und beständige Wesen Mollers zum Erfolg führt, werden bei Herder eher die gegenteiligen Eigenschaften wirksam. Wäre Caroline Flachsland hier ähnlich zögerlich gewesen wie Meta Moller, so hätte die Heirat zwischen Herder und ihr – so bleibt zu vermuten – nicht stattgefunden. Deutlicher als im realen Kontext ermöglicht der schriftliche Austausch beiden Frauen, sich und ihren Wünschen Stimme zu verleihen. In beiden Briefwechseln kann nachgewiesen werden, dass entgegen den Rollenzuschreibungen des 18. Jahrhunderts sich die Frauen nicht auf eine rein passive Haltung festlegen ließen, sondern mehr oder weniger offen zur treibenden Kraft in den jeweiligen Briefwechseln wurden.
Robert Vellusig
Der verliebte Philosoph Moses Mendelssohns Brautbriefe I. Gelehrsamkeit und Liebe Mitte Mai 1761 schreibt Moses Mendelssohn einen Brief an Lessing, in dem er dem Freund, der Berlin im November 1760 verlassen hatte, um als Sekretär in die Dienste des Generalleutnants von Tauentzien zu treten, einleitend und gleichsam en passant von „häuslichen Angelegenheiten“ berichtet: Liebster Freund! Unser Briefwechsel ist lange genug unterbrochen gewesen. Ich muß ihn nunmehr erneuern. Ich würde nimmermehr so lange haben schweigen können, wenn ich nicht eine Reise nach Hamburg gethan hätte, die mich in tausend Zerstreuungen verwickelt hat. Ich habe das Theater besucht, ich habe Gelehrte kennen lernen, und was Sie nicht wenig befremden wird, ich habe die Thorheit begangen, mich in meinem dreyßigsten Jahre zu verlieben. Sie lachen? Immerhin! Wer weiß, was Ihnen noch begegnen kann? Vielleicht ist das dreyßigste Jahr das gefährlichste, und Sie haben dieses ja noch nicht erreicht. Das Frauenzimmer, das ich zu heyrathen Willens bin, hat kein Vermögen, ist weder schön noch gelehrt, und gleichwohl bin ich verliebter Geck so sehr von ihr eingenommen, daß ich glaube, glücklich mit ihr leben zu können. An Unterhalt, hoffe ich, soll es mir nicht fehlen, und an Muße zum Studieren werde ich mirs gewiß nicht fehlen lassen. Zum Hochzeitkarmen sollen Sie noch ein ganzes Jahr Zeit haben, aber alsdenn muß Ihre reimfaule Muse die staubigte Leyer wieder ergreifen; denn wie könnte ich unbesungen Hochzeit machen? – So viel von meinen häuslichen Angelegenheiten, die Sie vielleicht wenig interessiren, aber doch zu meiner Entschuldigung dienen.1 1
Ich zitiere die Brautbriefe Moses Mendelssohns in der Umschrift von Haim Borodianski nach der 1936 im Berliner Schocken Verlag erschienenen, 1985 nachgedruckten Ausgabe: Moses Mendelssohn: Brautbriefe. Mit einer Einf. v. Ismar Elbogen. Königstein i. Ts. 1985, Zitat S. 18. Mendelssohns Briefe an Fromet Gugenheim werden in dieser Edition durch den zitierten Brief an Lessing und einen Brief an Thomas Abbt gerahmt, die Mendelssohns Selbstdarstellung als verliebter Philosoph besonders prägnant hervortreten lassen. Weitere Briefe Mendelssohns zitiere ich nach den von Bruno Strauss bzw. Alexander Altmann bearbeiteten Briefbänden der Jubiläumsausgabe unter Verwendung der Sigle „JubA“. Vgl. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen v. I[smar] Elbogen, J[acob] Guttman, E[ugen] Mittwoch. Fortgesetzt v. Alexander Altmann;
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Mendelssohn entwirft das Bild eines Gelehrten, der „die Thorheit begangen“ hat, sich zu verlieben, und er tut es mit selbstironischer Geste. Der Briefwechsel mit Lessing ist nicht der Ort, an dem sich Herzensangelegenheiten enthusiastisch aussprechen ließen. Die scherzhafte Unterhaltung, die Mendelssohns Brief inszeniert („Sie lachen? Immerhin! Wer weiß, was Ihnen noch begegnen kann? Vielleicht ist das dreyßigste Jahr das gefährlichste, und Sie haben dieses ja noch nicht erreicht.“), weist die Mitteilung als ein Kuriosum aus und droht dem lachenden Lessing damit, dass ihm Ähnliches widerfahren könnte; und auch die angekündigte Hochzeit ist primär ein Ereignis, das zu gelehrtem Scherz, zu standesgemäßer Gelegenheitsdichtung, Anlass gibt: „Zum Hochzeitkarmen sollen Sie noch ein ganzes Jahr Zeit haben, aber alsdenn muß Ihre reimfaule Muse die staubigte Leyer wieder ergreifen; denn wie könnte ich unbesungen Hochzeit machen?“ Zwar kann ein Gelehrter seine Geliebte im poetischen Gedicht enthusiastisch besingen, doch wenn er unter gelehrten Männern von der eigenen Verliebtheit spricht, steht ihm dieser Ton nicht an. Der verliebte Philosoph kann sich zu seiner Verliebtheit nur scherzend verhalten, so wie er aus der Beobachterperspektive nur Gegenstand des spöttischen Gelächters ist. Dass die Weltweisen, die über das Reich des Geistes herrschen, zur komischen Figur werden, wenn sie in die Hände von liebreizenden Mädchen fallen, gehört zu den unsterblichen Topoi der Komik.2 Moses Mendelssohn stellt sich selbst in diese Tradition, so wie er wenige Monate zuvor über Nicolai scherzend geschrieben hatte: „Wir wollen sehen, ob Nicolai der Ehemann sich besser wird zu fassen wissen, als Nicolai der Liebhaber; vielleicht hat ihn die Liebe nur so zerstreut.“3 Wie alle Topoi so hat auch der Topos des Philosophen, der sich verliebt und dabei zum Narren macht, seinen plausiblen Sinn. Er lautet: Vernunft und Liebe sind einander widerstreitende Formen personaler „Selbsttranszendenz“.4 Der zwingende Gedanke und das drängende Ge-
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In Gemeinschaft m. F[ritz] Bamberger u. a. Bde. XI, XII.1, XII.2, XIII. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 1976 und 1977. Mendelssohns Briefwechsel der Jahre 1761–1785 wurde 1994 in deutscher Umschrift und in Übersetzung aus dem Hebräischen, bearbeitet von Reuven Michael, als Bd. XX.2 der Jubiläumsausgabe neu ediert. Auf den sorgfältigen Kommentar dieser Ausgabe greife ich gelegentlich zurück. Vgl. Košenina, Alexander: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003, v. a. S. 85–92. Anschauungsmaterial findet sich in der Sammlung Charlataneria eruditorum. Satirische und kritische Texte zur Gelehrsamkeit. Mit einem Nachw. hg. v. Alexander Košenina. St. Ingbert 1995. Brief an Gotthold Ephraim Lessing vom 19.12.1760. In: JubA XI, S. 189. Vgl. Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘. 3. Aufl. Stuttgart 2007, S. 124.
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fühl sind Gründe, die dem Leben eine dem Subjekt unverfügbare Notwendigkeit geben5 – die Logik des Denkens auf rationale, die Logik des Herzens auf ratiomorphe Weise:6 „In beiden Fällen – ob wir der Vernunft oder dem Herzen folgen – sind wir uns in der Regel einer belebenden Befreiung unserer selbst bewusst.“7 Moses Mendelssohn hat die Erfahrung, in der Bindung des Denkens an die Philosophie eine Form der Lebensführung gefunden zu haben, die das Leben trägt, immer wieder in Bildern beseligender oder aufopferungsvoller Liebe zum Ausdruck gebracht: mit erotischem Unterton in einem Brief an August Hennings: „Ich wollte mich blos darauf einschränken, des Tages seidene Zeuge verfertigen zu lassen, und in Nebenstunden der Philosophie einige Liebkosungen abzugewinnen“;8 klagend in einem Brief an Thomas Abbt: „O Wahrheit, Wahrheit! die sich in dich verlieben, sind die geplagtesten Geschöpfe. Mit Steinen muß man dir nachwerfen, wenn man vergnügt leben will“;9 wehmütig seufzend im Vorbericht zu den Morgenstunden, in dem er, gesundheitlich angegriffen, auf seinen einst unbeschwerten Umgang mit der Philosophie zurückblickt: „Ach! sie war in bessern Jahren meine treueste Gefährtinn, mein einziger Trost in allen Widerwärtigkeiten dieses Lebens“.10 Damit ist der Erfahrungshintergrund konkretisiert, der es Mendelssohn nahelegen musste, den Topos vom verliebten Philosophen aufzugreifen, um sich dem Freund mitzuteilen; die spezifische lebensweltliche Ausprägung dieses Topos aber wird, so scheint mir, vollends erst dann verständlich, wenn man Mendelssohns Biographie in den Kontext der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur und ihres Strukturwandels im 18. Jahrhundert stellt. „Gelehrsamkeit“, so die bekannte Formulierung Lessings, ist der „aus Büchern erworbne Reichtum fremder Erfahrung“11 5 6
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Ich folge hier einer Inspiration von Harry G. Frankfurt: Gründe der Liebe. Aus dem Amerikan. v. Martin Hartmann. Frankfurt/Main 2005, S. 68–73. Der Begriff ratiomorph stammt von Egon Brunswik und bezeichnet die Problemlösungsintelligenz instinktiver Verhaltensprogramme. Vgl. Bischof, Norbert: Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart 2008, S. 312 und passim. Frankfurt: Gründe der Liebe, S. 71. Brief an August Hennings vom 29.6.1779. In: JubA XII.2, S. 148f. Brief an Thomas Abbt vom 16.2.1765. In: JubA XII.1, S. 74. Moses Mendelssohn: „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. 1785“. In: M. M.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Bd. II. Schriften zu Aufklärung und Judentum 1770–1786. Hg. u. eingel. v. Christoph Schulte, Andreas Kennecke u. Grażyna Jurewicz. Darmstadt 2009, S. 215–334, Zitat S. 219. Ich zitiere Lessings Werke nach der Edition des Deutschen Klassiker Verlages: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Frankfurt/Main. 1985–2003 mit der Sigle „WuB“. Das Zitat entstammt den „Selbstbetrachtungen und Einfällen“ (WuB 10, S. 240–244, Zitat S. 240).
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und sie ist eben deshalb eine exklusive Angelegenheit von Männern. Wer in der frühneuzeitlichen Schriftkultur zum Gelehrten werden wollte, musste sich als junger Mann unter jungen Männern von Männern in einer Sprache (dem Latein) schulen lassen, die niemand sprechen konnte, der sie nicht auch schreiben gelernt hatte.12 Junge Frauen kamen in dieser Welt als Gesprächspartnerinnen nicht vor.13 Als der junge Student Lessing, der sein Glück in Büchern gesucht hatte,14 in die urbane Welt Leipzigs tritt, muss er beschämt feststellen, im zwischenmenschlichen Umgang ein unansehnlicher Tölpel zu sein: „Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einen Menschen machen.“15 Zum Menschen wird Lessing (zum Leidwesen der Eltern) im Umgang mit jungen Komödiantinnen. Sein Glück in Büchern gesucht hatte auch der junge Mendelssohn.16 Wie der Pfarrersohn Lessing, doch unter gänzlich anderen sozialen Voraussetzungen sollte auch der Sohn des Dessauer Thora-Schreibers und Schulmeisters Mendel die Karriere eines Schriftgelehrten einschlagen, war „der Weg in die rabbinische Elite“ doch „die einzig ehrbare und anerkannte Karriere“,17 die dem jungen Mendelssohn offenstand. Wie Lessing fand aber auch er in der Welt der neuen Schriftkultur zu einem gänzlich anderen Lebensweg als dem ihm traditionell vorgezeichneten. So neuartig Mendelssohns vorwiegend autodidaktische intellektuelle Sozialisation war, so neuartig war auch der Weg, auf dem er und Fromet Gugenheim zum Paar wurden. Mendelssohn lernte die um acht Jahre jüngere Fromet kennen, als er seinen Freund und Mentor Aron Gumpertz in Hamburg besuchte. Der Kontakt wurde durch Gumpertz vermittelt, der mit Fromets Freundin Friebche Götting verlobt war und Mendels-
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Vgl. (unter Berufung auf Walter J. Ong): Ter-Nedden, Gisbert: „Das Ende der Rhetorik und der Aufstieg der Publizistik. Ein Beitrag zur Mediengeschichte der Aufklärung“. In: Kultur und Alltag. Hg. v. Hans-Georg Soeffner. Göttingen 1988, S. 171–190, v.a. S. 173. Die akademisch-humanistische Geselligkeitspraxis der Frühen Neuzeit ist nicht ohne Grund bissig-verletzend, lateinisch gelehrt, misogyn und obszön (und unterscheidet sich darin markant von der gemischt-geschlechtlichen Geselligkeit, die das 18. Jahrhundert kultivieren wird). Vgl. Schnell, Rüdiger: „Männer unter sich – Frauen und Männer im Gespräch“. In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Hg. v. Rüdiger Schnell. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 387–440, v. a. S. 390. Vgl. Döring, Detlef: „Die Fürstenschule in Meißen zur Zeit des jungen Lessing“. In: Neues zur Lessing-Forschung. Ingrid Strohschneider-Kohrs zu Ehren am 26. August 1997. Hg. v. Eva J. Engel u. Claus Ritterhoff. Tübingen 1998, S. 1–29. Brief an Justina Salome Lessing vom 20.1.1749. In: WuB 11/1, S. 15. Anschaulich: Feiner, Shmuel: Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung. Aus dem Hebräischen v. Inge Yassur. Göttingen 2009, S. 23–39. Ebd., S. 24.
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sohn im Frühjahr 1761 nach Hamburg eingeladen hatte.18 Mendelssohn bleibt vier Wochen (von Mitte April bis Mitte Mai), wirbt um Fromet, mit Erfolg. Nach seiner Rückkehr beginnen die Brautleute einen Briefwechsel, den sie bis zur Hochzeit am 22. Juni des darauffolgenden Jahres führen.
II. Brautbriefe, jüdische zumal Brautbriefe sind Zeugnisse einer Schwellensituation und gehören als solche zur lebensgeschichtlichen Übergangsphase der Verlobungszeit, in der sich Menschen aus ihrer Ursprungsfamilie lösen und in eine neue familiäre Ordnung eintreten.19 Der zitierte Brief Mendelssohns an Lessing zeigt, wie jemand, der sich zum Weltweisen gebildet und daraus eine neue soziale Identität gewonnen hat, nun auch in „häuslichen Angelegenheiten“ in eine neue Phase seines Lebens tritt. Die Rolle des verliebten Philosophen, in der Mendelssohn sich dem Freund gegenüber präsentiert, ist die geradezu topische Formel, um diese Lösung aus einer dominant junggesellenhaften Geschlechts- und Berufsgruppe20 in Szene zu setzen. Das aber ist nur die halbe Wahrheit, denn Moses Mendelssohns Distanz zur traditionellen, sozialständisch organisierten Gelehrtenkultur könnte größer nicht sein. Bloße „Bücherkenntniß“ (im oben erläuterten Sinn), insbesondere „gelehrte Geschichte“ sind ihm, wie Nicolai bezeugt, ein Gräuel.21 Mendelssohn, der nie eine Universität oder ein Collegium besuchen konnte, sondern all sein Wissen „durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen mußte“,22 gehört – so die Charakterisierung durch 18 19
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Vgl. Mendelssohn: Brautbriefe, S. 19, Fußnote. Zur kulturellen Ritualisierung solcher Trennungs-, Schwellen- und Angliederungsphasen vgl. van Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites de passages). 3., erw. Aufl. Frankfurt/Main, New York, Paris 2005. Dass Übergangsriten zu den kulturellen Universalien zählen, zeigt, wie sehr das einzelmenschliche Leben ein Leben in sozialen Gruppen ist: „Für Gruppen wie für Individuen bedeutet leben unaufhörlich sich trennen und wieder vereinigen, Zustand und Form verändern, sterben und wiedergeboren werden. […] Und immer sind neue Schwellen zu überschreiten“ (ebd., S. 182). Kulturgeschichtlich bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Briefwechsel zwischen Brautleuten im 18. Jahrhundert als funktionales Äquivalent für solche Übergangsriten entdeckt (und im 19. Jahrhundert dann auch konventionalisiert) wird. Vgl. ebd., S. 117. Daunicht, Richard: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 71. Vgl. auch Mendelssohns Brief an Thomas Abbt vom 16.2.1765. In: JubA XII.1, S. 75: „Was nur den Namen von Geschichte hat, Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir niemals in den Kopf kommen wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas historisches lesen muß“. So Mendelssohns Auskunft in einem Brief an Johann Jacob Spiess vom 1.3.1774. In: JubA XII.2, S. 45.
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Michaelis – „seiner äußern Lebens-Art nach gar nicht zu den Gelehrten“.23 Als Jude und als Buchhalter eines Seidenfabrikanten ist er in der Welt der Gelehrten ein Außenseiter – so wie die Freunde, mit denen er Umgang hat (der verkrachte Theologiestudent Gotthold Ephraim Lessing,24 der Autodidakt Nicolai), Außenseiter waren, die ihr eigentliches intellektuelles Wirkungsfeld außerhalb der Universität – in den neuen Sozietäten und in der Welt der periodischen Printmedien – fanden. Diese soziale Extravaganz zeigt sich auch in Mendelssohns Betragen in „häuslichen Angelegenheiten“. Die Briefe, die er und Fromet Gugenheim ein Jahr lang zwei Mal pro Woche wechseln, sind bemerkenswerte Zeugnisse jener Briefkultur, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Alltag der ‚gebildeten Menschenklassen‘ zu prägen begann. Bemerkenswert sind sie schon deshalb, weil sie überhaupt geschrieben wurden. Cord Berghahn hat sie als ein „zentrale[s] Dokument des Entwurfs von Individualität im europäischen Judentum der Neuzeit“25 bezeichnet. Sie dokumentieren die Selbstbehauptung des Paares gegenüber den im Judentum sonst üblichen Formen der Eheanbahnung und des Umgangs zwischen den Brautleuten, gehörte es doch zu den Gepflogenheiten, dass Braut und Bräutigam „bis zur Verehelichung in strenger Zurückhaltung und völliger Fremdheit“26 blieben. Dass all dies für das Paar keine Gültigkeit haben sollte, wird von Mendelssohn in seinem ersten, nur fragmentarisch erhaltenen Brief an Fromet ausdrücklich betont: Ich habe Ihnen schon gesagt, liebste Fromet! … Ihrer Zärtlichkeit ausbitte, sich über das gewöhnliche Ceremoniel hinweg … mir im Schreiben zuvorzukommen. Da wir keine gewöhnliche Schadchonim [Ehevermittler] zu unserer … [gebr]aucht, so brauchen wir auch keine Ceremonien zu unserer Correspondenz. … den und das Herz wird antworten.27
Bemerkenswert sind aber auch die sprachliche und die schriftliche Form dieser Briefe: Mendelssohn schreibt in hebräischen Lettern. Die Sprache der Briefe ist das im mitteleuropäischen Judentum übliche Jüdisch23 24
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Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen (1755), 118. Stück vom 2.10.1755, S. 1107. Vgl. Feiner: Mendelssohn, S. 49. Vgl. Lessings berühmte Selbstcharakterisierung in den „Selbstbetrachtungen und Einfällen“ (WuB 10, S. 240): „Ich bin nicht gelehrt – ich habe nie die Absicht gehabt gelehrt zu werden – ich möchte nicht gelehrt sein, und wenn ich es im Traume werden könnte. Alles, wornach ich ein wenig gestrebt habe, ist, im Fall der Not ein gelehrtes Buch brauchen zu können.“ Berghahn, Cord-Friedrich: „‚Das Lernen der Schrift‘. Zur Edition der hebräischen Briefe und Schriften Moses Mendelssohns“. In: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), S. 103–109, Zitat S. 104. Elbogen, Ismar: „Zum Geleit“. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 5–15, Zitat S. 9. Brief vom 15.5.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 19.
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Deutsch, ein Idiom, das sich im deutschsprachigen Raum vom mittelalterlichen Jiddisch entfernt hatte. Anrede- und Grußformeln, mit Ehrentiteln geschmückte Namen, Verwandtschaftsbezeichnungen, die Daten und die Namen der Feiertage sind in hebräischer Sprache gehalten und ergeben so eine charakteristische Mischung aus deutsch-jüdischer Umgangssprache und hebräischen Floskeln.28 Bemerkenswert schließlich ist auch, dass Mendelssohns Brautbriefe nicht an die Braut allein adressiert sind. In ihren zum Teil ausführlichen Nachschriften richten sie sich auch an die Familie, v. a. an Fromets Stiefmutter Vogel Gugenheim und an die jüngeren Schwestern Brendel und Blümche; immer wieder formulieren sie zudem Grußadressen an das Netzwerk der Hamburger Freunde. In dieser Hinsicht lassen sich die Brautbriefe als Teil eines komplexen ‚Angliederungsprozesses‘ (van Gennep) verstehen: Sie dienen dazu, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen, und dazu gehört auch, dass Mendelssohn den zukünftigen Schwiegereltern seine „kindliche Ehrfucht“29 und seine „wahre[ ] kindliche[ ] Liebe“30 bezeugt, indem er die üblichen Formeln verwendet, die diesen Respekt angemessen zum Ausdruck bringen: „W’scholaum l’chamaußi ha-m’juedes haz’nuo ha-j’koro moras Vogel taarich jomim.“ – „Einen Gruß an meine zuchtvolle und teuere vorbestimmte Schwiegermutter Frau Vogel, lang seien ihre Tage.“31
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Vgl. Engel, Eva J., Reuven Michael: „Vorwort. Zur Wiedergabe der ‚hebräischen Briefe‘ in deutscher Schrift“. In: JubA XX.2, S. VII–XI, v.a. S. VII. – In den „disparaten Sprachwelten“ (Berghahn: „Vom Lernen der Schrift“, S. 104) der Briefe spiegelt sich Mendelssohns Idee, die hebräische Tradition des Judentums und die Schriftkultur der neuzeitlichen Aufklärung einander anzunähern. Der Weg aus dem Ghetto, den er als Maskil, d. h. als jüdischer Aufklärer, beschreitet, „zielt auf eine allmähliche Eliminierung des Jiddischen“ (ebd., S. 105) und weist in zwei komplementäre Richtungen: zum einen in Richtung einer Erneuerung der hebräischen Traditionen des Mittelalters, wie sie sich etwa in Mendelssohns Beschäftigung mit dem Werk von Maimonides, namentlich dem Kommentar zu dessen Termini der Logik (Bi’ur Millot ha-higgajon), oder im Projekt einer hebräischen Wochenschrift, dem Prediger der Moral (Kohelet Musar), bekundet; zum anderen in Richtung einer überregionalen deutschen Hochsprache, die ihrerseits das Resultat eines längerfristigen Verschriftlichungsprozesses war, der ohne die Entwicklung des Buchdrucks zum Massenmedium undenkbar gewesen wäre. Brief vom 12.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 35. Brief vom 19.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 40. Brief vom 7.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 63. Michael Reuven übersetzt: „Und Frieden meiner zukünftigen Schwiegermutter der bescheidenen und teuren Frau Vogel mTa [mögen Ihre Tage andauern].“ (JubA XX.2, S. 48f.).
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III. Der verliebte Philosoph und die ‚Sprache des Herzens‘ Die Überlieferungslage der Briefe ist misslich. Die Briefe der Braut sind nicht erhalten; ihre Qualität erschließt sich aber aus Äußerungen Mendelssohns, der in ihnen das wiederfindet, was er in dem zitierten Brief als Losung des Briefwechsels ausgegeben hatte: „das Herz wird antworten“. Am 19. Juni schreibt er: Liebste Fromet! Ihre Briefe vergnügen mich ungemein. Sie sind so voller Zärtlichkeit und wahrer Liebe, daß sie der Kunst unnachahmlich sind, und nit anders als aus dem Herzen fließen können. Sie schildern sich ganz in jeder Zeile, und ich glaube mich mit ihnen zu unter-halten, so oft ich Ihre Briefe lese.32
Das ist eine Charakterisierung, die auch von Gellert stammen könnte; nicht anders die Sentenz, mit der Mendelssohn ein Schreiben von Brendel Gugenheim kommentiert: „ein Brief der das Herz zu erkennen gibt, ist alle Mahl schön geschrieben.“33 Emphatischer noch ist das Lob, das Mendelssohn Fromets ‚natürlicher‘ und ‚empfindungsvoller‘ Ausdrucksweise in einem Brief vom 28. Juli 1761 zollt: Ihre kleinste Briefe sind voller Zärtlichkeit, voller Empfindungen. Die Sprache des Herzens ist Ihre natürliche Sprache, und Ihre edle Gesinnungen vertreten die Stelle des frostigen Witzes, dadurch andere ihre Briefe so häßlich entstellen. Fahren Sie fort, liebste und zärtlichste Fromet! mich mit Ihren liebenswürdigen Briefen zu vergnügen. Ich merke, daß es mir fast unmöglich wird, einen Post-Tag nit zu schreiben, oder einen Post-Tag ohne Ihre Briefe vergnügt zu seyn.34
Sich ganz zu zeigen, ist auch Mendelssohns erklärtes Ziel. Dabei setzt er sich zunächst auch in den Briefen an die Braut die Maske des verliebten Philosophen auf. Etwa wenn er sich als gelehrter „Weiber-Feind“ ausgibt, der vor dem angenehmen Reiz der weiblichen Gesellschaft im Hause Gugenheim kapitulieren musste: Ich kenne mich selber nit mehr, nachdem ich in Hamburg alle meine Grundsätze in Ansehung des Frauenzimmers habe verleugnen müßen. Ihr Haus frequentiren, Sie und Ihre Familie kennen, liebste Fromet, und von Frauenzimmers schlecht denken, ist in meinen Augen unmöglich.35
Oder wenn er sich mit der Figur des verliebten Philosophen, die durch die Komödie von Destouches auf die Bühne gekommen war, ausdrücklich identifiziert: Liebste Fromet! Das heißt den Komödianten Troz geboten! Sie sehen die verliebte Philosophen auf dem Theater lächerlich machen, und lachen so-gar mit, 32 33 34 35
Brief vom 19.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 40f. Brief vom 3.7.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 47. Brief vom 28.7.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 57. Brief vom 11.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 64.
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gleichwohl fassen Sie zugleich den Entschluß, Ihren verliebten Philosophen nit weniger zu lieben.36
So die triumphierenden Worte, mit denen Mendelssohn sein Spiel eröffnet. Er setzt es mit dem Versuch fort, seine Verliebtheit zu leugnen. Diese Leugnung aber dient allein dazu, der Braut das ganze Ausmaß des verliebten Gebarens vor Augen zu führen und ihr eine Ahnung von seiner – alles andere als lächerlichen – Liebe zu vermitteln: Doch ihr Philosoph ist ja nit verliebt. Daß er ohne Unterlaß an seine Gugenheim denkt, daß er jede Zeile küßt, die Sie schreiben, daß er nichts so sehr wünscht, als sie glücklich zu sehen, und zwahr durch ihn glücklich zu sehen, daß ihm jede Stunde ein Jahr, und jeder Schritt eine Meile dünkt, die Sie von ihm entfernt – wenn Sie das etwa verliebt nennen, so bin ich es zufrieden, daß Sie und Madame Göttingen mich lächerlich finden. Um mich zu revanchiren, werde ich eine Komödie machen, darin die verliebten Philosophinnen nit geschont werden sollen.37
Von Aron Gumpertz sagt Mendelssohn: „er spielt den Verliebten schon zum zweyten Mahle“;38 von Mendelssohn wird man sagen dürfen: Er macht sich dieses Motiv zum Spielraum seiner Selbstdarstellung. In dem Brief an Lessing schüttelt er über den ‚verliebten Geck‘ den Kopf; in den Briefen an Fromet über den „armen Philosophen“.39 Gelegentlich spielt er der Braut sogar vor, wie sich ein verliebter Philosoph einem anderen Philosophen gegenüber verhält (angesprochen ist Aron Gumpertz), den die Verliebtheit seines gelehrten Geschlechtsgenossen erheitert: [M]eine Gedanken sind mehr zu Hamburg als zu Berlin. In der Tat, was hat die Seele mit dem Körper zu tuhn? Kann der Körper nit zu Berlin, und die Seele zu Hamburg seyn? Lachen Sie nit, Herr Doctor! über meine verliebte Philosophie! Glauben Sie, daß wir Philosophen alle eine seltsame Figur machen, wenn wir verliebt tuhn wollen. Und also bleibt es dabey, daß meine Seele zu Hamburg ist, und ich den Vergnügungen bey-wohne, die in der so angenehmen Gesellschaft vorgenommen werden. Leben Sie wohl, liebste Fromet! und erinnern sich beständig, daß mein Geist in Ihrer Stub herum-schwärmt.40
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Brief vom 1.9.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 74. Ebd. Brief vom 29.5.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 21. Brief vom 25.81761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 71 Brief vom 16.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 37f. – Nicht anders funktioniert das Spiel im Brief vom 28. Juli (ebd., S. 57), in dem Mendelssohn zunächst das Vergnügen beschwört, das ihm der Briefwechsel mit Fromet bereitet, und den er dann mit folgender Reflexion beschließt: „Und was ist der Mensch, wenn er nit vergnügt ist? Nein, so lange wir uns getrennt sehen müßen, wollen wir uns so oft als möglich Gelegenheit geben, an einander zu denken. Es macht mir kein geringes Vergnügen, wenn ich denken kann, jetzt liest Fromet meine Briefe, jetzt schreibt sie an mich, jetzt ist sie ver-drießlich, daß sie gestöhrt wird, und jetzt freut sie sich, daß ihr ein Ausdruck gelungen – Sie lachen mein Herr Doc-
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Moses Mendelssohns Brautbriefe sind auf solche Inszenierungen angewiesen, weil sie ganz darauf ausgerichtet sind, sich der Braut zu erkennen zu geben, und weil sie ohne dieses offene Versteckspiel zur philosophischen Reflexion gerieten. Ihr eigentlicher Gestus ist nicht das scherzhafte Tändeln und Schelten, das liebevolle, dem Kitzeln vergleichbare Sticheln, wie es Mendelssohn v. a. in den Nachschriften an Fromets jüngere Schwester Brendel inszeniert. Die Briefe Mendelssohns an seine Braut sind vom Wunsch beseelt, mit ihr vertraut zu werden und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Das versteht sich an sich von selbst. Kommunikation ist immer auch eine Form der symbolischen Distanzregulierung: Sprechend und schreibend öffnen sich Menschen für- und verbergen sich Menschen voreinander: durch das Maß an Expressivität, das sie einander gestatten (und sich selbst erlauben), aber auch durch den expliziten Ausdruck dessen, was ihnen am Herzen liegt.41 Als wahrer Philosoph erweist sich der ‚verliebte Philosoph‘ Mendelssohn, weil er sich das, was niemandem fremd ist, ausdrücklich bewusst macht. Der eigentliche Mausche zeigt sich, wenn er den Brief an die Braut mit den Worten beschließt: „Leben Sie wohl, meine aller-liebste Gugenheim, und seyen Sie versichert, daß so wenig ich aufhören kann zu philosophiren, ebenso wenig kann ich auf-hören zu seyn, Ihr Liebhaber und beständiger Verehrer Mausche mi-Dessau.“42 Zu Mendelssohns verliebter Philosophie gehört die beim Schreiben kultivierte „Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit“, wie Gleim und Lange sie 1746 im Vorwort zu den von ihnen edierten Freundschaftlichen Briefen genannt haben. Das erklärte Ziel der Herausgeber war es, „redliche Herzen [zu] ermuntern“ und die „Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit, an statt der Sprache des Zwangs und der Schmeichelei, unter den Correspondenten unsers Vaterlandes einzuführen“.43 Mendelssohns Brautbriefe stehen, wie seine philosophischen Schriften auch, in der Tradition dieses moralischen Anspruchs. Besonders aufschlussreich formuliert er ihn in dem Sendschreiben an Lessing, das seiner Übersetzung von Rousseaus zweitem Discours beigefügt ist:
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tor! Und werfen mir vielleicht abermahls vor, ich sey verliebt? Nun ja, ich gestehe es. Habe ich denn nit jeder Zeit gestrebt Ihnen nach-zu-ahmen?“ Zur medienästhetischen Logik ‚nähesprachlicher‘ Ausdrucksformen vgl. Vellusig, Robert: „Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt“. In: Das 18. Jahrhundert 35 (2011), H. 2, S. 154–171. Brief vom 1.9.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 75. [Gleim, Johann Wilhelm Ludwig u. Samuel Gotthold Lange]: Freundschaftliche Briefe. Berlin 1746, Vorwort o. S. Die Vorrede ist abgedruckt in der Anthologie: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Hg. v. Angelika Ebrecht u. a. Stuttgart 1990, S. 32–34, Zitat S. 33.
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Die Sprache des Hertzens, diese mächtige Bezauberin redlicher Geister, giebt sich in seinen [Rousseaus] Schriften durch allzu untrügliche Merkmahle zu erkennen. Er muß wenigstens geglaubt haben, von seiner Meinung überzeuget zu seyn. Er muß sich vielmehr vorgenommen haben, uns eine Warheit zu lehren, als die gefährlichen Schätze einer betrüglichen Beredsamkeit vor unsern Augen auszukrahmen, und seine Absicht muß eines gründlichen Weltweisen fähig gewesen seyn. Aus Hochachtung für die Menschlichkeit will ich nimmermehr fürchten, daß es der Verstellung gelingen könnte, sich dieser aufrichtigen Sprache zu bemächtigen.44
Das begriffliche Koordinatensystem, das Mendelssohn in diesen Zeilen entwirft, ist moral- und sprachphilosophischer Natur. Mendelssohn kann es nicht fassen, dass Rousseau den geselligen Zustand des Menschen auf eine Weise problematisiert, die den Leser davon überzeugen muss, dass er es mit seinen Ansichten über die Geschichte des menschlichen Geschlechts ernst meint. Es ist, mit Sulzer zu sprechen, die „Kraft“,45 die Mendelssohn an Rousseaus Darstellungsweise so frappiert. Diese Kraft besitzen auch die Briefe Mendelssohns. Die „Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit“ ist die Sprache eines Philosophen, der sich Fromet und ihrer Familie mit dem, was ihm am Herzen liegt, offen zumutet. Mendelssohn schreibt ‚wholehearted‘46 – „aus lebendiger Ueberzeugung“.47 Es ist nicht die empfindungsselige ‚Fülle des Herzens‘, die 44
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Mendelssohn, Moses: „Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig (1756)“. In: M. M.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe, Bd. I: Schriften zur Metaphysik und Ästhetik. Hg. u. eingel. v. Christoph Schulte, Andreas Kennecke u. Grażyna Jurewicz. Darmstadt 2009, S. 129–152, Zitat S. 133. – Zu Mendelssohns produktiver Auseinandersetzung mit Rousseau vgl. Berghahn, Cord-Friedrich: „Mendelssohn übersetzt Rousseau und erklärt ihn Lessing. Strategien kulturkritischen Schreibens in der europäischen Aufklärung“. In: Moses Mendelssohn. Sonderband der Edition Text + Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Cord-Friedrich Berghahn. München 2011, S. 26–44. Vgl. die Artikel „Kraft“ und „Nachdruk“. In: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2. Leipzig 1774, S. 602–605 und S. 800f. Menke, Christoph hat jüngst den Versuch unternommen, „Kraft“ als ästhetischen Grundbegriff zu etablieren (Vgl. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt/Main 2008). Ich halte das – auch wenn mir Menkes Buch in mancher Hinsicht unverständlich geblieben ist – für berechtigt und deute die Konjunktur des Begriffs in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts als Indiz dafür, dass die Schriftkultur die personalen Qualitäten der Rede als den eigentlichen Bezugspunkt der poetischen Mimesis entdeckt. „Wholeheartedness“ (in der deutschen Übersetzung „Entschiedenheit“) ist ein Schlüsselbegriff in Harry Frankfurts Philosophie der Person und der Willensfreiheit. Er bezeichnet eine Lebensform, zu der nur derjenige findet, der mit sich im Reinen ist. Mit sich im Reinen sein heißt, dem eigenen Wollen uneingeschränkt zustimmen zu können, und das heißt: sich selbst zu lieben. Vgl. Frankfurt: Gründe der Liebe, v. a. S. 103ff. – Ich verstehe Mendelssohns intellektuelle und moralische Biographie und sein Betragen in „häuslichen“ und politischen Angelegenheiten als Suche nach einer solchen Lebensform. So die Formulierung, die Mendelssohn seinem Palemon in die Feder diktiert. Vgl. M. M.: „Über die Empfindungen (1755)“. In: Mendelssohn: Studienausgabe I, S. 41–96, Zitat S. 56:
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sich in seinen Brautbriefen ausspricht, sondern die Entschiedenheit seines moralischen Selbstgefühls. Die Wurzel dieser Selbstachtung liegt wohl in einer Erfahrung, die Mendelssohn in den Briefen mehrmals zur Sprache bringt: „Ich bin so glücklich“, schreibt er an Fromets Stiefschwester Brendel, „daß mich alle die ich liebe, auch wieder lieben. Ich habe auch Ihre Schwester […] niehmals um Gegenliebe gebeten, weil ich mich auf mein Glück verlassen.“48 Und an anderer Stelle heißt es: „Meine Glückseeligkeiten suche ich in den stillen Vergnügungen der Liebe und der Freundschaft, und Gott Lob! ich suche sie nit vergebens. Es ist mir so wohl in der Liebe als in der Freundschaft bisher völlig nach HerzensWunsch gegangen.“49 Mendelssohns moralische Entschiedenheit zeigt sich besonders deutlich in seiner Ablehnung aller ‚zeremoniellen‘ Ausdrucksformen und der in den traditionellen Briefstellern differenziert entfalteten ‚Komplimentierkunst‘.50 Zwar ist er sich durchaus bewusst, dass seine ‚Offenherzigkeit‘ manchmal ‚eigensinnige‘ Züge trägt51 – so in der Auseinandersetzung um den von Fromets Vater geforderten Verlobungsvertrag, den er mit dem Argument von sich weist, dass dieser etwas zum „Zwang“ mache, was sich für einen ehrenhaften Mann von selbst verstehe52 –, doch ist ihm
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„Diese Gedanken sind nicht blos die Früchte eines grübelnden Nachsinnens, daran das Herz keinen Theil nimt. Nein! Ich rede aus Empfindung, ich rede aus lebendiger Ueberzeugung.“ Brief vom 3.7.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 48. Brief vom 10.7.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 55. Vgl. Mendelssohns Brief vom 16.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 36f.: „Liebste Mamsell kallo [Braut]! Ich sollte billich k’hajaum [heute] den vertrauten Ton bey Seite setzen, und Ihnen mit gewöhnlichen hochtrabenden Worten zu unserer gesegneten Verlobung meine untertänigste Gratulation heraus-würgen. Allein das ist mir unmöglich. […] Nun so lassen Sie mich denn immer nach meiner Weise schreiben, und die Complimente geschicktern Leuten überlassen“. – Es versteht sich von selbst, dass solche eigenwillig vorgetragenen Vorbehalte nicht im Widerspruch dazu stehen, dass Mendelssohn seine Schwiegereltern mit konventionellen Komplimenten geradezu überhäuft. Komplimente sind (wie Schiller im 26. Brief Über die ästhetischen Erziehung des Menschen betont) Formen des „schönen Umgangs“ und als „wohltätiger Schein“ unverzichtbar; zum Problem werden sie erst dort, wo der zwischenmenschliche Umgang verbindlich wird und alternative Formen der verbalen Beziehungsgestaltung gefragt sind. Vgl. Mendelssohns Brief vom 19.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 41. Vgl. auch Mendelssohns Brief an Vogel Gugenheim vom 2.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 27: „Ich rede vielleicht gar zu frey, allein es ist mir ganz unmöglich mich gegen Ihnen zu verstellen. Ich muß Ihnen alles melden, was ich bey Durch-Lesung Ihres Briefes empfunden habe.“ Vgl. Mendelssohns Brief an Vogel Gugenheim vom 2.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 23–29. Zu Detailfragen vgl. auch JubA XI, S. 463: Offenbar sollte im Verlobungsvertrag eine fiktive Mitgift in der Höhe von 2.500 Goldgulden festgesetzt werden, auf die Mendelssohn in einer schriftlichen Erklärung verzichten sollte. Darüber hinaus hatte er sich zu
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die Tugend, deren Wert er hier wie auch sonst emphatisch verficht und die er für sich in Anspruch nimmt, nicht nur ein Ausdruck seiner Selbstachtung, sondern zugleich auch seiner menschlichen Würde.53 Bereits in seinem Einspruch gegen Michaelis’ Rezension von Lessings Juden hatte er dies unmissverständlich deutlich gemacht: Man fahre fort uns zu unterdrücken, man lasse uns beständig mitten unter freyen und glückseligen Bürgern eingeschränckt leben, ja man setze uns ferner dem Spotte und der Verachtung aller Welt aus; nur die Tugend, den eintzigen Trost bedrengter Seelen, die einzige Zuflucht der Verlassenen, suche man uns nicht gänzlich abzusprechen.54
IV. Bildung der Seele Ich zögere, diese hohe Sensibilität für Fragen der Moral als ‚Tugendempfindsamkeit‘55 zu bezeichnen. Das wäre zwar ein etablierter Terminus, doch verfremdet er das Phänomen so sehr, dass man den Eindruck bekommt, es mit sehr seltsamen Wesen aus einer sehr vergangenen Epoche zu tun zu haben. Das aber wäre ein historistischer Trugschluss. ‚Tugendempfindsam‘ zu leben, mit Lessings Nathan zu sprechen: ein Leben zu führen, das „vor Gott und Menschen angenehm“56 macht, ist ein Anspruch, der mit der Frage nach der „Bestimmung des Menschen“–
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verpflichten, der Braut Geschenke im Wert von 500 Reichstalern zu offerieren und im Falle seines Todes ihren Unterhalt zu sichern. Mendelssohn fühlt sich durch „diese überkluge Vorsorge von der empfindlichsten Seite attakirt. Ich müßte niederträchtig seyn, wenn ich eine Person, die ich liebe, nicht bestmöglich versorgen wollte, und davor habe ich in meinen Gedanken schon Anstalten gemacht“ (ebd., S. 25). Zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und Würde vgl. Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? St. Pölten, Salzburg 2011, S. 72ff. Brief an Aron Emmerich Gumpertz, Ende Juni 1754. In: JubA XI, S. 10. Der Brief wurde 1754 im ersten Stück von Lessings Theatralischer Bibliothek publiziert. Der Begriff wurde von Wolfgang Martens (Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, S. 297) geprägt und von Eckart Meyer-Krentler als sozialethisches Programm der Empfindsamkeit prominent gemacht. Vgl. Meyer-Krentler, Eckart: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984, S. 20f. und S. 33–47. Lessing, Gotthold Ephraim: „Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen“. In: WuB 9, S. 483–627, Zitat S. 556. Der Hinweis auf die Gottesinstanz markiert einen Gesichtspunkt, der unbedingt ist und die Güte des Guten zu erkennen vermag. Wahrhaft gut sind nur solche Handlungen zu nennen, die – wie es im § 85 der Erziehungsschrift heißt – „das Gute tun […], weil es das Gute ist“. Lessing, Gotthold Ephraim: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“. In: WuB 10, S. 73–99, Zitat S. 96.
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so die prominente, auch für Mendelssohn zentrale Formel57 – identisch ist. Auf die Frage, wie man leben soll, eine Antwort zu geben, hört im 18. Jahrhundert auf, das Monopol der etablierten, kirchlich verfassten Religionsgemeinschaften zu sein: Es wird zur Aufgabe all jener, die an der Alphabetisierungsrevolution des 18. Jahrhunderts teilhaben. In den Briefen an die Braut begreift Mendelssohn diese Aufgabe, das eigene Leben nicht nur zu durchleben, sondern sich zu ihm gestaltend zu verhalten, als Prozess der Seelenbildung: „Fahren Sie also fort Ihre Seele zu bilden“, schreibt er Fromet am 29. Mai 1761: „Sie können unmöglich etwas zulernen, ohne mich glücklicher zu machen.“58 Dieser Lernprozess vollzieht sich auch im Medium des Briefes. Er ist ein Bildungsprozess, insofern das Schreiben die Artikulation der Innenwelt fördert und diese in eben dem Maße differenziert,59 und er ist als solcher Teil jener lebensgeschichtlichen Schwellenphase, in der die Briefe wechselnden Brautleute in dem Maße zueinander finden, in dem sie es riskieren, sich füreinander zu öffnen. „Briefe sind“, so hat es Rainer Stach einmal treffend formuliert, „Ausdruck einer Beziehung, zugleich aber erzeugen sie diese Beziehung und formen sie. Sie können daher eine Beziehung suggerieren, die außerhalb des Briefverkehrs noch gar nicht existiert – so lange, bis sie in eine wirkliche umschlägt.“60 Das gilt auch für den Prozess, den Mendelssohn und Fromet Gugenheim schreibend durchleben und gestalten. Ihrem Briefwechsel liegt, die Zeit der ersten Begegnung ausgenommen, keine gemeinsame Lebenswirklichkeit zugrunde, er nährt sich von keinem Schatz gemeinsam durchlebter Erfahrungen, aber er dient doch ganz wesentlich dazu, das Paar auf das gemeinsame Leben auszurichten. Als Fromet Mendelssohn ohne Angabe von Gründen schreibt, sie sei zum Schreiben „nit aufgeräumt“ gewesen, antwortet dieser mit geradezu programmatischer Emphase: Wissen Sie denn nit, daß sich ein empfindliches Herz in dergleichen Fällen tausend beunruhigende Vorstellungen macht, die vielleicht alle ungegründet, aber nichts destoweniger beunruhigend sind? O Sie sind allzu zärtlich, Sie lieben mich allzu sehr, als daß Sie dieses nit empfinden sollten. Melden Sie mir also, meine Liebe! was Ihnen aus-liegt, melden Sie mir Ihre geheimsten Gedanken so umständlich wie Sie sie sich selbst erzählen, sie sind bey mir so gut verwahrt, als in 57
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Die Formel wurde durch das gleichnamige Buch von Johann Joachim Spalding (1748) zum Gemeingut. Vgl. Jannidis, Fotis: „Die ‚Bestimmung des Menschen‘. Kultursemiotische Beschreibung einer sprachlichen Formel“. In: Aufklärung 14 (2002), S. 75–96. Zur Bedeutung des Begriffs für Mendelssohns Anthropologie und Metaphysik vgl. Pollock, Anne: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010, Kap. I. Brief vom 29.5.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 22. Vgl. Bieri: Wie wollen wir leben?, S. 46ff. Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt/Main 2002, S. 164.
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Ihrer Brust. Vielleicht kann ich etwas zu Ihrer Beruhigung tuhn. Tragen Sie kein Bedenken solches zu tuhn, mir müssen über die gemeine Zurückhaltung, die sonsten kallo [Braut] und choßon [Bräutigam] einander so fremd macht, hinweg seyn.61
Gelingende Beziehungen, davon ist Mendelssohn überzeugt, beruhen auf der Übereinstimmung der Gesinnungen, die sich dort, wo man miteinander noch nicht lebt, ausschließlich in Briefen ausbilden lässt und die, weil die Verschriftlichung der Kommunikation den Grad ihrer Sprachlichkeit notwendig erhöht, im Medium des Briefes umso dezidierter ausgebildet werden kann: Wenn Sie mich lieben, so beschließen Sie niemals einen chaudesch [Monat], ohne mir von Ihrer Lektüre, von Ihren Beschäftigungen, und von Ihren Zeitvertreib Nach-Richt zu geben. Ich sollte Ihnen ein gleiches tuhn, allein Sie sind von meinen hiesigen Umständen noch zu wenig unterrichtet. Ich möchte mit Ihnen gern nit nur mein Glück und mein Leben, sondern auch meine Empfindungen teilen. […] Wenn Sie meine Gesinnungen billigen, liebste Fromet! so bin ich stolz darauf, denn auf die Ueber-Einstimmung unserer Gesinnungen beruht unser Glück, und unsere Zufriedenheit.62
Die Übereinstimmung der Gesinnungen bildet sich aber nicht allein durch das mündlich oder schriftlich geführte Gespräch, sondern auch und v. a. durch die Lektüre, insbesondere die Lektüre von Briefromanen und Briefsammlungen, die in den Briefen Fromets und Mendelssohns selbst wieder zum Anlass und Vorbild des Schreibens werden. Dazu zählen Rousseaus Nouvelle Héloïse,63 Marie-Jeanne Riccobonis Lettres de Mylady Catesby,64 aber auch Rabeners Satyrische Briefe,65 die Danziger Briefe an die Freunde von Friedrich Germanus Lüdke,66 nicht zuletzt Shaftesburys Inquiry concerning Virtue, die Fromet nach eigener Auskunft „mehr als ein Mahl“67 gelesen hat. Angesichts dieses epistolaren Ehevorbereitungskurses mag es befremdlich anmuten, wenn Mendelssohn seine Braut vor einem Übermaß an Lektüre warnt: Liebste Fromet! Wie ich min [von] R.Salman Emmerich vernehme, übertreiben Sie den Fleiß im Lesen sehr, und machen beynahe einen Mißbrauch davon. Die61 62
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Brief vom 14.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 66 Brief vom 11.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 65f. Mendelssohn kündigt in dem Brief an, Fromet seine Philosophischen Schriften, die 1761 in zweiter Auflage erscheinen sollten, zukommen zu lassen. Vgl. Mendelssohns Briefe vom 5.6. und 23.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 33 und S. 42f. Vgl. Mendelssohns Brief vom 5.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 33. Vgl. Mendelssohns Brief vom 7.7.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 49. Vgl. Mendelssohns Brief vom 4.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 60. Brief vom 16.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 37.
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ses kann ich durch-aus nit billigen. Was wollen Sie damit ausnehmen? Gelehrt werden? Dafür behüte Sie Gott! Eine mäßige Lectür kleidet dem Frauenzimmer, aber keine Gelehrsamkeit. Ein Mädchen, das sich die Augen rot gelesen, verdient ausgelacht zu werden. Sie, meine liebste Fromet! müssen nit ehr zu den Büchern Ihre Zuflucht nehmen, als in zweyerley Fällen, wenn Ihr Gemüt Ergözung fodert, und sie im gesellschaftlichen Um-Gang nit findet, das ist eines, und zweytens wenn Ihr Herz in dem Vorsatz zum Guten Bestärkung nötig hat. Wider eine von diesen Krankheiten hilft die Medizin, aber zu viel Medizin verdierbt.68
Britta Behm hat in dieser Mahnung eine „geschlechtsspezifische Begrenzung der Bildung“ gesehen, die eine „gezielte Verstandesbildung explizit ausschloss“: Gugenheim sollte Mendelssohn […] sowohl intellektuell folgen können als auch in ihren Einstellungen mit ihm harmonisieren. Eine Eigenständigkeit der Frau bzw. die freie Entwicklung ihrer spezifischen Kräfte, Anlagen und Fähigkeiten als Mensch dürften jedoch kaum intendiert gewesen sein.69
Darin werde ein bürgerliches Frauenbild sichtbar, das – so die These von Helga Brandes – das Bild einer „aufgeklärten, bisweilen gelehrten, dem Manne ebenbürtigen Frau“ durch das Bild „der empfindsamtugendhaften, passiven Frau“ ersetzt.70 Nun ist der Prozess, von dem Helga Brandes spricht, aller Wahrscheinlichkeit nach eine historiographische Fiktion, und zwar deshalb, weil im 18. Jahrhundert nicht bloß ein kultureller Wandel, sondern ein ‚Wandel des Wandels‘ stattfand.71 Einen Prozess der ‚Verbürgerlichung‘ des Fühlens und Denkens, der Weltanschauung und der Lebensformen hat es im 18. Jahrhundert nicht gegeben, allerdings hat sich der Stellenwert dessen, was einst Gelehrsamkeit hieß, grundsätzlich verändert: Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem sich der moderne Wissenschaftsbetrieb zu formieren begann, der das Prinzip ‚Gelehrsamkeit‘ (und ihre Formen der kulturellen Traditionsbildung) durch das Prinzip ‚Kritik‘ ersetzte; und es ist das Jahrhundert, in dem die Sozialfigur des Gelehrten
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Brief vom 10.11.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 97. Behm, Britta L.: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin. Eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Münster u. a. 2002, S. 140 f. Brandes, Helga: „Zum Wandel des Frauenbildes in den deutschen Moralischen Wochenschriften. Vom aufgeklärten Frauenzimmer zur schönen Weiblichkeit“. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. a. Tübingen 1989, S. 49– 64, Zitat S. 49. Für weiterführende Andeutungen vgl. Vellusig: „Aufklärung und Briefkultur“, S. 154–159 u. S. 169–171.
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(und seines sozial exklusiven Schriftgebrauchs) der Sozialfigur des Gebildeten wich, der gerade nicht sozialständisch ausgewiesen war.72 Mendelssohn differenziert der Sache nach zwischen Gelehrsamkeit und Bildung, ohne diesen Unterschied konsequent auf den Begriff zu bringen. Das wird er programmatisch erst 1784, in seiner Schrift Ueber die Frage: was heißt aufklären? tun. Dort heißt es: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache.“73 Tatsächlich ist der Prozess, um den es hier geht, kein Prozess, in dessen Verlauf eine soziale Schicht oder eine Klasse einen Aufstieg erlebte und in dem Männer und Frauen zu dem wurden, was sie seitdem sind (und nicht sein möchten): kulturell formierte ‚Geschlechtercharaktere‘, sondern ein Prozess, in dem sich – mit der faktischen und strukturellen Verschriftlichung des kommunikativen Alltags – das Prinzip der Vergesellschaftung selbst gewandelt hat. Drastischer als durch den Lebenslauf des Mausche mi-Dessau, der, seinem Lehrer Fränkel folgend, als 14-Jähriger nach Berlin ging, um sich durch eigenständig betriebene Lektüre zum Weltweisen zu bilden, und der, fern der Interaktionsgemeinschaft, in die er hineingeboren worden war, zur europäischen Berühmtheit wurde, ließe sich dieser Wandel des Vergesellschaftungsprinzips nicht anschaulich machen. Mendelssohn war im traditionellen Sinn nicht gelehrt – Lessings gelehrte Studien und philologische „Rettungen“ blieben ihm ein Leben lang fremd –, sondern gebildet, d. h. aufgeklärt und kultiviert.74 Gebildet sein heißt, an der neuen, von den periodischen Printmedien geprägten Schriftkultur teilzuhaben, und die Fähigkeit, dies zu tun, war als solche weder standes- noch alters- noch geschlechtsspezifisch. Bildung transformiert das Bücherwissen, über das der Gelehrte verfügt, in gelebte 72
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Nicht zufällig etabliert sich im 18. Jahrhundert auch die Sozialfigur des Intellektuellen, dessen publizistische Tätigkeit durch eine besondere Autonomie (v. a. gegenüber institutionellen Bindungen) gekennzeichnet ist. Der Prototyp des Intellektuellen ist Voltaire. Vgl. Pečar, Andreas: „Der Intellektuelle seit der Aufklärung. Rolle und/oder Kulturmuster?“ In: Das 18. Jahrhundert 35 (2011), H. 2, S. 187–203. Mendelssohn, Moses: „Ueber die Frage: was heißt aufklären? (1784)“. In: Mendelssohn: Studienausgabe II, S. 207–214, Zitat S. 211. Vgl. ebd., S. 211: „Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen […] – Aufklärung hingegen scheinet sich mehr auf das Theoretische zu beziehen.“ Zur Geschichte des Bildungsbegriffs vgl. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/Main, Leipzig 1994, v. a. Kap. II.2. Zu Mendelssohns Diskussionsbeitrag vgl. Altmann, Alexander: „Aufklärung und Kultur bei Moses Mendelssohn“ sowie Hinske, Norbert: „Mendelssohns Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? oder Über die Aktualität Mendelssohns“. In: Ich handle mit Vernunft … Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung. Hg. v. Norbert Hinske. Hamburg 1981, S. 1–14 bzw. S. 85–117. Jüngeren Datums: Pollok: Facetten des Menschen, Kap. IV.3.
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kulturelle Identität.75 In diesem Sinne hatte St. Preux in dem von Mendelssohn besonders geschätzten zwölften Brief der Nouvelle Héloïse 76 seiner „reizende[n] Schülerin“ Julie geraten, das Studieren auf „Bücher von Geschmack und Sitten“ einzuschränken.77 Mendelssohn wird es ihm gleichtun.
V. Die Ambivalenz des Briefes Briefe, Liebesbriefe zumal, sind – insofern sie sich als schriftliche Gespräche verstehen – ambivalente Medien. Sie sind so ambivalent, wie es der Strukturwandel der Schriftkultur, der im 18. Jahrhundert stattfand, selbst war. Dieser Prozess wurde von den Zeitgenossen als Gewinn und als Verlust erlebt, so auch von Mendelssohn, der als Jude wie als Philosoph jene Medienrevolution mit betrieb, die er in seinem politischen und rechtsphilosophischen Hauptwerk über „religiöse Macht und Judentum“ zugleich auch beklagte. Dort heißt es: Wir lehren und unterrichten einander nur in Schriften; lernen die Natur und die Menschen kennen, nur aus Schriften; arbeiten und erholen, erbauen und ergötzen uns durch Schreiberey; der Prediger unterhält sich nicht mit seiner Gemeine, er liest oder deklamirt ihr eine aufgeschriebene Abhandlung vor. Der Lehrer auf dem Catheder liest seine geschriebenen Hefte ab. Alles ist todter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen Unterhaltung. Wir lieben und zürnen in Briefen, zanken und vertragen uns in Briefen, unser ganzer Umgang ist Briefwechsel, und wenn wir zusammenkommen, so kennen wir keine andere Unterhaltung, als spielen oder vorlesen. Daher ist es gekommen, dass der Mensch für den Menschen fast seinen Werth verloren hat. […] Mit einem Worte, wir sind litterati, Buchstabenmenschen. Vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab, und wir können kaum begreifen, wie ein Erdensohn sich bilden, und vervollkommnen kann, ohne Buch.78
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Zur Unterscheidung zwischen „bloß gekannter Kultur“ und „gelebter kultureller Identität“ vgl. Bieri: Wie wollen wir leben?, S. 81ff. Vgl. Mendelssohns Brief vom 10.7.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 54: „In den Briefen des Rousseau finden sich einige, die meines Erachtens Meisterstücke sind, wie zum Exempel der zwölfte Brief den ich Ihnen bestens empfehle.“ Rousseau, Jean-Jacques: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. In der ersten dt. Übertr. v. Johann Gottfried Gellius. Vollst. überarb. u. ergänzt. Mit Anmerkungen u. einem Nachwort v. Reinhold Wolff. München 1978, S. 59. Mendelssohn, Moses: „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783)“. In: Mendelssohn: Studienausgabe II, S. 129–206, Zitat S. 181. – Material zur ambivalenten Wahrnehmung der Medienrevolution des 18. Jahrhunderts findet sich in der Studie von Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, v. a. Kap. VII.
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Das zeigt sich auch im Briefwechsel mit Fromet. Der Brief erscheint dort als Medium, das der Sehnsucht Ausdruck verleiht und sie in eben dem Maße sprachlich kultiviert, als Medium also, das der kommunikativen Begegnung eine sprachliche Tiefe erschließt, sich zugleich aber doch als unzulänglich erweist, die persönliche Begegnung zu ersetzen: Leben Sie wohl, meine liebste und teuerste Fromet! Wenn es doch möglich wäre, Sie bald wieder zu sehen. Dieses ist vor der Hand mein innigster Wunsch, der zwar durch Ihre Briefe in etwas befriedigt wird, doch wenn Sie so vortrefflich schreiben, wie’s in Ihrem letzten Briefe geschehen, so möchte’ ich immer gern die Hand küssen, die solche schöne Gedanken niederschreiben kann. Leben Sie wohl und schreiben Sie mir öfters so natürliche und dennoch gedankenvolle Briefe. Ich wünschte Ihnen nur durch meine Briefe so viel Vergnügen zu verursachen, wie’s ich von den Ihrigen habe.79
Der Briefwechsel von Brautpaaren hat eine Deadline: Er kommt an ein Ende, wenn die lebensgeschichtliche Übergangsphase der Verlobung zu Ende geht und das Paar den Bund der Ehe schließt. Mendelssohn sieht diesem Ende mit einer geradezu endzeitlichen Heilserwartung entgegen: Jedoch ich finde Vergnügen in meinen Beschäftigungen, und jezund um so viel mehr, da ich von Zeit zu Zeit durch das Vergnügen Ihres angenehmen BriefWechsels auf-gemuntert werde. Wie freudig werde ich nit als-denn zu allerbeschwehrlichsten Arbeiten gehen, wenn unser Brief-Wechsel dem persönlichen Umgang Platz machen wird. Alle Mühseligkeiten dieses Lebens müssen sich alsdenn durch die Liebe in wahre Ergötzlichkeiten verwandeln.80
Und doch entwickelt er, als der Gedanke zur Diskussion steht, auf der Flucht vor den Unwägbarkeiten des Krieges in Hamburg Unterschlupf zu finden,81 die spielerisch vorgetragene Idee, den Briefwechsel mit Fromet auch in Hamburg fortzusetzen: Lassen Sie uns Projekte in die Luft machen, wenn ich auch bey Ihnen bin, so muß unser Briefwechsel deswegen nit unterbrochen werden. Jeden Post-Tag wollen wir einander aus der Mühlen-Gaß nach dem Neuen Markt und wieder zurück Briefe zu-schicken. Das Vergnügen post-täglich zu sehen, wie Sie im Schreiben 79
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Brief vom 28.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 73. Albrecht Koschorke (Körperströme und Schriftverkehr) hat solche (und vergleichbare) Reflexionen zu einer Geschichte anschwellender Kommunikationsflüsse (und versiegender Körperströme) verzwirnt. Schrift gilt ihm als Medium, das die Kommunikation entkörperlicht und deren Körperlichkeit durch Surrogate substituiert: Medien sind Body Snatchers. Ich halte Koschorkes Mediologie in konzeptioneller Hinsicht für verfehlt: Sie hat keinen Sinn für die personalen und interpersonalen Dimensionen der Kommunikation, weil sie Sprache immer nur zeichentheoretisch denkt. Schlichter ist der Einwand: Schrift funktioniert zwar interaktionsfrei, dabei ist aber nicht der Körper abwesend, sondern die leiblich-seelische Person (zur Terminologie vgl. Bischof: Psychologie, S. 44ff.). Brief vom 11.9.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 79. Vgl. Mendelssohns Brief vom 16.10.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 89f.
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Progreßen machen, ist mir gar zu angenehm, als daß ich es so leicht entbehren könnte. Wer weis, ob Sie nit bald werden den Anfang machen, mir französisch zu schreiben.82
Vielleicht darf man solche Gedankenspiele tatsächlich als Ausdruck einer ‚SchreibLust‘ deuten, die ihre Spuren auch in den Briefen des Moses aus Dessau hinterlassen hat – etwa wenn er sich einen „Schwätzer“ nennt, weil er sich zwar vorgenommen hatte, einen „sehr kurzen Brief“ zu schreiben, sich dann aber „schon auf der zweyten Seite so weit“ befindet, dass ihm „kaum noch Raum“ bleibt, der Braut „einige Worte von [s]einer Liebe zu sagen“,83 wenn er, weil ihm die Zeit fehlt, ausführlicher zu schreiben, „lakonisch seyn“ will und sich dann doch beim ‚Schäkern‘ ertappt,84 oder wenn er einen längeren Brief mit den Worten beschließt: „Ich schmiere immer weg, und merke nit, daß es spät wird.“85 Nein. – Mendelssohn zählt nicht zu den ‚fous de lettres‘. Schreibselig ist er, wenn es etwas gibt, das ihm am Herzen liegt und/oder dessen philosophische Klärung ihn leidenschaftlich bewegt. (In den Briefen an Lessing86 und Thomas Abbt gilt ihm die Korrespondenz als Fortsetzung, in der Sache dezidiertere Form87 des persönlichen Umgangs.) Die „Ungeduld“, „mit welcher man einen Post-Tag ohne Brief hinbringt“, 88 ist ihm keineswegs fremd, und in den letzten Wochen vor dem Wiedersehen gelobt er: „Die kurze Zeit, die wir noch getrennt bleiben werden, soll gewiß
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Brief vom 15.1.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 107. Vgl. Mendelssohns Brief vom 8.9.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 77f. Brief vom 22.9.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 84f. Brief vom 26.3.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 126. Vgl. etwa Mendelssohns Brief an Lessing vom 17.2.1755. In: JubA XI, S. 13: „Mein Herr! Wenn Ihnen diese Schrift zu ungelegener Zeit kömmt, so bedenken Sie, daß ich in 3 Wochen nicht auf Ihrer Stube war; daß ich unmöglich Ihren Umgang so lange entbehren kann, als Sie sich vorgenommen haben, abwesend zu bleiben. Jedoch ich begnüge mich damit, in dem Augenblicke, da ich schreibe, gleichsam eine Art von Umgang mit Ihnen gepflogen zu haben, ohne daß es nöthig sey, daß Sie mir antworten.“ Vgl. etwa Mendelssohns Vorbemerkung zu der 1764 in den Literaturbriefen anonym erschienenen Auseinandersetzung zwischen Abbt („Zweifel über die Bestimmung des Menschen“) und Mendelssohn selbst („Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend“). Mendelssohn weist darauf hin, dass die hier publizierten „kleinen Schriften“ aus „den Zusammenkünften schätzbarer Freunde“ hervorgegangen sind, deren „Unterredungen“ zwar „die Beförderung der Wahrheit und Tugend zum ewigen Endzwecke haben“, im konkreten Fall jedoch ergebnislos blieben: „auch am Ende eines weitläufigen Gesprächs hatten sie noch nichts gewisses ausgemacht, so wie es oft bey freundschaftlichen Zusammenkünften zu geschehen pflegt, da niemand darauf denkt, durch Fechterstreiche seinen Gegner zum Stillschweigen zu zwingen, sondern jeder beflissen ist, mit eydgenößischer Freimüthigkeit seine Meinung zu sagen.“ (Mendelssohn: Studienausgabe I, S. 321–340, Zitat S. 325.) Brief vom 2.4.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 128.
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kein Post-Tag vorbey-gehen, ohne daß ich Ihnen schreiben werde.“89 – Ist er sich doch bewusst, dass mit der Zeit der Verlobung auch die Zeit der Liebesbriefe zu Ende geht: „Was wir uns im Ehestand bey einer kurzen Abwesenheit, im jirze ha-Schem [so Gott will] einander zu-schreiben werden, mag ich gar nit Briefe nennen, denn das werden viel mehr wirtschaftliche Rapports, als jugendliche Liebes-Gedanken enthalten.“90 So kostbar sie war, so unwiederbringlich ist sie, so wenig auch überdauert sie die gesetzte Frist: „Liebste Fromet!“, schreibt er Ende April 1762: „Es ist wahrhaftig Zeit, daß unsre Briefe aufhören, sie fangen an kurz, und nichtsbedeutend zu werden. Mir sagen uns einer dem andern zweymahl die Woche, daß wir nit Zeit haben, und daß die Post bald abgeht. Schöner Brief-Wechsel!“91
VI. Formen der Liebe und Küsse im „wüsten Garten-Häuschen“ Wer Liebesbriefe liest, die nicht für ihn bestimmt sind, blickt auf zweierlei: auf Formen der Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung und auf Bruchstücke einer Lebenswirklichkeit. Als ‚schriftliche Gespräche‘ sind Liebesbriefe autonom und gehorchen einer eigenen Logik; als Teile einer umfassenderen Lebenswirklichkeit sind sie – mit Goethe zu sprechen – ‚Fragmente von Fragmenten‘: „das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.“92 Weil der Spielraum, den der Brief der Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung eröffnet, nicht die ganze Wirklichkeit ist, ist die Liebesbriefforschung, die nach dem Status von Liebeskorrespondenzen und nach der Lebenswirklichkeit – den Liebeserfahrungen und Liebeskonzepten – fragt, die in solchen Briefwechseln ihren Ausdruck findet,93 immer auch der Gefahr ausgesetzt, optischen Täuschungen 89 90 91 92
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Ebd. Brief vom 7.5.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 136f. Brief vom 23.4.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 131. Goethe, Johann Wolfgang: „Maximen und Reflexionen.“ In: J.W.G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann u. Johannes John. München, Wien 1991, S. 715–953, Zitat S. 814. So verstehe ich das Projekt, das Renate Stauf, Annette Simonis und Jörg Paulus mit dem Band Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Berlin, New York 2008) initiiert haben. In der Einleitung („Liebesbriefkultur als Phänomen“, S. 1–19) heißt es programmatisch: „Der Liebesbrief gibt Auskunft über die Verfasstheit des Individuums, das Verhältnis der Geschlechter, den Ort von Intimität, die Mitsprache-
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zu erliegen. Solche Effekte lassen sich nur dann vermeiden, wenn man mehr weiß, als sich aus Briefen erschließen lässt. Das gilt vorrangig für die Liebe selbst. Eine angemessene Verstehensbemühung wird davon ausgehen müssen, dass das Phänomen, das sich in solchen Briefen artikuliert, nicht einfach eine ‚kulturelle Konstruktion‘, sondern die kulturelle Modifikation eines anthropologischen Erbes ist. Wer so denkt, hat zwei Aspekte zu berücksichtigen: die Erlebnisperspektive, in der Menschen die Dynamik ihrer natürlichen Antriebe und Motive zu Bewusstsein kommt, und die je spezifischen Versuche der Kultur, diese einzelmenschliche Natur zu gestalten und zu kontrollieren.94 Aus der Perspektive der modernen Humanwissenschaften ist das Ding, das man Liebe nennt, in phänomenaler wie funktionaler Hinsicht differenzierter, als der einförmige Begriff zu erkennen gibt,95 und es ist in dieser Differenziertheit universeller, als das kulturwissenschaftliche Vorurteil vermuten ließe: ‚Lust‘ (die Ausrichtung der Sexualität auf Artgenossen), ‚Anziehung‘ (die Fokussierung auf einen Geschlechtspartner) und ‚Verbundenheit‘ (die auf Dauer angelegte Bindung) werden nicht nur unterschiedlich erlebt, sondern sind auch in funktionaler Perspektive voneinander zu unterscheiden96 – so wie sie sich als Antriebe, die zu sekundären Bindungen motivieren, noch einmal von den Bindungen der Herkunftsfamilie (und der jeweiligen kommunikativen Nahwelt) unterscheiden lassen.97 Die Geschichte der ‚Liebe‘ ist die Geschichte kultureller Differenzierungen und autonomer, hochgradig konflikthafter Steige-
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rechte von Familie und Gesellschaft, das Zusammenspiel von Affekten und Regeln.“ (S. 1) – Ich greife im Folgenden Überlegungen auf, die ich in kritischer Auseinandersetzung mit dem Projekt formuliert habe (vgl. Vellusig, Robert: To whom it may concern. Facetten einer Geschichte des Liebesbriefs, 2010. http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=2997 [Stand: 3.1.2012]), und freue mich, hier die Gelegenheit zu haben, Renate Stauf und Jörg Paulus (und dem Braunschweiger Kreis) für die Einladung zur Nachfolge-Tagung und die überaus freundliche Aufnahme zu danken. Zur Kritik des „sozialwissenschaftlichen Standardmodells“ und zum hier grundgelegten Versuch, die menschliche Natur als einen „Attraktor“ für die „kulturelle Selbstinterpretation“ zu denken, vgl. Bischof: Psychologie, S. 548–552. Man kann deshalb durchaus daran zweifeln, ob Liebe überhaupt ein Gefühl ist. Vgl. Demmerling, Christoph u. Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart, Weimar 2007, S. 127–165, hier v. a. S. 127–130. So die Differenzierung bei Helen Fisher: „Lust, Anziehung und Verbundenheit. Biologie und Evolution der menschlichen Liebe“. In: Über die Liebe. Ein Symposion. Hg. v. Heinrich Meier u. Gerhard Neumann. München, Zürich 2001, S. 81–112. Als instruktiven Überblick vgl. Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004, S. 152–158. Vgl. Bischof: Psychologie, Kap. 15: „Soziale Motivation“. Grundlegend: Bischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München 1985.
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rungsformen: der sexuellen Lust, der enthusiastischen Verliebtheit und der dauerhaften Bindung. Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. Am Beginn dieser Medien- und Kulturgeschichte der Liebe steht die Verschriftlichung des kommunikativen Alltags, wie sie im Liebesbrief Gestalt gewinnt. Mendelssohns Brautbriefe gehören in diese Schwellenphase der modernen Kulturgeschichte der Liebe. Der Blick auf die Textoberfläche von Liebesbriefen – auf Artikulationsroutinen und die Semantik ihrer Begriffe – läuft Gefahr, die fremd anmutende Sprache als Ausdruck fremder Erlebnisformen aufzufassen. Solche Trugschlüsse lassen sich leicht vermeiden. Dass Menschen tugendempfindsam sind, ist ein durchaus befremdender Gedanke. Wenn aber Leibniz Liebe als „delectatio in felicitate alterius“98 definiert – als Freude am Glück des anderen – dann ist dies eine Formulierung, die das Phänomen auf eine Weise bestimmt, die auch uns unmittelbar zugänglich und die uns ebenso vertraut ist wie der damit verwandte Gedanke Lessings, dass im „Genuß der venerischen Wollust“ „die angenehmen Empfindungen der einen Person […] von den angenehmen Empfindungen der andern unzertrennlich“ sind, sodass „keins von beiden weiß, ob es mehr Vergnügen erhält oder mitteilt“, weshalb man „den Beischlaf zu einer Art von Liebe gemacht“ habe: „Er ist es auch in den kurzen Augenblicken seiner Dauer wirklich, und vielleicht die intimste Liebe in der ganzen Natur.“99 Nicht anders Mendelssohn. Auch er ist ein Philosoph des Wohlwollens und der Selbsttranszendenz;100 auch er sieht in der genuin menschlichen Fähigkeit, den anderen als Zentrum einer Sinntotalität zu denken und sein Glück im Glück des anderen zu finden, eine Möglichkeit, fürund miteinander ‚wirklich‘ zu werden: Er schätzt sich glücklich, dass er „ein edles Herz zu schäzen“ weiß.101 Der gelegentlich bevormundend oder ‚vermahnend‘102 wirkende Gestus einzelner Briefe ist wohl auf diese 98 99
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Vgl. Spaemann, Robert: „Antinomien der Liebe“. In: R. S.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II. Stuttgart 2011, S. 9–26, Zitat S. 16. Lessing, Gotthold Ephraim: „Bemerkungen über Burke’s Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen“. In: WuB 4, S. 448– 452, Zitat S. 451. Eine anspruchsvolle Neufassung solcher Überlegungen findet sich bei Robert Spaemann (Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik. Stuttgart 1989), dem auch die folgenden Paraphrasen geschuldet sind. So das Stoßgebet („Gottlob!“) im Brief vom 14.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 67. Vgl. Mendelssohns Brief vom 29.5.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 22: „Verzeihen Sie, liebe Mademoiselle! diesen vermahnenden Ton! Für jeden andern choßon [Bräutigam], würde es seltsam klingen, allein ich habe das Glück mit einer Person verbunden zu seyn, die über alle Eitelkeit hinweg ist, und mich lieber vermahnen, als schmeicheln hört.“
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enthusiastische „Neigung zur Vollkommenheit“103 zurückzuführen: „Wo wir Vollkommenheiten erblicken, da wünschen wir sie wachsen zu sehen“,104 heißt es in dem Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing (dessen Freundschaft Mendelssohn eben diese Chance bot). Und: „Eine jede Entwickelung unserer Kräfte ist eine Erweiterung unseres Daseyns; denn je mehr Kräfte sich bey einem Dinge äusern, desto grösser ist der Grad seiner Wirklichkeit.“105 Mendelssohns Glück, in Fromet eine Braut gefunden zu haben, die sich ihm in ihren Briefen freimütig öffnet und schreibend eine Sprache Anteil nehmender Zärtlichkeit kultiviert, ist der Widerhall solcher metaphysischer Reflexionen: Liebste Fromet! Wissen Sie, daß ich anfange, über Ihre Freundin eifersüchtig zu werden? Niemahls haben Sie sich so zärtlich ausgedrückt, niemahls waren Ihre Empfindungen so wahr, so natürlich, als da Sie mir zu der Verbindung meines Freundes mit Ihrer Freundin Glück wünschen. Mir ist eine Verbindung bekannt, an welcher Sie und ich nit wenig Antheil nehmen, und diese scheint Sie so sehr nit mit der Welt zufrieden zu machen, als das Glück Ihrer Freundin. Nun vergnügt Sie alles, was Sie sehen und hören, nun ist Ihnen die Welt schön, und ihre Bewohner freundlich und liebreich. Nun schwimmen Sie in lauter Vergnügungen, und wo ich mich nit betrüge, so hat die Freundschaft Ihr Herz auch für die Liebe auf-geschlossen, denn Sie reden nun-mehr auch von Ihrer Liebe zärtlicher als jemahls. […] Die Freundschaft allein ist Meister von Ihrem Herzen, und so-bald Ihre Freunde glücklich sind, so sind Sie es auch. Ich liebe Sie dieser Gesinnungen halber, nur desto mehr, und werde täglich lebhafter überzeugt, daß ich in meiner Wahl glücklich gewesen bin. […] Adieu meine liebe Freundin! Ich wünschte täglich solche Briefe von Ihnen zu erhalten, die so wahre, so zärtliche Freude athmen, und durch welche die Unschuld des Herzens sich so deutlich zu erkennen gibt.106
An ‚Liebe als Passion‘ ist Mendelssohn so wenig interessiert wie sein Freund Lessing. Er kultiviert sie nicht als höchste Lebensintensität, sondern erlebt sie als für sich genommen unselbstständige Phase eines Prozesses, der sein Telos in einem gemeinsamen Leben als Paar findet. Wie es sich anfühlt, verliebt zu sein, ist aber auch ihm nicht fremd. Die Spuren, die diese Erfahrung in Mendelssohns Briefen hinterlassen hat, zeigen einen ganz anderen Moses als denjenigen, der sich als verliebter Geck hier, als armer Philosoph da inszeniert, in all diesen Inszenierungen aber 103 104 105
106
So die emphatische Selbstcharakterisierung Palemons in: Mendelssohn: „Über die Empfindungen“, S. 57. Mendelssohn: „Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing“, S. 135. Ebd., S. 136. Zur Erläuterung dieses Leibniz’schen Gedankens vgl. Spaemann, Robert: „Leibniz’ Begriff der möglichen Welten“. In: R. S.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I. Stuttgart 2010, S. 149–170. Brief vom 5.6.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 32f. Mendelssohn bezieht sich auf die Verbindung zwischen Friebche Götting und Aron Gumpertz.
Moses Mendelssohns Brautbriefe
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doch als aufrichtiger choßon und ernsthafter Weltweiser erkannt werden will. Dieser Moses ist ein schüchtern wirkender Mann, der viel zu sagen hat, aber manchmal wenig zu sagen weiß und dem sich – wie er scherzend zu verstehen gibt – eine Wirklichkeit erschließt, die er bislang nur vom Hörensagen kennt: Liebste Fromet! Ich habe niemanden in der Welt mehr zu sagen, als Ihnen, und gleich-wohl bin ich jederzeit, wenn ich Ihnen schreiben soll, etwas verlegen. Zu Hamburg ist es mir nicht besser gegangen. Wenn ich nit bey Ihnen war, hatte ich Ihnen tausend-erley zu sagen, und kaum war ich in Ihrem Hause, so war alles verschwunden. Andere chaßonim [Bräutigame] wollen gleichfalls diese Erfahrung gemacht haben, allein die Ursache davon kann ich noch nit ergründen.107
In den wenigen Wochen, die Mendelssohn und Fromet in Hamburg miteinander verbringen, hat er ihr des Morgens […] mit nieder-geschlagenen b’churim- [Jünglings-]Augen gewünscht wohl geruht zu haben. Des Tages haben wir einige Stunden moralisirt, da habe ich ihr schon dreiste unter die Augen gesehen. Denn und wenn habe ich sie wider die Attacken mut-williger Leute defendirt. Des Abends habe mit ihr an einem Tisch gespeist, und endlich nach einem viel-stündigen Gespräch, eine angenehme Ruh gewünscht.108
Niedergeschlagene Augen, ein dreister Blick und: moralisieren, defendieren, Gespräche führen – so gebärden sich verliebte Philosophen. Das ganze Ausmaß menschlicher Verliebtheit aber wird sichtbar, als diese vier redseligen Wochen zu Ende gehen. Monate später wird Fromet Mendelssohn daran erinnern, dass er ihr damals „in dem wüsten GartenHäuschen“109 sein Herz zu erkennen gab. Mendelssohn antwortet: Was das Garten-Häusche betrifft? Vergessen Sie es auf ewig. Ich kann Ihnen nit beschreiben wie unruhig mein Herz damahls gewesen. Die Küsse selbst, die ich von Ihren Lippen gestohlen, waren mit einiger Bitterkeit vermischt, denn die nahe Trennung machte mich schwermütig, und unfähig, ein reines Vergnügen zu genießen. Ich ärgerte mich über-dem über meine Dummheit, daß ich Sie ganzer vier Wochen habe lieben können, ohne mich mit Ihnen tête à tête zu unterhalten. Was für angenehme Stunden habe ich nit verscherzt! ganz ungebraucht verschwinden lassen. Jezt, dachte ich, da alle Augen-Blick der Postillon dich abrufen soll, ergreifstu die erste Gelegenheit, deiner Geliebten dich zu erkennen zu geben. Das schien mir überaus törigt. Kurz, unter diesen unangenehmen Reflexionen ist endlich auch die lezte Stunde verschwunden, die ich in Hamburg zugebracht, und
107 108 109
Brief vom 29.5.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 21. Brief vom 25.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 71. Brief vom 20.4.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 131.
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ich sahe mich auf dem Post-Wagen neben R.Izik Eisenstatt. Verdient ein so halb genossenes Vergnügen, daß wir daran gedenken?110
Man muss nicht im 18. Jahrhundert gelebt haben, um solche Nöte nachvollziehen zu können und solche Philosophen wahrhaft komisch zu finden. Verwegenheit, Schwermut, Ärger über die eigene Dummheit und Reflexionen, die zu nichts anderem gut sind, als auch noch die letzten Momente zu verbittern – dies alles wird in der kleinen Szene aus der Perspektive des Erlebens vergegenwärtigt: „und ich sahe mich auf dem Post-Wagen neben R.Izik Eisenstatt.“ Mendelssohn findet hier zum Erzählen und damit zu einer ‚Sprache des Herzens‘, die selbst den ungebetenen Leserinnen und Lesern des 21. Jahrhunderts unmittelbar zugänglich ist, weil das Verständnis nicht durch den Abstraktionsgrad moralphilosophischer Begriffe und ihre semantischen Verfremdungseffekte verstellt wird. Mendelssohn verlässt Hamburg am 14. Mai 1762. Kurz darauf schreibt er den eingangs zitierten Brief an Lessing.
VII. Der verheiratete Philosoph Wer Briefe schreibt, zieht sich von den anderen zurück, um sich jemandem in Gedanken zuzuwenden, der nicht da ist. Mendelssohn, der diesen Rückzug aus der Interaktion zeit seines Lebens als Rückzug in die Einsamkeit des Bücherstudiums111 oder auch in den schriftlichen Gedankenaustausch mit den gelehrten Freunden kultiviert hatte, macht die Erfahrung, dass ihm über der Liebe die Freude an der Philosophie abhanden zu kommen droht. Auch dies ist eine Facette des Topos vom verliebten Philosophen: Bevor ich Sie kennen gelernt, meine Liebe! war die Einsamkeit ein Gan-Eden [Garten Eden] für mich. Nun wird sie mir unerträglich. Ich bin mit meinen Umständen sehr wohl zu-frieden, aber ich kann mich nit mehr so in mir selbst einschließen, als ich sonst gewohnt war. Die Studien haben noch immer große Reizungen für mich, aber sie können nit alles Leere in meiner Seele anfüllen, und ich fühle es, daß ich meine Ruhe nit ehr wieder finden werde, bis ich Sie, meine liebste Fromet! beständig vor Augen haben werde. Doch wozu diese schwermütige 110 111
Brief vom 27.4.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 133. Einsames Bücherstudium hat Mendelssohn mehrfach beargwöhnt, am dezidiertesten in der Jerusalem-Schrift, in der er beklagt, dass die „Buchstabenzeichen“ den Menschen „isoliren“ und „zum einsamen, über Schriften und Bücher brütenden Geschöpfe machen“ (Mendelssohn: Studienausgabe II, S. 192). Es sind neben gesundheitlichen auch solche Vorbehalte, die Mendelssohn dazu bewegen, Fromet von übermäßiger, v. a. von nächtlicher Lektüre abzuraten. Vgl. die Briefe vom 5.6. und 7.8.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 32f. u. S. 62.
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Gedanken? Leben Sie wohl, meine zärtlichste, meine beste Fromet! Ich merke, daß die Liebe kindisch macht. Ich umarme Sie mit der inbrünstigsten Zärtlichkeit und bin der Ihrige auf ewig[.]112
Moses Mendelssohn und Fromet Gugenheim heiraten am 22. Juni 1762. Am 4. Juli schreibt Mendelssohn an Thomas Abbt, bei dem er sich längere Zeit nicht gemeldet hatte. Dieser Brief nimmt den Ton des Briefes an Lessing auf, in dem Mendelssohn sich als „verliebter Geck“ dargestellt hatte; dem gelehrten Freund und Mitarbeiter an den Litterarischen Briefen präsentiert sich Mendelssohn nun als verheirateter Philosoph: Seit einigen Wochen habe ich keinen Freund gesprochen, an keinen Freund geschrieben, nicht gedacht, nicht gelesen, nicht geschrieben, nur getändelt, geschmauset, heilige Gebräuche beobachtet, mich bald hier bald da zur Schau ausstellen lassen, und unter tausend andern vielbedeutenden Kleinigkeiten meine Zeit hinbringen müssen; denn die Stunde ist gekommen, mein bester Freund! die mir die Muse des Abaelardi Virbii längstens angekündigt hat. Ein blauäugiges Mädchen, das ich nunmehr meine Frau nenne, hat das eiskalte Herz ihres Freundes in Empfindungen zerlassen, und seinen Geist in tausend Zerstreuungen verwickelt, aus welchen er sich nunmehr nach und nach wieder los zu winden suchet. Um mich zu sammeln, und wieder zu mir selbst zu kommen, ergreiffe ich dieses Blatt, und schreibe.113
Diesen Brief schreibt Mendelssohn „nicht Ihrentwegen, sondern einzig und allein zu meinem Vergnügen, weil mein Geist nach vernünftigem Umgange dürstet.“114 Hatte Mendelssohn sein Philosophieren in den Briefen an die Braut als durchaus eigensinnige Neigung ausgegeben, die um den Preis des Rückzugs aus dem menschlichen Miteinander erkauft ist, so kehrt er dieses Bild in dem Brief an Thomas Abbt um: Der persönliche Umgang erscheint nun als Zerstreuung, der gelehrte Briefwechsel als Möglichkeit, sich zu sammeln und zu sich selbst zu finden. – Verzichten kann man (als Mann wie als Philosoph) weder auf das eine noch auf das andere.
112 113
114
Brief vom 24.10.1761. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 93f. Brief an Thomas Abbt vom 4.7.1762. In: Mendelssohn: Brautbriefe, S. 145. Mit Abaelardus Virbius ist Hamann gemeint, der Mendelssohn in einer Streitschrift angriff, weil dieser in seiner Besprechung der Nouvelle Héloïse versichert hatte, bei den verliebten Klagen des St. Preux „eiskalt“ geblieben zu sein. Ebd., S. 146.
II. Losschreibungen
Jörg Paulus
Confessio und Sinceritas Liebes- und Glaubensbekenntnisse in Briefen (1750–1780)
Abb. 1: Johann Joseph Christian: Engel, Stuck, weiß poliert, Pfarrkirche (ehem. Abteikirche) zu Unserer Lieben Frau Zwiefalten.1
I. Der „Schweigeengel“ des oberschwäbischen Bildhauers Johann Joseph Christian (1706–1777) im Nepomuk-Altar des Zwiefaltener Münsters ist eine Figur des kulturgeschichtlichen Übergangs. Die sprechende Geste des Schweigegebots gehört, ikonographisch komplex, zum Repertoire des traditionellen Zeichensystems der Künste, das im Zeitalter des Barock
1
Vgl. Huber, Rudolf: Joseph Christian – der Bildhauer der schwäbischen Rokoko. Tübingen 1960, S. 80.
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noch einmal universelle Verweiskraft erhalten hatte.2 Im konkreten Fall ist die Geste als Hinweis auf den heiligen Johannes von Nepomuk und dessen Weigerung zu verstehen, seinem König gegenüber das Beichtgeheimnis zu brechen. Der versiegelte Brief, den der Engel mit der linken Hand vorweist und der mit dem Schriftzug „Confession“ versehen ist, ruft diesen Zusammenhang von Beichte und Martyrium zusammen mit seinen weit zurückreichenden Konnotationen auf: Ursprünglich aus der juristischen Sphäre stammend, in der die confessio, das Geständnis, Grundlage der Rechtsprechung ist, hatte sich die Bedeutung des Wortes im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen dem römischen Staat und dem Christentum gewandelt: im Martyrium als einer performativen Konfession wird nunmehr die andere Seite, also die Seite des Staates und seiner Rechtsinstanzen, in ein gleichsam höheres Unrecht gesetzt. Als Glaubensbekenntnis wird die Confessio dann sowohl zum Teil des Gottesdienstes wie zur Proklamation in religiösen Streitfragen (z.B. im Niceanischen Glaubensbekenntnis von 325 oder im Augsburger Bekenntnis von 1530). Einen zentralen Streitpunkt seit Beginn des ‚konfessionellen Zeitalters‘ bildete dabei das strittige Verständnis der Confessio als Beichte, insbesondere mit Blick auf deren Sakrament-Charakter.3 Man kann sich den Oberbegriff Confessio mithin seinerseits als einen Umschlag vorstellen, der unterschiedliche Bedeutungen als Einlagen enthält, vom konfessionellen Glaubensbekenntnis bis hin zur individuellen Beichte. In diesem Sinne ist auch Joseph Christians in den frühen 1750er Jahren entstandener Engel nicht nur figürliche Aufforderung zur Beichte, sondern auch ein später Abgesandter der Gegenreformation. Aber gerade in dieser Funktion lässt er sich auch als ein doppelsinniges, fast paradoxes Emblem seiner Zeit begreifen, das im theatrum sacrum des Kirchenraums Heiligenverehrung und moderne Postpraxis amalgamiert. Ziemlich genau 2
3
Vgl. Mrass, Marcus: Gesten und Gebärden. Begriffsbestimmung und -verwendung in Hinblick auf kunsthistorische Untersuchungen. Regensburg 2005, sowie Max Seidels Darlegungen zur Ikonographie der Tugenden in: Giovanni Pisano a Genova. Genua 1987, S. 75–119, besonders S. 103ff; zur Rhetorik der Verschwiegenheit vgl. umfassend Benthien, Claudia: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, eine Publikation, die ihrerseits auf dem Umschlag die Schweigegeste (nach einem Ölgemälde des 17. Jahrhunderts) präsentiert; zusammen mit Steffen Martus hat Claudia Benthien auch den für die in diesem Aufsatz vorgestellten Überlegungen grundlegenden Band Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert herausgegeben (Berlin 2006), worin Strategien der Sinceritas in zahlreichen Kontexten der Frühen Neuzeit reflektiert werden. Vgl. Magaß, Walter und Franz-Hubert Robling: „Confessio“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 348–349; vgl. auch neuerdings die Studie von Johanna Schumm: Confessio, Confessiones, „Circonfession“. Zum literarischen Bekenntnis bei Augustinus und Derrida. Paderborn u.a. 2013 (den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich Cornelia Ortlieb).
Liebes- und Glaubensbekenntnisse in Briefen
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gleichzeitig – im „Drei-Briefsteller-Jahr 1751“4 – erscheinen im protestantisch geprägten Kulturraum Nord- bzw. Mitteldeutschlands die wegweisenden Beiträge Christian Fürchtegott Gellerts, Johann Christoph Stockhausens und Johann Wilhelm Schauberts zur Epistolartheorie,5 die den „natürlichen, lebendigen und persönlichen Stil“ für „jegliche Briefart postulieren“,6 und eine „Epoche der Post“ einläuten.7 Wie mit der Kultur des Rokoko eine Säkularisierung der strikt aufs Jenseits hin ausgerichteten Denkweise des Barock einhergeht, so ist auch speziell der Skulptur Christians in Gestalt des gefalteten Briefes ein Verweis auf weltliche Praktiken des Bekenntnis-Ablegens mitgegeben, das nicht mehr dem barocken Bildtypus des Boten mit der gerollten Nachricht entspricht. Der bürgerliche Liebesbrief als paradigmatische Form des persönlichen Bekenntnisses tritt dabei, wie allegorisch umkleidet auch immer, in Erscheinung. Die spannungsvolle Konfiguration von Pathos-Formel und Kommunikationsgeste, von religiöser Repräsentation und Intimität, von Barock und Rokoko, hat ihren Brennpunkt in der vieldeutigen Inscriptio, die auf der Siegelseite des Schau-Briefes aus poliertem Stuck zu lesen ist.
II. Zehn Jahre später hat Johann Joseph Christian seine Arbeit an der Innenausstattung des Zwiefaltener Münsters zwar abgeschlossen, das Gesamtkunstwerk des im Wesentlichen vom genialen Münchener Baumeister des Spätbarock Johann Michael Fischer entworfenen Innenraums ist jedoch noch immer unvollendet. Zu dieser Zeit – in den Jahren zwischen 1761 und 1763 – entwickelt sich nicht weit von Zwiefalten eine Liebesbeziehung, deren Spur zwar nicht mehr in den Originaldokumenten, dafür aber in Mitteilungen an Dritte überliefert ist. Das religiös-soziale Umfeld dieser Liebe ist außergewöhnlich: Wie in einer Experimentaltopographie für die Bedingungen und Möglichkeiten konfessioneller Ein- und Zwietracht 4
5
6 7
Vgl. Barner, Wilfried: „Über die geschichtliche Position der Brieflehre Gellerts“. In: Müller, Eberhard (Hg.): „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert (Festschrift zum 80. Geburtstag von Dietrich Geyer). Tübingen 1988, S. 7–23, hier S. 13. Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig: Wendler 1751; Stockhausen, Johann Christoph: Grundsätze wohleingerichteter Briefe. Nach den neuesten und bewährtesten Mustern der Deutschen und Ausländer. Helmstedt: Weygand 1751; Schaubert, Johann Wilhelm: Anweisung zur Regelmäsigen Abfassung Teutscher Briefe und besonders der Wohlstandsbriefe. Jena: Güth – 1751. Nickisch, Reinhard M.G.: Brief. Stuttgart 1991, S. 81. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913. Berlin 1993, bes. S. 35–44.
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wird die freie Reichsstadt Biberach seit dem Westfälischen Frieden paritätisch verwaltet, die Ämter sind zwischen Katholiken und Protestanten aufgeteilt, die Stadtkirche wird von beiden Konfessionen genutzt.8 Dass es gleichwohl, vielleicht sogar gerade deshalb im öffentlichen und privaten Leben zu konfessionellen Konflikten kommen kann, erfährt der junge Kanzleiverwalter Christoph Martin Wieland auf schmerzliche und – wie er es später deuten wird – für sein Leben entscheidende Weise. Am 21. November 1761 lernt der 28-jährige Pfarrerssohn bei einem Konzert des Cäcilienvereins das katholische Bürgermädchen Christine Hogel kennen, die einen Solopart als Chorsängerin übernommen hat. Nach einem Jahr mit gelegentlichen Begegnungen zieht Christine Hogel Ende 1762 in Wielands Dienstwohnung, wodurch das Verhältnis auch unabhängig von der konfessionellen Differenz skandalösen Charakter erhält. Der Skandal eskaliert, als sich eine Schwangerschaft Christines abzeichnet. Die Eltern entziehen Christine Holgel dem Einfluss Wielands, nötigen ihn zur Entsagung und bringen ihre Tochter vor der Niederkunft bei einem Handwerker im Donautal unter. Offenherzig und mit nahezu grenzenlosem Mitteilungsbedürfnis berichtet Wieland in Briefen an seine ehemalige Verlobte Sophie La Roche, geborene Gutermann, über die Ereignisse. Die Briefsprache in der Korrespondenz mit ihr ist Französisch, und auch die eingestreuten Zitate aus dem nicht erhaltenen Briefwechsel mit Christine Hogel werden von Wieland ins Französische übertragen, obwohl diese ihm auf Deutsch geschrieben haben dürfte. Aus einem Brief der Mutter Hogel hingegen – der Hauptwidersacherin der Liebenden, deren Sorge, Wieland zufolge, vor allem darin bestand, dass er vorhabe, seine Kinder aufgrund seiner Verbindungen in die Schweiz reformiert erziehen zu lassen – zitiert Wieland in Kurrentschrift und auf Deutsch. Eingebettet in den apologetischen Konversationston seiner Korrespondenz mit Sophie La Roche, hebt sich die Passage somit sowohl graphisch wie auch stilistisch von ihrem BriefKontext nachdrücklich ab: Cependant Samédi passé avant midi la vielle Hogelin, de retour d’O++ me fait remettre le billet suivant: Eben da ich heimkomme, war mein Mann im Begriff zu
schreiben, zweiffelsohne aus besondrer Vorsicht Gottes kam ich darzu; diene ihnen dann zur Nachricht, weil mir eine Zeither alles sehr bedenklich und verdächtig vorgekommen, als haben Wir uns entschlossen, von nun an unsre Tochter wieder zu uns zu nehmen und uns dieser Bekanntschaft gänzlich zu entschla-
8
Die konfessionellen Zusammenhänge sind prägnant dargestellt bei Schelle, Hansjörg: „Neue Quellen und Untersuchungen zum Kreise Sophie von La Roches und C.M. Wielands. In: Lessing Yearbook 20 (1988), S. 205–299.
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gen, da wir unmöglich das Gewissen auf eine so gefährliche Art beschwehren können; signé tout simplement de Son illustre nom.9
In seinen zwischen Empörung und Sarkasmus schwankenden Nebenbemerkungen macht Wieland deutlich, dass er die Hauptschuld am sich abzeichnenden Scheitern der Beziehung nun seinerseits der Konfession der Mutter zuschreibt, die er andernorts als Barbarin bezeichnet – und als barbarisch versteht er offensichtlich auch ihren altertümlichen Briefstil. Auch in sich soll der Brief die konfessionelle Überzeugung der Gegenpartei ad absurdum führen: Die Hinweise auf die göttliche Providenz und auf das gefährdete Gewissen markieren dabei den konfessionellen Irrweg, dem er seinen, wie er meint, rationalen und überkonfessionellen Heilsplan zur Rettung der Geliebten entgegenstellt. Dass im Übrigen die deutsche Sprache und die Kurrentschrift hier das Signum der Barbarei und des katholischen Bekenntnisses tragen, wohingegen die lateinische Schrift und die französische Sprache konfessionelle Unabhängigkeit verkörpern, steht nur scheinbar im Widerspruch zur geläufigen Konnotation von Latinität und Katholizität. Für Wieland, dessen Weltbild zuvor sehr stark vom Kontakt zu reformierten frankophonen Kreisen geprägt war, ist es die quasi natürliche Zuschreibung, die Schrift Voltaires viel mehr als die der Kurie. Auch in den Fragmenten aus der Korrespondenz mit Christine Hogel, die Wieland Sophie La Roche paraphrasierend mitteilt, spielen konfessionelle Fragen eine Rolle, allerdings durchgängig als taktische und nicht als Bekenntnis-Fragen im strengen Sinne. Die einzige Passage aus dem Liebesbriefwechsel, die, zwar ins Französische übertragen, aber wohl doch näherungsweise wörtlich wiedergegeben wird, bezieht sich auf diesen amourösen Bekenntnis- und Geständniszusammenhang – und nicht auf die religiöse Konfession. Es ist die ungläubige Frage der Liebenden, ob es denn möglich sei, dass Wieland Verrat geübt habe an seinem LiebesBekenntnis zu ihr. Diese Frage, so berichtet Wieland am 9. November 1763 an Sophie La Roche nach Bönnigheim, habe ihm die von den Eltern in Isolation gehaltene Christine auf einem mit Bleistift beschriebenen Blatt gestellt, einem Blatt, das somit gleichfalls eine doppelte epistoläre Kennzeichnung erhält, nämlich im Hinweis auf die äußere Schriftgestalt sowie in stilistischer Hinsicht: Die von Wieland hervorgehobene Verwen9
Wieland, Christoph Martin: Briefwechsel. Akademie-Ausgabe, Bd. 3. Hg. v. Renate Petermann und Hans Werner Seiffert (im Folgenden : WB 3). Berlin 1975, S. 202,42–50, Nr. 202. Lateinische Schreibschrift ist in serifenloser Druckschrift dargestellt; Übersetzung der französischen Passage: „Jedoch am vergangenen Samstag vor Mittag ließ mir die alte Hogelin, aus O. zurückkehrend, das nachfolgende Billett zukommen […] nur mit ihrem berühmten Namen unterzeichnet“.
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dung des Bleistifts ist als ein Signal der besonderen Vertrautheit zu verstehen; die Übermittlung der von Christine Hogel gestellten Frage, ob es wahr sei, dass er ihrer Mutter schriftlich erklärt habe, nichts mehr mit ihr zu tun haben zu wollen und sie ihrem Schicksal überlassen zu wollen, wird jedoch dieser ursprünglichen Intimität durch die Übertragung ins Französische wiederum entzogen und in die Konfession an Sophie La Roche inskribiert: „s’il est vrai que j’ai declaré à sa Mere par ecrit que je ne veux plus avoir rien à faire avec elle et que je l’abandonne à son Sort?“10 Die Gewissens- und Bewährungsfrage aller Aufrichtigkeit ist vom innersten ‚Umschlag‘, dem Gespräch der Liebenden, in einen umschließenden Aufbewahrungsort übertragen worden: den Beicht-Akt gegenüber Sophie La Roche. Die Epistolarhandlungen Wielands haben freilich auch an diesem Ort eine konfessionell disponierte Vorgeschichte: Sophie Gutermann, zuvor schon einmal mit einem Katholiken, dem Italiener Bianconi, verlobt und von diesem durch konfessionell motiviertes Eingreifen ihres Vaters wieder getrennt, hatte im Dezember 1753 nach einer Phase der Entfremdung ihre Verlobung mit Wieland gelöst; dies geschah auch, nachdem sie den kurmainzischen (und somit katholischen) Sekretär Georg Michael Frank La Roche kennengelernt hatte (oder ihm wiederbegegnet war), den sie am 27. Dezember 1753 heiratete. Damals und schon zuvor, als Sophie La Roche in einem katholischen Haus in Biberach verkehrte, war es nun Wielands Mutter gewesen, die mit resoluten Briefaktionen in die amourös und konfessionell verfahrenen Verhältnisse eingegriffen und die aus ihrer Sicht dem Sohn und der Konfession abtrünnig werdende Schwiegertochter in spe verunglimpft hatte, was ihr aber zu einer gleichsam konfessionell verkehrten Brief-Welt gerät, in der ihr Sohn zum quasi-katholischen Märtyrer wird: „[…] sie taugt auff alle Sätel, das ist wahr, kein so durchtrieben Mädle wird man nicht finden, die sich weißt in allen gattungen leuth zu schicken, und sich ihnen gefällig zu machen, bis man sie lernt kennen […] wan mein Sohn das Mensch zu seiner Frau bekomt, so ist er sein lebtag ein armer Mann und Märtherer.“11 Wieland, acht Jahre später nun mit einer näherungsweise, aber doch nicht exakt gespiegelten Lebenskonstellation konfrontiert, weicht der im Brief an die Ex-Verlobte referierten Bekenntnisfrage der Geliebten in doppelter Weise aus: Sein erster Kommentar im Brief an Sophie La Roche gilt erneut der konfessionellen Gegenpartei und deren auch zuvor im Brief schon ausführlich dar10 11
WB 3, 213,188–190, Nr. 214. Regina Katharina Wieland an Johann Jakob Bodmer, 10.10.1753, WB 2, S. 199–203, hier S. 201.
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gestelltem finsteren Wirken: „Vous voyés, chere Amie“, so schließt er an das Zitat an, „les indignes moyens que cette Canaille employe pour la detacher de moi. Malheureusement il a été impossible de lui remettre ma reponse à ce billet“; mit der Geliebten habe aufgrund dieser Umstände nur noch eine Kommunikation durch Zeichen stattfinden können, die aber gleichwohl das Wesentliche aller Bekenntnisse mitteilen können: […] je suis descendu dans mon petit jardin, et elle est montée au grenier de sa maison, dont la vue donne sur mon jardin. Nous nous sommes regardés quelques momens, les sentimens dont j’etois transportés ne s’imaginent ni ne se coeur la fit succomber, elle disparût et je me retirai pour m’abandonner pendant plusieurs heures à la douleur la plus impetueuse et la plus mortelle, que de ma vie j’ai eprouvé. Je n’etois plus capable de songer aux bienseances, je ne voyois au monde que moi et ma Christine, malheureuse par moi, victime de l’excés de mon amour – je crois que même la barbare Hoglin auroit été touchée de me voir et de m’entendre.12
Der Brief an Sophie La Roche nähert sich an dieser Stelle noch stärker einer simulierten individuellen Beichte. Und die Tatsache, dass Wieland sich selbst der Unbeherrschtheit bezichtigt, verweist auf den katholischen Katechismus und dessen Sünden-Kanon, der denn auch an dieser Stelle ausdrücklich benannt wird, wenn auch abermals auf die Geliebte und brieflich konstruierte Märtyrerin bezogen: Erneut zitiert Wieland die Mutter Christines mit der Aussage: jeder Gedanke der Tochter an den Geliebten sei hinfort als „peché mortel“ zu betrachten, also als Todsünde – ein Begriff, der nun eben nicht mehr im ‚barbarischen‘ Modus der deutschen, sondern im kultivierten der französischen Sprache und der lateinischen Schrift zitiert und somit assimiliert wird. Einmal auf diese Weise erschrieben, hält Wieland an dieser Rollenaufteilung im Epistolar-Theater fest – Christine Hogel als Märtyrerin – Sophie La Roche als Beichtschwester und er selbst als reumütiger Sünder. Es findet also, bei aller verbalen Ab12
WB 3, 213–214, Nr. 214 (Übersetzung: „ Sie sehen, liebe Freundin, das sind die schamlosen Mittel, die diese Kanaille benutzt, um sie von mir zu trennen […] ich bin in meinen kleinen Garten hinuntergegangen, und sie ist auf den Speicher ihres Hauses gestiegen, von dem aus man auf meinen Garten blickt. Wir haben uns einige Augenblicke lang gesehen, die Gefühle, von denen ich erfüllt war, kann man sich weder vorstellen noch beschreiben. Eine Bewegung, die ich machte, indem ich meine Hand auf mein Herz preßte, rührte sie aufs äußerste, sie verschwand, und ich zog mich zurück, um mich mehrere Stunden dem ungestümsten und tödlichsten Schmerz hinzugeben, den ich in meinem Leben empfunden habe. Ich war nicht mehr fähig, mich zu beherrschen, ich sah nur mich auf der Welt und meine Christine, die durch mich so unglücklich wurde, ein Opfer meiner unbeherrschten Liebe – ich glaube sogar die barbarische Hoglin wäre gerührt worden, wenn sie mich so gesehen und gehört hätte“, Übersetzung zitiert nach: Bock, Heinrich [Hg.]: Wieland. Mit fliegender Feder. Ausgewählte Briefe. Frankfurt/Main 1990, S. 76–77). Die gesamte Passage ist in lateinischer Schreibschrift niedergeschrieben.
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grenzung von der anderen Konfession, zugleich eine Annäherung an diese statt – und dies geschieht in einem als Beichtbrief angelegten Schreiben, in dem Wieland wortreich nicht nur seine Leiden sondern auch seine Taten herausstellt, durch die er sich um die Liebe verdient gemacht habe. Die Literatur- und Kulturgeschichte schreibt diese hier schlaglichtartig aufgerufenen Liebesgeschichten recht einseitig fort: Während wir über Christoph Martin Wielands und Sophie La Roches weiteren Lebensweg hinreichend informiert sind und beider Briefe in Liebesbrief-Anthologien kanonisch geworden sind, bleibt Christine Hogel der von Wieland für sie vorgesehene Märtyrer-Ruhm vorenthalten; noch nicht einmal legendenhafte Andeutungen über ihren weiteren Lebensweg sind überliefert. Ihre Präsenz in der Kulturgeschichte entspricht buchstäblich jenem von Foucault bedachten „Leben des infamen Menschen“, das, „dazu bestimmt […] ohne Spur vorüberzugehen,“13 nicht mit haltbarer Tinte sondern in verschwindender Bleistift-Spur verzeichnet und in der kulturellen Überlieferung fast vollständig auf den von Wieland verwendeten Kosenamen „Bibi“ reduziert ist.
III. Die Kulturgeschichte des Briefes hat die literaturhistorische Orientierung an der als fortschrittlicher erachteten norddeutschen Schriftkultur weitgehend übernommen. Die Erforschung einer an die Handschrift gebundenen Kulturtechnik wurde damit implizit gekettet an ein Dispositiv, in welchem nicht zuletzt die regionalen Unterschiede in der Distribution von gedruckten Schriften – die ökonomisch fortschrittlichere Organisation des norddeutschen Buchhandels im Vergleich zum sogenannten „Reichsbuchhandel“ – für die kulturelle Bewertung und die daran anschließende kulturgeschichtliche Repräsentation ausschlaggebend waren. In der kulturellen Repräsentation von Liebesbriefkulturen setzt sich dies auf mehreren Ebenen fort und wird spätestens ein Jahrhundert später kanonisch: In den Briefstellern des späten 19. Jahrhunderts wie auch in den LiebesbriefAnthologien, die seit ungefähr 1900 große Verbreitung finden, dominieren eindeutig die vom Protestantismus geprägten Korrespondenzen, eine Verteilung, die sich aufgrund der starken Kanon-Bildung, die in solchen 13
Foucault, Michel: Das Leben des infamen Menschen. Berlin 2001, S. 44. Zu weiteren Figurationen des ‚infamen Menschen‘ in Liebesbriefkulturen vgl. die entsprechenden Passagen hierzu in: Paulus, Jörg: Philologie der Intimität. Liebeskorrespondenz im Jean-Paul-Kreis. Berlin, Boston 2013, S. 87 und S. 181–194.
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Anthologien stattfindet, bis in die populäre Publizistik der Gegenwart fortsetzt.14 Zum anderen orientiert sich die Erforschung von deutschsprachigen Brief- und namentlich von Liebesbriefkulturen an jenen briefstellerischen Vorgaben, die als fortschrittlich in einer literaturhistorischen Perspektive angesehen werden können, namentlich an den bereits erwähnten, um Gellerts Publikation gruppierten Titeln des Jahres 1751, das in der umfassenden Darstellung des Albrecht-Schöne-Schülers Reinhard M.G. Nickisch zum nachgerade reformatorischen annus mirabilis wird: „Die große Reform des deutschen Briefstils zugunsten der schönen Natürlichkeit und der Lebhaftigkeit“, so lautet in dessen grundlegender Studie über die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und des 18. Jahrhunderts die Hauptüberschrift des entsprechenden Kapitels,15 eine Reformation, die für Nickisch bereits bei Benjamin Neukirch als „Durchbruch zur galanten Natürlichkeit“ präfiguriert ist.16 Die damit umrissene QuasiHeilsgeschichte der Briefkultur ist auch für die einschlägigen Forschungsarbeiten zum Brief und Liebesbrief prägend, die in ihrer Auswahl der berücksichtigten Briefsteller und der exemplarischen Korrespondenzen weitgehend diesem Paradigma folgen.17 Unbestreitbar ist dabei, dass die insbesondere von Gellert propagierte natürliche Schreibart in Briefen in kurzer Zeit nachhaltige Wirkung zeitigte. Im Folgenden soll zunächst diese Spur noch einmal bekräftigt und dabei die Verquickung von Glaubens- und Liebesbekenntnis als kulturgeschichtlich prägnantes Muster noch einmal hervorgehoben werden (Abschnitt IV); dem soll dann jedoch (in Abschnitt V) ein Beispiel entgegen-
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Exemplarisch für die Briefsteller zum Beispiel Otto Friedrich Rammler’s Deutscher ReichsUniversal-Briefsteller (52. Aufl., 1882) mit Liebesbriefen von Wieland an Sophie La Roche, von Schiller an Charlotte von Lengefeld, und von Johann Heinrich Voß an Ernestine Boie; für die Auswahl vieler Anthologien bis heute maßstabsetzend waren die Liebesbriefpublikationen des Leipziger Verlegers Julius Zeitler (1874–1943), beginnend mit Deutsche Liebesbriefe aus neun Jahrhunderten (Leipzig 1905), deren Auswahl sich in Grundzügen noch in Publikationen wie Archiv des Herzens. Partnerbriefe aus neun Jahrhunderten, hg. v. Andrea und Andreas Hopf, München 1988, und ähnlichen Verlagserzeugnissen bis zur Gegenwart wiederfindet; als aktuelle publizistische Gegenreaktion auf diese Form der Einseitigkeit kann zum Beispiel die Anthologie Ohne Dich ist alles Staub. Vergessene Liebesbriefe aus hundert Jahren (München 2012) von Falko Henning und Robert Weber begriffen werden. Nickisch, Reinhard M.G.: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen 1969, S. 161– 183. Ebd., S. 141–150. Vgl. Reinlein, Tanja: Der Brief am Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 69–77, Clauss, Elke: Liebeskunst. Der Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993; zu Gellerts Bedeutung vgl. Arto-Haumacher, Rafael: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Bamberg 1995.
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gestellt werden, das zumindest eine Relativierung der Standardvorstellung erlaubt.
IV. Im Jahr 1772, also knapp 10 Jahre nach dem Ende der unglücklichen Liebesbeziehung zwischen Christine Hogel und Christoph Martin Wieland, lernt die Tochter des mit Lessing befreundeten Theologen Konrad (Conrad) Arnold Schmid, Marie Dorothea Schmid (1751–1799), ihren späteren Ehemann kennen, den Professor der alten Sprachen und der Theologie am Collegium Carolinum in Braunschweig sowie Fortsetzer von Wielands Projekt einer Übersetzung der Werke William Shakespeares ins Deutsche, Johann Joachim Eschenburg (1743–1820).18 Der erste Brief Marie Dorothea Schmids – Eschenburgs Gegenbriefe sind leider nicht überliefert – wird nicht von Braunschweig aus geschrieben, sondern von einem längeren Landaufenthalt. Eine persönliche Bekanntschaft geht dem Schreiben ganz offensichtlich bereits voraus. Marie Dorothea Schmid schreibt am 6. Juli 1773: Welch eine angenehme Freude haben Sie mir mein bester Freund, mit Ihrem freundschaftlichen Briefe gemacht, da ich noch dazu eine kleine Ahndung vorher davon hatte, ich [überschrieben: nicht] weiß nicht wie daß kam aber ich wünschte immer daß doch nur Sontag erst kommen möchte, endlich kam der gute Tag, und mit ihn wurde meine Süsse Ahndung erfült, ich glaube, mein liebster Freund daß ich Ihnen aufrichtig, zwar mit einiges erröhten gestehen darf, daß mein Herz vor Freude Klopfte, und daß meine ganze Sele den Augenblick bey Ihnen war, und Ihnen mit der grösesten Lebhaftigkeit alle [alle überschrieben aus: die] die Freundschafts Versicherungen ausschütete, deren menge sie kaum mehr tragen konte, o fühlten Sie nicht auch in dem Augenblick einen kleinen Sanften Druck in Ihrer Hand? und konten Sie nicht gleich errahten, daß er von Ihrer Freundin kam?19
Auf welche Weise wird hier ein Geständnis zum Brieftransport vorbereitet? Das Vehikel ist offenbar die empfindsame Freundschaftsversicherung, das Geständnis selbst verkleidet sich aber in Formeln der verbalisierten Körpersprache: das Erröten, den Herzschlag. Allerdings wird 18
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Die nachfolgend mitgeteilten Briefe sind als Ergänzung zu den bislang unveröffentlichten Privatbriefen zu verstehen, die ich in meinem Beitrag zu dem von Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel veröffentlichten Band Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik (Heidelberg 2013) zitiert habe (Paulus, Jörg: „Eschenburgs familiäre Korrespondenz: Braunschweiger Archiv-Bestände“, S. 343–359). Die Briefe Maria Dorothea Schmids an Eschenburg sind im Landesarchiv NordrheinWestphalen in Detmold erhalten und werden nach den Originalhandschriften zitiert. Archiv-Signatur D 72 Eschenburg, J.J. Nr. 5.
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dieses Geständnis, das durch die Sofortkorrekturen noch Bekräftigung erfährt, mit einem weiteren zeittypischen Attribut versehen: aufrichtig, so schreibt Dorothea Schmid ausdrücklich, sei dieses Geständnis. Die Vokabel findet sich inflationär in diesen ersten Briefen Marie Dorothea Schmids wie überhaupt in Briefen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist hier aber doch, wie das Wort im weiteren Verlauf des Briefs in eine nicht abreißende Kette eingebunden wird, worin es immer wieder zur Bedingung und zugleich zur Konsequenz und als solche dann wieder zur Bedingung des gegenseitigen Verständnisses gemacht wird. Auf die bereits zitierte rhetorische Frage „konten Sie nicht gleich errahten, daß er [der Händedruck] von Ihrer Freundin kam?“ gibt der Brief selbst noch am unteren Blattrand der ersten Seite des insgesamt ein Doppelblatt füllenden Briefes die Antwort: […] ganz gewiß erriethen Sie es, den ich fühlte es Ja daß meine | Hand gleich wieder von der Ihrigen ergriffen wurde, und daß Sie sie an Ihr Freundschaftliches Herz drücken, und sie mit Ihren Lippen berührten, angenehme Einbildung zu welch einer Aufrichtigkeit bringst Du mich, du zeigst meinen Freunde mein ganzes Herz, doch warum solt er es auch nicht sehn? Warum solt ich ihn nicht aufrichtig gestehn, daß ich ihn hochschätze, und daß er den meisten Plaß in meinen Herzen hat, nicht wahr liebster Freund ich würde unbillig gegen mich selbst handeln wenn ich mir dieses Vergnügen aus blossen Wohlstand versagen wolte, noch dazu da Sie mir so oft von Ihrer Seite durch diese Versicherung so viele Freude gemacht haben, und noch immer aufs neue wieder machen, und da ich nie an der Aufrichtigkeit und Fortdauer derselben zweifeln darf.20
Das von den Briefstellern seit der Jahrhundertmitte propagierte Ideal der natürlichen Aufrichtigkeit, der Sinceritas, führt zu einer Art DominoEffekt der Aufrichtigkeits-Beteuerungen. Dieser Automatismus speist sich natürlich aus rhetorischen und theologischen Quellen, die für die Briefsteller gleichfalls maßgeblich sind: Die Formeln der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, die den Text grundieren, sind gegen die Verstellung, die Dissimulatio, gerichtet und haben in dieser Frontstellung ihre Karriere in der Briefkultur um 1770 längst gemacht. Aufrichtigkeit ist hier also in der Tat jener selbstverständliche „Charakterzug, der in einer aufgeklärten Herzensfreundschaft keinesfalls fehlen darf, ja sie allererst stiftet“, wie es Joachim Jacob formuliert hat.21 In auffälliger Weise werden diese Konzepte nun aber mit dem Konzept der „Einbildungskraft“ verwoben, das um 1770 doch bereits dem ästhetischen Deputat des religiös eher skeptischen 20 21
Ebd. Jacob, Joachim: „‚Wäre ich Ihr Klopstock für seine Meta‘. Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock, Hamburg, 4. April 1751.“ In: Braungart, Georg, Friedemann Harzer, Hans Peter Neureuter und Gertrud M. Rösch (Hg.): Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgeschichte. Tübingen 2004, S. 29–41, hier S. 32.
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Adressaten zuzuordnen ist. Der säkulare und soziale Begriff des Wohlstandes (im Sinne von Wohlanstand) jedenfalls wird demgegenüber ins zweite Glied verwiesen. Es wäre zu kurz gedacht, wenn man mit Hinweis auf die religiösen Ursprünge des Aufrichtigkeits-Topos eine fortdauernde Abhängigkeit vom religiösen Dispositiv behaupten wollte. Und dies nicht nur, weil die Einbildungskraft ins Spiel gebracht wird, sondern auch, weil der sich selbst tragende Aufschwung der Aufrichtigkeit den Keim des Abfalls in sich trägt, ebenso wie zwei Jahrzehnte später die auf individuelle Wahrhaftigkeit gegründete „Revolution in der Gesinnung“ in Kants Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft der theologischen Orthodoxie zu Recht verdächtig wurde, in eine Richtung zu weisen, in der sich die Gläubigen aus den Grenzen der Religion freisprechen konnten. Wer das Liebesgeständnis mit Aufrichtigkeit fundiert und ad infinitum zu reproduzieren vermag, ist auf höheren Beistand nicht angewiesen. Vollkommene Harmonie lässt sich denn auch im Zeichen der sich selbst reproduzierenden Aufrichtigkeit nicht gewährleisten. Nachdem Dorothea Schmid in die Stadt zurückgekehrt ist, folgt eine Reihe von formlosen, undatierten Schreiben, die dem nahekommen, was Conrad Wiedemann die „Urform des Liebesbriefes“ genannt hat,22 und die gerade deshalb amouröse Bekenntnisse allenfalls sind, aber nicht ablegen. Dies ändert sich jedoch um den Jahreswechsel 1773/74, als sich längere undatierte Briefe finden, in denen Dorothea Schmid Eschenburg bittet, sich ihren Eltern gegenüber als Liebender zu bekennen. Die Confessio ändert also wieder einmal ihre Gestalt und Funktion. Zwar versucht Dorothea Schmid im nächsten Brief, die Folgen dieser Bekenntnis-Forderung in Grenzen zu halten, indem sie sie noch einmal als „große Probe meiner Freund Aufrichtigkeit“ deutet, und so Confessio und Sinceritas nocheinmal aneinander koppelt. Das durchstrichene Wort „Freund“ ist dabei gleichsam als Warntafel oder Non-Plus-Ultra-Schild zu lesen, hinter dem die Aufrichtigkeit eine Richtung nehmen könnte, die auf das Scheitern der Beziehung zuläuft. Der Adressat indes scheint das Warnzeichen übersehen zu haben. Denn der nächste Brief Dorothea Schmids trägt nun erstmals wieder ein Datum und versucht zumindest, die aufrichtige Drohung einer Degradierung zum Freund umzusetzen. Es handelt sich dabei um ein erstaunliches Dokument: durch ständiges Schwanken, Kippen und Wiederaufrichten der Gefühle, Forderungen und Wünsche entsteht so 22
Vgl. Wiedemann, Conrad: „Die Liebesbriefe Friedrich Wilhelms II. von Preußen an Wilhelmine Enke“. In: Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008, S. 62–73.
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etwas wie das Vexierbild einer zerrissenen Seele, die über die Zuverlässigkeit von Bekenntnissen grundsätzlich ins Zweifeln geraten ist: Freitags d 11 März Abens um 6 Uhr Eben haben Sie mich verlassen, mein bester Freund, aber wie? ach in einer Bewegung, die ich nie hofte wieder für Sie zu empfinden, und die ich noch vor einer halben Stunde gänßlich glaubte besiegt zu haben, aber ach, wie sehr habe ich mich betrogen, wie schlecht habe ich meinen ernstlichen Vorsaß Sie nicht mehr zu lieben ausführen können nachdem ich Sie heute gesehen, gesprochen und meine Hand von der Ihrigen Zärtlich gedrückt ist, o warum bester Freund thaten Sie das? warum waren Sie nicht eben so gleichgültig gegen mich als Gestern? vielleicht hatte ich dan meinen Vorsaß ausführen können, was sage ich, nein, niemals, niemals, werde ich es können, und doch muß ich es, und wil es, Ja Sie solten | Ihre Freyheit wieder haben, ich kan es nicht mehr ertragen daß Sie noch ein Mädgen lieben müssen, gegen den Sie doch nur blosse Re[c]htschaffenheit haben, und keine Neigung mehr, o waß sollte wohl aus diesen Mädgen werden, wen ihr nach vielen Jahren auch dieses verloren ginge, ob ich gleich nicht so schlecht von Ihnen liebster Freund denken kan, weil ich Sie schon zu lange und zu gut kenne, so würde mich doch auch der Gedanke quälen daß ich nur allein dadurch Ihre Treue erhalten hätte weil ich Ihnen zu sehr meine Liebe hätte merken lassen, ich muß Ihnen gestehn daß ich oft mir die größesten vorwürfe gebe daß ich Ihnen meine Liebe so bald und so aufrichtig gestanden habe, | und noch dazu [dazu nachtr. üdZ] ohne meiner besten Eltern ihr Wissen, doch dieser Gedanke ist mir lange nicht so schrecklich als der ob ich Ihnen auch wohl mit meiner Liebe zuvor gekommen bin, o daß würde mich sehr Erniedrigen, nein, davon habe ich einen sichern Beweis in meinen Händen, Ihre Briefe, mein bester Freund, ich darf nur einige davon wieder lesen, so bin ich völlig von dieser Seite getröstet, ich habe mich auch wirklich diesen süssen Trost verschafft, indem ich nicht nur einen von Ihren Briefen, sondern sie alle von den Erstern bis zum leztern durch gelesen habe, ach könten auch Sie diese vortrefliche Briefe lesen, so würden Sie sich gewiß selbst anklagen müssen, daß Sie ein Mädgen daß nicht ganß ohne empfindung ist, die Zärtlichste Liebe eingeflößt und kennen gelernt haben, ja Sie, | nur Sie allein haben es gemacht daß ich weiß was Liebe ist, ein anderer, ein Freund wie Sie damals glaubten, hat den geringsten Antheil daran. Doch wie verirre ich mich so weit, ich wollte Ihnen nichts weiter sagen, als daß ich mich fürgenommen habe, Sie so viel wie es mir möglich ist mit der Gleichgültigkeit zu sehn, und zu sprechen, und Sie zu bitten, mich in diesem Vorhaben nicht zu stören, sondern vielmehr eben diese Gleichgültigkeit gegen mich zu bezeugen sie mag nun natürlich, oder nicht sein so bin ich doch versichert Sie werden mir diese Bitte nicht abschlagen, und gleich den Anfang damit machen wen Sie diesen Brief gelesen haben und mich wieder sehen werden. Leben Sie wohl mein nun noch alzuwehrter Freund. verzein Sie dieses Geschmiere, welches bey nahe ganz im Dunkeln geschrieben, es ist unmöglich daß Sie es lesen können. noch einmahl leben Sie wohl wen Ihnen meine künftige Glückseligkeit lieb ist so wenden Sie alle Mittel an mich unempfindlich gegen Sie zu machen.23 23
D 72 Eschenburg, J.J., Nr. 5.
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In der verschriftlichten Verwirrung der Gefühle wird das Ideal der Natürlichkeit zu Fall gebracht, „Gleichgültigkeit“, „mag [sie] natürlich sein, oder nicht“ wird proklamiert, zugleich aber ihr Gegenteil signalisiert, die eigenen Affekte, auf die Aufrichtigkeit sich doch allein gründen könnte, sind inkommensurabel geworden, das Gellert’sche Subjekt der Natürlichkeit ist dabei, sich selbst zu verlieren, auch die religiöse Instanz kann nichts restituieren, einzig die abgelegten Liebesbriefe stiften so etwas wie Verlässlichkeit, aber dem Absender sind sie nicht mehr zur Hand. Dorothea Schmid spielt also mit hohem Einsatz; und sie gewinnt und verliert zugleich. Der Verlust wird spürbar im Brief vom Folgetag, der von verstörender Nüchternheit gekennzeichnet ist, nun aber die Disposition des künftigen Eheglücks ganz dem Mann überschreibt: „Ja bester Freund,“, so schreibt sie, „Ihre Rechtschaffenheit in der ich unmöglich keinen Zweifel mehr sezen darf überredet mich mein Herz nicht mehr zu zwingen, sondern es Ihnen völlig zu überlassen, es ist also von nun an auf immer ganz in Ihren Händen, und Sie können es wen Sie wollen, wen es Ihre Umständen und Ihr Schicksal erlauben wil, glücklich machen, es sey um welche Zeit es wil, den ich bin nun mehro überzeugt, daß Sie es alles wohl mit Vergnügen thun werden und daß es Ihnen nicht so gehen wird, als unsern Ebert, der nur seine Frau hat nehmen müssen weil man ihn dazu Zwang, ich glaube mein liebster Freund, daß Sie es mir gewiß aufrichtig gestehn werden, wen Sie nicht mehr daß für mich empfinden waß man doch nothwendig für diejenige Person empfinden muß, mit der man | mal glücklich zu leben denkt Doch Sie haben mir ja allen diesen Zweifel benommen, indem Sie mir noch heute die Versicherung Ihrer vollständigen Liebe gegeben haben, und dabey die billigsten Vorschläge thun gethan, welche mich sehr beruhigt haben, und an deren Ausführung ich nun nie wieder zweifeln will, ich überlasse Ihnen nun also mein ganseß Schicksal, machen Sie daraus waß Sie wollen […].“24 Aufrichtigkeit ist hier restituiert, aber nicht ad integrum, sondern in eine andere Gestalt gleichen Namens. Der künftige Ehemann wird inthronisiert und mit nahezu göttlicher Verfügungsgewalt über das individuelle Schicksal und dessen Aufrichtigkeits-Organ, das Herz, ausgestattet. Die Irrungen und Wirrungen der Aufrichtigkeit und ihrer Konfessionen haben ihren Platz im noch größeren Umschlag, dem der konfessionell normierten Ehe gefunden.
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Ebd.
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V. Sucht man nach Briefstellern, die im katholisch geprägten Buchhandel Süddeutschlands zwischen 1750 und 1780 erschienen sind, also sozusagen im Wilden Süden der Briefkultur, so wird man zunächst tatsächlich eine gewisse Rückständigkeit zugestehen. Wenn 1753 im konfessionell freilich auch pluralistischen Augsburg (Sophie Gutermann stammt ebenso von dort wie viele von Wielands Verwandten) ein Adeliches Briefbuch, enthaltend 300[.] wohlabgefassete Schreiben so wohl in Privat-Angelegenheiten als auch in Fürstlichen Verrichtungen zum Gebrauche Junger Herrn von Adel […] aufgelegt wird, dann sind die Liebesbriefe, die in diesem Kompendium unter der Überschrift „Einer Dame die Declaration seiner Liebe thun“ mitgeteilt werden,25 genau von jener Art, die Gellert als unnatürlich verdammt hatte;26 „Hoch-Wohlgebohrnes Fräulein!“, so steht dort in einem der Musterbirefe aus der Klasse der „verliebten Briefe“, „Ich erinnere mich mit allem unterthänigen Respect des gnädigen, aber auch ziemlich curieusen Befehls, den Ew. Hoch-Wohlgeb. Gnaden mir gestern, da Hoch-Ihnen von dem grossen Ball […] nach Hause zu begleiten die hohe Gnade und Ehre hatte, bey dem Adieu! zu ertheilen geruhen wollen, nemlich: daß HochDeroselben meine aufrichtige Erklärung, welche unter allen darauf mitgewesenen Dames mir die schönste vorkommen wäre, schriftlich eingeben solte.“27 Die eingeforderte schriftlich Aufrichtigkeitsbestätigung findet sodann ihren Ausdruck in einer versifizierten Cedat-Formel zugunsten der Angeschriebenen und zuungunsten der anderen Damen, „die man hier vor die Schönsten hält“, mithin in Versen, hinter deren Abgegriffenheit ein letzter, entferntester Abglanz des europäischen Petrarkismus zu erahnen ist. Die Aufrichtigkeit, die die bürgerlichen Briefsteller im Sinn hatten, war natürlich eine andere; Stockhausen hebt gegen die galanten Liebesbriefe die „ernsthaften Liebeserklärungen“ ab, also solche, die dem Gebot der Sinceritas, der Aufrichtigkeit folgen; in den ernsthaften Briefen aber müsse der Briefschreiber „den Affect natürlich und ungekünstelt ausdrücken, die Empfindungen des Herzens haben weit mehr Antheil daran, als 25
26
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[Hohenwald, Karl von]: Adeliches Briefbuch, enthaltend 300[.] wohlabgefassete Schreiben so wohl in Privat-Angelegenheiten als auch in Fürstlichen Verrichtungen zum Gebrauche Junger Herrn von Adel. Augsburg 1753, S. 155–158. Für Gellert wie auch für Stockhausen bildet freilich vor allem die Neu aufgerichtete Liebeskammer des protestantischen Polyhistors Erasmus Finx, genannt Erasmus Francisci, das anstößige Gegenmodell, vgl. Gellert: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. von Bernd Witte, S. 148; vgl. Stockhausen: Grundsätze, S. 194. Adeliches Briefbuch, S. 157.
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der Witz; weil ein Brief, der gar zu studiert und gar zu witzig aussiehet, die Richtigkeit der Liebe selbst verdächtig macht.“28 Petrarkistische Formeln gelten für ihn geradezu als Indikatoren der Nicht-Aufrichtigkeit: Wie artig lautet es, wenn man von diamantenen Herzen, von Sündfluthen der Thränen, von korallenen Lippen, von allabasternen Händen, von Nectar der Küsse redet, oder die Augen zu Sternen und den Odem zu lauter Ambra und Zibeth macht? Eine so kostbare oder eine so wohlriechende Schreibart schickt sich für keine Liebe, die noch etwas vernünftig ist. Man muß diese schwülstige Schreibart auch nicht einmal in galanten Liebesbriefen gebrauchen, wenn man sich nicht mit Fleis vorgesetzet hat, lächerlich zu werden.29
Es finden sich jedoch auch Briefsteller aus dem Bereich des Reichsbuchhandels, die sich mit den Argumenten der norddeutschen BriefstellerPräceptoren nicht ganz so leicht ausstechen lassen, Briefsteller nämlich, die eine individuelle Briefsprache in Liebesbriefen vermitteln und dabei gleichwohl konfessionell spezifische Akzente setzen. Ein Beispiel findet sich in dem mehrfach neu aufgelegten Briefbuch von Johann Maximilian Ziegler, worin das „Einladungsschreiben einer Jungfrau, welche ihren Liebsten ersuchet sie zu einer Andacht zu begleiten“ (so der Verweis im Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches), mit dazugehöriger Antwort mitgeteilt wird. Brief und Gegenbrief zeigen dabei ein Szenario, in dem Aufrichtigkeit und Verstellung nicht so eindeutig mit den Kategorien des Ernsthaften und des Scherzhaften zu belegen sind wie sich zum Beispiel Stockhausen dies vorstellt: Hochgeehrtester Herr! Sie wissen, daß meine Großmutter schon etwelche Monate krank zu Bette lieget. Nun hat unsere Base N. meine Schwester und ich ein Versprechen gemacht, morgen mit blossen Füssen eine Wallfahrt nach N. zu verichten [sic], um allda die Gesundheit benenneter Großmutter zu erbitten. Ich war so frey auch sie in dem gethanen Versprechen einzuschließen, denn ich zweifelte nicht, sie würden auf Begehren uns einen Geleitsmann abgeben. Welches ich, um heute noch die Vorbereitungen machen zu können, hiemit berichten wollen. Aber merken sie wohl die ganze Reise wird ohne auszusetzen mit Bethen zugebracht. Sollten sie wider Verhoffen lachen, oder jemand aus uns zum Lachen bewegen, so werde ich ein Mittel wissen, sie eine ganze Woche weinend zu machen. Indessen, sie bis Morgen gegen die 6te Stunde erwartend, verharre Meines hochgeehrtesten Herrn Geneigteste Dienerin NN.30 28 29 30
Stockhausen: Grundsätze, S. 191. Ebd., S. 192. Johann Conrad Maximilian Ziegler: Neuestes Brief-Buch, worinnen die allerbeste, und noch niemals durch den Druck an das Licht gekommene Briefe, nach der neuesten deutschen Schreibart befindlich […] und nach dem heutigen Geschmack eingerichtet und vermehret. Wien: Weingandische Buchhandlung 1776, S. 117.
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Die Antwort enthält abermals eine petrarkistische Formel, die aber keine eindeutige Auflösung oder gar briefstellerische Moral mehr zulässt: Hochgeehrteste Jungfer! Ich wollte lieber zweymal für die ewige Ruhe, als nur einmal für die Wiedergenesung Dero Frau Großmutter bitten, denn ich finde nicht die mindeste Ursach, ihr wohl zu wollen; indem sie mir so viele hundert Stunde beschwerlich gefallen; jedoch werde ich ihnen zu gefallen der versprochenen Andacht beywohnen, und sie mit blossen Füßen begleiten, mit diesem Bedinge aber, daß wir mit einer Kutsche an dem bestimmten Ort fahren. Werden Sie diese Bedingniße nicht eingehen, so versichere, daß ich mir die Mühe geben werde, zu Haus zu verbleiben. Sie mögen einen solchen Wallfahrtsgang wohl ausstehen, denn ihre Füße sind vielleicht eben so hart, als es ihr Herz ist. Die meinigen sind, so wie das Gemüth, viel zu weich und zärtlich, und also zu einem so rauhen Spaziergang untüchtig. Ich verharre indessen in Erwartung eines andern Entschlußes, Meiner hochgeehrtesten Jungfer Ergebenster Diener N.N.31
In den Briefstellern aus dem protestantischen Raum lassen sich entsprechend konfessionell markierte Passagen in der exemplarischen Liebeskorrespondenz kaum nachweisen, würde dies doch dem Universal-Anspruch der Natürlichkeit widersprechen. Die Erfahrung, die eine Dorothea Schmid im Briefwechsel macht, nämlich entweder ad infinitum auf Formeln der Aufrichtigkeit rekurrieren zu müssen oder die Aufrichtigkeit in letzter vorehelicher Instanz unter die Verfügungsgewalt des künftigen Ehemanns zu stellen, sind in solchen variablen Formationen des Bekenntnisses sozusagen schon unterlaufen.
VI. Die kanonisch gewordenen Liebesbriefe aus dem nicht-protestantischen deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts sind jene Wolfgang Amadeus Mozarts (namentlich diejenigen an das „Bäsle“ in Augsburg), deren subversive Sprachphantasie und Freizügigkeit gegenüber briefstellerischen Vorgaben in der Tat bemerkenswert ist. Eine Untersuchung dieser Briefe im Rahmen der Liebesbriefforschung steht noch aus. Einige Beobachtungen zur Vor- und Frühgeschichte des Briefschreibers Mozart, die durch die vorbildliche Bereitstellung von Autographen-Digitalisaten und Transkriptionen der „Briefe und Aufzeichnungen zu W.A. Mozart und seiner Familie aus den Beständen der Stiftung Mozarteum Salzburg“ nun auch integral unter Berücksichtigung der Handschriften ermöglicht 31
Ebd., S. 118.
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werden, sollen den vorliegenden Beitrag nicht so sehr abschließen als vielmehr mit Blick auf weiterführende Untersuchungen öffnen. Auf dem Weg nach Paris und auf der Suche nach einer attraktiven Anstellung hält sich der 22-jährige Mozart mit seiner Mutter Anna Maria Mozart geb. Pertl im Herbst und Winter 1777/1778 in Mannheim auf, der Stadt der europaweit berühmten Hofkapelle, wo gerade die zweite deutsche Oper Christoph Martin Wielands und Anton Schweitzers, Rosamunde, vorbereitet wird – nach seiner Begegnung mit Wieland schriebt Mozart an den Vater die Zeilen mit der bekannten, etwas abschätzigen Charakterisierung des Dichters, dessen „ziemlich kindische stimme“ und „beständiges gläselgucken“ samt einer „gewisse[n] gelehrte[n] grobheit“ und „herablassung“ vermerkt wird, sowie die Tatsache, dass bei den weitläufigen Ausführungen des Dichters die Zuhörer immer „lange in der erwartung seyn“ müssten, weil dieser einen Sprachfehler, einen „defect in der Zunge“, habe.32 Im Briefwechsel von Mutter und Sohn mit Ehemann/Vater und Tochter/Schwester, die in Salzburg geblieben sind, spielen nun auch Fragen der Confessio in mehrfacher Codierung eine Rolle. So zum Beispiel, wenn Wolfgang Amadeus in der Nachschrift zu einem Brief der Mutter an ihren Ehemann, der den Sohn ermahnt hatte, die Beichte nicht zu versäumen, eine Art Beicht-Komödie aufführt, indem er berichtet, in der Familie des Komponisten Cannabich „ganz leichtweg gereimmet“ zu haben, und zwar „lauter Sauereyen, nemmlich, vom Dreck, scheissen und arschlecken“ – und so müsse er nun, da er „ordentlich freüde daran“ gehabt habe, die Confessio ablegen: „ich bekenne alle diese meine sünden und vergehungen von grund meines herzen, und in der hofnung sie öfter bekennen zu därfen […] darum bitte ich um die heilige dispensation.“33 Mit Blick auf eine geplante Reise gibt Leopold Mozart seiner Frau am 4. Dezember 1777 dann zu bedenken, daß am Reiseziel „keine Catholische kirche“ zu finden sein werde, „da alles lutherisch oder Calvinisch ist. Ich will also daß ihr euch da nicht zu lange aufhaltet.“34 Die Mutter reagiert gelassen auf diese Überlegungen, der Sohn macht sich den strengen konfessionellen Anspruch des Vaters bei Gelegenheit sogar zunutze: Nachdem er sich in die Sängerin Aloysia Weber verliebt hat, bekennt er 32
33
34
http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=962&cat=2 (Stand jeweils: 1.4.2013). Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Hg. v. der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg, gesammelt und erläutert v. Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Bd. 2 (1777–1779). Kassel 1962, S. 124, Nr. 373. http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=949&cat=2, vgl. Bauer/Deutsch, Bd. 2, S. 168.
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sich am 4. Februar 1778 zu dieser neuen Zuneigung, indem er das Banner des Katholizismus schwenkt: „ich habe […] das unaussprechliche vergnügen mit grund-Ehrlichen, gut katholischen und Christlichen leüten in bekanntschaft gekommen zu seyn“35 – um dann aber drei Tage später im Zusammenhang mit einem Kommentar zu einer vom Vater mitgeteilten Salzburger Hochzeit sein Ideal einer autonomen Liebe zu statuieren, die vom Reglement, das im Reich der Notwendigkeiten herrscht, losgesprochen wird: […] das ist halt wiederum eine geld heyrath, sonst weiter nichts. so möchte ich nicht heyrathen; ich will meine frau glücklich machen, und nicht mein glück durch sie machen. drum will ichs auch bleiben lassen, und meine goldene freiheit genüssen, bis ich so gut stehe, daß ich weib und kinder ernähren kan. dem h. von schidenhofen war es nothwendig sich eine reiche frau zu wählen; das macht sein adl. Noble leüte müssen nie nach gusto und liebe heyrathen, sondern Nur aus interesse, und allerhand nebenabsichten; es stünde auch solchen hohen Personnen gar nicht gut wenn sie ihre frau etwa noch liebeten, nachdemm sie schon ihre schuldigkeit gethan, und ihnen einen Plumpen Majorads-herrn zur welt gebracht hat. aber wir arme gemeine leüte, wir müssen nicht allein eine frau nehmen, die wir und die uns liebt, sondern wir därfen, können, und wollen so eine nehmen, weil wir nicht noble, nicht hochgebohren und adlich, und nicht reich sind, wohl aber niedrig, schlecht und arm, folglich keine reiche frau brauchen, weil unser reichthum nur mit uns aus-stirbt, denn wir haben ihn im kopf; – – und diesen kann uns kein mensch nehmen, ausgenommen mann hauete uns den kopf ab, und dann – – brauchen wir nichts mehr.36
VII. Die verwickelten und oft widersprüchlichen Spuren der Aufrichtigkeit und der wechselseitigen Konfessionen, denen wir auf wenigen Stationen zwischen 1750 und 1780 gefolgt sind, endeten in einem ganz neuen, konfessionell kaum mehr zuordenbaren Kontext, der gleichwohl vom liberalen Geist eines Christoph Martin Wieland, von dem wir ausgegangen sind, nicht sehr weit entfernt liegt. Bruno Latour hat in seinem Buch über die religiöse Rede, die er durchgängig mit der Liebesrede parallelisiert, die Frage nach den Übersetzungsprozessen gestellt, die sich zum Teil unbemerkt in unserer Welt ereignen – in der Welt des Wissens ebenso wie der
35
36
Bauer/Deutsch, Bd. 2, S. 252, vgl.: http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=980&cat=2. Brief vom 7.2.1778, http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=983&cat=2, vgl. Bauer/Deutsch Bd. 2, S. 263–264.
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des Glaubens oder der des Wünschens.37 Dabei können, so Latour, manchmal Konzepte, ohne dass wir es bemerken, sich ins Gegenteil dessen verwandeln, was wir früher einmal mit ihnen verbunden haben. Übersetzungsprozesse dieser Art lassen sich auch in den untersuchten Beispielen nachvollziehen: Wie in der großen Erzählung über die Confessio finden sich auch in unzähligen kleinen Konfessions-Geschichten, als die wir Korrespondenzen rekonstruieren, ständig Übersetzungen, die zum Teil den ursprünglichen Sinn ins Gegenteil verkehren. Und so wie zu Beginn des christlichen Zeitalters die Märtyrer und ihre nachfolgenden Propagandisten durch ihre Umdeutung der Confessio den Ankläger zum Angeklagten gemacht haben, kann zum Beispiel die Rede von der Aufrichtigkeit im Briefgespräch des 18. Jahrhunderts ihre Funktion verändern, sie kann aber offenbar auch in den vorausgehenden Zustand zurückversetzt werden. Vielleicht sind solche reversiblen Übersetzungsmöglichkeiten keine exklusive Eigenschaft von Liebesbriefen, zweifellos aber treten sie dort mit besonderer Vehemenz auf.
37
Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede (frz. Original: Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse, 2002). Frankfurt/Main 2011.
Ulrike Leuschner
„[…] ein gar zu kostbahres pfand“1 Modulationen der Zärtlichkeit in den Liebesbriefen des Georg Ernst von und zu Gilsa und der Henriette von der Malsburg Liebesbriefe des G. E. von und zu Gilsa und der H. von der Malsburg Als ein Angehöriger der Familie von Gilsa in Gilsa, einem gleichnamigen Dorf in Nordhessen, 2007 die Familienbibliothek neu ordnete, tauchten die schriftlichen Hinterlassenschaften seines Vorfahren Georg Ernst von und zu Gilsa auf. Für die Historiker weit über die Regionalgeschichte hinaus bedeutend sind das Tagebuch Gilsas, das nahezu lückenlos2 die Ereignisse von 1754 bis wenige Monate vor Georg Ernst von und zu Gilsas Tod im Jahre 1798 umfasst, und die Briefe ihm befreundeter Offiziere aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, an dem sie unter den hessen-kasselischen Subsidientruppen auf Seiten der Engländer teilnahmen. Ein Herausgeberteam im Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg legte unter der Leitung von Holger Th. Gräf 2010 die Editionen der beiden Konvolute vor.3 Was aber bei Recherchen im Sommer 2008 noch zutage trat, war ein sorgfältig verschnürtes Päckchen mit rund 130 Briefen, die Gilsa und seine Freundin, Braut und Ehefrau Henriette von der Malsburg gewechselt hatten. Nach ihrem Tod hatte der Witwer die schriftlichen Zeugnisse des großen kurzen Glücks sorgfältig verwahrt, noch die Art der Aufbewahrung teilte etwas von sei1
2 3
Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Marburg, Anfang Juli 1766 (vor Henriettes Abreise auf das Familiengut derer von der Malsburg nach Escheberg; das „Pfand“ sind ihre Abschiedstränen). Nicht mehr vorhanden ist lediglich das Heft für den Zeitraum September 1790 bis Juli 1792. Gräf, Holger Th., Lena Haunert u. Christoph Kampmann (Hg.): Adliges Leben am Ausgang des Ancien Régime. Die Tagebuchaufzeichnungen (1754–1798) des Georg Ernst von und zu Gilsa. Marburg 2010 (= Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte herausgegeben vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Bd. 26); – Dies. (Hg.): Krieg in Amerika und Aufklärung in Hessen. Die Privatbriefe (1772–1784) an Georg Ernst von und zu Gilsa. Marburg 2010 (= Untersuchungen und Materialien zur Verfassungsund Landesgeschichte herausgegeben vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Bd. 27).
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ner tiefen Trauer mit. Diese Liebesbriefe sind ein Glücksfall, zum einen wegen der fast lückenlosen Geschlossenheit des Bestandes, zum anderen wegen der literarhistorischen Verortung ihrer Entstehung: Zwei junge Menschen entdecken in der beginnenden Epoche der Empfindsamkeit eine Sprache für ihre Liebe. Der Nachlass Gilsas befindet sich heute im Hessischen Staatsarchiv Marburg.4 Der Liebesbriefbestand wurde abgelegt wie vorgefunden, die Zweiteilung in Briefe vor und Briefe nach der Hochzeit könnte also noch von Georg Ernst herrühren. Die chronologische Reihenfolge innerhalb der beiden Teile ist nicht eingehalten. Zudem sind nicht alle Briefe datiert (vor allem der Austausch von Haus zu Haus per Boten machte dies bisweilen überflüssig), nur einige wenige Briefe müssen wohl als verloren gelten.
I. Die Liebesleute Georg Ernst von und zu Gilsa war ein gebildeter und ernsthafter Mann. Davon zeugen eine dickleibige, ledergebundene Kladde mit kalligraphischen Übungen und Musterbriefen in französischer Sprache, die der junge Gilsa unter Aufsicht seines Hauslehrers anlegte, ebenso wie die Tagebuchaufzeichnungen. Sie setzen ein am 2. Februar 1754, dem Tag, da Gilsa, der Familientradition folgend, im Alter von 14 Jahren als Fähnrich in den hessischen Militärdienst eintrat. Zweieinhalb Jahre später brach der Siebenjährige Krieg aus. Den vierzehnmonatigen Aufenthalt in Südengland, wohin die hessen-kasselischen Subsidientruppen beordert wurden, nutzte Gilsa zu vielerlei Bildungsausflügen nach London, in die umliegenden Landstädtchen und Schlösser. Da die befürchtete Invasion der Franzosen ausblieb, zogen sich die hessischen Regimenter wieder aufs Festland zurück, und Gilsa nahm im Infanterieregiment seines Vaters Eitel Philipp Ludwig von und zu Gilsa auf Seiten der preußischen Alliierten an zahlreichen kleinen und größeren Scharmützeln teil. In der siegreichen Schlacht bei Vellinghausen am 16. Juli 1761 verlor er seinen linken Arm und war für den aktiven Militärdienst hinfort untauglich. So begann er im April 1762 ein Studium in Herborn, um sich auf den Verwaltungsdienst vorzubereiten. Die Kollegien nahm er sehr ernst, das Tagebuch listet ei4
HStAM, Familien- und Gutsarchiv v. Gilsa; 340 v. Gilsa, Nr. 127 (Brautbriefe), Nr. 128 (Ehebriefe). Die Edition des Briefwechsels ist in Vorbereitung. Dem Hessischen Staatsarchiv Marburg und Herrn Friedrich-Wilhelm von Gilsa sei für die Benutzungs- und Zitiererlaubnis herzlich gedankt.
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nen umfangreichen Stundenplan auf.5 Zwei Jahre später wechselte der fleißige Student an die Universität Marburg über. Dort lebte die bei Gilsas Ankunft sechzehnjährige Henriette Luise Charlotte Christiane von der Malsburg, die Tochter des Kommandanten der Festung Marburg. Ihre Mutter war 1750 gestorben, 1755 hatte der Vater August von der Malsburg ein zweites Mal geheiratet. Über Henriettes Erziehung und Bildung wissen wir nichts, doch tritt sie uns in den Briefen als ein kluges und weltgewandtes Mädchen mit einer klaren, geübten Handschrift und ausgeprägten literarischen Neigungen entgegen. Nach dem Tod des Vaters im April 1766 übersiedelte sie mit ihrer Stiefmutter in das Haus ihres Onkels, des Regierungspräsidenten und Hofgerichtsrats Gabriel Otto von der Malsburg. Bereits zum Elternhaus, dann auch zum Haus des Onkels hatte Gilsa Zutritt. Als Militär wie als angehender Verwaltungsfachmann war der junge Mann beiden Familienvorständen angenehm, die Besuche Gilsas wurden wohl schon bald als Werbung um die Tochter respektive Nichte akzeptiert. Standesmäßige Vorbehalte gab es nicht. Die von und zu Gilsas wie die von der Malsburgs gehörten den ältesten Familien der althessischen Ritterschaft an, deren Mitglieder sich seit Generationen in ähnlichen Heiratskreisen bewegten.6 Die genealogischen Interessen der Familien blieben vorbildlich berücksichtigt. Dies war um so bedeutungsvoller, als Georg Ernst nach dem Tod des ältesten Bruders, der im Siebenjährigen Krieg bei Bergen-Enkheim am 12. April 1759 gefallen war, die Erbfolge anzutreten und das Geschlecht fortzusetzen hatte. Liebe allerdings war keinesfalls ein notwendiges Ingredienz der Paarbindung in besitzenden Schichten.7 Zuneigung in der Ehe galt in der Regel als Folge der gemeinsamen Sorge für die Güter. Eine gewisse Sympathie war wünschenswert, um die Zeugung von Nachwuchs zu begünstigen. Je höher der Adel und damit staatstragender die Verbindung war, desto nebensächlicher wurde auch dieser Aspekt, wie das Beispiel des preußischen Herrscherhauses im 18. Jahrhundert überdeutlich lehrt. Doch auch im Landadel, dem Georg Ernst und Henriette entstammen, war in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine leidenschaftliche Liebe als Begründung der Ehe ungewöhnlich, wenn nicht gar unerwünscht. Die historische Forschung besagt, dass ausschließlich die „Stabilisierung der sozialen Position bei der Gat5
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Demnach besuchte Gilsa Lehrveranstaltungen in Latein, Französisch, Geographie, Geschichte, Mathematik und Juristerei verschiedener Sparten; vgl. Gräf u. a. (Hg.): Tagebuchaufzeichnungen (Anm. 3), S. 174–177. Freundliche Auskunft von Holger Th. Gräf. Vgl. Kluckhohn, Paul: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Halle a.d. S. 1922, S. 6.
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tenwahl ausschlaggebend“ gewesen sei. „Da Ehen in der Zeit um 1770 überwiegend von Verwandten arrangiert wurden, ein voreheliches Kennenlernen der Gatten aus beiderseitigem freiem Willen kaum möglich gewesen sei, hätte es zu Beginn der Ehe auch keine tieferen Empfindungen gegeben.“8 In ihrer Untersuchung über Frauen in der frühen Neuzeit mit dem schönen Titel „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“ kommt Heide Wunder abweichend zu dem Ergebnis, dass „in der direkten Eheanbahnung zwischen künftigen Brautleuten […] Liebe durchaus einen zentralen Platz“ eingenommen9 und in der Ehe dann als „Zufriedenheit, Einigkeit und Friedlichkeit“ ihren Ausdruck gefunden habe. 10 Eine Besonderheit des Briefwechsels zwischen Georg Ernst von und zu Gilsa und Henriette von der Malsburg ist die Mischung von Typischem und Außergewöhnlichem: Typisch sind die genealogische Rücksicht auf die Familie, wie sie in der konfliktfreien Anbahnung der Beziehung zutage tritt, und die Verantwortung für die ökonomischen Belange, die besonders in den Ehebriefen zum Tragen kommt. Außergewöhnlich im zeitlichen Kontext der 1760er Jahre ist, dass die beiden jungen Leute ihre leidenschaftliche Liebe als etwas Besonderes empfinden und für ihre intimen Gefühle eine Sprache finden.
II. Die Brautbriefe Als am 14. August 1765 Gilsa seinen offiziellen Antrittsbesuch im Elternhaus abstattet, kennen sich die beiden jungen Leute schon recht gut. Man verkehrte in denselben Kreisen und war bei gesellschaftlichen Ereignissen aller Art zwanglos zusammengetroffen. Der Austausch der Briefe unterliegt keiner Geheimhaltung, wird vielmehr oft auf direktem Wege durch Familienangehörige besorgt. Mit Henriettes Bruder Wilhelm war Gilsa beruflich wie freundschaftlich eng verbunden, zeitweise lebten sie in einer Wohngemeinschaft. So überrascht es nicht, dass bereits die ersten Briefe die Kenntnis der familiären Verhältnisse voraussetzen. Beide, Georg Ernst wie Henriette, sind im Briefschreiben geübt und praktizieren, auch expressis verbis, Gellerts Theorie des schriftlichen Gesprächs.11 Die kon8 9 10 11
Lesemann, Silke: „Liebe und Strategie. Adlige Ehen im 18. Jahrhundert“. In: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 8 (2000), S. 189–207, hier S. 193. Wunder, Heide: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 80. Ebd., S. 83. Vgl. Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Gilsa, 7. September 1765; ders., ohne Ort und Datum [Marburg, 1.–3. August 1766].
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ventionellen Anrede-, Gruß- und Höflichkeitsformeln sind von Beginn an eingebettet in einen vertraulichen Grundton. Sie begegnen sich innerhalb der traditionellen Gender-Rollen, aber auf gleicher Augenhöhe. Georg Ernst wirbt mit Worten und Geschenken, Henriette revanchiert sich mit kleinen Handarbeiten wie einem gestickten Degenband und antwortet umgehend, Koketterie und Ziererei sind ihr fremd. Sie ist es auch, die dafür sorgt, dass sie sich im Marburger Visitenkarussell nicht verfehlen, indem sie ihn detailliert über ihren Tagesablauf informiert. Ich hoffe mein liebster Gilsa, daß sie werden wohl geschlafen haben; ich habe mich auch noch zu Bette gelegt, und geschlafen bis 10 Uhr, und habe sehr viel von ihnen geträumt, diesen Nachmittag gehen wir ins Tollische und Hall. Hauß zuerst, und dann vieleicht zu Prasidenten, und zuletzt zur Mard: wo wir den Abend Essen, wenn sie mein liebster Gilsa hinkommen wollen thun sie mir einen großen Gefallen; Adieu mein liebstes Brüderchen behalten sie ihre Freundin lieb, und glauben, daß gantz unaufhörlig seyn werde Meines liebsten Gilsa und besten Freundes Ewig getreue Freundin Henriette A Monsieur Monsieur le Baron de Gilsa à son Logis
Den ersten Brief schreibt Gilsa zwei Tage nach der Einladung auf die Festung Marburg aus seinem Heimatort. Bis zum Jahresende und darüber hinaus halten ihn die Krankheit und der Tod seiner Mutter dort fest. Nur wenige Briefe aus dieser Zeit sind überliefert, doch hat die Zuneigung nicht unter der Trennung gelitten. „Erlauben Sie mir, gnädigste Fraulein, hier zu sagen, was schon längsten sagen Zu können, gewünscht hätte; nehmlich daß niemahlen Von Zärtlichen empfindungen, die sich auf Volkommene Hochachtung Grundet, gewust, als da das Gluck gehabt, Euer Gnaden kennen zulernen“, schreibt er ihr nach seiner Rückkehr nach Marburg am 16. März 1766 und steigert die „Volkommenste Hochachtung“ noch in „Zärtlichste liebe“. Henriette, die anfangs durchaus noch an einem oberflächlich-galanten Konversationston festhalten wollte, stimmt umgehend in seine Ernsthaftigkeit ein und bittet in ihrer Antwort, „daßjenige von mir ebenfalls zu glauben; wovon sie mich in ihrem letztern Brief versichern wollen“.12 Sie agiert klug und vorsichtig, meldet Zweifel an, dass „sie dero so schätzbare Freundschaft, und so gar eine Zärtliche 12
Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Marburg, 21. Mai 1766.
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Liebe, auf Ewig an eine Persohn verschwenden wollen, die es so wenig verdient wie ich“.13 Wenn es denn einer rhetorischen Lenkung bedurft hätte, so ist das Ziel erreicht: Am 2. Juni 1766 macht er den erwarteten Heiratsantrag.
Abb. 1: Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Marburg, ohne Datum [Frühjahr 1766] HStAM, Familien- und Gutsarchiv v. Gilsa; 340 v. Gilsa Nr. 127
Höchst aufschlußreich ist Henriettes Reaktion; hat sie doch, trotz aller Leidenschaft, die ökonomischen Interessen der Familie im Blick. Ich bin zu unvermögend, ihnen eben diejenige Neigung länger zu Verbergen; sondern muß gestehn, daß, wann sie mir liebster H[err] von Gils, in allem Ernst ihr würdiges Hertz schencken wollen; sie das meinige schon längstens, ohne eini13
Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Marburg, vor dem 2. Juni 1766.
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ge andere theilnehmung, eintzig und allein besitzen. Aber bedencken sie doch auch, daß ich ein gantz armes Mädchen bin, die ihnen mit weiter nichts als einem aufrichtigen Hertzen dienen kann. Ob ich gleichwohl nicht dran Zweifele, daß sie auch eine arme freulein, als ihre Frau, nach ihrem Stand erhalten können; so bedencken sie sage ich noch einmahl, was sie thun, damit es mir dermahleins keinen Vorwurf geben kann; Denn die Ehe ist keine Verbindung auf ein, zwey oder drey Jahr, sondern auf Ewig. Wann sie mich also liebster Herr von Gils, von ihrer Zärtlichen Liebe, auf immer gewiß Versichern können, so muß ihnen sagen, daß an ihrer Persohn nicht das allergeringste, auszusetzen habe, sondern werde mich vor glücklich schätzen, die ihrige zu seyn […],
heißt es in der Ausfertigung. Deutlicher noch drückt sie ihre Sorge im Konzept zu diesem Brief aus, das sich glücklicherweise erhalten hat: „was werden ihre Verwa[n]ten zu dieser Verbindung sagen.“ Noch bevor er ihre Antwort erhalten hat, reißt ihn nach einem zufälligen Wiedersehen die Leidenschaft endgültig hin; mit einer Anmutung des biblischen „Erkennens“ der Frau antwortet er: […] seit Gestern, da zu erst das Gluck hatte Ihnen zu sehen, habe meine gantze freiheit Verlohren; kein wünder! wer kan Ihnen wohl sehen, ohne dießelbe zu Verliehren. Mit einen Wort (darff Ich es sagen) Ich – Ich liebe Ihnen, so Starck so hefftig als wohl jemahlen einer Persohn Geliebt worden ist. Ach wie Glücklich, Ach wie höchst Glücklich wäre Ich, wenn dießes mein Geständniß kein mißfallen bey Ihnen Englische Fraulein erregte, Ja von dero antword, welcher Ich mit hoffen und furcht zugleich entgegen sehe, hanget mein Gluck, ja mein leben oder Tod ab. 14
Die Ungebührlichkeit seiner heftigen Gefühlsäußerung ist ihm durchaus bewusst und wird durch die konventionelle Anrede im nächsten Absatz nur mühsam kaschiert: „Vergeben Sie mir, Charmante Henriette, wenn der anfang dießes brieffes Ihnen ein wenig befremdet hat.“ Etwas muss vorgefallen sein zwischen den beiden, „unruh“ habe sie ihm gemacht, und in der Nacht habe er geträumt, dass sie zusammen in einer Gesellschaft, endlich aber alleine gewesen seien und „im höchsten maaße die süße fruchte, einer Zärtlichen, einer aufrichtigen liebe [Genoßen]“ hätten.15 Bei so viel Offenheit und Ausdauer von seiner Seite befremdet es zunächst, dass sie immer noch die Angst hegt, mit Liebesbeweisen schriftlicher wie leibhaftiger Art – eine Begegnung in einem gewissen „Sandgrübchen“ spielt dabei eine große Rolle16 – zu weit sich vorgewagt zu haben. Immer wieder zweifelt sie an seiner Aufrichtigkeit und Treue, ja, als er 14 15 16
Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, ohne Ort und Datum [um den 25. Mai 1766]. Ebd. Vgl. Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Marburg 11. Juli 1766; Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, 14. Juli 1766.
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einmal – der Ehevertrag ist schon geschrieben – eine Verabredung nicht einhalten kann, ist sie regelrecht verzweifelt.17 Zwar könnten die von Niklas Luhmann herausgearbeiteten Muster einer zweideutigen Galanterie, die der Frau zwischen der Wahrung ihrer Tugend und der Beteiligung am Liebesspiel des Mannes eine paradoxe Rolle zuweisen,18 auch in der hessischen Provinz virulent sein, doch scheint, wie einige der späteren Ehebriefe verraten, eine zaghafte Eifersucht auch individuell in Henriettes Charakter zu liegen. Gilsas Geduld ist unerschöpflich, die Empfindlichkeit ihrer Gefühle weiß er mit vielen kleinen Aufmerksamkeiten auszuräumen, darunter, als ein Liebespfand besonderer Art, die Handschuhe, die er im ersten Grad seiner Freimaurerloge19 mit dem Auftrag erhalten hatte, sie „derjenige[n] Persohn zu geben, mit welcher mann sein schicksaal theilen wolle“.20 Vor allem nimmt er seine Zuflucht zur deutschen Literatur, sendet ihr Exzerpte und Nachdichtungen aus den Werken von Albrecht von Haller, Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz, Johann Ulrich von König und Ewald von Kleist. Ihre Freude am Lesen, die auch vor Friedrich Karl von Mosers Staatsschrift Daniel in der Löwen-Grube nicht halt macht,21 erregt sein höchstes Entzücken: „Anbey überkommen einige Bücher, Ich wünsche nichts mehr, als daß selbige nach den Geschmack, meiner liebste und beste Freundin sein mögen. haben sie doch das wohlwollen, Charmante Henriette (wie süße und angenehm ist mir nicht dießer nahme) das Schäfferspiel in den Gellert, welches gezeichnet habe, zu durchleßen. Ich Glaube sie werden es artig ausgeführet finden. Es ist nicht gut beständig ernsthaffte schrifften zu leßen, der Geist muß auch wiedrum darzwischen etwas zur auffmunterung haben. Besonders aber eine Persohn die sich so sehr zu dencken gewöhnet hat, wie Sie, Beste und liebste Freundin. Dießes ist eine so lobenswürdige eigenschafft, Die, wenn Ich es sagen darff, Persohnen von den schönen Geschlecht, nicht so gar eigen ist. Sehn Sie nur, liebenswürdigste Freundin, was Vor ein Vortrefflichen Vorzug Sie Vor Vielen Tausenden Von dero Stand und Geschlecht haben.“22
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Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Marburg, 4. Oktober 1766. Vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/Main 21995, S. 131. Gilsa war Mitglied, dann Sekretär der Marburger Loge „Zum gekrönten Löwen“; vgl. Gräf u. a. (Hg.): Tagebuchaufzeichnungen (Anm. 3), Einleitung S. XV. Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Marburg, 9. Juni 1766. Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Marburg, nach dem 2. Juli 1766. – Moser, Friedrich Karl von: Daniel in der Löwen-Grube. In sechs Gesängen. Frankfurt/Main u. Leipzig 1763. Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Marburg, den 14. Juni 1766.
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Das intellektuelle Einverständnis muss ihnen den Sommer überbrücken helfen; denn wiewohl sich der respektgebietende Onkel mit dem Bräutigam erwartungsgemäß einverstanden zeigt und ihn zu täglichen Besuchen auffordert,23 umgekehrt aber auch Henriettes Ängste vor dem Sitzengelassenwerden schürt,24 gilt es allem Anschein nach doch, das Gerede der Marburger Gesellschaft zu vermeiden. So wird Henriette von Anfang Juli bis Mitte September auf das etwa 20 km nordwestlich von Kassel gelegene von der Malsburgische Familiengut in Escheberg geschickt. Immerhin darf Gilsa sie dort den August über besuchen und ihr bei ihrer Rückkehr im September ein Stück entgegenreiten.
III. Die Hochzeit In Gilsas Tagebuch bleiben die stürmische Verliebtheit und die kleinen Verwirrungen ausgespart. Unter den Ereignissen des Jahres 1766 meldet es die Verlobung als vollendeten Akt und die große Liebe als unbezweifelbare Tatsache: „Einige Zeit herauf [nämlich nach dem 22. Mai 1766] habe mich mit der Fräulein Henriette von der Malsburg – eine Tochter des seligen Herrn Generallieutenant – versprochen und da dieße Verbindung nichts als eine aufrichtige Liebe gegen die guten Eigenschaften der liebe Henriette zum Grunde hat, so hofe auch, daß Gott seinen Segen dazu geben wird, ja, das die Ehe recht vergnügt ausschlagen wird.“25 Den Ehevertrag hatte Gilsa, geschult in juristischen Angelegenheiten, Ende September, bald nach Henriettes Rückkehr aus Escheberg, selbst aufgesetzt. „[N]ehmen Sie es nicht ubel, daß ich nicht Zärtlicher mich ausgedruckt haben“, bereitet er die Braut im Begleitschreiben auf den Kanzleistil vor, „sie wißen aber Ewig beste Freundin, daß in der seele einer anderer Persohn Geschrieben“.26 Die Reaktion des gestrengen Onkels schildert Henriette umgehend: Hirbey überschicke, die Eh pacten, ich nahm sie heute Morgen, mit hinauf, damit sie der Præsident leßen, solte, er that es auch, aber mit einem solchen Finstern Gesicht, daß mir Angst und bang bey dem teetrincken wurde; endlich aber wie er fertig war, gab er sie mir wieder; und sachte, Ich habe gar nichts dabey zu erinnern; und sie sind recht gut gemacht, hätte ich sie aufgesetzt, Ich hätte sie gewiß 23 24 25 26
Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Marburg, 2. Juli 1766. Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Escheberg, 6. September 1766. Gräf u. a. (Hg.): Tagebuchaufzeichnungen (Anm. 3), S. 181. Georg Ernst von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg, Marburg, vor dem 1. Oktober 1766.
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nicht mit so Viel Vortheil vor euch gemacht, und außerdem muß gestehn, daß der Gilse sehr resonable jegen euch denckt, Nein! ich habe gar nichts dran aus zu setzen […]“.27
‚Raisonnable‘, vernünftig mit der Nebenbedeutung großzügig,28 verhält sich Gilsa in der Tat, wie das noch erhaltene 14-seitige Dokument ausweist: Eine Mitgift verlangt er ausdrücklich nicht, lediglich die Verfügungsgewalt über die ihr aus den Malsburgischen Gütern zustehenden laufenden Einkünfte. Henriette hingegen werden gleich als Morgengabe 200 Taler zugesprochen, auch bleiben alle Sachwerte (Geld, Gold, Schmuck, Preziosen, Aussteuer), die sie in die Ehe einbringt, in ihrem Besitz. Besonders will er sie für den Fall seines Ablebens versorgt wissen – durch seine Kriegsverletzung ist seine Gesundheit belastet (wodurch nebenbei das Tagebuch zu einer wertvollen medizinhistorischen Quelle wird). Als Witwe solle sie das Wohnrecht mitsamt Möbeln, Brennholz und Bedienung auf Gilsa behalten, ohne jedoch für allfällige Reparaturen aufkommen zu müssen, dazu 250 Reichstaler jährliche Unterhaltszahlung; ziehe sie es vor, anderswo zu wohnen, so sollen die jährlichen Einkünfte auf 400 Reichstaler erhöht werden. Sogar in seine Rechte an der noch nicht erfolgten Erbteilung des elterlichen Mobiliars setzt er sie ein. Unterzeichnet wird der Vertrag am 22. Oktober. Als Zeugen fungieren Gilsas jüngerer Bruder Wilhelm Friedrich, sein Vetter Philipp Wilhelm, zwei seiner Freunde,29 Henriettes Bruder Carl Otto und selbstredend der Onkel. Zur kirchlichen Trauung am 31. Dezember auf Gilsa findet sich eine große Festgesellschaft ein, und, so das Tagebuch, „[d]en 1ten und 2ten Januar wurde getantz“.30
IV. Die Ehebriefe Nur sechs Wochen währt das Eheglück. Dann muss Gilsa sich in Kassel einfinden und wird im Range eines Kriegsrats eingestellt – in den tiefgreifenden wirtschaftlichen Wandlungsprozessen der Frühen Neuzeit konnte 27 28
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Henriette von der Malsburg an Georg Ernst von und zu Gilsa, Marburg, 1. Oktober 1766. Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe’s Wörterbüchern. Neueste stark vermehrte u. durchgängig verbesserte Ausgabe. Braunschweig 1813. [Reprint Hildesheim, New York 1970], S. 515. Bernhardt von Porbeck (Borbeck), Major in Englischen Diensten, und Leutnant Christian Adolph Boenhart, Gilsas Repetitor an der Marburger Universität. Gräf u. a. (Hg.): Tagebuchaufzeichnungen (Anm. 3), S. 182.
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der Staat auf gut ausgebildete Verwaltungsbeamte nicht verzichten. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit reitet Gilsa nach Hause, die Zwischenzeiten werden durch Briefe überbrückt. „In der angenehmen Hoffnung, daß morgen von dir, liebes Weibchen, angenehme Nachricht erhalte, und daß mein Brief mit heutiger Post richtig eingelaufen, ergreife die Feder, um dir zu sagen, wie lieb ich dich habe, wie ergeben ich dir bin, und mit was vor einen großen Vergnügen ich mich mit Dir schriftlich unterhalte; als das einzige Mittel, welches mir die Nothwendigkeit Deiner Abwesenheit einigermaßen erträglich machen kann“, schreibt Gilsa aus Kassel,31 und „ach! thue mir doch den Gefallen, und Schreib mir gantze bogen voll, den du kanst gar nicht glauben, was mir das ein Vergnügen ist, wan ich so gantze Stunden sitzen kann und deine lieben Briefe durchleßen“, bittet Henriette.32 Obwohl für die Monate Februar bis Oktober 1767, in denen Gilsa zudem mehrmals längere Zeiten zu Hause verbrachte, nicht weniger als 30 Briefe von Henriette vorliegen, ist ihm dies dennoch nicht genug. „Du schreibest mir immer so, daß noch 100 Fragen mir übrigbleiben. Ich möchte gerne ganze Bogen von Dir zu lesen haben“, heißt es in seinem Brief vom 30. Mai. Kaum getrennt, sehnen sie sich schon wieder heftig nacheinander. „Ist es nicht ein unglück wenn Eheleute sich aufrichtig und Zärtlich, und nicht nach der Mode, lieben?“,33 hebt Gilsa nicht ohne Ironie gegenüber seinem Arbeitsgeber die Außergewöhnlichkeit ihrer Beziehung hervor. Die Zeiten der Trennung werden ihnen unendlich lang. Am 25. September, sie ist im siebenten Monat schwanger, klagt Henriette: Ach! liebster, liebster, und bester Gilsa bleib doch ia nicht so lange aus, du kanst es nicht glauben, und ich kanns dier nicht so deutlich Schreiben, wie Melacholisch, und verdrießlich ich bin; Ach! Ewig bester George, wie zufrieden könnte ich nicht seyn; wan ich dich niemahls hätte kennen lernen, hätte alsdenn auch nicht so viel vergnügte Stunden gehabt, so wüste doch auch, von keiner solchen betrübten Zärtlichkeit, als ich leider, leider, jetzt erfahren muß, da ich nicht bey dier mein liebster G. bin; doch! ich will aufhören mit meinen Klagliedern, sonst möchte, das beste Mänchen das auf der Welt ist, böße auf seyn jetchen werden […]34
Als er gar zur Kirmes am 4. Oktober ausbleibt, wird sie ungehalten: Gestern Abend hoften wir sämtlich dich zu sehen aber niemand mit mehrerem verlangen als dein jetchen, weil ich mir ehender des Himmels Einfall vermuthet hätte; als das ein Mann, wovon ich überzeucht bin, daß er mich recht Zärtlich
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Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 31. Mai 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 9. Mai 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 30. Mai 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 25. September 1767.
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liebt, sein Wort nicht halten, und seiner Ewig treuen Henriette zu gefallen, nicht eine Session versäumen solte. […] Liebster liebster George, in was vor Kummer, und Betrübniß hast du mich gesetzt, ach! Schreib mir doch nur mit erstern einige Excusen, sonst stehe in Furcht, daß du dein armes jetchen nicht mehr liebst. Doch ich möchte mich aufs Maul schmeißen, daß nur im stande bin zu dencken, daß mein Gilschen, mein bestes, und liebstes Männchen, Undanckbaar, seyn könnte.35
Mit nächster Post rechtfertigt er sich: ums himmels willen aber liebstes Weibchen, beschuldige mich doch nicht, daß ich aus eigenen Gefallen hier in Caßell bin. du beleidigest dadurch meine Zärtlichkeit, welche gegen dich bereits den höchsten Grad erhalten hat. Gott weiß daß ich mich nicht legen, noch aufstehe ohne mein Schicksal zu beklagen, welches mich Von Dir beste Seele, trennet. die 21 tage sind mir schon Jahre lang worden. allein doch Gleich wieder um urlaub zu bitten dadurch stoße den Herrn vor den kopf. du begreiffest es Gewiß, wenn du es nur wilst. die ankunfft des Breidensteins gib mir aber ein legal ursach an die hand, mit ende dießes monaths, wenigstens auf 3 monath nach Dir, liebstes kind zu gehen. und wie herzlich will ich mich alsdenn an deine treue brust erfreuen; ja den Verlust ersetzen, welcher mir in der Zeit so harte Gefallen ist. wie angenehm Sollen uns alsdenn die winder-abenden verfließen. wir unterhalten uns von unßerer liebe, von unßerer treue; und mit der Gnade Gottes haben wir alsdenn auch das erste pfand unßerer ehlichen liebe; welches schon durch ein lächeln seine kindliche Hochachtung und Zärtlichkeit auszudrucken sich bemuhet. 36
Als der Urlaub aber allzulange auf sich warten läßt, faßt Henriette einen kühnen Plan: Aber eins, worauf ich mir die gröste Hoffnung machte, zu erfahren, ist mir fehl geschlagen, neh[mlich] ob du kleines Püppchen Urlaub bekommen, und auf wie lang? Wan sie dier hirin Schwierigkeiten machen, so komme augenblicklich zu Fuß nach Cassell, und stürme […] das Hauß, und nehme dich kleines Mäußchen auf meinen Arm, oder in eine Kötze und trage dich heimlich, gantz heimlich fort, das es Keine Seele gewahr wird, und dann sollen die gnädigen, und Hochgebietenden Herren lange wartten, bis ich mein Kleines liebes Georgelchen, mein eintziges Vergnügen, was ich nur auf der Welt habe, wieder hinbringe; Nichtwahr? mein Kind, so wollen wirs machen, und so, wollen wir sie anführen.37
Im Erfinden von Kosenamen sind sie unerschöpflich – Püppchen, Engel, Mäuschen, „kleiner Junge“, „Kleines Georgelchen“, „Allerliebstes, Engels, Hertzensmännchen“38 nennt sie ihn, „mein Kind“, „Engel“, „englisches Kind“, „herzensbestes und liebstes Weibchen“, „mein anders Leben“ nennt er sie. Das Leben auf Gilsa ist ein schönes Beispiel für die 35 36 37 38
Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 5. Oktober 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 6. Oktober 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 25. Oktober 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 2. Mai 1767.
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Beobachtung, wie die „warmgefühlvolle nesthafte Familie“ 39 seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Konkurrenz zur adligen Besitzstandswahrung tritt. Doch auch die „Oeconomie“40 im älteren Verstande der bäuerlichen Wirtschaft mit ihrer partnerschaftlichen Rollenteilung verlangt nun ihr Recht. Als sich Henriette selbst als „fr. [Frau] Haushälterin“41 bezeichnet, verweist ihr Gilsa das mit den Worten: „Nein, liebes Kind, es ist gegenwärdig die angelegenheiten deines Mannes, und alßo Bis du nicht haußhälterin, sondern hauß Frau.“42 Sie nennt ihn „liebes altes HausVätterchen“43, und in der Tat führt er die traditionelle Rolle vorbildlich aus, sendet ein Schwein44 und Geflügel45 zur Zucht und wertvolle Eier zum Ausbrüten.46 „Wie ist es aber möglich charmantes Gilschen“, schreibt sie ihm, „das du in den Cassell, wo du doch, wan du willst, allerhand Zerstreuung haben kannst, an die Oeconomischen Angelegenheiten denken kannst; du bist aber überhaupt ein unverbesserlich Männchen, und hätte nichts mehr gewünscht, als dich in deinen Geschäften zu sehen“.47 Henriette besteht ihre Feuertaufe bei einer Notschlachtung. Die Aufregung teilt sich noch der atemlosen Parataktik des Satzbaus mit:
39
40 41 42 43 44 45 46 47
Brunner, Otto: „Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘“. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 31980, S. 103–127, hier S. 113. – Der Ausdruck ‚ganzes Haus‘ umfaßt vier Aspekte: 1. sachbezogen: das Gebäude, die räumliche Dimension; 2. sozial: die unter diesem Dach lebende Personengruppe: a. Kernfamilie (Eltern, Kinder, nahe Verwandte), b. erweitert um das Gesinde; 3. ökonomisch: im Sinne der Wirtschaftsgemeinschaft; 4. genealogisch: Sippe, Geschlecht; vgl. Oexle, Otto Gerhard: Art. „‚Wirtschaft‘, Abschnitt III: Mittelalter“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Brunner, Otto, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 7: Verw–Z. Stuttgart 1992, S. 526–550. – Brunners lange Zeit verbindliche Theorie des ‚ganzen Hauses‘ ist aufgrund von eingehenden Untersuchungen tatsächlicher Adelsherrschaften revidiert worden; vgl. Troßbach, Werner: „Das ‚ganze Haus‘ – Basiskategorie für das Verständnis ländlicher Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit?“ In: Blätter für deutsche Landesgeschichte Bd. 129 (1993), S. 277–314; Weiß, Stefan: „Otto Brunner und das Ganze Haus oder Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte“. In: Historische Zeitschrift Bd. 273 (2001), S. 335–369. Dank an Heide und Dieter Wunder für freundliche Hinweise. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 19. Februar 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 30. Mai 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 1. Juni 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 30. Mai 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 25. Oktober 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 27. Oktober 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 4. Mai 1767; vgl. Henriette von und zu Gilsa, Gilsa, 9. Mai 1767: „Die überschickten Eier sind untergelegt […]“. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 23. September 1767.
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vergangenen Mittwochen, bekamen wir gantz unvermuthet, eine Schlachterey, der Dörbecker zog den Abend mit seinen 2 Ochsen hinaus, und will einen Karre voll Futter mähen, und läst während dieser kurtzen Zeit, die Ochsen, von dem Klee fressen, welcher naß geweßen ist, er kam drauf nach Hauß, sieht aber nichts an den Vieh, auf einmahl, kam er gekrischen und gelaufen und sachte in der grösten Bestürtzung, der eine Ochse, der so gut im Ziehen war, wolte platzen. Wir wurden hierüber, wie leicht zu dencken sehr erschrocken, und lief gleich alles nach den Stall, um denselben, herum zu jagen, sie brachten ihn auch bis vors Thor, allein, da war er schon so erschrecklich dick, daß er umfiehl, alles rief, und schrie nach einen Messer, und weil dem Thier gar nicht zu helfen war, so schnitt ihm der Dörbecker in der grösten Eil, den Halß ab, der Scholum wurde gleich geholt, welcher ihn, in der Scheune, des Nachts muste zurecht machen, der sagte es wäre noch gut geweßen, daß er gleich wäre geschlachtet worden, weil er sonst doch den Augenblick creppirt wär, er hatte sich aber dermaaßen überfressen, daß ihm, das Reiß48 bey einer halben Elle geplatzt war; der Herr Dörbe. hat sich nun bequemt, und fährt jetzt mit dem besten, von den Mast-Ochsen, heute Mittag haben wir die Rampen49 gegessen, sie waren recht gut, und überhaupt, ist das Fleisch recht gut.50
Der Hausherr im fernen Kassel beruhigt und gibt die nötige Anweisung: deinen Gestrigen lieben brieff habe auch mit Vergnugen Verschiedenen mahlen durchleßen; die darinnen bemerckte kleine zufälle, welche dir allerliebstes kind aufgestoßen sind, haben mich mehr beweget, als der Zufall, welcher den besten Ochßen aus dießer Zeitlichkeit, mit erlaubniß Zu sagen, ins Sch. Hauß Versezt hat. es ist Zwar ein schaden, welcher jedoch noch nicht so sehr schmertzet. indeßen ist doch den Dörbecker die leviten zu leßen, und daß er sich dießen Vorfall zu seiner nachricht dienen laßen solte.51
Wenn es überhaupt noch möglich war, dann tritt die Hoffnung der Altvorderen ein: Die Liebe wächst mit dem Dienst an den Sachen. Auch Intimität hat da ihren Platz. Brieflich wenigstens darf sie an einer Erektion teilhaben, wenn er ihr am 31. Mai schreibt: heut morgen Gegen 7 uhr muß du, wenn anders die Gedancken einer abweßenden Persohn, auf den Gegenstandt würcken, worauf selbige Gerichtet sind, doppelte empfindungen gehabt haben. Denn außer der Zärtlichkeit mit welcher ich dich liebe, kam noch ein andrer umstand Dazu ″ ″ ″
Ihre Freude an der Sexualität, auf die sie wohl die Begegnung im „Sandgrübchen“ vorbereitet hatte, findet eine eigene Sprache. Sein Penis trägt 48
49 50 51
Reisz, „die die gedärme bedeckende, fette netzhaut“. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. Leipzig 1854–1971. [Reprint. München 1984]; online unter http://germazope.uni-trier.de/Projekte/DWB; Bd. 14, Sp. 752. Rampen, „das gekröse und der pansen des rindviehs“, in „Hessen, Westfalen und Niedersachsen ein Gericht aus Rindskaldaunen“; ebd., Bd. 14, Sp. 80. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 4. Oktober 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 6. Oktober 1767.
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seinen zweiten Vornamen, „Ernst“, ihr Schoß heißt synekdotisch „Jetchen“, Ernst und Jetchen führen in den Briefen ein Eigenleben. „grüße den E. von seinem getreuen jetchen“, lautet Henriettes Antwort auf die Nachricht vom morgendlichen Ereignis.52 Dialoge gestalten sich folgendermaßen: „Ernst empfiehlt sich zu Gnaden; er freuet sich ausnehmend auf den urlaub“;53 „den E. bitte von j. zu grüßen“;54 „E. ist recht stolz daß sein J. an ihn denckt, er trachtet mit ernst bald seine aufwartung zu machen“;55 „j. grüst auch den lieben E. thaußend mahl, es hat mir aber im vertrauen gesagt, das E. ein Lügner wäre indem er ihm vergebliche Hoffnung machte.“56
Abb. 2: Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 22. Juni 1767 HStAM, Familien- und Gutsarchiv v. Gilsa; 340 v. Gilsa Nr. 128
52 53 54 55 56
Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, nach dem 1. Juni 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 22. Juni 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 30. September 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 2. Oktober 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 9. Oktober 1767.
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liebes Weibchen! So eben komme vom kriegs-Collegio. ohngeacht es 2 uhr ist, und ich noch nicht Geßen habe, so muß dir doch erst die Freude erZehlen, die mir dein lieber Brieff verursachet hat. ich habe auf 10 wochen urlaubt erhalten, du kanst nicht Glauben wie vergnugt daruber bin. 10 wochen kan doch nun in der ununter brochener Gesellschafft meiner treuen und liebsten Jette zu bringen. 100000 empfehlungen an Meinen lieben Schwestern lieben Schwager, und Michaux, wie auch an Doctor Wiegand. adieu liebstes Kind Ich bin Dein ewig treuster Cassell den 22ten Junii 1767. George Ernst empfiehlt sich zu gnaden; er freuet sich ausnehmend auf den urlaub. Adieu. den Wilhelm habe noch nicht Gesehen.
Adresse:
A Madame Madame La Baronne de Gilsa nee Baronne de Malsburg franco a Gilsa
Auch ihre Schwangerschaft wird deutlich benannt. Mit Anteilnahme erkundigt Gilsa sich nach ihrem „bauchelgen“,57 und sie antwortet freimütig: „das Bauch[elchen] ist noch wie du es verlassen hast, es wünscht recht sehr, dier sagen zu können, wie es sich weiter befindet.“58 Ist der werdende Vater einmal zu Hause, erfreuen sie sich gemeinsam an den „lustig[en]“ Kindsbewegungen.59 Nur in einem Punkt widerspricht sie ihm: „vor einer Stunde“, schreibt sie am 28. Oktober 1767, „schickt d[er] H[err] Pfarrer von Bischhausen, und läst uns zu wissen thun, das seine Frau, diese Nacht um 2 Uhr mit einer jungen Dochter, glücklich wäre niederkommen; wieder eine Pritz büchse mehr, wirst Du sagen, aber wan keine Pritzbüchsen in der Welt wären, wie würde es euch armen Tröppercher, doch so übel gehen.“ Ungewöhnlich für einen Mann seiner Zeit, nimmt Gilsa regen Anteil an den Begleiterscheinungen der Schwangerschaft. Durch die eigene Versehrtheit in medizinischen Fragen bewandert, vermag er sie aufzuklären: „dein kopfweh, Englisches Jetchen, ist ein umstand, welcher mit einer fruchtbahren uhr verknupft Gehet. du muß deswegen nicht kleinmutig
57 58 59
Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 30. April 1767; vgl. auch ders. an dies., Kassel, 9. Mai 1767, 22. September 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 9. Mai 1767. Henriette von und zu Gilsa an ihren Mann Georg Ernst, Gilsa, 23. September 1767.
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werden. Du bist in deinen beruff […].“60 Nach einer Arztvisite fragt er besorgt: „wenn du nur liebes kind ihm alle deine umstände recht gesagt hättest? allein Du armes Wurmchen, bist gar zu schamhafft“,61 und gegen Ende der Schwangerschaft beruhigt er sie: „wegen der empfindung hast Du dich nichts zu besorgen, es ist eine folge Von der wendung des kindes, welches allen Weiber in dergleichen umstände gemein ist.“ 62 Er sendet frisches Obst und Gemüse, Leckereien aller Art, Schwangerschaftsgelüste liebevoll einberechnend: „irre ich mich oder ist es die warheit, daß du, mein ewig andres leben, den gereucherten lax so gerne eßest. es komt ein Stuck anbey, laßen dir recht wohl schmecken und drinck einige Gläßer Brantwein drauff alsdenn schadet er nichts.“63 Gegen die Langeweile schickt er ein Klavier und modische Accessoires und erzählt ihr Geschichten aus dem Kasseler Gesellschaftsleben. Vor allem aber versichert er ihr unermüdlich seine Liebe, so am 2. Oktober 1767: könte ich doch nur worte genug finden um meiner Fleißigen und liebsten schreiberin sowohl recht lebhafft zu dancken, für das Vergnugen welches Sie mir dadurch verursachet; als auch die Zärtlichkeit, mit welcher ich dich liebe, und die von tag zu tage, wenn es möglich wäre, sich vermehret. allein ich würde immer einen vergeblichen Versuch machen, weil dasjenige was vor dich empfinde, alle ausdruckungen ubertrifft. wie Glucklich schätze ich mich, eine so liebe Frau zu haben, die meiner aufrichtigen Zärtlichkeit so wohl verdienet; und welche sich auch nur mit dem Tode aufhören kan; jedoch alsdenn auch wird dir meine denckende seele, nach meinen begriffen die ich mir von den Zukunfftigen leben mache, auf eine, der Natur eines unsterblichen Geistes anständige art, zugethan bleiben. doch genug von einer Materie, Von welcher wir nichts als ungewiße Begriffe haben können.
Endlich erhält er wegen der bevorstehenden Niederkunft zwei Monate Urlaub und trifft am 1. November in Gilsa ein. Hier enden die Briefe. Am 25. November 1767, knapp elf Monate nach der Hochzeit, kommt Henriette mit einer Tochter nieder, das Kind erhält in der Taufe die Namen Carolina Friederika Franziska Charlotta Wilhelmina. Wenige Tage nach der Geburt erkrankt die Wöchnerin und stirbt am 5. Dezember. Der Arzt diagnostiziert Wochenbettfieber. Am 21. Juli 1772 – Gilsa ist mittlerweile ritterschaftlicher Steuereinnehmer und lebt mit seiner Schwester in der kleinen nordhessischen Stadt Treysa – stirbt auch die kleine Tochter, „[m]ein einziges, mein hofnungsvolstes Kind, in welchen täglich einer von mir so zärtlich, so aufrichtig 60 61 62 63
Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 30. Mai 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 2. Oktober 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 23. Oktober 1767. Georg Ernst von und zu Gilsa an seine Frau Henriette, Kassel, 9. Mai 1767.
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geliebte Mutter, deren Asche ich verehre und derer Andencken mir so theuer, so schätzbahr ist und bleibet“, heißt es im Tagebuch. Geplagt von chronischen Krankheiten, versieht Gilsa sein Amt noch viele Jahre, nimmt an einer Reihe von Landtagen teil und befehligt im Ersten Koalitionskrieg 1794 das Landregiment Ziegenhain, das jedoch nicht zum Einsatz kommt. Freude findet er in der Literatur; zu seiner 1000 Bände umfassenden Bibliothek fertigt er eigenhändig ein Verzeichnis an,64 die Marburger „Litteratur-Gesellschaft“, an der er regen Anteil nahm, geht möglicherweise auf seine Initiative zurück.65 Häufig hatte Gilsa, auch darin literarischen Vorbildern folgend, in seinen Briefen an Henriette vom Tod gesprochen, doch, zumal als Invalide von labiler Gesundheit, stets seinen eigenen Tod gemeint. „nun adieu mein Herzens Weibchen“, hatte er am 19. September 1767 einen Brief beschlossen, „10000 mahl kuß dich in gedancken. behalte mich recht Zärtlich lieb, und Versichere dich von mir, daß nicht einmahl der Tod Die Zärtlichkeit und aufrichtigkeit mit welcher ich dich liebe hemmen kann. ich bin und bleibe dein ewig treuster und Ergebenster Gilsa.“ Er hat nicht wieder geheiratet.
64
65
Vgl. Schäfer, Jochen: „Adeliger Buchbesitz in der Zeit des bürgerlichen Wandels. Die Bibliothek von Georg Ernst von und zu Gilsa (1740–1798)“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens Bd. 67 (2012), S. 19–105. Vgl. auch Gräf, Holger G.: „‚Adelige Musenhöfe‘ und ihr Beitrag zur ‚kulturellen Dichte‘ in Hessen (17.–19. Jahrhundert). Ein Problemaufriss“. In: Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Hg. v. Eckart Conze, Alexander Jendorff u. Heide Wunder. Marburg 2010 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70), S. 520–542, hier S. 532–535. Vgl. Gräf u. a. (Hg.): Die Privatbriefe (Anm. 3), Einleitung S. XV.
III. Liebende Vernunft und gebändigte Affekte
Jochen Strobel
„Philosophische Liebe“ als kognitives Gefühl Louise Kulmus’ Briefe an Johann Christoph Gottsched Thomas Anz zum 65. Geburtstag
I. Emotion/Kognition „Sind Sie denn noch beim Fühlen oder schon beim Denken?“ fragte Sandra Maischberger kurz nach dem 11. September 2001 Richard von Weizsäcker.1 Wir gehen fast selbstverständlich davon aus, dass entweder das eine oder das andere geschieht, und wir glauben als aufgeklärte Europäer an eine Stufenleiter vom Ersteren zum Letzteren. Auch in den Kognitionswissenschaften stellte sich erst allmählich die Auffassung ein, dass ‚Emotion‘, zumindest: jedes uns bewusst werdende Gefühl, und ‚Kognition‘ zusammengehören. Frühere Forschungskontroversen konnten beigelegt werden – der Konsens lautet: „[C]onscious emotion is inextrically intertwined with cognition, whereas automatically affective reactions require nothing more than a perception and an association.“2 Immer wieder beschrieben wird die prozessuale Abfolge – wenn auch nicht direkte Kausalität – von Emotion, Kognition und Handeln. Emotionen regulieren Verhaltensweisen, sie haben dabei Auswirkungen zunächst auf kognitive Prozesse, die wiederum handlungsauslösend sein können: „Emotionsregulation (als eine spezifische Form der Selbstregulation) bringt […] kognitive Konsequenzen mit sich.“3 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht 1 2
3
Zit. nach Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion. Tübingen, Basel 2007, S. 89. Baumeister, Roy F., Kathleen D. Vohs, u.a.: „How Emotion Shapes Behavior: Feedback, Anticipation, and Reflection, rather than Direct Causation.“ In: Sage Library in Social Psychology. New Directions in Social Psychology. Volume III:Emotion. Edited by Roy F. Baumeister and Kathleen D. Vohs. Los Angeles, London u.a. 2012, S. 1–59, hier S. 3. Egloff, Boris: „Emotionsregulation.“ In: Psychologie der Emotion. Hg. von Gerhard Stemmler. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle 2009, S. 487–526, hier S. 503; zu kognitiven Prozessen als Effekten von Emotionen vgl. ebd., S. 488 und 499, sowie Baumeister u.a.: How
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ist die Sprache, also ein „kognitives Kenntnissystem“,4 selbst schon ein Bereich der Symbiose von Kognition und Emotion. Mir geht es darum zu zeigen, wie die Briefe der Louise Adelgunde Victorie Kulmus an ihren nachmaligen Ehemann Johann Christoph Gottsched eine Schnittstelle bilden zwischen sprachlicher Repräsentation des Gefühls ‚Liebe‘ und ganz bestimmter kognitiver Strukturen, nämlich solcher, die mit damals aktuellen philosophischen Kategorien zur Sprache gebracht werden und die zugleich emotionale Einstellungen bezeichnen. Es wäre eine immense Aufgabe, zumal diachron, die Zusammenhänge zwischen sprachlichen Strukturen und bestimmten, eben auch kulturell differenten Konzeptualisierungen von Emotionen zu erforschen.5 Es liegt auf der Hand, dass wir von einer Kenntnis der Geschichte der Liebe und ihrer Sprache weit entfernt sind und somit auch von einer Geschichte des Liebesbriefs, der ja nur scheinbar eine wohl eingehegte ‚Teilmenge‘ des Angesprochenen beträfe.6 Die hier verhandelte Thematik wiederum bietet Ansatzpunkte zu einer Diskursgeschichte – weniger einer Begriffs- oder Ideengeschichte – von ‚Liebe‘ vor dem sensualistischen turn des 18. Jahrhunderts, der eine „grundlegende Neukonstitution der Liebesbriefkultur“ mit sich brachte.7 Der Mehrwert dieser Fragestellung hinsichtlich möglicher Erkenntnis über jene 62 Briefe ist zu prüfen. Er ist an die These geknüpft, dass es sich eben doch um Liebesbriefe handelt bei dem hier in Frage stehenden Textkorpus, auch wenn es nicht primär Texte sind, die dem Gefühlsausdruck der Schreiberin in Verbindung mit einer Werbungsabsicht dienen, wenn es sich vielmehr vor allem um Briefe handelt, die sich der Stiftung
4 5 6
7
Emotion, S. 2: „Full-blown, conscious emotional experiences operate to stimulate cognitive processing after some outcome or behavior.“ Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 1; zum folgenden: Ebd., S. XI. Vgl. Ebd., S. 13. Vgl. Robert Vellusigs sehr einleuchtende Anmerkungen zur Liebeskommunikation, in der es vor allem auf nonverbale Zeichen ankomme: „Die Verschriftlichung der Kommunikation [erzeugt] einen Verbalisierungszwang […], der gerade dort, wo sich das Wesentliche wortlos vollzieht, zum Problem – und damit zugleich auch zur Chance – wird. (Eine Geschichte des Liebesbriefs wird es deshalb vermutlich nur als Teil einer […] Geschichte personaler Artikulationsmöglichkeiten geben können.) […] In Liebesangelegenheiten achten wir vorrangig darauf, wie sich jemand gibt und uns gegenüber verhält und alles Reden ist ein bloßer Teil dieses Ganzen.“ (Vellusig, Robert: To whom it may concern. Facetten einer Geschichte des Liebesbriefs. (Rezension über: Stauf, Renate, Annette Simonis u. Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008.) In: IASLonline [26.6.2010] URL: http://www.iaslonline.de/index/php?vorgang_id=2997 Letzter Zugriff: 5.5.2012. Stauf, Renate, Annette Simonis u. Jörg Paulus: „Liebesbriefkultur als Phänomen.“ In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von dens. Berlin, New York 2008, S. 1–19, hier S. 8.
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und Klärung einer intellektualen und zugleich emotionalen Beziehung in der langen Wartezeit bis zur Eheschließung widmen. Es ist diese besondere Weise des ‚Verhandelns‘ der Beziehung zwischen beiden Briefpartnern in der Schrift, die der Bräutigam Gottsched in einem Schreiben an seine Philosophische Fakultät in Leipzig als Fernliebe umschreibt, indem er seine Braut den Kollegen vorstellt: „Eine Person die ich wegen ihrer besondern Gemüthsgaben und Eigenschaften schon seit sechs Jahren auch entfernt geliebet und zu meiner Gehülfin erwählet hatte.“8 Die Forschung hebt bislang recht einseitig den pädagogischen Gehalt hervor – und sieht, obgleich die Korrespondenz in der Zeit der Verlobung entstand, gerade darin einen Beleg dafür, dass es keine Liebesbriefe seien.9 Es mag freilich zutreffen, dass vor dem Siegeszug des empfindsamen Diskurses Liebesbriefe, die vorgäben, reine, von aller Kognition losgelöste Emotion auszudrücken, gar nicht denk- und schreibbar wären. Textkorpus und Briefschreiberin sind kurz vorzustellen (II.), mittels einiger Definitionen (III.) soll die folgende Textanalyse vorbereitet werden. Im Hauptteil werden Gelenkstellen zwischen Kognition und Emotion genauer beleuchtet (IV.); ein Fazit schließt sich an (V.).
II. ‚Fernliebe‘ Es ist heute kaum mehr anders vorstellbar: Johann Christoph Gottsched wird üblicherweise aus dem Blickwinkel Lessings oder Goethes gesehen; er ist für uns der beharrliche Rationalist, der Verfasser professoral verstaubter Regelpoetiken, Moralischen Wochenschriften und heroischen Trauerspielen, der Kritiker der höfischen Gattung der Oper und des Romans – kurz: er verkörpert vieles, was spätestens um 1750 obsolet zu werden beginnt. In der Ära davor wird dem Dichter lediglich „die rhetorische Simulation von Affekten“10 abverlangt, dabei reklamiert Gottsched für Oden oder Elegien in seiner Poetik durchaus die Nachahmung ‚natürlicher‘ Affekte, d.h. eine auf den Leser natürlich wirkende Affektdarstel8
9 10
Gottsched und Louise Adelgunde Victorie Kulmus an die Philosophische Fakultät in Leipzig am 4.4.1735. In: 3, 345f., hier 345. Die Briefe von Louise Adelgunde Victorie Kulmus an Johann Christoph Gottsched werden mit Datum sowie, in Klammern, Bandund Seitenzahl zitiert nach: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrage der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. v. Detlef Döring und Manfred Rudersdorf. Band 1: 1722–1730. Berlin, New York 2007. Band 2: 1731– 1733. Berlin, New York 2008. Band 3: 1734–1735. Berlin, New York 2009. So am ausführlichsten: Kord, Susanne: Little Detours. The letters and plays of Louise Gottsched (1713–1762). Rochester/Suffolk 2000. Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998, S. 121.
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lung.11 Erst ein früher Ästhetiker wie Georg Friedrich Meier stellt, gegen Gottsched gerichtet, fest: „Wer eine Leidenschaft nicht selbst empfindet, der kan sie nicht nachahmen, und ein Dichter, der mitten im Dichten nicht erhitzt ist, der denckt ohnfehlbar frostig und matt.“12 Die in unserem Kontext nahe liegende Frage, welche Liebesbriefe überhaupt an einen solchen Mann zu richten sich empfahl, muss durch eine weitere Frage ergänzt werden: Welche Konzepte von Emotion und welche sprachlichen Repräsentationen von Gefühlen konnte der Wolffianer Gottsched eigentlich befürworten? Einer belesenen Korrespondentin, wie es seine künftige Frau jedenfalls war, ist die Kenntnis Wolffs, insbesondere aber diejenige der Wolff popularisierenden Schriften Gottscheds unbedingt zuzutrauen. Die 1713 in Danzig geborene Louise Kulmus, hochbegabt, schon mit 12 Jahren Verfasserin von Gedichten, als Halbwüchsige im Haus ihres Vaters, eines königlich-polnischen Leibarztes, bereits als außergewöhnlich gebildet und belesen geltend, lernt 1729 Gottsched kennen. Ein sechs Jahre währender, sich bald intensivierender Briefwechsel mit dem ab 1730 in Leipzig als außerordentlicher, d.h. unbezahlter, Professor für Poesie und Beredamkeit Tätigen beginnt. 1734 wird er ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik, im April 1735 heiraten die beiden, Louise Gottsched siedelt nach Leipzig über. Längst hat sie Übersetzungen publiziert, als Ehefrau wird sie u.a. komplementär zu den Trauerspielen ihres Mannes satirische Lustspiele verfassen, am bekanntesten dürfte das 1736 erschienene Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau sein, in dem sich die junge Autorin, mutmaßlich ohne Not, ausgerechnet über weibliche Gelehrsamkeit lustig macht. Es zeugte von zuviel Optimismus, wollte man in dieser Lebens- und Arbeitsbeziehung eine von intellektuellem Wettbewerb gekennzeichnete Gelehrtenehe erkennen.13 Nicht um die selbstverständlich ohne Eingreifen des Ehemanns kaum denkbar gewesene Autorschaft Louise Gottscheds soll es jetzt aber gehen, auch nicht um 11
12
13
Vgl. etwa Gottscheds Ausführungen zur Elegie: „Eine geschminkte Schreibart würde hier, durch ihr künstliches Wesen nur anzeigen, daß der Witz mehr Teil an der Schrift habe, als das Herz. Wo aber das ist, da macht kein Affect einen guten Eindruck bey dem Leser.“ (Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 1751 [zuerst 1731]. Nachdruck Darmstadt 1962, S. 658). Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst. Drittes Stück. Halle 1748. Nachdruck Hildesheim 1975, S. 98. – Vgl. hierzu: Guthke, Karl S.: „Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte.“ In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. v. Wilfried Barner. München 1989, S. 93–121. Vgl. Gottscheds Idealbild des gelehrten Wettbewerbs zwischen Mann und Frau, das Inka Kording in der Einleitung zu ihrer Briefedition nachzeichnet: „Einleitung“. In: Louise Gottsched – „mit der Feder in der Hand“. Briefe aus den Jahren 1730–1762. Hg. von Inka Kording. Darmstadt 1999, S. 1–15, hier S. 12.
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ihre unglückliche Ehe; sie starb mit kaum 49 Jahren 1762. Weiblichkeit und Gelehrsamkeit gingen in der Frühen Neuzeit und bis ins 18. Jahrhundert durchaus zusammen, und namentlich Gottsched hat neben seiner Frau nicht nur die bekannte Theaterunternehmerin Friederike Caroline Neuber, sondern auch die Poetin Marianne von Ziegler gefördert.14 Dass die Beziehung zwischen Louise und Johann Christoph Gottsched asymmetrisch war, dass auch, neutral formuliert, in den Jahren vor der Heirat die vorwiegend auf brieflichem Weg stattfindende Kommunikation nicht symmetrisch sein konnte, scheint völlig außer Frage zu stehen. Dennoch nähern wir uns hier einem wichtigen Merkmal dieser Briefe, die Susanne Kord in mehrfacher Hinicht unter die Überschrift „Verhandlungen“ stellt.15 Was für Briefe schreibt eine gebildete, noch sehr junge Frau an ihren Verehrer und Bräutigam? Sind es überhaupt Liebesbriefe? Die Forschung spricht immerhin von „inszenierte[r] Emotionalität“.16 Zugleich attestiert man den Briefen jedoch Merkmale, die von einem freilich näher zu definierenden Genre Liebesbrief deutlich abrücken: Die Briefe, so Susanne Kord, „were not written to a lover, but to a mentor and teacher“17 – ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis realisiere sich also in Anmerkungen zu Gelesenem oder in der selbstkritischen Reflexion über eigene poetische Texte oder Übersetzungen. Zweitens sind die Briefe für Kord „a mere postponement of the wedding“18 – die pragmatische Funktion bestünde also nicht etwa in Liebesgeständnis und Werbung, also einer emotionalen ‚Ansteckung‘ des Adressaten,19 sondern im Aufschub der unvermeidlichen Eheschließung. Eine intelligente junge Frau sucht in dieser Lesart immer wieder nach Gründen, um einen Verehrer vorläufig abzuwimmeln, dem sie letztlich nicht entgehen wird. Zutreffend ist jedenfalls, dass Todesfälle, Krankheit, vor allem die mangelnde finanzielle Absicherung Gottscheds eine Heirat auf Jahre unmöglich machen – und dass Louise Kulmus’ Briefe in diesem Sinn eben auch Distanzierungsgesten aufweisen. Kord liest die Briefe so, als spiele Kulmus den Mentor geschickt gegen den Möchte-
14 15 16 17 18 19
Vgl. Becker-Cantarino, Barbara: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500– 1800). Stuttgart 1987, S. 184–187, 260–264. Susanne Kord hierzu: „Negotiating Enlightenment Discourse“ (Kord: Little Detours, S. 46) und „Negotiating Authorship“ (Kord: Little Detours, S. 49). Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 103. Kord: Little Detours, S. 41. – Der Mentorentopos findet sich häufig, vgl. z. B. Kording: Einleitung, S. 5. Kord: Little Detours, S. 42. Zur emotional contagion siehe weiter unten.
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gern-Liebhaber aus.20 Vordergründig scheint sich Kulmus’ ausdauernde Schreiblust tatsächlich auf einen freundschaftlich-gelehrten Austausch zu beschränken. Das Stichwort „philosophische Liebe“21 ist selbst einem der Briefe entnommen – sämtliche Gegenbriefe sind übrigens verschollen, aber auch die Handschriften von Louise Kulmus’ Briefen sind nicht erhalten. Nicht diskutiert werden kann an dieser Stelle die philologische Zuverlässigkeit der durch die Freundin Dorothee von Runckel verantworteten Edition aus den Jahren 1771/72, auf die auch die kritische Edition der GottschedBriefe notgedrungen zurückgreifen muss.22
III. Liebe – Liebesbrief – Liebe als kognitives Gefühl Ich verfahre sprachzentriert, frage also nicht danach, was die beiden empirischen Briefschreiber gefühlt haben könnten, sondern mich interessiert die sprachliche Codierung,23 die kulturabhängig, also jeweils konventionalisiert, ist, die vor dem Hintergrund zeitgenössischer Philosophie (und Theologie), aber auch von Briefstellern ermittelt werden kann. Mit welchen sprachlichen Mitteln wird Liebe vor der Entfaltung des Diskurses der Empfindsamkeit beschrieben, mit welchen ausgedrückt? Wie wird die Echtheit des Gefühls plausibilisiert? Ich möchte die vorzustellenden Briefe einer Autorin also nicht mit literaturwissenschaftlichen Kategorien lesen, etwa als Erzähltexte oder im Kontext einer Konzeption weiblicher Autorschaft. Liebe ist jene auf einen Menschen gerichtete Emotion, die sich durch Maximierung der Parameter Intensität, Dauer und Wertschätzung auszeichnet – sie ist (vielleicht im Unterschied zu Verliebtheit) nicht frei von 20 21 22
23
Vgl. Kord: Little Detours, S. 43 und 48. Vgl. Anm. 30. Zur Editionsproblematik vgl.: Heuser, Magdalene: „Neuedition der Briefe von Louise Adelgunde Victorie Gottsched.“ In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Gert Roloff. Amsterdam, Atlanta (GA) 1997, S. 319–339; Kording, Inka: „Konstruktionen der Unmittelbarkeit – Individualität in den Brautbriefen Louise Gottscheds.“ In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman. Wiesbaden 2006, S. 65–88; Kording: Einleitung; Kord: Little Detours, S. 56–60, sowie S. 25ff. zum Nachweis erheblicher editorischer Eingriffe Runckels, die freilich für die Brautbriefe nicht nachweisbar sind. Unklar ist, ob Gottsched noch die Veröffentlichung der Briefe seiner Frau autorisiert hatte (vgl. ebd., S. 56). Vgl. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S. 396.
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einer, soziokulturell je different codierten, kognitiven Bewusstseinshaltung, die sich im Medium der Sprache manifestieren kann.24 Ich spreche von jetzt ab, einem üblichen Sprachgebrauch folgend, nicht mehr von einer universalen Emotion, sondern von Liebe als kulturspezifischem Gefühl, also einem subjektiv erlebten und sprachlich mitteilbaren Bewusstseinszustand,25 genauer aber auch nicht davon, sondern von den damit nicht identisch zu denkenden „Verbalisierungsmanifestationen“.26 Beschreibungs- und Ausdrucksfunktion der Sprache vermögen es, Gefühle zu verbalisieren – ob als Reflexion, Definition, ob in Gestalt von Interjektionen, Exklamationen oder auch Metaphern.27 Hinter einer solchen Behauptung einer Beteiligung des Bewusstseins am Emotionalen stecken Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften, die besagen, dass Empfindungen zwar als „eine Art Kompass“ für menschliches Verhalten gelten dürfen, dass dieses aber zugleich von bewussten Entscheidungen abhängig ist, dass Emotion und Kognition also, wie bereits ausgeführt, zusammenwirken. Menschen, die aufgrund einer Verletzung im Bereich von an der Emotionsverarbeitung beteiligten Gehirnarealen leiden, haben mitunter Probleme, sich zu organisieren, es fehlt ihnen an grundlegenden Konventionen beim sozialen Verhalten, in Bereichen also, die vordergründig als rein kognitiv bedingt gelten.28 Liebe kann aus kognitivistischer Sicht nicht nur über die Analyse sprachlicher Gefühlsrepräsentationen analysiert werden, sondern beispielsweise auch über schematisierte Handlungsabläufe, also etwa “dating scenarios“, wie sie auch in hochartifizieller Liebeslyrik zu finden sind.29 Die Besonderheit des hier beschriebenen Handlungsablaufs ist der Wechsel von Briefen, die fast regelmäßige Abfolge von Schreiben, Adressieren, Empfangen und Lesen – sowie, materialiter betrachtet, der Tausch von Gaben, der Briefe als Objekte, die zugleich stellvertretend für ihre Schreiber stehen im Sinne von: ‚Ich selbst schenke mich dir.‘ Im Rahmen dieser Handlungsabfolge und dieses Gabentausches dürfte auch der in Sprache und Schrift mediale ‚Transport‘ von Gefühlen eine Rolle spielen.
24 25 26 27 28 29
Vgl. Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 290, 294. Begrifflichkeit und Vorgehensweise stützen sich wesentlich auf dieses Buch. Vgl. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Vgl. Ebd., S. 48, 57. Vgl. hierzu: Jan Auracher: “…wie auf den allmächtigen Schlag einer magischen Rute.“ Psychophysiologische Messungen zur Textwirkung. Baden-Baden 2007, S. 36f. Steen, Gerard: „‚Love stories‘. Cognitive scenarios in love poetry.“ In: Cognitive Poetics in Practice. Hg. von Joanna Gavins und Gerard Steen. London, New York 2003, S. 67–82, hier S. 69.
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In einem der letzten Briefe vor der Hochzeit schreibt Kulmus, indem sie offenbar mit einem Zitat aus einem Gegenbrief Gottscheds den Konsens zwischen den Briefpartnern zementiert: „Sie haben Recht, daß Sie unsere Liebe eine philosophische Liebe nennen. Sie ist von den so oft gewöhnlichen Bündnissen, welchen man zwar auch diesen Namen beyzulegen pfleget, sehr unterschieden.“30 Was also wäre ‚philosophische Liebe‘ im Brief? Eine Schriftpraxis der – mit Roman Jakobson – phatischen und auf Empathie sowie emotionale Ansteckung31 zielenden Kommunikation, die auf besondere Weise eine emotionale und eine kognitive Ebene zu verbinden sucht. Emotional contagion, so die Leserpsychologie, geht mit kognitiven Vorgängen, dem Lesen als solchem, aber auch dem Reflektieren über die von der Briefpartnerin gebrauchten Kategorien, einher. Der Zedler definiert „Liebesbrief“ 1737, neben rechtlichen und moralischen Erwägungen, allzu pragmatisch als Briefwechsel zwischen Personen, „die sich über ihre Zuneigung nicht mündlich besprechen wollen oder können“, und sieht folglich die „Erklärung ihrer Liebe“ als Inhalt vor.32 Das klingt unspektakulär genug, verweist jedoch auf eine emotionale Basis, die nüchtern konstatiert werden darf. Einer der wichtigsten Briefsteller der Zeit, Benjamin Neukirchs erstmals 1709 erschienene und dann mehrfach aufgelegte Anweisung zu teutschen Briefen, gibt genauere Auskunft. Sehen wir von den galanten Briefen, die Neukirch auch und erstmals, aber eben nicht ausschließlich, zu verbreiten sucht, ab, dann lesen sich seine Empfehlungen teils viel moderner als erwartet. Nun ist der Liebesbrief ein rhetorisches Genre, das die „lesende Person bewegen“ soll, doch der „brunn, aus welchem wir die argumente nehmen, ist unser hertz“.33 Neukirch verficht durchaus ein Ideal der Natürlichkeit – sein Buch liefert Formeln und andere sprachliche Materialien, die aber den Schreibenden bei der Verbalisierung seiner ‚echten‘ Gefühle unterstützen sollen, sodass dann eben auch ‚natürliche‘ Liebesbriefe herauskommen. Es steht zu vermuten, dass gerade der Liebesbrief, dessen Geschichte stets durch eine „Spannung zwischen Formung und Natürlichkeit“ bestimmt war, inner-
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1.3.1735 (3, 319f., hier 319). Zum Begriff/Konzept der (bewusst oder unbewusst ablaufenden) emotional contagion vgl. Auracher: Schlag, S. 50–53. Art. „Liebes-Brief“. In: [Zedlers] Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 17. Halle, Leipzig 1738, Sp. 994f., hier Sp. 994. Neukirch, Benjamin: Anweisung zu Teutschen Briefen. Leipzig 1727, S. 192. (http://db.saur.de/DLO/saveUrl.jsf;jsessionid=d5bc5552e7e423b21914fd08aae7 ; Letzter Zugriff: 5.5.2012); zur durchaus nicht abschätzigen Bewertung des Herzens, des traditionellen Sitzes der Seele, durch die Aufklärer, vgl. Anm. 38.
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halb der Geschichte von Brief und Brieftheorie/Briefsteller eine Pionierfunktion innehat:34 Je verliebter nun der schreiber ist, ie beweglicher gerathen ihm auch die briefe. Denn seine leidenschafft lässet ihm nicht zu, weit auszuschweiffen: sondern wie sein hertz redet, so redet auch seine feder. […] Denn ein studierter und gekünstelter brief ist ein zeichen eines ruhigen und aufgeweckten gemüthes. Derowegen schicket er sich nicht für verliebte, welche unaufhörlich unruhig seyn, und ihren verstand nicht besser zeigen können, als wenn sie sich stellen als ob sie ihn halb verlohren hätten. […] Summa: ein rechter liebes-brief muß frey, natürlich, und mit einem worte so seyn, wie er vom hertzen kommet. Denn in galanten schreiben hat der verstand, hier aber das hertz die oberhand: und ie beweglicher und zärtlicher verliebte briefe seyn, ie näher kommen sie dem zwecke, welchen wir uns zu erlangen fürgesetzet.35
Liebesbriefe sollen die zärtlichen Gefühle des Liebenden individuell ausdrücken – so und keineswegs gleichsam mechanistisch und auf Formelhaftigkeit oder auch auf die dissimulatio des galanten Diskurses bezogen muss Neukirchs Briefstellerkonzept im Hinblick auf Liebesbriefe umschrieben werden. Keineswegs also ist der Briefsteller nur einer Rationalität des Schreibens verbunden, vielmehr zeigt die neuere Forschung zu den Briefstellern der Frühen Neuzeit, dass diese Medium der „Intimisierung von Gefühlen“, aber auch „einer verstärkten Selbstkontrolle“ waren.36 Schon im 17. Jahrhundert gibt es „erste Anzeichen einer Lockerung im Schreibstil […], was in einer individuelleren Darstellung von persönlichen Empfindungen ihren Ausdruck fand“ und z. B. bereits zum Gebrauch des Topos von der Unaussprechlichkeit starker Gefühle führte.37 Zugleich erinnert schon die bloße Tatsache, dass ein Briefsteller eben auch Liebesbriefe behandelt, daran, dass Liebesbriefe ihre kognitiven Seiten haben – eine Einsicht, die auch der heutigen Lebenserfahrung entspricht. Man könnte leichthin behaupten: das ‚Verhandeln‘ von Liebe in Briefen ist stets ein – schreibend und lesend durchgeführter – Akt der Kognitivierung einer bloßen Emotion; ein einsamer Akt allerdings, da ja die beiden Briefpartner voneinander
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35 36 37
Kellermann, K., J. Paulus u. R. Stauf: Art. „Liebeslehre/Liebesbrief“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Band 10. Berlin, Boston 2012, Sp. 574–584, Zitat Sp. 575. Vgl. ebd., Sp. 580, den Hinweis auf F. H. Schades Briefsteller von 1714: „Im Hinblick auf die Auflösung tradierter rhetorischer Dispositionsschemata gewinnt der Liebesbrief dabei eine Vorreiterrolle.“ Neukirch: Anweisung, S. 192. Furger, Carmen: Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 178. Ebd., S. 204.
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getrennt sind. Das Schreiben über Gefühle verstärkt die in der Bewusstwerdung begonnene kognitive Auseinandersetzung mit ihnen. Wenn also schon Briefsteller längst vor Gellert Programme zur Verbalisierung kognitiv wirksamer, bewusst gewordener oder werdender Gefühle boten, dann wird man Ähnliches auch von kommunikativ funktionalen, also ‚authentischen‘ Briefen erwarten dürfen, auch von den als spröde und distanzierend ausgewiesenen der Louise Kulmus, die sich vermeintlich auf ein schriftliches Vorantreiben der Verstandestätigkeit einer ‚Schülerin‘ beschränken. Immer wieder ist vom ‚Herz‘ die Rede, auch wenn der durch den Pietismus und schließlich in den erfolgreichen Texten des Sturm und Drang favorisierte Begriff gewiss nicht zu den Leitbegriffen der Frühaufklärung zählt, hatte doch Descartes die lange Zeit wirksame Entgegensetzung von ‚Herz‘ und ‚Gehirn‘ zugunsten des Letzteren entschieden, das er auch für den Sitz der Seele hielt.38 Doch in Kulmus’ Briefen, in denen nicht ‚Liebe‘ explizit zu einem philosophischen Thema wird, werden vielmehr mit Herz, Geschmack, den Leidenschaften, Beständigkeit, Providentia, Aufrichtigkeit, Witz, Tugend oder Vernunft philosophische Kategorien der Zeit auf die Beziehung zwischen Schreiberin und Adressat angewandt. Ferner werden mittels solcher Kategorien emotionale Einstellungen der Schreiberin präzisiert und reflektiert und beim Adressaten allererst begründet. Es handelt sich bei dieser Korrespondenz also um eine wechselseitige philosophische Erziehung und zugleich um den Versuch, emotionale ‚Ansteckung‘ zu erzielen. Ich kann hier nur exemplarisch verfahren, gehe aber davon aus, dass die genannten Kategorien die emotionale Einstellung, also den internen Referenzrahmen und damit einen Teil des Wertesystems der Schreiberin, erkennen lassen. Sie bieten die Voraussetzung dafür, zu entscheiden, wie viel Liebe man sich bewusst gestattet und wie man darüber schreibt. In diesem Sinn verstehe ich die Bemerkungen der Herausgeberin und Freundin Louise Gottscheds, Dorothee Henriette von Runckel, es herrsche in den Briefen „mehr ein philosophischer Ernst […] als der Scherz“, 39 sie schreibe „zärtlich, ohne in verliebte Schwachheiten zu verfallen“.40 Die Gefühlsdarstellung ist begrenzt, doch philosophisch begründet, ja befestigt. Runckels Vokabular selbst ist jener Strömung der Empfindsam38 39
40
Vgl. Biesterfeld, W.: Art. „Herz“. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3. Darmstadt 1974, Sp. 1100–1112, hier Sp. 1107–1109. Runckel, Dorothee Henriette von: „Vorbericht.“ [Zu: Briefe der Frau Louise Adelgunde Victorie Gottsched gebohrne Kulmus. Erster Theil.] In: Kording: Louise Gottsched, S. 19– 22, hier S. 19. Ebd., S. 20.
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keit verpflichtet, die in den 1770er Jahren, als die Briefe erscheinen, vorherrscht, die aber von Louise Gottsched zu Lebzeiten noch klar abgelehnt wurde.41 Liebe als extremes Gefühl, als Unaussprechliches, für das eben doch eine paradoxale Sprache gesucht werden muss – das ist für Kulmus noch kein Thema.42
IV. Was sind ‚philosophische‘ Liebesbriefe?43 Entgegen mancher Auskunft der Forschung findet sich in Kulmus’ Briefen immer wieder einer der beiden elementarsten Modi, Liebe sprachlich zum Ausdruck zu bringen: also explizites Bekennen (à la „Ich liebe dich“), das Beschreiben und Reflektieren der Empfindung, ein sich selbst und dem Adressaten Bewusstmachen des Gefühls wie auch seiner lebenspraktischen Umstände. Der sprachliche Gefühlsausdruck mittels Gefühlswörtern, Ausrufen oder Interjektionen kommt noch nicht vor.44 Das können freilich Topoi sein, die bereits Neukirch in seinem Briefsteller empfiehlt, also etwa die Klage über den Kaltsinn der Adressatin als indirektes Bekenntnis der Liebe des Schreibers.45 Am Anfang steht ein auf Gottsched gemünztes Zitat aus einem 1694 erschienenen Gedicht des Seigneur de Saint-Evremond, in dem von einem „aimable Génie“ die Rede ist, was hier zweifellos auf den Adressaten bezogen werden muss.46 Als zwei Jahre später längst die Eheschließung geplant ist, Gottsched aber noch keine feste Stelle hat, schreibt Kulmus: „Ich suche mein Glück in Ihnen und nicht in Ihren Würden.“47 Ihre frü41
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44 45 46 47
Vgl. den Brief vom 23.12.1755: „O wie glücklich wäre der Mensch, wenn er bloß den Empfindungen seines Herzens nachgehen könnte! Allein dieses ist für eine bessere Welt aufgehoben: in der jetzigen muß er zuweilen das, was ihm am liebsten wäre, demjenigen aufopfern, was die Pflichten der bürgerlichen Gesellschaft und die Umstände der Zeit ihm vorschreiben. […] Jetzt, wo auch eine neue Mode in der Poesie sich hervorthut, mit der ich nichts zu schaffen haben will, jetzt ist es besser, daß ich dieser Arbeit ganz entsage.“ (Zitiert nach: Goodman, Katherine R.: „‚Die Tugend zittert nie‘: Emotion in Literary Texts by Johann Christoph and Luise Gottsched.“ In: Diskurse der Aufklärung. Hg. von Ball, Brandes und Goodman, S. 261–281, hier S. 281). Vgl. Kuhn, Helmut: „Liebe“. Geschichte eines Begriffs. München 1975, S. 183–192; vgl. aber schon Neukirch: Anweisung, S. 208: Liebe sei „unbeschreiblich“. Vgl. Kuhn: Liebe, S. 187, der die Brautbriefe Wilhelm von Humboldts und Schleiermachers „als die schönsten Urkunden der sich damals entfaltenden philosophischen Liebesgesinnung“ nennt. Vgl. Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 144, zu „Gefühlswörtern“ und „Empfindungswörtern“. Vgl. Neukirch: Anweisung, 194 und 201f. 9.1.1732 (2, 166f., hier 167). 10.9.1732 [recte Nov./Dez. 1732] (2, 333f., hier 333).
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hesten Liebesbekenntnisse zeichnen sich durch Witz, also die scharfsinnige sprachlich-logische Kombination von scheinbar Entlegenem, aus, folgen also einem rhetorischen Gebot von Gottscheds Poetik.48 Sie zerstreut Gottscheds Eifersucht, indem sie ihn mit Sokrates gleichsetzt: „So lange ich der Meynung seyn werde, daß Socrates mir mehr als ganz Athen ist, so lange werden mir alle zierliche Statüen sehr gleichgültig seyn. Hier haben Sie mein Bekenntniß.“49 Dieses indirekte Liebesbekenntnis, das Gottscheds exklusive Bedeutung in Kulmus’ Leben klarstellt, geht mit dem Ausweis der eigenen Gelehrsamkeit wie mit der Hochachtung vor der philosophischen Leistung des Bräutigams einher. In einem Krankheitsnarrativ verbirgt sich bei anderer Gelegenheit wiederum ein Bekenntnis: „Ich bat Gott sehnlich und mit Thränen, er möchte Ihnen wieder eine Braut zuführen, welche, wo es möglich, Sie so zärtlich liebte als ich“.50 Die witzige Umschreibung des Liebesbekenntnisses, die Louise Kulmus immer wieder erprobt, kann sich freilich im galanten wie im ‚natürlichen‘ Liebesbrief finden – es mag sich um brillante Einfälle handeln oder auch um die Repräsentation eines wahren Gefühls. Anders als der Verfasser eines zwischen den beiden Brautleuten diskutierten Gedichts, von dem Kulmus mutmaßt, er habe mehr gesagt, als er empfunden habe, anders als jener also zweifelt die Schreiberin daran, dass man über die Liebe „so viel schreiben könne, als man wirklich empfindet“.51 Zugleich bekennt sie aber: „[O]ft wünsche ich, daß Sie mich weniger lieben möchten, als ich Sie liebe, um nicht so viel zu leiden, als ich leide.“52 Liebe ist für sie nicht etwas Unsagbares, doch scheint der Liebesbrief der Ort einer noch recht nüchternen Aussprache darüber zu sein, dass die Sprache begrenzte Möglichkeiten biete, ein starkes Gefühl in ihr Medium zu übersetzen. Die Echtheit des Gefühls, das im Gelegenheitsgedicht zur Sprache kommt, beginnt die junge Leserin aber anzuzweifeln. Kulmus’ indirekte Liebesbekenntnisse sind witzig und variabel, wenngleich nicht ingeniös: Der Adressat ist ihr „eine Person, die ich mir selbst und der ganzen Welt vorziehe“.53 Sie bringt Briefkommunikation und Liebe in Verbindung: „1) Ob ich vergnügt bin? = = Nur zuweilen des Posttages, die übrige Zeit bin ich ruhig und nicht unzufrieden. 2) Ob ich
48 49 50 51 52 53
Zu Gottscheds Poetik vgl. die Übersicht in: Alt, Peter-André: Aufklärung. Stuttgart/Weimar 1996, S. 68–79, hier S. 76f. 19.3.1733 (2, 394f., hier 395). 5.6.1734 (3, 114–117, hier 116). 10.9.1734 (3, 166f., hier 167). 10.9.1734 (3, 166f., hier 167. Vgl. ebd. auch zu dem angesprochenen Gedicht.). 29.10.1732 (2, 323f., hier 323).
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oft an Sie denke? = = Mein Geist schwebt immer um Sie.“54 Das entscheidende Wort ‚Liebe‘ wird nicht immer ausgesprochen, ist aber mit zu assoziieren: „Ich werde Ihnen […] nach geschehener Versöhnung mit doppelter Freundschaft, Zärtlichkeit, und wie Sie diese Neigung weiter nennen wollen, Ihnen ganz ergeben seyn“.55 Louise Kulmus vertraut auf Be- und Umschreibungen, nutzt aber kaum die Ausdrucksfunktion der Sprache, und wenn, dann setzt sie zusätzlich auf Analyse und Reflexion sowie die Einbindung in ein Narrativ. Als sie im Februar 1734 erfährt, dass Gottsched endlich seine Leipziger Professur sicher ist, versucht sie in ihrer Beschreibungssprache konsequent die Außenperspektive einzunehmen, zeichnet das Bild ihres Körpers, wie es ihre Umwelt wahrnimmt: „Die meisten wünschen mir Glück zu Ihrer neuen Würde, und vermuthen nicht ohne Grund, daß ich viel Theil an Ihrer Wohlfahrt nehme. Die Veränderung meiner Gesichtsfarbe verräth bey dieser Gelegenheit alles, was in meinem Herzen vorgeht.“ Nicht die Ausdrucksfunktion der Sprache, sondern Analyse der Ausdrucksfunktion des Körperzeichens ‚Erröten‘ (vielleicht auch Erblassen) wird hier eingeführt und zugleich in eine Reflexion integriert. Bekenntnisse, Umschreibungen, Andeutungen nehmen im Verlauf des Briefwechsels zu, werden deutlicher; man kann daraus schließen, dass auch dieser Briefwechsel mit einem kommunikativen Prozess wechselseitiger Annäherung identisch ist.56 Hierher gehört die Repräsentation von Empathie bis hin zur umfassenden emotionalen Identifikation in der Sprache, wiederum verbunden mit Reflexion darüber. Anders als bei der schon erwähnten emotionalen Ansteckung im Liebesbrief generell handelt es sich hier im Besonderen um die mithilfe der Einbildungskraft nachvollzogenen vermuteten Gefühle des Gegenübers. Paradebeispiel ist die Nachricht von Gottscheds Berufung, die Kulmus offenbar sehr empathisch aufgenommen hat: Auf ihre Trauer wegen seiner vorherigen beruflichen Probleme und ihr Erschrecken angesichts der ihn betreffenden Neuigkeiten folgen „das vollkommenste Vergnügen“ und Freude.57 Als Gottsched sie ausdrücklich nach dem Zustand ihres Gemüts fragt, antwortet sie wiederum mit Kategorien emotionaler Anteilnahme. Es ist ihre Freude, ihre Hoffnung, ihre Beruhigung, aber zunächst ist es auch ihre Ängstlichkeit, als sie die Neuigkeiten erfährt.58 Allerdings erhofft sich Kulmus auch die Anteilnahme, das Mitleiden, ihres Gegenübers. Angesichts 54 55 56 57 58
19.3.1733 (2, 394f., hier 395). 21.8.1734 (2, 151–153, hier 153). Vgl. Kuhn: Liebe, S. 16. 6.1.1734 (3, 5f., hier 6). 26.1.1734 (3,24f., hier 24).
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einer Belagerung Danzigs schreibt sie: „Ich finde so viel Erleichterung in allen Plagen, wenn ich sie nur Ihnen erzehlen kann, daß ich keine einzige weniger zu haben wünsche, weil ich alsdenn schon einen Theil Ihres Mitleidens verlieren möchte.“59 Voraussetzung der Gefühlsdarstellung sind intensive, dauerhafte und dem Partner zugewandte emotionale Einstellungen (in summa: ‚Liebe‘),60 die mit den von der Philosophie der Zeit favorisierten Werten identisch sind – und diese Werte werden ausgesprochen und teils auch diskutiert. Die positive Bewertung des Gegenübers beruht auf der Kontextualisierung der Liebesbekenntnisse und ihrer Umschreibungen durch Philosopheme, die dieses Gegenüber als Philosoph besonders hoch schätzen, kognitiv besonders hoch bewerten dürfte, und die sich zugleich der emotional geprägten Beziehung zwischen den Briefpartnern optimal einpassen lassen. Nun möchte die Schreiberin von Liebesbriefen den Leser stets mit ihren Emotionen ‚anstecken‘, indem sie sie beschreibt und ausdrückt. In unserem Fall kommen Konzepte wie Freundschaft, Tugend, Herz, Beständigkeit, Providentia und Seelenliebe hinzu – Konzepte, die zugleich favorisierte emotionale Einstellungen bezeichnen, obgleich die zugrunde liegenden Begriffe aus dem kognitiven Bereich kommen und insbesondere auch, solange sie für sich stehen, nicht mit Liebe identifizierbar sind. Doch die konsensuell erfolgende Verständigung darüber, dass beide Briefpartner es lieben, das Herz sprechen zu lassen, befördert die Annäherung auf einer kognitiven wie auch auf einer emotionalen Ebene. Die Briefe einer philosophischen Liebe handeln, indem sie die wechselseitige Beziehung auf die Ebene philosophischer Kategorien heben, einen intellektualen wie emotionalen Konsens aus, Letzterer wäre eben als emotionale Ansteckung des jeweiligen Briefempfängers zu denken. Zwar kennen wir Gottscheds Briefe nicht, doch können wir sicher sein, dass er reagiert hat, dass er, der über Louise Kulmus’ ‚Kaltsinn“61 offenbar häufig in seinen Briefen geklagt und damit ja den Ausdruck von Gefühlen in den Gegenbriefen selbst provoziert hat, auf ihre Briefe, auch auf ihre Liebesbekundungen, so verhalten sie teils gewesen sein mögen, durchaus reagiert hat, sodass in Kulmus’ Briefen ihrerseits sich diese Liebesbekundungen fortsetzen und intensivieren, bis sie im Zuge der Eheschließung überflüssig werden. Lesen als der „milde Film von psycho-somatischer Erkran59 60 61
20.3.1734 (3, 52f., hier 52). Vgl. Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 81. „[…] oft wünsche ich, daß Sie mich weniger lieben möchten, als ich Sie liebe, um nicht so viel zu leiden, als ich leide. Sagen Sie einmal, ob dieses eine kaltsinnige, gleichgültige Liebe ist, wie Sie so oft die meinige nennen?“ (10.9.1734. 3, 166f., hier 167). Vgl. auch: 21.8.1734 (3, 152); 30.8.1734 (3, 153).
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kung“ aktiviert Konzepte unserer Erfahrungswelt.62 Das Lesen von Briefen, so ist zu folgern, erleichtert uns als Adressaten die auch emotionale Öffnung gegenüber der Lebenswelt des Schreibers, wenn wir ‚uns‘ im Brief wiederfinden. Und der Adressat Gottsched konnte ‚sich‘, nämlich ein auf Lebenspraxis und Erfahrungswelt übertragenes Modell seiner rationalistischen Philosophie, in Kulmus’ Briefen tatsächlich wiederfinden. Zudem ist, wie Inka Kording bemerkt hat, Kulmus’ Selbstbild vom Entwurf dieses Bildes durch das Gegenüber mit abhängig63 – Gottsched hätte also in den Briefen ‚sich‘ und zugleich die von ihm idealisierte, da mit seinen Projektionen identische künftige Frau erkannt. Keineswegs wird man mit dem Namen Gottsched jene Aufgeschlossenheit für eine Lehre von den menschlichen Sinneseindrücken, den Empfindungen, in Verbindung bringen, die ja erst seinen Gegnern und Nachfolgern in der poetologisch-ästhetischen Diskurshoheit des 18. Jahrhunderts, also etwa Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, zuzuschreiben ist. Erst sie rechtfertigen die Empfindung als analogon rationis, als Rivalin des Verstandes also, erst Lessing akzentuiert in den 1750er Jahren die Affekterregung im Trauerspiel. Doch ließ ein Blick auf die Briefsteller der Zeit erkennen, dass bereits die Zeit um die Wende zum 18. Jahrhundert herum eine Phase des Übergangs markiert. In der Philosophie erfahren die passiones eine Aufwertung, gerade weil sie an Kognitionsprozesse geknüpft werden – erst im weiteren Verlauf, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, werden ‚Verstand‘ und ‚Gefühl‘ als „rivalisierende Möglichkeiten des Weltzugangs“ denkbar.64 Die Verknüpfung von Emotion und Kognition verdankt sich den im 17. Jahrhundert sehr erfolgreichen (Neo-)Stoikern, die Emotionen „als Urteile und Meinungen auf[fassen] und […] damit eine ausgesprochen kognitivistische Theorie der Passionen“ vertreten.65 Hierauf beruhen die Positionen des Rationalismus, auch die Christian Wolffs. Von Descartes über Wolff bis hin zu Kant lässt sich eine Entwicklung ausmachen, die die „Passionen tendenziell in den kognitiven Bereich verschiebt, sie also aus dem Strebevermögen in das Erkenntnisvermögen hinüberwandern lässt.“66
62 63 64
65 66
Schrott, Raoul u. Arthur Jacobs: Gedicht und Gehirn. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. München 2011, S. 66. Vgl. Kording: Konstruktionen, S. 88. Newmark, Catherine: „Vernünftige Gefühle? Männliche Rationalität und Emotionalität von der frühneuzeitlichen Moralphilosophie bis zum bürgerlichen Zeitalter.“ In: Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne. Hg. von Manuel Borutta, Nina Verheyen. Bielefeld 2010, S. 41–55, hier S. 46; generell vgl. ebd., S. 45f. Ebd., S. 46. Ebd.
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Die zentralen Kategorien von Gottscheds Poetik schließen allerdings durchaus das poetische Ingenium ein, das sich etwa im Witz, basierend auf Scharfsinn und Imaginationskraft, manifestiert.67 Auch bei Gottsched ist der Geschmack ein Vermögen, in dem sich sensuelle und vernünftige Bewertungskriterien verbinden. Allerdings hatte Christian Wolff zwischen oberen und unteren Erkenntnisvermögen unterschieden und die nicht verstandesmäßig, sondern sinnlich und imaginativ ablaufenden, affektiv durch Lust-/ Unlustgefühle bestimmten Erkenntnisprozesse abgewertet, immerhin aber diesen unteren, „undeutlichen“ Erkenntnisvermögen als „Anfangspunkt jeglicher Erkenntnistätigkeit“ seine Aufmerksamkeit geschenkt:68 Zu dem unteren Theile der Seele rechne ich die dunckele und undeutliche Vorstellungen, und die daraus entstehende Appetite; zu dem oberen Theile aber die deutliche Vorstellungen nebst dem Willen, der von ihnen kommet. Wir stellen uns aber entweder gegenwärtige Dinge vor, oder abwesende […]. Und in dieser Absicht eigne ich der Seele eine Empfindungs-Krafft, eine Einbildungs-Krafft, ein Gedächtnis und Vergessenheit zu. Bey der deutlichen Erkäntnis äussern sich die […] Würckungen des Verstandes […].69
Gottsched gibt in seiner Weltweisheit von 1733 eine sehr kognitivistische Definition von Empfinden: Empfinden heißt, sich eine Sache in Gedanken vorstellen, oder abbilden […]. Man unterscheide nur in den Empfindungen die empfundenen Sachen von den Vorstellungen derselben; oder von den Abbildungen, die sich der Verstand davon machet. Diese letztern sind allemal in der Seele, und werden Begriffe genennet.70
Affekte werden an Empfindungen bzw. sinnliche Wahrnehmungen als deren Effekte gebunden. Vergnügen kann aus der verwirrten Wahrnehmung eines vollkommenen Dings resultieren, doch ist der Grad des Vergnügens sowohl vom Vollkommenheitsgrad des Vergnügen auslösenden Gegenstandes als auch von der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellung abhängig: „Aus der undeutlichen Vorstellung des Guten entsteht […] in uns die sinnliche Begierde“.71 Liebe definiert Gottsched als „Bereitwillig67 68
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Vgl. Alt: Aufklärung, S. 76f. Ebd., S. 95. – Vgl. auch die Geringschätzung der Liebe im englischen Empirismus, bei Locke und Hume wird sie zu „simple impressions“ abgewertet; dies ändert sich erst seit Richardson und Rousseau: vgl. Kuhn: Liebe, S. 173. Wolff, Christian: „Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben.“ In: ders.: Gesammelte Werke. I. Abteilung, Band 9. Hg. und bearbeitet von J. École u.a. Hildesheim, New York 1973 (http://www.olmsonline.de/purl?PPN520094271 ; Letzter Zugriff: 5.5.2012), S. 254f. Gottsched, Johann Christoph: „Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil).“ In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von P. M. Mitchell. Bd. 5, erster Teil. Berlin, New York 1983, S. 134. Vgl. ebd., S. 538–540, Zitat S. 542.
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keit, sich an eines andern Vollkommenheit zu vergnügen […]; es entsteht aber die Liebe, wenn wir an einem andern etwas, das uns ein Vergnügen giebt, wahrnehmen, und solches nach dem Urtheile der Sinne für gut halten.“72 Doch ist die Vollkommenheit des geliebten Objekts erst zu prüfen, nach dem ‚Anfangsverdacht‘, die Sinne und Einbildungskraft gleichsam aussprechen, muss die Verstandestätigkeit in ihr Recht gesetzt werden und die „Dämpfung einer Gemüthsbewegung“ ist jedenfalls erforderlich.73 „Wenn […] beydes zusammen trifft, daß nämlich diese Empfindung mit einem Bewußtseyn verbunden ist: so saget man, daß man denket“.74 Indem er auf Wolffs Unterscheidung anspielt, plädiert Gottsched zugunsten deutlicher Empfindungen, die immer dann gegeben seien, „[w]enn wir das verschiedene, so wir an einem Dinge wahrnehmen, auch angeben können; oder eine Beschreibung davon zu machen vermögend sind“.75 Sinnliche Empfindungen seien immerhin deutlicher als die durch die Einbildungskraft erzeugten.76 Die Abstufung von undeutlicher zu deutlicher Erkenntnis sieht Gottsched als „allmählige[n] Fortgang“, ein Fortschreiten von Empfindung, (sinnlicher) Aufmerksamkeit, Überdenken zu Scharfsinnigkeit. Es gibt, wie in der Natur überhaupt, keinen Sprung zwischen den Erkenntnisvermögen, sie werden vielmehr als Stufenleiter von Empfindung zu Verstandestätigkeit gedacht.77 Als Anfangspunkt von Erkenntnis mag Liebe, so ist hieraus zu folgern, verworren und undeutlich sein – die briefliche Reflexion darüber, etwa über das stoische Ideal der Beständigkeit, das jegliches verwirrende Oszillieren von Lust- und Unlustgefühlen beenden könnte, ist dann ein im Medium der Sprache stattfindender Versuch, aus der undeutlichen Erkenntnis (qua Sinnesorganen und qua Imagination) eine deutliche Erkenntnis (qua Gebrauch des Verstandes) werden zu lassen. Für ein Schwelgen in jenem Oszillieren zwischen „Er/Sie liebt mich!“ und „Er/Sie liebt mich nicht!“ und damit für die ‚gemischten Gefühle‘ des Erhabenen ist es noch zu früh. Philosophem der Dauerhaftigkeit der Liebesbeziehung ist die stoische Constantia, die Beständigkeit, auf die Kulmus immer wieder rekurriert und 72 73
74 75 76 77
Ebd., S. 543. Gottsched, Johann Christoph: „Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil).“ In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von P. M. Mitchell. Bd. 5, zweiter Teil. Berlin, New York 1983, S. 338. Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Teil), S. 514. Ebd., S. 515. Vgl. Ebd., S. 518. Vgl. Ebd., S. 523–525.
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die als Ideal auch in Neukirchs Briefsteller nicht fehlt.78 Kulmus beteuert also gelebten Stoizismus, indem sie erklärt, andere Bewerber abgewiesen zu haben; die Bestätigung der Treue ist ein Liebesbeweis: „Es war eben um die Zeit, da die Reihe an mir war, eine Probe der Beständigkeit gegen Sie abzulegen. Ich bin standhaft geblieben, ohngeachtet ich von allen Seiten heftig bestürmet wurde.“79 Gemütsruhe und Beständigkeit ruft Kulmus nochmals nach Gottscheds Verlobungsschreiben auf: Nun, im Namen Gottes, verspreche ich mich also Ihnen, mein theuerster und bester Freund, auf mein ganzes Leben mit dem besten Vorsatz, Sie über alles in der Welt zu lieben, und Ihnen treu zu seyn bis in den Tod. Bey der Fortsetzung Ihrer Liebe wird mir alles Leiden erträglich seyn, und in meinem Gemüthe keine Veränderung verursachen können.80
Fast omnipräsent ist der Begriff der Freundschaft, der sowohl aus heutiger Sicht wie aus der des späten 18. Jahrhunderts missverständlich wirken könnte – bei Christian Thomasius aber ist das Ideal der – durch den Verstand als gut bewerteten – vernünftigen und wahrhaftigen Liebe „von der Freundschaft nicht unterschieden“.81 Vielmehr ist die Freundschaft Musterbild einer symmetrischen Beziehung.82 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn Louise Kulmus bereits in ihrem ersten Brief für „reinste und zärtlichste Freundschaft“ als Endziel der angestrebten Beziehung plädiert.83 Symmetrie und Dauerhaftigkeit als Kennzeichen einer Beziehung zwischen Liebenden wird auf dem Papier über Jahre hin ‚erarbeitet‘; philosophischer Leitbegriff ist in diesem Annäherungsprozess die Freundschaft. Neben Tugend und Aufrichtigkeit ist es die schon angesprochene, mit dem Fühlen und mit der Seele in Verbindung gebrachte Kategorie des Herzens,84 die immer wieder strapaziert wird: „Aus der Fülle meines Herzens habe ich geschrieben“, so Kulmus.85 78 79 80 81 82
83 84 85
Vgl. Neukirch: Anweisung, S. 202. 4.9.1734 (3, 156–158, hier 157). 22.9.1734 (3, 186f., hier 187). Kluckhohn, Paul: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Halle 1931, S. 144, vgl. aber ebd., S. 142f. Vgl. Becker-Cantarino, Barbara: Genderforschung und Germanistik. Berlin 2010, S. 154–161; vgl. aber auch etwa Neukirch: Anweisung, S. 127: „Ist der fremde höher, als wir, und kann uns mit etwas dienen, so pflegen wir uns bey ihm zu insinuiren: ist er aber nicht viel höher oder unsers gleichen, so suchen wir seine freundschafft: und sind wir seines gemüths versichert, so entspinnet sich endlich die vertraulichkeit. Mit frauenzimmer schwatzen wir noch etwas mehrers nemlich von liebe, welche entweder wahr oder erdichtet ist.“ Vgl. die Akzentuierung der Dauerhaftigkeit von Freundschaft bei Kuhn: Liebe, S. 172f. 12.7.1730 [recte 1729] (1, 228). Vgl. nochmals Biesterfeld: Herz. 20.3.1734 (3, 52).
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Schließlich ist mit der Gelassenheit eine emotionale Einstellung zu nennen, die mit einer seit der Spätantike in der christlichen Theologie zentralen, sich vor allem in den zunehmend materialistischen Strömungen der Aufklärung verflüchtigenden Kategorie verknüpft ist, nämlich dem Glauben an die Vorsehung oder Providentia.86 Das Korrektiv zu eventuellen heftigen Gefühlen, ein Instrument der Affektdämpfung gewissermaßen, ist der Glaube an die Vorsehung: „Lassen Sie uns der Vorsicht trauen, die unsre Bekanntschaft selbst gefüget hat; ist es ihr Wille, so wird die reinste und zärtlichste Freundschaft durch sie beglücket werden.“87 Mit der Providentia kommt eine Instanz ins Spiel, die nicht nur gegen die Heftigkeit des Gefühls vorsorgen soll, sondern die zugleich an den Ort des Metaphysischen erinnert: Nicht die Metaphysik der Geschlechtsliebe wird hier befördert oder reflektiert, sondern die alles überwölbende christliche Metaphysik, der sich die Liebe zwischen Mann und Frau nach wie vor unterzuordnen hat. Über einen trauernden Witwer heißt es, „er habe seine Frau mehr angebetet als geliebet. Ist dieser Ausdruck einem Christen, und noch darzu einem Geistlichen wohl anständig? Ein höheres Wesen zeiget ihm, wie hinfällig sein Abgott gewesen.“88 Der Sprachwandel hin zu einem säkularen Gebrauch von ‚der oder die Angebetete‘ steht noch bevor; Kulmus insistiert auf einer klaren Unterscheidung und Hierarchisierung von religiöser Liebe und Geschlechtsliebe. Indem die Schreiberin ihre Emotionsdarstellungen in philosophische Begrifflichkeit einkleidet, die zugleich emotionale Einstellungen und damit kognitive Strukturen bezeichnen, straft sie die immer wieder geäußerte Auffassung Lügen, von Gottsched lediglich unterrichtet zu werden, nichts als seine Schülerin zu sein, wobei allerdings nach dem theoretischen Unterricht in Briefen, wie selbst konstatiert, der praktische nach der Eheschließung zu erwarten gewesen sei.89
V. Fazit Eheaufschub und mehr noch Aufkündigung des Verlöbnisses sind traditionell Topoi epistolarer Hinhaltetaktik – diese empfiehlt auch Benjamin
86 87 88 89
Vgl. Köhler, J.: Art. „Vorsehung“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u.a. Band 11. Darmstadt 2001, Sp. 1206–1218. 12.7.1730 [recte 1729] (1,228). 10.9.1732 [recte Nov./Dez. 1732] (2, 333f., hier 333). Vgl. 26.1.1734 (3, 24f., hier 24): „[I]ch habe keinen Willen als den Ihrigen, Ihre Bestimmung soll meine Vorschrift seyn.“
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Neukirch männlichen Liebesbriefschreibern (natürlich nur männlichen!).90 Den in einer fast sechs Jahre währenden Brieffreundschaft objektivierten Aufschub lese ich aber anders: „Philosophische Liebe“ erarbeitet einen kognitiven und emotionalen „Konsens“, auch wenn oder gerade weil der Zeitpunkt der Eheschließung sich immer weiter in die Zukunft hinein verschiebt. Trotz dieser Annäherung in der Schrift verwundert es nicht, wenn Katherine Goodman anhand eines Vergleichs von Kulmus’ und Gottscheds Übersetzung des Cato Joseph Addisons herausarbeitet, dass Louise Kulmus dort und in anderen ihrer literarischen Texte mehr Empfindungen verarbeitet als ihr späterer Mann.91 In Briefen, die nicht nur, aber auch von der wechselseitigen Beziehung und ihren Stärken und Schwächen, von Annäherung und Distanz sprechen, wird zunächst einmal vor allem verhandelt, ob die ‚Weltsicht‘ der beiden Briefpartner konvergiert oder gar harmoniert. Nicht wenige Kategorien dieser Weltsicht lassen sich erproben, indem sie dafür funktional werden, die in Frage stehende Beziehung bzw. deren emotionale Anteile zu beschreiben und auszudrücken, ja voranzutreiben, in Maßen zu intensivieren. Gottsched ist für Kulmus als Ehemann attraktiv, da er wertvolle Eigenschaften und Fähigkeiten auf sich vereinigt, die ihn zum Musterbild der von ihm favorisierten Philosophie eines emotional abgemilderten Rationalismus machen – es geht dabei eben nicht nur um die Tugendhaftigkeit und den Gebrauch des Verstandes, wie man meinen möchte. Kulmus vermag für Gottsched nicht zuletzt deswegen attraktiv zu sein, weil sie sich als befähigt erweist, Emotionsdarstellungen mit philosophischer Reflexion, mit Witz und Geschmack in Briefen unterzubringen – die sich damit als ‚philosophische‘ Liebesbriefe erweisen. Bereits um 1730 kann das vielgestaltige Handeln im Rahmen der Briefkultur als emotionsregulierend angesehen werden, indem mutmaßlich diffuse (oder als diffus und verworren klassifizierte) auf Schreiber und Adressat einströmende Gefühle in Handlungsweisen wie Schreiben, Lesen, Geben/Nehmen (Versenden und Empfangen) und damit in geregelte Bahnen gelenkt werden. Erst im Zeitalter Rousseaus bedeutet Briefkultur auch, innerhalb derselben geregelten Bahnen und im neu hinzukommenden Ordnungsgefüge des Briefromans, des ‚offenen‘ Dramas oder der formal wenig geregelten Erlebnislyrik, die Sprache auf Ausdrucksmöglichkeiten auch für heftige, überwältigende Gefühle hin zu erproben.
90 91
Vgl. Neukirch: Anweisung, S. 194. Vgl. Kord über die Briefe: „a mere postponement of the wedding“ (Kord: Little Detours, S. 42). Vgl. Goodman: Tugend, S. 281.
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Ich komme mit meiner Lektüre der Briefe zu einem ganz anderen Ergebnis als Susanne Kord. Ich sehe nicht so sehr Louise Kulmus’ Zögern, ihren Unwillen, sich Gottsched hinzugeben – vielmehr scheinen mir die Verzögerungen der Eheschließung tatsächlich durch die Umstände bedingt zu sein (Todes- und Krankheitsfälle, politisch-kriegerische Wechselfälle). Ungeachtet dieser Hemmnisse arbeitet Louise Kulmus daran, Gefühl und philosophische Weltsicht zusammenzuführen und sich in beiden Bereichen der Sprache ihrem künftigen Ehemann, möglichst auf Augenhöhe, anzunähern. Gleichwohl ist diese Art der Beziehungsarbeit mit der Forderung nach Distanz verbunden; Kulmus fordert, obgleich sie sozial immer schon unterlegen ist, einen Freiraum für sich und sie entschärft potenzielle Konflikte mit dem sie bedrängenden Bräutigam durch die Abtönung der Beziehung zu einem Lehrer-Schülerin-Verhältnis. Dies alles ist nicht zu verkennen. Zugleich aber bemüht sich die Briefschreiberin um intellektuelle und zugleich emotionale Harmonie.92 Die Subsumierung des beschriebenen Textkorpus unter ‚Liebesbriefe‘ ist dann zu rechtfertigen, wenn man diesen Begriff präzise zuschneidet: Es handelt sich um Texte, die zu Medien der dialogischen Einübung in eine durchaus intellektuale Form der Affektregulierung geworden sind und die kaum schon nach einer neuen Sprache zu suchen beginnen, die wirkmächtig erst etwas später erfunden wird – eine Sprache, die ihre kognitiven Wurzeln verbergen wird. Gleichsam nebenbei ist die ‚philosophische Liebe‘ in ihrem Streben nach einer symmetrischen Beziehung eine zaghafte einseitige Aufkündigung des Gehorsams, den die Frau dem Hausvater schuldet.93 Im Briefwechsel selbst wird ausgehandelt, ob der Eheaufschub Ausdruck von Louise Kulmus’ „Kaltsinn“ sei oder einfach Teil einer von „zärtliche[r] Ungedult“ nicht berührten Kontingenz.94 Tanja Reinlein bezweifelt, dass der Anerkennung der wissenschaftlichen Autorität Gottscheds durch Louise Kulmus die „Festlegung eines gemeinsamen Lebens- und Gefühlsraums“95 zur Seite steht. Von bedingungsloser Hingabe, von Lust und Leidenschaft wird man in Texten des ersten Jahrhundertdrittels schwerlich Anzeichen finden. Von der Expressivität eines Werther sind sie noch sehr weit entfernt, an dieser Norm dürfen wir sie nicht messen.
92 93 94 95
Zur Begrifflichkeit vgl. Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 26. Vgl. Wilson, W. Daniel: „Obedience.“ In: Publications of the English Goethe Society. Vol. LXXVII, No. 1, 2008, S. 47–59. 21.8.1734 (3,151–153, hier 151 und 152). Reinlein: Brief als Medium, S. 103.
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Liebe in Zeiten der Leidenschaft Leisewitz: Brautbriefe I. Liebe als Emotion Wir gehen gewöhnlich davon aus, dass Liebesbriefe die seelische Empfindung konzipieren, die wir als ‚Liebe‘ bezeichnen, wobei sie, im Wechselspiel mit der Kultur ihrer Zeit, an den Vorstellungen partizipieren, wie sich diese Empfindung gestalten und äußern müsste. Wir beachten dabei nicht immer, dass die Bezeichnung der Liebe als ‚Gefühl‘ ein relativ später Versuch ist, ihre emotionale Souveränität zu begründen. An diesem Versuch irritiert schon die Singularität, ist es doch ein komplexes Gemisch aus kulturhistorischen Variablen, typologischen Interaktionsformen und individualpsychologischen Präferenzen, die in dem zusammenspielen, was wir Liebe nennen; man denke nur an Bewunderung, Fürsorge, Dankbarkeit, Besitzanspruch, Angst vor Einsamkeit, Hingabe und Abhängigkeit. Mehr noch irritiert an jenem Versuch aber die Autonomie. Denn Liebe ist zunächst eines: Emotion. Bekanntlich sind Emotionen ein wesentlicher Teil unserer Lebenswelt.1 Sie steuern vegetativ, impulsiv und reaktiv das Leben und Überleben, konditionieren die Individuen und motivieren ihr Verhalten, ermöglichen über Expression und Impression die interindividuelle Kommunikation und bilden über Formen emotionaler Übereinstimmung den sozialen Konsens, der wiederum emotionale Kodizes generiert. Im Kernbereich elementarer physiomotorischer Reaktionen (wie Schmerz und Bedürfnis) und primärer, körperlich manifester Gemütsregungen – wie Lachen und Weinen, Wollen und Fliehen – sind sie anthropologisch fundiert und weitgehend interkulturell verständlich. Auch die substantiell oder strukturell bestimmten Emotionen, für die Kulturen Begriffe geprägt haben – wie Freude und Trauer, Neigung und Abneigung, Furcht und 1
‚Emotion‘ fungiert im Folgenden als neutraler Begriff für das neuronal / hormonell vermittelte „Interaktionsgefüge subjektiver und objektiver Faktoren“, das im Einzelnen affektive Erfahrungen, kognitive Prozesse, physiologische Anpassungen und Verhaltensformen implizieren kann. So die Arbeitsdefinition in Otto, Jürgen H., Harald A. Euler u. Heinz Mandl (Hg.): Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Weinheim 2000, S. 15.
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Wut –, sind bis zu einem gewissen Grad zeitübergreifend und interkulturell vermittelbar; Literatur würde sonst nicht funktionieren. Sie werden jedoch im Kontext der Epochen und Kulturen unterschiedlich verortet, erklärt, bewertet und behandelt, das heißt: konzeptionalisiert. Als emotionales Geschehen partizipiert Liebe an den Emotionstheorien und -phänomenologien der Zeit, und das heißt im Blick auf das 18. Jahrhundert: an den Komplikationen, die sich mit der anthropologischen Verortung von Emotion verbinden. Denn noch meint Emotion ‚Affekt‘, und noch ist Liebe ein Gegenstand der Affekttheorie. Diese partiell physiologische Begründung liegt jeder Untersuchung der Konzeptualisierung voraus. Wir begegnen im Spektrum der Liebe als Emotion eher den Belastungen der seelischen Ökonomie, Spannungen in der Selbstwahrnehmung und Brüchen im Persönlichkeitsbegriff. Während all diese Probleme in der Literatur traditionellen Ausdrucksformen unterstellt werden, wie der Tragödie, bleiben sie in den privaten Aufzeichnungen der Liebe als Irritationen stehen. Das verleiht diesen Dokumenten allerdings einen virulent psychologischen Reiz: Während Dichtungen in der Topik der Empfindung kulturhistorische Dispositionen konstellieren oder reflektieren, sehen wir uns in Liebesbriefen nicht selten mit psychischen Tendenzen konfrontiert, die unterschwellig noch in unserem gegenwärtigen Fühlen nachwirken. Im Fokus meiner Überlegungen steht ‚Liebe‘ daher nicht als Kommunikationsform oder gesellschaftliches Phänomen, wie etwa in Luhmanns Abhandlung über Liebe als Passion.2 Es geht um Liebe als Emotion, als Dimension menschlichen Verhaltens und als anthropologische Funktion. In diesem Kontext begegnen wir der Liebe in Verbindung mit einer Erscheinungsform von Emotionalität, für die sich in der Zeit die Formel ‚Leidenschaft‘ ausgeprägt hat. Da ich die kulturhistorischen Hintergründe des Begriffs in anderem Zusammenhang beleuchtet habe,3 beschränke ich mich auf einleitende Worte: Der Begriff ‚Leidenschaft‘ ist eine Neuprägung des 17. Jahrhunderts, die laut Grimm von dem Desiderat der Wörterbücher ausgeht, bei Übersetzungen aus dem Französischen (passion) der physisch-psychischen Zuständlichkeit eines emotionalen Geschehens zu entsprechen, das seit 2
3
Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982. Bedingt durch den genannten Ansatz erweist sich für den Autor leider ein „von Kommunikationsformen unabhängiger Bestand von Affekten oder Emotionen kaum feststellbar“ (S. 49). Ritzer, Monika: „‚Gewalt über unsre Leidenschaften?‘ Pathos und Pathetik der Emotion in der Tragödienästhetik der Aufklärung“. In: KulturPoetik, Bd. 12, Heft 1 (2012), S. 1–40. Dort findet sich weitere Literatur zum Leidenschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert.
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der Antike als Erfahrung bzw. Erleiden von Veränderungen verstanden wurde.4 Diese – per se passiv erlebte5 – emotionale Erfahrung kann wertneutral begriffen werden, oder sie kann eine mehr oder weniger latente Aversion implizieren gegen das Leiden von Körper und Seele an den spontanen Gemütsbewegungen, die als Störung sowohl der inneren Gemütsruhe wie der Selbstbeherrschung aufgefasst werden. Dazu kommt das Inklinatorische und Transitive der als ‚Leidenschaft‘ begriffenen Emotion, das erst das Konzept des autogenen und saturierten ‚Gefühls‘ nivellieren wird. In der ‚Leidenschaft‘ dagegen schwingt das Leiden der Bindung an das seelisch bewegende Objekt mit, das ‚Verlangen‘ nach der Person oder dem Gut, auf das sich die Leidenschaft richtet.6 Es ist meist ein impulsiv ‚hitziges‘ und ‚brennendes‘ Verlangen: Im sinnlichen Geschehnis liegt das ‚Affektive‘ der Leidenschaft, der in der Skala emotionaler Wärmemetaphern ein erhöhter Hitzegrad zukommt. Die physiologische Konnotation führt – wie Grimm an Zitaten unter anderem von Gellert oder Wieland deutlich macht – zur Gleichsetzung mit einem massiv ‚sinnlichem Begehren‘ (erkennbar an den Suffix-Signalen von ‚Neubegierde‘ oder ‚Rachbegierde‘), das Affektivität impliziert und Elementarmetaphorik assoziiert, wie Reizbarkeit, ‚Entflammbarkeit‘, ‚feuriges‘ Temperament und ‚stürmisches‘ Gebaren. Erotische oder sexuelle Leidenschaft bleibt demgegenüber im deutschen Sprachraum, anders als im französischen, eine spezielle Konnotation. Im Kontext der Leisewitz’schen Schriften erscheint der Begriff ‚Leidenschaft‘ entsprechend ambivalent: Liebe gehört, als Emotion oder ‚Empfindung‘, kategorial zu den ‚Leidenschaften‘; der Begriff ‚Gefühl‘ fehlt. Sie unterliegt in dieser Zugehörigkeit aber den potentiellen Depravationen durch Affektivität. Während dies im Drama der Zeit zu tragischen Konstellationen führt, werden wir in den Liebesbriefen mentalen Spuren folgen, die eine weit weniger klare Orientierung zeigen.
4 5
6
Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. S. Hirzel-Verlag. Leipzig 1854– 1971. Hier: Bd. 12, Spalte 670–672. Grimm zitiert Christian Wolff (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen [1719/22]) als Beispiel für die naturwissenschaftliche Übertragung des PassivMoments: „eine veränderung, davon der grund in der sache anzutreffen, die verändert wird, heiszet man eine that oder ein thun: hingegen eine veränderung, davon der grund in einer andern sache, als die verändert wird, anzutreffen, heiszet man eine leidenschaft“. Auch das Zusammenpressen eines Schwamms wäre so als ‚Leidenschaft‘ zu bezeichnen (ebd.). Grimm formuliert daher ‚Seelenverlangen‘ und akzentuiert das Transitive – „eine leidenschaft für, zu etwas“ – mit Beispielen aus Goethes Schriften (ebd.).
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II. Biographische Konturen Johann Anton Leisewitz wird 1752 in Hannover geboren. Als Brotberuf studiert er Jura in Göttingen und arbeitet ab Herbst 1774 als Advokat, zunächst in Hannover. Im Sommer des gleichen Jahrs tritt er als angehender Literat dem Göttinger Hainbund bei, in dessen Musenalmanach des folgenden Jahres er seine ersten dramatischen Versuche, zwei Szenen, veröffentlicht: Der Besuch um Mitternacht und Die Pfandung. Noch aus den Göttinger Tagen stammt auch das Drama, mit dem Leisewitz in die Literaturgeschichte eingeht, Julius von Tarent. Die Manuskripte bezeugen eine Hauptarbeitsphase im Sommer 1774, nach vorausgehenden Entwürfen. Im Jahr darauf schickt er sein Werk an die beiden Leiter der Hamburger Schauspieltruppe, Sophie Charlotte Ackermann und ihren Sohn, Friedrich Ludwig Schröder, die für ein allgemein akzeptables, theaterwirksames und kostengünstig spielbares ‚Originalstück‘ zwanzig Louisdor ausgelobt hatten. Bekanntlich gehen drei Stücke ein, die sämtlich den gerade modischen Brudermord zum Thema haben. Aus verschiedenen Gründen entscheidet man sich für Friedrich Maximilian Klingers Drama Die Zwillinge, das aber wohl durch Gespräche Dritter über Leisewitzens Dramenplan inspiriert wurde. Mit einigen Änderungen erscheint Julius von Tarent Ostern 1776 anonym und angeblich gegen seinen Willen. Das ‚Trauerspiel‘ findet gleichwohl allgemein Anklang und wird noch im gleichen Jahr mehrfach nachgedruckt. Man kritisiert zwar verschiedentlich die Reflexivität des Titelhelden, auch die Diskursivität der Emotionsdarstellung, doch charakterisiert dies bereits die Besonderheit der Leisewitz’schen Attitüde. Wenig bekannt, doch äußerst instruktiv für Leisewitz’ Emotionsbegriff ist die letzte der dramatischen Skizzen (Selbstgespräch eines starken Geistes in der Nacht), die er 1776 im Deutschen Museum veröffentlicht. Damit erlischt allerdings zugleich seine dichterische Begabung. Leisewitz versucht sich zwar in regelmäßigen Abständen an einer ‚Comödie‘, plant historische oder auch geschichtsphilosophische Abhandlungen und erstellt Vorarbeiten für eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Doch scheitern all diese Pläne – wie man in den Tagebüchern minutiös verfolgen kann – an inneren Widerständen sowohl psychischer wie intellektueller Art. Die Brautbriefe entstehen unmittelbar nach dieser frühen Werkphase. Leisewitz lernte Katharina Maria Sophie Seyler 1777 in Hannover kennen, und zwar im Haus ihres Onkels, des Hofapothekers Johann Gerhard Reinhard Andreae, der sich der beiden Kinder, Sophie, Jahrgang 1762, und ihres älteren Bruders Abel Jakob Gerhard, nach dem frühen Tod seiner Schwester angenommen hatte und ihnen eine sorgfältige Erziehung
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angedeihen ließ. Leisewitz war zunächst mit Sophies Bruder befreundet; aber bald bilden sich, zunächst wohl von der Fünfzehnjährigen ausgehend, zarte Bande zu Sophie. Am 1. Juni 1777 kam es zu einem ersten Kuss im Garten des Hauses, der fortan in der gemeinsamen Liebesgeschichte idyllisch memoriert wird. Bereits am 12. August desselben Jahres hält Leisewitz brieflich um die Hand des jungen Mädchens an. Er erhält zwar umgehend ihre Zustimmung, doch erscheint dem Onkel eine Verlobung im Blick auf die Jugend Sophies wie auf die unsicheren beruflichen Verhältnisse des Bewerbers als verfrüht. Es kommt zu mehrfachen, beruflich bedingten Trennungen des Paares. Im November 1777 geht Leisewitz als Sekretär der Landschaft des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel nach Braunschweig. Von diesem Zeitpunkt an datiert ein regelmäßiger Briefwechsel. Die uns erhaltenen Brautbriefe erstrecken sich über die gesamte Zeit der inoffiziellen Verlobung. Sie setzen ein am 24. Oktober 1777 und reichen bis zum 8. September 1781. Obgleich sich in diesen Briefen von Beginn an eine auf Dauer angelegte Beziehung abzeichnet, bleibt der Heiratswunsch weitere vier Jahre lang unerfüllbar, da es Leisewitz lange nicht gelingt, eine sichere berufliche Basis für die Familiengründung zu schaffen. Als er sich im April 1781 erneut um die Geliebte bewirbt, ist er erfolgreich, sodass am 13. September in Hannover endlich die Hochzeit stattfinden kann. Die Ehe verläuft glücklich, nicht zuletzt aufgrund einer charakterlichen Affinität, ja Symbiose, die wir emotionstheoretisch zu bewerten haben werden. Sie bleibt kinderlos, was wohl nicht beabsichtigt, aber auch keineswegs beklagt wird. Nach dem Tod von Leisewitz am 10. September 1806 lebt Sophie zurückgezogen; sie stirbt am 17. Dezember 1833. Werkbiographisch wäre also festzustellen: Die Liebesbriefe werden in enger zeitlicher Nähe zum Julius von Tarent geschrieben, dem Drama, in dem Emotionalität nicht als bloßes Beiwerk der Charakterisierung fungiert, sondern das eigentliche Thema bildet. Wie parallele Problemkonstellationen zeigen, artikuliert der Autor in seinem jugendlichen Protagonisten durchaus eigene Dilemmata. So könnte man, was die Beziehung von Werk und privatem Liebesereignis anbelangt, die Worte des Fürsten über Julius zitieren: „In ein so vorbereitetes Herz kam die Liebe […] eben so wenig unerwartet, als ein Hausvater in seine Wohnung.“ (LS 26)7 Ich untersuche daher zunächst die Dramaturgie der Emotionen im Julius von Tarent, um Spezifika der Problemstellung erkennbar werden zu lassen. Der Vergleich
7
Leisewitz, Johann Anton: Sämmtliche Schriften. Braunschweig 1838. (Hier wie im Folgenden zitiert mit der Sigle LS).
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mit Klingers Zwillingen soll dabei den Blick schärfen für die ganz eigene Position, die Leisewitz im Sturm und Drang einnimmt.
III. Dramatische Präfigurationen Julius von Tarent vermag, wie gesagt, in Hamburg nicht zu reüssieren. Aber man äußert sich lobend, und zwar mit charakteristischen Differenzierungen gegenüber Klinger. Leisewitzens Drama sei – wie es in der Begründung heißt, die im ersten Band des Hamburgischen Theaters (1776) abgedruckt wird – „voll Verve und Geist“, alles entdecke „den Kenner der Leidenschaft, den denkenden Kopf, den Sprecher des Herzens“. Klingers Zwillingen fehlt diese emotionale Subtilität; die Motivationsstrategie ist gewissermaßen plakativer, verleiht damit aber der Handlung mehr Dynamik. Sein Stück hätte, wie es heißt, „die mächtige, gewaltige Triebfeder der unentschieden gebliebenen Erstgeburt voraus“, die den Protagonisten ‚entflamme‘ und damit quasi sichtbar in die für beide tödliche Katastrophe führe.8 Im Blick auf die Synthese von „Malerei der Leidenschaft“ und „tragischer Stimmung“, den Charakteristika der Neuzeit, sind Klingers Zwillinge Otto Ludwig zufolge geradezu ein Lehrstück für die Poetik der Tragödie. Im Vergleich dazu entfalte zwar auch Leisewitz die dramatische Handlung aus den „Charakteren und Leidenschaften“, doch gestalte sich seine Charakterzeichnung im Sinn des Wortes ‚geistreicher‘ und die Schilderung der Seelenzustände differenzierter, was seine Darstellung psychisch nahezu zeitlos mache.9 All dies ist richtig und weist bereits auf den unterschiedlichen Ansatz der Texte, die das gleiche Sujet, die tödliche Konkurrenz zweier Brüder, auf gleich individuelle, aber, was die Natur der Individualität anbelangt, divergierende Weise begründen. Während Klingers Protagonist die ‚leidenschaftliche‘ Hypertrophie des gegen den Welt rebellierenden Individuums exemplifiziert, entfaltet Leisewitz am Beispiel des Titelhelden die Aporie der leidenschaftlich affizierten, weltabgewandten Individualität. Klingers Protagonist Guelfo zeigt im Kern die Signatur des Sturm und Drang. Der Held besitzt, im Positiven wie Negativen, die elementare Kraft einer ihm mütterlich erscheinenden Natur, „Mut, Feuer, Geist,
8 9
Zitiert nach dem Nachwort des Herausgebers in: Leisewitz, Johann Anton: Julius von Tarent, Ein Trauerspiel. Hg. von Werner Keller. Stuttgart: Reclam 1965, S. 80. Ludwig, Otto: Gesammelte Schriften, 5 Bde. Hg. Von Adolf Stern. Leipzig 1891. Hier: Bd. 5, S. 342, S. 339f.
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Stärke“.10 Seine tendenziell prometheischen, aber asozialen Eigenschaften kontrastieren, in ähnlicher Konstellation wie bei Leisewitz, mit dem Wesen seines Zwillingsbruders, des ‚süßen, empfindsamen, klugen‘ Ferdinando. Man könnte bei diesem von einem ganymedischen Charakter sprechen, doch prägen sich seine Tendenzen im Stück nicht aus; Klinger konzentriert sich auf seinen stürmischen Helden Guelfo. Diesem mangele, wie sein Freund Grimaldi sagt, zur Entfaltung der Persönlichkeit nur das Selbstbewusstsein: „Guelfo, dir fehlt nichts als Glauben an dich, und du bist ein gemachter Mann, der alles mit Gewalt nach sich zieht.“ (K 71) Der Mangel wird im Text nur extern begründet: Guelfo, der um Sekunden nachgeborene Zwilling, agiert von Beginn an als Zurückgesetzter, Gedemütigter, dessen Kraft sich an einer Lebenssituation bricht, die ihm keinen Raum lässt. Nur angedeutet findet sich die Vision einer anderen, Guelfos Energien positiv unterstützenden Entwicklung. Der Zweitgeborene weiß um seine natürlichen Rechte – „Fühl’ ich mich nicht und weiß, wozu ich geschaffen bin?“ –, damit aber zugleich um seine Beschränkung, „wie man sich an mir versündigt hat“ (K 76). So trägt er das Stigma einer Benachteiligung („warum hab’ ich nichts und er alles?“ K 70), die ihn in dem Maß seelisch ‚erstarren‘ lässt, wie er sich zum „garstigen Nichts“ reduziert glaubt (K 72). Das existentielle Problem findet eine Stimme im grüblerischen Grimaldi, den mit Guelfo eine Schicksalsgemeinschaft verbindet.11 Während Grimaldi als ‚schwacher‘ Charakter depressiv agiert („Ich wälze mich Jahre im Leiden und kann mich nicht aufrichten“ K 102), mit nach innen gekehrter Trauer, Melancholie, mit Misanthropie und Zynismus – und hierin den psychologischen ‚Schatten‘ des Helden bildet12 –, agiert der ‚starke‘ Guelfo seiner Natur nach aktiv: „Man räumt’s weg, Grimaldi“ (K 84). Er begehrt auf gegen die Welt, die ihm, in Gestalt des Bruders, keinen Raum lässt („Ich und die Welt haben gebrochen und so gebrochen, daß mein Herz mit brach“ K 93), und kämpft, ‚rächend‘, um das ‚Seinige‘. Die 10
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Von Loewenthal, Erich u. Lambert Schneider (Hg.): Sturm und Drang. Dramatische Schriften. 2 Bde. Berlin 1959. Hier: Bd. 2, S. 78. (Alle folgenden Zitate mit der Sigle K nach dieser Ausgabe). „Menschheit! Menschheit! Eine feindliche Hand schüttelte den Lostopf, die Stimme schrie drein: Verflucht fall es auf die beiden! So fiel’s auf uns, ausgeleert mit Haß. Wir beide sind vernichtet, ohne Rettung und Trost. In diesem Augen blick überfällt mich Menschenhaß, daß meinem Gaumen nach ihnen gelüstet. Laß uns die Menschen anfallen, wenn das Eltern tun! Laß sie uns zerreißen! Leg’ deinen Degen weg und schärf’ deine Zähne! Ha! ich werd’ wahnsinnig mit dir über das Geschick.“ (K 102). Im Gegensatz zu Mattenklott sehe ich in der Figur die Schattenseiten konzentriert und nicht den ‚eigentlichen‘ Zwilling. Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Erweitere Ausgabe. Frankfurt/Main 1985.
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Liebe spielt dabei eine Nebenrolle. Zwar erhofft Guelfo von Kamilla, der Braut Ferdinandos, einen „Liebessegen“ (K 94), der ihn mit der Welt versöhnen würde, doch bleibt diese Alternative unbestimmt; den Ehrgeizigen reizt sie nur als Besitztum des begünstigten Bruders. Damit erscheint Guelfos natürliche ‚Gemütsart‘ – das Kraftvolle, aber auch „Wilde, Ungestüme“ seines Herzens (K 68) – im Modus der Leidenschaft: „Er brennt wie Feuer, wenn wir ihn berühren“ (K 91). Mit anthropologischem Interesse beobachtet der Fürst diesen Modus, wenn er zusieht, „wie sich Leidenschaften bei meinen Kindern zeichnen“ (K 80). Es zeigt sich, dass solch leidenschaftliches Agieren die Persönlichkeit destabilisiert: Indem der Held Sturm läuft gegen die Welt, fällt er dem destruktiven Potential seiner Energien zum Opfer, seinen ‚bösen Geistern‘.13 In diesen Geistern verdichtet sich zugleich die Finalität der Tragödie, die Klinger durch prognostische Signale unterstreicht. Die Hypertrophie führt nämlich mit fataler Konsequenz zur Katastrophe des Brudermords („Ich muß! Das Schicksal sprach’s aus“ K 100) wie zur Selbstzerstörung des hypertrophen Subjekts. „Dein Gehirn ist zerrüttet, armer Narr“, sagt Grimaldi zu Guelfo, der zwischen Rachegelüsten und schwärmerischer Todessehnsucht schwankt (K 102f.). Grimaldis Versuch, Guelfos erhitztes Gemüt zu beruhigen – „Nur mach’, daß du von dieser Leidenschaft loskommst, die dich verzehrt!“ (K 104) – muss in der Anthropologie des Dramas wirkungslos bleiben, weil die elementare Dynamik der Leidenschaft, die der Held mit Naturmetaphern eindrucksvoll untermalt, ja gerade die Tragik des vitalen Individuums ausmacht. Selbst Grimaldi gesteht resignierend ein, dass eine „solche Leidenschaft“ doch „die größte Triebfeder unsers Wesens ist – die alles aus uns herauswindet, was wir werden können!“ (Ebd.) Mit der Wucht des biblischen Urmotivs wird schließlich die Katastrophe in Szene gesetzt: Guelfo erschlägt den Bruder bewußt, willentlich, ohne Reue, „da er mir das Meinige nicht geben wollte“ (K 122). Leisewitz konstelliert die Brüder vergleichbar diametral, rückt jedoch, nicht weniger Autor-affin, den empfindsamen Titelhelden ins positive Licht. Julius zieht die Sympathien auf sich, während sein aktiver Bruder Guido charakterlich abfällt. Obgleich dieser einige Slogans der Sturmund-Drang-Dramatik verkündet, entlarvt ihn schon die Exposition des Dramas als handlungsorientierten, aber gleichermaßen brüsken, kompromisslosen, latent jähzornigen Charakter; im Vergleich zu Julius ist er zudem von ‚schlichtem Menschenverstand‘. Wo Julius dem Studieren und 13
Der Terminus fällt mehrmals: S. 79, 99, 100, 101, 104. Deutlich auch in: „Rette mich vor einem bösen Geist!“ (102).
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Nachdenken den Vorzug gibt, bekennt sich Guido zur Tat; wo jener grübelt und zögert, denkt Guido ‚Wirklichkeiten‘ und legt sein „eigentliches Selbst“ in seine „festen Entschließungen“; statt emotionaler Inklination findet das starke Ego Guidos sein Energiezentrum in der ‚Ehre‘: „Gehorsam beugt sich die leblose Natur unter die Hand des Helden“ (LS 24). Es bleibt kein Zweifel, dass Guidos markige Sprache durchgängig um den Preis eines Verzichtes auf seelische Differenzierung erkauft wird, und so trägt in Leisewitz’ Drama allein der sensible und philosophisch ambitionierte Julius den Emotionsdiskurs. Im Blick auf die Bedeutung, die Leisewitz seinem empfindsamen, seelisch reflektierten Helden einräumt, neigt das Drama scheinbar zu einer Legitimierung des Gefühls. Dazu gehört das Gewicht des ‚Herzens‘, das Julius bereits in der ersten Szene gegen die Funktionszwänge des Herrschers ausspielt. Dazu gehört weiter die Bedeutung, die der Liebe zuerkannt wird. Im Vergleich mit Guidos egozentrischem Ehrgeiz kann die Liebe seines Bruders den Wert eines sozialen Kommunikationsmediums für sich beanspruchen. Sie fungiert als Lebenselixier schlechthin, das dem Menschen die „größte Wonne des Lebens“ zu verschaffen vermag (LS 30); „was kann die Liebe nicht“ (LS 34), ist sie doch die „erste Triebfeder der menschlichen Natur“ (LS 42), das Individuum begeistert und mit Energie auflädt: Die mächtigsten Triebe und Kräfte brütet der Strahl der Liebe in unserm Innersten, das zu erreichen der Strahl jeder andern Leidenschaft zu kurz ist […]. Alles in meiner Seele lebet und wirket. Kennen Sie den allmächtigen Hauch im Lenze, so reich an Kraft, daß es scheint, er werde die Grenzen der Schöpfung verrücken, und das Leblose zum Leben erwecken? Ein solcher Hauch hat mein ganzes Wesen durchdrungen (LS 43).
In dieser Apotheose der Liebe scheint der Gedanke einer emotional vereinten Menschheit auf: „Die Welt ist mein Vaterland“, „die allgemeine Sprache der Völker ist Thränen und Seufzer“ (LS 45). Die Utopie einer von Natur aus gegebenen Freiheit des Menschen fällt im Kontext solcher emotionalen Proklamationen besonders ins Gewicht.14 Schillers ‚Theosophie des Julius’ greift nicht zufällig diese Ideen auf (Philosophische Briefe) und adaptiert Leisewitzens Charakterologie. Denn hier liegt das Problem der Figur, das den Wert des Gefühls im Drama limitiert: Die Grenze ver14
„[M]ußte denn das ganze menschliche Geschlecht, um glücklich zu sein, durchaus in Staaten eingesperrt werden […] – Narren können nur streiten, ob die Gesellschaft die Menschheit vergifte; – beide Theile geben es zu, der Staat tödtet die Freiheit. – Sehen Sie, der Streit ist entschieden! – Der Staub hat Willen, das ist mein erhabenster Gedanke an den Schöpfer, und den allmächtigen Trieb zur Freiheit schätz’ ich auch in der sich sträubenden Fliege.“ (LS 45f.).
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läuft dort, wo sich zeigt, dass das liebende Individuum bei aller Sensibilität nicht weniger leidenschaftlich agiert als das der sensiblen Liebe fern stehende ‚Kraftgenie‘; Julius’ Philosophie der Liebe wäre so gesehen als eine Philosophie der Leidenschaft zu begreifen. Während der junge Schiller mit dem Aufspüren solch ‚leidenschaftlicher‘ Voraussetzungen von Weltbildern auf eine Relativierung der ‚Gedankensysteme‘ zielt,15 hat die gelebte Emotionalität bei Leisewitz tragische Folgen für das Individuum. Weitaus entschiedener als Klinger verortet Leisewitz den Brudermord im Antagonismus der emotionalen Disposition. Mit düsteren Ahnungen zeichnet der Fürst bereits für die Knaben ein konträres Psychogramm – bei Guido den brennenden Ehrgeiz, bei Julius den ‚schmachtenden Blick‘ der Liebe (LS 26) –, weil er das Anmaßende, das Exklusive und Agonale der unterschiedlichen Veranlagungen fürchtet. So wird der ehrgeizige Guido „noch gefährlicher, weil er neben Julius steht“ (ebd.). Zu Recht sieht er den eigentlichen ‚Grund‘ für den Zwist der Söhne in „wahrer Disharmonie ihrer Charaktere“ (LS 25). Sie tritt zutage in der Entfaltung der individuellen Naturen, mit der zugleich „die Leidenschaften […] aufwachen“ (LS 25). Zum kritischen Punkt wird daher nicht die Konkurrenz der Brüder um die Braut, die der Fürst vorsorglich beiden entzog, sondern die Leidenschaft, die ihr Entzug in beiden Brüdern entfacht. Guidos Liebe mag an sich „ein sehr unbedeutendes Ding sein“, aber in ihr trifft sein Ehrgeiz auf Julius’ Liebe, „Riese gegen Riese“, und das gibt „gefährliche Gefechte“ (LS 27). Die Grundsätzlichkeit des Problems und die Unmöglichkeit einer Vermittlung zwischen beiden charakterlichen Dispositionen zeigt sich am Einwand des Erzbischofs, es gebe „keinen Jüngling von Hoffnung“, der nicht einem der beiden Söhne gliche (LS 26). Zwar deutet sich ein komplementäres Bild der Menschheit an, wenn es heißt, dass beide zusammengenommen „beinahe ein Ideal der männlichen Vollkommenheit“ wären (LS 30). Dieser Ausgleich aber scheitert an der Leidenschaftlichkeit der individuellen Natur. Interessant für die nachfolgende Untersuchung der Brautbriefe ist Leisewitz’ Gestaltung einer Dialektik von Liebe und Leidenschaft, die er an seinem empfindsamen Helden sichtbar werden lässt. So entwirft bereits die erste Szene mit dem Einfall der Liebe durch die objektbedingte Erregung der Phantasie ein topisches Initialmoment: Julius, gerade ‚gene15
Ziel der Argumentation ist Kupierung der Dialektik von Schwärmerei und Melancholie. „Die Vernunft hat ihre Epochen, ihre Schiksale wie das Herz […]. Man scheint sich damit zu begnügen die Leidenschaften in ihren Extremen […] zu entwikeln, ohne Rücksicht zu nehmen, wie genau sie mit dem Gedankensysteme des Individuums zusammenhängen.“ Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe. Hg. v. Julius Petersen u.a. Weimar 1943ff. Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 107.
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sen‘ von einer „Liebe bis zur Melancholie“ (LS 11) – so der Vertraute Aspermonte –, erfährt an sich, wie durch das Lichtspiel auf einem Bild, dem Gemälde Biancas, seine ‚Phantasei‘ erregt wird, und dies entfacht aufs Neue eine ‚leidenschaftliche‘ Liebe in ihm. Er selbst spricht von einem „Sturm der Leidenschaft“, der komme und gehe, und bittet den Freund, der einen ‚Rausch‘ diagnostiziert, um Nachsicht für seinen „Affect“ (LS 14f.). „Ihre Phantasie brennt in einem Grade, daß ich mich fürchte“, urteilt der leidenschaftslose, aber keineswegs emotional karge, weil bedingungslos freundschaftlich handelnde Aspermonte (LS 43). Wie der Fürst sieht er Julius’ Liebe kritisch im Blick auf die psychische Energetik: „Erstickte nicht diese Leidenschaft jeden Trieb in ihm zu dem, was groß und wichtig ist?“ (LS 26f.) Julius habe, so Aspermonte, seine „Kraft für alles, was groß ist“, mit einem „Liebesliedchen“ gedämmt (LS 44). Solche Vorhaltungen bleiben indes wirkungslos angesichts der Verschränkung von Charakter und emotionaler Disposition. Von Beginn an agiert der Protagonist als leidenschaftlich Liebender, der nicht die Geliebte, sondern seine Liebe absolut setzt: „Ich bin auf meine eigne Liebe eifersüchtig; nichts soll sie mehr theilen, alles, was meine ganze Natur von Neigungen zu äußern Dingen aufbringen kann, soll ihr gehören.“ (LS 75) Auch die oft als Charakterbruch kritisierte Heftigkeit, mit der er Bianca dem Kloster entreißt, ist nur Zeichen eines emotionalen Aggregatzustandes, der ihm jede Rücksicht auf Gegenständliches nimmt („Schwur und Religion, Riegel und Mauern“ LS 57). Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Figurenentwurfs, dass der tragische Held seine Affektzustände zu reflektieren versteht: „So sehr ich von der Liebe taumle, so weiß ich doch noch so viel, daß ich taumle“ (LS 15). Die Vernunft, die sich in solchen Beobachtungen artikuliert, bildet erst den Maßstab für das Leiden an der Leidenschaft, für den Verlust an ‚Standhaftigkeit‘ und die seelische ‚Zerstreuung‘. Julius über seine emotionale Dynamik: Nennen Sie mir eine Empfindung, ich habe sie gehabt. Immer ward ich von einem Ende der menschlichen Natur zum andern gewirbelt, oft durch einen Sprung von entgegengesetzter Empfindung zu entgegengesetzter, oft durch alle, die zwischen ihnen liegen, geschleift. (LS 12)
Indirekt bestätigt wird die Heteronomie durch Cäcilias emanzipatorischen, wenngleich denaturalisierenden Liebesverzicht („frei geboren, will ich auch frei sterben“ 49). Im Emotionsdiskurs des Dramas überschneiden sich damit zwei Argumentationslinien. Es zitiert aufklärerische Positionen, wenn die Vernunft in ihrer Unsinnlichkeit als Konstituens der Persönlichkeit und Medium interindividueller Kommunikation erscheint, und es zeigt den Verfall, wenn die individuelle Natur nun auch den Intellekt in ihren
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Dienst stellt. „Seine Vernunft ist keine unparteiische Richterin mehr“, klagt Aspermonte (LS 65). „Wie Sie umher schwärmen – Prinz! Ihre Schlüsse macht die Vernunft der Liebe“ (LS 46). In seiner Antwort verbindet Julius Aspekte einer spätaufklärerisch-materialistischen Affekttheorie mit dem Argument sinnlich-individueller Partikularität. – Wissen Sie es, Aspermonte, jeder hat seine eigene Vernunft, wie seinen eigenen Regenbogen, – ich die Vernunft der Liebe, – Sie die Vernunft der Trägheit! – Wenn wir keinen Augenblick von Leidenschaften frei sind, und die Leidenschaften über uns herrschen, was ist der eingebildete göttliche Funken? – Da dunsten aus dem kochenden Herzen feinere und kraftlosere Theile – steigen ins Gehirn, und heißen Vernunft. (LS 46)
Die Frage der Schuld wird damit zu einer Frage der Verantwortungsmöglichkeit. Der Fürst spricht beide Brüder schuldig, auch wenn sich der Affekt bei Guido fataler äußert. Doch sei Julius in seiner Leidenschaft nicht weniger ‚tief gesunken‘, und so müsse gerade der Verständigere einen ‚Kampf kämpfen‘ (LS 58f.). Für diesen ‚Kampf mit der Leidenschaft‘ aber – den Schiller erst in der langen Arbeitsphase an seinem noch als ‚Gemälde der Leidenschaft’ begonnenen Don Carlos entwickelt16 – fehlt bei Leisewitz die anthropologische Basis. Julius zu Guido: Glaubst du denn, daß sich eine Leidenschaft so leicht ablegen lasse, wie eine Grille, und daß man die Liebe an und ausziehen könne, wie einen Harnisch? – Ob ich will? […] Wer liebt, will lieben und weiter nichts. – Liebe ist die große Feder in dieser Maschine; und hast du je eine so widersinnig künstliche Maschine gesehn, die selbst ein Rad treibt, um sich zu zerstören […]? (LS 61f.)
Wenn Guido aber die gleiche Energetik für sich reklamiert – „Du kannst nichts thun, ohne die Liebe zu fragen, ich nichts ohne die Ehre“ –, dann offenbart sich die ganze Hilflosigkeit der Person: „wir können also Beide für uns selbst nichts“ (LS 62). Die Katastrophe resultiert aus dieser Aporie der individuellen Natur. Guido verübt die Tat unwillkürlich, als Totschlag im Affekt, und findet im Vollzug des Urteils durch den Vater die ersehnte ‚Versöhnung‘. Die Schlußworte, die das harmonische Brüderpaar der Vätergeneration spricht („Bruder, Bruder!“ LS 98), zitieren ein Ideal, dem die Söhne im Wortsinn nicht mehr gewachsen sind. Leisewitz, Freund Lessings, moderner Skeptiker und zugleich interessiert an der menschlichen Natur, zeigt sich stets unsicher, was die individuelle Funktion der Emotionen anbelangt. „Was großes kan ohne Leiden-
16
Ritzer, Monika: „Schillers dramatischer Stil“. In: Schiller-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. 2. Aufl. Stuttgart 2011, S. 254–284, S. 265f.
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schaft geschehn?“, notiert er im Tagebuch,17 und dokumentiert doch in seiner letzten dramatischen Skizze Selbstgespräch eines starken Geistes in der Nacht (1776) mit seltenem Nachdruck das Leiden. „Noch immer Krieg der Leidenschaften, und Empörungen längst besiegter Begierden! – Gott, wann wird’s Friede in meiner Seele!“18 Die ‚Vernunft‘ bleibt in diesem Krieg ein ‚langsamer Streiter‘. Ja, es wird immer deutlicher, wie wenig der ‚starke Geist‘ dieser innerseelischen Dynamik überhaupt entgegenzustellen vermag. Wie später ähnlich in den Brautbriefen gibt der Sprecher die Wahrheit preis: „gern will ich an allem zweifeln. […] Wahrheit sei, was der Witz will!“ Das Ethos der Person aber muß sich gegen den Ansturm der Emotionen behaupten können: „Allein es ist Tugend; und schrecklich, immer vom Guten zum Bösen, und wieder zurückgewirbelt zu werden!“ Im nächtlichen Rollenspiel bleibt das Ergebnis offen; der Sprecher erleidet wissend eine seelische Dynamik, die er geistig nicht bewältigen kann: Warum bin ich verdammt, die Harmonie eines Kharakters zu kennen, und jeden Miston zu fühlen, wenn mein Leben ein Gemisch von Tönen ist, die am Marke der Gebeine krazen? Verflucht sey der Adlerblick in sein Innres, wo man immer etwas sieht, was man lieber nicht gesehn hätte!19
Kulturhistorisch gesehen, markiert der Text damit den Schnittpunkt zwischen der spätaufklärerischen Emotionsskepsis und dem Erlebnis einer emotionalen Dynamik, deren tragisches Potential mit der Individualisierung wächst. Die private Korrespondenz spiegelt die Facetten dieser Dynamik und zeigt zugleich, wohin der Weg jenseits der Tragik führt.
IV. Brautbriefe Nach den Ausführungen, die der Herausgeber Heinrich Mack der Briefausgabe von 1906 voranstellt, sind nur 102 Briefe aus der umfangreichen Sammlung erhalten – Leisewitz hat seinen gesamten handschriftlichen Nachlass zur Vernichtung bestimmt –, von den Antwortbriefen gibt es keinen einzigen mehr.20 Eine Möglichkeit biographischer Ergänzung bie17
18 19 20
Leisewitz, Johann Anton: Tagebücher. Hg. von Heinrich Mack und Johannes Lochner. (Nachdruck der Ausgabe Weimar 1916). 2 Bde. Hildesheim 1976. Bd. 1, S. 58. (Im Folgenden zitiert mit der Sigle LT). Leisewitz, Johann Anton: Julius von Tarent und die dramatischen Fragmente [1889]. Darmstadt 1969, S. 137. Ebd., S. 138. Leisewitz, Johann Anton: Briefe an seine Braut. Nach den Handschriften hg. von Heinrich Mack. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1906. (Im Folgenden unter der Sigle LB zitiert.).
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ten die ebenfalls nur zum Teil überlieferten Tagebücher, die die Zeit vom 1. Januar 1779 bis zum 22. März 1781, also die zweite Hälfte der Brautbriefe begleiten. Notizen im Tagebuch zufolge – in denen Leisewitz die knappen Bemerkungen zu ‚M.S.‘ (Mademoiselle Seyler oder Mademoiselle Sophie) gerne durch ein etwas holpriges Englisch verfremdet – schrieb er der Braut wöchentlich etwa zwei bis drei Briefe und erhielt Antworten in gleicher Zahl. Besuche erfolgten eher selten, wobei auch kontinuierliche Unpässlichkeit und Kränklichkeit auf beiden Seiten eine Rolle spielt, der man (im Einklang mit Leisewitzens eigenen Beobachtungen) jeweils auch Hypochondrie attestieren kann. Die Briefe umfassen, wie gesagt, die vier Jahre des Brautstands von 1777 bis 1781. Der Herausgeber verweist auf Veränderungen im Schriftbild, die Interesse verdienen. Man könnte seiner Beobachtung folgen, dass die Schriftzüge ungefähr in der Mitte des Zeitraums, ab der zweiten Hälfte des Jahres 1779, ruhiger, aber auch steifer erscheinen.21 Dieser Veränderung im Schriftbild entsprechen, wie sich zeigen wird, interessante Veränderungen im Emotionsspektrum des Schreibenden; rein äußerlich gesehen, werden die Briefe thematisch variantenreicher und sachhaltiger. Kreisen sie zu Beginn des Briefwechsels vor allem um Gefühlsbelange des Paares, um Trennungsklagen oder Zukunftsvisionen, so nehmen sie in der Spätzeit des Brautstands auch externe Sujets auf, wie unterhaltsam verfasste Charakterschilderungen im Rahmen kleiner Gesellschaftspanoramen. Leisewitz skizziert seinen beruflichen wie privaten Bekanntenkreis, um die Braut daran teilhaben zu lassen,22 und zeigt sich seinerseits erfreut über Sophies lebhafte Schilderungen.23 Dies bedeutet allerdings nicht, dass das durchgängig sehr vertraulich schreibende Paar seine Korrespondenz zur Gesellschaft hin geöffnet hätte, etwa in dem Sinne, dass es sich nun, nach einer ersten Phase der Verliebtheit, schreibend auf seine soziale Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten suchte. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die Modifikationen, die sich in der Thematik, ja Begrifflichkeit der Briefe zeigen, sind Teil einer komplexen emotionalen Reaktion auf die erste, eher leidenschaftliche Phase der Be-
21 22 23
Vgl. die Originalhandschriften im Stadtarchiv Braunschweig, Sig. H III 3: 136. Die Charakterschilderungen prägen speziell die späten Briefe (LB S. 131–157). 8. Juni 1779: „Ich danke Dir herzlich für Deinen lieben Brief […] – Alle Weiber haben schon von Natur eine außerordentliche Gabe zu erzählen – […] aber Du bist in diesem Stücke selbst unter den Weibern gebenedeyet. Deine Erzählung vom 1sten Junius hat mir alles so lebhaft gemacht, daß ich gegenwärtig zu seyn ia alle dabey interreßirte Personen zu sehen glaubte. Du kanst mich sehr verbinden wenn Du mir oft solche Nachrichten giebst.“ (LB 49).
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ziehung – einer Reaktion, in der wir die Leidenschaftlichkeit auf eine charakteristische Weise ‚überwunden‘ finden.
V. Liebe als Leidenschaft Der erste uns erhaltene Brief vom 24. Oktober 1777 scheint zu bestätigen, dass das Interesse zunächst von Sophie ausging. Im Verlauf der Briefe gesteht Leisewitz auch en passant seinen früheren Entschluss, sich der Liebe wie der Ehe lebenslang zu entziehen (LB 24). Gleichwohl reagiert der Begünstigte auf die zarte Geste der Zuneigung mit einer emotionalen Intensität, die belegt, wie rasch die Empfindung der Liebe von ihm Besitz ergreift. sozusagen in ihn ‚einfällt‘. Augenblicklich bemächtigt sie sich seiner Seele wie seines Geistes, und erfüllt, stetig wachsend, seine ganze Person. „Ich muß Dir gestehen“, schreibt der 25-Jährige an sein „bestes, herrliches Mädchen“, „daß ich Dich jetzt mehr liebe als damals wie ich es Dir zum erstenmale sagte, Deine zitternden Hände hielt und den ersten bedeutenden Kuß gab“ und er fährt fort, „mehr als wie ich weder mir noch einen lebendigen Menschen zugetrauet hätte“ (LB 3). Vor allem zu Beginn des Briefwechsels überfordert die innere Fülle des Empfindens die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks, den Sophie, einen beliebten Topos der Zeit aufgreifend, bald als zu arm für jedes Liebesbekenntnis beklagt. Der junge Dichter beschwichtigt ein wenig – man werde „nie der unnützen Mühe überdrüßig […] seine Empfindungen mit Worten auszudrücken“ (LB 6) –, relativiert dann aber doch. Er rede „nicht gerne die Romanensprache“, komme dieser aber nahe, wenn er immer mehr der im Wortsinn überwältigenden Bedeutung inne werde, die das Mädchen für ihn habe: O wenig Weiber haben über einen Mann so viel Gewalt gehabt als Du über mich, Göttliches Mädchen es ist nichts so gut und nichts so schlecht zu dem Du mich nicht bewegen köntest wie Du Deine Herrschaft brauchtest oder misbrauchtest (LB 36).
Natürlich liegt es auch an seiner psychischen Disposition, dass ihn ein paar Worte der Geliebten, auf die ‚tausend Liebhaber‘ kalt reagiert hätten, in seelische Unruhe versetzen können. Gleichwohl bildet den Kern der Liebe nicht unbedingt der jeweils Andere. Die Intensität der Emotion, die den Begriff der Leidenschaft nahelegt, transzendiert die geliebte Person. Wiederholt wird deutlich, wie sehr die seelische Regung das Gemüt in hypertropher Weise erhitzt. Zuweilen „deucht mir meine Liebe so stark“, gesteht der Briefschreiber, „das es mir scheint sie müßte die einzige in ihrer Art seyn, und es wäre unmöglich daß Du mich so lieben köntest als ich Dich“ (LB 26). Von daher liegt
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der „Maasstab“, nach dem wir, so Leisewitz, „unsre Neigungen gegen einander abmeßen“, weder in Taten noch Worten, sondern „in unserm eignen Busen“, der „feurigen, treuen Leidenschaft gegen Dich die ich in meinem Herzen fühle“ (LB 6). Auch seitens der Geliebten ist es nicht der Partnerbezug, sondern die Liebe als Intensivierung des Empfindens, die die Person verwandelt: „verstehe mich recht Deine Liebe, nicht ich. Ich könte nur eine Deiner Seelenkräfte aufgeweckter gemacht haben“ (LB 22). Wenn sich dabei mitunter Anzeichen eines anders verstandenen Empfindens, einer Liebe als ‚Gefühl‘ finden, so kann diese emotionale Befindlichkeit doch nicht ausreifen, weil die Emotion als vitalisierende ‚Seelenkraft‘ noch immer dynamisch begriffen wird. In der Tradition der Affekttheorie steht auch, dass der geistige Reflex – die ‚Einbildungskraft‘, der ‚Enthusiasmus‘, die ‚Phantasie‘ – ein interaktives Movens des Fühlens darstellt. Seine Einbildungskraft sei so poetisch, schreibt Leisewitz, dass er seinem Mädchen auch in dessen Absenz „seelige Stunden“ verdanke, die er „mit Schwärmereyen in die Zukunft verträumt habe“ (LB 6). Da diese Zukunft für das Brautpaar im Bereich des Wahrscheinlichen liegt, bleiben Leisewitz jene Ausschweifungen der Phantasie erspart, die seine Dramenfigur geistig zerrütten. In den Briefen treten Verstand und Empfindung zumindest für eine Weile synchron bzw. gleichgewichtig auf, wenn es sich für beide Partner auch als nicht einfach erweist, eine entsprechend integrative Haltung zu behaupten und sozial zu vermitteln: Ich glaube daß alles Glück des Lebens von der Phantasie abhängt, und denke in der That etwas romanhaft, weil ich den Wunderglauben habe daß das Romanhafte mit der Natur des Menschen am besten übereinstimmt wenn man Verstand und Empfindung genug hat die Sache durch zu setzen – Nur muß man diese Gesinnungen nie öffentlich blicken laßen, und Du wirst mir einräumen daß ich sie zu verstecken weiß. Die meisten Leute können nicht begreifen wie man so kalt seyn kan als ich – Ich hoffe das Romanhafte in unsrer Liebe; und die sogenannte Vernunft im gemeinen Leben, soll uns in so wenige Wiedersprüche verwickeln als daß wir zuweilen Nachtzeug und zuweilen Staats Kleider tragen werden. (LB 42)
Zur Leistung der Vernunft gehört auch, dass sie der Emotionalität Grenzen zieht. So wird in den Brautbriefen das Moment der Zeit einbezogen, ohne dass das Paar jener Dialektik von Schwärmerei und Melancholie verfällt, die Blanca in Julius von Tarent – mit leichtem Ophelia-Anklang – in den Wahnsinn treibt.24 Wenn Leisewitz aus der Intensität des Fühlens 24
Blanca, Julius’ Leichnam anstarrend: „O daß der Mensch so über die Erde hingeht, ohn’ eine Spur hinter sich zu lassen, wie das Lächeln über das Gesicht oder der Gesang des Vogels durch den Wald. […] Das Herz, das mich liebte, wird Staub, zu nichts mehr fähig, als vom Regen durchnässet und von der Sonne getrocknet zu werden“ (LS 88).
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heraus die Ewigkeit seiner ‚Gesinnungen‘ beschwört – „Nichts soll sie verändern“, weder die Reize einer andern noch der Wechsel der Glücksgüter –, so versteht er die Situation doch zugleich mit erstaunlicher Nüchternheit einzuschätzen. Ja, er nimmt im Geiste die Zukunft vorweg, um die Emotionen, deren Veränderungen für ihn offensichtlich vorhersehbar sind, dort adäquat zu positionieren: Freylich werde ich nicht immer so feurig denken als diesen Abend; ich erhole mich zuweilen von dieser Schwärmerey in der wärmsten Freundschaft für Dich; […]; allein solche Abende wie dieser werden immer und oft widerkommen. (LB 4)
Das potentielle Wechselspiel der Gefühle – das freilich, wie man zu wissen glaubt, nur die Leidenschaft, niemals die Liebe betreffen kann (LB 35) – nimmt dem Liebenden nicht den Genuss des Augenblicks: „Du sagtest mir einmahl selbst, daß der Enthusiasmus unsrer Leidenschaft zu heftig sey als daß er immer dauern könte“, schreibt Leisewitz im nächsten Brief, in dem er offenbar Bedenken der Braut zu zerstreun sucht. Aber auch wenn dem so wäre, so seine Argumentation, sollte man sich daran nicht zu oft erinnern und aus diesem Grund vielleicht einen „herrlichen Augenblick weniger machen“ (LB 4). Immer wieder thematisiert Leisewitz das Agieren der Vernunft. Doch bleiben die Spannungen, die der Einfall der Empfindung für die geistige Konstitution zur Folge hat, stets merklich. „Wenn ich an Dich schreiben will“, heißt es im November des ersten Jahres, „so wird meine ganze Seele so lebhaft daß es mir ein verdrüslicher Gedanke ist wie sich das alles abkühlen muß ehe es aus dem Herzen in dem Kopfe und aus dem Kopf in die Feder komt“ (LB 15). Mehrfach versucht Leisewitz, der Geliebten den ihm eigenen Dualismus von Vernunft und Empfindung zu erläutern. Er lasse zwar, heißt es später einmal scherzhaft, meist seinen „großen Verstand operiren“, versichert aber zugleich: „Mädchen ich habe dabey auch ein charmantes Herz ein wahres Marcipan Herz“ (LB 117). Selten, und vor allem nicht zu Beginn der Kommunikation, gestaltet sich die Balance zwischen Herz und Verstand derart problemlos. Der „kalten Vernunft“ (LB 94) wird in anderen Briefen eine emotionale ‚Hitze‘ gegenüber gestellt, die den Ausgleich erschwert – die aber, seitens des Briefschreibers wie der Adressatin, als Zeichen für die Intensität der Liebe gilt und entsprechend gewürdigt wird: Du kannst kaum glauben […], wie begierig ich auf Deine Briefe bin. […]; denn ich genieße sie auf mehr als eine Art. Anfangs durchlaufe ich sie mit der Heishungrigkeit eines Schnitters; aber alsdenn setze ich mich mit der prüfenden Aufmerksamkeit eines feinen Eßers hin um mir auch nicht die geringste Schönheit entwischen zu laßen. (LB 9)
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Leisewitz fährt lobend fort, dass er die Braut bei solchen Brieflektüren „zum Vortheil“ ihres „Kopfes und […] Herzens“ tiefer habe kennen lernen können. (LB 9). Dass Leisewitz die Vernunft immer wieder als besondere Qualität der Braut rühmt, dürfte auch psychologische Ursachen haben. Schließlich betrachte er sie, wie er betont, „nicht als eine schöne Puppe sondern als ein vernünftiges Geschöpf“ (LB 13). Ja, er fragt sich, wie das Mädchen in seinen jungen Jahren überhaupt schon zu einem so bewundernswert „richtigen Verstande“ komme (LB 33). Es ist explizit die Vernunft, die die Frau in der Ehe zu einem gleichwertigen Partner machen wird: „Ich habe keinen Begriff von Herrschaft in einer Gesellschaft wie die Ehe ist, und weiß nicht was es heißen kan einer vernünftigen Frau befehlen“ (LB 14). Aber sie bildet in dieser seelischen Komplementarität eben auch die adäquate Partnerin. Denn: „Es gehört viel Verstand viel Empfindung dazu, um aller Deiner Verzüge zu genießen“ (LB 40).
VI. Jenseits der Leidenschaft Mit der Zeit treten die Bekenntnisse gegenseitiger Leidenschaft zurück, und im gleichen Maß scheint sich die Verbindung zu konsolidieren. Zwar zeigen sich Belastungen durch die anhaltende Trennung – von ‚Schwermut‘ ist seitens Sophies die Rede (LB 24) –, doch vermag man sich damit zu arrangieren. Nach knapp zwei Jahren, März 1779, fragt Leisewitz vorsichtig an, „ob wir nicht unsern Hochzeits Tag in voraus feyern wollen“ und fügt gleich hinzu: „Verstehe mich nicht unrecht ich meyne das bloß in Absicht auf unsern empfindsamen Calender“ (LB 39). Setze mir also den Tag fest an dem Du die meinige werden willst, an dem mich viele Männer beneiden werden und alle beneiden würden wenn sie Dich kennten, wenn sie so zuverläßig wüßten als ich daß Du bestimmt bist nicht eine Nacht, sondern ein ganzes Leben glücklich zu machen (LB 39f.).
Die Adressatin geht offenbar auf diesen Vorschlag ein und setzt ein Datum fest, das man fortan – in der „Leisewitzischen Kirche“, wie es im Tagebuch heißt (LT 1, 179) – als inoffiziellen Hochzeitstag feiert. Vielleicht liegt darin auch eine gezielte Entspannung der Beziehung. Ob die sexuelle Intimität die Einstellung zur Braut verändert, ist an den Briefen nicht abzulesen. Nur in den Tagebüchern finden sich gelegentliche Traumnotate, die moralische Skrupel zu bezeugen scheinen. Davon abgesehen offenbaren die Tagebücher ein eher unspektakuläres Verhältnis zur Sexualität. Der oft zitierte Satz aus dem mit Lessing gesprächsweise geführten „Discurs über die Liebe“ – „Ich behauptete, Alles bey der eigentlichen Liebe laufe auf physische Bedürfniße heraus, Leßing war and-
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rer Meynung“ (LT 2, 105) – lässt sich in dieser Schärfe weder an den Briefen noch an den Tagebüchern konkretisieren. Leisewitz scheint persönlich ein moderates Verhältnis zum Materialismus kultivieren zu wollen. So lasse er sich, wie er der Braut schreibt, „für die Freyheit des Willens todtschlagen“ wenn er „eine gute Handlung sehe.“ „Im Gegentheile“ halte er „aber alle Menschen für Maschinen, und glaube daß zwischen einem Bösewicht und einem Bratenwender kein Unterschied sey“ (LB 78). Eine in seinem ab 1779 geführten Tagebuch fast täglich verzeichnete ‚Hypochondrie‘ – die Kränklichkeit, Unlust, Misstimmung, Melancholie und Trägheit umfasst – mag nicht zuletzt mit dem Nachlassen seiner emotionalen Spannung zu tun haben. Seine Liebe zu Sophie erscheine ihm ‚kühler‘, notiert Leisewitz im Juni 1779, aber schließlich müsse das „einmahl geschehen“ (LT 1, 43). Mit der emotionalen Abkühlung tritt nun aber zugleich die psychische Schutzfunktion zutage, die die Partnerschaft in den Schutzraum des empfindsamen, gleichsam weltfühligen Individuums überführt. Gott habe, so Leisewitz, in die Hände des Mädchens nicht nur seine Glückseligkeit, sondern vor allem seine Ruhe gelegt (LB 50). Diesem Verlangen nach Beruhigung entspricht ein Wechsel in der sprachlichen Auffassung der Beziehung, die nun wiederholt als ‚Freundschaft‘ bezeichnet wird. Zwar sieht sich Leisewitz von Anfang an nicht nur als Liebhaber, sondern auch als „Freund“ von Sophie (LB 13); doch gewinnt dieser leidenschaftslose Freundschaftswunsch nun zunehmend an Bedeutung.25 Wäre Sophie ein Mann, wäre sie, wie er ihr mitteilt, sein „erster Freund“ (LB 81). Und er beschwört sie, ihrerseits nie zu vergessen, dass sie in ihm einen Freund habe, der nur für sie lebe. Im September 1779 schreibt er ihr, „daß man nur in den Armen eines Freundes den Frieden findet den die Welt nicht geben kann“ (LB 65). Solche Freundschaftsbeteuerungen verdanken sich nicht nur einem Effekt der Gewöhnung, wie er sich in längeren Beziehungen einstellt. Die zitierten Zeilen geben vielmehr Aufschluss über eine neue, gewissermaßen a-emotionale Form der Liebe, die beiden Partnern einiges abverlangt. Es lässt sich beobachten, dass individuelle Unsicherheitsgefühle in der Liebesbeziehung stabilisiert werden, freilich um den Preis einer beiderseitigen Weltabkehr: „Mädchen weil Du mir alles bist, so ist mir natürlicher Weise alles übrige Nichts“ (LB 68). Charakteristisch für das, was wir heute als depressiven Charakter bezeichnen, fühlt sich Leisewitz der Braut in latent eskapistischer Weise attachiert. „Im Winter können wir uns mehr genießen als im Sommer“, schreibt er an einem Apriltag, sei ein Dezember25
Vgl. hierzu auch die Notizen im Tagebuch (LT 1, 67).
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abend doch „vertraulicher“ als die Helligkeit des Augusts (LB 46). Für die spätere „häusliche Glückseeligkeit“ (LB 71), der die gemeinsame Erwartung gilt, entwickelt Leisewitz, was die „Verbindungen mit der Welt“ angeht, dezidierte Vorstellungen: Ein kleiner Zirkel von engen Freunden wäre zu unterhalten, öffentliche Lustbarkeiten aber unter allen Umständen zu meiden (LB 121f.). Bis zum Zustandekommen einer solchen Form der Geselligkeit muss das Zusammenstimmen der Erlebnisformen genügen. Man weiß sich auf gleiche Weise einsam in der Besonderheit des Fühlens und Denkens und preist die ‚Aehnlichkeit der Seele‘,26 die beide zueinander geführt habe: „Gott sey Dank daß wir uns kennen! Tausend Mäner hätten Dich und tausend Weiber mich misverstanden“ (LB 77). Bräutigam und Braut kultivieren eine Sympathie, die pathologische Züge erhält, wenn sie sich auf vergleichbare physische wie psychische Leiden stützt: „unsre beyderseitige Kränklichkeit wird auch ein Band mehr seyn um uns fester zu verbinden“ (LB 129). „So unangenehm mir die Nachrichten von Deiner Gesundheit seyn müssen“, antwortet Leisewitz im August 1781 auf die Mitteilung neuerlicher Erkrankung, „so haben sie doch eine Seite die mir ich weiß nicht was für eine dunkle angenehme Schwärmerey machen“. Ist ihm doch, wie er ihr versichert, „ieder Schatten von Übereinstimmung iede Sympathie zwischen uns so äußerst lieb“ (LB 144). Das pathologische Moment wird auch an den gemeinsamen Lektüren und am Gespräch über Lektüreeindrücke sichtbar. Erfreut vernimmt Leisewitz Sophies Interesse an Rousseau, das besonders den resignativen ‚Briefen zweier Liebenden‘ in Julie oder Die neue Héloïse gilt. Rousseau sei sein „Lieblings Schriftsteller“, an den er „tausend Verbindlichkeiten von allerley Art habe“ (LB 51). Psychologisch entlarvend ist der Versuch, der Freundin die eigene Begeisterung für Seneca und die „Stoische Philosophie“ nahe zu bringen (LB 107). Es ist vor allem jene oben benannte Ruhe, die ihn am Stoizismus anzuziehen scheint, die Möglichkeit der Behauptung persönlicher Tugenden gegen die Anfechtungen der Leidenschaft; Leisewitz spricht im Hinblick auf die stoizistische Philosophie von einem „Feen-Land der Tugend“ (LB 107). Und nichts davon sei Spekulation, versichert er der Braut; vielmehr mache der Blick auf die historischen Helden, die jene Grundsätze tatsächlich vertreten hätten, stolz darauf, Mensch zu sein (LB 108). Ob mental überfordert oder skep-
26
Da es „bey der Freundschaft auf eine Aehnlichkeit der Seele ankomt“, sei Sophie, so Leisewitz, „in großer Gefahr wenig Freundschaften zu machen. In diesem Stücke sind die Leute von gewöhnlichen Schlage weit beßer daran“ (LB 79).
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tisch gegenüber solch psychischen Extremlagen: Die Braut scheint sich weder zu Seneca noch zum Stoizismus geäußert zu haben. Leisewitz, der unter dem Nachlassen seiner dichterischen Kreativität leidet, flüchtet sich in dem Maß in Sophies Arme, wie seine Welt- und Lebensangst wächst. „Ohne Dich wäre mir diese elende Welt so gleichgültig so eckelhaft“, heißt es im Oktober 1780 (LB 104). Und weiter: „Ich ziehe mich immer mehr von Allem in der Welt zurück um ganz und allein an Dir zu hangen. So sehr ist nie ein Mensch eines andern gewesen als ich Dein bin.“ (LB 105) Die Briefe geben keinen konkreten Hinweis auf Gründe und Hintergründe dieser Welt-Aversion, deren Allgemeinheit und Grundsätzlichkeit sich nicht allein aus den negativen Erfahrungen beruflicher Rückschläge ableiten lässt und die sich, wie das Tagebuch zeigt, auch durch positive Eindrücke und Erlebnisse nicht verändert. Auf der Ebene der privaten Korrespondenz, an den Brautbriefen, wird somit erkennbar, dass Leisewitzens Hypersensibilität für die Sinnlichkeit der Liebe schließlich nahezu zwangsläufig zu einer eklatanten Weltflucht führt, in deren Kontext auch die Liebesbeziehung zu Sophie entweltlicht bzw. entsinnlicht wird, wobei ihr zugleich Exklusivität zugeschrieben werden kann. Jenseits der Leidenschaft wird der Eskapismus zur Funktion der Liebe. „Sophie ist nunmehr mein, mein Weib“, notiert der 29-jährige Leisewitz wenige Monate nach der Hochzeit, im Dezember 1781 im Tagebuch. „Alle Wünsche sind erschöpft, ich will nichts Neues, nur das, was ich habe, erhalten und genießen können. Wir sind uns erstaunlich viel.“ Er selbst sei seit Monaten „so wenig als möglich“ ausgegangen. Denn: „Wir fühlen uns so glücklich, wenn wir wieder allein sind.“ Es ist ein Glück, das man sich bewusst durch den Ausschluss der Welt, der Zeit, ja der Zukunft zu gestalten und zu bewahren sucht. „Diese Neigung zu Hause und bey einander zu seyn hat zugenommen […]. Es wird immer so gehen, ich will also nur abbrechen.“ (LT 2, 155f.).
IV. Epistolare Experimente
Renate Stauf
„[…] rette Dich, setze mich aus ans Ufer“ Aporien der romantischen Liebe im Briefwechsel zwischen Karoline von Günderrode und Friedrich Creuzer Aporien der Liebe bei Günderrode und Creuzer Im Juni 1805, etwa ein Jahr vor ihrem Freitod in Winkel am Rhein, schreibt Karoline von Günderrode an ihren Geliebten, den verheirateten Heidelberger Altertumsforscher Friedrich Creuzer einen Liebesbrief, der für die Überlegungen und Thesen der folgenden Untersuchung eine wichtige Quelle darstellt.1 Wie es die Ironie des Schicksals will, ist dieser Brief, neben acht weiteren, nur deshalb auf uns gekommen, weil die Ehefrau des Adressaten heimlich Abschriften von den Briefen ihrer Rivalin anfertigte. Alle Originalbriefe Günderrodes an Creuzer wurden nach dem Selbstmord an ihre Freundin Susanne von Heyden zurückgegeben und von dieser vernichtet.2 Creuzers Briefe wurden hingegen fast vollständig aufbewahrt, da seine Freunde ihm rieten, sie gegebenenfalls als Zeugen seiner moralischen Integrität und als Beweis- und Entlastungsmaterial zu verwenden, sollte es infolge des Skandals um die spektakuläre Liebesaffäre zu dem gerichtlichen Verfahren kommen, das die Familie Günderrodes zunächst anstrebte.3 Die Sorge der Freunde war nicht unbegründet. Eine Mitschuld am Suizid der 26-jährigen Stiftsdame trug Creuzer in den Augen vieler, die um die Affaire wussten. Vergegenwärtigen wir uns kurz den Hergang des Geschehens: Während eines Besuchs bei Freunden in Winkel am Rhein wartet Karoline von Günderrode täglich auf eine Nachricht von dem Geliebten, der, wie sie 1
2 3
Weißenborn, Birgit (Hg.): „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“ Die Briefe der Karoline von Günderrode. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Birgit Weißenborn. Frankfurt/Main, Leipzig 1992, S. 246–248, hier S. 246. Alle folgenden Briefe Günderrodes an Creuzer werden nach dieser Ausgabe zitiert und im Text mit Seitenangaben in runden Klammern versehen. Vgl. Wolf, Christa (Hg.): Karoline von Günderrode. Der Schatten eines Traumes. Gedichte, Prosa, Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen. Hg. u. mit einem Essay v. Christa Wolf. Berlin 1979, S. 46. Vgl. Lazarowicz, Margarete: Karoline von Günderrode. Porträt einer Fremden. Frankfurt/Main, Bern, New York 1986, S. 451.
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Renate Stauf
weiß, gerade eine schwere Erkrankung überwunden hat. Doch anstelle des ersehnten Liebesbriefs fällt ihr ein Abschiedsbrief in die Hände, der das Liebesverhältnis auf eine für sie unerwartete Weise aufkündigt. Der von der Krankheit noch geschwächte Creuzer hatte diesen Brief von seinem Freund, dem Theologen Daub schreiben und zunächst an Susanne von Heyden adressieren lassen. Ihr sollte die Aufgabe zufallen, die Freundin mit der Trennungsabsicht Creuzers vertraut zu machen. Auf mehrfaches Drängen Daubs – lieber hätte sie die Rückkehr Günderrodes abgewartet – schickt Frau von Heyden den Brief schließlich nach Winkel am Rhein. Ihre Vorsichtsmaßnahmen, eine verstellte Handschrift und ein Begleitbrief an die gastgebende Hausfrau, mit der Bitte um schonende Vorbereitung, bleiben ohne Erfolg. Die Günderrode fängt den Brief ab und tötet sich noch am selben Tag am Ufer des Rheins mit einem Dolch, der schon lange in ihrem Besitz ist. Vorgeblich ganz heiter sei sie zu diesem letzten Abendspaziergang aufgebrochen. Auf ihrer Stube hinterlässt sie einen Abschiedsbrief an Creuzer und ein für ihn bestimmtes, mit dem Blut aus einer selbst zugefügten Wunde getränktes Tuch. Es ist unwahrscheinlich, dass er beides je erhalten hat. Man verschweigt ihm ihren Selbstmord zwei Monate lang, da man um sein Leben fürchtet. Als er die Nachricht schließlich erhält, nimmt er sie anscheinend ganz gefasst entgegen, scheint vor allem um seine Stellung und seinen Ruf besorgt und bittet seinen Freund Savigny, sich darum zu kümmern, dass die ihn betreffenden Gerüchte so bald wie möglich aus der Welt geschafft werden. Aus Sorge um diese Gerüchte unterdrückt er auf Anraten Daubs auch das Erscheinen der letzten Dichtung Günderrodes, die sie ihm im Januar 1806 geschickt und deren Herausgabe unter dem Titel „Melete“ er bereits in die Wege geleitet hatte. Ein einziges Exemplar des Buches, teils aus Druckbogen, teils aus Manuskriptseiten bestehend, wird erst 1896 durch Zufall wieder aufgefunden. Es verwundert nach all dem nicht, dass der Selbstmord der Dichterin und die mit ihm einher gehenden Schuldzuweisungen als dunkler Schatten auf dem Briefwechsel liegen und seine unvoreingenommene Lektüre erschweren. „Was den Tod der Günderode anbetrifft, so ist es ganz klar, dass sie sich des Creuzers willen ermordet hat“, behauptet schon Meline Brentano in einem Brief an Savigny vom 23. August 1806.4 Die Literaturwissenschaft ist dieser Lesart allzu bereitwillig gefolgt.5 Im Unterschied zu 4 5
Schellberg, Wilhelm u. Friedrich Fuchs (Hg.): Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano. Jena 1942, S. 47. Vgl. von Gersdorff, Dagmar: „Die Erde ist mir Heimat nicht geworden“. Das Leben der Karoline von Günderrode. Frankfurt/Main, Leipzig 2006, S. 238: „Karoline mußte erkennen, dass sie nur ein Objekt gewesen war, über dessen Gedeih und Verderb die beiden Männer [Creu-
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Christa Wolf, die Creuzer in ihrer essayistischen und dichterischen Annäherung an die Günderrode viel Gerechtigkeit widerfahren lässt, erscheint dieser in den wissenschaftlichen Abhandlungen überwiegend als larmoyanter Selbstbetrüger, dessen Schwäche und Wankelmütigkeit die Günderrode zum Opfer fällt. Creuzers Briefe werden hier vor allem als Kronzeugen für seinen miserablen Charakter aufgerufen. Der schärfste Vorwurf lautet: Creuzer habe weder auf das bequeme Alltagsleben mit seiner Frau verzichten wollen „noch auf die exotische, imaginierte Abwechslung mit Günderrode“.6 Ganz bewusst habe er jeden ihrer Trennungs- und Ablösungsversuche durch psychischen und moralischen Druck vereitelt. Als Liebender sei Creuzer ein Schuft gewesen, unfähig, seine vorgeblich unglückliche Ehe mit der 13 Jahre älteren Witwe seines früheren Professors aufzugeben, aber skrupellos genug, die Dichterin immer wieder mit seinen Liebesbeteuerungen zu bestürmen und sie auf diese Weise immer tiefer und heilloser in die Liebesaffäre zu verstricken. Als verstünde sich dieses von selbst, d. h. ohne Beachtung des Briefstils, wird den Liebesbriefen Günderrodes in solchen Deutungen Authentizität zugeschrieben, denjenigen Creuzers hingegen die innere Aufrichtigkeit aberkannt. Auch die seltenen Ansätze zur Entlastung Creuzers verzichten auf eine Analyse des Briefstils. Sie rücken stattdessen den frühen Todeswunsch der jungen Dichterin ins Zentrum und machen ihre Neigung zur emotionalen Maßlosigkeit für das Scheitern der Beziehung mit verantwortlich. Dass die Wahrheit komplizierter ist, liegt auf der Hand. Mit Günderrodes Freitod findet eine ebenso leidenschaftliche wie aussichtslose Affäre ihr jähes Ende, die sich nahezu zwei Jahre hingezogen hatte und die es ohne die Möglichkeit des Briefeschreibens vermutlich so nicht gegeben hätte.
6
zer und Savigny, d. V.] nach Gutdünken verhandelten.“; Becker-Cantarino, Barbara: „Schriftstellerinnen der Romantik“. In: Romantik. Epoche – Autoren – Werke. Hg. v. Wolfgang Bunzel. Darmstadt 2010, S. 200–215, hier S. 208: „Günderrode konnte Creuzers Unentschlossenheit nicht begreifen. Nach zwei Jahren des Schwankens und abenteuerlicher Lösungsversuche (etwa ein Leben zu dritt mit Günderrode in der Maske eines männlichen Hausgenossen bei den Creuzers) wollte Creuzer sich endgültig von ihr trennen. […] Sie tötete sich am Rhein mit drei Stichen ins Herz.“; Christiane Eickmann urteilt vorsichtiger, wenn sie in Creuzer nur den Auslöser, nicht aber die Ursache für Karolines Selbstmord sieht; Eickmann, Christiane: „‚Warum ward ich kein Mann!‘. Die Lebensentwürfe zweier Frauen in der Romantik“. In: Wege nach Weimar (I–II). Hg. v. Frank Möbius u. a. Fernwald 2001, S. 17–28, hier S. 22. Für Christa Wolf ist eine für ihn unüberwindbare Unfähigkeit Creuzers, sich auf Karolines Lebensentwurf einzulassen, der Grund für das Scheitern der Paarbeziehung. Vgl. Wolf: Der Schatten eines Traumes, S. 44. Einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Richtungen in der Günderrode-Forschung gibt: Sellner, Gabriele: „Die Sterne haben mirs gesagt für Dich“. Vereinigung von Poesie und Philosophie in Bettina von Arnims ‚Die Günderode‘. Berlin 2007, S. 159–190. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 416.
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Auf dem Altan des Heidelberger Schlosses begegnen sich Karoline von Günderrode und Friedrich Creuzer am 5. August 1804 zum ersten Mal. Clemens Brentano macht die junge Dichterin während ihres Besuchs in Heidelberg mit dem Altertumsforscher bekannt. Creuzer, der sich in seiner Ehe eingesperrt und um seine Jugend betrogen fühlt, kommt das Ereignis ihrer Bekanntschaft schicksalhaft vor. Vorausgegangene Enttäuschungen und Verluste lassen auch ihr die Begegnung in einem besonderen Licht erscheinen. Nicht nur, dass sie ihre hoffnungsfrohe Liebe zu Savigny begraben musste, als dieser wider Erwarten Gunda Brentano zur Frau nahm. Auch die Heirat Lisette Mettinghs mit ihrem bisherigen Mentor Christian Nees von Esenbeck gilt es zu verkraften. Mit dem Wegzug dieses Paares aus Frankfurt verliert die Günderrode nicht nur eine enge Freundin, sondern auch den männlichen Berater und Förderer, ohne den sich eine Frau damals nur schwer auf dem Buchmarkt behaupten kann. Mit Unterstützung von Christian Nees ist unter dem Pseudonym „Tian“ gerade ihr erstes Buch erschienen. Es enthält „Gedichte und Phantasien“ – eine Sammlung lyrisch-epischer Dichtungen, Dramenfragmente und Prosastücke, die aufgrund ihrer Eigenartigkeit Bewunderung, aber auch Befremden hervorrufen. In dieser Situation drohender Isolation mag Günderrode die schnell erkannte geistige Wahlverwandtschaft zu Creuzer wie ein Rettungsanker erschienen sein. Obgleich dieser in der sich anbahnenden Liebesbeziehung der stürmisch Werbende ist, macht er von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er seine Ehe nicht aufgeben kann. Creuzer ist voll in den Aufbau der Heidelberger Universität eingebunden. Die Vermutung, dass er seinen Lehrstuhl durch die außereheliche Affäre nicht aufs Spiel setzen will, ist ebenso wenig von der Hand zu weisen wie der Hinweis darauf, dass es auch für die Günderrode riskant wäre, den Anspruch auf ihr Erbe und auf ihre Bezüge aus den Liegenschaften des ohnehin abgezehrten Familienvermögens zu riskieren. Auch, dass Creuzer im Alltag von der Fürsorge seiner Frau abhängig ist, dass diese keine feste Haltung zu dem Liebesverhältnis einnimmt und dass sich seine Freunde gegen die Beziehung stellen, sind nicht ohne Gewicht. Doch sind dies äußere Umstände, die den Verlauf dieser Liebesgeschichte zwar mitbestimmen, über diese selbst aber wenig aussagen. Das Glück und Unglück der Liebe zwischen Günderrode und Creuzer wird am besten in ihren Briefen begreifbar. An diesem mit Bedacht gewählten Ort vermögen sie ihre Liebe als eine ideale Verbindung von literarischer Phantasie und Wissenschaft zu feiern. Hier allein gelingt auch wiederholt die Verständigung in Konfliktfällen. Der persönliche Umgang – so zeigt sich nach verschiedenen heimlichen Treffen – knüpft das Band zwischen ihnen keineswegs enger. Eher wird er als Störung erfahren. Die-
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ses Paar ist sich dann ganz nah und fühlt sich dann ganz verbunden, wenn es sich schreibend lieben kann. Die Briefe bezeugen dieses leidenschaftliche Verbundenheitsgefühl, das in einem hoch literarisierten Briefstil zum Ausdruck gebracht und von verschiedenen Ich-Stimmen getragen wird; authentischen Entäußerungen einer gespaltenen Personalität. Die Wahrnehmung dieser sprachlichen Mehrstimmigkeit ist für ein vertieftes Verständnis der Liebesbeziehung und des ihr zugrunde liegenden Briefwechsels unerlässlich. Dies lässt sich gut an dem eingangs erwähnten Günderrode-Brief aufzeigen, in dem eine herbe Anklage gegenüber Creuzer erhoben wird, die sich erst bei genauem Hinsehen als ein komplexes Ineinandergreifen von Anklage und Selbstanklage erweist: Der Freund ist in großer Unruhe, wie Sie die Einsicht in das Unmögliche, die Ihnen die letzten Briefe zeigen, ertragen werden. Sie haben gehofft, er selbst hat es dunkel geahnt und jetzt ist es auf einmal aus auf immer, das holde Licht verlischt auf den letzten Strahl. Wie werden Sie empfinden? Werden Sie sich nicht wegwenden von einer Aussicht, die sich in trübe Nacht verliert. Ich fasse die Änderung Deiner Gesinnung nicht, wie oft hast Du mir gesagt, meine Liebe erhelle, erhöbe Dein ganzes Leben, und nun findest Du unser Verhältnis schädlich. […] Mir ist, Du seist ein Schiffer, dem ich mein ganzes Leben anvertraut, nun brausen aber die Stürme, die Wogen heben sich. Die Winde führen mir verwehte Töne zu, ich lausche und höre, wie der Schiffer Rat hält mit seinem Freunde, ob er mich nicht über Bord werfen soll oder aussetzen am öden Ufer? Sieh, in solcher Lage fühle ich mich, doch mein Gefühl entscheidet nicht, wenn Du Dich in Gefahr glaubst, rette Dich, setze mich aus ans Ufer. Niemand kann es tadeln, ich selbst nicht. […] Du wurdest ein Fremdling in Deiner nächsten Umgebung, als Du eine Heimat fandest in meinem Herzen. So viele Opfer musstest Du mir bringen, wer weiß, wie viele, die ich nicht kenne, […] daß ich durch mein schwankendes Betragen Dich und mich hierhergeführt habe, das mußt Du mir vergeben, weil ich liebte, ach, so manches mußt Du mir vergeben, Du einziger Teurer. Glaube mir nicht, ich betrüge Dich und mich mit heuchlerischer Entsagung, denn noch habe ich nicht den Gedanken recht gedacht, von Dir verlassen zu werden, nein, ich halte Dich noch fest in meinen Armen, willst Du entkommen, mußt Du gewaltig Dich losreißen. (S. 246)
Wie bereits angedeutet, ist dieser Brief ein Schlüsselbrief. Die IchStimmen, die hier zu Wort kommen, lassen sich mit herkömmlichen Vorstellungen des Authentischen nicht adäquat erfassen. Nimmt man das kunstvolle Ineinandergreifen von Güderrodes Anklage und Selbstanklage nicht wahr, ist nur ihre bittere Kritik an Creuzer vernehmbar. Auch der Versuch, Creuzer durch eine Betonung des Todeswunsches der jungen Dichterin zu entlasten, ihr die Neigung zuzuschreiben, „ihr Dasein in vielerlei Hinsicht maßlos emotional führen zu wollen“ und ihr zu unter-
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stellen, sie sei „in das Unmögliche verliebt“ gewesen, trägt zum Verständnis eines Briefes wie dem vorliegenden kaum etwas bei.7 Dieser Brief ist ein Entsagungsbrief und zugleich doch keiner. Indem Günderrode ihre Bereitschaft zur Entsagung als ein Sprechen mit zwei Stimmen inszeniert, bleibt die Mitteilung im Unbestimmten. Auch in ihren anderen Briefen lassen sich solche einander widersprechenden Passagen beobachten. Es sind Aussagen ohne Gewähr, die auf kunstvolle Weise in ein Artefakt transformiert werden. Verstärkt wird dieser Eindruck des Artifiziellen durch den hohen Ton der Brief- und Liebessprache, durch die virtuose Entfaltung einer literarischen Metaphorik und durch den häufiger Wechsel der Anrede vom Sie zum Du. Dass diese selbstreflexive Mehrstimmigkeit von Creuzer verstanden und in seinen eigenen Briefen aufgegriffen wird, macht den besonderen Reiz dieser Liebeskommunikation aus. Der Briefstil dieses Paares – weit entfernt von jener durch Gellert etablierten plaudernden Natürlichkeit, die bei Meta Moller und Klopstock oder bei Caroline von Flachsland und Herder eine zärtlich-empfindsame Aufgipfelung erfährt8 – ist Bestandteil eines mystischen Beziehungskonzeptes, das den Anspruch erhebt, artifiziell und authentisch zugleich zu sein. Leben und Kunst stehen sich hier nicht als antithetische Sphären gegenüber, 7
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Werner-Schoene, Monika u. Dieter Schoene: „Karoline von Günderrode – eine tragische Idealistin“. In: Bedeutende Frauen des 18. Jahrhunderts. Elf biographische Essays. Hg. v. Elke Pilz. Würzburg 2007, S. 173–188, hier S. 182 u. 183. Wenig einlässlich urteilt auch Frederik Hetmann, wenn er kritisch anmerkt: „Was die Affäre zwischen Karoline von G. und Creuzer so unerfreulich macht, ist ja nicht die Tatsache, daß ein verheirateter Mann eine ledige junge Frau liebt, sondern das Maß an Illusionen, Täuschungen, Eitelkeiten und Egoismus, mit dem diese Liebe belastet ist.“ Hetmann, Frederik: Drei Frauen zum Beispiel. Die Lebensgeschichte der Simone Weil, Isabel Burton und Karoline von Günderrode. Weinheim 1998, S. 141. Vgl. dazu den Aufsatz von Tanja Reinlein in diesem Band. Jochen Strobel hat bereits 1994, in einem grundsätzlichen Aufsatz zur Briefkultur des 19. Jahrhunderts, auf theoretische und analytische Defizite in der Briefforschung hingewiesen, die m.E. noch nicht behoben sind: „Die Regeln der Briefsteller des 18. Jahrhunderts können nur erste Anhaltspunkte bieten für eine ‚Grammatik‘ des Briefs, die vorwiegend pragmatisch ausgerichtet sein dürfte. Eine Methodik der ‚Briefanalyse‘, etwa in Analogie zur Analyse narrativer oder lyrischer Texte, ist erst noch zu schaffen – aus der Kenntnis einer reichen, vielfach kaum gesichteten, geschweige denn edierten Textgrundlage. Denkbar wäre eine ‚Briefhermeneutik‘, die über die bloße Analyse von äußerer Schreibsituation und ‚Mitteilungen‘ hinausgeht und etwa die Summe der Briefwechsel eines Schreibers als ein Briefoeuvre betrachtet. Derzeit fehlt es an Untersuchungen zu solchen Brief-‚Werken‘ einzelner Briefschreiber, sieht man von ganz wenigen Ausnahmen der Höhenkammliteratur ab, – und erst recht an Arbeiten mit noch breiterer, dann klug auszuwählender und anzuordnender Quellenbasis.“ Strobel, Jochen: „Prolegomena der Briefforschung. Zu dem Band ‚Briefkultur im 19. Jahrhundert‘“. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Forum für die Erforschung von Romantik und Vormärz. Umbruch der Kulturen – Die europäischen Revolutionen von 1848/49. Hg. v. Wolfgang Bunzel, Uwe Lemm u. Walter Schmitz. Berlin 1994, S. 247–258, hier S. 258.
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sondern bilden eine künstlerisch erstrebenswerte Einheit. Insofern sind die Liebesbriefe des Paares nicht nur als „einfache Wirklichkeitsabbildungen oder authentische Realitätserfahrungen zu dechiffrieren“, sondern auch als poetische Texte.9 Und doch sind ihre Briefe keine romantischen Briefe im Sinne Karl Heinz Bohrers.10 Obgleich die literarische Fantasie im Zentrum ihres Brief-Ichs steht, lässt sich dieses nicht allein über imaginativ-ästhetische Kategorien bestimmen. Günderrodes Briefstil ist nicht monologisch, sondern grundlegend auf den gemeinsam mit Creuzer inszenierten Liebesdialog bezogen. Ähnliches gilt für das Brief-Ich Creuzers. Auch seine Liebessprache ist von der frühromantischen Vorstellung einer Grenzüberschreitung von Poesie und Leben geprägt. Der gemeinsame Kunstwillen, dem der Liebesdialog unterworfen wird,11 errichtet einen exklusiven Raum des Verstehens, der zugleich als Schutzraum gegenüber den Mitspracherechten der Gesellschaft fungiert. Dabei ist nicht von Belang, dass Creuzer in den Sprachspielen der Unterlegene ist. Die ans Magische grenzenden Selbstanreden und wechselseitigen Andersbenennungen ermöglichen ein individuelles Aufeinanderbezogensein, das sich aus der Spannung der Ich-Spaltung speist.12 Nicht zufällig werden auch Günderrodes subjekttheoretische Exzerpte und Theorieskizzen von einer solchen „palinodischen Spannung“ getragen. Auch hier wird der frühromantischen Philosophie eine Überwindung der dem Subjekt inhärenten Zerrissenheit zugleich zu- und nicht zugetraut.13 9
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Hollmer, Heide: „‚Warum ward ich kein Mann!‘ Karoline von Günderrodes ‚ironische‘ Weiblichkeit“. In: Identitäten – Erfahrungen und Fiktionen um 1800.(Jenaer Beiträge zur Geschichte, 6). Hg. v. Gonthier-Louis Fink u. Andreas Klinger. Frankfurt/Main u. a. 2004, S. 339–348, hier S. 345. Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987. Wie sehr dieser Kunstwille Leben und Kunst gleichermaßen umfasst, wird auch in der aufschlussreichen Untersuchung von Lucia Licher deutlich: Licher, Lucia: Mein Leben in einer bleibenden Form aussprechen. Umrisse einer Ästhetik im Werk Karoline von Günderrodes (1780– 1806). Heidelberg 1996. Licher weist insbesondere anhand ihrer Analyse der ‚Liebe zum Tod‘ nach, dass sich die Briefwechsel der Günderrode und darunter insbesondere derjenige mit Creuzer, aus einem Metaphernfeld speisen, das aus dem poetischen Werk stammt: „Der briefliche Dialog des Liebespaares von Günderrode/Creuzer stellt sich […] als eine Verzweigung innerhalb eines allgemeineren kommunikativen Netzwerks dar.“ (S. 357). Diese Andersbenennungen schaffen die Voraussetzung für die Ausbildung einer individuellen Paarsprache. Diese zeichnet sich nach Ernst Leisi dadurch aus, dass sie es den Liebenden in ihrem sozialen Personsein ermöglicht, einen exklusiven Raum des Verstehens zu errichten. Vgl. Leisi, Ernst: Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. Heidelberg. 3. durchgesehene Auflage 1990, S. 12–57. Olaf Berwald merkt zu diesem Begriff an: Zum einen wird einer Philosophie im Rahmen des deutschen Frühidealismus eine fundamentale Trauer- und Versöhnungsarbeit und schließlich die Bewerkstelligung einer Überwindung der dem Subjekt inhärenten Zerrissenheit zugetraut. Andererseits wird einer die Ängste des Subjekts transzendierenden und
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Diese Mischung aus Skepsis und Zutrauen prägt das Brief- und Liebesgespräch auf besondere Weise. In Konfliktsituationen lässt sich der Liebesdialog oft nur in der durch die Ich-Spaltung erzeugten Rollensprache fortsetzen. Die Günderrode figuriert hier nicht nur als ‚Freund‘, sondern ebenso oft auch als ‚Poesie‘ oder als ‚Heilige‘. Creuzer bringt sich in Selbstanreden als der ‚Fromme‘ in die Liebeskommunikation ein. Dadurch entstehen komplexe Schreibfiguren, die das Mitgeteilte mit Bedeutsamkeit aufladen. Es finden sich lange Dialoge, die zwischen dem ‚Freund‘ (Ich-Anteil der Günderrode) und dem ‚Frommen‘ (Ich-Anteil von Creuzer) ohne Mitspracherecht des jeweils anderen Teil-Ichs oder sogar im Widerspruch zu diesem geführt werden. In anderen Briefen wird dem ‚Freund‘ oder dem ‚Frommen‘ ein aktuell problematischer Part des Selbst überantwortet. Bei aller Schreiblust, der sich diese Sprachspiele verdanken, ist freilich ein Ungleichgewicht zu beobachten, das im Verlauf der Korrespondenz an Bedeutung gewinnt. Creuzer fühlt sich dem Bild, das Günderrodes idealisierende Phantasie von ihm entwirft, außerhalb der Briefkommunikation immer weniger gewachsen. Dies führt dazu, dass die Koinzidenz der Gefühle nur im Brief erfahren wird und Gefühlsambivalenzen in einer für beide erträglichen Form nur hier austragen werden können. Ein Beispiel: Creuzer eröffnet einen seiner Briefe mit einer Selbstansprache, die Karoline begreiflich machen soll, dass sowohl seiner Ehe als auch seiner Liebe zu ihr etwas schicksalhaft Unglückliches anhaftet: Ich war heute beim Frommen. Er fühlet daß dieser Name weit mehr dem Freund gebühret als ihm selber. Er sagte mir, indem er mir die Hand drückte sich freuend jemand gefunden zu haben mit dem er reden könne: Die fromme Ergebung, die in den letzten Aeußerungen des Freundes sichtbar werde, habe ihm Thränen gekostet, aber Thränen wie er sie gerne weine. Er fühle sich weltlich und irdisch, wenn er sein Sinnen und Trachten mit diesem himmlischen Sinne des Freundes vergleiche. Im Herzen mußte ich ihm beipflichten. Zu seinem Troste sagte ich jedoch: Auch das Anerkennen verrathe ein frommes Gemüth. Daher solle er einstweilen diesen Namen behalten. Alsdann müsse aber, begehrte er, der Freund künftig der Heilige heißen. Nun erzählte er mir viel von seinem Leben und verlangte ich solle dem Heiligen das Wesentliche davon melden. Das will ich denn auch mit seinen Worten thun, zumal da ich einsehe es ist nötig, um ihn weder für zu schlecht noch für zu vortreflich zu halten, die tägliche Gewohnheit seines Lebens etwas zu erkennen.
seine Unvereinbarkeiten harmonisierenden Wiedervereinigungsphilosophie immer auch skeptisch begegnet.“ In: Berwald, Olaf: Visuelle Gewalt und Selbstverlust bei Günderrode, Hölderlin und Fichte. Chapel Hill 2000, S. 27.
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‚Was ich gethan habe‘, fing er traurig an, ‚mußte ich jetzt thun. Dieses Eine weis ich, weiter aber auch nichts. Denn in jedem Betracht wird mein Leben immer dunkler und dunkler. […] Nicht jetzt erst und seit 6 Jahren nein – immer war ich unfähig zum Zusammenleben mit der Poesie.‘14
Es ist nicht zu übersehen, dass Creuzer hier um Günderrodes Verständnis für einen prosaischen Charakterzug wirbt, der seinem poetischromantischen Ich-Gefühl fern steht. Auch in ihren Briefen erfüllen solche mitgeteilten Selbstansprachen die Funktion, seine Aufmerksamkeit auf Wünsche und Bedürfnisse zu lenken, die schwer kommunizierbar sind. Einmal lässt sie ihn wissen: Der Freund war eben hier, er sagte, oft schon hätte er Ihnen schreiben wollen, aber es sei ihm so unbehaglich, da er das, worum es ihm eigentlich zu tun sei, doch nicht schreiben könne. (S. 216)
Creuzer mag aus diesen Zeilen zwar entnehmen, das etwas Wichtiges zwischen ihnen unausgesprochen geblieben ist, dieses Unausgesprochene wird ihm in der Rollensprache des Freundes aber nur behutsam angedeutet und damit erträglich gemacht. Es verwundert also nicht, wenn er anlässlich eines bevorstehenden Wiedersehens die bange Frage stellt, ob er auch dann mit der Anwesenheit des Freundes rechnen dürfe. Das brieflich eingeübte Rollenspiel soll sich offensichtlich auch bei persönlichen Begegnungen als Verständigungshilfe bewähren: Wird dann aber auch der Freund da seyn wenn ich zu Ihnen komme? Es ist zwar nicht sehr artig dies einem Frauenzimmer zu sagen, aber ich muß es dennoch gestehen, dass ich ihm hauptsächlich mit zu gefallen reise. Dieser darf also nicht fehlen. (S. 79)
Aus all dem wird ersichtlich, dass es keiner geringen Anstrengung bedarf, die gegenseitigen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Sobald die Distanz schwindet, die durch die Briefkommunikation gegeben ist, droht die Gefahr des Missverstehens: […] ich bin bang und sehe muthlos entgegen dieser Zusammenkunft – denn ich ahnde es: die längere Entfernung hat in Ihrer Seele wieder untergeschoben ein günstigeres Bild von mir, gemalt mit den Farben Ihrer idealisirenden Dichtung – und nun ich dann selber komme in meiner Armuth – so kann ich nicht bestehen und das verwundet mich tief – und ich muß trauren. Du musst notwendig entsagen lernen auf das vortrefflichste wenn Du mich ertragen willst. (S. 57)
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Preisendanz, Karl (Hg.): Die Liebe der Günderrode. Friedrich Creuzers Briefe an Caroline von Günderode. Herausgegeben und eingeleitet von Karl Preisendanz. Bern 1975, S. 126ff. Alle folgenden Briefe Creuzers an die Günderrode werden nach dieser Ausgabe zitiert und im Text mit Seitenzahlen in runden Klammern versehen.
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Creuzer liebt Günderrodes Erhebung seiner Person und fürchtet sie zugleich. Der existentielle Ernst ihres romantischen Freiheitsbegehrens rückt seine Bürgerlichkeit – die ihm wichtiger ist, als er zuzugeben vermag – in ein erbärmliches Licht, das er manchmal nicht erträgt. Dass Günderrode mit ihrer rigorosen Verachtung alles Alltäglichen und Bürgerlichen keine Ausnahme bildet, offenbart ein Brief, den sie von Lisette Nees erhält. Die Jugendfreundin beschreibt hier das ganze Unglück der grundsätzlichen Unvereinbarkeit ihrer romantischen Ideale mit dem Leben einer verheirateten Frau: Ich kann mich täglich weniger in die Welt und die bürgerliche Ordnung fügen Caroline, mein ganzes Wesen strebt nach einer Freyheit des Lebens wie ich sie nimmer finden werde; Die Liebe sollte doch dünkt mir frei seyn, ganz frey von den engen Banden der Bürgerlichkeit; ihr ganzes Wesen, ihre Natur und Tendenz will so etwas ganz verschiednes als die Welt will daß sie nur gelähmt und recht gedrükt in ihr erscheinen kan […]. Wo die Liebe ihre ätherische Natur rein erhalten will muß sie sich ganz sondern von der Aussenwelt, ihr göttliches Auge ganz nach Innen kehren und so ein göttliches Leben in dem irrdischen leben. Diese Absonderung spaltet zwar den Totalausdruk des Lebens, alle Trennungen sind gefährlich und unser Streben sollte ja seyn die Einheit unseres Daseyns herzustellen. – Da muß ich sie nur wieder zurükführen zur Aussenwelt und diese durch jene auf eine höhere Stufe bringen lassen. – Warum kan ich die Liebe nicht Schöpferin seyn lassen auch in dieser Hinsicht, und die Welt wo sie mich berührt und ich sie als Werkzeug zum ruhigen Genusse meines Daseyns bedarf, so ordnen und gestalten daß sie das Gepräge meiner Liebe trage und in tausendfachen Brechungen sich auch hier der Strahl der ewigen Liebe offenbahre? Armes Flikwerk und ein mühseeliges Zusammenhalten steht statt der freien Thatkraft!“15
Lisette Nees erscheinen die „Verhältnisse der Bürgerlichkeit […] überall beengend“ und „jede Berührung mit Menschen“ heißt für sie, „dem freien Schwunge der Liebe die Flügel kürzen.“16 Ähnlich wie die Günderrode sehnt sie sich nach einer Objektivierung ihres subjektiven Empfindens, träumt von einem Dasein, das das Gepräge ihrer Liebe trägt und so einen Abglanz der göttlichen, ewigen Liebe bildet. An diesem romantischen Traum einer dialektischen Versöhnung von Innen und Außen wird umso mehr festgehalten, je tiefer das Leiden an den bürgerlichen Verhältnissen empfunden wird.17 15
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Preitz, Max: „Karoline von Günderrode in ihrer Umwelt. I. Briefe von Lisette und Christian Gottfried Nees von Esenbeck, Karoline von Günderrode, Friedrich Creuzer, Clemens Brentano und Susanne von Heyden“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Hg. v. Detlev Lüders. Tübingen 1962, S. 208–307, hier S. 243f. Ebd., S. 244. Vgl. den Brief Karoline von Günderrodes an Claudine Piautaz (April 1804), in dem diese Sehnsucht als Macht einer Wirklichkeit schaffenden Phantasie ausgewiesen wird: „Es ist sonderbar, daß die Phantasie am meisten hervorbringt, wenn sie keine äußeren Gegen-
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Auch in den Liebesbriefen Creuzers und Günderrodes lassen sich Bestrebungen beobachten, den gemeinsamen Liebestraum durch künstlich erzeugte Distanzen vor der Wirklichkeit zu schützen. Die Doppelung der Persönlichkeit soll offenbar das ermöglichen, was Bohrer als „Überlagerung des autobiographischen Ichs durch ein in der poetischen Metapher und Symbolik imaginiertes Ich“ beschreibt.18 Wer zu solcher Reflexivität der Liebe gefunden hat, wird Luhmann zufolge mehr als die Person ein entsprechendes Gefühl bejahen und suchen. Man liebt sich und auch den Anderen als Liebenden und Geliebten.19 Günderrode und Creuzer wissen um das Risiko der Selbstentfremdung, die ihre Reflexivität in sich birgt. Stets müssen sie einen Teil ihres Ichs zum Schweigen bringen, wodurch es zu Schwankungen und Widersprüchen kommt und ihre Liebessprache jeweils nur für den Augenblick der Niederschrift Authentizität beanspruchen kann. An Creuzers Briefen ist das früh bemerkt und als Charakterschwäche kritisiert worden. Karl Preisendanz kommentiert: Man muss oft staunen über die Größe, mit der sie das ewige, unausstehliche Schwanken des Mannes erträgt, die sie mit unerschütterlichem Glauben zu ihm erfüllt, wie wohl er sich so vielen Einflüssen von außen überläßt, heute schwört eher mit ihr zu sterben als sie zu lassen, und doch am nächsten Tag in unschlüssiger Weichheit alles aufgibt, ohnmächtig gegen die Tränen seiner Frau. […] Er ist ausgesprochener Augenblicksmensch; unfähig die Stimmung der Minute auszuleben, muß er sie sofort zu Papier bringen und der Geliebten schreiben. So quält er sie, macht sie jauchzen, verspricht ihr Erde und Himmel, - entsagt resigniert allem Glück. Die Folge mußte eine Verwirrung sondergleichen in Herz und Sinn des eindruckfähigen Wesens sein. Von einem Extrem zum anderen gerissen sah sie sich im Verlauf weniger Tage.20
Aus einer richtigen Beobachtung wird hier freilich eine falsche Schlussfolgerung gezogen. Günderrode lässt sich durch das Schwankende und sich Widersprechende in Creuzers Verhalten weitaus weniger verwirren, als Preisendanz glaubt. Ist sie doch – wie sie in einem Brief an Brentano ausführt – davon überzeugt, dass jedes Schreiben der Gefühle an den Au-
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stände findet, sie erschafft sich dann selbst Gegenstände und bildet sie umso sorgfältiger, da es keine fremden Stoffe, sondern ihre eignen Kinder sind. Im Genuß ist keine Dichtung (die Wirklichkeit tötet den Traum), nur in der Sehnsucht, diese ruft ein anders Leben hervor in mir als das Wirkliche. Wer ganz genießt, der lebt wirklich und wer so lebt, wie sollte der noch träumen wollen oder können. Das Leben läßt sich nicht teilen; man kann nicht in der Unterwelt mit den Schatten wandeln und zugleich auf der Oberwelt unter der Sonne und mit den Menschen.“ In: Weißenborn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 125. Bohrer: Der romantische Brief, S. 224. Vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/Main 1982, S. 175. Preisendanz: Die Liebe der Günderode, S. IXf.
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genblick gebunden ist und darüber hinaus keine Gültigkeit beanspruchen kann. Ich weiss nicht, ob ich so reden würde, wie Sie meinen Brief in den Ihrigen reden lassen; aber es kommt mir sonderbar vor, dass ich zuhöre wie ich spreche und meine eignen Worte kommen mir fast fremder vor als fremde. Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen, sie bezeichnen ein ihnen einwohnend gewesenes Leben und ob sie gleich dem Lebendigen ähnlich sehen, so ist doch der Moment ihres Lebens schon dahin: deswegen kömmt es mir aber vor (wenn ich lese, was ich vor einiger Zeit geschrieben habe), als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an.21
Nicht nur brieftheoretische Reflexionen wie diese, auch die gedankliche und formale Durchdringung des spontan vorgestellten Empfindens verbieten es, dem schreibend Versprochenen und Beschworenen Naivität zu unterstellen. Günderrode und Creuzer wissen um die Flüchtigkeit und das Illusorische ihrer Worte und Stimmungen. Trotzdem oder gerade deshalb werden ihre Liebesbriefe für sie zum Ort eines zweiten und eigentlichen Lebens. Hunderte dieser Briefe gehen auf konspirativen Wegen hin und her, am Anfang der Beziehung oft zweimal täglich. Dieser Schreiblust – die sich weder im Bedürfnis, Trennungen zu überbrücken noch in dem Wunsch, einen mündlichen Dialog fortzusetzen erschöpft 22 – entsprechen ausführlich mitgeteilte Szenen der Briefschreib- und Brieflesesituation, insbesondere in Creuzers Briefen. Er schreibt an sie, während seine im Raum anwesenden Kollegen ihn beim Aktenstudium vermuten und entwirft sich in dieser Szenerie zugleich als Liebesbriefschreiber: Können Sie sich wohl denken in welcher Gesellschaft und an welchem Orte ich dieses schreibe? Auf dem öffentlichen Senatszimmer in dem Universitätsgebäude, während 2 alte Juristische Collegen mit dem Syndicus in Acten stöbern – an einem langen schwarzen Tisch – dem Bilde des Baierischen Kurfürsten Carl Theodor gegen über. Die alten Herrn da denken jetzt gewiß nicht, daß ich in diesem Augenblicke an die Poesie schreibe – wüßten sie es: ich glaube, sie trügen darauf an, daß ich nicht ferner sitzen dürfte auf den handfesten ledernen Stühlen an dem langen Tisch, dem Träger langweiliger Acten. Denn die Poesie scheint ihnen wohl in der 21 22
Karoline von Günderrode an Clemens Brentano [1803?]. In: Wolf: Der Schatten eines Traumes, S. 227. Vgl. Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000. Vellusigs eng an Gellerts Brieflehre angelehnte Definition der Briefkultur sollte angesichts der in den privaten Korrespondenzen tatsächlich vorgefundenen, lebendigen und individuellen Vielfalt von Mitteilungsintentionen und Schreibstilen differenziert werden. Aus der Sicht nur einer Perspektive heraus argumentierend, lässt sich – wie nicht nur der hier betrachtete Briefwechsel belegt – die Liebesbriefkultur des untersuchten Zeitraums nicht adäquat erfassen. Die Formel „Der Brief ist eine freie Nachahmung des guten Gesprächs“, ist in ihrer Allgemeinheit auf sie nicht anwendbar. Vgl. S. 155.
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Rangordnung aller göttlichen und menschlichen Dinge gerade das letzte. Ich räche mich dieses Frevels an ihnen, dadurch daß ich dasjenige für das letzte halte, was gerade in diesem Augenblick ihre Stirne in so große Falten ziehet. Ich mußte hierher und ging etwas früher um mich zu Hause einem langweiligen Besuche zu entziehen – jetzt höre ich aber die Uebrigen kommen über den langen Gang her – und nun ists aus mit meinem Muthwillen – ich schiebe mein, zu dem Zwecke mitgebrachtes Blatt, ernsthaft unter einen Pack Amtspapiere und nehme anständig meinen Platz ein. (S. 111f.)
Inmitten einer biederen Bürgerlichkeit, der er als Universitätsprofessor anzugehören gezwungen ist, verbündet sich Creuzer hier schreibend mit seinem ‚höheren‘ Selbst, das er in doppelter Weise, überlegen ironisierend und mit unverkennbarem Selbstgenuss, gegen eben diese Bürgerlichkeit ausspielt: als Liebe zur Poesie, die hier als Platzhalterin der Kunst schlechthin erscheint, und als Liebe zur Günderrode, deren ganze Existenz zur lebenden Verkörperung des Poetischen stilisiert wird. Was den geschmähten Kollegen als das Geringste gilt, stellt Creuzer an die erste Stelle. Dies adelt ihn in den Augen der Geliebten und rechtfertigt zugleich, dass er ihr nur im Verborgenen angehören kann. In der akademischen Arbeitswelt hat die Poesie ebenso wenig ein Lebensrecht wie seine Liebe zu der jungen Dichterin. Der heimlich geschriebene Liebesbrief muss unter den Akten verschwinden, sobald seine Entdeckung droht. Es wäre verfehlt, einen Brief wie diesen als Ersatz für das persönliche Liebesgespräch zu verstehen. Günderrode und Creuzer erschaffen sich in ihren Briefen vielmehr eine eigene, vom Alltag abgehobene Realität, in der die Imagination alles bedeutet. So berichtet Creuzer vom Genuss nächtlicher Zwiesprachen, in der das Lesen ihrer Briefe und Gedichte für ihn zum befreienden Resonanzraum seines poetischen Selbst wird: Spät, wenn Alles um mich her schläft – ist Tian oder eine Ihrer anderen Poesien – denen ihr Platz nahe an meinem Lager angewiesen ward – meine letzte Lectüre. Ruhig, wie die stille Nacht um mich her, spricht mich dann Ihre freundliche Dichtung an; dann schweigt alle Kritik – nur die Andacht hat eine Stimme und nach diesem Abendgebet schlafe ich ruhig ein mit Ihrem Bilde im Herzen unter frommen Gedanken. Sehen Sie so heiligen Sie mein Leben. (S. 17)
Beim Genuss solcher Zwiesprache wäre die persönliche Anwesenheit der Geliebten eher störend. „Indem Du schreibend in eine gewisse größere Entfernung zurücktrittst, fühle ich mich durch die himmlische Macht Deiner Wahrheit mehr angefesselt, als jemals“, lautet eine der ersten Liebeserklärungen Creuzers. (S. 23) Das Gespräch über Wissenschaft, Kunst und Dichtung ist ein substantieller Bestandteil der Liebeskommunikation zwischen Günderrode und Creuzer. Hier geben ihre verwandten Seelen einander zu erkennen.
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Seine gelehrten Studien über Mythos und Symbolik finden in ihrer Dichtung einen „Widerhall“.23 „Es wird mir eine Erquickung seyn in meiner Dürre, wenn Sie mir zufließen lassen wollen den frischen Quell ihrer Poesie“, schreibt er, um ihre Texte werbend, in denen er eine intuitive, poetische Bestätigung seiner Wissenschaft erblickt. (S. 54). Beide arbeiten sie an einer Mythenreligion,24 die mit dem klassizistischen Verständnis der hellenischen Welt bricht und dem Rausch, der Ekstase, den Mysterien, den antiken Toten- und Unsterblichkeitskulten zu neuer Geltung verhelfen will.25 Man muss sich in diesem Zusammenhang Creuzers intellektuelle Einsamkeit vor Augen halten. Seine mythopoetische Weltdeutung wird von der zeitgenössischen Universitätsphilologie heftig angegriffen. Zwar würdigt schon Hegel Creuzers „Symbolik“ als Rechtfertigung des geistigen und gestalterischen Potentials des Menschen. Eine nachdrückliche Restitution seines Namens erfolgt jedoch erst durch Walter Benjamin.26 Angesichts dieser zeitgenössischen akademischen Nichtachtung von Creuzers Gedankenwelt, muss es für ihn beglückend gewesen sein, mit der Gelieb23
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Vgl. Becker-Cantarino, Barbara: „Mythos und Symbolik bei Karoline von Günderrode und Friedrich Creuzer“. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik. Hg. v. Friedrich Strack. Berlin, Heidelberg 2008, S. 281–298, hier S. 281. Vgl. Becker-Cantarino: Mythos und Symbolik, S. 296; vgl. auch: Strack, Friedrich: „Creuzers ‚romantische‘ Morgenlandfahrt“. In: Friedrich Creuzer 1771–1858. Philologie und Mythologie im Zeitalter der Romantik. Hg. v. Frank Engehausen, Armin Schlechter u. Jürgen Paul Schwindt. Heidelberg 2008, S. 59–72. Vgl. Becker-Cantarino: Mythos und Symbolik, S. 295. Zur Bedeutung des Mythos im Werk der Günderrode vgl. auch: Dorman, Helga: Die Kunst des inneren Sinns. Mythisierung der inneren und äußeren Natur im Werk Karoline von Günderrodes. Würzburg 2004. Dorman zufolge wäre es völlig verfehlt, Günderrodes Mythisierung der Liebe in ihrem Werk und in ihren Briefen als Ausdruck einer real erlebten Erfahrung aufzufassen: „Es soll nicht bestritten werden, dass ein wesentlicher Antrieb zu dichten im persönlichen Erleben der Dichterin gelegen haben mag, doch lenkt man den Blick von der Motivation auf das Werk, ist nicht zu übersehen, in welch hohem Maße eine gedankliche und formale Durchdringung des so spontan vorgestellten Empfindens vorliegt.“ Ebd., S. 203. Ähnlich urteilt Waltraud Schade: „Karoline sieht in der Kunst das vollkommene Leben.“ Schade: Bettina Brentano und Karoline von Günderrode, S. 58. Jürgen Paul Schwindt führt dazu aus: „Schon Hegel liest die Symbolik in souveräner Nichtachtung des akademischen Protests – als den bis dahin großartigsten Versuch, ‚den Menschen in seinem geistigen Bilden und Gestalten zu rechtfertigen‘. Hatte die Jenenser Frühromantik die ‚neue Mythologie‘ gefordert, so lieferte der Heidelberger Philologe nicht nur eine neue alte Mythologie, sondern mit der Symbolik gleich auch einen Schlüssel zu den abgelegenen Kammern einer mythologischen Vernunft. […]. Es ist Walter Benjamin, der Creuzers Namen – abseits romantisierender und tragisierender remakes der CreuzerGünderrode-Geschichte – mit Macht restituiert hat.“ In: Schwindt, Paul Jürgen (Hg.): Das akademische Studium des Alterthums. Nebst einem Plane der humanistischen Vorlesungen und des philologischen Seminarium auf der Universität zu Heidelberg von Friedrich Creuzer. Heidelberg 2007, S. VII–XXV, hier S. XVIff.
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ten zugleich eine intellektuelle Gesprächspartnerin auf Augenhöhe gefunden zu haben. Günderrodes im Selbststudium erworbene Bildung ist erstaunlich. Die Exzerpte und Gesprächsnotizen in ihrem Studienbuch bezeugen ein weit gefächertes Interesse an Literatur, Philosophie, fernöstlicher und nordischer Mythologie, aber auch an Chemie, Geographie, Religionsgeschichte, Physiognomie, Latein und Griechisch. Sie liest Werke von Herder, Lavater, Goethe, Schiller, Hölderlin, Jean Paul, Brentano, Novalis sowie Friedrich Schlegel und setzt sich mit der Philosophie von Kant, Schleiermacher, Fichte wie auch Schelling auseinander. Anders als anderen Frauen der romantischen Generation genügt es ihr nicht, ihre künstlerische Begabung nur in Briefen auszudrücken. Sie schreibt und veröffentlicht Dramen, Dialoge, philosophische Abhandlungen und Prosa.27 Creuzer bewundert ihren reichen Geist, unterstützt ihren schriftstellerischen Ehrgeiz, diskutiert mit ihr ihre Texte. Und er versteht, dass sie erkannt werden will. Günderrodes schriftstellerische Decknamen, Tian und Ion – von der Kritik rasch durchschaut – sind nicht den damals üblichen Vorbehalten gegenüber weiblicher Autorschaft geschuldet. Sie sind vielmehr Chiffren einer „intellektuellen weiblichen Souveränität“, die traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellt28 Gegen die einengenden Weiblichkeitsmuster der Zeit bekennt sich Günderrode in einem Brief an Gunda Brentano ausdrücklich zu ihrer ‚Unweiblichkeit‘: Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch, mich in ein wildes Schlachtgetümmel zu werfen, zu sterben. Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir.29
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Vgl. Hille, Markus: Karoline von Günderrode. Reinbek 1999, S. 26f. Zu den philosophischen Konzepten, die Karoline von Günderrode zur Kenntnis nahm und zum Niederschlag philosophischer Ideen in ihrem Werk vgl. auch Ruth Christmann: Zwischen Identitätsgewinn und Bewußtseinsverlust. Das philosophisch-literarische Werk der Karoline von Günderrode (1780 – 1806). Frankfurt/Main 2005. Interessant für den Liebesbriefwechsel mit Creuzer ist hier vor allem die Beobachtung, dass die Thematisierung von Liebe und Tod auch und vor allem von Günderrodes Werk her verstanden werden muss. Christmann spricht im Hinblick darauf von einem „hartnäckig andauernden Creuzer-Mythos“, den es zu widerlegen gelte. Vgl. S. 255. Hollmer: „Warum ward ich kein Mann!“, S. 346. Weißenborn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 78–79.
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Als „Lieber Widerhall“ spricht Bettina von Arnim die Günderrode in ihrem Briefbuch an.30 Das in idealer Ergänzung zueinander entworfene Verhältnis der beiden Frauen wird hier auf die mythologischen Figuren von Narziß und Echo bezogen31 – eine Figurenkonstellation, mit der sich auch Günderrodes Verhältnis zu Creuzer beschreiben ließe. Creuzer bewundert vor allem das Dunkle und das so genannte ‚Morgenländische‘ in Günderrodes Dichtung. Ihre Dramen, von der öffentlichen Kritik geschmäht, ernten seinen ungeteilten Beifall. Zu „Magie und Schicksal“, das er neben ihrem Drama „Udohla“ in die von ihm mit herausgegeben Heidelberger „Studien“ aufnimmt, schreibt er ihr: „Ich wüsste nicht dass mir die Grundidee irgend eines Deiner Werke besser gefallen hätte als in diesem. Ich darf es wohl sagen, sie ist groß.“ (S. 69)32 Groß erscheint ihm an ihren Werken vor allem der Versuch, den abendländischen Rationalismus durch Freilegung eines verschütteten inneren Sinns des Menschen zu durchbrechen und dadurch zu höheren Bewusstseinssphären Zugang zu finden.33 Dieser Anspruch wird auch im Hinblick auf ihre Liebe erhoben. „[…] zwischen uns darf nicht treten der Begrif und das Denken“, schreibt Creuzer ihr in einem seiner Briefe. (S. 110) Dass diese Form der Mythenadaption für Günderrode auch eine Verführung „zum Gang in den Tod“ war, ist nicht von der Hand zu weisen.34 Für Günderrodes Selbstgefühl als Künstlerin kann Creuzers Mentorenrolle gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als Berater ihrer schriftstellerischen Tätigkeit wird er für sie nahezu unentbehrlich. Er ermuntert sie, wenn sie zweifelt, gibt ihr Ratschläge, kümmert sich um Publikationsmöglichkeiten, sorgt dafür, dass sie gut entlohnt wird und bestärkt sie in ihrem Willen zur künstlerischen Eigenständigkeit: 30 31
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Vgl. Bettine von Arnim: Clemens Brentanos Frühlingskranz. Die Günderode. Hg. v. Walter Schmitz. Frankfurt/Main 2006, S. 624. Vgl. Hilmes, Carola: „Lieber Widerhall“. Bettine von Arnim: Die Günderode – Eine dialogische Autobiographie, 1996. http://www.goethezeitportal.de/Fileadmin/PDF/db/wiss/arnim/hilmes_arnim_guender ode.pdf, S. 1–12, hier S. 11 (Stand: 29.08.2012). Vgl. auch: Schade, Waltraud: Bettine Brentano und Karoline von Günderrode: Ein Gespräch. Berlin 2006. Vgl. Lipinski, Silke: „Udohla – Plattform für Karoline von Günderrodes philosophische Gedanken“. In: New German Review. A Journal of Germanic Studies 24 (2011) H. 1, S. 113–121. Interessant im Hinblick auf den Briefwechsel mit Creuzer ist die aktive Rolle der Frauen in diesem Drama: “Sie fällen Entscheidungen und nehmen ihr Schicksal erfolgreich selbst in die Hand. […] Dass sich in der Figur der Nerissa Elemente finden lassen, die geradezu im Gegensatz zu Günderrodes eigener erlebter Wirklichkeit stehen, wird mit einem Blick auf die Geschehnisse zwischen Günderrode und Creuzer zur Zeit der Entstehung „Udohlas“ deutlich.“ Ebd., S. 115. Vgl. Weißenborn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 29. Becker-Cantarino: Mythos und Symbolik, S. 293.
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Dichten Sie, was der Geist Ihnen eingibt, philosophiren Sie aus der Tiefe Ihres Gemüthes und thun Sie als ob keine Literatur-Zeitung – kein Nees – ja selbst kein Göthe in der Welt wäre. Sie haben wahrlich nicht nötig um das Urtheil der Kritiker zu werben. Ich bitte Sie, und sehe es als einen Gefallen an, den Sie mir erzeigen: seyen Sie ganz unabsichtlich in solchen Dingen, erhalten Sie sich unabhängig von dem Urtheil der Literatur, leben Sie blos der inneren Welt, die so reich und gros in Ihrem Geiste aufgegangen ist. (S. 155)
Dieses für die Dichterin stabilisierende Element ist infolge der Fixierung auf das tragische Ende der Liebesgeschichte weitgehend übersehen worden. Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass in diesem Briefwechsel nicht nur das Leid, sondern auch das Glück, als mögliche Verständigung über Wissenschaft, Kunst und Dichtung und als Versprechen von Selbstverwirklichung und Errettung aus Entfremdung präsent ist. Als Medium weltlicher und transzendenter Bildung eröffnen die Briefe dem Paar einen Erfahrungsraum, in dem das irdische Liebesglück als Abglanz des Unendlichen im Endlichen erlebt wird und eine vollkommene Menschwerdung der Geschlechter aufleuchtet. Nicht zufällig rückt Creuzer das Liebesgespräch mit der Künstlerin in die Nähe des Gebets: „Heilige, ich bete zu Dir“ (S. 203). Dass der Preis für diese Idealisierung hoch ist, wird von beiden erkannt. Sie wird hauptsächlich mit der Verdrängung des Erotischen und mit der unüberwindbaren Furcht vor dem Absturz in die Alltäglichkeit bezahlt. Ständig fürchtet Creuzer, dass ihn Karoline auf Dauer nicht ertragen kann: „Da aber jedes Gespräch mit Ihnen mir Gebet ist – so fühlte ich mich eben so unwürdig als untüchtig dazu.“ (S. 58). Günderrode vermag ihm seine Befürchtungen offenbar nicht zu nehmen. Hellsichtig schreibt sie einmal an Gunda Brentano über ihren Charakter und ihre Ansprüche: „[…] ich habe für manche Fehler gar keine Geduld, am wenigsten an Menschen, die ich lieben mögte, und ich mögte Dich lieben, ob ich gleich sonst nicht die Person, sondern nur die Vortrefflichkeit liebe.“35 In ihren nachgelassenen Schriften kehrt der Gedanke wieder: Die Vortreflichkeit ist ein Ganzes wir haben sie nicht, sie ist gleichsam wie die Bläue des Himmels über uns, unsre Vortreflichkeit, ist nur Streben zu ihr, eine Ansicht von ihr; drum ist keine persöhnliche Liebe, nur Liebe zum Vortreflichen.36
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Brief im Juni 1802. In: Weißenborn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 90. Morgenthaler, Walter (Hg.): Karoline von Günderrode. Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Texte. Frankfurt/Main, Basel 2006, S. 436.
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Wenn nur das Vortreffliche geliebt wird, kann die Liebe zu einer Person schnell ihren ihren Bezugsgrund verlieren.37 Das mag wohl auch Friedrich Carl von Savigny gespürt haben, als er nach langem Schwanken nicht die bewunderte Dichterin, sondern die weitaus bodenständigere Gunda Brentano heiratet. Einige Äußerungen deuten darauf hin, dass auch Günderrode selbst nicht daran geglaubt hat, dass sie als Künstlerin zugleich den bürgerlichen Ehealltag bewältigen könnte: Es giebt zwei Leben das Gemeine (das schlechter ist als wir) u das Höhere; viele Menschen schweben zwischen beiden, der wahre Künstler steht ganz im letztern es ist die wahre Seligkeit u wer es einmal betretten der ist der Welt ohne Rettung verlohren.38
Als Dichterin verlangt es die Günderrode nach einem Gefährten, der bereit ist, sich mit ihr über das gemeine Leben zu erheben. Es erscheint ihr als der „schmeichelhafteste Beweis ihres eigenen Wertes“, nur von „ausgezeichneten Menschen geliebt zu sein“.39 Auch in ihrer Liebe zu Savigny spielt die Aufwertung des Ichs durch die Liebe des ausgezeichneten Anderen bereits eine große Rolle.40 Ihrer Freundin Karoline von Barkhaus gesteht sie ihre Zweifel, für Savignys Gegenliebe würdig genug zu sein: Ich fühle es nur zu sehr, wie weit ich von dem Ideal entfernt bin, daß sich ein S. erträumen kann, als daß ich hoffen dürfte; gewiß wird er ein Mädchen finden, das seiner Liebe würdiger ist als ich, und beinahe liebe ich ihn zu sehr, zu uneigennützig, um zu wünschen, er möchte sein Ideal nicht finden; ich weiß selbst nicht, was im Innern meines Herzens vorgeht, mit welcher Hoffnung ich mich trotz jenem traurigen Bewußtsein hinhalte, aber doch ist’s so, ich kann mir es nicht verbergen, ein leiser dunkler Glaube ist noch in mir.41
So groß Creuzers Anstrengungen auch sind, Günderrodes Ideal der Vortrefflichkeit zu erreichen, auf Dauer kann er ihm nicht genügen. So sehr er in seinen Briefen der Überhöhung seiner Person immer wieder Nahrung gibt, so unabweislich wird ihm zunehmend klar, dass er die Kraft für den Balanceakt zwischen Liebesideal und Lebensrealität nicht mehr lange aufzubringen vermag. Dass sein erotisches Begehren von ihr nicht im selben Maße erwidert wird, mag erschwerend hinzugekommen sein. „Ach, 37
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Auch in ihren Dichtungen hat die Günderrode das Unlebbare einer ins Absolute gesteigerten Liebe beklagt. Vgl. Hilmes, Carola: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte. Königsstein/Taunus 2004, S. 67. Morgenthaler (Hg.): Karoline von Günderrode, S. 436. Brief vom 24. Nov. 1801. In: Weißenborn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 83. Vgl. dazu die Briefwechsel zwischen Günderrode und Savigny, Günderrode und Gunda Brentano sowie die gemeinsamen Briefe von Günderrode und Brentano an Savigny vom Juli 1803–August 1804. In: Weißendorn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 96–159 Brief vom 10. Juli 1799. In: Weißenborn: „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“, S. 51–52.
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wie lieb, wie heimlich wird dieses Leben seyn – wenn der leere Platz meines Lagers Deine Lagerstäte seyn wird! Leb wohl, liebe Gattin!“ – schreibt er ihr am 13. September 1805, wieder einmal die Hoffnung nährend, die Scheidung von seiner Frau sei möglich und stehe nahe bevor. (S. 154)42 Zweifel an ihrer Ehetauglichkeit lassen sich jedoch durch solche Beschwörungen eines gemeinsamen Lebens nicht beseitigen. Creuzers Freunde bestärken seine Unschlüssigkeit, indem sie zu bedenken geben, dass die Dichterin und Philosophin sich niemals in die Niederungen eines bürgerlichen Hauswesens begeben würde, um sich darin zu bewähren. (Vgl. S. 152f.) Günderrode weist derartige Unterstellungen von Seiten Dritter empört und gekränkt zurück: Schwarz findet bedenklich, daß ich der neuen Philosophie anhange, soll ich mich entschuldigen über das, was ich vortreflich in mir finde. Ich verstehe nicht, in welchem Zusammenhang dies mit meinem gefürchteten Untalent, Sie zu beglücken, steht und doch will ich ihm schreiben, wenn Sie es wünschen, ich will alles tun, was Sie wollen, wenn nur Sie den Freund nicht verkennen, haben Sie ihn, seit er Sie liebt, nicht immer gehorsam demütig Ihnen ergeben gefunden, hat er etwas gegen Sie getan, das nur das kleinste Mißtraun gegen ihn rechtfertigen könnte? (S. 241)
Creuzer beklagt sich häufig über das Gefängnis seiner Ehe und behauptet, seine Frau allein wegen der Aussicht auf eine materielle Versorgung geheiratet zu haben.43 Fast durch alle Briefe der Jahre 1805 und 1806 zieht sich seine Scheidungsabsicht. Doch das sind, wie beide wissen, Augenblicksstimmungen und Augenblickshoffnungen – also Versprechungen ohne Gewähr.44 In einem Brief an Lisette Nees bekennt Creuzer einmal, welches Ausmaß an Verdrängung ihm seine Liebe und Verehrung der Dichterin abverlangen. Das Leiden an dem „zerreißende[n] Widerstreit zwischen Wirklichkeit und Dichtung“ wird hier ganz offen mit der Sublimierung seines erotischen Begehrens in Zusammenhang gebracht: Ich will es also lernen sie selbst betrachten als einen Geist – will blos anschauen ihre schlichte Einfalt bei der reichsten Fülle – ihre Demuth bei der Hoheit – ihre Bewusstlosigkeit eignen Werths – ihre Muttergottesnatur, die nicht weis wie ihr 42
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Dieser Brief ist, wie andere besonders wichtige Briefe ab dem 17. Mai 1805, mit griechischen Buchstaben geschrieben, um zu verhindern, dass unbefugte Augen auf ihm ruhen. Auch Sätze in lateinischer Sprache finden sich in Creuzers Liebesbriefen. Offenbar kostete es das Paar immer wieder große Mühe, einen sicheren Weg für ihre Korrespondenz auszuspüren. Zwar fungierten treue Freunde als Mittelspersonen, doch dies verhinderte nicht, dass Spuren auf das Erbrechen von Briefen durch die Stieftochter oder die Ehefrau Creuzers hindeuteten. Vgl. Preisendanz: Die Liebe der Günderrode, S. XIII. Was Creuzer der Günderrode verschweigt, ist sein einer leidenschaftlichen Affiziertheit geschuldetes Werben um Sophie Leske, das erst nach großem Widerstreben ihrerseits zum Erfolg und zur Heirat führte. Vgl. Ebd., S. II. Vgl. ebd., S. X.
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geschieht, dass Gott sich in ihr verherrlicht – will mich erhalten in dieser Stimmung der Andacht und mich nicht hingeben dem seeligen Wahnsinn der den Leib besitzen will.45
Creuzer begehrt die Frau, will aber nicht schuldig werden an der Dichterin, diese nicht in die ‚Niederungen‘ seiner erotischen Wünsche hinabziehen. Er verspricht ihr daher immer wieder, die „Rohheit“ abzulegen, die dem Schmetterling „den goldenen Farbenschmelz von seinen Flügeln“ abstreife und die „Lust seines Lebens“ verderbe. (S. 34). Sein Begehren verleugnend, verweist er sie in solchen Augenblicken an seine schöne Seele: Du bist Poetin – die Natur will Du sollst nur das Schöne lieben. Schön aber ist nicht meine Erscheinung, meine Sitte – meine Manieren – also nicht ich – sondern in mir etwas: das in der rohen Hermensäule eingekerkerte Götterbild: mein Gemüth. […] Laß mich oder vielmehr lehre mich Dich zu lassen als Weib – aber laß meine schöne Seele nicht – oder, ist dies zu stolz gesprochen, o so laß doch nicht die Treue Seele, die fromme Seele. (S. 60)
Günderrode und Creuzer finden im jeweils Anderen den Gefährten, mit dem sie sich in einem gemeinsamen geistigen Aufschwung über das gemeine Leben – und das heißt um 1800 auch über das Leiden an einer unfreien bürgerlichen Gesellschaft – zu erheben vermögen. Dieser geteilte Traum wird in ihren Liebesbriefen wahr. Dass es ihnen aus inneren Gründen nicht gelingt, ihm auch im Leben eine Wirklichkeit zu geben, steht auf einem anderen Blatt. Eine Scheidung ist in den Kreisen der Romantiker nichts Außergewöhnliches, Creuzers Frau verweigert ihre Zustimmung zur Trennung nicht ernsthaft, die finanziellen Probleme ließen sich mit einigem guten Willen lösen. Eine bürgerliche Ehe, das empfinden trotz gegenteiligen Beteuerungen jedoch beide, kann nicht das Ziel ihrer Liebe sein. Selbst als Creuzers Frau die Trennung anbietet (was sie mehrfach tut), kommt es zu keiner Entscheidung der Liebenden füreinander. Creuzers Vorschlag einer Lebensgemeinschaft zu dritt oder Günderrodes Plan, mit ihm nach Russland zu gehen, heimlich und in Männerkleidern, zeigt, wohin sich ihre Gedanken stattdessen versteigen. Einmal bietet sie ihm an, nach Heidelberg zu ziehen, um wenigstens in seiner Nähe leben zu können. Lisette Nees versucht der Freundin begreiflich zu machen, dass sie sich mit solchen Vereinigungsplänen, die auf Seiten der Günderrode offenbar sexuelle Enthaltsamkeit zur Voraussetzung haben, selbst etwas vormacht: Sage mir doch wie meinst Du es mit diesem glüklich machen Creuzers? Du willst mit ihm gehen als Mann und sein Freund seyn. C. liebt Dich ganz, Deine Seele
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Preitz: Karoline von Günderrode in ihrer Umwelt. I., S. 253.
Aporien der Liebe bei Günderrode und Creuzer
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wie Deinen Leib – entweder sein Leben ist ewiger Kampf, den er nimmer zu ertragen imstande ist wenn er Dich liebt, oder er wiederstrebt nicht lange. Hier wird er Dir widrig wenn Du kein Gefühl für ihn hast und die Natur in ihm doch nur stärker ist, nicht als seine Liebe oder Treue, sondern als Deine unnatürliche Foderung, oder Du ergiebst Dich ihm und stirbst dan. – Sage mir wo ist hier Creuzers Glük? Sein böses Schiksal muß er verfluchen.46
Gegen Ende ihrer Korrespondenz lassen sich die Anforderungen und Selbstanforderungen immer schwerer bewältigen. Dazu mögen Günderrodes „Melete“-Dichtungen noch das ihre beigetragen haben. Als sie Creuzer diese zu Beginn des Jahres 1806 zur Publikation anbietet, stößt er sich einmal mehr an der Verherrlichung seiner Person, die er in den fiktiven „Briefen zweier Freunde“ vorfindet und die ihm vorgeblich allen Mut zu einem Wiedersehen nimmt: Den 1ten Brief an Eusebio habe ich nochmals gelesen. Ich bewundere die Tiefe der Ideen drin und die Besonnenheit womit sie ausgesprochen. Weh man hat gar nicht recht mehr den Muth Dich kindlich zu necken und in Liebe unterthan zu machen (wie wir Männer doch wollen) wenn man solche Weisheit betrachtet. Du schrekst Deinen Eusebio ab. Wahrhaftig Du musst thörigt seyn wann ich komme, und durch liebendes Spiel mir Muth machen. – Du mußt Dich Deiner Treflichkeit entäußern – sonst kann ich ja bei Dir nicht froh werden. (S. 233)
Äußerungen wie diese wurden als Versuch „Günderrodes geistige Bedeutsamkeit zu unterdrücken“ missverstanden.47 In Wahrheit bezeugen sie Creuzers Problem, der im brieflichen Liebesgespräch imaginierten Frau auch im persönlichen Umgang gerecht zu werden. Die Briefe ermöglichen dem Paar die Illusion des romantischen Liebesideals zu pflegen und immer noch zu steigern, sie tragen jedoch auch dazu bei, ihre lebensweltliche Liebe „von der Erfüllung in die Hoffnung, in die Sehnsucht, in die Ferne“ zu verlagern. So gesehen müssen beide Briefpartner in der Tat den „Fortschritt im Prozeß des Liebens […] ebenso suchen wie fürchten.“48 An einer Stelle ihrer nachgelassenen Schriften bekennt Günderrode: Es gibt nur zwei Arten recht zu leben irdisch, oder himlisch; man kann der Welt dienen, u nützen, ein Amt führen. Geschäfte treiben, Kinder erziehen, dann lebt man irrdisch. Oder man lebt himlisch in der Betrachtung des Ewigen, Unendlichen im Streben nach ihm. (eine Art Nonnenstand) wer anders / Leben will als eine dieser beiden Arten der verdirbt.49
Die Paradoxie einer Liebe, die sich beständig zwischen diesen beiden Polen hin und her bewegt, könnte treffender nicht vor Augen geführt 46 47 48 49
Ebd., S. 275. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 426. Luhmann: Liebe als Passion, S. 172. Morgenthaler (Hg.): Karoline von Günderrode, S. 436.
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werden. Es kommt auf beiden Seiten mehrfach zur Bekundung von Trennungsabsichten. Diese bleiben jedoch bedeutungslos, solange der Briefwechsel von beiden Briefpartnern eigenhändig fortgesetzt wird. In einem elementaren Sinn auf das Medium des Briefs angewiesen, kann das Ende dieser Liebe bezeichnenderweise nur mit jenem radikalen Akt persönlicher Korrespondenzverweigerung besiegelt werden, mit dem Creuzer die Aufkündigung des Liebesverhältnisses einer fremden schreibenden Hand überantwortet.
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Pygmalions Labor Moderne Naturwissenschaft und literarische Tradition im Briefwechsel zwischen Jakob Henle und Elise Egloff I. Einleitung – biographischer Hintergrund Der folgende Aufsatz setzt sich mit einer Liebeskorrespondenz auseinander, die in vieler Hinsicht widersprüchlich ist und sich gerade mit ihren Widersprüchen gut in das Rahmenthema des Bandes fügt. Aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammend, greift der in Rede stehende Briefdialog Muster und Schreibkonventionen der empfindsamen Epistolarkultur auf, so dass eine herkömmliche Epochenzuordnung kaum möglich ist. Außerdem verweist der komplexe Briefstil auf moderne Kontingenzerfahrungen, die eine (noch) empfindsam gesteuerte Briefkommunikation im Zuge sozialer Differenzierungsprozesse im 19. Jahrhundert verkraften muss und kann – etwa wenn neue Rollenmodelle und Semantiken wie die des naturwissenschaftlichen Forschers in die Briefkommunikation Eingang finden und sich ferner der langsame Umbruch der Geschlechterrelationen abzeichnet. Denn eigentlich kann man die nur vier Jahre (1844–48) währende Korrespondenz zwischen dem Naturforscher Jacob Henle und dem Nähmädchen Elise Egloff kaum als Liebesdialog bezeichnen; zu viele Stimmen, Sprecherrollen und kommunikative Absichten durchkreuzen sich in diesem schriftlichen Gespräch.1 Dennoch ist Letzteres im kulturellen Gedächtnis als Liebeskorrespondenz verbucht worden. Die Liebesgeschichte, die sich in den Briefen spiegele, so deren Herausgeberin, habe „für die Zeitgenossen und viele spätere Generationen von Lesern eine außergewöhnliche Strahlkraft und Faszination“.2 Behauptungen von ‚Strahlkraft‘ und ‚Faszination‘ mögen selbst interpretationsbedürftig sein und sich der einzigartigen literarischen Wirkungsgeschichte der Texte 1 2
Kübler, Gunhild (Hg.): ‚Mein lieber böser Schatz!‘ Der Anatom und das Nähmädchen. Eine Geschichte in Briefen. Zürich 2004. Kübler, Gunhild: „Geprüfte Liebe“. In: Kübler (Hg.): Mein lieber, S. 5–19, Zitat S. 5.
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verdanken, von der noch die Rede sein wird. Eine kulturhistorische Herausforderung aber stellt Henles und Egloffs Liebesbeziehung allemal dar, denn sie verschränkt brief- und wissensgeschichtliche Fragestellungen. Zunächst der biographische Hintergrund. 1841 trifft der aufstrebende Anatomieprofessor Jacob Henle in Zürich auf das Kinder- und Nähmädchen Elise Egloff, und es entspinnt sich das übliche, gesellschaftlich geregelte Passionsverhältnis zwischen männlichen Angehörigen der Bildungselite und unverheirateten weiblichen Dienstboten. Als der 31-jährige Henle jedoch 1844 einen Ruf nach Heidelberg erhält, entsteht ein Dilemma zwischen individuellen Emotionen und der Unmöglichkeit, eine bürgerliche Verbindung einzugehen. Henle greift zu einer ungewöhnlichen Lösung: Er lässt das Mädchen zur potentiellen Ehefrau ausbilden; d.h. er sucht ihr jenes umfängliche Bildungs- und Verhaltensrepertoire zu vermitteln, dessen sie für einen etwaigen sozialen Positionswechsel bedarf. Doch tut Henle das nicht selbst, sondern delegiert das Erziehungsprogramm; zunächst an ein Mädchenpensionat an der Mosel, wo die 23-Jährige Unterricht in den Gegenständen häuslicher Geselligkeit, in Mythologie, Musik, Französisch und Korrespondieren erhält. Die weitere Erziehung überträgt Henle seiner verheirateten Schwester Marie, denn „aus Deiner Hand will ich sie als meine Braut empfangen oder nicht wiedersehen“.3 Dort soll sie sich jenen diffusen Kodex an Verhaltens-, Ausdrucks- und Kommunikationsregeln aneignen, der zum Eintritt in den bildungsbürgerlichen Inklusionsraum berechtigt und ihn gleichzeitig mit konstituiert – „das Benehmen […], welches nur im Umgang mit Gebildeten erworben werden kann, […] die feineren Nuancen des Gefühls und Geschmacks, die das Leben verschönern“.4 Während das Bildungsexperiment für Henle unverbindlich bleibt und allenfalls eine Ehehoffnung einschließt, geht es für Elise um Leben oder Tod. Ihres bisherigen soziokulturellen Kontexts beraubt und nahezu identitätslos, verharrt sie im Haus von Henles Verwandten über weite Strecken hinweg in völliger Deprivation. Der briefliche und persönliche Kontakt mit Henle ist streng reguliert, phasenweise völlig unterbunden; als sinnhaftes Moment bleibt Elise nur die Ehehoffnung. Allerdings stellen Henle und seine Verwandten ihr bei jedem Abweichen vom erwarteten Idealverhalten die Lösung der Beziehung in Aussicht, was Elise zwischenzeitlich in die Suzidalität treibt: „Ich lebe ja ganz für Dich, ja sogar sterben will ich, wenn Du sagst ich kann Dich nicht mehr lieb haben, denn ohne Dich hat das Leben keinen Wert mehr für
3 4
Henle an Marie, 8.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 46. Ebd., S. 44.
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mich …“.5 Schließlich scheint sie die Zielvorstellungen erreicht zu haben: Henle heiratet die Näherin nach zwei Jahren ‚Lehrzeit‘. Glücklich jedoch kann man diesen Ausgang nicht nennen, denn Elise Egloff stirbt nur zwei Jahre später, nach der Geburt zweier Kinder, an Tuberkulose; im Alter von 28 Jahren, verbraucht von einer nahezu unmöglichen Anpassungsleistung.
II. Kulturelle und literarhistorische Bedeutung Ein Menschenexperiment, vergleichbar den literarischen Kaspar-HauserPhantasien der Aufklärung,6 und aus heutiger Sicht an Inhumanität kaum zu überbieten. Literatur- und kulturgeschichtlich ist die Verbindung Henles und Elises, die kollektive Briefkommunikation innerhalb der Familie und das daraus erwachsende Netz an Bedeutungszuschreibungen, Verweisen, Anspielungen allerdings aus mehreren Gründen hoch bedeutsam. Zum einen wegen Henle selbst. Er ist ein bedeutender Naturwissenschaftler, Anatom, Physiologe und Pathologe, und es verdanken sich ihm eine Reihe wichtiger Überlegungen und Erstbeschreibungen wie der parasitäre Ursprung der Seuchen oder die Mikrostruktur des Nierenbeckens; auch gilt Henle als epochaler Mikroskopiker und Begründer der Histologie. Der Schüler Johannes Müllers und Ordinarius auf anatomischen Lehrstühlen in Zürich, Heidelberg und Göttingen ist Repräsentant des neuen akademischen Wissenschaftlertypus, der medizinisch-anthropologische Forschung und nicht ärztliche Heilpraxis am Krankenbett betreibt, dem der posthume Erkenntnisgewinn vor dem pastoralen Dienst am Kranken geht. So schreibt der erst 21-jährige Medizinstudent an seine Eltern: „Leider war die erste, die ich ins Grab kurierte, ein schönes, blühendes, 20 Jahre altes Mädchen […]. Sie verfiel auf die wahnsinnige Idee, das Nervenfieber zu bekommen, und am 9. Tage, nachdem sie sich mir anvertraut hatte, stand ich schon mit aufgeschürzten Ärmeln und dem blutigen Messer vor ihrer schönen Leiche“.7
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Elise an Henle, 25.11.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 168. Vgl. Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007; Ders.: „Experiment und Leben. Zur Genealogie, Kritik und Epistemologie des Menschenversuchs um 1800“. In: Schimma, Sabine u. Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen 1800. Zürich, Berlin 2009, S. 69–83; Griesecke, Birgit, Marcus Krause, Nicolas Pethes u. Katja Sabisch (Hg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750–2000. Frankfurt/Main 2008. Henle an seine Eltern, 21. August 1830. Zitiert nach: Dross, Fritz u. Kamran Salimi (Hg.): Schriftenreihe des Stadtarchivs und Stadtmuseums Fürth, Bd. 2. Fürth 2009, S. 68.
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Henle markiert und befördert jenen wissenschaftsgeschichtlichen Ausdifferenzierungsprozess, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Arztund Wissenschaftlerrolle, klinische Medizin am Krankenbett und patientenferne, akademische Naturforschung, also Anatomie und Physiologie, mehr und mehr auseinandertreten lässt.8 Doch gleichzeitig ist Henle eine Figur der Schwelle und des Übergangs – zwischen Philosophie und quantifizierenden Naturwissenschaften, zwischen einer subjektzentrierten Epistemologie, die allein auf den Postulaten der Vernunft aufbaut, und einer neuen erkenntnistheoretischen Objektivität, die technischexperimentell generiertes Wissen dem erkennenden Ich vorzieht.9 Henles herausragende Bedeutung für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist schon den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben, und das ist der zweite Grund für die Relevanz des Briefgesprächs. Denn der Anatom ist Gegenstand einer Reihe mehr oder weniger bedeutender Literarisierungen geworden, zwei davon ausgesprochen kanonisch: Die unmögliche Liebesrelation zwischen Wissenschaftler und Nähmädchen hat in der zentralen Novelle von Kellers Sinngedicht-Zyklus, Regine, ein literarisches Denkmal erhalten, wobei Keller die wissensgeschichtliche Konstellation von Pygmalion und Galatea auf ihren ethischen Problemgrund hin transparent macht. Des Weiteren literarisiert Keller in Der Grüne Heinrich jene populäranthropologische Heidelberger Vorlesungsreihe, in der Henle die Menschenkunde nachaufklärerisch auf ‚physiologische Füße‘ zu stellen versuchte.10 Weitere mehr oder weniger prominente Literarisierungen des Bildungsexperiments sind eine Erzählung in Bertold Auerbachs Zyklus Schwarzwälder Dorfgeschichten mit dem Titel Die Frau Professorin (1846), sowie das populäre Theaterstück Dorf und Stadt (1847) der Bühnenautorin Charlotte Birch-Pfeiffer. Möglicherweise ist Henles Bildungsversuch auch einer der Prätexte für G.B. Shaws Erfolgskomödie Pygmalion (1913).11 Jedenfalls kann man Henle und Elise als Bedeutungsträger in 8 9 10
11
Vgl. Dross, Fritz: „Das Kontagium lebt! Bemerkungen zum wissenschaftlichen Werk Jacob Henles“. In: Dross, Salimi: Schriftenreihe, S. 109–117, S. 111–112. Vgl. Daston, Lorraine u. Peter Galison: Objektivität. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt/Main 2007, S. 121–260. Monika Ritzer hat aufgezeigt, dass Keller dabei Henle und seinen Schüler, den radikalmaterialistischen Chemiker Moleschott, zu einer höchst widersprüchlichen Figur verschmilzt, siehe: Ritzer, Monika: „Physiologische Anthropologien. Zur Relation von Philosophie und Naturwissenschaft um 1850“. In: Arndt, Andreas u. Walter Jaeschke (Hg.): Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848. Hamburg 2000, S. 113–140, S. 130ff. Vgl. Mayer, Alexander: „My Fair Lady – Frau eines Anatomieprofessors aus Fürth?“ In: Monti Carlo. Magazin des Montessori Zentrums Nürnberg 1 (2012), Schwerpunktthema: Musik, S. 44–45.
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einem Geflecht von Intertextualität und Interdiskursivität verstehen, das eine wissensgeschichtliche Analyse des brieflichen Urtextes herausfordert. Der dritte Grund für die kulturgeschichtliche Bedeutung von Henles Liebesgeschichte ist ihre Einbettung in die dichte epistolare Gruppenkommunikation einer konvertierten jüdischen Aufsteigerfamilie. Erst nach zwei Jahren Bildungszeit schält sich aus dieser Gruppenkommunikation der eigentliche epistolare Liebesdialog Henles und Elises heraus; vorher ist ihr Kontakt weitgehend mittelbar, auf Deutungen und Kommentare der unermüdlich briefschreibenden Familienmitglieder beschränkt. Diese räumlich separierten Akteure – Henle, sein Vater, seine Schwestern Marie Mathieu und Rosalie Schöll sowie deren Ehemänner in Heidelberg, Koblenz, Mainz und Trier – inszenieren in Briefen ihren eigenen Zusammenhang als bürgerlich-intimen Inklusionsraum; dabei orientieren sie sich an epistolaren Traditionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Elises Bildungsgang vollzieht sich weitgehend im Medium des kollektiven Familienbriefes: Unter nahezu klinischen Versuchsbedingungen wird das Mädchen gezwungen, sich eine neue Identität zu erschreiben – die einer gebildeten Liebesbriefautorin. Elise solle, so empfiehlt Marie, zu unseren Briefen an dich auch immer etwas hinzufügen, d.h. in eine ordentliche Korrespondenz mit Dir […] treten, an Stoff würde es ihr hier nicht fehlen, und Du würdest dabei sehen, wie weit es ihr möglich wird, ihre Gedanken auch in eine gebildete und gefällige Form zu bringen.12
Auch Henles Meinung nach wird „alles davon abhangen, daß sie zuerst an mich schreibt, in einem Ton, den ihr angeben könnt und den ich dann fortführen werde“.13 Noch ein Jahr später, vier Monate vor der Hochzeit, bestätigt er, dass er „das Haupterziehungsmittel immer noch in Eurem d.h. speziell Eurer Beider Umgang und im Briefeschreiben sehe“.14 Nimmt man diese Aspekte zusammen – Henles wissenschaftshistorischen Rang, die literarische Wirkungsgeschichte des Bildungsexperiments und schließlich das epistolargeschichtliche Phänomen einer spätempfindsamen Gruppenkommunikation – dann scheint es erstaunlich, dass sich die Forschung weder mit der Figur Henles noch dem Bildungsexperiment ausführlich auseinandergesetzt hat. Zu Letzterem existiert neben einer älteren Biographie und einem kurzen Essay15 meines Wissens nach nur ein
12 13 14 15
Marie an Henle, 12.1.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 64. Henle an Marie, Undatiert, Januar 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 75. Henle an den Vater, an Marie und Mathieu, 2.11.1845. In: Kübler, Mein lieber, S. 142. Merkel, Friedrich: Jacob Henle. Ein deutsches Gelehrtenleben, nach Aufzeichnungen und Erinnerungen. Braunschweig 1891 (zu Elise Egloff: S. 215–243); Dross, Fritz u. Iris Ritzmann: „Schamröte, Anatomie und Liebesbriefe – Jacob Henle, ein leidenschaftlicher Rationalist.
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einziger Aufsatz, und zwar mit soziolinguistischer Fragestellung.16 Auch Henles Bedeutung für die Wissenschafts- und Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts ist nicht umfassend erschlossen, tendieren doch medizingeschichtliche Stellungnahmen bislang zur Einseitigkeit und interpretieren den Anatomen als Vorreiter bakteriologischer Labor-Forschung.17 Unberücksichtigt bleiben dabei Geltungsanspruch, Rollenmodell und bewusstseinsgeschichtlicher Standort des universalen Naturwissenschaftlers zwischen Physiologie, Anatomie, Pathologie und Anthropologie. Neben einem neueren Ausstellungskatalog18 sind die verschiedenen Facetten des Naturforschers Henle gelegentlich von germanistischer bzw. komparatistischer Seite thematisiert worden, im Zusammenhang mit Keller und im Kontext des philosophischen Materialismus19 bzw. vor dem Hintergrund der Müller-Schule.20 Es lohnt sich also, nach dem Zusammenhang zwischen Henles wissenschaftlichem Profil, seiner bewusstseinsgeschichtlichen Position, dem Verlauf des Bildungsexperiments und der emergenten Liebesrelation zu fragen – vor allem nach der Funktion, die das Briefeschreiben innerhalb dieses Bedeutungszusammenhanges hat. Die Quellenlage ist problematisch: Es liegen zwei nicht kommentierte Lese-Ausgaben der Gruppenkorrespondenz zwischen Henle, seinen Schwestern, Schwägern und Elise vor, die nur etwa 70% des Materials aus den beiden Jahren des Experiments präsentieren.21 Zudem enthalten sie erhebliche Herausgebereingriffe – von der Normalisierung der Rechtschreibung über Auslassungen und Tilgung von Grußformeln. Doch schon anhand dieses unvollständigen Korpus lässt sich im Überblick folgender Schluss ziehen: Kommunikative Asymmetrien und Brüche auf mehreren Ebenen führen zu ausgeprägter doppelter Kontingenz zwischen
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17
18 19
20 21
Zum 200. Geburtstag eines bedeutenden Mediziners“. In: Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bolletino dei medici svizzeri 90 (2009), Nr. 30/31, S. 1182–1183. Schikorsky, Isa: „Vom Dienstmädchen zur Professorengattin. Probleme bei der Aneignung bürgerlichen Sprachverhaltens und Sprachbewusstseins“. In: Cherubim, Dieter, Siegfried Grosse u. Klaus J. Mattheier (Hg.): Sprache und bürgerliche Nation. Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Berlin, New York 1998, S. 259–281. Vgl. exemplarisch Evans, Alfred S.: „Causation and Disease. The Koch-Henle-Postulates Revisited“. In: The Yale Journal of Biology and Medicine 49 (1976), S. 175–195; K. Codell Carter: „Koch’s Postulates in Relation to the Work of Jacob Henle and Edwin Klebs“. In: Medical History 29 (1985), S. 353–374. Dross, Salimi: Schriftenreihe. Ritzer, Monika: „Physiologische Anthropologien; dies.: „Faktum – System – Substanz. Reflexe der Naturwissenschaft in der Literatur zwischen 1835 und 1855“. In: Bayertz, Kurt, Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, S. 275–309. Otis, Laura: Müller’s Lab. Oxford 2007. Kübler (Hg.): Mein lieber böser Schatz; dies.: Geprüfte Liebe. Vom Nähmädchen zur Professorenfrau. Jacob Henle und Elise Egloff in Familienbriefen (1843–1848). Zürich, München 1987.
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Henle und Elise und machen briefliche Intersubjektivität eigentlich unwahrscheinlich.
III. Unwahrscheinlichkeit Die Experimentsituation Elises steht im absoluten Widerspruch zu jener authentischen Affektivität, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu den Postulaten des Liebesbriefes gehört. Als semantisch und sozial deprivierte Kaspar-Hauser-Figur soll sie unter kontrollierten Versuchsbedingungen unmittelbare Innerlichkeit produzieren – in reizarmer Umgebung, nach normativen Vorgaben und unter klinischer Beobachtung. Ein Liebesbrief aus dem Labor ist das, und ohne Dialogizität: „Ach, meine Hand und Feder zittert, warum frage ich, es ist mir aber so klar, denn weil sie gar nicht gewöhnt sind an Dich --- zu schreiben“, so schreibt Elise an Jacob ein Jahr nach Beginn des Experiments.22 Marie erläutert für Jacob die dazugehörigen Schreibbedingungen: Sie wolle Elise nur unter der Bedingung die Erlaubnis erteilen, dass sie sich mit ein paar Worten in ruhig freundschaftlichem Ton von Dir begnügen müsse, wenn Du ihr überhaupt direkt antwortest, sie möge Dir nur durch ihr Schreiben ihre Fortschritte zu zeigen suchen. – .23
Einem Kollektiv an briefschreibenden Beobachter-Subjekten steht Elise als isoliertes Objekt des Versuches gegenüber. Initial schreibt der Schwager an Henle, er plane, Elise „genauer kennen zu lernen und sie in verschiedenen Situationen zu beobachten“,24 und auch in weiteren Briefen, die die Familienmitglieder über das gemeinsame Projekt austauschen, ist immer wieder vom ‚Beobachten‘ Elises die Rede (s.u.). Neben der Asymmetrie von Beobachter-Subjekten und beobachtetem Objekt sorgt vor allem der Brief-Code in Henles Familie für erhebliche Kontingenzen zwischen ihm und Elise. Dieser Code orientiert sich an gepflegter Semantik, an epistolarisch-literarischen Traditionen und Diskursregeln, die Elise zunächst unbekannt sind. Dabei scheinen die Klischees, in denen sich die Henles bewegen, eher empfindsamer als romantischer Provenienz: Ihre intensive Korrespondenz miteinander, mit und über Elise folgt dem Prinzip der erweiterten Autor- und Leserschaft. Briefe werden als Gruppenbriefe verfasst, von verschiedenen Familienmitgliedern um Kommentare verlängert, gemeinsam vorgelesen und weiterge22 23 24
Elise an Henle, 22.5.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 90. Marie an Henle, 6.6.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 91. Mathieu an Henle, ohne Datum, Frühjahr 1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 29.
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reicht – eine Praxis, die im bürgerlichen 19. Jahrhundert laut Rainer Baasner immer seltener wird.25 Das briefliche Selbstverständnis der Henles dokumentiert sich weniger in jener radikalen Individualitätssemantik, Selbstbezüglichkeit und „ästhetischen Subjektivität“, die Bohrer den romantischen Epistolographen zuschreibt.26 Die private Binnenöffentlichkeit, die hier erschrieben wird, zitiert den empfindsamen Freundeskreis, seine kollektive Lese- und Schreibpraxis bzw. seine Korrespondenznetzwerke, wie sie etwa für Gellert, Gleim und Ramler kennzeichnend waren.27 Das epistolare Ich, das sich in den Familienbriefen der Henles ausspricht, ist wie das empfindsame Brief-Subjekt verallgemeinerbar, wenig individualisiert, von formelhafter Affektivität;28 es entwirft in der eigenen Seelenentblößung und im Aufrichtigkeitspostulat den anderen mit: „Wenn jetzt noch etwas meine Ruhe stört“, schreibt Henle an Marie, „so ist es der Gedanke, daß Deine Liebe zu mir […] auch Dich bestochen habe und daß nach Deinen ersten Zugeständnissen meine Heftigkeit Dich fortgerissen habe“.29 Marie bekennt, sie habe sich „noch nicht oft mit einem bewegteren Gemüt auf [das] Kissen gelegt […] und noch nicht oft mit solcher Innigkeit an eine höhere Macht gewendet“ als bei der Begegnung mit Elise;30 man habe „beiderseitige Rührung“ empfunden, und sie wolle ihr „Herz [für Elise] sprechen lassen“.31 Für Henle sind es Prädikate wie „Eure Ruhe und Einsamkeit, eure Fähigkeit, an fremden Interessen teilzunehmen“,32 die ihn motivieren, der Schwester das Bildungsexperiment zu übertragen. Man sieht, dass Leitbegriffe des aufgeklärten Innerlichkeitsdiskurses, der kontrollierten Affektivität die Kommunikation formelhaft prägen – man grüßt und verabschiedet sich bevorzugt mit „liebes Herz“,33 leitmotivisch ist vom „richtigen Gefühl“ und der „eigenen Ruhe“ als Idealzuständen die Rede.34 Man liest gemeinsam die Briefe der anderen „nicht ohne Rührung“35 und bevorzugt Dichotomien wie „Verstand und 25
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Vgl. Baasner, Rainer: „Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis“. In: Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 1– 37, hier S. 22. Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München 1987. Vgl. Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2001, S. 64. Vgl. ebd., S. 71ff. Henle an Mathieus, undatiert, Januar 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 72. Marie an Henle, 29.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 50. Marie an Henle, 24.1.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 71. Henle an Mathieus, 21.8.44. In: Kübler: Mein lieber, S. 55. Henle an Marie, 8.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 46. Schöll an Henle, 20.2.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 49, Henle an Elise, 21.9.1845, ebd., S. 115. Henle an Mathieus, 11.4.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 85.
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Herz“, „Gefühl“ und „Verstand“, „Ruhe und […] Glück“, oder ‚Ruhe‘ und ‚Ergriffenheit‘.36 Emotionale Glücksmomente werden bevorzugt mit der Formel „Glückseligkeit“37 gekennzeichnet. Nun gilt der genannte Öffentlichkeitsbezug des empfindsamen Freundschaftsbriefes paradoxerweise auch für die Liebesbriefe Elises. Man fordert von ihr jene emotionale und epistolare Entblößung, die an die physische Entblößung des Experimentalobjekts Woyzeck erinnert und die allein die Überprüfbarkeit des experimentellen Effekts garantiert: „So weit ich geschrieben habe, habe ich Marie vorgelesen, damit sie sehen kann, wie meine Gesinnung ist“, teilt Elise Jacob mit; und zwar in einem Brief, der u.a. das intime Bekenntnis enthält, sie könne ohne ihn nicht leben.38 Diese Päsenz Dritter in der Liebeskommunikation gilt auch für die Empfangssituation. Elise soll nicht nur aufrichtig-innerliche Briefe an Jacob unter strenger Außenkontrolle schreiben, sondern auch die Antworten den Familienmitgliedern vorlesen, damit die ‚richtige‘ emotionale Reaktion überprüft werden kann. Seinen letzten Brief habe „sie uns ohne Aufforderung mit gewohnter Aufrichtigkeit mitgeteilt“, erfährt etwa Henle vom Schwager,39 und wenn die „gewohnte Aufrichtigkeit“ ausbleibt, wird Elise unter Druck gesetzt. Aus ihren Antworten spricht die verstörende Wirkung eines Kollektivzwangs, der der Individualisierung und Exklusivität des Liebesbriefes nach 1800 diametral entgegensteht: Aber, lieber Schatz, ich kann unmöglich jedes Mal den ganzen Brief von Dir zum Besten geben, wenigstens der letzte nicht. Vom vorletzten habe ich ein einziges süsses Wort für mich behalten, das andere habe ich der M. vorgelesen.40
Dem Kollektiv an sprachkompetenten Briefschreibern und Brieflesern, die über empfindsame Versatzstücke und Praktiken integriert sind, steht Elise als semantische und soziale Leerstelle gegenüber. Authentische Entblößung des Inneren und schriftliche Erzeugung dieses Inneren sind untrennbar verbunden. Elise jedoch ist hier ein naturhaftes Mängelwesen: „Über das Sichaussprechen“ etwa muss man oft und lange mit ihr sprechen, so Henles jüngere Schwester Rosalie, und ich habe sie wiederholt gebeten ganz wie sie fühlt zu sprechen, (das will sie auch und fühlt, dass es ihr noch abgeht). […] All diese […] Unterhaltungen sind
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Henle an Schölls, undatiert, Sommer 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 100, Marie an Henle, 29.6.1844, ebd., S. 49; Rosalie an Mathieu, 13.10.1845, ebd., S. 122; ferner Marie an ihren Mann, 16.6.1844, ebd., S.47: „[…] ich bin jetzt ruhiger, da ich sicher weiß, was ich zu tun habe[…]. Aber ergriffen war ich und bin es noch …“ Marie an ihren Mann, 10.10.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 118–119. Elise an Henle, 19.11.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 156–157. Mathieu an Henle, 18.6.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 99. Elise an Henle, 26.1.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 188–189
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mir Bürge, daß […] ihr oft nur der wahre Ausdruck fehlt, weshalb es manchmal wie Kälte aussieht.41
Schließlich verfestigt sich aber die Überzeugung, „daß sie aber doch so fühlt, wie [man] wünsche, daß sie fühle“ – vorgebracht von Marie und repräsentativ für das gesamte Briefkollektiv.42 Das Bauernmädchen Elise Egloff wird mehr und mehr zum Kunstobjekt, zur Galatea Henles, die schließlich selbst formelhafte Poesie produziert: „Dich zu erblicken, ist der Wunsch, den meine Seele fühlt, und mein Herz schlägt feuriges Entzücken, wenn die Sehnsucht meinen Kummer fühlt“.43 Diese erhebliche Künstlichkeit bzw. Literarizität des Bildungsexperiments entlang tradierter Klischees ist nun nicht nur Keller und Auerbach, sondern auch den Experimentatoren selbst aufgefallen. Schließlich zählt die Mesalliance zu den zentralen Topoi literarischer und epistolarer Kommunikation im 18. Jahrhundert, vom wirkmächtigen Liebesbriefwechsel, etwa zwischen Christiane und Goethe, bis zum Handlungsprinzip empfindsamer Dramen. Dementsprechend benennen und reflektieren auch die kollektiven Briefschreiber der Familie Henle das Geschehen – je nach Stimmungslage – ausschließlich mit Gattungsmetaphern. Henle und seiner Schwester Marie erscheint es wiederholt als ‚Roman‘ bzw. als „zweideutiger Roman“,44 der Geliebten gegenüber spricht Henle von einem „Akt unseres Dramas“; sie solle sich „ganz und heiter in unsere Rolle [denken]“ denn es zähle die „Rücksicht auf unsere eigene Ruhe“.45 Zum unverbindlichen Spiel mit literarischen Genres gehören auch Rollenzuschreibungen entlang kanonischer Stereotypen: „Meine Lisette war ein liebes, plauderhaftes Gretchen, ich war zum Faust gelehrt und gereift und wenigstens für diesen Fall, bezaubernd genug“, so erklärt Henle der Schwester die Anfänge der Beziehung.46 Während es für Elise um die Existenz geht, ist die Literarisierung für Henle und seine Geschwister offensichtlich eine wirksame Strategie, um das Geschehen auf Distanz zu halten, die ethische Problematik zu neutralisieren. Man wolle sehen, so schreibt Marie ein halbes Jahr nach Beginn des Experiments, „mit welchem Glück wir die Komödie weiter spielen, die trotz aller Angst und Herzklopfen bis jetzt doch mehr vom Lustspiel an sich habe“,47 die
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Rosalie an Henle, 3.11.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 142. Marie an Henle, 19.7.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 106. Elise an Henle, undatiert, Spätsommer 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 109. Henle an Mathieus, 21.8.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 55. Henle an Elise, 21.9.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 115. Henle an Marie, 8.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 39. Marie an Henle, 12.1.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 64.
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Hochzeitsvorbereitungen schließlich sind für Henle „das Signal zum 5ten Akt und zu dem heiteren Ende des Lustspiels“.48 Man sieht, dass die gegebenen Voraussetzungen – Experimentalanordnung, öffentliche Intimität, Empfindsamkeitsdiskurs, literarische Veruneigentlichung – die Briefkommunikation zwischen Elise und Jakob hoch kontingent machen, da das Mädchen diese Voraussetzungen weder kulturell noch emotional teilen kann. Und doch entsteht im letzten halben Jahr des Experiments ein leidenschaftlicher Liebesbriefwechsel: „Du hast mich wieder zu Dir hingerissen, lieber Schatz, daß ich kaum im Schreiben weiterkomme“, schreibt Elise an Henle,49 und Henle antwortet in gleicher enthusiastischer Höhenlage: „Lebe wohl Du tausendfach geliebter Schatz, liebe mich immer noch ein bißchen mehr bis ich sage: halt! genug!“50 Warum es plötzlich zu solch intensiver Intersubjektivität kommt und die Liebeskommunikation trotz hoher doppelter Kontingenz des immer wieder gestörten Briefgespräches gelingt – das bedarf der Klärung.
IV. Henles wissenschaftsgeschichtlicher Standort Wegweisend ist zunächst die Rekonstruktion von Henles wissenschaftsgeschichtlicher Position. Zwar ist der Mediziner als Schüler Johannes Müllers und Repräsentant von anatomischer und physiologischer Naturforschung auf wissenschaftliche Methoden festgelegt, auf Obduktion, Gewebefärbung, Mikroskopie und Experiment. Der Physiologe ist „auf das Experiment angewiesen“, er „durchschneidet oder zerrt einzelne Theile des Nervensystems, […] unterbindet Gefäße und Ausführungsgänge, exstirpiert Drüsen“, schreibt Henle in seinem Hauptwerk Handbuch der Rationellen Pathologie.51 Ganz allgemein werden Krankheiten als „physiologische Experimente“ gefasst, „die der Zufall anstellt“,52 und man kann annehmen, dass das Experimentieren für Jacob Henle eine gewohnte Form der Problemlösung gewesen ist. Doch auch wenn Krankheiten für Henle Experimente sind, die der Zufall anstellt, so ist doch nicht alles Zufall und nicht alles Experiment. Denn Henle ist, ebenso wie sein Lehrer Müller nicht ausschließlich Exponent der positivistisch arbeitenden Naturwissenschaften, sondern viel48 49 50 51 52
Henle an Mathieus, undatiert, Februar 1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 203. Elise an Henle, 10.2.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 197. Henle an Elise, undatiert, Februar 1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 203. Henle, Jakob: Handbuch der Rationellen Pathologie. Bd. 1: Einleitung und Allgemeiner Theil. Zweite unveränderte Auflage. Braunschweig 1846, S. 26. Ebd.
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mehr Schwellenfigur zwischen naturwissenschaftlicher und philosophischer Medizin, zwischen quantitativer Vermessung und intellektueller Erkenntnis des Menschen.53 Henles wissensgeschichtliche Schwellenposition betrifft zum einen Fragen der Epistemologie, zum anderen das Selbstverständnis als Wissenschaftler. Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden und mindern – so die These des vorliegenden Aufsatzes – bis zu einem gewissen Grad die ausgeprägten Kontingenzen der Briefkommunikation, tragen zum prekären ‚Gelingen‘ des Experiments bei. Grundsätzlich hat das Experiment in der frühen Physiologie der ersten Jahrhunderthälfte, die noch dem Vitalismus nahe ist, weder den epistemologischen Status, noch die standardisierte Konfiguration, wie sie Experimentalanordnungen nach der Jahrhundertmitte mehr und mehr kennzeichnen.54 Während für die nächste Wissenschaftler-Generation nach Henle, etwa Virchow, Helmholtz, Du Bois-Reymond, Kriterien wie Untersucherunabhängigkeit, Technisierung,55 Wiederholbarkeit, Standardisierung zunehmend verbindlich werden, während die Labormedizin gegen Ende des Jahrhunderts schließlich elaborierte Tiermodelle hervorbringt, ist das Experiment der frühen Physiologie individueller und beliebiger; mitunter auch noch dem Erbe der Naturphilosophie verpflichtet. Im Vordergrund stehen Galvanismus, Elektrophysiologie, Amputationsexperimente an Tieren. Solche Tierversuche werden noch nicht zum Tiermodell standardisiert, wie es unter Robert Koch in den späten Siebzigerjahren geschieht.56 Generell hat das Experiment noch nicht das Monopol auf die Produktion positiven Wissens, wie es für die Laborwissenschaften zur 53
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Zu Müller als schwellenzeitlicher Figur vgl. Hagner, Michael u. Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Johannes Müller und die Philosophie. Berlin 1992; darin insbesondere Nelly Tsouyopoulos: „Schellings Naturphilosophie: Sünde oder Inspiration für den Reformer der Physiologie Johannes Müller?“ (S. 65–85) und Birgit Lohff: „Johannes Müller und das physiologische Experiment“ (S. 105–125, S. 106). Nicht von ungefähr orientieren Hagner und Rheinberger „die Schnittstelle für das Experiment in den ‚life sciences‘ an der disziplinären und institutionellen Loslösung der Physiologie von der Anatomie […]. Um 1850 war die Zeit, in der sich die experimentelle Physiologie als Grundlage und Voraussetzung einer wissenschaftlichen Medizin zu verstehen und dar-zustellen anschickte“, in: Rheinberger, Hans-Jörg u. Michael Hagner: „Experimentalsysteme“. In: Michael Hagner u. Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, S. 7–28, Zitat S. 10. Zu den aufwendigen Registrierungstechnologien für Experimente in der Nerven- und Sinnes-Physiologie, die im Umkreis von Helmholtz Anwendung finden, vgl. de Chadarevian, Soraya: „Die ‚Methode der Kurven‘ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900“. In: Hagner, Rheinberger (Hg.): Die Experimentalisierung S. 28–50. Vgl. Gradmann, Christoph: Krankheit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie. Göttingen 2005.
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Selbstverständlichkeit wird. Im Kontext einer lebhaften Methodendiskussion hält man es lediglich für geeignet, verdeckte Naturzusammenhänge und einzelne Kausalketten der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich zu machen; keinesfalls allerdings ermöglicht es die Erkenntnis von Naturgesetzen.57 Letztere sind für die Universitätsmediziner der ersten Jahrhunderthälfte noch nicht auf induktivem Weg erreichbar, sondern Gegenstand philosophischer Erkenntnistheorie; entweder der Kant’schen Erkenntnislehre oder der Schelling’schen Identitätsphilosophie – an diesem Punkt scheiden sich die Geister immer wieder.58 Diese beschränkte epistemologische Grundleistung des Experiments im Kontext einer philosophisch-physiologischen Erkenntnislehre gilt es festzuhalten – denn sie gilt auch für den Naturforscher, Bildungsexperimentator und Briefschreiber Jakob Henle. Bei nicht völlig identischen Versuchsbedingungen trete, so eine experimentkritische Überlegung Henles, „leicht der Fall ein, wo man sich mit einer relativen Schätzung des gesuchten Werthes der Ursache begnügen [müsse] und […] alsdann das unentwirrbare Gemisch aller übrigen Ursachen als eine Größe“ betrachte.59 Zwar hat Henle den Vitalismus seines Lehrers Müller hinter sich gelassen und auch die spekulative Theoriebildung der Schelling-Schule, etwa „den fundamentalen Irrthum von der Selbstständigkeit der Krankheit, [den unsere naturphilosophischen Collegen] bis ins Feinste ausbildeten“, bzw. die „Abstractionen der Identitätsphilosophie“.60 Statt den Naturphilosophen fühlt er sich Feuerbach nahe, der ebenfalls „nach einer Reformation der Zeit durch die Naturwissenschaften hin [dränge]“.61 Erkenntnis von pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten allein aufgrund intellektueller Anschauung hält Henle demnach für unmöglich, nicht je57 58
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Vgl. Lohff: „Johannes Müller“, S. 109. Dass in der ersten Jahrhunderthälfte Kant und Schelling die dominanten Figuren medizinisch-anthropologischer Erkenntnistheorien sind, ist in der Medizingeschichtsschreibung seit Längerem ein Thema, vgl. Wiesing, Urban: Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik. Stuttgart 1995; Gregory, Frederick: „Kant, Schelling, and the Administration of Science in the Romantic Era“. In: Osiris 5 (1989), S. 17–35. Nelly Tsouyopoulos macht darauf aufmerksam, dass es zu mehrfachen Akzentverschiebungen kommt – um 1810 von Schelling zu Kant, um 1820 erneut von Kant zu Schelling – und dass beide Positionen, die verständige Methode und die intellektuale Anschauung, auch phasenweise historisch koexistieren, je nachdem, ob die jeweiligen Schulen mehr zum idealistischen oder zum empirisch- rationalistischen Pol tendierten. Vgl. Tsouyopoulos: „Schellings Naturphilosophie“, S. 69ff. Henle: Handbuch der Rationellen Pathologie, S. 15. Henle, Jakob: „Medicinische Wissenschaft und Empirie“. In: Zeitschrift für Rationelle Medicin. Herausgegeben von Jacob Henle und Karl von Pfeufer. Bd. 1, Zürich 1844, S. 1–35, S. 10–11. Henle an Mathieus, 9.7.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 101.
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doch die Deutungshoheit der Philosophie über den Körper und seine Beschädigungen. Wenn er auf einer theoriebasierten Medizin insistiert, so meint er damit nicht ausschließlich experimentell-induktive Wissensproduktion und nicht das Systematisieren von autoptischen, mikroskopischen und experimentellen Befunden wie es für den jüngeren Konkurrenten Virchow verbindlich ist. Nicht von ungefähr lehnt Henle 1858 den prestigeträchtigen Ruf auf Müllers Lehrstuhl in Berlin ab, nur um nicht in der Nähe dieses „so intriganten, kein Mittel verschmähenden, den Berliner Ärzten so recht auf den Leib angemessenen Schwätzer[s]“ sein zu müssen“;62 eines ‚Schwätzers‘, dessen epochale Zellularpathologie Henles Lebenswerk in den Schatten stellen wird.63 ‚Theoriebildung‘ bedeutet für Henle im Gegensatz zu Virchow vielmehr ein philosophisches Verfahren des vernunftgeleiteten Schließens aus empirischen Daten, „ein Räsonnement, wo Schluß auf Schluß gebaut ist und ein schwaches Glied der Kette die ganze Kette unbrauchbar machen kann“.64 Die Summe beobachtbarer Einzeldetails ermöglicht Schlussfolgerungen nach Vernunftprinzipien, auf denen sich wiederum Axiome errichten lassen. Beschrieben wird dieses Verfahren der Abduktion in seinem Handbuch der Rationellen Pathologie, an dem Henle während des familiären Bildungsexperimentes arbeitet und über das er an Elise schreibt, es werde „einen Umschwung in der Medizin machen“.65 Die hier ausführlich entworfene „theoretische, physiologische oder rationelle Methode“66 weist Henle der zweiten Fraktion philosophischer Erkenntnislehren zu, die die akademische Forschung im frühen 19. Jahrhundert auf physiologische Fragen anwendet: der an Kant orientierten empirischen Epistemologie. Eine solche nicht mehr spekulative, aber doch noch philosophische Wissenschaftskonzeption wendet sich gegen das methodische Vakuum unter den jüngeren Ärzten, das in Henles Augen dem Funktionsverlust der Naturphilosophie geschuldet ist und lediglich blinde Einzelfall-Empirie am Krankenbett ohne Systemanspruch hervorbringt. In Halle sei eine Rede auf ihn gehalten worden, schreibt der Anatom selbstzufrieden an Schwester und Schwager, der zufolge sich die zeitgenössischen Mediziner 62 63
64 65 66
Henle an Pfeufer, 1858. Zitiert nach Dross, Salimi: Schriftenreihe, S. 65. Bezeichnenderweise erklärt Virchow in der ersten Ausgabe seines berühmten Archivs 1847 das „Experiment am Thier“ als „letzte und höchste Instanz der pathologischen Physiologie“ und formuliert anhand von Beispielen Standardisierungsbedingungen (Virchow, Rudolf: „Über die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin“. In: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, hg. v. R. Virchow und B. Reinhardt, Bd. 1 (1847), S. 3–20, Zitat S. 17). Henle: Handbuch der Rationellen Pathologie, S. 3. Henle an Elise, 24.2.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 205. Henle: Handbuch der Rationellen Pathologie, S. 2.
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hauptsächlich der Praxis zuwendeten, [d.h.] […] sich bloß von den schlechten Theorien der jüngstvergangenen Zeiten fern gehalten [hätten]. Jetzt, wo ich von der Physiologie aus eine neue Basis errichtet, seien sie so eifrig als irgendeiner in Verfolgung dieses Weges.67
Tatsächlich wird in Henles missionarisch vertretener „neuer Basis“ noch einmal der hohe Anspruch der vorwissenschaftlichen Medizin sichtbar, alle denkbaren organischen Phänomene einem kohärenten System zu unterwerfen und zum Gegenstand philosophischer Erkenntnis zu machen – statt jener Partikularisierung und kleinteiligen Verräumlichung des Krankheitswissens, wie sie mit und nach Virchow in den Sektionssälen und Laboren stattfindet.68 Diese ‚neue Basis‘ impliziert, dass die vernünftige Abduktion epistemologische Priorität vor dem Experiment genießt und die Zufälligkeiten induktiver Wissensproduktion rational aufgefangen werden. Dass das so ist, zeigt exemplarisch Henles berühmte Schrift Von den Miasmen und Kontagien (1840) zur Ursache epidemischer Erkrankungen. In der medizingeschichtlichen Retrospektive machte sie ihn zum Vorreiter Robert Kochs; dennoch kommt Henles Schrift gerade ohne die zentrale Errungenschaft Kochs, das Tierexperiment, aus – die Basis ist epidemiologische Beobachtung und ‚rationelle‘ Schlussfolgerung. Lediglich aus der beobachteten Latenz zwischen Krankheitskontakt und Symptomen zieht Henle etwa jenen kühnen Schluss, der um 1840 fast einem Denkverbot gleichkommt, zumindest als Skandalon weit in die Bezirke mittelalterlichen Aberglaubens verwiesen ist: Aus dem bisher Mitgeteilten ergibt sich, daß das Kontagium der miasmatischkontagiösen Krankheiten ein Stoff ist, der sowohl in der Luft schweben, als in Flüssigkeiten des kranken Körpers enthalten sein kann, ein Stoff, der im kranken Körper eine bestimmte Zeit verweilt, und innerhalb desselben zur Vermehrung fähig ist.69
Der Ansteckungsstoff muss sich im Träger vermehren, demnach ein lebendiges Partikel sein. Scharfsinnig ist das und zutreffend, und dennoch scheint das epistemologische Grundprinzip der strikten Naturwissenschaftlichkeit, Objektivität, für Henle nicht zwingend. Ganz im Gegenteil: Jener Entmächtigung, Neutralisierung, auktorialen Invisibilisierung des forschenden Individuums, die mit der Wende zu Kochs rein tierexperi67 68
69
Henle an Mathieus, 11.4.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 87. Anders Monika Ritzer („Physiologische Anthropologien“), für die sich in Henles Rationeller Pathologie ein positivistischer Wissenschaftsbegriff artikuliert mit dem Ziel, „objektive Kenntnis der Organfunktionen“ (S. 117) zu erlangen. Diese Fokussierung auf Einzelnes steht in meinen Augen in der Rationellen Pathologie aber hinter dem Systemgedanken zurück, und rationalistische Erkenntnismethoden dominieren positivistische. Henle, Jacob: Von den Miasmen und Kontagien. Leipzig 1840, S. 23.
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menteller Labormedizin einhergeht, steht mit seinem vermeintlichen Vorläufer Henle noch einmal ein autoritatives Subjekt entgegen. Dessen rationalem Denkvermögen ist das medizinische Wissen geschuldet, nicht der subjektlosen Technik des Labors und nicht der induktiven Methode, die dort beheimatet ist. Mit solcher Abhängigkeit der Wissensproduktion vom experimentierenden und theoretisierenden Individuum sind die Zufälligkeiten des induktiven ‚trial and error‘ rational aufgefangen; diese medizin- und bewusstseinsgeschichtliche Schwellensituation dürfte ebenso prägend für den Pathologen und Infektiologen Henle sein als auch für den Bildungsexperimentator. Denn Henles verschiedene Handlungsrollen sind nicht kategorisch zu trennen, das zeigen die zitierten Notate aus dem familiären Briefgespräch zu Feuerbach, zum geschätzten Rang der ‚rationellen Pathologie‘ und der ‚neuen physiologischen Basis‘. In einem Brief an den Schwager aus dem ersten Jahr des Bildungsexperiments beschreibt Henle sich selbst als „einen alten Dozenten und Physiologen, der sich über alles breite Rechenschaft zu geben gewöhnt ist“ und kommentiert einige Zeilen weiter Elises jüngsten Brief „als nicht so schön, als der vorige, aber […] sehr gut“, denn er enthalte „Selbständigkeit, Natur, und […] eine graziöse Ironie“.70 Neben den Hauptgegenständen der bürgerlichen Intimität, der Liebe und der Erziehung ist offensichtlich Henles akademische Identität im familiären Briefraum derart präsent, dass sein naturwissenschaftlicher Denkstil auch die Liebesbeziehung zu Elise reguliert haben dürfte – und zwar auf eine Weise, die das unplausible Projekt in zielgerichtete, vorhersagbare Bahnen lenkt.
V. Kontingenzminderung – Naturwissenschaft und Briefexperiment Zunächst spricht das verwendete Vokabular dafür, dass unter Henles Anleitung offensichtlich alle Beteiligten das Projekt eher als Experiment denn als angebahnte Liebesrelation wahrnehmen – selbst wenn es sich beim Versuch, aus dem naturhaften Mängelwesen Elise in konzertierter Aktion eine bürgerliche Epistolographin zu erschaffen, kaum um ein Experiment im strengen Sinn, allenfalls um ein anthropologisches Projekt handelt. Henle selbst schreibt an Marie vom „Experiment“, dass er niemandem rate, „noch einmal zu wiederholen.“ Sein Vater teilt mit, er habe 70
Henle an Mathieu, 23.2.1845. In: Gunhild Kübler: Mein lieber, S. 82–83.
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Elise „sowohl in als außer dem Hause stets und mit Aufmerksamkeit beobachtet“; Marie empfiehlt dem Bruder, Elise „in ihrer veränderten Stellung [zu sehen] und ihr Benehmen [zu beobachten]“.71 Ein Experiment also, denn Bedingungen und Einschätzung des Projekts entsprechen tatsächlich einer experimentellen Konfiguration: künstliche Deprivation der Versuchsperson, definierter klinisch-reizarmer ‚Laborraum‘ mit geringen Ereignisvariablen, mehrere Beobachter, briefliche Ergebnisprotokollierung. Ein Experiment aber auch, dessen Freiheitsgrade und Zufälligkeiten erheblich eingeschränkt sind durch die Dominanz eines lenkenden, denkenden, rational kalkulierenden Forscher-Subjekts – so wie es das methodische Programm der Miasmen und Kontagien und der Rationellen Pathologie vorgibt. Die nachidealistische Subjekt- und Vernunftlastigkeit, die Henles philosophisches Wissenschaftsverständnis prägt, dürfte auch für das Entstehen von Liebeskommunikation unter derart ungleichen Partnern entscheidend sein. Denn Henles Brief-Experiment ist nicht ergebnisoffen, induktiv angelegt wie die technisierten Tierexperimente der späteren Laborwissenschaften, sondern finalisiert, nahezu determiniert. Das Ergebnis, die perfekte Briefschreiberin, steht von vorneherein fest durch die Vernunfttätigkeit eines autoritativen Subjekts, das über das Geschehen verfügt, anstatt einer beliebigen Natur ihren Lauf zu lassen. Gleich zu Beginn des Experiments teilt Henle der Schwester mit, es sei ihm sehr wahrscheinlich [gewesen], daß bei soviel Energie, bei ihrem natürlichen Verstand und ihrer verhältnismäßigen Grazie der schwierige Versuch gelingen könne und daß dies der einzige Weg sei, mir eine vielleicht sehr glückliche […] Zukunft zu sichern.72
Der Wissenschaftler Henle kann diesen Ausgangs- und Zielpunkt für alle Beteiligten setzen, da auch Elises künftiger Fortschritt der rationellen, schlussfolgernden Methode unterworfen wird. Wie es für die pathologische und epidemiologische Theoriebildung gilt, so kann man auch beim Briefexperiment aus Beobachtungen schließen – und zwar auf die Optimierung des Objekts. Exemplarisch sichtbar wird Henles wissenschaftliche Methodik in einem undatieren Schreiben an Marie vom November 1845. Elise sei, so der anthropologische Ausgangsbefund, ein eigentümliches und in dieser Beziehung rätselhaftes, aber gewiß ganz naturwüchsiges und des Studiums wertes Wesen, bei der jede Freude und jede Trauer gleich den ganzen Menschen ergreift, sodaß […] bei der Hoffnung auf Erfüllung ihrer Liebe ihr ganzes Wesen glänzend erscheint.73 71 72 73
Henle an Mathieus, Mai 1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 206; der Vater an Henle, 2.11.1845, ebd., S. 138, Marie an Henle, 12.1.1845, ebd., S. 65. Henle an Marie, 8.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 42. Henle an Marie, undatiert, November 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 165.
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Auf diese Bestandsaufnahme folgen eine Reihe empirischer Daten und interpretative Schlüsse für den Ko-Experimentator Marie: In Koblenz und seither drückt sie wieder die Sorge, sie erschrak zuerst über Deine Miene, als Du sie vom Dampfschiff holtest, war eingeschüchtert, als Tage vergingen, ohne daß von mir die Rede war u.s.f. Unter diesen Umständen kommt ihre natürliche Wärme nicht zu Tage; ihre Gefühle getrennt darzulegen versteht sie nicht, und sie vermag es vielleicht umso weniger, wenn sie denkt, daß sie sich damit ihr Glück gewinnen soll.74
Solches Räsonnement mündet in eine präjudizierende Schlussfolgerung, die in Anbetracht permanenter katrastophaler Missverständnisse zwischen der vollkommen abhängigen Elise und Henles Familie eigentlich wundernehmen muss: Daß sie Euch noch tiefer verstehen und lieben lerne, davon bin ich so überzeugt, als ich in diesem kritischen Augenblick von etwas überzeugt bin, was sie betrifft. Und daß Du sie in jenen Beziehungen nicht aufgegeben hast, das meine ich aus dem einen Wort schließen zu dürfen, […] daß sie nämlich dort [beim Schwager Schöll] zur Entfaltung ihrer liebenswürdigen Eigenschaften Gelegenheit finden werde…75
Und so, wie der Wissenschaftler Henle seine Schlüsse zieht, aus Elises Gefühlsäußerungen auf den Fortschritt ihrer Bildung und aus Maries Worten auf eine Fortsetzung des Experiments, so ist sein Umgang mit Elises Briefen auch weniger von der hermeneutischen Kategorie des ‚Verstehens‘ als von der epistemologischen des ‚Urteils‘ geprägt. Zu Beginn des Versuchs ist er überzeugt, die Schwester müsse „jetzt zu einem sehr motivierten und sicheren Urteil über E. kommen, wenn Du ihr auseinandersetzt, was an ihrer Art zu schreiben und zu sprechen geschmacklos sei“.76 Wenig später fordert er von Marie „ein Urteil, das ich jetzt, nachdem Du sie solange geprüft hast, für entscheidend halte“;77 und auch noch gegen Ende des Experiments geht es vor allem um die Frage, ob man „zu einem Urteil noch nicht berechtigt“ oder bereits aufgerufen sei.78 Nun sind auch die Experimente der frühen Physiologie unter dem Einfluss der Kritischen Philosophie durch ‚Urtheile‘ bestimmt, das zeigt die Wissenschaftshistorikerin Birgit Lohff: Urteile, „d.h. die theoretischen Entwürfe und Hypothesen, die der Forscher über den zu untersuchenden Gegenstand hat, [beeinflussen] entscheidend den Verlauf des Experiments
74 75 76 77 78
Ebd., S. 166. Ebd., S. 166–167. Henle an Marie, 21.8.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 56. Henle an Marie, 14.1. 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 67. Henle an den Vater, 2.11.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 141.
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und seine Interpretation“.79 Eine exaktere Kennzeichnung kann es eigentlich auch für Henles Bildungsexperiment kaum geben. Vorhersagbarer Fortschritt statt Ergebnisoffenheit, sicheres Urteilen statt mögliches Verstehen – man sieht, wie Henles wissenschaftlicher Denkstil die Kontingenz, die Beliebigkeit und die eigentliche Unmöglichkeit des Briefexperiments auffängt. Der „schwierige Versuch“ gilt einem normativ festgelegten Zielpunkt, der Genese einer Kunstfigur: Man suche, aus Elise „ein Wesen […] zu bilden, das ich vor den Augen der Welt und […] vor Euren Augen als meine Geliebte erklären könne“.80 Dass dieses Projekt nahezu paradox ist, dass es zwischen den konträren Polen des Experiments und der Kreation, zwischen der Offenheit des Versuches und der Geschlossenheit der Komposition schillert, das wird deutlich, wenn Henle im gleichen Brief vom „schwierigen Versuch“ wie vom „Roman“ spricht, der hinter dem Rücken der Schwester spiele.81 Auch später bevorzugt er im Zusammenhang mit dem Briefexperiment die Roman-Metapher, spricht von „mein[em] zweideutige[n] Roman“, „den heiteren Seiten unseres Romans“ oder von „den Fortschritten meines Romans“.82 Dieses Insistieren auf einem literarischen Gattungsbegriff ist auffällig und dürfte nicht nur der spätempfindsamen Formelkommunikation innerhalb der Familie geschuldet sein, sondern tatsächlich etwas von Henles wissenschaftsgeschichtlicher Position wiederspiegeln: nämlich die Auktorialität, Subjektverhaftetheit, Schöpfungs- und letztlich Kunstnähe dieser Wissenschaftskonzeption. Das ästhetisierende Vokabular des Mediziners Henle, der nebenbei zeichnet, singt, Violine und Cello spielt, mit Mendelssohn-Bartholdy und Herwegh verkehrt,83 spricht für ein hybrides Rollenverständnis als Wissenschaftler-Künstler, das der Goethezeit entstammt. Exemplarisch kristallisiert ist es in Goethe selbst, Alexander von Humboldt und schließlich dem Mediziner Carl Gustav Carus, der sich wie Henle mit anatomischen und physiologischen Arbeiten einen Namen macht und darüber hinaus „in grundlegender Weise […] die Zielvorstellung einer Konvergenz beider Diskurse“, Wissenschaft und Kunst entwirft.84 Auch hier wieder Henles Schwellenzeitlichkeit: Die Materialisten und Labormediziner der nächsten Generation werden dieses ganzheitliche 79 80 81 82 83 84
Lohff: „Johannes Müller“, S. 109. Henle an Marie, 8.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 42. Ebd., S. 42, S. 38. Henle an Mathieus, 21.8.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 55, Henle an Marie, 14.1.1845, ebd., S. 67, Henle an Mathieus, 11.4.1845, ebd., S. 86. Vgl. Dross, Salimi: Schriftenreihe, S. 51–53. Müller-Tamm, Jutta: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus. Berlin, New York 1995, S. 4.
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Modell endgültig verabschieden. Wenig früher jedoch gehört die Synthese aus Kunst und Wissenschaft bzw. Kunst und Medizin zum argumentativen Kernbestand von Schellings spekulativer Naturphilosophie85 und von Carus’ holistischer Naturanschauung.86 Henle, der sich entschieden von den Naturphilosophen distanziert, dürfte also der älteren Generation zumindest in diesem Punkt näher gewesen sein als ihm lieb ist. In diesem Zusammenhang impliziert die insistente Rede von ‚Roman‘ artistische Qualitäten wie Komposition, Absicht, Geschlossenheit, Finalität, Gestalt und Gestaltungswillen – zumindest für das bürgerliche Lesepublikum des 19. Jahrhunderts, solange Zolas umstrittene Konzeption vom Roman als naturwissenschaftlichem Experiment noch nicht formuliert ist; und damit auch für die Henles. So muss es auch kaum wundernehmen, wenn Henle als dritte Kategorie, neben ‚Experiment‘ und ‚Roman‘, diejenige des ‚Werks‘ systematisch zur Kennzeichnung des Projekts in Anspruch nimmt. Im kollektiven Briefgespräch mit den beteiligten Familienmitgliedern kommt er immer wieder auf das „Erziehungswerk“ bzw. „edelmütige Erziehungswerk“ zu sprechen;87 man werde ihm dieses „Werk“ erst präsentieren, wenn „es einen gewissen Grad des fini oder distingué erworben“ habe,88 Schwester und Schwager schließlich würden den „Lohn für Euer Werk […] in dem Werk selbst finden“.89 Dass die beteiligten Ko-Experimentatoren bei aller Experimentierfreudigkeit unter Henles Führung ebenso das Gestalthafte, Gemachte, Kreationshafte des ‚Romans‘ wahrnehmen – und zwar als kontingenzmindernd – zeigt ein Briefnotat des anfangs skeptischen Vaters: Alles habe sich nun „anders gestaltet“, nämlich besser als erwartet, denn Henle selbst sei „der Schöpfer dieses genialen Plans und [des Vaters] Angst in dieser Hinsicht also besei-
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Vgl. etwa Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: „Vorrede zu den Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft“ (1806). In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Werke. 1805–1810. Erste Abtheilung, siebenter Band, Stuttgart, Augsburg: [s. n.] 1860, S. 130– 139, S. 133. Carus bemüht den Topos des Wissenschaftler-Künstlers verschiedentlich, exemplarisch folgendes Notat: „Wer da klagt, daß er als Arzt keine Erfolge seiner Kunst gesehen habe […], dieweil der Apparat der Heilmittel zuletzt nur ein unbrauchbares Sammelsurium bleibe, der gleicht dem Stümper, dem Farben und Palette und aufgespannte Leinwand geboten werden, und der kein Bild zustande bringt, eben nur weil er kein Künstler ist“ (Carus, Carl Gustav: „Vom Standpuncte gegenwärtiger Medicin“. In: ders.: Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und ärztlichem Wirken während eines halben Jahrhunderts. Leipzig 1859. S. 1–95, Zitat S. 15). Henle an Mathieus, 11.4.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 86, Henle an Marie, 19.8.1945, ebd., S. 111. Henle an Schölls, undatiert, Sommer 1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 100. Henle an Mathieu, 23.2.1845. In: Kübler: Mein lieber, 83.
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tigt“.90 Pygmalion mag sich im 19. Jahrhundert hinter die technische Instrumentierung des Seziersaales, des physiologischen Versuches und der anthropologischen Sammlung zurückgezogen haben, doch ein deutlich sichtbarer Schöpfer des eigenen Objekts bleibt er allemal. So kann man noch einmal zusammenfassen, auf welche Weise das Kaspar-Hauser-Experiment nicht einem beliebigen, offenen Ausgang überlassen sondern normativ determiniert ist. Rationelles Schlussfolgern und gemeinsamer Zielkonsens ersetzen induktive Offenheit, subjektive Gestaltung tritt an die Stelle von objektiver Datenregistrierung, Urteil an die Stelle von Verstehen und Missverstehen. Wie sich mit dieser wissenschaftlichen Methode briefliche Intersubjektivität unter den extrem hierarchisierten Partnern herstellen lässt – das zeigt sich, wenn Henle gegen Ende des Versuchs seiner Braut statt Liebesschwüren anthropologische Beobachtungen und Schlüsse mitteilt: Es hat mich von Anfang an gefesselt, daß ich bei Dir einen so schönen Vorrat von Liebesfähigkeit erkannte. Als Du noch wenig sagen konntest und durftest, da sahst Du mir so aus, daß ich Dich für reich halten mußte und darin hat sich mein Blick nicht getäuscht.91
Die Antwort bietet nicht nur die gewünschte Liebesfähigkeit, sondern wachsende Schreibfertigkeit entlang kollektiver Vorgaben, ja sogar bereits einen Anflug jener Ironie, die zu den verfeinerten Genüssen geselliggepflegter Konversation gehört. Er solle ihr mitteilen, schreibt Elise, was Du an mir noch anders wünschest, denn ich weiß, dass Dir einiges auf dem Herzen liegt und ich möchte es gern vor unserer Verheiratung noch wissen. […] Sieh! Das Sprichwort heißt ja: die Liebe muß gezankt haben und so ist es bei uns auch gegangen, denn wir lieben, haben geliebt und werden lieben, Du bist doch wohl auch der Meinung? Wir zanken, haben gezankt und werden nicht mehr zanken, glaubst Du das?92
Ein Kunstwesen von „Verstand und Takt und ebensoviel Herzensgüte“93 ist enstanden unter der rationellen Führung Henles, der sich sicher ist, „daß ich alles aus meinem Liebchen machen kann“.94 Für die identitätslose Elise hat es eigentlich keine andere Möglichkeit gegeben, als sich diesem Zielkonsens entsprechend, auf den sich alle Beteiligten von vorneherein festgelegt hatten, zu entwickeln; d.h. genau jenes epistolare Profil der empfindsamen Authentizität, des Wort- und Gefühlsreichtums auszubilden, das Henle präjudiziert hat. „Schade, dass ich nichts zu Papier brin90 91 92 93 94
Der Vater an Henle, 11.10.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 120 (Hervorhebung MK). Henle an Elise, 31.1.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 189. Elise an Henle, 2.2.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 192. Marie an Henle, 12.1.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 65. Henle an Schölls, 3.2.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 193.
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gen kann“, klagt Galatea stilsicher im Bescheidenheitston und bringt dann die Signatur der gebildeten Liebesbriefschreiberin überzeugend zu Papier: Dass ich Dich geliebt habe, ist doch nicht gegen den heiligen Geist gesündigt? Comprenez-vous? Daß ich die Welt betrogen und belogen habe, ist aus reiner, wahrer Liebe „nicht zu ihr“, nein für Dich geschehen […]. Könntest Du einmal in mein tiefes Inneres sehen, oder lauschen, wenn ich mit Dir plaudre Tag und Nacht und fast zu jeder Stunde. […]. Beim Arbeiten ists nicht so, denn da geht es mir wie der Penelope, was ich am Tag arbeite, muß ich Nachts wieder aufmachen, nur sind die Gründe verschieden.95
Empfindsame Weltabgewandtheit, Innerlichkeit, Bildungswissen, Sprachfertigkeit – begeistert reagiert Henle auf die vorhersagbaren Fortschritte Elises: „An Deinem letzten lieben Brief habe ich nur eins auszusetzen, daß Du Dich entschuldigst zu viel von Liebe gesprochen zu haben. Davon, mein Schatz, kann man nie zuviel sprechen“.96 Das ist im Februar 1846, einen Monat vor der Hochzeit mit Henle. Man kann sehen, dass die Liebeskommunikation zwischen Wissenschaftler-Künstler und Objekt zu diesem Zeitpunkt bereits gut in Gang gekommen ist. Die Geschlossenheit des Kreationsgedankens reduziert die Kontingenzen der ‚Liebeskommunikation im Labor‘ deutlich. Denn Henle – ein simultaner Beobachter und Schöpfer, der das Objekt seiner Beobachtung erst kreiert – sieht mit dem eigenen Werk auch die Liebe zum eigenen Werk wachsen: „In allen wesentlichen Punkten“ konzediert er der Braut, „bist Du mir gerade so am liebsten, wie Du bist, in den minder wesentlichen […] finde ich, daß Du während Deiner Schulzeit alles geleistet hast, was meine kühnsten Hoffnungen erwartet haben“. Der Brief schließt mit „1000 Lustküssen von Deinem Jacob“, denn es beherrscht ihn „die Freude, Dich unter meinen Augen wachsen zu sehen.“97 Im Kontext von Henles Selbstverständnis als WissenschaftlerKünstler dürften schließlich auch literarische Muster das wechselseitige briefliche Verstehen erleichtert haben. Es wurde bereits erwähnt, dass Henle schon zu Beginn des ‚Romans‘ die literarische Rollenkonstellation ‚Faust und Gretchen‘ für sich und die Geliebte reserviert hat. Irgendwann hat das intelligente Objekt die Vorgaben ihres Beobachter-Schöpfers soweit verinnerlicht, dass Versatzstücke aus dem Goethe-Arsenal nicht mehr als sprachliche Terra incognita, sondern als Orientierungshilfe und Korrespondenzgerüst fungieren können. Elise liest Faust, Egmont und Bettinas Briefe, wobei sie den Letzteren einen „ganz ungewöhnlichen Briefstiehl“ attestiert, „aber recht interessant, man sieht gleich, daß sie es 95 96 97
Elise an Henle, 2.12.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 172–173. Henle an Elise, 6.12.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 174. Henle an Elise, 8.2.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 195ff.
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nicht allein für einander geschrieben haben, daß sie vorhatten, es später unter das Volk zu bringen…“ .98 Zwar gehe es ihr „immer wider die Natur“, dass Bettina „nur für Goethe diese Briefe geschrieben hätte, aber [sie] der ganzen Welt [zu]veröffentlichen“ vorhabe. Dennoch scheint Einsicht in die Öffentlichkeit und Inszeniertheit anderer Briefwechsel das geforderte literarische Rollenspiel zu erleichtern: Der Faust habe ihr, so Elise, „sehr zugesagt, wie sichs denken lässt, denn ich konnte mich ganz lebhaft an die Stelle Gretchens versetzen und mancher Gedanke ist darin, wo ich schon so oft gefühlt habe.“99 Elise bestätigt Henles initiale Goethe-Projektionen auf so ideale Weise, daß sich die Kommunikation mühelos auf diesen Bahnen weiterbewegen kann: Einstweilen hast Du noch Freude hauptsächlich am Gretchen, wenn Du es öfters liest, wirst Du auch den Faust selbst begreifen lernen, der in allem Studieren und allem Reichtum des Wissens seine Befriedigung nicht findet und am seligsten ist, wo er zu einem einfachen treuen Menschenherzen zurückkehrt.100
Natürlich gehört solches Spiel mit literarischen Rollen ganz allgemein zum Habitus der spätempfindsamen Briefgemeinde. Doch spiegelt sich gerade in der Dichotomie von vorsentimentalischer Weiblichkeit und universalgelehrter Männlichkeit allzu deutlich Henles Selbstverständnis als Wissenschaftler. Die Identifikation mit Goethe verweist ihn einmal mehr in den Kontext der älteren Wissenschaftler-Generation, wo die GoetheVerehrung noch einmal Vorstellungen einer ganzheitlich erkennbaren Natur gegen die wachsende Partikularisierung der Wissenschaften in Stellung bringt. Dies gilt etwa für Carus, der mit Goethe korrespondiert und dessen Identifikation mit dem Meister an Idolatrie grenzt. Naturforschung, Kunst und enzyklopädische Welterkenntnis lassen sich im Lebenswerk vereinen, so lautet zumindest für Carus der durch Goethe legitimierte Anspruch;101 so scheint, wenn auch uneingestanden, ebenso der Anspruch Henles zu lauten. Diese Konvergenz von ästhetischer und wissenschaftlicher Naturanschauung, wie sie in Henles brieflichen Goethe-Inszenierungen deutlich wird und wie sie vor allem beim medizinischen Universalgelehrten und
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Elise an Henle, 24.10.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 131. Elise an Henle, 2.12.1845. In: Kübler: Mein lieber, S .174. Henle an Elise, 6.12.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 175. Carus sucht sich dem Vorbild auf verschiedenste Weise anzunähern: Er übersendet Goethe eigene Bildwerke zur Kommentierung und ein zoologisches Lehrbuch, verfasst eine Abhandlung mit dem Titel Göthe. Zu dessem näheren Verständnis (1843), publiziert mehrfach in Goethes Heften zur Morphologie und korrespondiert in den zwanziger Jahren mit dem Dichter; vgl. Knittel, Philipp Anton: Zwischen Idylle und Tabu. Die Autobiographien von Carl Gustav Carus, Wilhelm von Kügelgen und Ludwig Richter. Dresden 2002, S. 26–27.
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Goethe-Jünger Carus verwirklicht ist,102 kennzeichnet schließlich auch Henles berühmte anthropologische Vorlesungen. Hier bemüht der Mediziner erneut jene Analogien zwischen Natur und Kunst, die auch seinem wissenschaftlichem Rollenverständnis zugrundeliegen: „Was der Künstler thut, um die Farben zum Bilde, die Töne zur Symphonie zu ordnen, das vollziehen an unsern Sinnen die adäquaten Reize“, so leitet Henle etwa Überlegungen zur Sinnesphysiologie ein.103 Gehalten in Heidelberg in den Jahren 1845–52, werden die Vorträge in den späten siebziger Jahren publiziert. Er habe „eine populäre Vorlesung angekündigt“, schreibt er im Oktober 1845 an Elise, „über den Körper und die Seele des Menschen. […] Es sind über 200 Zuhörer und wie ich höre, sollen sie gehörig begeistert sein.“104 Zu den ‚begeisterten Hörern‘ zählt 1848 auch der junge Gottfried Keller, der dem Redner und seinen anthropologischen Überlegungen im Grünen Heinrich ein literarisches Denkmal setzt. Es ist nicht zufällig, dass die Reihe, die allgemein der Physiologisierung seelisch-kognitiver Tätigkeit – des Räsonnierens wie des Kunstschaffens – gilt, mit einem Vortrag zum Phänomen der Grazie beginnt. In der Grazie spiegelt sich für Henle die menschheitsgeschichtliche Höherentwicklung vom Primitiven zum Kultivierten, wobei dieser Höherentwicklung eine langsame Ökonomisierung von sprachlichen und leiblichen Zeichen, von Muskeln und Nerventätigkeit zugrundeliegt: […] dennoch lässt sich erkennen, dass die heutzutage üblichen gebotenen oder erlaubten Zeichen der Sympathie oder Antipathie sich nach demselben Princip wie die übrigen willkührlichen Bewegungen gebildet haben, durch Einschränkung von ursprünglich ausgebreiteten und stürmischen Muskel-Actionen auf immer engere Bezirke. Die kleine Münze der leichten geselligen Conversation gelangt erst bei einem hohen Culturzustande in Cours.105
Diese neurophysiologische Menschheitsentwicklung vom Primitiven zum Kultivierten verweist überdeutlich auf den exemplarischen Bildungsgang des „rätselhaften, naturwüchsigen Wesens“ Elise Egloff. Im ersten Erklärungsbrief an die Schwester hatten der „natürliche[…] Verstand und ihre[…] verhältnismäßige[…] Grazie de[n] schwierigen Versuch“ überhaupt erst legitimiert.106 Den menschheitsgeschichtlichen Endzustand der „leich102
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Nach Jutta Müller-Tamm (Kunst als Gipfel der Wissenschaft) teilen Carus und Goethe vor allem die Auffassung, dass sich moderne wissenschaftliche Einzelentdeckungen, philosophische Naturanschauung und pantheistischer Respekt vor dem Unerforschlichen wechselseitig durchdringen und eine neue, synthetische Wissenschaftskonzeption entlassen (S. 17–18). Henle, Jacob: Anthropologische Vorträge. Heft 1, Braunschweig 1876, S. 33. Henle an Elise, 29.10.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 134. Henle: Anthropologische Vorträge, S. 14. Henle an Marie, 8.6.1844. In: Kübler: Mein lieber, S. 42.
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ten geselligen Konversation“ und der gebildeten Natürlichkeit scheint Elise kurz vor der Hochzeit erreicht zu haben: „Einen Weihnachtsbaum können wir Dir nicht butzen, willst Du nicht selbst den Baum vorstellen und ich will mich dann an Dich hängen, dann könnten wir die Wachskerzen sparen“, so lautet die Liebe im Plauderton,107 und ernsthafter die Version kultivierter Innigkeit: Denn ich habe jetzt die gehörige Ruhe und bleibt mir nichts zu wünschen übrig, als bald in Deinen Besitz zu kommen, aber dann werde ich doch erst in hohem Grade der Glückseligkeit leben, denn die Ruhe macht noch nicht gehörig alles aus, daß (sic!) habe ich seitdem Du mich wieder verlassen erst recht erfahren.108
Henle, begeistert über die Erfüllung all seiner anthropologisch-rationellen Vorhersagen, antwortet gleichermaßen verliebt und ähnlich formelhaft: und zwar mit dem Topos des Liebes-Wettbewerbs, der seit Klopstock zum Repertoire empfindsamer Liebeskommunikation gehört.109 Damit wird einmal mehr deutlich, wie sich in Henles Briefexperiment moderne Wissenschaft und eklektische Literaturtraditionen überschneiden: Mein liebes Herz, ich bin sehr glücklich, noch mehr, ich bin ganz glücklich. […] Ich hatte vor diesen letzten, schönen Tagen noch keine Ahnung davon, wie stolz und glücklich man durch Liebe werden kann, und wie schön der Wettstreit ist, wer es dem anderen an Wärme der Empfindung zuvor tue. […] Ich weiß, daß alles Gute, das ich Dir bieten kann, erst dadurch für Dich zum Genuß wird, daß Du es mit mir und durch mich erlebst.110
Die Kontingenzen des kühnen Projekts sind – man sieht das noch einmal deutlich am letzten Zitat – durch Henles Glaubenssystem dreifach aufgefangen: zum einen durch die voluntaristischen Aspekte des Machens, Bildens, Schaffens, die Henles Selbstverständnis als Anthropologe und Naturwissenschaftler inhärent sind und die der goethezeitlichen Synthese aus Wissenschaft und Kunst entspringen; zum zweiten durch ein anthropologisches Universale, den physiologischen Menschheitsfortschritt, der eine Analogie zu Elise erlaubt und diese als exemplarischen Beweisfall ausweist; zum dritten durch die schlussfolgernde Methode, die die Zufälligkeiten experimenteller Naturwissenschaft rational domestiziert. Abschließend bleibt die Frage, ob die vielfach beschworene Romanhaftigkeit auch ein entsprechendes Happy-End mitliefern kann. Doch das 107 108 109
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Elise an Henle, 17.12.1845. In: Kübler: Mein lieber, S. 181. Elise an Henle, 4.1.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 182–183. Vgl. Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 211–216; für Elke Clauss (Liebeskunst. Der Liebesbrief im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1993) ist besonders die „Verbindung von Wettkampfformel und Herz“, die auch Henle bemüht, kennzeichnend für die empfindsame Gefühlsstilisierung in der Korrespondenz Moller/Klopstock (S. 27–28). Henle an Elise, 4.1.1846. In: Kübler: Mein lieber, S. 184.
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eheliche Glück der Henles ist so künstlich wie der naturwissenschaftlichliterarische Experimentierraum, dem es entstammt, und kann der Wirklichkeit kaum standhalten. Bereits zwei Monate nach der Hochzeit erleidet Elise den ersten tuberkulösen Blutsturz und stirbt knapp zwei Jahre später bei der Geburt ihres zweiten Kindes. Ein Jahr nach ihrem Tod wird sich Henle mit einer standesgemäßen Bürgerstochter wiederverheiraten. Das prekäre Bildungsexperiment bewahrt und entfaltet hingegen seine narrative, kompositorische, ästhetische Substanz in den verschiedenen Literarisierungen – von Auerbachs verharmlosender Dorfgeschichte und BirchPfeiffers kommerziellem Bühnenstück bis zu Gottfried Kellers Sinngedicht. Vergegenwärtigt man sich die Widersprüche und komplexen ideengeschichtlichen Hintergründe dieses einzigartigen ‚Liebesbriefwechsels im Kollektiv‘, so muss es allerdings nicht wunder nehmen, dass der Stoff lediglich in der Regine-Novelle jene Dunkelheit, Mehrdeutigkeit und Komplexität erhält, die Henles Experiment ursprünglich eignete; in einem Text also, der zu den Höhepunkten realistischer Erzählkunst gehört, geschrieben von einem, der Henle und Elise 1846 in Heidelberg kennenlernt und nach Elises Tod mit leidenschaftlichem Eifer Henles anthropologischen Vorträgen lauscht.
V. Medienphantasien
Carsten Rohde
Authentizität, Fiktionalität und das Imaginäre Zur Poetik von Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert am Beispiel des jungen Goethe Zur Poetik von Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert Brief und Briefroman sind Schlüsselmedien des 18. Jahrhunderts. Man hat vom „Jahrhundert des Briefes“1 gesprochen, und mit nicht weniger Berechtigung wäre vom ‚Jahrhundert des Briefromans‘ zu sprechen, erfährt dieses Genre doch im Gefolge von Richardsons Pamela (1740) einen bemerkenswert steilen Aufstieg, wie es dann kurz nach 1800 ebenso plötzlich und nahezu vollständig wieder von der Bildfläche des literarischen Lebens verschwindet. Beide Genres auch sind Gegenstand von allgemeinen, sozialdisziplinären Debatten gewesen: „Briefwuth“2 und „Lesesucht“3 – die vor allem als eine Romanlesesucht wahrgenommen wurde – stellen komplementäre Phänomene dar im sozialtechnischen Diskurs der Zeit. Nicht zuletzt aus dieser weitreichenden Wirkungsmächtigkeit bis hinein in die Lebenswelt und den Alltag des 18. Jahrhunderts erklärt sich die Relevanz der Gattungen Brief und Briefroman. Über beider Zusammenhang und Genese nicht erst im 18., sondern bereits im 17. Jahrhundert informiert inzwischen eine breite Forschungsliteratur.4 Wie bereits
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Steinhausen, Georg: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2 Tle., Berlin 1889–1891 (Reprint Dublin, Zürich 1968). Hier: Teil 2, S. 302. Zum Brief im 18. Jahrhundert ferner: Brockmeyer, Rainer: Geschichte des deutschen Briefs von Gottsched bis zum Sturrm und Drang, Münster 1961; Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2000. Gervinus, G. G.: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Bd. 4. Leipzig 21843, S. 247. Hoche, Johann Gottfried: Vertraute Briefe über die Lesesucht und über den Einfluß derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks. Hannover 1794. Zit. n. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt/Main 1970, S. 60. Vgl. nur die einschlägigen Studien von: Kimpel, Dieter: Entstehung und Formen des Briefromans in Deutschland. Diss. Wien 1962; Würzbach, Natascha: The Novel of Letters – Epistolary Fiction in the Early English Novel 1678–1740. London 1969; Voßkamp, Wilhelm: „Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert“. In: DVJs 45 (1971), S. 80–116; Picard, Hans Rudolf: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. Heidelberg 1971.
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Wilhelm Voßkamp hervorhob, spielt bei dieser Genese von Anbeginn die Liebe eine zentrale Rolle: Auffallend ist die Tatsache, daß die ersten ‚wirklichen‘ Briefromane in Prosa und die fiktive Sammlung von Briefen, mit der eine neue Epoche in der Geschichte des Briefes und Briefromans beginnt (die ‚Lettres portugaises‘), von erotischer Thematik geprägt sind. […] Zeigt schon der Roman überhaupt für lange Zeit eine deutliche Affinität zur Liebesgeschichte, ist die durch literarische Vorformen bedingte Nähe des Briefromans zum Liebesbriefroman von besonderer Relevanz; der Brief und damit auch der Briefroman scheinen diesem Thema in ganz besonderer Weise adäquat zu sein […].5
Vor dem Hintergrund dieser großflächigen literarhistorischen Entwicklungslinien sollen im Folgenden Brief und Briefroman bzw. Liebesbrief und Liebesbriefroman in zweifacher Weise genauer in den Fokus gerückt werden: zum einem möchte ich das funktionale und das gattungspoetische Profil schärfen und der Frage nachgehen, welche formalen und semantischen Eigenschaften und Möglichkeiten die beiden Genres für das Literatursystem des 18. Jahrhunderts6 so attraktiv gemacht haben. Zum zweiten sollen diese Eigenheiten mit Blick auf das Briefwerk und Briefromanwerk des jungen Goethe eine nähere Erläuterung und Exemplifikation erfahren. Wie ist Goethes romanfiktionales wie epistolares Briefschreiben literarästhetisch profiliert? Und wie hängt dieses mit seiner poiesis der Liebe zusammen? Gibt es beim jungen Goethe so etwas wie typische Schreibgebärden der Liebe in Briefform? Eine zentrale Rolle werden hierbei Begriff und Kategorie des Imaginären spielen:7 in seinem suggestiven semantischen Raum konvergieren Brief und Briefroman sowie Goethes poiesis der Liebe. 5 6 7
Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen, S. 88f. Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1989. Dabei gilt es grundsätzlich zu unterscheiden zwischen einem „gesellschaftlich codierten kollektiven Imaginären“, den „psychoanalytisch oder sozialpsychologisch bestimmbaren mentalen Dispositionen“ und den „ästhetischen Verfahrensweisen, über die das Imaginäre nicht nur ‚angesteuert‘, sondern auch hervorgetrieben wird.“ Lubkoll, Christine u. Inge Steutzger: „Einleitung“. In: Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposion für Gerhard Neumann. Hg. v. Christine Lubkoll, Freiburg i. Br. 2002, S. 7–19, hier S. 9. Darüber hinaus ist im Folgenden zu differenzieren zwischen a) der Imagination (/imaginativ): als der produktiven Einbildungskraft, Phantasie des Künstlers, und b) dem Imaginären: als der eher unbewussten, apersonalen, überindividuellen Sphäre der Einbildungen, des Bilderscheins (imaginär von lat. „imago“ = Bild); um Letztere vor allem geht es mir (auch wenn sie, das sei konzediert, von Ersterer letzten Endes nicht zu trennen ist!). Vgl. auch: Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur. Hg. v. Erich Kleinschmidt und Nicolas Pethes, Köln, Weimar 1999 (bes. die einleitenden Aufsätze der Herausgeber: Pethes: „Über Bilder(n) sprechen. Einleitung in Lesarten einer Theorie des Imaginären“, S. 1–14; Kleinschmidt: „Die Imagination des Imaginären“, S. 15–32).
Zur Poetik von Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert
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I. Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert Systemtheoretisch betrachtet, handelt es sich bei Liebesbrief und Briefroman um symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die – wie alle Medien, wie alle Kommunikationen – Kontingenz reduzieren und den sozialen Verkehr stabilisieren.8 Kommunikation findet hier jedoch nicht in der unmittelbaren intersubjektiven Interaktion statt, sondern Brief wie Buch inszenieren den Austausch paradoxerweise in absentis, in einem ebenso prekären wie ob seiner Umbestimmtheit höchst faszinierenden Zwischenraum des Imaginären, einem extraterritorialen, extrachronologischen Ort des Phantasmatischen, in dem es wimmelt von Bildern, Erscheinungen, möglicherweise Trugbildern (gleichwohl: äußerst wirksamen Trugbildern), welche das kollektive wie jedes individuelle Imaginäre beeinflussen und steuern. Liebesbrief und Briefroman sind somit symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die trotz oder gerade wegen ihrer Unbrauchbarkeit in der direkten sozialen Interaktion eine essentielle Funktion ausüben: nicht so sehr, wie gesagt, in dem, was die Soziologie soziale Interaktion nennt, dafür desto mehr im Bereich des sozialen Imaginären, das sozialwissenschaftlich-empirisch kaum messbar ist, gleichwohl aber das Soziale untergründig entscheidend mitbeeinflusst und organisiert.9 Liebesbrief, Briefroman wie auch andere kulturelle Artefakte, die fiktiv ein intimes wie nicht-intimes Miteinander durchspielen – der Roman generell, seit dem 20. Jahrhundert das Kino, neuerdings das Internet – prägen unser Verständnis des Sozialen, nicht zuletzt unser Verständnis des Intimen, unsere Vorstellungen von Liebe und Eros. Codierungen von Intimität bewegen sich somit immer auch in einem Bereich des Imaginären, d. h. in einem Mittelfeld von Fiktion und Authentizität, einem Feld, in welchem die Zeichen – Signifikanten wie Signifikate – keinen stabilen Zustand erreichen, weil sie sich unaufhörlich verschieben, einem Feld, in dem sich unsichtbare Dramen, semantische Explosionen ereignen, ein Kopfkino, das nicht aufhört, Zeichen zu produzieren. Die Verständigung über Liebe in diesen imaginären, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien kommt folglich an kein Ende, sie setzt ins Werk eine Unendlichkeit des Erzählens über Liebe. Die Sprache der Liebe in der Verständigung über die Liebe ist daher ebenfalls gekennzeichnet durch einen 8
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Vgl. Luhmann, Niklas: „Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 170–192; sowie Ders.: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1982. Vgl. zum makrosozialen, kollektiven Imaginären: Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004.
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infiniten Aufschub, es ereignet sich ein ewiges Weiterverschieben, Weiterverweisen der sprachlichen Zeichen. Man könnte auch sagen: der Sprache der Liebe, wie sie sich im Liebesbrief und im Briefroman exemplarisch artikuliert, eignet im Kern ein Moment der Unendlichkeit und damit Fragmentarität. Jede Sprache der Liebe ist darum notwendigerweise gleichbedeutend mit Fragmenten einer Sprache der Liebe.10 Sie schließt in einem potentiell wie realiter imaginären Raum des Unendlichen – des unendlich Denkbaren, Sagbaren, Lebbaren – die Lücke, die sich im Phantasma des Augenblicks auftut zwischen Gefühl und Artikulation immer nur fragmentarisch, momentweise, nie vollkommen und dauerhaft. Ja, sie darf sie nicht schließen, denn diese Lücke ist gerade konstitutiv für das Begehren. Der Brief überhaupt aber, insbesondere der Brief des jungen Goethe, ist ein Medium der Lücke: er produziert unendlich Zeichen, er kann und will niemals zum Abschluss kommen, getreu der Devise des jungen Goethe: ‚nichts sein, alles werden wollen‘,11 und er setzt somit einen endlosen semiotischen Verweisungsprozess in Gang. Jede einzelne Briefzeile sagt: ich bin ich – und doch nur ein winziger Begehrungspunkt in einem unendlichen Raum des Imaginären, Phantasmatischen.12 Sie sagt: lies mich, lies meine Identität – und ergänze das Begehren – nach einem unendlichen Mehr an Identität –, ein Begehren, das niemals zum Stillstand kommt, das folglich unendlich Zeichen produziert. Nicholas Boyle hat das gesamte Werk des jungen Goethe als eine „Dichtung des unablässigen
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Vgl. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt/Main 1988. In Barthes‘ Untersuchung des Liebesdiskurses ist das Imaginäre von zentraler Bedeutung, vgl. allein in den einleitenden Abschnitten: „der ganze Diskurs der Liebe“ ist „vom Verlangen, vom Imaginären und von der Liebeserklärung durchwoben“ (S. 16f.); Liebe, das ist: „das große imaginäre Fluten, von dem es [sc. das Subjekt] ohne Ordnung und Ziel überschwemmt wird“ (S. 20). Vgl. an Johann Ludwig Hetzler 24.8.1770: „Dabey müssen wir nichts s e y n , sondern alles w e r d e n wollen“. Goethes Briefe werden zitiert nach: Goethe, Johann Wolfgang: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Georg Kurscheidt, Norbert Oellers u. Elke Richter. Berlin 2008ff., im Folgenden abgekürzt „GB“, hier: GB 1.1, S. 200. Ohne es darauf zu reduzieren, ist das individuelle, subjektive Imaginäre durchaus auch im psychoanalytisch-poststrukturalistischen Sinne als unaufhörliches, unreguliertes Strömen der „Wunschproduktion des Unbewußten“ zu verstehen, ja, als der „Wunsch nach/die Angst vor Verschmelzung/Explosion“ (Theweleit, Klaus: Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 262, 211; vgl. auch Deleuze, Gilles u. Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/Main 1974). Zu den Figuren des Imaginären und des Begehrens bei Jacques Lacan, die sich im Sinne einer modernen Individualitätssemantik ebenfalls auf den jungen Goethe beziehen ließen, vgl. Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt/Main 1984, S. 356–421; Kolesch, Doris: „Begehren”. In: Große Gefühle. Ein Kaleidoskop. Hg. v. Ottmar Ette und Gertrud Lehnert, Berlin 2007, S. 78–100.
Zur Poetik von Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert
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Begehrens“13 bezeichnet; ihren besonderen Ort hat diese Dichtung – zumal dann, wenn es in einem expliziten Sinne um Liebe geht – im Imaginären, wo der Codierung von Intimität in einem gleichsam unendlichen Verbrennungsprozess immer neue Ressourcen zugeführt werden. Die Fokussierung von Goethes Liebesbriefwerk auf das Imaginäre fügt sich nahtlos ein in jene „Mediologie des 18. Jahrhunderts“, wie sie Albrecht Koschorke in seiner Studie aus dem Jahre 1999 auf stupende Weise entworfen hat: ihm zufolge kennzeichnet die Literatur des 18. Jahrhunderts, zuvördert jene, die der Empfindsamkeit zuzurechnen ist, ein Vorgang der Verschiebung von phantasmatischen, libidinösen Energien hin zur Schrift, zur Kultur, zur in Schrift aufbewahrten Imagination.14 Zugespitzt formuliert, stellt die Kultur der Empfindsamkeit nichts anderes dar als einen einzigen gigantischen Verschiebebahnhof von einer primären Bedürfnisund Begehrensebene auf sekundäre, kulturelle, kommunikative Ersatzebenen: „Den Lesenden strömt die Erfahrung einer poetischen Unendlichkeit zu, einer Vollständigkeit und Selbstvergrößerung, die ihnen weit mehr zu schenken vermag, als die Sperrung des direkten Verkehrs ihnen wegnimmt.“15 Liebesbrief und Liebesroman aber dürfen als Medien par excellence gelten, in denen dieser Substitutions- und Verschiebungsvorgang stattfindet. Sie demonstrieren die zentrale Bedeutung von Medialisierung und Distanzierung, welche paradoxerweise auf imaginärer Ebene zum empfindsamen Mythos der Unmittelbarkeit führen. „Die mediale Distanzierung hindert das Begehren nicht, sondern entfacht es; sie läßt es überhaupt zur Sprache gelangen und bietet die Lizenz, Dinge zu äußern oder symbolisch auszuagieren, die mit dem Reglement mündlicher Interaktion unvereinbar wären.“16 Liebe, das ist (auch): Explosion der Zeichen. „Alles bedeutet.“17 Brief und Briefroman sind gleichsam die Räume, in denen sich diese Explosionen am wirkungsvollsten ereignen. Derrida hat einmal von der Literatur als dem Ort gesprochen, der es mir erlaubt, alles zu sagen.18 Das gilt im Grundsatz selbstverständlich für alle Textsorten, doch sind es im 18. 13 14 15 16 17 18
Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. 1: 1749–1790. Aus dem Engl. übers. von Holger Fliessbach, München 1995, S. 136. Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. Ebd., S. 167. Ebd., S. 208. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 236. „‚This Strange Institution Called Literature‘. An Interview with Jacques Derrida”. In: Derrida, Jacques: Acts of Literature. Hg. v. Derek Attridge, New York, London 1992, S. 36: das Faszinierende an der Literatur sei für ihn immer gewesen, „to be the institution which allows one to say everything, in every way“.
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Jahrhundert vor allem der Brief und der Roman, die ein Höchstmaß an formaler und semantischer Offenheit und Flexibilität verbürgen, im Zuge der Entformalisierung des Briefes und des Aufstiegs des modernen Prosaromans. Dem Brief wie dem Roman stehen auf quantitativ beinahe beliebigem Raum eine Vielzahl von erzählerischen Optionen zur Verfügung, die den semantischen Aussagegehalt ebenso varianten- wie mischungsreich zu modellieren vermögen. Was Johann Gottfried Herder 1796 zum Roman ausführt, lässt sich prinzipiell auch vom Genre und Medium Brief sagen: Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessieret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessieret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.19
Brief und Briefroman sind durch ihre formale Offenheit und Multiperspektivität ideale Medien für die Ausweitung des sprachlichen Selbstausdrucks, wie sie das 18. Jahrhundert und generell die literarische Moderne kennzeichnet. Es sind dies Medien, die Raum lassen für das Imaginäre und Phantasmatische, für Sprach- und Schreibgebärden, die Ausdruck sind des neuartigen Denk- und Sagbaren. Der Brief und der Roman in Briefform erscheinen hierfür besonders geeignet, indem sie nämlich nicht nur höchstmögliche formale Flexibilität gewährleisten (analog zur Amplitude des dargestellten Anthropologischen), sondern auch indem sie an der Schnittstelle von Faktualität und Fiktionalität, Authentizität und Inszenierung, Privatsphäre und Öffentlichkeit operieren, und, damit zusammenhängend, indem sie als prononcierte Ich-Rede für Subjektivität, Reflexivität und zugleich Dialogizität stehen. Im Brief bzw. im Briefroman, so könnte man auch formulieren, findet das Subjekt ein Kommunikationsmedium vor, das ihm erlaubt, auf ebenso vielfältige wie spielerischfreie Weise zentrale Identitätsprobleme der Moderne – darunter nicht zuletzt: Liebe – semantisch zu verhandeln. Der Brief, „genetisch wie funktional ein Medium der Informationsvermittlung“, wird im 18. Jahrhundert nicht allein zu einem „Medium der Geselligkeit“, 20 sondern darüber hin19
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Herder, Johann Gottfried: „Briefe zu Beförderung der Humanität“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Gunter Arnold, Martin Bollacher u.a., Bd. 7, Frankfurt/Main 1991, S. 548. Vellusig: Schriftliche Gespräche, S. 56.
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aus zu einem anthropotechnischen Experimentierfeld, auf welchem die sprachlichen und semantischen Möglichkeiten des Subjekts ausgelotet, neu justiert werden. Ähnliches gilt für den Roman bzw. Briefroman, und genauer betrachtet ist es das Imaginäre, das dieses neue anthropotechnische Versuchsfeld konstituiert, eine Sphäre jenseits des rein Realen / Authentischen wie des rein Fiktiven und Fingierten. Die literarische Vermessung dieses Versuchsfeldes stößt indes rasch auf Inkommenurabilitäten, was auch mit dem Imaginären zu tun hat. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden.21
Nicht allein der Roman treibt „das Inkommensurable auf die Spitze“, indem er den Versuch unternimmt, ein Leben zu erzählen, in moderner Perspektive: die Individuiertheit und Kontingenz des Daseins, das „Fragment des Lebens“22 in eine erzählerische Form zu bringen und somit eine Sinnstruktur zu unterschieben. Das von Walter Benjamin beschriebene symbolische Szenario lässt sich ohne weiteres auch auf den Brief bzw. Liebesbrief übertragen, denn für ihn gilt gleichermaßen: seine Geburtskammer ist das Individuum in seiner Einsamkeit. Ausgehend von diesen symbolisch-imaginären Geburtsszenen sollen im Folgenden drei Stellen aus dem Brief- und Briefromanwerk des jungen Goethe näher betrachtet werden. Es wird dabei im Wesentlichen um Transformationen gehen, genauer: um die Transformation von Begehren in Schrift und umgekehrt. Denn die Urszene des modernen Liebesbriefes wie des modernen Romans spielt sich ab an einem doppelten Ort: in einer einsamen Kammer und an einem ebenso phantasmatisch-imaginären wie inkommensurablen Heterotop. Mich interessieren jene Stellen, wo der Brief die Ebene der sachlichen Aussage oder Information verlässt, auch der Gefühls- und Gedankenausdruck in den Hintergrund tritt und sich die Briefrede verschiebt in den Bereich des Imaginären, dieses Imaginäre die Stelle von Selbstausdruck und Aussage einnimmt, beide auf symbolisch21
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Benjamin, Walter: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/Main 1972– 1989, hier Bd. II.2, S. 443. Herder, Johann Gottfried: „Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Frankfurt/Main 1994, S. 107.
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phantasmatische Weise zurückspiegelnd. Zum Teil handelt es sich dabei um explizite Schreibgebärden, die aus dem Brief ins Imaginäre führen – so etwa im einzigen überlieferten Brief an Friederike Brion vom 15. Oktober 1770, wo sich das „Stückgen Papier“ in „ein geflügeltes Pferd“ verwandelt,23 das den Schreibenden in seiner Imagination zur Geliebten hinführt. Zum Teil sind diese Sprünge aus dem Brief heraus ins Imaginäre auf einer deskriptiven Ebene angesiedelt, indem sich ein bestimmter Vorgang, ein Gegenstand, der beschrieben wird, ins Imaginäre weitet. Das Imaginäre steht dabei in einem engen Zusammenhang mit zwei weiteren literarästhetischen Kategorien, die für die gesamte Konstitution und Entwicklung des epistolaren Genres im 18. Jahrhundert von ganz entscheidender Bedeutung gewesen sind: Authentizität und Fiktionalität. Zusammen bilden sie die zentralen ästhetischen Vektoren, die das Schreiben auch des jungen Goethe über Liebe in Briefform lenken. Authentizität, Fiktionalität oder auch das Imaginäre: dabei handelt es sich selbstverständlich um Begriffsschöpfungen und -konstruktionen moderner Wissenschaft.24 Im Zusammenhang mit Brief und Briefroman werden insbesondere zwei Kategorien immer wieder in Relation zueinander gebracht. Formeln wie „Fiktion der Authentizität“25 oder auch „Authentizität als Fiktion“26 zählen zu den gängigen Argumentationsfiguren in der Diskussion über Brief und Briefroman im 18. Jahrhundert.27 Der allgemeine Tenor lautet: Authentizität – hier verstanden als „Wahrhaftigkeit
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GB 1.1, S. 205. Hierher gehören auch all jene Szenen, die der junge Goethe seit den Briefen an die Schwester aus Leipzig zur Herstellung von kommunikativer, gleichwohl imaginärer Unmittelbarkeit konstruiert, vgl. beispielhaft den Brief an die Familie Schönkopf vom 1.–3.10.1768: „Sie müssen sich vorstellen daß ich zur kleinen Stubenthüre hereinkomme.“ (usw. – GB 1.1, S. 134). Vgl. entsprechende Artikel in einschlägigen Fachlexika: Deupmann, Christoph: „Authentizität“. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart, Weimar 2007, S. 57; Martinez, Matias: „Fiktionalität“, ebd., S. 240; Hauthal, Janine: „Imaginär“, ebd., S. 342; Knaller, Susanne u. Harro Müller: „Authentisch / Authentizität“. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karl Heinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart, Weimar 2000–2005, Bd. 7, S. 40–65; Stierle, Karlheinz: „Fiktion“, ebd., Bd. 2, S. 380–428; Horatschek, Annegreth: „Imaginäre, das“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning, 2., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2001, S. 273. Deupmann: Authentizität, S. 57. Anton, Annette C.: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. Vgl. z.B. auch Knaller, Müller: Authentisch / Authentizität, S. 40–65, bes. S. 47–51 (zum 18. Jh.).
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[…] des subjektiven Selbstausdrucks“28 – wird mittels Sprache und Literatur fiktional erzeugt, nicht etwa durch Sprache und Literatur nach dem Modell einer vorgängigen Wirklichkeit mimetisch abgebildet. Dies entspricht gegenwärtigen epistemischen Neigungen: Die Fiktionalität des Authentischen passt sich ein in ein allgemeines zeitgenössischen Wirklichkeits- und Kunstverständnis, das eher spielerisch ausgerichtet ist, das kulturalistisch und konstruktivistisch fundiert ist. Es gibt demzufolge kein Außerhalb des Textes, alles ist Fiktion, denn alles basiert letztlich auf einem Spiel von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen, folglich ist jede Form von Authentizität ebenfalls ein solches Spiel, eine Inszenierung von gleitenden Signifikanten und Signifikaten, welche Außersprachliches allenfalls simulieren, niemals aber abbilden. Nicht zuletzt der sog. linguistic turn, demzufolge aller Weltzugang apriori sprachlich präformiert ist, verbürgt diese Einsicht: auch jede Form von authentischem Selbst- und Gefühlsausdruck ist stets sprachlich vermittelt und aufgrunddessen nicht mehr unmittelbar, originär und authentisch. Das ist aber, scheint mir, sehr unhistorisch gedacht. Das 18. Jahrhundert begriff sein Authentizitätspathos nicht nur als ein Spiel von Zeichen, sondern es meinte es durchaus ernst damit, so dass die umgekehrte Formel nicht minder zu bedenken ist: ‚Fiktion als Authentizität‘ – wobei das Fiktive hier zusammengedacht ist mit dem Imaginären als eine im empirischen Sinne letztlich nicht-verifizierbare und gleichwohl höchst wirkungsmächtige Sphäre menschlichen Denkens und Fühlens. In ähnlicher Weise ist auch das geflügelte Wort von Jacques Derrida „Il n’y a pas de hors-texte“29 – in welchem das ‚Authentizität-als-Fiktionalität‘-Paradigma gleichsam gipfelt und das einem Forschungsbeitrag, der diesem Paradigma zuzurechnen ist, als Motto dient30 – mit Blick auf die Wirklichkeit des Literarischen im 18. Jahrhundert umzudrehen: alles steuert gewissermaßen auf ein Außerhalb des Textes zu, wenn dieses Außerhalb auch genauso sehr im Imaginären und Phantasmatischen verhaftet bleibt wie der Text selbst. Wenn Wieland in seinem Agathon immer wieder auf der genuinen „Wahrheit“31 des Romans beharrt, so geschieht dies sicherlich auch mit Blick auf poetologische Vorgaben der Aufklärung, die Leitwerte wie Em28 29 30
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Deupmann: Authentizität, S. 57. Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris 1967, S. 227 (dt.: Grammatologie, Frankfurt/Main 1974, S. 274). Meier, Franz: „Die Verschriftlichung des Gefühls im englischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Pamela“. In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus, Berlin, New York 2008, S. 273–291. Wieland, Christoph Martin: Werke. Hg. v. Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, 5 Bde., München 1964–1968, Bd. 1, S. 375f., 827.
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pirie und Kausalität in den Mittelpunkt stellt; aber er reklamiert damit auch den ‚echten‘, ‚authentischen‘ Wert seiner Fiktion, worunter hier weniger eine mimetische Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als vielmehr ein Anspruch auf Legitimität zu verstehen ist.32 Um es in Anlehnung an ein Wort des Philosophen Nelson Goodman zu sagen: er postuliert für sich und seine Romanprosa die Legitimation einer vollgültigen ‚Weise der Welterzeugung‘ (way of worldmaking), 33 der aufs Gesamt gesehen ebensoviel „Wahrheit“ zukommt wie der historiographischen oder einer anders verschriftlichten, semantisierten Weise der Welterzeugung. Auch dies ist vielleicht zu modern gedacht; Wieland war gewiss kein postmoderner Konstruktivist. Von diesem unterscheidet er sich aber auch gerade im Anspruch auf Wahrheit, auf Wirklichkeitsbezug, den seine Prosa erhebt. Erweist sich also das ‚Authentizität-als-Fiktion‘-Theorem zumindest teilweise auch als eine anachronistische Projektion zeitgenössischer epistemischer und ästhetischer Interessenlagen, so ist andererseits auch klar, dass Authentizität keine originäre Entität darstellt. Ich möchte daher, in Anlehnung an Wolfgang Isers triadisches Modell,34 das hier in Frage stehende Feld als eines begreifen, auf welchem Fiktionalität und Authentizität (verstanden als Wahrheit des Selbstausdrucks) mit dem bzw. im Imaginären komplexe Verbindungen eingehen. Bezogen auf Liebesbrief und Liebesbriefroman des jungen Goethe läuft die Argumentation der Forschung immer wieder auf die adaequatio von Gefühl (Authentizität) und Schrift (Fiktionalität) hinaus, analog zum Problem der Wahrheit in der Philosophie. Der klassischen Korrespondenztheorie des Thomas von Aquin zufolge gilt: veritas est adaequatio intellectus et rei – Wahrheit ist die Übereinstimmung von Verstand und Sache.35 Übertragen auf Liebesbrief und Liebesbriefroman heißt das: die Wahrheit des briefschreibenden Subjekts ist die Übereinstimmung bzw. Entsprechung von Schrift und Gefühl / Gedanke; die Schrift betreibt Mimesis an die Erregungszustän-
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Gerade darin besteht die „Besonderheit des Kunstwerks“: dass es nicht in der einfachen Opposition von Fiktion / Lüge und Wirklichkeit / Wahrheit aufgeht und sich in seiner Autonomie abgrenzt von heteronomen, rein ‚lügenhaften‘ Fiktionen; vgl. Friedrich, HansEdwin: „Fiktionalität im 18. Jahrhundert. Zur historischen Transformation eines literaturtheoretischen Konzepts“. In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Hg. v. Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer, Berlin, New York 2009, S. 338– 373, hier S. 366. Vgl. Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/Main 1984. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/Main 1991, bes. S. 18–23, wo die Opposition ‚Fiktion – Wirklichkeit‘ zugunsten der Triade ‚das Reale – das Fiktive – das Imaginäre‘ verabschiedet wird. Vgl. Janich, Peter: Was ist Wahrheit? Eine philosophische Einführung, München 1996, S. 30–39.
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de, an die Herzens- und Gedankenbewegung.36 Im stammelnden, stockenden Ton der Briefe spiegelt sich so die Unruhe wider, das Getriebensein des jungen Goethe. Hier schreibt und artikuliert sich, wie es am Ende eines Briefes an Augusta zu Stolberg vom 3. August 1775 antonomastisch heißt: „Der Unruhige“37. Dabei wird in der Forschung häufig ergänzt, dass diese Entsprechung teilweise auch eine mit Kalkül und Geschick betriebene Inszenierung darstellt, der Briefschreiber mithin eine bewusste Bearbeitung des Gefühls durch die Schrift ins Werk setzt.38 Man kommt dann wieder auf das Theorem der ‚Authentizität als Fiktionalität‘ – es soll hier jedoch, wie schon angedeutet, diese These einmal umgedreht und von der Authentizität des Fiktionalen ausgegangen werden, das zu verstehen ist als eine Ausgestaltung, eine Ausdifferenzierung des Imaginären. Natürlich geht es dabei auch um das Verhältnis von Schrift und Gefühl respektive Liebe; aber es geht nicht nur um dieses Verhältnis, beziehungsweise: es geht darum, dieses Verhältnis neu zu justieren. Entgegen den bisherigen Polarisierungen in der Forschung, denenzufolge sich entweder in der Schrift eins zu eins die turbulenten Gefühlslagen des jungen Goethe widerspiegeln, andererseits von diesen realen Gefühlslagen nicht die Rede sein kann, da es kein Außerhalb der Schrift gibt, gegenüber diesen Alternativen ‚positivistischer Biographismus‘ vs. ‚poststruktrualistischer Textismus‘ möchte ich den Fokus verschieben ins Areal des Imaginären und Phantasmatischen. Gehen die Positivisten von der nahtlosen Entsprechung von Schrift und Gefühl aus, von der totalen Referenz,39 postulieren die Kulturalisten die absolute Nicht-Entsprechung von Schrift und Gefühl, ihre totale Referenzlosigkeit, mithin die Autonomie der Schrift, der ästhetischen Zeichen. Goethes Liebesbriefroman Werther wie die Liebesbriefe an Catharina Schönkopf (bzw. an Behrisch über diese Liebe), an 36
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Vgl. etwa Vellusig: Schriftliche Gespräche, S. 143 über den Stammelton im Brief an Behrisch vom 10.–14.11.1767: „[…] in der Sukzession dieser Stockungen schreibt sich der Brief an den Gegenstand seiner Erzählung heran und reproduziert in der schriftlichen Vergegenwärtigung die Erregung, die der sprachlichen Erlebnisverarbeitung vorausgeht.“ Vgl. an Augusta zu Stolberg Januar 1775: „Ich komme doch wieder – ich fühle Sie können ihn tragen diesen Zerstückten, stammelnden Ausdruck wenn das Bild des Unendlichen in uns wühlt.“ (GB 2.1, S. 160). Vgl. z.B. Schöne, Albrecht: „Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767“. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer und Benno von Wiese, Köln, Graz 1967, S. 193–229, hier S. 203f., 226. Vgl. z.B. Schumann, Detlev W.: „Briefe aus Auguste Stolbergs Jugend“. In: Goethe. N.F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 19 (1957), S. 240–297, hier S. 247f., der an Goethes Briefen an Augusta zu Stolberg die „Intensität“ und „Spontaneität“ sowie die im Vergleich zu den Briefen aus der Leipziger Zeit „vollere, reifere Kunst der Selbstaussage“ rühmt. Zwar anerkennt er so explizit den Kunstcharakter; indes ist diese Kunst aufs engste verknüpft mit der „Selbstaussage“ des realen Ich.
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Kestner und Charlotte Buff, an Augusta zu Stolberg handeln aber, so meine These, ganz wesentlich auch vom Phantasma der Liebe. Und zumindest Goethes Liebesbriefe, aber auf einer innerfiktionalen Ebene auch Werthers Liebesbriefe, sind anzusiedeln an einem Ort jenseits des Fiktiven wie Realen, im Imaginären. Wobei das Phantasmatische ausdrücklich nicht mit dem Phantastischen zu verwechseln ist, sondern eben jenen Bereich des Imaginären darstellt, des Möglichen und Denkbaren, zu welchem der Dichter als Spezialist in Sachen poiesis – wörtlich: Herstellung, und zwar: des Möglichen – ein prärogatives Zugangsrecht besitzt. Nun endlich zu Goethes Texten übergehend, ist vorab noch kurz die Frage des zugrundegelegten Materials zu klären. Benedikt Jeßing schreibt in seinem Überblick „Goethe als Briefschreiber“ im Goethe-Handbuch zu Beginn des Abschnitts „Liebesbriefe“: „Neben den drei Briefen an Charlotte Buff […] können nur die an Charlotte von Stein und an Christiane Vulpius als Liebesbriefe gelten“.40 Das ergäbe indes eine denkbar schmale Materialbasis für eine Betrachtung über den Goethe’schen Liebesbrief! Tatsächlich ist das Corpus ungleich größer, insbesondere mit Blick auf den jungen Goethe, nur handelt es sich weniger um Liebesbriefdialoge im klassischen Sinne, wie sie jene mit Stein und Vulpius darstellen. Und dennoch sind die Briefe des jungen Goethe ein essentieller Bestandteil seines Liebesbriefwerks, enthalten sie doch – zusammen mit dem Liebesbriefroman Die Leiden des jungen Werthers – ganz unverwechselbare, in der Geschichte des Liebesbriefs so noch nicht vernommene Fragmente einer neuen Sprache der Liebe, indem sie nicht allein immer wieder auf emphatische Weise Liebe wortreich bereden und semantisieren, sondern mehr noch, da fundamentaler, weil in diesen Briefen in vielen Zeilen Liebe als energetisch-libidinöser, teils narzisstischer Grundantrieb zu spüren ist (das, was im Sturm und Drang dann kulminiert im ekstatischen Seinsmodus der ‚ozeanischen Alliebe‘41). In Monologform formuliert Goethe in den Briefen bis 1775/76 eine Sprache der Liebe, die sich im dreipoligen 40
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Jeßing, Benedikt: „Goethe als Briefschreiber“. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto u. Peter Schmidt, Stuttgart, Weimar 1996–1999, Bd. 3, S. 430–473, hier S. 447. Vgl. exemplarisch den Brief vom 10. Mai zu Beginn des Werther, wo sich der Protagonist vom „Wehen des Alliebenden“ getragen fühlt (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm, 21 Bde., München 1985–1998, im Folgenden abgekürzt „MA“, hier MA 1.2, S. 199). Dazu auch Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/Main 1994, S. 31, der, einen Einwand Romain Rollands aufnehmend, mit Bezug auf die Empfindung des Religiösen folgende, oft zitierte Fügung geprägt hat: „ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem‘“.
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Kraftfeld bewegt von Authentizität, Fiktionalität und dem Imaginären. Es sind dies zugleich die drei Grundpfeiler, die Goethes gesamtes Schaffen wesentlich tragen. Er hat sie später auf die Formel Dichtung und Wahrheit gebracht, wobei Dichtung als Synonym für Fiktionalität und Wahrheit als ein Äquivalent zu Authentizität fungieren würde, während Goethe in der sog. „höheren Wahrheit“ eine Art dialektische Aufhebung der beiden Größen erblickt, was wiederum an das im Zwischenfeld von Fiktionalität und Authentizität positionierte Imaginäre denken lässt.42 Eine weitere Vorbemerkung: Das Folgende wird dreierlei dezidiert nicht sein: biographisch-psychologische Spurensuche, denn derlei detektivischer Positivismus ist nicht nur längst nicht mehr en vogue, sondern führt vor allem auch weg vom eigentlichen literarästhetischen Ereignis, das Goethes Liebesbriefwerk fraglos darstellt; auch soll weder der Versuch einer Analyse der jeweiligen Liebessemantik noch, damit zusammenhängend, der Stilistik der Goethe’schen Briefsprache der Liebe unternommen werden. Nicht nur was das Biographische anbelangt, auch hinsichtlich Liebessemantik und Stilistik sind die Korrespondenzen des jungen Goethe bereits mehr als erschöpfend beleuchtet worden. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die vorzüglichen Zusammenfassungen der Briefe an Behrisch / Catharina Schönkopf, an Charlotte Buff und Johann Christian Kestner oder an Augusta zu Stolberg in einschlägigen neueren Editionen von Goethes Briefwerk, z. B. von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe in der Hamburger Ausgabe der Briefe Goethes, von Wilhelm Große im ersten Band der zweiten Abteilung der Frankfurter GoetheAusgabe oder auch von den diversen Bearbeitern in der neuen historischkritischen Ausgabe der Briefe, die seit 2008 im Berliner Akademie Verlag erscheint.43 Liebesbriefe in diesem weiteren Sinne – die also explizit von Liebe handeln, sie thematisieren und/oder in denen Liebe als Grundimpuls wirksam ist – finden sich in der Korrespondenz mit der Schwester Cornelia, mit Behrisch bzw. Catharina Schönkopf, mit Friederike Brion bzw. Salzmann, mit Kestner bzw. Charlotte Buff, schließlich mit Augusta zu Stolberg bzw. Lili Schönemann. Für alle gilt mehr oder weniger: dass 42
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Dass in Goethes dezidiert realistischer Kunst (vgl. vom Vf.: „Goethes Realismus“. In: Merkur 677/678 (2005), Sonderheft: „Wirklichkeit! Wege in die Realität“, S. 930–940) diese Formel nicht nur auf seine autobiographische Kunst anzuwenden ist, zeigt sich im Brief an Johann Christian und Charlotte Krestner kurz nach Erscheinen des Werther, wo er diesen als „das unschuldige Gemisch von Wahrheit und Lüge“ (GB 2.1, S. 134) bezeichnet (wobei „Lüge“ hier nicht in einem moralischen Sinne zu verstehen ist, eher neutral, eben in semantischer Nähe zu „Dichtung“). Zur „höheren Wahrheit“ bei Goethe vgl. zu Eckermann 30.3.1831, in: MA 19, S. 446f. Vgl. auch den hervorragenden Überblick bei Vellusig: Schriftliche Gespräche, Kap. 6, S. 126– 152: „Verschriftlichung der ‚inneren Sprache‘. Die Briefe des jungen Goethe“.
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sie uns lediglich in monologischer Form zugänglich sind, da Briefe von der Gegenseite entweder nicht überliefert sind oder aber von Goethe bewusst vernichtet wurden. In monologischer Form ist aber auch der Briefroman Die Leiden des jungen Werthers gehalten – „Werther ist reiner Diskurs des liebenden Subjekts“, schreibt Roland Barthes,44 und er unterscheidet sich darin von der Mehrzahl der Briefromane des 18. Jahrhunderts, die, wie etwa Rousseaus Nouvelle Héloïse, polyperspektivisch angelegt sind. Diese monologische Form widerspricht einerseits der starken Adressatenbezogenheit des Briefschreibers Goethe, die ihm in der Forschung allgemein attestiert wird.45 Und selbstverständlich muss berücksichtigt werden, dass in der historischen Realität der Goethe’sche Liebesbrief stets Teil eines epistolaren Dialoges gewesen ist, Dialogizität mithin als ein elementarer Bestandteil der literarästhetischen Faktur zu gelten hat.46 Andererseits lenkt die monologische Form – die Goethe dem Brief auch allgemein zuschreibt, wenn er in Winckelmann und sein Jahrhundert diesen als „eine Art von Selbstgespräch“47 definiert – das Augenmerk eben auch auf den Umstand, dass die Goethe’sche poiesis der Liebe in Gestalt seines faktualen wie fiktionalen Briefwerks eben vor allem im Bereich des neuartigen individuellen Sprachausdrucks und der modernen Individualiätssemantik seine Wirkung hinterlassen hat. Die Briefe des jungen Goethe formulieren Fragmente einer neuen Sprache der Liebe zwar im Hinblick auf eine Liebe zum Andern bzw. zur Anderen, aber doch mit Nachdruck als eine Versprachlichung dessen, was im Selbst und seinen Gedanken und Gefühlen vor sich geht.
II. Der Brief an Behrisch vom 10.–14. November 1767: im „Paroxismus“ schreiben Das Imaginäre spielt im Brief an Behrisch vom 10. bis 14. November 1767 (GB 1.1, S. 111–118), der das Leipziger Verhältnis zu Catharina Schönkopf zum Gegenstand hat, in mehrerlei Hinsicht eine Rolle: sowohl auf der Ebene des Schreibens als auch auf jener des Ge- und Beschriebe44 45 46
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Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 208. Vgl. etwa Jeßing: Goethe als Briefschreiber, S. 438. Vgl. an Friedrich Heinrich Jacobi 21.8.1774: „Ich lese deine Epistel an die Akademisten noch einmal, entfalte mein Brieflein noch einmal dir zu sagen: dass zwar herrlich ist selbständig Gefühl, dass aber antwortend Gefühl würckender macht ist ewig wahr, und so danck deim guten Geist und so wohl unsern Geistern dass sie sich gleichen.“ (GB 2.1, S. 115). MA 6.2, S. 198.
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nen; besonders ist dies der Fall in der zentralen, vom Briefschreiber effektvoll inszenierten Episode mit dem Besuch in der „Comödie“ (GB 1.1, S. 113): das „Fernglaße“, das sich Goethe leiht, um die Geliebte in einer Loge mit einem vermeintlichen Rivalen zu beobachten, hat eigentlich den Zweck einer Sehhilfe, welche die Realität schärfer und genauer in den Blick bringt; doch rückt die Briefpoiesis dieses Instrument gleichzeitig in die Nähe eines imaginären optischen Mediums, das sich in der Grenzzone bewegt von Evidenz und Latenz, das also neben dem größer und schärfer Gesehenen eine tiefer verborgene, geheime Sinnschicht avisiert, die mit dem Wunschbegehren des Betrachters zu tun hat und die unter anderem das vielsagende Tränen der Augen bewirkt:48 Es ist dies die allem Empirischen zugrundeliegende, alle empirische Faktizität transzendierende imaginär-phantasmatische Dimension des Geschehens, die den Briefmonolog eigentlich steuert und in welcher das liebende Subjekt die Unendlichkeit und Unsicherheit der Zeichen näherhin zu fokussieren sucht – mit dem berühmten Blumenorakel Margaretes aus Faust I gesprochen, handelt es sich bei dieser Dimension um die Frage aller Fragen: „Er [bzw. sie, C. R.] liebt mich – liebt mich nicht.“49 Das imaginär-phantasmatische Augenglas – das „Augenglas der Liebe“, 50 wie es Goethe später einmal nennen wird – konfrontiert den Betrachter aber sowohl mit seinem eigenen abgründigen Begehren wie mit der Grundlosigkeit der Außenwelt, in welcher sich die Zeichen der Liebe in fortwährender Verschiebung befinden, der Perspektivierung unterliegen, wie das optische Instrument des Fernglases sinnfällig demonstriert (und auch in der Mise en abyme des Briefes im Brief zum Ausdruck kommt: „Was sind die Manspersonen / für seltsame Geschöpfe. Veränderlich, ohne zu wissen warum“, urteilt das „Billiet“ an „Mams. Ob.“ über den Überbringer Goethe, GB 1.1, S. 112). Hinzu kommt, dass sich diese Szene im Leipziger Komödienhaus einreiht in eine Vielzahl von literarisch inszenierten Liebesszenen, die, insbesondere in der Literatur des 19. Jahrhunderts (so etwa bei Balzac, Flaubert,
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„Es kamen mir tränen in die Augen, aber sie waren vom scharfen sehen“. Vgl. auch: „Das alles glaubte ich zu sehen. Ah mein Glas schmeichelte mir nicht so wie meine Seele, ich wünschte es zu sehen!“ (GB 1.1, S. 113f.) Zu dieser autosuggestiven Modellierung des Gesehenen vgl. auch später die glückliche, bestätigende Auflösung in der Erzählung der Geliebten: „O Behrisch, das alles, hatte ich mir gestern überredet, daß ich es gesehn hätte und nun sagte s i e es mir. S i e !“ (ebd., S. 116). Was die phantasmatisch-imaginäre Verzerrung durch ein Fernglas im Verein mit dem Begehren des Betrachters betrifft, ergeben sich auch Verbindungslinien zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. MA 6.1, S. 627 (V. 3181). MA 11.I.2, S. 93.
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Tolstoj51), das Theater zum Schauplatz haben und mit ihm das Verhältnis von Schein und Sein, Außen und Innen, Öffentlichem und Privatem, Sehen und Verbergen, empirisch Gegebenem und phantasmatischimaginärem Substrat thematisieren. Wenn der Liebende an einer Stelle des Briefes, an das durchs optische Medium Gesehene zurückdenkend, ekstatisch ausruft: „Oh Behrisch ich dachte mein Kopf spränge mir für Wuht“ – dann liegt die Ursache dafür vordergründig in der Eifersucht des vermeintlich kupierten Liebhabers, tiefer gehend aber hat diese „Wuht“ auch zu tun mit der aporetischen Konstellation des Liebesblicks: das Subjekt sucht ausgerechnet dort Eindeutigkeit, wo es selbst doch mittels des Fernglases das Gesehene von vornherein verzerrt und ins Irreale transformiert. Das Fernglas ist freilich nur eine Art artifizielles Vergrößerungsglas des natürlichen ‚Augenglases der Liebe‘, die phantasmatischimaginäre Verzerrung ist somit jederzeit notwendiges Konstituens im Zeichenspiel der Liebe.52 All die ekstatisch-exaltierten Gemütszustände, die der Briefschreiber be- und erschreibt: „Wuht“, „Fieber“, „Wollust“, „Rasen“, ‚Tollheit‘ (GB 1.1, S. 111–115) resultieren nicht zuletzt aus der Ohnmacht des liebenden Subjekts gegenüber diesem PhantasmatischImaginären. Der Paroxysmus, von dem die Rede ist – „Ich scheibe warlich im Fieber, warrlich im Paroxismus.“ (GB 1.1, S. 114) – bezeichnet gleichermaßen den Schreibakt wie die imaginär-phantasmatische Vorstellungswelt; der Paroxysmus des Imaginären, den das „Begehren“ des Subjekts antreibt (GB 1.1, S. 115), spiegelt sich im anfallartig-gesteigerten Schreiben und umgekehrt. Im Brief an Behrisch wird die fundamentale Instabilität der Zeichen schlussendlich dadurch sistiert, dass der Schreiber ein Happy End herbeiführt, indem die Geliebte ihn ihrer Liebe versichert. Der Paroxysmus des Imaginären weicht nun einem Paroxysmus der imaginären „Seeligkeit“: „mein Kopf schwindelt mir wie gestern, nur von was anders“ (GB 1.1, S. 116f.), nämlich von den eingehend be- und erschriebenen Wonnen der körperlich-erotischen Zweisamkeit, wie sie nach überstandender „Wuht“ und Raserei im Nirgendwo des Imaginären das Subjekt selig kalmieren und pazifizieren. Indes: der Briefschreiber ist sich der erzählerischen Konstruktion bewusst, er weiß, dass er ein „Werckgen“ (GB 1.1, S. 117) verfasst hat oder doch zumindest diese seine biographische Episode einem „Werckgen“ gleicht und dass somit Einbrüche des 51
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Michot, Pierre: „La soirée à l’Opéra: Etude d’un thème littéraire“. In: L’Opéra au XVIIIe siècle. Actes du colloque organisé à Aix-en-Provence par le Centre aixois d'études et de recherches sur le XVIIIe siècle les 29, 30 avril et 1. mai 1977, Aix-en-Provence 1982, S. 559– 576. Vgl. GB 1.1, S. 115: „Ha! alles Vergnugen liegt in uns. Wir sind unsre eigne Teufel, wir vertreiben uns aus unserm Paradiese.“
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unverfügbaren Imaginären keineswegs immer in einer erzählerischen „Ordnung“53 aufgefangen werden können. Das „Geschreibe“, das der Korrespondent am Schluss mit Blick auf den vielseitigen Brief halb belustigt, halb ungläubig konstatiert, ist somit sowohl ein Versuch, das Imaginäre zu bearbeiten wie es zugleich mitten in es hineinführt.
III. Die Briefe an Johann Christian Kestner und Charlotte Buff 1772–1774: „Traum“ – „Imagination“ – „Schattenbild“ In den Briefen an Johann Christian Kestner und Charlotte Buff artikuliert sich eine Vorstellung von Liebe, die typisch und repräsentativ ist für das 18. Jahrhundert: die Freundschaftsliebe; im Grenzbereich von philia und eros angesiedelt, hat der junge Goethe vor ihrem Hintergrund sowohl in Stella als auch im Briefroman Die Leiden des jungen Werthers54 den utopischen Gedanken einer Liebe zu dritt formuliert. Teil dieses komplizierten Dreiecks sind aber neben herzlicher, freundschaftlicher Verbundenheit unübersehbar libidinöse Energien, im Falle Goethes und Charlotte Buffs spiegelt sich das etwa in dem verliebten, fetischhaften Kult wider, den der Briefschreiber mit bestimmten Objekten betreibt, die der Sphäre der Geliebten zugehören. Kleidungs- und Schmuckstücke, Schattenrisse und anderes mehr werden ausgetauscht wie auch im buchstäblichen Sinne beschrieben. Und genau hier, gewissermaßen im Zwischenraum von Schrift und Gegenstand entstehen imaginative Freiräume. Gleich der erste überlieferte Brief, den Goethe am 25. / 26. September, zwei Wochen nach seinem Abschied aus Wetzlar, aus Frankfurt an die beiden schreibt, benennt wesentliche Züge dieser Liebeskorrespondenz, die insgesamt in einem freundschaftlichen Ton gehalten ist, jedoch hier und dort hinübergleitet in ein imaginäres Mehr. Traum – Imagination – Schattenbild: das sind die Stichworte, die es andeuten. „Lotte hat nicht von mir geträumt. Das nehm ich sehr übel, und will dass sie diese Nacht von mir träumen soll, diese Nacht, und solls Ihnen noch dazu nicht sagen.“ Der Eingang nimmt Bezug auf einen nicht überlieferten Brief Kestners und formuliert ein Motiv, das von nun an häufig in den Briefen an Kestner und Charlotte begegnet: die Verbundenheit mit der Geliebten in einer traumhaftimaginären Sphäre. Ein solches Verbindungsglied stellt auch „Lottens Schattenbild“ dar, das ebenfalls in diesem Brief auftaucht und ebenfalls zu einem Leitmotiv in der Korrespondenz wird. „Gute Nacht. Das sagt ich 53 54
Vgl. GB 1.1, S. 112: „ich will dir alles in der Ordnung erzählen“. Vgl. MA 1.2, S. 231f. (1. Teil, 10. August).
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auch eben an Lottens Schattenbild.“ Und am Schluss dieses verhältnismäßig kurzen Briefes fällt in Zusammenhang mit diesem Schattenbild schließlich der dritte zentrale Begriff: „Es wäre besser ich schriebe euch nicht, und liesse meine Imagination in Ruhe, – doch Da hängt die Silhouette das ist schlimmer als alles. Leben Sie wohl.“ (GB 1.1, S. 235f.) Lustvoll inszeniert der Briefschreiber im Fortgang des Briefwechsels ein Spiel mit der symbolisch-metaphorischen Verbundenheit über bestimmte fetischisierte Gegenstände (Schattenriss, Band, Kamm, Ring) und über die Traumsphäre. Das spielerische Moment weist das Ganze deutlich auch als ein neckisch-ironisches Divertimento unter Freunden aus. Andererseits überrascht denn doch die Offenheit, mit welcher Goethe sein Begehren gegenüber dem Bräutigam von Charlotte Buff kund tut.55 Ebenso charakteristisch wie der spielerisch-heitere ist ein zuweilen ganz ernster Tonfall, etwa wenn Goethe am Morgen des 25. Dezembers 1772 mit sakraler Andacht von den Porträtsilhouetten schreibt, die sein Zimmer schmücken (inzwischen hatte er auch einen Schattenriss von Charlottes jüngerer Schwester Helene erhalten): Gestern Nacht versprach ich schon meinen lieben zwei Schattengesichtern euch zu schreiben, sie schweben um mein Bett wie Engel Gottes. Ich hatte gleich bey meiner Ankunft Lottens Silhouette angesteckt, wie ich in Darmstadt war stellen sie mein Bett herein und siehe Lottens Bild steht zu Häupten das freute mich sehr […]. (GB 1.1, S. 250)
Die Silhouette oder auch Schattenriss zählt bekanntlich zu den modischen Erscheinungen der empfindsamen Kommunikations- und Dingkultur des späten 18. Jahrhunderts.56 Gleichzeitig stellen fetischisierte Objekte wie die Silhouette oder auch Locke, Brief, Träne u. a. m. phantasmatische Medien dar, d. h. solche, die die Zeichenproduktion explodieren lassen, die einen Overflow des Begehrens, der Lust (nicht zuletzt: der Schreiblust!) in Gang setzen und somit auf das Imaginäre katalysatorisch einwirken. Die Macht des Imaginären hängt so gleichermaßen zusammen mit der „Unsicherheit der Zeichen“57 wie mit der daraus resultierenden Unendlichkeit der Zeichen.58 Die Silhouette galt der Zeit um 1770 einerseits 55 56
57 58
Vgl. etwa den Brief an Kestner vom 14.4.1773: „Und unter uns ohne Pralerey ich versteh mich einigermassen auf die Mädgen“ (GB 2.1, S. 24). Vgl. einführend: Weiß, Ulrike: „‘treuer Schatten des Freundes‘. Die Porträt-Silhouette der Wertherzeit“. In: Goethes Lotte. Ein Frauenleben um 1800. Ausstellungskatalog Historisches Museum Hannover, München, Berlin 2003, S. 140–157. Vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 148–153 (Abschnitt „Physiognomik“). Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 258. Unendlich u.a. deshalb, weil zwischen Liebe und Betrug ein notwendiges Bündnis besteht, vgl. Schneider, Manfred: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München 1994, S. 12: „Dieses Buch durchquert mit kleinen Worten die riesige Geschichte der Vergeblichkeit,
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als „unmittelbarer Abdruck der Natur“,59 weshalb sie auch für Lavaters Physiognomik zum objektiven Beweismittel taugte; diese naturalistische Wahrhaftigkeit geht aber paradoxerweise Hand in Hand mit Stilisierung und Projektion. Denn in ihrer Betonung des Umrisses erinnert die Silhouette an die griechische Plastik, spielt doch zumal in der kunsttheoretischen Debatte der Zeit die (/der) Kontur eine eminente Rolle, impliziert diese ein Moment von formplastischer Bestimmtheit, und analog dazu fungiert in Lavaters physiognomischer Lehre der Umriss als Charakterlinie. Andererseits dient ihre unbestimmte, monochrome Form auch als Projektionsfläche für die Phantasie des Betrachters. Der junge Goethe nahm intensiv Teil an der Silhouettenmode: als Beiträger für Lavaters Physiognomische Fragmente ebenso wie im privaten Briefverkehr werden Schattenrisse angefertigt, gesammelt, ausgetauscht. Wichtig ist auch hier, unabhängig vom modischen Aspekt, das imaginative, phantasmatische Moment. Rückblickend schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit: „Zu jener Zeit aber ging bei mir das Dichten und Bilden unaufhaltsam miteinander. Ich zeichnete die Potraite meiner Freunde im Profil auf grau Papier mit weißer und schwarzer Kreide.“60 „Der Dichter verwandelt das Leben in ein Bild“61 – diese ethisch-ästhetische Formel aus den Paralipomena zu Dichtung und Wahrheit gilt nicht nur für sein autobiographisches Schreiben, sondern für Goethes literarisch-künstlerisches Schaffen überhaupt. Die bildnerische Verwandlung ist aber gleichbedeutend mit einer Transformation ins Imaginäre, dieses verstanden als eine Sphäre, die im Wesentlichen aus Bilderschein besteht. Die Silhouette mit ihrem paradoxen Doppelcharakter von Bestimmtheit (der Kontur) und Unbestimmtheit (der ‚blinden‘ Fläche) führt den Mechanismus des Imaginären explizit vor Augen: sie setzt ganz ebenso wie das Imaginäre einen unendlichen Zeichenprozess in Gang, an dem sich der Liebende lustvoll abarbeiten kann. Phantasmatische Objekte und Medien wie Schattenriss, Locke oder auch der Brief selbst haben also vor allem eine katalysatorische Funktion: sie beschleunigen, intensivieren das Imaginäre. Für die Kommunikation und Semantik von Liebe ist das Imaginäre aber deshalb von so großer Bedeutung, weil nur in ihm das Begehren des Liebenden sich ganz zu artikulieren vermag. Wenn Liebe tatsächlich eine Explosion der Zeichen ist, dann ereignet sie sich vor allem
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die Worte und Zeichen der Liebe festzulegen – auf eine wahre Grammatik oder eine verbindliche Semiotik oder eine untrügliche Sprache der Erregungen.“ Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775–1778 (Reprint Zürich 1968), hier Bd. 2, S. 90. MA 16, S. 682. Ebd., S. 847.
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im Imaginären und im Fiktiven als einer Sphäre, in welcher das Verlangen poetischen Ausdruck findet. Im zitierten Brief an Kestner vom Morgen des ersten Weihnachtstages 1772 findet dieses imaginäre Begehren sein Echo in einer komplexen Metapher: Aber meine lieben Mädgen. Lotte ist auch da und Lenchen auch. Sagen Sie Lenchen ich wünschte so sehnlich zu kommen und ihr die Hände zu küssen als der Musier der so herzinnigliche Briefe schreibt. das ist gar ein armseelicher Herre. Ich wollte meiner Tochter ein Deckbette mit solchen Billetdous füttern und füllen, und sie sollte so ruhig drunter schlafen wie ein Kind. Meine Schwester hat herzlich gelacht, sie hat von ihrer Jugend her auch noch dergleichen. (GB 1.1, S. 252)
Manches an dieser Passage ist dunkel – etwa wer sich hinter dem „Herre“ verbirgt, der Charlotte Buffs Schwester Helene „herzinnigliche Briefe“ schreibt –, doch soll hier nur das Bild von einer mit Liebesbriefen gefüllten und gefütterten Bettdecke interessieren: der Brief driftet mit dieser Metapher ins Imaginäre, indem er das Briefschreiben mit einer liebesmagisch-erotischen, thaumaturgischen Wirksamkeit versieht. Die gesamte Liebesbriefkorrespondenz des jungen Goethe ließe sich in gewisser Weise als das Phantasma einer wunderkräftigen, mit Liebesbriefen gefütterten Bettdecke begreifen.
IV. Die Leiden des jungen Werthers: die „Lücke“ und das Imaginäre Werther und das Imaginäre / das Imaginative – im Briefroman von 1774 firmiert es explizit unter dem Namen „Einbildungskraft“. Von der „Emsigkeit der Einbildungskraft“ ist bereits im ersten Brief die Rede, später, im Brief vom 26. Oktober im 2. Teil, attestiert sich der Protagonist selbst eine „lebhafte Einbildungskraft“ (MA 1.2, S. 197, 265). Diese Eigenschaft verbindet ihn mit anderen Repräsentanten moderner Individualität im Werk Goethes, etwa mit dem jugendlichen Wilhelm Meister, und sie verweist in dieser Form zugleich auf einen wichtigen problematischen Grundzug moderner Subjektivität: auf die Überspanntheit dieses Vermögens, 62 die zwangsläufig ein spannungsvolles und konfliktreiches Verhältnis zur Wirklichkeit nach sich zieht. Eine in der Forschung für gewöhn62
Vgl. an Augusta zu Stolberg 14.–19.9.1775: „O Gustgen! Wird mein Herz endlich einmal in ergreifendem wahren Genuss und Leiden, die Seeligkeit die Menschen gegönnt ward, empfinden, und nicht immer auf den Wogen der Einbildungskrafft und überspannten Sinnlichkeit, Himmel auf und Höllen ab getrieben werden.“ (GB 2.1, S. 216).
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lich nicht sonderlich beachtete Passage des zweiten Teils des Romans führt in nuce die Funktionsmechanismen des Imaginären vor Augen und verdeutlicht zugleich, auf der deskriptiven wie performativen Ebene, das Problematische daran. Werther besucht nach dem Abschied aus der Residenz, wo er als Gesandtschaftssekretär scheiterte, seine Heimatstadt, und die Briefschrift redupliziert dabei auf sentimentalische Weise eine zentrale Kindheits- bzw. Jugenderinnerung: Ich erinnere mich so lebhaft, wenn ich manchmal stand [sc. am Fluss seines Heimatortes], und dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahndungen ich das verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da so bald Grenzen meiner Vorstellungskraft fand, und doch mußte das weiter gehn, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne verlor. (MA 1.2, S. 259)
Das Zitat benennt ein konstitutives Element des Imaginären, ohne welches es sofort in sich zusammenfallen würde: die unsichtbare Ferne, ungreifbar und auratisch, uneinholbar und doch gegenwärtig, fern und gleichzeitig nah. Diese Ferne begegnet wenig darauf unter der Bezeichnung „Lücke“: „Ach diese Lücke!“ heißt es im Brief vom 19. Oktober. „Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle!“ In dieser kurzen Notiz ist es, kaum verwunderlich, die Geliebte, welche dazu berufen ist, die Leere auszufüllen. Freilich in der Form des irrealen Konjunktivs II: „[…] ich denke oft! – Wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drücken könntest. All diese Lücke würde ausgefüllt sein.“ (MA 1.2, S. 264f.) So wird deutlich, dass die Lücke, der Mangel, den Werther in seiner Brust, im Herzen fühlt, einzig durch und im Imaginären geschlossen werden könnte, wodurch sich paradoxer- und bezeichnenderweise die Lücke zugleich ins Unendliche ausweiten würde, denn das Imaginäre kennt keine Grenzen, es ist ebenso unfassbar wie unverfügbar. An anderer Stelle benennt Werther mit der „Fülle des Herzens“ (MA 1.2, S. 251) das imaginäre Gegenphantasma zu einem Dasein voller Mangel, Einschränkung und Entfremdung. Dabei ist wichtig zu betonen, dass dieses Imaginäre, Phantasmatische kein rein fiktives Moment ist, es basiert auf ephemeren Ausnahmezuständen des realen Daseins, wie sie der Text etwa im berühmten Naturhymnus im Brief vom 10. Mai zu Beginn des Romans schildert, in Gestalt einer erfüllten, ‚vollen‘, weil alliebenden Existenz. Ein solches reales Fundament einer imaginären Drift kommt auch zum Ausdruck, wenn sich der Held im Brief vom 17. Mai (1. Teil) einer vergangenen Liebe erinnert: „Aber ich hab sie [sc. „die Freundin meiner Jugend“] gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein als ich war, weil ich alles war was ich sein konn-
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te.“ (MA 1.2, S. 202) Es gehört indes zur Komplexität moderner Identität, dass solche Erfahrungen nicht zu haben sind ohne das „Ich denke“63 bzw. ‚Ich fühle‘, das immer dabei sein muss, so dass durch den subjektiven, reflexiven Faktor das Individuum immer wieder auch Gefahr läuft, „Phantomen“ aufzusitzen, die reines Zauberblendwerk der Liebe und des Herzens sind, wie es an einer Stelle mit eindeutig warnendem suggestivem Unterton heißt.64 Zu groß aber ist das Versprechen, das vom Imaginären ausgeht und das desto machtvoller wirkt, je tabuisierter und unmöglicher seine Einlösung scheint, als dass das Individuum, zumal das moderne, schwankende, überspannte, freiwillig auf es Verzicht leisten würde. Auf substitutiv-symbolische Weise – durchaus im Sinne Korschorkes und seiner Substitutionsthese – agiert der Held des Briefromans so immer wieder den Sog, den das Imaginäre erzeugt, in Form von Ersatz- und Kompensationshandlungen aus. Gerhard Neumann in seiner Profilierung des Werther als einem prototypischen Roman der Moderne bringt hier den Begriff des Taumels ins Spiel, 65 und er kann sich u. a. auf den Text selbst stützen, der gegen Ende vom „Taumel des Todes“ (MA 1.2, S. 297) spricht, in welchen Werther sich nun mehr als bereitwillig stürzt. Taumel, Wirbel, Auflösung: es sind dies Bewegungsmomente, die aus der Sicht des Helden von der Bedingtheit und individuierten Beschränktheit des Realen wegführen und die hineinführen in ein imaginäres Phantasma der metaphysischen Vereinigung, der universellen und eternellen Aufhebung des principium individuationis, wie sie Werther etwa im erwähnten Brief vom 10. Mai modellhaft poetisch inszeniert. Im Roman findet dieser Taumel ins Imaginäre in einem Dingsymbol Ausdruck, das sich einreiht in die genannten Fetisch-Objekte der Empfindsamkeit. „Lob der Tränen“ hat Roland Barthes eines seiner Redebruchstücke in den Fragmenten einer Sprache der Liebe überschrieben, und diese Figur führt einmal mehr auch Werther als Gewährsmann an: „Die geringste liebende Gefühlsregung, aus Glück oder Kummer, versetzt Werther in Tränen. Werther weint häufig, sehr häufig und ausgiebig.“66 Zum Beispiel in der berühmten KlopstockSzene, wenn er die Hand Lottes „unter den wonnevollesten Tränen“ (MA
63 64
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Kant, Immanuel: „Kritik der reinen Vernunft“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, Bd. 3, S. 136. MA 1.2, S. 227. Zur Metapher der „Zauberlaterne“ (ebd.) vgl. auch den 1. Akt von Faust II, wo der Titelheld in der Szene „Rittersaal“ mittels einer Laterna magica Geistererscheinungen und also gefährliche Trugbilder produziert (MA 18.1, S. 162–168). Neumann, Gerhard: „Goethes Werther. Die Geburt des modernen europäischen Romans“. In: Johann Wolfgang Goethe: Romane und theoretische Schriften. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Bernd Hamacher und Rüdiger Nutt-Kofoth, Darmstadt 2007, S. 16–37. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 251.
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1.2, S. 215) küsst. Die Szene hat ihr Gegenstück im zweiten Teil im gemeinsamen Ossian-Erlebnis: Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepreßten Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang, er warf das Papier hin, und faßte ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. […] Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schicksal der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen vereinigten sie. (MA 1.2, S. 290)
Die imaginären, erotisch-orgastischen Implikationen dieser Szenen treten deutlich zutage, die Vereinigung im Fluss der Tränen – archaische, fluidale Verschmelzungswünsche aufgreifend67 – stellt letztlich eine weitere Facette des Begehrens nach der Schließung der allgemeinen „Lücke“ im Dasein dar, hier in Form eines eruptiven, orgiastischen Vereinigungsphantasmas.68 Mit Barthes zu sprechen: „Wenn er [sc. der Liebende] seine Tränen zwanglos verausgabt, befolgt er die Weisungen des Körpers des Liebenden, eines tränenbenetzten, in fließender Ausdehnung begriffenen Körpers: gemeinsam weinen, gemeinsam fließen“.69 Zu betonen ist, dass es sich hierbei um eine Vereinigung im Imaginären handelt, die jedoch gleichwohl von realer Wirkmächtigkeit ist. Der mit imaginärer Energie vollgeladene Liebende Werther – „der Gottheit des Imaginären geweiht“, den „Lüsten seines Imaginären“70 ausgesetzt – entwickelt auch an anderer Stelle das Phantasma Körperkontakt, so im Brief vom 16. Juli im 1. Teil, in dem Werther flüchtige Berührungen mit der Geliebten schildert bzw. imaginiert. Die Imagination von Körperkontakt zielt dabei jedoch weniger auf die Herstellung von physischer Unmittelbarkeit, sondern diese Szenen führen kreisschlüssig zurück ins Imaginäre, ins Phantasmatische, sie stellen ein „unerschöpfliches Romanmaterial“ dar, denn sie produzieren unendlich Zeichen und führen zu einem „Fest, nicht der Sinne, sondern des Sinnes“.71 Solche und andere Stellen, an denen das Imaginäre in Erscheinung tritt, entziehen sich der passgenauen Zuordnung zu den Kategorien der Authentizität oder Fiktionalität. Sie sind von beidem etwas, und hierbei macht es keinen wirklichen Unterschied, ob es sich beim zugrundegelegten Text um das autobiographische Dokument eines Briefes handelt oder um den fiktiven Text eines Romans. Denn nochmals: indem diese Texte 67 68 69 70 71
Vgl. Theweleit: Männerphantasien 1, S. 256–297. Vgl. auch den Traum vom 17. Dezember im 2. Teil, der eine erotische Vereinigung imaginiert und dabei ebenfalls mit dem Tränenphantasma spielt (MA 1.2, S. 274f.). Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 251; vgl. dazu auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 87–94 (Abschnitt „Tränenflüsse“). Ebd., S. 194, 19. Ebd., S. 59.
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im Imaginären spielen, mit dem Imaginären spielen, sind sie beides, authentisch und fiktional, und doch beides nicht richtig, sondern eben: imaginär, also unendlich wirksam, inkommensurabel-produktiv, unaufhörlich Zeichen produzierend. Brief und Briefroman aber sind durch ihre gattungshistorisch bedingte Flexibilität und Offenheit die adäquaten Medien, den Fluss des Imaginären ständig aufrecht zu erhalten. Dieses unendlich fließende, flutende Imaginäre – man denke an Werthers zitierte Kindheitserinnerung – ist aber aber nichts anderes als das Imaginäre und das Phantasma der Liebe: in unsichtbarer Ferne übt es eine magische Anziehungskraft aus. Liebe und Literatur kommen darin überein, dass sie in hohem Grade mit diesem Imaginären interferieren. Der Liebende, so resümiert Barthes in einem seiner Fragmente einer Sprache der Liebe, liebt nicht den Andern, sondern die Liebe: „Die Liebe lieben“, lautet die Gleichung. Analog dazu ließe sich die Formel formulieren: „Das Imaginäre lieben“, insofern das liebende Individuum dort seinen Ausgangs- und Zielort hat und umgekehrt die Trauer um den Verlust des Geliebten „die Trauer um das Imaginäre selbst“ ist.72 Der Liebende gleicht so in gewisser Weise dem autistischen Träumer, der sich in einer selbstbezüglichen Endlosbewegung nicht vom Fleck (des Imaginären) bewegt. Wenn ich Liebe sage, so versteh ich die wiegende Empfindung, in der unser Herz schwimmt, immer auf Einem Fleck sich hin und her bewegt, wenn irgend ein Reitz es aus der gewöhnlichen Bahn der Gleichgültigkeit gerückt hat. Wir sind wie Kinder auf dem Schaukelpferde immer in Bewegung, immer in Arbeit, und nimmer vom Fleck. Das ist das wahrste Bild eines Liebhabers.73
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Ebd., S. 85f. An Anna Catharina Fabricius? 27.6.1770 (GB 1.1, S. 194).
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„Ich bin das Blatt auf das die Erinnerung alle Seeligkeit geäzt“ Der Liebesbrief als pseudonymes Medium (Bettine von Arnim und Hermann von Pückler-Muskau) Der Liebesbrief als pseudonymes Medium
I. Brief und Autorschaft „Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor“.1 Mit dieser These Michel Foucaults könnte man die Betrachtung der zwischen Bettine von Arnim und Hermann von Pückler-Muskau in der Zeit von 1832-1835 gewechselten Briefe als pseudonyme Medien für hinfällig erachten. Denn Pseudonymität wird üblicherweise mit der Publikation eines Textes unter falschem Namen assoziiert – eine Assoziation, die laut Foucault deshalb fehlginge, weil Briefen kein Werkstatus zukomme. Nun hat Foucaults Diktum außer Bestätigungen auch Widerspruch erfahren, wurde relativiert und weiter ausdifferenziert: von Seiten der Autorschaftsforschung,2 der Briefforschung,3 und der Forschungen zu Frauen, deren Werk während ihres Lebens entweder gar nicht, oder anonym oder pseudonym erschienen ist wie etwa das von Rahel Varnhagen und Bettine von Arnim.4 In Bezug auf Bettine von Arnim ist sich die neuere Forschung 1 2
3 4
Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“ [1969]. Üb. Karin von Hofer. In: Schriften zur Literatur. Frankfurt/Main 1991, S. 7–31, hier S. 17. Vgl. stellvertretend für ein neuerwachtes Interesse am Konzept Autorschaft: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. v. Fotis Jannidis u.a. Tübingen 1999; Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart 2003; Spielräume des auktorialen Diskurses. Hg. von Klaus Städtke [u.a.] Berlin 2003. Strobel, Jochen (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006, v.a. Strobels gleichnamiges Vorwort, S. 7–32. Vgl. dazu v.a. Barbara Hahn, die mit Kittler und Foucault zwar grundsätzlich davon ausgeht, dass „Briefeschreiben“ und „Autorschaft“ nach zeitgenössischem Verständnis einander ausschließen, zugleich aber Beispiele für Abweichungen von dieser Regel untersucht in: „‚Weiber verstehen alles à la lettre‘. Briefkultur im beginnenden 19. Jahrhundert“. In: Deutsche Literatur von Frauen. Hg. v. Gisela Brinker-Gabler. München 1988, Bd. 1, S. 13– 27; „Rahel Levin Varnhagen und Bettine von Arnim: Briefe, Bücher, Biographien“. In:
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hinsichtlich der absichtsvollen Konzeption ihrer Briefbücher, in denen sie reale Briefe überarbeitet und fingierte eigene sowie realen Personen zugeschriebene einfügt, weitgehend einig.5 Nicht einig ist man sich darin, wie Bettines Verfahren zu verstehen und zu bewerten ist: ob mit Kittler als Absage an eine männlich definierte Autorschaft,6 ob mit Hahn und Bunzel7 vor allem als Unterwanderung oder Verweigerung des traditionellen Autorschaftskonzeptes – wobei Bunzel das Festhalten an der Gattung Brief als Rückgriff auf ein älteres, der Autonomieästhetik vorausliegendes Literaturkonzept interpretiert, mit dem Bettine die Literatur an das Leben zurückbinden wolle,8 während Hahn in Bettines Briefbüchern eher eine in die Zukunft gerichtete Schreibstrategie am Werk sieht9 – oder ob man es schließlich mit Greiner10 und Landfester11 als Neudefinition von Autor-
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Frauen – Literatur – Politik. Hg. v. Annegret Pelz u.a. Hamburg 1988, S. 115–131; „Brief und Werk. Zur Konstitution von Autorschaft um 1800“. In: Autorschaft. Genius und Genie in der Zeit um 1800. Hg. v. Ina Schabert und Barbara Schaff. Berlin 1994, S. 145–156, worin Hahn das Buch des Andenkens, als „endlosen und erweiterbaren Text“ und als „Dokument eines neuen Genres“ zu lesen vorschlägt (S. 148–149); Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. 6 Bde. Hg. v. Barbara Hahn. Göttingen 2011. Vgl. schon Liebertz-Grün, Ursula: Ordnung im Chaos. Studien zur Poetik Bettine Brentano-von Arnim. Heidelberg 1989, die gegenüber einer ehemals vorrangig biographisch orientierten Forschung zu Bettine Brentano/von Arnim den Kunstcharakter der Briefbücher und das aus ihnen sprechende poetische Programm herausarbeitet; sowie Kommentar und Bibliographie zu Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde [1835]. Hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt/Main 1992, im Folgenden zitiert als GBw. Vgl. Kittler, Friedrich: Dichter · Mutter · Kind. München 1991, S. 219–257, der sich für seine Argumentation auf eine frühe Weigerung Bettine Brentanos, einmal von ihr geschriebene Briefe erneut zu lesen, beruft (ebd. S. 220) und dies als paradigmatische Absage an die für Frauen im 18. und 19. Jahrhundert vorgesehene Rolle einer Leserin der von Männern geschriebenen Literatur deutet; vgl. auch Ders.: Aufschreibesysteme 1800 · 1900. Vierte, vollst. überarb. Neuaufl. München 2003 [11985], S. 156–160. Vgl. Wolfgang Bunzel: „Schrift und Leben. Formen der Subversion von Autorschaft in der weiblichen Briefkultur um 1800“. In: Strobel: Verkehr mit Dichtern und Gespenstern (Anm. 3), S. 157–176. Vgl. ebd. S. 173–174, worin Bunzel sich mit der Deutung, Bettines Beschränkung auf die lebensnahen Textsorten Brief und Gespräch seien als „Akt bewusster Verweigerung“ dem geltenden ästhetischen Kanon gegenüber zu verstehen, v.a. auf Christa Wolf („Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an. Ein Brief über die Bettine“. In: Bettina von Arnim: Die Günderode. Frankfurt/Main 1983, S. 545–584), und Christa Bürger (Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990) beruft. „Alle Bücher Rahels und Bettines wenden sich an die Nachwelt und bilden somit eine Klammer zwischen der Auf- und Umbruchszeit am Anfang des 19. Jahrhunderts bis hin zu einer Zeit, in der sie lesbar sein werden.“ Hahn: „Rahel Levin“ (Anm. 4), S. 123. Greiner, Bernhard: „Echo-Rede und ‚Lesen‘ Ruths. Die Begründung von Autorschaft in Bettina von Arnims Roman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“. In: DVjs 70 (1996), S. 48– 66.
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schaft auf der Basis einer neuen Mythopoetik verstehen will, die den traditionellen, auf Narziss zurückgehenden Künstlermythos der inneren Geschlossenheit gegen eine Echo-Poetik ohne ersten Sprecher vertausche – eine Poetik, die im dialogischen Austausch mit dem jeweiligen Gegenüber Geist beziehungsweise Imagination entbinde und befreie.12 Das Fehlen des ‚ersten Sprechers‘ meint dabei die absichtsvoll hergestellte Vertauschung der Chronologie in den fiktionalisierten Briefen an Goethe aus Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde.13 In diesen Briefen entwirft sich die Schreiberin als Adressatin von Werken, die erst zu einem historisch späteren Datum als dem des originalen Briefwechsels zwischen Bettine Brentano und Goethe entstanden und oft an andere Frauen gerichtet sind. Durch die in Bettines Briefbuch vorgenommene Vertauschung der Datierung erscheinen Goethes eigene Zuschreibungen seiner Gedichte an Minna Herzlieb oder Marianne Willemer als nachträglich von ihm – etwa aus Gründen der Diskretion – stammende Umwidmungen von Dichtungen, die sich ursprünglich an Bettine gerichtet hätten.14 Die genannten Forschungsergebnisse zu Bettine von Arnim beziehen sich fast ausschließlich auf ihre Briefbücher, insbesondere das erste unter ihnen, Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde von 1835. Der mit dieser Veröffentlichung in engem Zusammenhang stehende Briefwechsel zwischen Bettine und Pückler hat dagegen innerhalb der Forschung bislang nur eine marginale Rolle gespielt.15 Der vorliegende Beitrag richtet sich auf diese 11
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Landfester, Ulrike: „Echo schreibt Narziß. Bettine von Arnims Mythopoetik des schöpferischen Dialogs und Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835)“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 9 (1999), S. 161–191. Während Greiner jedoch in Bettines Echopoetik den ‚Verlust‘ der ersten Stimme hervorhebt und die Verknüpfung dieser Echopoetik mit dem Buch Ruth als ein Verfahren interpretiert, das es Bettine ermögliche, sich in eine männliche Genealogie (von Autoren) einzuschreiben, ist es nach Landfester Echo selbst, der Bettine die Position des ersten Sprechers zuweise und damit die eigene Autorschaft begründe. Anonym erschienene Erstausgabe: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Seinem Denkmal. 3 Bde. Berlin: Dümmler 1835. Zu den poetologischen Implikationen von Bettines Umgang mit Goethes Dichtungen in ihren Briefen vgl. auch Wallenborn, Markus: Frauen. Dichten. Goethe. Die produktive GoetheRezeption bei Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim. Tübingen 2006. Als Beispiele für die Berücksichtigung des Briefwechsels mit Pückler nicht allein, wenn auch vorrangig, aus biographisch-werkgeschichtlicher Perspektive vgl. Gajek, Enid: „Die Bedeutung des Fürsten Hermann Pückler für Bettine“. In: „Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen …“. Bettine von Arnim. 1785–1895. Katalog Freies Deutsches Hochstift. Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt/Main 1985, S. 253–260, die zuerst eine Vielzahl der im Hochstift lagernden Briefe der Korrespondenz wiedergibt, die in der ersten Edition des Briefwechsels durch Assings fehlen; und Günter Helmes: „‚Du bist ein Fuchs, Bettinchen!‘ Bettine von Arnims Briefwechsel mit dem Fürsten Pückler und Julius Döring und Dieter Kühns Bettines letzte Liebschaften“. In: Dieter Kühn. Hg. v. Werner Klüppelholz. Frankfurt/Main 1992, S. 191–205.
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Lücke, zielt jedoch nicht erneut auf die Briefe als Mosaiksteinchen im zu rekonstruierenden Entstehungszusammenhang des Goethebuches, sondern auf den Briefwechsel Arnim/Pückler selbst, der nicht in seiner Rolle als Vorstufe zu Bettines literarischem Erstling aufgeht – und kehrt damit die bisherige Forschungsperspektive um. Die Briefe lassen Schreib- und Inszenierungsstrategien erkennen, die nach Art eines epistolären Paragone Möglichkeiten und Grenzen postalischer (Liebes-)Kommunikation durchspielen. Zwar sollen die Briefe den Aussagen der Korrespondenten zufolge keine Liebesbriefe im gewöhnlichen Sinne sein, sind es nach Inhalt und Sprechweise aber durchaus. In jedem Falle erlaubt es die in den Briefen geführte Liebessprache, sie im Kontext des Liebesbriefs zu behandeln. Mit Bezug auf die untersuchte Korrespondenz lässt sich die eingangs zitierte These Foucaults bereits durch dessen eigene Definition der „Diskurse mit der Funktion Autor“ relativieren, denen er eine „Ego-Pluralität“ attestiert:16 „die Funktion Autor […] verweist nicht einfach auf ein reales Individuum, sie kann gleichzeitig mehreren Egos in mehreren SubjektStellungen Raum geben, die von verschiedenen Gruppen von Individuen besetzt werden können.“17 Die Briefe Bettines und Pücklers weisen nicht nur eine solche „Ego-Pluralität“ in hohem Maße auf, sie reflektieren sie zugleich – und das nicht allein mit den Mitteln der Schrift. Diese EgoPluralität im Brief hat auch editorische Konsequenzen, wie an einem Beispiel zu illustrieren sein wird.
II. Pseudonyme Inszenierung Die Korrespondenten inszenieren mittels Papier, Tinte, Briefgestaltung und einer Fülle von Beigaben – die nicht immer erhalten, aber oft rekonstruierbar sind – ein Briefgespräch, das sich in Teilen und auf verschiedenen Verstehensebenen als ein pseudonymer schriftlicher Dialog zu erkennen gibt. Für die Betrachtung dieses Dialogs anhand konkreter Auszüge und Bildbeispiele greife ich auf die jüngeren Anregungen der Briefforschung zurück, die die Objekt- und aus den Briefen ablesbare und in sie eingeschriebene Ereignishaftigkeit verstärkt ins Bewusstsein gerückt hat.18 16 17 18
Foucault: Was ist ein Autor (Anm. 1), S. 22. Ebd. S. 23. Vgl. Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter. Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt/Main, Basel 2008; und Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Hg. v. Waltraud Wiethölter und Anne Bohnenkamp. Frankfurt/Main, Basel 2010, sowie meine Besprechung der Bände in: GRM 62 (2012), S. 122–127.
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Pseudonymität ist im Folgenden nicht allein auf die Briefschreiber zu beziehen, die sich dem Gegenüber in verschiedenen Rollen präsentieren. Sie erstreckt sich auch auf die Adressaten der Briefe, die unter anderem Namen angeredet werden. Die Bezeichnung der Briefe als pseudonyme Medien betrifft damit sowohl das Absenden wie das Empfangen und Rezipieren von Briefen unter falschem Namen. ‚Inszenierung‘ und ‚Selbstinszenierung‘ sind im Folgenden in einem neutralen Sinne zu verstehen. Sie implizieren weder ein moralisches Verdikt in Bezug auf eine traditionell vom Brief, insbesondere dem Liebesbrief erwartete, hier aber womöglich verweigerte Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit, noch eine den Schreibern unterstellte effekthascherische Theatralität.19 In Abwandlung von Watzlawiks Aussage, dass man nicht nicht kommunizieren könne,20 gehe ich davon aus, dass man sich als gesellschaftliches Wesen nicht nicht inszenieren kann, dass man in der Gesellschaft immer zugewiesenen oder selbstgewählten Rollenmustern folgt, die sowohl für die mündliche wie die schriftliche Kommunikation und selbst dort gelten, wo das erklärte Vertrauen der Korrespondenten ein solches Rollenspiel als aufgehoben ansieht.21 Rollen-Übernahmen und -Zuschreibungen können aus dem erwartbaren Verhaltenskodex des gesellschaftlichen Umfelds mehr oder weniger herausstechen. Die Frage nach möglichen Gründen für eine Rollenwahl verspricht Aufschlüsse über die von den Briefen und ihren Schreibern verfolgten Strategien. Sie stellt sich insbesondere in Hinblick auf Bettine, die als Witwe ihres Mannes Achim von Arnim und Mutter ihrer Kinder in vielfacher Hinsicht von den für sie vorgesehenen gesellschaftlichen und brieflichen Rollen abweicht. Pseudonymität dient im hier umrissenen Zusammenhang von Brief und Werk, Verfasser- und Autorschaft als Indikator für die Erkenntnis der funktionellen Differenzierung des Individuums in unterschiedlichen Rollen (bei dennoch vorhandenem Bewusstsein, ‚in-dividual‘ zu sein). Die 19
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Zur Infragestellung geltender Entgegensetzungen von Authentizität und Inszenierung vgl. grundlegend Fischer-Lichte, Erika: „Inszenierung und Theatralität“. In: Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Hg. von Herbert Willems und Martin Jurga. Wiesbaden 1998, S. 81–90. „One cannot not communicate.“ Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson. Pragmatics of Human Communication. New York 1967, S. 51. Zu der in die argumentative Sackgasse führenden Frage nach wahrer oder vermeintlicher Authentizität im Zusammenhang von Briefen vgl. Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u.a. 2000, S. 156–157; zur Fruchtbarmachung einer Theorie medialer Performativität für die Herausarbeitung brieflicher Inszenierung vgl. Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, v.a. S. 33–38 und passim.
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unter Pseudonym geschriebenen oder empfangenen Briefe verstehen, reflektieren und instrumentalisieren selbst bereits den Wechsel der Namen und Identitäten für die in das Briefnetz verwobenen Schreiber-Ichs und Adressaten als bewusste Grenzüberschreitung, die persönliche wie ästhetische Freiräume erobert. Die Briefe veranschaulichen dabei zugleich die Notwendigkeit identifizierbarer Rollenmuster als Grundlage derartiger Grenzüberschreitungen. Der Brief, der einer festgelegten Dramaturgie aus Schreiben, Senden, Empfangen und Lesen gehorcht, ist die Bühne auf der die Schreiber mit Hilfe des ihnen zur Verfügung stehenden Zeichenmaterials Choreographien entwerfen, die diesen festgelegten Rahmen in je anderer Weise erweitern oder bewusst reduzieren.
III. Brief-Exempla III.1 Brief, Totenmaske und Federschmuck. Auferstehung und künstlerischer Rollentausch Die überlieferte Korrespondenz zwischen Bettine und Pückler beginnt am 23. Januar 1832 mit einem undatierten Billet Pücklers an Bettine (Abb. 1a und 1b). Sie erhält dieses Billet durch Karl August Varnhagen von Ense, der die dazugehörigen Beigaben – ein Tintenfass aus Gips in der Form eines Totenschädels und ein Strauß Schreibfedern – auf dem Schreiben vermerkt hat. (Abb. 2) [1r] Liebenswürdige Prophetin! Und, rief der Sperling, fort und fort | den eitlen Fuhrmann umkrei- | send, ich sage Dir, es hilft Dir | alles nichts. Du mußt sterben! Aber da zog der Fuhrmann die | weite Kappe, mit einigen Schellen | versehen, vom Haupte, und siehe – | es war ein Todtenschädel. Leider jedoch hattest Du, hohe | Seherin, ihn schon lange vorher | belehrt, daß, lebend wie ver- | storben, es diesem seinen Schädel | immer hauptsächlich an Gehirn | gefehlt hatte, eine wohlthätige | Compensation der Natur für seinen | gleichen Mangel an Herz – denn | wie in gewissen Fällen zwey Nega- | tionen bejahen, so entsprang, wie | Du ihm einst enthülltest, aus dem | doppelten Deficit, negative | Gutmütigkeit aus Leere. [1v] Gestehe, daß es dem nach immer | noch ein schlauer Gedanke von | ihm war, Dir jetzt, aus sei- | nem Kopfe selbst, ein von Dir | verlangtes Tintenfaß zu | bereiten, geschmückt mit rei- | chem Schreibfederstrauß. (Du | verstehst das Wortspiel.)
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Läßt du Dich nun herab, | Bettina! aus diesem Tinten- | faß zu schreiben, so werden, | gewissermaßen Dir zum Trotz, | dennoch Geist und Erhabenheit | aus des armen Fuhrmanns | Schädel fließen. Dein treuer und dankbarer Vogel Straus.22
Abb. 1a und 1b: Hermann von Pückler-Muskau an Bettine von Arnim, o.O.o.D. [23. Januar 1832], 1r u. 1v, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, Konv. Nr. 9
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Ms Biblioteka Jagiellońska Krakau (BJK), Sammlung Varnhagen (V), Konvolut Nr. 9 (Briefwechsel Pückler/von Arnim): Pückler an Bettine [23. Januar 1832], Dbl. 22,6/11,3 x 18,2; feines Velinpapier, ohne Wasserz., li.o. Prägestempel mit Krone: „Bath“; 1x zusätzlich mittig gefaltet, 1rv beschriftet, br. Tinte; 1r: aoR.li. Varnhagens Hd., br. Tinte: „Fürst von Pückler-Muskau | an Bettina von Arnim.“; auR.li. dies. Hd., br. Tinte: „Bettina.“; aoR.li. kurzer wagerechter Bleistiftstrich; aliR.u. aufgeklebter Zettel, beige, in Varnhagens Hd., br. Tinte: „(Mit dem versprochenen Dintenfaß, | dem Todtenkopf von Gyps mit auf- | gesteckten Schreibfedern.)“ – Wiedergabe von Zeilenendzeichen wie in allen folgenden Textzitaten nach den Originalen durch „ | “. Für die Druckfassung des Briefes mit leichten Abweichungen vgl. Arnim, Bettine von / Hermann von Pückler-Muskau: „Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt“. Briefwechsel 1832–1844. Hg. v. Enid Gajek und Bernhard Gajek. Stuttgart: 2001, Br. 1, S. 9; im Folgenden zit. als: Gajek Bw, mit Brief-Nr. und Seite.
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Der Briefwechsel beginnt, wie Text und Beigaben des Billets verraten, im Schatten von Pücklers literarischem Alter Ego aus den seit 1829 erschienenen Briefen eines Verstorbenen, die Pücklers Reiseerlebnisse in Großbritannien schildern. Goethes Lob für die zuerst erschienene zweite Hälfte dieser literarisierten Reise hatte nicht unwesentlichen Anteil an dem großen Erfolg des Buches. Für Bettine, die zu dieser Zeit bereits an dem Goethebuch arbeitet, dürfte sowohl die Form des Buches als auch Goethes Lob das Interesse an Pückler zusätzlich befördert haben.
Abb.: 2: Karl August Varnhagen von Ense, Notiz zu den Briefbeigaben des Billets, o.D., Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, Konv. Nr. 9
Im Initialschreiben Pücklers klingt das Spiel der eingenommenen und einander wechselseitig zugeschriebenen Rollen des folgenden Briefwechsels mit Bettine von Arnim bereits an. Alles an dieser Korrespondenz scheint auf Bewegung abgestellt zu sein – in höhere, geistige Regionen, wenn es nach dem erklärten Willen Bettine von Arnims geht, zurück aus den Sphären der reizvollen Schwärmerei auf die Erde, nach demjenigen Pücklers. Das launige Billet verrät etwas von der Art des Witzes, der die anfängliche Konversation beider bestimmt haben dürfte, zu deren Themen die Lebenslust des „Verstorbenen“ gehört, die ein Memento mori des Sperlings alias Bettine provoziert. Pücklers Billet antizipiert eine aus der Leseszene hervorgehende Schreibszene, in der die Adressatin mit Hilfe der zugeschickten Utensilien die aufgezählten Mängel des Absenders kompensiert. Dieser ist in den Briefbeigaben gleich auf zweifache Weise präsent: als literarisch gefeierter „Verstorbener“ durch das Tintenfass in Form eines Totenschädels, und als Vogel Strauß durch die Schreibfedern.23 Der Schreiber entwirft sich 23
Vgl. Pückler an Karl August Varnhagen, 23. Januar 1832: „Zur Erklärung des Billets an Frau von Arnim, das Sie auch lesen müssen, um au fait zu sein, füge ich noch hinzu, daß Frau von Arnim mich mit nichts besser als einem Strauße zu vergleichen findet, da meine Eitelkeit gleich dem Magen jenes Thieres mit Leichtigkeit Kiesel und Eisen zu verdauen im Stande sei.“. In: Aus dem Nachlaß des Fürsten von Pückler-Muskau. Briefwechsel und Tagebücher des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau. 9 Bde. Hg. v. Ludmilla Assing-Grimelli. Berlin 1873–76 [Repr. Bern 1971]. Bd. 3, Br. 66, S. 91; im Folgenden zit. als: Assing, mit Bd.-, Brief- u. Seiten-Angabe. Arial wird im Folgenden zur Wiedergabe der lat. Lettern sowohl
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vermittels der ihn metonymisch vertretenden Briefbeigaben als Muse der Briefempfängerin. „Geist und Erhabenheit“, die aus Bettines Feder fließen werden, sollen derart selbst gegen den Willen der Schreiberin auch von den materiellen Beigaben des Briefes abhängen. Die in Pücklers Billet thematisierte Schreibszene der Empfängerin erlaubt sehr unterschiedliche Perspektiven auf das dadurch entworfene schöpferische Bedingungsverhältnis der Korrespondenten; sie thematisiert und inszeniert in der gegenseitigen Aufhebung und Bestätigung künstlerischer wie empirischer Grenzen und Hierarchien das Schreiben als autopoietischen Vorgang selbst. Die in der ursprünglichen Sendung vorhandene Redundanz, die aus der Verknüpfung von Beigaben und sprachlicher Mitteilung resultiert, erfährt durch die Überlieferungsgeschichte eine Einschränkung. Vom ursprünglichen Zusammenspiel zwischen Beigaben und Billet, das jene Beigaben zu Begleitutensilien aller künftigen Schreibszenen Bettines machen will, bleibt schließlich allein der schriftlich dokumentierte Einfall übrig, durch den mit Tinte gefüllten Totenkopf und den Strauß Federn könne Pückler indirekt auch Urheber von Bettines geistvollen Briefen an ihn selbst sein. Denn die Beigaben gelten heute als verloren. Dass Billet und Beigaben für Bettine von Pückler einer Sendung an Varnhagen hinzugefügt werden, der dadurch zu ihrem Übermittler gemacht wird, dürfte nicht vorrangig oder zumindest nicht allein pragmatisch-postalische Gründe haben. Denn Pückler knüpft auf diese Weise seinen Briefwechsel mit Bettine über diejenigen Personen an, in deren Salon die Korrespondenten einander kennengelernt haben. Er gibt dem Beginn des Briefwechsels damit einen halboffiziellen Charakter und nutzt die Gelegenheit, die Sendung an Bettine gegenüber Dritten zu erläutern. Dieses Vorgehen signalisiert Offenheit und erlaubt, eventuelle Missverständnisse über Zweck und Gegenstand der angeknüpften Korrespondenz auszuräumen. Die Varnhagens werden auf diese Weise zu Mitwissern und Schirmherren einer Korrespondenz gemacht, die aus ihrem Salon als literarisches Projekt hervorgegangen ist. Zeichen der symbolischen Einbeziehung von Varnhagen in den eröffneten Briefwechsel ist auch Pücklers Bitte, das Tintenfaß mit Varnhagens eigener Tinte zu versehen: „so bitte ich auch der Vermittler bei meinem Gegengeschenk zu sein, das Tintenfaß aber, um es ganz zu weihen, auch mit Ihrer Dinte fül-
innerhalb der Kurrentschrift der Briefautographen als auch innerhalb des edierten FrakturTextes verwendet. Wo nicht anders angegeben, sind sämtliche Hervorhebungen diejenigen der Briefschreiber und Editoren – ausgenommen Fußnoten, die dazu dienen, die vermutliche Genese der Beschriftung des Briefmanuskripts zu erläutern.
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len zu lassen,“ (m. Kursivierung, AH; Sperrung im Druck).24 Die ironische Wahl des Verbs „weihen“ erklärt Varnhagen indirekt zum Priester der unio epistolaria und suggeriert zugleich für die im Billet an Bettine entworfene Schreibszene eine Dreieinigkeit der Autorschaft.
III.2 Gedoppelte Botschaft Ein gleichfalls undatierter Brief Bettines an Pückler, der durch den Kontext auf den 26./27. März 1832 datierbar ist, enthält das Motto des vorliegenden Aufsatzes. (Abb. 3) Die obere, größere Hälfte der ersten Briefseite nimmt eine Zeichnung von Karl Friedrich von Rumohr ein, der im Auftrag Bettines eine Reihe von Briefbögen mit Landschaftszeichnungen versehen hat.25 Dieser Zeichnung folgen, ohne Anrede, die ersten Briefzeilen von Bettines Hand: [1r] [obere 3/4 des Blattes: Zeichnung einer erhabenen Berglandschaft, braune Tinte] Hier aus den Bergesschluchten hervor wag ichs und komme ungerufen unerwartet, wie manchmal sonst auf einen Wegen: im Böhmer Gebirg wo ich wie ein Stoßvogel auf dem vorrangenden Gefelß über Dir hing; weißt Du noch? – und wie ich dann niederkletterte ganz erhizt daß mir alle Adern im Kopfe klopften, und wie Deine Hand meine Augenwimper vom Staub reinigte, und die kleinen Reiser und Mooß aus meinen Flechten sammeltest und legtest es sanft neben Dich auf den Sitz? Du weißts nicht [1v] mehr; […] Weist Dus noch wie Du in der Dämmerung mich wieder bestelltest? Du weißt nichts; ich weiß alles ich bin das Blatt auf das die Erinnerung alle Seeligkeit geäzt, ich bin der Inhalt dieser Seeligkeit und bin sonst nichts […] Da hockte ich auf der Erde zwischen Deinen Knieen nieder, und umfaßte Dich und Du mich, da sagtest Du: „Vertrau mir doch und sag mir alles was in Deinem Herzen Gewalt geübt hat; Du weißts ich hab Dich nie verraten kein Wort kein Laut von dem was Deine Leidenschaft zu mir gerast hat ist je über meine Lippen gekommen; so sag mir doch, denn es ist nicht möglich daß Dein Herz diese ganze Zeit über ohne Liebe ohne Leidenschaft war, sag mir doch: wer wars? […]26
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Pückler an Varnhagen, 23. Januar 1832 (Anm. 23), S. 91; Sperrung vermutlich für Unterstreichung in Hs. Bettine verweist in ihrem letzten Brief an Goethe, einem Empfehlungsschreiben für ihren Sohn Siegmund, Berlin, 8. März 1832, explizit auf Rumohr: „Alte Zeiten kehren wieder, du siehst’s an der Vignette, sie ist von Rumohr’s Hand an meinem Schreibtisch gemacht, wie die vor zwanzig Jahren, […]“ (Gajek Bw, Anhang, Nr. 1, S. 361f., hier S. 360), sowie Komm. zu Br. 14, S. 419, mit dem Hinweis auf den Auftrag an Rumohr ab 1809. Hs. FDH 7172: Bettine an Pückler, [Berlin, 26./27. März 1832]. 2Ebl. 20,4 x 25,0 (ehem. Dbl. lt. Archiv), 1 Dbl. 40,8 / 20,4 x 25,0, chamoisfarben; Wasserz. je Dbl. „J WHAT-
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Abb. 3: Bettine von Arnim an Hermann von Pückler-Muskau, o.O. o.D. [26./27.3.1832], 1r, Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethehaus, Hs-7172 MAN/1831“;
1r–4r beschrieben, mittelbr. Tinte; hier mit Auslassungen 1rv; 1r: ¾ des Blattes: Zeichnung felsige Landschaft von Karl Friedrich von Rumohr, Feder und Tinte der Zeichnung abweichend von der des Brieftextes; Datierung durch Gajek anhand von Bettines Verweis auf Goethes Tod (22. März), der in Berlin am 26. März 1832 bekannt wurde. Vgl. Gajek Bw, Br. 17, S. 43–48, und Kommentar, S. 419f.; dort korrektes Datum: „[Berlin, 26./27. März 1832]“, dagegen versehentlich stehengebliebene Datierung „25./26. März“, ebd. S. 43.
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Der Brief wendet sich, was seinen konkreten Inhalt und das angeredete Du betrifft, zunächst an Goethe und nicht an Pückler. Dennoch ist Pückler der postalische Empfänger des Briefes. Wie dieser Brief so besitzen auch viele der nachfolgenden an Goethe alias Pückler keine Anrede, die ihre Adressierung explizit macht. Das im zitierten Text beschworene Erlebnis ist die fiktionalisierte Darstellung einer Begegnung der noch jungen Bettine von Brentano mit Goethe 1810 im böhmischen Teplitz. Bettines eigener Aussage zufolge hat sie diese Erinnerung bereits am Abend des 26. März 1832 niedergeschrieben,27 bevor sie auf einer Abendgesellschaft desselben Tages von Goethes Tod am 22. März erfährt. Der Brief und weitere an Pückler gerichteten Schreiben gehen in Bettines erstes Buch Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde von 1835 ein.28 Dessen Erlös ist der Finanzierung des Frankfurter Goethedenkmals nach dem Entwurf Bettines zugedacht. Doch schon die Briefe an Pückler verstehen sich als schriftliches Denkmal für Goethe, wie das zum Motto gewählte Zitat zeigt, in dem das beschriebene Briefblatt an Pückler – das metonymisch für Bettine und die in sie eingeschriebene „Seeligkeit“ steht – zugleich die einem Denkmal vergleichbare Erinnerungsfunktion erfüllt. Die Briefe an Pückler schreiben am Mythos Goethes und Bettines mit – und zwar sowohl in ihrer originalen als auch ihrer dem Wortlaut nach weitgehend identischen Form des Goethebuchs, das der Fiktion die Gestalt einer Dokumentation gibt. Pückler fungiert in diesem Schöpfungsprozess als lebendiger Impulsgeber für die Liebesrede Bettine von Arnims, die für die abgeschickten Briefe der jungen Bettine Brentano an Goethe in ähnlicher aber nicht derselben Form überliefert ist – eine Liebesrede, die auch im Goethebuch neben der Figur ‚Goethes‘ die des ‚Freundes‘, der die Position von Pückler in den originalen Briefen vertritt, zum Gegenüber hat. Insoweit als die Briefe an Pückler auch mit Blick auf Bettines Goethebuch verfasst sind, gehören dessen prospektive Leser ebenfalls zu den Adressaten der originalen Briefe an Pückler. Durch die fehlende Anredeformel im zitierten Brief darf und muss sich Pückler zunächst selbst angesprochen fühlen, denn die Aufklärung folgt erst einige Seiten später.29 Die fehlende Datierung des Briefes verlegt zudem die Ansprache des Gegenübers und mit ihm Zeiten und Erlebnisse 27 28
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„So weit Pückler! hatte ich geschrieben, und ging Abends […] zu Savigny“, Gajek Bw, Br. 17, S. 47. Der Brief wird (wie andere Briefe an Pückler) nahezu identisch in den 3. Teil des Goethebuchs übernommen; vgl. den auf den 22. März zurückdatierten Brief, GBw (Anm. 5), S. 544–548. Vgl. Anm. 27, Gajek Bw, Br. 17, S. 47.
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aus der Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart. Pückler wird als Verfasser der Briefe eines Verstorbenen, die seinen literarischen Ruhm begründen, durch Bettines Ansprache zugleich als jüngst verstorbener Goethe angeredet, den Bettines Briefe zu neuem Leben erwecken. Pückler, der Empfänger des Briefes, darf sich in dem angerufenen Goethe zumindest in effigie als geliebter und verehrter Dichter angesprochen fühlen. Und er kann sich schmeicheln, dass es nicht allein die Verehrung für Goethe ist, die Bettines briefliche Höhenflüge provoziert – dass die Liebesrede an Goethe zugleich eine an ihn gerichtete, kunstvoll versteckte Werbung ist, wie folgende und vorhergehende Briefe nahelegen. Bettine von Arnim dagegen ist im vorliegenden Brief an Pückler alias Goethe wieder das um zwanzig Jahre jüngere Naturkind, das sich als Ebenbild von Goethes Mignon begreift. In dieser idealischen Rolle tritt die ältere Bettine von Arnim Pückler im Brief als verjüngtes Liebesobjekt gegenüber. Sie entwirft sich in den Briefen an Pückler als jugendliche, begehrende und begehrenswerte Gestalt aus geheimnisvollen Widersprüchen; und die Goethe in den Mund gelegten Worte, die Bettine dessen eigenen Dichtungen und Briefen entnimmt, sich anverwandelt und dabei konsequent auf die eigene Persona bezieht, untermauern diesen Eindruck zusätzlich. Der imaginierten Verdoppelung von Schreiberin und Adressat entspricht diejenige des Briefaufbaus in Schrift und Zeichnung. In der dargestellten Bergszene verschwimmen Fels und Wolken miteinander, die ihrerseits an Meereswogen erinnern. Die Uneindeutigkeit des Bewegung suggerierenden, erhabenen Sujets korrespondiert dem dramatisch bewegten Duktus der Briefansprache und ihrem Gegenstand: dem Olympier Goethe.30 Wie auch in den übrigen Bilderbriefen der Korrespondenz mit Pückler wird zwischen Brieftext und Bild immer ein Zusammenhang hergestellt, der insbesondere dort besonders interessant wird, wo der dem Bild hinzugefügte Text sich sowohl an Pückler wie an Goethe richten kann.31 Die Landschaftszeichnungen, von denen bislang angenommen wurde, dass sie noch auf Bettines Auftrag an Rumohr für den Briefwechsel mit Goethe zurückgehen, stammen jedoch, wie eine Autopsie der Wasserzeichen zeigt, von 1830/1 und damit aus einer Zeit, in der der Briefwechsel
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31
Zu Goethes eigenen Landschaftszeichnungen vgl. u.a. das 1806/07 für die Prinzessin Caroline von Sachsen-Weimar-Eisenach entstandene Reise-, Zerstreuungs- und Trostbüchlein. Leipzig 1985. Vgl. als ein Beispiel von mehreren Gajek Bw, Br. 19, S. 50–54, hier S. 50.
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mit Goethe bereits zum Erliegen gekommen ist.32 Bettine muss daher Rumohr erneut für ihre Briefe an Pückler um Landschaftsvignetten gebeten haben. Die Verwendung der vorangestellten Zeichnungen, alles Unikate, deuten auf eine rituelle Komponente im Zusammenhang mit dem Verfassen der an Goethe alias Pückler gerichteten Briefe. Die Zeichnungen haben somit nicht nur schmückende Funktion. Sie suggerieren vielmehr die im Briefwechsel mit Pückler herbeigesehnte imaginäre Wiederkehr alter Zeiten und scheinen auf diese Weise den Abstand von 20 Jahren aufheben zu können33 – offenbar auch aufgrund einer gesteigerten Versinnlichung der Botschaft durch die Zeichnung. Bettine ist vermutlich für die Wahl der Bildsujets verantwortlich. In jedem Falle ist Rumohr durch seine Zeichnungen an Bettines Korrespondenz mit Goethe ebenso beteiligt wie an den Teilen der Korrespondenz mit Pückler, die sich auch an den gestorbenen Goethe wenden – Briefe, die nahezu unverändert in das dritte Buch von Goethes Briefwechsel mit einem Kinde eingehen. Rumohr aber hat seine Zeichnungen in Bettines Briefen nicht signiert, so dass seine Urheberschaft auf der Ebene der Briefgestaltung zunächst hinter dem Namen der den Brief unterzeichnenden Schreiberin verschwindet und man lange Zeit davon ausgehen musste, dass die Zeichnungen von Bettine stammen könnten.34 Damit aber wird auch Rumohr, dessen Zeichnungen in Bettines Briefen an Pückler unter ihrem Namen firmieren, zu einem pseudonymen Teilnehmer an dem durch sie gespannten Kommunikationsnetz aus Briefverfassern und Adressaten. Die von Bettine hervorgehobene Erinnerungsfunktion des Blattes gilt damit auch für den Zeichner, der noch vor der Schreiberin auf dem Blatt seine Spuren hinterlassen hat, ohne seinen Namen preiszugeben. 32
33 34
Die Jahreszahlen der Wasserzeichen der an Pückler gerichteten Briefe mit vorangestellten Landschaftszeichnungen lauten, jeweils als terminus post quem der Zeichnungen, für Gajek Bw, Br. 17, 19–21: 1831, und Br. 44: 1830. Auch im Falle des letzten Blattes erscheint es wahrscheinlicher, dass die Zeichnung zusammmen mit den anderen ab bzw. nach 1831 entstanden ist, als dass Bettine sie als einzige 1830 noch mit Blick auf Briefe an Goethe in Auftrag gegeben haben sollte, an den sie (vor dem Empfehlungsschreiben für den Sohn Siegmund im März 1832) noch im Spätherbst 1830 einen Brief richtet. Vgl. Gbw, S. 746f. „Alte Zeiten kehren wieder, du siehst’s an der Vignette, sie ist von Rumohr’s Hand […]“ (Anm. 25). Vgl. Maisak, Petra: „Alltag und Apotheose. Bettines Umgang mit der Bildenden Kunst“. In: Herzhaft in die Dornen (Anm. 15), S. 202–224. Das von Maisak vorgebrachte Argument einer für Text und Zeichnungen der Briefe geltenden Identität von Tinte und Feder (ebd. S. 206) lässt sich m.E. nur für einen der an Pückler gerichteten Briefe (Gajek Bw, Br. 20) bestätigen, wo es tatsächlich den Anschein hat, als seien Zeichnung und Brieftext von derselben Feder und mit derselben Tinte entstanden – was freilich nicht ausschließt, dass dennoch Rumohr die Vignette gezeichnet haben könnte.
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Die am Beginn des Briefes stehende Metapher des Blattes, in das die Erinnerung „eingeäzt“ sei,35 nimmt Bettine am Ende des Briefes, nun in direkter Hinwendung zu Pückler, wieder auf: […] ich bin gestimmt durch den Geist seiner [Goethes, A.H.] Liebe wer mit mir umgeht mit mir umzugehen weiß wird ihn durchemfinden wird ihn erben in mir; wem also sollte ich wohl dieses verwaiste Blatt vererben als Dir, denn ob ich Dir auch bin was ein falbes Blatt Dir ist das der Wind vor Deinen Füssen hinwirbelt; vielleicht am einsamen Ort, jagt der Wind dieses Blatt Dir wieder auf und Du erkennst an seiner Form daß es am edlen Stamm gewachsen.36
So demütig die Selbststilisierung als welkes Blatt zunächst erscheinen mag, ist sie, wie schon der edle Stamm andeutet, nicht gemeint. Das anspruchsvolle Wechselspiel der Identitäten führt beinahe zum endgültigen Bruch, als Bettine anlässlich einer Einladung nach Muskau auf einer kleineren Abendgesellschaft bei Lucie und Hermann von Pückler-Muskau aus ihren Briefen nur „das heiseste“ vorliest.37 Der exklusive Liebesdialog der Briefe – ob nun als fiktiv begriffen oder nicht – wird durch die außerliterarischen Normen in dem Maße bedroht, wie diese Normen sich von ihm in Frage gestellt sehen. Die Episode der kurzzeitigen Entzweiung zwischen Bettine und Pückler geht als „Bataille von Muskau“ in die Annalen des Briefwechsels ein.38 Auf briefliche Unterhandlungen folgt ein vorrangig durch Pückler diktierter Friede, der bis zu seinem Aufbruch in den Orient im Jahre 1835 und darüber hinaus währt. Einige der vorläufig letzten Grüße werden schließlich nicht mehr allein durch die Post verschickt, sondern erreichen die Adressaten im Rahmen der literarischen Veröffentlichungen, die während Pücklers Abwesenheit zum Druck befördert werden: dem Goethebuch, das Pückler gewidmet ist, der darin auch einige an ihn gerichtete frühere Briefe Bettines wiederfindet39 – sowie den unter dem Pseudonym „Semilasso“ veröffentlichten Reiseschilderungen des „Verstorbenen“, unter denen auch ein
35
36 37
38 39
Das Ätzen evoziert indirekt eine weitere Bildmedientechnik, die Radierung, die aufgrund der Beständigkeit ihrer als Basis dienenden Bildplatte die Metaphorik des ‚Blattes‘ zusätzlich erweitert. Gajek Bw, Br. 17, S. 47f. Bettine an Pückler, [Muskau, 18.? September 1833], Gajek Bw, Br. 76, S. 226: „ich hab nichts anders vorzulesen, als grad das heiseste, und das nur Dir, und nicht dem verdammten Novellendichter.“ Vgl. u.a. Bettine an Pückler, [Berlin, nach dem 8. und vor dem 18. April 1834], Gajek Bw, Br. 121, S. 337: „Battaille von Muskau“. Vgl. Pücklers Dank für das Buch und die nachgesandte Zueignung noch aus Paris: Pückler an Bettine, Paris, 8. [August 1834], Gajek Bw, Br. 129, S. 345, und Paris, 24. September 1834, ebd. Br. 132, S. 347.
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gedruckter Brief „An Frau von A… in Berlin“ ist.40 Der erste Satz dieses Briefes dankt Bettine für ihren „so schmeichelhaften gedruckten Brief“ – das auf den August 1834 datierte Widmungsschreiben des Goethebuches, dem Bettine wiederum Goethes Verse „Haben sie von Deinen Fehlen …“ aus dem Divan vorangestellt hatte41 – und entschuldigt den verspäteten Dank für das „Buch mitsammt der halb ernst- halb schalkhaften Dedication“ mit dem zeitweiligen Abhandenkommen beider und der Unlust, Bettine im Winter noch aus Europa zu antworten. Während der Autor Pückler als Grund für die Verzögerung seiner Antwort auf die Drucklegung des Buches verweisen könnte, führt der darin auftretende fiktionalisierte Briefschreiber ‚Pückler‘ stattdessen nur die typischen Gründe eines saumseligen Schreibers an und behandelt den Brief damit wie eine tatsächlich mit der Post verschickte Nachricht. Diese Saumseligkeit macht es möglich, dass der am Beginn des Briefes vermerkte reale Ort Algier zugleich auf den in Goethes Divan-Versen evozierten fiktiven Orient am Beginn von Bettines Widmungsbrief antwortet. Doch schon der vorletzte von Pücklers Briefen aus dem Orient, die noch auf dem Postweg an Bettine versandt werden, ist auch seiner äußeren Form nach auf der Grenze zwischen Briefform und Dichtung angesiedelt.
III.3 Brief und Fiktion. Dichtung und Wahrheit 22.2. 35. Suleika-Oreas42, phantastisch Räthselwesen, durch ihn in Dich vertieft, mit Geist und Glut erfüllt. Da liegt dein Buch; mit dir durchlebt hab’ ichs im Lesen und klar steht vor der Seele mir Dein Bild. Zu seinen Füßen hat dich Liebesdrang gebettet, und, Mahadö, hat er dich huldvoll angeblickt; 40
41 42
Vgl. die Briefe Pücklers an Bettine: Toulon [sur-mer], 1. Januar 1835. (Gajek Bw, Br. 133, S. 348f.), mit der Ankündigung: „Ich schreibe Dir nächstens einen gedruckten Brief, den ersten aus Afrika der in die Welt fliegt.“ (ebd. S. 348), und aus Athen, März 1836 (Gajek Bw, Br. 138, S. 353f.), in dem er erneut „einen langen Brief“ ankündigt, den sie „bald gedruckt lesen“ könne (ebd. S. 353) – dh. den literarischen Brief „An Frau von A… in Berlin. / Algier, den 18. Februar 1835.“ In: Semilasso in Afrika. Erster Theil. Algier. Aus den Papieren des Verstorbenen. Stuttgart: Hallberger 1836, S. 223–275, hier S. 223. Vgl. GBw (Anm. 5), S. 11–13. Hs: „Suleika„Oreas“, bei dem, historisch ebenfalls korrekt, das „ als heutiger Bindestrich zu lesen ist.
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nun er sich jetzt zum Urquell hat zurückgerettet, ließ er im Staube hier dich hochbeglückt. Wohl Euch! als Zweie jetzt, als Eines einst vereint, seid ihr ein Doppelstern, der Vielen gar nicht scheint, und Tausenden als unbegriffnes Wunder leuchtet. Genug, wenn Wen’gen ihr das Lieb’ und Rechte43 seid. Hast Du ein Denkmal ihm zum Zeugniß Dir errichtet, fühlt Mit- und Nachwelt44 Beiden doppelt sich verpflichtet.45
Abb. 4a: Hermann von Pückler-Muskau an Bettine von Arnim, [Algier] 22. 2. [18]35, 1r, fremde Hd., Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, Konv. Nr. 9 43 44 45
Hs: „Lieb„ und Rechte“. Das Zeichen „ kann nicht nur als Binde- oder Auslassungsstrich, sondern wie hier auch als Apostroph gelesen werden. Hs: „Mit„ und Nachwelt“. Hs BJK, V 9: Pückler an Bettine, [Algier], 22. 2. [18]35, Ebl., bräunl.-beige; Wasserz. „F E“, hoch und quer je 2 x zum Brief gefaltet, zusätzl. senkr. (Probe?-)Faltung, vermutlich zur Aufbewahrung später 1x mittig gefaltet; 1r beschriftet, br. Tinte, in derselben fremden Hd. wie zwei vorhergehende Briefe Pücklers an Bettine; 1v: Adresse in Pücklers Hd., br. Tinte: „An | Frau Bettine von Arnim | geborene Brentano | Hochwohlgebohren | fr. | Dorotheenstraße |Nro 31 G. zwei | Treppen hoch.“, einfaches blaues Siegel, 2 Postausgangsstempel: „N 4, 22 2“ u. „R10, 22 2, No 3“. Archivierungsspuren hier ausgespart.
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Der eigentliche Brieftext weist zwar eine Datierung, aber weder Anredenoch Grußformel auf. (Abb. 4a) Dass dieses Sonett zugleich ein Brief ist, macht zunächst allein die Rückseite des Blattes mit Adresse und postalischen Spuren erkennbar. (Abb. 4b)
Abb. 4b: Hermann von Pückler-Muskau an Bettine von Arnim, [Algier] 22. 2. [18]35, 1v, Adresse von Pücklers Hd., Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, Konv. Nr. 9
Die Datierung vor dem Gedicht ließe sich dagegen auch als Hinweis auf sein Entstehungsdatum ansehen. Während jedoch Gedichte selbst im Falle eines darin angeredeten Du gewöhnlich auf ein literarisches Publikum zielen und zu diesem Zweck veröffentlicht werden, ist das vorliegende Sonett nur für Bettine bestimmt, wie die postalische Adressierung verrät, und wurde, soweit ich sehe, von Pückler nie veröffentlicht. Der Text lehnt sich inhaltlich und formal an das zweite der Sonette an, die Bettine als Teil eines an sie gerichteten Briefes von Goethe unter dem Datum des 7. August 1807 in das Goethebuch aufgenommen hat.46 Schon die äußere Doppelgestalt von Pücklers Briefgedicht antwortet damit auf das zuge46
Vgl. GBw (Anm. 5), S. 108, samt Kommentar, ebd. S. 994f. bzw. S. 1112 zum originalen Briefwechsel. Goethes Sonett wird 1815 als erstes der 15 Sonette mit dem Titel „Mächtiges Überraschen“ veröffentlicht. Goethe sendet Bettine eine Abschrift beider Sonette, die Motive aus ihren eigenen Briefen an ihn aufnehmen, im November 1807 zu, doch offenbar ohne das von Bettine unter dem 7. August aufgeführte Begleitschreiben. Minna Herzlieb, an die sich beide Sonette vermutlich vorrangig richten, erhält im Dezember 1807 ebenfalls eine eigenhändige Abschrift der Sonette.
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sandte Geschenk in einer Weise, die Bettines Schreibverfahren im Goethebuch widerspiegelt. Der Schreiber begibt sich dabei noch einmal in die ihm im Briefwechsel mit Bettine des öfteren zugedachte Rolle Goethes, wenn er ihr, wie vormals jener, ein Sonett zusendet. Der Gedichttext selbst trägt, anders als die Adresse des Briefes, nicht Pücklers Handschrift, sondern, wie weitere seiner Briefe aus Algier, die eines Schreibers in Pücklers Diensten und verweist damit auf einen weiteren anonymen Beteiligten im Korrespondenzgeflecht. Ähnlich dem zitierten ersten Bilderbrief Bettines an Pückler geht auch Pücklers Sonett-Brief an Bettine keine explizite Anrede voraus. Dessen Ansprache richtet sich an ein „phantastisch Räthselwesen“, dessen Name „Suleika-Oreas“ gleich zwei Rollenfiguren aus Goethes Dichtungen miteinander verbindet – Rollenfiguren, die das Wechselspiel der Identitäten im Goethebuch wesentlich mitbestimmen und auf biographische Vorbilder verweisen. Die von Pückler gewählte Form des Briefes aber suggeriert, dass der dichterische Zwitter „Suleika-Oreas“ eine reale Adressatin und mit der Empfängerin des Briefes identifizierbar sei. Pücklers Brief – Dank für das Goethebuch und seine Widmung – gibt dem namenlosen ‚Kind‘ im Titel des Buches auf diese Weise einen Namen. Doch ist es nicht derjenige der Autorin, sondern der einer Kunstfigur, der als Pseudonym die Autorin Bettine von Arnim verbirgt. Die fehlende Nennung des Autornamens widersetzt sich der Gleichsetzung von poetischer und biographischer Wirklichkeit, bewahrt aber durch die Wahl des konkreten Pseudonyms die daran geknüpften Anspielungen auf reale Vorbilder. Der Namenszwitter „Suleika-Oreas“ ist unabhängig von den darin aufgerufenen Gedichten Goethes aus dem Divan47 und den Sonetten zugleich als Metonym der vielfältigen Rollenüberlagerungen in Bettines Buch zu verstehen, in denen das ‚Kind‘ sich als Adressatin von Goethes gesamtem Werk begreift und entwirft. Pücklers Briefsonett erkennt Bettines Einzigartigkeit so neidlos wie ironisch an und übersieht dabei auch nicht die unterschiedlichen Motive ihres poetischen Furors. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, als das Gros der Rezensenten und Leser die Briefe des Goethebuches als historische Zeugnisse betrachtet und allenfalls unsicher darüber ist, inwieweit die vorgebliche Enthüllung intimer Details in Hinblick auf die Herausgeberin und den von ihr geliebten Dichterfürsten mit Regeln der Dezenz zu vereinbaren ist, während eine kleinere Gruppe an Eingeweihten, die begrün47
Vgl. die direkte und indirekte Bezugnahme auf die insgeheim Marianne von Willemer geltenden Liebesgedichte aus dem „Buch Suleika“ von Goethes Divan, in GBw, S. 169f., samt Kommentar, ebd. S. 1020.
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dete Zweifel an der Faktizität der darin reflektierten Ereignisse hegt, Bettines Briefbuch vorrangig als Ergebnis persönlicher Geltungssucht versteht.48 Pückler, der im Goethebuch auch Anklänge an sein eigenes literarisches Verfahren wiedererkannt haben mag, gehört zu den wenigen, die trotz der täuschenden Hülle des Faktischen das Buch zuerst als Ergebnis eines künstlerischen Wollens und Vermögens bewertet.49 Die abschließenden Terzette des Sonetts, die dem Buch und seiner mehrdeutigen Liebesgeschichte zwischen Leserin und Dichtung, Leserin und Dichter die poetische Berechtigung zuerkennen, sind selbst ein mehrdeutiges Urteil, das neben dem „Wunder“ auch das „Lieb’ und Rechte“ anerkennt. Dieses Urteil betrachtet die in „Euch“ apostrophierten Rollenfiguren von Mahadö und Suleika-Oreas nicht vorrangig als biographische Pseudonyme, sondern als Ausgangspunkte einer im Leser zu entbindenden Imagination, die die faktische Wirklichkeit auch dadurch verändert, dass sie der Dichtung den Anschein des Wirklichen verleiht. Welche Wirkungen der Anschein des Wirklichen im Rahmen der hier untersuchten Briefe entfalten und welche Rolle dabei die Farbe der Schrift dabei spielen kann, soll der folgende Abschnitt illustrieren.
III.4 Streit der Farben und Konfessionen Ein auf den 19. Juli [1832] datierter Brief Bettines an Pückler, dessen Beginn nicht überliefert ist,50 gibt darin einen Dialog mit einer dritten Person – Friedrich Schleiermacher – wieder, der auf diese Weise indirekt am brieflichen Gespräch mit Pückler beteiligt wird. Zu einem Zusammentreffen zwischen Schleiermacher und Pückler, das hier auf der Schriftebene antizipiert wird, ist es trotz Bettines Wunsch in der Realität nie gekom48
49
50
Zu Wirkung und Rezeption von Bettines Goethebuch vgl. GBw (Anm. 5), S. 908–942; zum nachträglichen kritischen Kommentar von Marianne von Willemer gegenüber Herman Grimm vgl. ihren Brief vom 27.5. 1852 (Im Namen Goethes. Der Briefwechsel Marianne von Willemer und Herman Grimm. Hg. v. Hans Joachim Mey. Frankfurt/Main 1988, S. 112–113). Dass Bettine beim Publikum zu Recht ein Interesse an Schlüsselliteratur voraussetzt und als verkaufsförderndes Mittel in Betracht zieht, um mit dem Ruhm Goethes auch den eigenen ein wenig zu mehren, kann in Pücklers Augen kein Einwand gegen das Buch darstellen, zumal er selbst in vergleichbarer Weise von dem offenen Geheimnis seines Pseudonyms profitiert, das als werbewirksamer Hinweis nahezu allen seinen literarischen Veröffentlichungen vorangestellt ist und dort nicht mehr wie zu früheren Zeiten der obligaten Anonymisierung eines um Geld schreibenden Fürsten zu dienen hat. Bettines Nachschrift auf der 4. erhaltenen Briefseite (2v) legt allerdings nahe, dass der Teil des Briefes, der den Dialog wiedergibt, schon am 13. Juli 1832 oder davor entstanden ist, da sie davon spricht, dass sie „am lezten Freitag versäumt [habe] diesen Brief abzuschicken“ (Gajek Br. 49, S. 167).
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men. Für die teilweise indirekt wiedergegebenen Redeanteile, die Schleiermacher zugeordnet sind, verwendet die Schreiberin eine vom Schwarzbraun der übrigen Schriftzeichen abweichende rote Tintenfarbe.51 Die farblich hervorgehobenen Redeanteile eines Dritten neben Schreiberin und Empfänger machen den vorliegenden Brief zu einem anschaulichen Beispiel für die eingangs erwähnte „Ego-Pluralität“ und ihre konkrete mediale Umsetzung. Die Wiedergabe des Gesprächs zwischen Schleiermacher und Bettine nimmt die ersten drei der erhaltenen letzten vier Seiten des Briefes ein. Gegenstand des Gesprächs ist Pückler, der hier nicht unter seinem bürgerlichen Namen, sondern als ‚Unschuldiger‘, ‚Geliebter‘, ‚Liebling‘ ‚Freund‘ und ‚Mann‘ Erwähnung findet, und um dessen Seele die Beteiligten nach Art eines Sokratischen Dialogs handeln. Doch auch die Namen der Disputanten werden auf den überlieferten Seiten des Briefes, den Bettine als „Deine Sclavin“ unterschreibt, nicht genannt. Der Brief ruft eine ungewöhnlich heftige Reaktion auf Seiten Pücklers hervor. Den Stein des Anstoßes bildet dabei insbesondere eine als Gegenfrage formulierte Replik, die durch ihre rote Farbe Schleiermacher zuzuweisen ist. Dieser Replik geht eine rhetorische Frage der Schreiberin voraus, die, anders als ihr Gesprächspartner, von der Unschuld des ‚Freundes‘ überzeugt ist und das Urteil derjenigen, die ihn näher zu kennen meinen, bezweifelt: [1r …] – liegt das Böse nicht an der | äuseren Fläche, so dass es keine Kunst ist, es zu bezeichnen? Das Gute aber | in der Tiefe die nur durch die Liebe ergründet wird, weil nur sie | geeignet ist es zu fassen? – liegt das Böse nicht auch zuweilen in der | Tiefe und ist es nicht seine gefährliche Seite gut zu scheinen, ja sich52 | selber für gut zu achten? [Fett im Original rot, AH] 53
Pücklers Zorn über die Antwort in roter Farbe entlädt sich in gleich zwei aufeinanderfolgenden Briefen, deren erster an keiner Stelle den Namen Schleiermachers erwähnt: [1r …] Dein Gespräch hat mich | im Anfang ergötzt, später | heftiger bewegt. Daß doch diese Pfaffen, und | selbst die besten unter | ihnen, wie verdammt sind | in Lieblosigkeit und Into- | lerantismus unterzugehen! „Liegt das
51
52 53
Da eine schwarz-weiße Reproduktion der Briefseiten die farblichen Unterschiede des Originals nicht erkennen lässt, wurde auf eine Abbildung der betreffenden Briefseiten verzichtet. Gestrichene Buchstaben nach „sich“, vermutlich Verbesserung aus „sicher“. Hs FDH 13322: Bettine an Pückler, Berlin, 19. Juli [1832], Dbl. 44,6/22,3 x 26,4, warmes Gelb, gebräunt; WZ: E & R, hoch und quer je 1 x mittig gefaltet; 1r–2v beschriftet, br. u. rote Tinte; Briefanfang fehlt, Zählung ab Beginn überlieferter Seiten, hier 1r; vgl. Gajek Bw, Br. 49, S. 164–167, hier S. 164.
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Böse nicht auch zuweilen | in der Tiefe, und ist es nicht seine | gefährliche Seite gut zu scheinen, | ja sich selber für gut zu achten.“ Welche gräulichen Worte, eines | Torquemada würdig! Kannst | Du Pfaff damit vor deinem | Christus stehen und nicht vor | Scham [unlesbar gemachter Zeilenrest ] [1v] [unlesbar gemachter Zeilenbeginn] hundert Klafter | tief in die Erde sinken! [Fett im Original rot, AH]54
Die getilgten Worte der Passage und die lange Zeitspanne zwischen der Datierung von Briefbeginn und -abschluss deuten sowohl die Erregung des Schreibers wie seinen Wunsch an, Abstand zu seiner ersten Reaktion zu gewinnen. Doch auch der zweite Brief, der erneut das Zitat in roter Farbe aufnimmt, erscheint allenfalls im Ton etwas gemildert: [1v …] Apropos aber von Schleyermacher, | so muß ich gestehen daß mich sein Gespräch | mit Dir etwas frappirt hat, namentlich | „Liegt das Böse nicht auch zuweilen in der | Tiefe, und ist es nicht seine gefährliche | Seite gut zu scheinen, ja sich selbst | für gut zu halten.55 achten.“ Wahrlich Worte eines Torquemada | würdig! Denn wer kann damit nicht | verdammt werden? Ist das ein Aus- | spruch christlicher Liebe – aber Schleyer- | macher n’est pas prêtre pour rien. [Fett im Original rot, AH]56
Pückler greift nicht nur wie Bettine zur roten Farbe, wenn er das inkriminierte Zitat in seinen Briefen anführt, sondern reagiert mit den darauf jeweils folgenden rhetorischen Fragen auch auf die besondere sprachliche Gestaltung von Bettines Brief-Dialog. Die wechselnden Abschnitte von roter und braunschwarzer Tinte auf den ersten drei Seiten des erhaltenen Briefs von Bettine erinnern, wie auch Pücklers Antworten, an die farbliche Differenzierung liturgischer Bücher,57 die die während der Liturgie zu sprechenden Texte durch schwarze Lettern und die liturgischen Handlungen durch rote wiedergeben. Die Analogie mit der Farbgestaltung eines Missale verleiht dem wiedergegebenen Dialog im Brief die Züge eines kodifizierten Rituals und suggeriert durch den Wechsel der Farben ein Zugleich von Sprechen und Handeln. Die gestalterische Parallele zwischen Brief und Messbuch res54
55 56
57
Hs BJK V 9: Pückler an Bettine, Muskau, 22. und 27. Juli 1832. 2 Dbl. 36,6/18,3 x 22,7, beige, Wasserz. „J GREEN & SON/1831“, aoR.li. nur noch sehr schwach erkennbarer Präge-Stempel, 1r–4v beschriftet, mittelbr. Tinte, hier 1rv; etliche Einfügungen und Streichungen, 1r: Zitat in roter Tinte; 4v: 3 Bleistiftzeichnungen von schwer definierbarer, länglicher Form, unterste ähnelt verkleinertem Fußabdruck. Vgl. Gajek Bw, Br. 50, S. 167– 169, hier S. 168. Wort, vermutlich „halten“, durchgestrichen und durchgekringelt. Hs FDH 13351: Pückler an Bettine, Muskau, 9. August 1832. Dbl. beige, gebräunt, zusätzlich einmal quer u. zweimal hoch zum Brief gefaltet, 1r–2r beschriftet, dklbr. Tinte, hier 1v; 1v: Zitat in roter Tinte. Vgl. Gajek Bw, Br. 53, S. 175–176, hier S. 175. Ich danke Martina King für ihren Hinweis auf die Parallele zur Farbgestaltung des katholischen Missale.
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pektive Agende entspricht nicht nur dem Thema des brieflichen Streitgesprächs um Verdammung oder Erlösung von Pücklers Seele, sondern auch Pücklers eigenen Worten an bzw. über Schleiermacher als „Pfaff“ und „prêtre“ in der Tradition Torquemadas. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die rote Farbe des beanstandeten Satzes insofern sogar den entscheidenden Anstoß für Pücklers Reaktion darstellt, als der Satz sich dadurch im buchstäblichen Sinne vor dem demokratischen Schwarzbraun des übrigen Textes auf eine Weise in den Vordergrund drängt, die den Eindruck des Rechthaberischen noch verstärkt. Unter allen überlieferten Briefen Pücklers an Bettine sind die beiden zitierten die einzigen, in denen er zu einer Tinte greift, die von der sonst verwendeten braunen oder schwarzbraunen abweicht. In beiden Briefen übernimmt Pückler das von Bettine gewählte Mittel der farblichen Hervorhebung für eine der sprechenden Personae. Er wiederholt dabei jeweils die ihn besonders erbitternden Worte (die Bettine Schleiermacher in den Mund gelegt hat), um nun selbst anstelle der Schreiberin zu replizieren – und dies im ersten Falle auf eine Weise, als wäre sein Gegenüber tatsächlich gegenwärtig („Kannst Du Pfaff […]“). Neben dem Inhalt des Textes, in dem Pückler jeweils auf das „Gespräch“ Bezug nimmt, durch das er „bewegt“ und „frappirt“ worden sei, kommt der Tintenfarbe eine doppelte Funktion zu: Sie hebt einerseits den ominösen Satz als Ursache der Aufregung im Text hervor und charakterisiert ihn andererseits, analog zu den in Torquemada repräsentierten Scheiterhaufen der Inquisition, als geistigen Brandsatz beziehungsweise als Äquivalent für das tatsächlich oder im übertragenen Sinne vergossene Blut der Opfer eines christlichen „Intolerantismus“ auf protestantischer wie katholischer Seite. Bettines Antwort erfolgt erst auf den zweiten der hier zitierten Briefe Pücklers: [1r …] Taste mir den Schleyermacher nicht an der so unschul- | dig ist wie ein Kind, an dem von mir ganz allein erfund- [1v] denen Gespräch; ich habe zwar in seinem Geist es aufgesezt, | und was ich ihn sagen lasse würde er nicht verläugnen, | aber dies alles hat Dir nicht ausschließlich zu gelten | was ich wircklich mit ihm gesprochen habe ist mit wenig | Worten Dir dargelegt. „Er glaubt nehmlich was meine | Lippen über Dich aussprechen;“ und hat Tiefen Sinn ge- | nug den Reitz zu ahnden der in Deinem unschuldigen | Windelgeist mich anlacht. 58
58
Hs FDH 13298: Bettine an Pückler, o.O. o.D. Dbl., 44,6/22,3 x 26,4, dünnes Papier, gelblich, gebräunt; Wasserz. „E & R“, zusätzlich quer und hoch je 1x gefaltet; 1r–2v beschriftet, br. Tinte, hier 1rv. Vgl. Gajek BW, Br. 54, [Berlin, nach dem 9. August 1832], S. 176–179, hier S. 177.
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Das, was kurz zuvor noch wie eine fremde Stimme in dem von Bettine wiedergegebenen Dialog erschien, die deshalb mit roter Tinte hervorgehoben zu werden verdiente, wird plötzlich wieder dem Namen der Schreiberin unterstellt, der nun seinerseits wie das Pseudonym für den nicht anzutastenden Namen Schleiermachers aussieht. Daneben führt die Schreiberin an Stelle der christlichen Konfessionen, deren Anmaßungen zuvor von Pückler attackiert worden sind, eine Konfession anderer Art ins Feld: ihren Glauben an Pückler und seine in „Windelgeist“ angedeutete Erlösungsfähig- und -bedürftigkeit. Anstelle der gegenüber Pückler verwendeten mehrdeutigen Schriftzeichen und Farben ist es gegenüber Schleiermacher allein das mündliche Wort, das diesen zum Anhänger von Bettines Religion gemacht haben soll.59 Pückler, der im erwähnten Zusammenhang auch die Frage von Schleiermachers Namen am Ende des ersten der beiden zitierten Briefe thematisiert hatte,60 besiegelt sein Einlenken im folgenden Antwortbrief mit der Versicherung, er hätte schon längst verstanden, dass er „in der rothen Tinte einen bettinisirten Schleyermacher“ vor sich habe.61 Auch Pückler setzt – wenngleich nicht mit roter, sondern mit braunschwarzer Tinte – einen vergleichbaren brieflichen Zwitter in die Welt, der beiden Korrespondenzpartnern zugleich zuzurechnen ist. Dieser erscheint unter jeweils anderem Namen und in einem anderen Rahmen auch als ein anderer Text.
III.5 Intendierte und nicht intendierte Autorschaft und Pseudonymität im Brief Der abschließend zu betrachtende Brief Bettines an Pückler vom 5. Januar [1834] ist hier vorrangig als ein besonderes Beispiel für das so prekäre wie 59
60
61
Zur Frage des in Liebesbriefen direkt und indirekt verhandelten Zusammenhangs von religiöser und amouröser Konfession vgl. auch den Beitrag von Jörg Paulus im vorliegenden Band. „So captivirt ein Name! Denn es ist weiter nichts. Der Name imponirt mir noch, d nachdem der Mensch mir an Geist wie Körper (denn Geist ist Güte wie er richtig sagt) klein und häßlich erschienen ist.“ Hs BJK, V 9: Pückler an Bettine, 22. und 27. Juli 1832, 1r–4v (Anm. 54), hier 4rv (vgl. Gajek Bw, Br. 50, S. 167–169, hier S. 169). Hs FDH 13352: Pückler an Bettine, Muskau, 22. und 27. August 1832, Dbl., bläulich, Wasserz. „JWHATMAN/1830“, zusätzlich 1 x quer, 2 x hoch zum Brief gefaltet, 1r–2v beschriftet, sehr blasse, braungraue Tinte, hier 1v, danach dkl.br. Vgl. Gajek Bw, Br. 56, S. 181–182, hier S. 181. – Bettine verzichtet, soweit ich sehe, in allen folgenden Briefen an Pückler und nicht nur denjenigen, die Schleiermacher erwähnen, auf die Verwendung roter Tinte.
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illustre Geschick postalischer Mitteilungen von Interesse, die – einmal aus der Hand gegeben – mit oder ohne Intention des Absenders zum Teil einer literarischen Veröffentlichung gemacht und auf diese Weise dem Namen eines anderen unterstellt werden können. Das Brieforiginal62 weist auf seiner dritten und vierten Seite (2rv) viele Verbesserungen und Einfügungen auf. (Abb. 5) Die relativ kleine Schrift dieser Einfügungen lässt nicht sofort erkennen, dass es sich hierbei um eine vom sonstigen Brief abweichende Handschrift handelt, diejenige Pücklers. Pückler hat Bettines Brief offensichtlich mit dem Zweck bearbeitet, sie in seine jüngste literarische Veröffentlichung aufzunehmen. Bei Gajek wird bereits auf die Parallele der letzten Version des Briefes mit einer Passage in Tutti Frutti hingewiesen, doch die Überarbeitung Pücklers wie bei Assing offenbar als diejenige Bettines angesehen und deshalb unter ihrem Namen in die Edition der Briefe aufgenommen. Da der Brief aus diesem Grund bislang nur in Pücklers Endfassung vorliegt, wird hier die gesamte Passage des Briefes wiedergegeben, die von den Änderungen betroffen ist. Um beide Schreibstufen des Briefes näherungsweise sichtbar zu machen, erscheinen Worte Bettines, die von Pückler ganz gestrichen wurden, hier ungestrichen, gefolgt von den Ergänzungen Pücklers (fett), die, sofern sie nicht einfach die Verbesserung eines Buchstabens oder Satzzeichens betreffen, über den durchgestrichenen Passagen zu denken sind.63 [2r…] [mittelbr. Tinte, Bettines Hd.] Sie nennen sich einen [dunkelbr. Tinte Pücklers Hd., im Folgenden fett] Beybl. zu S. 168.64 tiefversunkenen argen65 Sünder | und zugleich sprechen Sie Ihre Sehnsucht nach dem Göttlichen | mit Leidenschaft aus; der Christus der Ihren welt-
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63
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Hs. BJK, V 9: Bettine an Pückler, [Berlin,] 5. Januar 1835 [recte: 1834], 1 Dbl., gelblichweiß, 45,2/22,6 x 27,3; zusätzlich hoch und quer je 1x zum Brief gefaltet; Wasserz. „JWHATMAN/TURKEY MILL/1832“, 1r–2v beschrieben, mittelbr. Tinte, Seiten 2rv: Korrekturen von Pücklers Hd., dklbr. Tinte. – Vgl. Gajek Bw, Br. 98, S. 271–275 und ebd. S. 486: Begründung für Korrektur der Jahreszahl (bei Assing I, S. 262–266, noch „1835“), sowie Hinweis auf Pücklers wörtliche Übernahme der Passage „Sie nennen sich […] wer er ist.“ (ebd. S. 273–275) in: Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart: Hallberger, 1834, S. 22–26. Eingriffe Pücklers als die von Bettine gelesen. Der nach Pücklers Einfügungen folgende Strich, der ihren Ort anzeigt, ist hier mit einem „/“ angedeutet. Genauere Angaben zu Streichungen und Änderungen in den Anmerkungen. Zu Abweichungen des endgültigen Drucktexts der Passage gegenüber dieser letzten Brieffassung vgl. Tutti Frutti (Anm. 62), eingeleitet von: „Hören Sie z.B., was mir kürzlich eine der geistreichsten Frauen schrieb, denen überhaupt Religiosität so schön ansteht:“, ebd. S. 22. „Beyblatt“ mit Seitenangabe vermutlich Verweis auf die Arbeitsfassung von Tutti Frutti, dessen Bde. Pückler zu dieser Zeit verfasst bzw. redigiert. Pückler: Streichung und Durchkringelung von „tiefversunkenen argen“.
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Abb. 5: Bettine von Arnim an Hermann von Pückler-Muskau, [Berlin,] 5. Januar 1835 [recte 1834], 2r, Bettines Hd., mit Verbesserungen in Pücklers Hd., Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, Konv. Nr. 9
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lichen/ Neigungen, Ihrem66 | irdischen/ Handlen ein steter Vorwurf ist der schon 1834 Jahre vom Erdboden | verschwunden, der soll – den, wünschen Sie, er möge nur selbst/67 wiederkommen in seiner einfachen mensch- | lichen Gestaldt, die nicht blendet, nicht den stolzen Blick des Auges | bricht, der soll siegen über Sie, mit dem wollen Sie freudig folgen in/68 seiner Weisheit u. Herrlichkeit:/ Sie verlangen | es troz dem, daß die Sünde ihre Macht an Ihnen noch nicht verloren | hat? – Warum verlangen Sie denn eben/ nach Christus? – hat denn | die Welt keinen anderen Helden geboren seit dem? oder | vor dem, dessen Weisheit mit Ihren Bedürfnißen besser im | Einklang wär?69 – der sich nicht für einen Gott ausgiebt und | doch edel ist und alles Große Will, aus reinem Willen zur | Schönheit? – Warum verlangen Sie denn nach Christus, der70 ja deutlich/ gesagt | hat: Ich bin Gottes Sohn? – 71 da Sie doch glauben,72 er ist nicht Gottes | Sohn,73 und der/ also einen Irrthum oder einen Betrug nach Ihrem Glauben/ begangen hat? – | Warum verlangen Sie nach einem Menschen der uns mit so selt- | samen Geheimnißen umgeben hat; der gesagt hat: Esset mein | [2v] Fleisch und trincket mein Blut? da doch in dieser Aufforderung | für Sie keine göttliche Überzeugung liegt? – Sie haben eine Leidenschaft Fürst Pückler74 zu diesem längst | verscharrten und verwesten Christus. Erst hat Ihr Verstand | Kraft gewonnen selbst zu urtheilen, da haben Sie eingesehen | daß die Macht der Begeistrung in diesem guten Menschen | ihn dazu bewegte sich für Alle aufzuopfern75 daß er weise war | und das er nur das Edle wollte; aber er war nicht Gott; | (freilich war er nicht Gott; er war nur Mensch, aber um so mehr ist er Gott.) nach dem Ihr Urtheil nun gereift ist nach- | dem Sie Ihre Vernunft gebraucht haben, und entschieden haben | daß andre Menschen grössere Ansprüche an Ihre Liebe haben | wie er, nach dem böse Neigungen Gewalt über Sie gewonnen | haben und der Teufel wie Sie sagen mächtig in Ihnen geworden | ist; nun sehnen Sie sich nach Ihm troz dieser Macht. Sie fühlen | wär er hier, Sie würden nie weiter wollen als in seiner | Nähe seyn; alles Neue alles Schöne wär Ihnen nichts gegen | einen Spruch aus seinem Munde. O Fürst Pückler,76 mein theurer Freund,/ ist denn | die Macht dieses 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Pückler: „ihrem“ zu „ , Ihrem“. Pückler: „ , der“; zu „ – den,“; einfache Streichung von „soll“; Einfügung über der Zeile ab „wünschen“. Pückler: „der soll “ zu „dem“; Streichung von „soll siegen über Sie, mit“; Einfügung über der Zeile ab „wollen“. Pückler: Durchkringelung von „?“ Pückler: „der“ zu „ ,der“. Pückler: Unterstreichung in „Ich bin Gottes Sohn“; Durchstreichung von „?“; Nachzeichnung von vermutlich schon vorhandenem „–“. Pückler: „glauben, “ zu „glauben: “ Pückler: „Sohn,“ zu „Sohn;“. Pückler: Durchkringelung von „Fürst Pückler“. Pückler: Komma nach „aufzuopfern“. Pückler: „Fürst Pückler“ gestrichen und Einfügung von „mein theurer Freund,/“ über der Zeile.
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Menschen nicht gewachsen seit seinem Grabe? | Da er damals doch nur einfältige Fischer an sich zog, die | unschuldig waren und emfänglich für das gute; und jezt verderb- | te Sünder die Selbstherrisch sind, voll Selbstliebe geschwächt durch | Nachgiebigkeit und Befriedigung aller unedlen Begierden, die | ihn verläugnet haben und vergessen, diese jezt entzündet | daß sie mit Vertrauen an seine Brust fallen möchten, daß sie | es für das einzige Labsal ihrer nie befriedigten Sehnsucht halten | von ihm belehrt und angehaucht zu werden. O glauben Sie immer nicht daß er Gottes Sohn ist, wenn Sies | vermögen; wenn diese Liebe zu ihm nur in Ihnen wächst, dann | ist es doch gewiß daß Er Sie liebt und anerkennt, und die Macht | seiner Heilungen an Ihnen übt, und wie könnte Ihnen da Weh | geschehen? – Nähmen Sie erst/ in Ihrem Herzen die Zuflucht zu dem heisgeliebten Freund | bald würden Sie Eins mit ihm seyn und würden nicht mehr bezweiflen wer Er ist.
Im Gegensatz zum „bettinisierten Schleiermacher“ den die Schreiberin selbst mit Hilfe der roten Tinte ins Werk setzt, findet Pücklers Eingriff in Bettines Brief erst in einer wiederholten Leseszene statt, die sich zu einer Schreib- und Korrekturszene wandelt. Pücklers Umarbeitung der von Bettine schriftlich festgehaltenen Gedanken zielt vorrangig darauf ab, sie für Dritte verständlicher zu machen und allzu deutliche biographische Hinweise auf die Korrespondenten zu tilgen. Durch die Bearbeitung des Briefes und seine Aufnahme in eine literarische Veröffentlichung verliert das Schreiben jedoch endgültig seinen Status als realer Brief – selbst wenn Pückler die bearbeiteten und anonymisierten Sätze Bettines innerhalb seiner Veröffentlichung mit mehr oder weniger Recht als die ihren begreift und ausgibt. Mit der Aufnahme in Tutti Frutti wird Bettines Brief Teil eines literarischen Werkes, das mit fiktionalen Mitteln arbeitet und unter dem Pseudonym des „Verstorbenen“ erscheint. Im Falle der Briefedition ist es umgekehrt. Hier sind es Pücklers Änderungen, die in den bisherigen Ausgaben der Korrespondenz unter dem Namen Bettines erscheinen. Dabei ist das editorische Geschick des Briefes insofern von besonderem Interesse, als dieser bislang allein als literarische Bearbeitung den Weg in die Edition der Briefe gefunden hat – Briefe, die lange Zeit vorrangig als historische Dokumente behandelt wurden. Zumindest der vorliegende Brief weist in seiner letzten Textstufe und edierten Form auch einen Bearbeiter und Autor auf, der hinter den Schriftzeichen der Verfasserin bislang verborgen geblieben ist, obwohl oder vielleicht gerade weil er den Brief seinem eigenen Pseudonym unterstellt hat. Das vorliegende Beispiel kann die Schwierigkeit illustrieren, im Falle von Briefen zwischen Verfasser- und Autorschaft zu entscheiden – und dies nicht allein deswegen, weil Irrtümer in Bezug auf ihre konkreten Verfasser und Bearbeiter möglich sind, sondern weil der Unterschied zwischen dem Verfasser eines Briefes, der diesen für einen oder mehrere
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Adressaten bearbeitet, und einem Bearbeiter, der dies anstelle des Verfassers tut, schwer bestimmbar sein kann.
IV. Fazit Die vorgestellten Briefe aus der Korrespondenz von Bettine von Arnim und Hermann von Pückler-Muskau brechen auf unterschiedlichen Ebenen mit konventionellen Vorstellungen hinsichtlich der Form und Funktion von Briefen und Liebesbriefen. So sind die Briefe mit dem Sprachoder Bildmaterial eines als anwesend fingierten realen Gegenübers durchsetzt und inszenieren die briefliche Teilhabe weiterer Adressaten (Varnhagen, Rumohr, Goethe, Schleiermacher) am Briefgespräch mittels Tintenfarbe, Briefbeigaben und Zeichnungen. Die erwähnte und für Bettines Goethebuch von Greiner konstatierte Echopoetik ist bereits im Briefwechsel zwischen Bettine von Arnim und Pückler angelegt, der parallel zur Entstehung des Goethebuches geführt wird. Schon Bettines Briefe an Pückler thematisieren im jeweils neu variierten Zusammenspiel aus Schrift, Bild und den im Briefverkehr eingesetzten Materialien jene für das Goethebuch konstatierte Absage an ein Autorschaftskonzept der Geschlossenheit. Dieses bereits in den Briefen an Pückler erkennbare Verfahren lässt sich als auktoriale Selbstermächtigung Bettine von Arnims lesen, die im Gegensatz zu ihrem früheren Ich77 nicht nur die eigenen Briefe wiederliest, bearbeitet und neu schreibt, sondern in Liebesbriefen an Pückler sich in Goethe einen imaginären Geliebten erschafft, wenn sie ihm die eigenen Dichtungen als Rede an sie selbst in den Mund legt und damit zugleich Pücklers rege Anteilnahme gewinnt – nicht zuletzt aufgrund der Doppeladressierung der Briefe, die Pückler indirekt zum Rivalen Goethes machen. Das als Echo-Rede bezeichnete literarische Verfahren Bettines ist zugleich Reflexion und künstlerische Reaktion auf die ihr zugedachte Rolle einer Leserin, die unabhängig davon, an wen Dichtungen ursprünglich adressiert worden sein mögen, sich selbst als deren Adressatin begreifen darf und soll. Das Spiel mit epistolären und sozialen Konventionen im Briefwechsel mit Pückler modifiziert nicht allein die biographischen Fakten nach eigenem Ermessen, sondern gibt Bettine, die sich Goethes Dichtungen im Rahmen der versandten wie der überarbeiteten Briefe anver77
Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme (Anm. 6), S. 157, in Bezug auf die junge Bettine von Arnim: „Aber statt durch Relektüre ihrer Handschrift zu Bewußtsein und Autorschaft zu kommen, liest sie Mondscheindelirien nicht wieder.“
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wandelt, auch als idealtypische Rezipientin eines sich autonom setzenden Kunstwerkes zu erkennen, auf das sie mit der Autonomie einer Leserin reagiert, die sich von heteronomen Ansprüchen befreit.78 In ihrer Eigenschaft als Herausgeberin und heimliche Autorin des Goethebuches lässt Bettine jedoch heteronome Ansprüche der prospektiven Leser ihres Goethebuches keinesfalls außer Acht. Denn die imaginäre Gestalt des Kindes im Titel des Buches – Pseudonym für das ehemalige wie gegenwärtige Ich und zugleich Widerspruch gegen die unzulässige Gleichsetzung von Biographie und Brieffiktion – rechnet auch auf die Neugierde des Publikums, das den wahren Namen des Kindes aufzudecken wünscht und Goethes Briefwechsel als Schlüsselliteratur kauft und liest. Zum Widerspruch gegen heteronome Ansprüche der Gesellschaft gegenüber einer bürgerlichen Herausgeberin und heimlichen Autorin gehört auch die Widmung des Buches an Pückler, der aus Sicht des Publikums zu Goethe einen denkbar großen Kontrast bildet. Doch ist neben allem Widerspruch gegen gesellschaftliche Erwartungen der Widmungsbrief Bettines an Pückler auch das, was er zu sein vorgibt: der Dank an denjenigen, der als ein zeitweiliges Gegenüber ihre literarische Emanzipation begleitet und ihr bereits vor Veröffentlichung des Goethebuches im Rahmen der Andeutungen über Landschaftsgärtnerei die Möglichkeit eines ersten, anonymen literarischen Auftritts geboten hat.79 Die zwischen Pückler und Bettine gewechselten Briefe verhandeln die sie beschäftigenden ästhetischen und religiösen Fragen auf eine Weise, die mit dem Konzept einer Universalpoesie im Rahmen des Briefes insofern Ernst macht, als die Grenzen zwischen Brief und Fiktion, Schreiber und Verfasser, Empfänger und Adressat, zwischen Abwesenden und Anwesenden, genannten und gemeinten Adressaten wechselseitig überschritten werden. Nicht nur Bettines Briefbücher, auch Pücklers literarische Veröffentlichungen verzichten auf den bürgerlichen Autornamen. Während Goethes Briefe einem „Kinde“ gelten, sieht der „Verstorbene“ mit jedem neuen Buch Pücklers seiner Wiederbelebung entgegen.80 Die Briefe der Korres78 79
80
Zu Bettines Bruch mit der Position der Leserin vgl. schon Hahn: „Weiber verstehen“ (Anm. 4), hier S. 20. Vgl. Bettines „Aufsatz“ zu Schinkels Entwürfen für die Säulenhalle des Berliner Museums, den Pückler – auf Bettines Wunsch in anonymisierter Form – als denjenigen eines „kompetentern Richter[s]“ in sein Gartenbuch aufnimmt: Hermann von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei verbunden mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau [1834]. Frankfurt/Main 1996, S. 242–253, hier S. 242. Vgl. z.B. im „Sendschreiben des Fürsten von P.... M.... an den Autor dieses Buches“. In: Vorletzter Weltgang von Semilasso. Traum und Wahcen. Aus den Papieren des Verstor-
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pondenz zwischen Bettine und Pückler, die parallel zu den literarischen Texten entstehen oder ihnen sogar vorausgehen, bereiten durch das in ihnen entworfene Netz unterschiedlichster Adressaten jene ästhetische Vielstimmigkeit vor, die es einer heterogenen Leserschaft erlaubt, sich in den pseudonym und anonym veröffentlichten Werken und Briefen als deren Adressaten wiederzuerkennen. Der als „Gespräch unter Abwesenden“ definierte Brief avanciert in der untersuchten Korrespondenz zu einem Medium, das mittels Schriftgestaltung und Bild die Anwesenheit und Gegenwart der Abwesenden behauptet und zu diesem Zweck auch auf Muster ritueller und religiöser Praktiken zurückgreift. Die auf den Briefen teilweise aufbauenden literarischen Werke verdanken einen Teil ihrer ästhetischen Attraktivität der in den Briefen spielerisch erprobten Macht der Zeichen über die Zwänge des Faktischen. Anders als die Briefe aber verfügen diese literarischen Werke lediglich über das Mittel der einfarbigen Schrifttypen, die jene in der Materialität des Briefes wurzelnden Ausdrucksformen des Analogen nun der symbolischen Ordnung der Sprache allein unterwerfen und sie damit in ihrer materiellen Vielfalt beschneiden müssen.
benen. Erster Theil. In Europa. Zweite Abtheilung. Stuttgart: Hallberger 1835, S. 115-173, hier S. 116: „Besonders seit der Autorschwindel Dich ergriffen, ist meinem Elend kein Ende mehr […]“
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Musikalische Liebesbriefe Zur Verwendung eines intimen Kommunikationsmediums bei Clara und Robert Schumann I. La musique est une langue, & par excellence celle des amoureux; puisqu’elle est la seule qui permette à deux personnes de parler à la fois sans confusion, ni manquement aux lois de la … politesse […]1
In den oben angeführten Zeilen, die einem musikologischen Lexikon von Albert de Lasalle aus dem Jahr 1868 entnommen sind, wird ein enges wechselseitiges, quasi-natürliches Verhältnis zwischen der musikalischen Ausdrucksform und der Sprache der Liebenden behauptet. Die Liebenden bevorzugen die musikalische Mitteilung nicht zuletzt deshalb, so Lasalle, weil jene es ihnen erlaube, gleichzeitig zu kommunizieren, ohne sich dabei in Konfusionen zu verwickeln und ohne beim leidenschaftlichen Durcheinanderreden die Gebote der Höflichkeit zu verletzen. Wenn es zutrifft, dass das Medium der Musik eine Sprache der Liebenden par excellence darstellt, dann wäre auch der musikalische Liebesbrief ein bevorzugtes Kommunikationsmittel für amourösen Austausch und Liebesbotschaften, und zwar insbesondere im Zeitalter der Romantik, in dem die Nähe zwischen Musik und Emotionalität generell eine sehr bedeutende Rolle spielte. Insbesondere der Vokalmusik wird häufig eine Sonderstellung eingeräumt, was die ihr eigenen expressiven und emotiv geprägten Qualitäten betrifft. Noch Roland Barthes geht von der Vorstellung aus, dass die menschliche Stimme über einen individuellen und irreduziblen Überschuss verfüge, der sich wissenschaftlich, psychologisch, soziologisch oder philosophisch nicht vollständig ausloten lasse. In seinem Essay La Musique, la voix, la langue notiert Barthes in diesem Sinne:
1
de Lasalle, Albert: Dictionnaire de la musique appliquée à l’amour. Avec un frontispice de E. Morin et un appendice bibliographique. Librairie internationale, Paris 1868, S. 105–106.
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La voix humaine est en effet le lieu privilégié (éidétique) de la différence: un lieu qui échappe à toute science (physiologie, histoire, esthétique, psychanalyse) qui épuise la voix: classez, commentez historiquement, sociologiquement […] Tout rapport à une voix est forcément amoureux, et c’est pour cela que c’est dans la voix qu’éclate la différence de la musique, sa contrainte d’évaluation, d’affirmation.2
Insofern sich die menschliche Stimme in ihrem je eigenen Timbre und individuellen Profil, sei es in gesprochener oder gesungener Form,3 der wissenschaftlichen Beschreibung und Kategorisierung letztlich entzieht, enthält sie ein Moment der Differenz, einen unauflöslichen, inkommensurablen Rest, der als Supplement zur kommunikativen Aussage fungieren kann. Auf musikalische Partituren von Vokalmusik übertragen, die zur performativen Umsetzung und Aufführung bestimmt sind, bedeutet dies, dass sie ebenfalls im Keim einen solchen Mehrwert enthalten, der lediglich der Aktualisierung in der individuellen Darbietung der Virtuosin oder des Virtuosen bedarf. Denn der Schritt vom geschriebenen ‚Text‘ zum musikalischen Ereignis wird im Prozess der Werkgenese – also durch die Komposition selbst – immer schon vorweggenommen. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, was sich in dem oben angedeuteten Kontext und systematischen Bezugsrahmen mit dem Begriff des ‚musikalischen Liebesbriefs‘ verbindet und welche Implikationen er in sich birgt. Ferner möchte ich auf zwei weitere Aspekte der interdisziplinären Liebesbriefforschung im Zeichen von intermedialen Perspektiven eingehen: Seit wann gibt es in der neuzeitlichen Kulturgeschichte ‚musikalische Liebesbriefe‘ und wie werden sie diskursförmig erfasst? Daran anschließend wäre zu überlegen, wie speziell Clara und Robert Schumann von diesem Medium Gebrauch machen und inwiefern sie sich in ihrem Braut- und Ehe-Briefwechsel auf die genannte Textsorte bzw. den Medientyp des ‚musikalischen Liebesbriefs‘ beziehen. Welche spezifi2 3
Barthes, Roland: „La Musique, la voix, la langue”. In: Roland Barthes, Œuvres complètes, Édition établie et présentée par Éric Marty, Tome I –III. T. III, Paris 1995, S. 581. Bei Roland Barthes ist der Prototyp der menschlichen Stimme bzw. die ursprüngliche Form eine Singstimme. Vgl. diesbezüglich Kintzler, Catherine: „Voix parlée et voix chantée dans l’Essai sur l’origine des langues de J.J. Rousseau: une décision stratégique”. In: Parler, dire, chanter: trois actes pour le même projet. Ed. Georgie Durosoir. Paris 2000, S. 9–16, hier S. 14: „Enfin, un problème reste obscur, celui de l’identité ou de la distinction entre l’émission de la voix parlée et l’émission de la voix chantée, ou encore celui de l’ homogénéité du concept de vocalité. L’Essai suppose implicitement en effet que la voix humaine est essentiellement et originairement une voix chantée. La voix parlée apparaît comme une dégradation, une perte d’accent, comme le montrent très bien les pseudoexpérimentations du chapitre VII, qui ne sont concluantes que si l’on a déjà décidé que la voix humaine est d’abord et primitivement une voix chantée, d’où l’ équivalence si souvent répétée par l’auteur entre les vers, le chant, la parole.“
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schen Funktionen und Bedeutungsdimensionen kommen ihm dabei im Einzelnen zu? Was meinen wir, wenn wir von ‚musikalischen Liebesbriefen‘ sprechen? Der Begriff wird in letzter Zeit im landläufigen Sprachgebrauch und in den Medien durchaus inflationär gebraucht. So ist im Blick auf einen Song der US-amerikanischen Rock-Band Incubus mit dem Titel „If Not Now, When?“ aus dem Jahr 2011 bei den Sängern und Kritikern die Rede von einem „musikalischen Liebesbrief an die Welt“.4 Ähnlich wird die Ausstrahlung der Idee des musikalischen Liebesbriefs im Klassiksektor geschickt zur Vermarktung genutzt: Die Sängerin Magdalena Kožená hat im Jahr 2010 ein Album unter dem Titel „Lettere Amorose“5 herausgebracht, eine von der Kritik einhellig gepriesene Einspielung, in der sie Liebeslieder von italienischen Komponisten des 17. Jahrhunderts singt, darunter Monteverdi, d’India, Merula, Vitali, Kapsberger, Marini und Strozzi; konkrete Liebesbriefe kommen darin allerdings nicht vor. Solche inflationären Verwendungsweisen des Begriffs beziehen sich also mehr auf die Kommunikation mit einer breiteren Öffentlichkeit, nicht in erster Linie auf die im vorliegenden Zusammenhang primär interessierende intime Kommunikation in Paarbeziehungen, auch wenn die genannte Assoziation atmosphärisch mitschwingt und in der Werbestrategie mehr oder weniger subtil genutzt wird. Dabei hat die angesprochene Verbindung von Musik und Liebeskommunikation im engeren Sinne diskursgeschichtlich und in der musikalischen Praxis in Europa offenbar eine lange frühneuzeitliche Vorgeschichte, ohne die ihre heutige Beliebtheit und ihr eigentümliches Faszinationspotential nicht denkbar wären. Liebeswerbung und Musik sind in der europäischen Neuzeit seit ihren Anfängen im 15. und 16. Jahrhundert aufs engste verschränkt. In zahlreichen berühmten Theaterstücken und Opern bringen werbende Liebhaber, meist adliger oder zumindest vornehmer Herkunft, der Angebeteten ein Ständchen dar – dies ist eine typische Situation, der wir sowohl in Shakespeares Komödie Two Gentlemen of Verona aus dem Jahr 1594 (mit dem Lied „Who is Sylvia?“) als auch in Mozarts Don Giovanni (uraufgeführt 1787) begegnen. Don Giovannis Werbung um die hübsche Zerlina kulminiert bekanntlich in einem nächtlichen Ständchen “Deh, vieni alla finestra”, das oft auch schlicht als “Serenade” bezeichnet wird. 4 5
www.kultmuenchen.de/konzerte/pop-rock/event/Incubus_muenchen_10976.html Siehe auch: http://www.myvideo.de/watch/8197292/Incubus_If_Not_Now_When [12.5.2012] Kožená, Magdalena: Lettere Amorose. CD. Verlag: Deutsche Grammophon. Vgl. auch Stäbler, Marcus: Magdalena Kožená: Lettere Amorose. Werke von Monteverdi, d’India, Merula, Vitali, Kapsberger, Marini, Strozzi, und andere (Magdalena Kožená, Mezzosopran). NDR Kultur, 4.10.2010, http://www.ndr.de/kultur/klassik/ncdsliebesbriefe101.html [12.5.2012].
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Es ist zudem kein Zufall, dass das Liebeslied An Sylvia („Was ist Sylvia, saget an, dass sie die weite Flur preist?“) aus Shakespeares früher Komödie eine zweite Hochkonjunktur in der Vertonung durch Franz Schubert erlebt, deren Beliebtheit bis heute anhält, – losgelöst vom ursprünglichen dramatischen Ereigniszusammenhang, in dem das Lied durch den etwas zwielichtigen Proteus vorgetragen wird und schon von daher nicht ausschließlich positiv konnotiert ist. Wer nicht selbst singen konnte oder mochte, engagierte stattdessen einen begabten Virtuosen zum Vergnügen und zur Unterhaltung der Geliebten (so zum Beispiel in Rossinis Il barbiere di Siviglia). Musikalische Liebesbezeugungen sind wirkungsvoll und kommen einer Vorstellung entgegen, die das musikalische Medium bereits im Vorfeld der Romantik in höfischen und frühbürgerlichen Gesellschaften eng mit Empfindsamkeit, intensivem Gefühlsausdruck sowie Intimität in Verbindung bringt und es so als ideales Medium für die moderne Liebeskommunikation prädestiniert. Schon der Dichter und Komponist Thomas Campion, ein Zeitgenosse Shakespeares, bemerkt 1614 treffend in diesem Sinne: „Courtship and music suit with love. They both are works of passion.“6 Musik gleicht der Liebe darin, so ein wirkungsmächtiges Argument aus dem Liebes-Diskurs der Frühen Neuzeit, dass sie auf leidenschaftlichen Impulsen und Affekten beruht. Zudem erscheint die von Musik begleitete Liebessprache aber auch als Ausdruck eines gepflegten, verfeinerten, bereits ästhetisch ausgewiesenen Geschmacks: Wer seine Liebesgrüße und sein Liebeswerben über das musikalische Medium transportiert, weiß sich einem ausgesuchten Kreis der musisch Gebildeten und anspruchsvollen Kunstkenner zugehörig.
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Aus dem Lied von Thomas Campion: Woo her and win her von 1614, das zur Lautenbegleitung gesungen wurde, sei hier die vollständige Strophe zitiert: Courtship and music suit with love, They both are works of passion: Happy is he whose words can move, Yet sweet notes help persuasion. Mix your words with music then, That they the more may enter: Bold assaults are fit for men, That on strange beauties venture. (Old ballads: historical and narrative, with some of modern date, Band 3. Hg. v. Thomas Evans, Robert Harding Evans. London 1810, S. 324.) Zuvor war das Lied bereits in Campions Maskenspiel The Lords’ Mask (1613) erschienen.
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Eine der ersten deutschsprachigen Opern – Ignaz Holzbauers Günther von Schwarzburg nach einem Libretto von Anton Klein7 – im Januar 1777 in Mannheim uraufgeführt, wird nicht zufällig von einer Art gesungenem Liebesbrief eröffnet. Der erste Aufzug der Oper zeigt Anna, die Tochter des Pfalzgrafen, wie sie gerade einige Zeilen auf den weißen Rand eines Porträts niederschreibt und ihre Arie mit dem Satz „es ist geschrieben“ eröffnet. Aus ihrer Gesangspartie geht im Folgenden hervor, dass es sich um das Bildnis ihres Geliebten, König Karl, handelt, von dem sie sich durch die Politik ihres Vaters getrennt sieht. Es folgt ein gesungenes Liebesbekenntnis Annas. Im zweiten Aufzug des zweiten Akts wird Karl sein Porträt mit der verschriftlichten Liebeserklärung Annas finden. Hier ist es der Adressat bzw. Leser, der den Brief und das Liebeszeugnis aus der Feder der Liebenden vorsingt. Die musikalische Komposition unterstreicht auf raffinierte Weise den empfindsamen Rezeptionsprozess, die emotional dichte Lektüresituation. Es gelingt Ignaz Holzbauer zwei Bedeutungsdimensionen kunstvoll zu verschränken: Während die sprachliche Ebene die Aussagen der Liebenden transportiert, wirkt die Musik wie ein Seismograph der Affekte und Reaktionen des Lesenden bzw. Empfängers, dem die Liebeserklärung in Gestalt des beschrifteten Bilds, wie zufällig in die Hände gespielt wird. Wir können aus den wenigen exemplarisch genannten Beispielen also bereits ersehen, dass die Assoziation von Liebesbezeugung und musikalischem Medium in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen und -situationen auftritt und recht weit verbreitet ist. So verwundert es kaum, dass sie in ästhetischen Kontexten zu verschiedenartigen Gestaltungsoptionen erfolgreich eingesetzt wird. Diese skizzenhaften systematischen Überlegungen seien dem Briefwechsel zwischen Clara und Robert Schumann als Folie und mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung vorangestellt, ohne die eine solche, recht spezielle Interaktion der Liebenden, ein besonderer musikalisch grundierter Austausch von Liebesbezeugungen wohl kaum denkbar wäre. Es gibt mehrere Gründe und Hinsichten, warum man bei dem Braut- und EheBriefwechsel von Clara Wieck und Robert Schumann, der über 100 Briefe umfasst, auch von „musikalischen Liebesbriefen“ sprechen kann. Ich möchte im Folgenden drei verschiedene Bedeutungsebenen der Bezeichnung und die damit verbundenen Medientypen voneinander unterscheiden und gegeneinander abgrenzen: 7
Vgl. Holzbauer, Ignaz: Günther von Schwarzburg. CD-Einspielung cpo. La Stagione unter Leitung von Michael Schneider. 1994.
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1. Die beiden Liebenden, Clara Wieck und Robert Schumann, senden sich häufig wechselseitig eigene musikalische Kompositionen als Beigaben zu ihren Briefen, als persönliche Geschenke oder Liebesgaben. Hier kann man im Blick auf die Musikstücke im übertragenen Sinne von musikalischen Liebesbriefen sprechen. Aufgrund der engen Symbiose, die sie mit dem tatsächlichen Briefzeugnis eingehen, kann man beide Elemente zusammen auch als einen musikalisch erweiterten Liebesbrief betrachten. Beispielhaft dafür sind Schumanns „Kinderszenen“, op. 15. Am 19. März 1838 schreibt Robert Schumann an Clara Wieck: Und daß ich es nicht vergesse, was ich noch komponiert. War es wie ein Nachklang von deinen Worten einmal, wo du mir schriebst, ich käme dir auch manchmal wie ein Kind vor – kurz, es war mir ordentlich wie im Flügelkleide, und hab ich da an die 30 kleine putzige Dinger geschrieben, von denen ich etwa zwölf ausgelesen und ‚Kinderszenen‘ genannt habe.8
Die Kinderszenen werden von Schumann als Nachklang auf einen Brief der Geliebten gesehen, in dem sie seine Affinität zum Kind bemerkt hatte. Die Inspiration zu der Komposition wird also nachträglich in einer Reflexion Claras verortet, die sie im Liebesbrief schriftlich festgehalten hat. Mehr noch: Die so entstandene Komposition ihrerseits gibt Schumann wiederum Anlass, sie in einem Brief zu erwähnen und Clara besonders zuzueignen. Die Kinderszenen figurieren demnach nicht nur als eine originelle Schöpfung Schumanns, sondern auch als verbindendes Moment zwischen den Liebenden, das ihr produktives wechselseitiges Liebesverhältnis begleitet und bekräftigt. Daraus erwächst eine Bestätigung jener romantischen Konzeption des Liebespaars, das sich als intimer Austausch zwischen Gleichgesinnten darstellt. Die Idee des Kindlichen fungiert dabei als das Verbindende zwischen den Liebenden untereinander und mit dem romantischen Ideal. Jene Selbstinterpretation der Liebenden und ihrer besonderen Beziehung mithilfe und durch die Musik ist wiederkehrendes Motiv des Briefwechsels zwischen Clara und Robert Schumann und hat zu ihrer Stilisierung zum idealen Liebes-Künstlerpaar durch die Nachwelt wesentlich beigetragen. Hinzu kam die zeitweilig durch den Vater Wieck erzwungene Trennung, die den Mythos des romantischen Liebespaars par excellence untermauerte. Letzterer schwingt in den populären Verfilmungen der Liebesgeschichte, wie etwa Frühlingssinfonie (1983) mit Herbert Grönemeyer, Natassja Kinski und Rolf Hoppe oder Geliebte Clara (2008) mit Martina Gedeck und Pascal Greggory bis heute nach – obwohl neuere Forschungsarbeiten und Biographien wie diejenigen von Nancy Reich ein8
Schumann, Clara u. Robert: Briefe einer Liebe. Hg. v. Hanns-Josef Ortheil. 1982, S. 94.
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dringlich gezeigt haben, dass das Verhältnis der beiden keineswegs ungetrübt war und der hochgesteckte romantische Anspruch an der alltäglichen, lebensweltlichen Realität des Familienlebens bis zu einem gewissen Grad scheiterte.9 2. Neben der erstgenannten, intermedial um die Beilage einer Partitur erweiterten Textsorte findet sich bei Clara und Robert Schumann noch ein zweiter Typ des musikalischen Liebesbriefes – gemeint sind Widmungen von musikalischen Werken, die losgelöst und unabhängig vom Briefwechsel der beiden stattfinden. Schumann widmet Clara Wieck im Jahr 1836 eine Sonate (in fis-Moll, op. 1110), eine suggestive Geste, die wiederum als eine explizite und öffentliche Liebesbezeugung gelten darf, – zumal dies in einer für die Liebenden krisenhaften Zeit geschieht, nämlich während einer durch den Vater Wieck verordneten Trennung und erzwungenen Schreibpause in der wechselseitigen Korrespondenz – in der Tat handelt es sich hier um eine Art Ersatz-Liebesbrief an Clara Wieck, an dem gleichzeitig auch die Öffentlichkeit teilhat und Anteil nehmen konnte. Denn im weiteren Bekanntenkreis der beiden war der Konflikt zwischen Schumann und Wieck durchaus nicht unbekannt. Auf dem von Schumann für die Erstausgabe in Auftrag gegebenen Titelkupfer (Abb. 1) ist zu lesen: Pianoforte-Sonate, Clara zugeeignet von Florestan und Eusebius (1836).11 Die künstlerische Praktik des Weiterkomponierens von Motiven und Elementen aus der Komposition des anderen suggeriert eine intime, weil verschlüsselte Unterhaltung in einer nonverbalen musikalischen Kommunikation, die zu einer Geheimsprache der Liebenden avanciert.12 Die künstlerische Praktik des Weiterkomponierens von Motiven und Elementen aus der Komposition des anderen suggeriert eine intime, weil ver-
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Vgl. Reich, Nancy B.: Clara Schumann. The Artist and the Woman. Cornell 2001. Reich, Nancy B.: Clara Schumann. Romantik als Schicksal. Eine Biographie. Reinbek 1991. Vgl. Klassen, Janina: Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit. Köln, Weimar 2009, S. 197. Klassen nennt mehrere Schumann’sche Werke, in denen „jeweils ein musikalischer Gedanke Clara Wiecks aufgegriffen“ wurde: „in op. 5 der Bass aus dem Thema ihrer Romance variée op. 3, in op. 6 die erste Mazurkaphrase aus den Soirées musicales op. 6 Nr. 5, in op. 14 ein heute verschollenes Andantino der Clara Wieck, in den Schumann sich einfühlte, um dann eigene Erfindungen daraus zu entwickeln. Dieses Weiterkomponieren suggerierte, dass man sich gleichsam in einer gemeinsamen musikalischen Sprache unterhielte. Zur Verschmelzungsfantasie hatte schon die symbolische Aufladung ihrer Namenskoppelung auf Titelblättern oder Programmzetteln beigetragen, wie etwa Clara Wiecks Widmung ihrer Romance variée op. 3 an Schumann.“ Vgl. ebd., S. 197. Vgl. Klassen: Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit, S. 196 ff.
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schlüsselte Unterhaltung in einer nonverbalen musikalischen Kommunikation, die zu einer Geheimsprache der Liebenden avanciert.13
Abb. 1: Titelkupfer zur Pianoforte-Sonate, op.11.14
3. Eine weitere, dritte Dimension des Musikalischen im Liebes-Briefwechsel sei der Vollständigkeit ebenfalls noch erwähnt. Schließlich verhandeln die beiden Künstler Clara und Robert in ihren Liebes- und Ehebriefen nebenbei auch musikalische Fragen und Probleme systematischer bzw. 13 14
Vgl. Klassen: Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit, S. 196 ff. http://de.wikipedia.org/wiki/Florestan_und_Eusebius html [12.5.2012].
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theoretischer Art, ein Thema, das sie miteinander sehr verbindet. Musikalisch wäre in diesem Fall der gewählte Gegenstand sowie die Art und Weise der Reflexionen.
II. Inwiefern und in welcher Hinsicht, so wäre zu fragen, ist die musikalische Komposition überhaupt einem Liebesbrief vergleichbar. „La musique a sept lettres, l’écriture a vingt-cinq notes“ heißt es in einem Bonmot aus den Pensées des französischen Moralisten Joseph Joubert,15 das die grundsätzliche Ähnlichkeit der Partitur und der Schrift als affine semiotische Systeme unterstreicht. Mit dem Brief hat der Autograph einer Komposition die persönliche Handschrift des Verfassers gemeinsam sowie eine spezifische Materialität als Einschreibung der Schrift, hier der Noten oder Partitur, auf Papier. Die Handschrift verleiht der musikalischen Komposition das Signum des Einzigartigen, die Unterschrift des Autors, des Künstlers oder der Künstlerin, eine individuelle Signatur.16 Ich komme noch einmal zurück zum ersten Typ des musikalischen Liebesbriefs. Schon als Elfjährige setzte Clara Roberts Namen auf die Liste derer, die ihr erstes Werk im Druck erhalten sollten.17 Sie widmete ihm ferner ihr Opus 3 und schickte es ihm 1831, begleitet von einem kleinen Billett, welches ihrer mädchenhaften Schwärmerei für ihn Ausdruck verleiht: Sosehr, wie ich es bereue, ihnen beifolgende Kleinigkeit dediciert zu haben, und sosehr, wie ich wünschte, diese Variationen nicht gedruckt zu sehn, so ist das Unheil doch nun einmal geschehen, und ist folglich nicht zu ändern. … Ihre so geistreiche Bearbeitung dieses kleinen Gedankens soll die Meinige schlechte wieder gut machen…18
Sicherlich bedient die Elfjährige sich hier einer etwas gezierten, artigen Sprache und bemüht einen konventionellen Bescheidenheitstopos, wie er von einer jungen Dame damals erwartet wurde. Schon hier wird indes die 15 16
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Joubert, Joseph: Pensées, jugements et notations. Hg. v. Rémy Tessonneau. Paris 1989, S. 80. Der oben zitierte Zusammenhang schwingt implizit mit, wenn Jean Cocteau konstatiert: „Ecrire est un acte d’amour ; s’ il ne l’ est pas il n’ est qu’ écriture.“ (Jean Cocteau: La difficulté d’être. Paris 1947. Zitiert nach Ressi, Michèle: La condition d’artiste: regards sur l’art, l’argent et la société. Paris 1997). Vgl. Reich, Clara Schumann. Romantik als Schicksal, S. 72. Schumann, Robert: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, Schumann, Clara u. Robert: Briefwechsel, kritische Gesamtausgabe, 3 Bde. Hg. von Eva Weissweiler unter Mitarbeit von Susanne Ludwig. Basel, Frankfurt/Main 1984, 1987, 2001, hier: Bd. 1, S. 111. Vgl. Reich, Nancy B.: Clara Schumann. Romantik als Schicksal, S. 73.
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musikalische Gabe in Verbindung mit dem Briefchen zum versteckten Gefühlsausdruck und zur vorsichtigen Kontaktanbahnung genutzt, während die Verfasserin zugleich hinter ein wenig umständlich und etwas altklug wirkenden Höflichkeiten in Deckung geht. In den Briefen lässt sich fast durchgängig eine Doppelcodierung des Austauschs von kleinen musikalischen Kompositionen zwischen den beiden und des Dialogs über die Musik erkennen. Musikalischkünstlerische Selbstentfaltung und Liebesdiskurs scheinen dabei Hand in Hand zu gehen. So entsteht die Konzeption einer idealen Beziehung zweier gleichberechtigter Künstler, die sich in der Ausbildung ihres Talents wechselseitig unterstützen und fördern. Allerdings ist eine solche Beziehung und ästhetische Kooperation nicht ungebrochen. In diesem Zusammenhang ist auch Schumanns Bitte an Clara, ihm Kompositionen zuzusenden, zu sehen. 1838 schreibt sie ihm: Für dich habe ich schon seit langer Zeit eine Romanze angefangen, und es singt ganz gewaltig in mir, kanns aber nicht zu Pappier bringen (Andante und Allegro erschien erst 1839)19
Schumanns Kommentar zu diesem Werk deutet Janina Klassen zu Recht als ein neues Stadium in der Beziehung der beiden Künstler. Entscheidend ist dabei, dass Schumann eine geheime, ihm zugedachte Botschaft aus dem musikalischen Werk herausliest, ganz im Sinne einer intimen Liebeskommunikation. „An deiner Romanze hab’ ich nun abermals von neuem gehört, dass wir Mann und Frau werden müssen. Du vervollständigst mich als Componisten wie ich dich.“20 Ungewöhnlich und zugleich aufschlussreich erscheint an der zitierten Stelle die Bemerkung Schumanns, dass Clara ihn in seiner spezifischen Rolle als Komponisten ergänzen soll und dass beide aus diesem Grund eine Ehe schließen sollen. Schumanns Fantasien über die Verbindung und ersehnte Ehe mit Clara sind deutlicher als die ihrigen von der Idee der Seelengemeinschaft, einer engen symbiotischen Beziehung geprägt.21 Im Juni 1839 schreibt er an seine Verlobte: Wir geben dann auch manches unter unser beider Namen heraus, die Nachwelt soll uns ganz wie ein Herz und eine Seele betrachten und nicht erfahren, was von Dir, was von mir ist.22
19 20 21 22
Schumann, Clara u. Robert: Briefwechsel, S. 557 f. Vgl. Klassen: Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 200 ff. Schumann, Clara u. Robert: Briefwechsel, Bd. 1, S. 562. Vgl. Klassen: Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 196. Schumann, Clara u. Robert: Briefwechsel, Bd 2, S. 571.
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Dabei handelt es sich in doppelter Hinsicht um eine recht naive und die Realität verkennende Wunschvorstellung. Zum einen sind Claras Kompositionen sehr deutlich von Robert Schumanns musikalischem Stil zu unterscheiden, so dass ihre Zuordnung zur Verfasserin nicht schwer fällt. Zum anderen übersieht er, dass seine Geliebte nicht nach der exklusiven Zweisamkeit im privaten Refugium strebt, die er als Ideal ansieht. Deshalb treten in den Briefen gelegentlich Spannungen auf im Blick auf das jeweilige Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung. Dies hängt zum Teil mit Claras Selbstverständnis als Virtuosin zusammen.23 Auch als Komponistin ist sie in erster Linie durch jene Rolle der virtuosen und glamourösen Interpretin geprägt, denn seit ihrer Kindheit wirkte sie als Star an den europäischen Höfen und in den Konzertsälen der internationalen Kulturmetropolen. Die Kategorie der Virtuosität verlangt indes von Haus aus nach Öffentlichkeit, nach Bestätigung durch ein Publikum. Die Künstlerrolle Claras ist so betrachtet weniger introvertiert als die Konzeption vom romantischen Genie, die Schumann als eigenes Selbstbild vorschwebte. Zudem geriet Clara Wiecks künstlerisches Selbstverständnis der Tendenz nach in Konflikt mit jener Liebeszweisamkeit, die Schumann sich wünscht. Als gefeierte Virtuosin stand Clara Wieck im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des geselligen Gesprächs – eine solche Selbstwahrnehmung will nicht recht zu der Vorstellung vom Heimchen am Herd passen, die Robert Schumann – den Genderrollen seiner Zeit verhaftet – gelegentlich geltend macht. Im Hochzeitsjahr 1840, einige Monate vor der Eheschließung, schreibt Schumann in diesem Sinne an Clara: Nein das Weib steht doch noch höher als die Künstlerin, und erreiche ich nur das, daß du gar nichts mehr mit der Öffentlichkeit zu tun hättest, so wäre mein innigster Wunsch erreicht.24
Clara Schumanns erstes Weihnachtsgeschenk für Robert nach ihrer Hochzeit waren nicht zufällig drei eigene Liedkompositionen auf Texte
23
24
Auch im Blick auf spätere Liedkompositionen seiner Frau erwägt Robert Schumann eine gemeinsame Publikation und Ko-Autorschaft: „Wir haben die hübsche Idee sie mit einigen von mir zu durchweben und sie dann drucken zu lassen“ {Ehe-Tagebuch. Tagebücher, Bd. 2. Hg. von Gerd Nauhaus, Leipzig 1987. S. 134). Vgl. diesbezüglich auch die erhellenden Beiträge des Tagungsbands Peter Ackermann und Herbert Schneider (Hg.): Clara Schumann – Komponistin, Interpretin, Unternehmerin, Ikone: Tagung anlässlich ihres 100. Todestages, veranstaltet von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und dem Hochschen Konservatorium in Frankfurt/Main. Hildesheim, Zürich, New York 1999. (Musik-wissenschaftliche Publikationen, Bd. 12). Vgl. auch Klassen: Clara Wieck-Schumann. Die Virtuosin als Komponistin. Studien zu ihrem Werk. Stuttgart 1990. Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1988. Schumann, Clara u. Robert: Briefwechsel, Bd. 2, S. 571.
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von Heinrich Heine und Robert Burns.25 Sie berichtet im Ehe-Tagebuch von den Schwierigkeiten, die mit dieser Kompositionsaufgabe verbunden waren. Im Dezember 1840 notiert Clara: Alle Zeit, wo Robert ausgegangen war, brachte ich mit Versuchen, ein Lied zu componiren, (was immer sein Wunsch) zu, und es ist mir denn endlich auch gelungen Dreie zu Stande zu bringen, die ich ihm zu Weihnachten überreichen will.26
Das Komponieren am Klavier war Clara, wie das Tagebuch zu erkennen gibt, in den frühen Morgenstunden unmöglich, in denen Schumann noch schlief. Im Haus der Schumanns standen zwei Klaviere,27 aber Clara Schumannn konnte ihres zum Üben oder Komponieren nicht nutzen, wenn ihr Mann noch schlief oder gerade selbst komponierte. Am 2. Juni 1841 beklagt sie sich darüber in einer Tagebuchnotiz: „Mein Clavierspiel kommt wieder ganz hintenan, was immer der Fall ist, wenn Robert componiert. Nicht ein Stündchen im ganzen Tag findet sich für mich.“28 In ihren Brautbriefen und Ehe-Briefen haben Clara und Robert Schumann die Musik und ihr Künstlertum als Verbindendes zwischen ihnen gefeiert, das wie ein Fluidum ihre Beziehung umgibt und ihr Glanz verleiht. Eine Fotografie aus dem Jahr 1950 erweckt einen etwas anderen Eindruck. Das Bild zeigt Clara am Klavier sitzend, dem Betrachter halb zugewandt, während ihre linke Hand auf den Tasten ruht. Robert Schumann sieht man rechts, stehend ihr gegenüber neben dem Instrument; er hält die rechte Hand ans Kinn gedrückt, während er den Blick versonnen halb auf sie, halb nach unten ins Leere senkt. Beide wirken auf der Photographie etwas müde und angestrengt, was sich nicht allein durch die langen Belichtungszeiten erklären lässt. Das Klavier steht zwischen beiden im Raum, markiert eine Distanz zwischen den Ehepartnern – wobei sich die Frage stellt: verbindet es sie oder trennt es sie vielmehr?
25 26 27 28
Vgl. Reich: Clara Schumann, S. 132. Ehe-Tagebuch, Tagebücher, Bd. 2, S. 134. Vgl. auch Klassen: Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 206. Vgl. Klassen: Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 180. Ehe-Tagebuch, Tagebücher, Bd. 2, S. 167. Vgl. Nancy Reich, S. 135.
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Abb. 2: Robert und Clara Schumann Daguerreotypie von Johann Anton Völlner, Hamburg, März 1850 Robert-Schumann-Haus Zwickau29
Clara und Robert Schumann kultivieren in ihren Briefen eine Rede über Musik, die intensiv, begeistert, überhöht ist. In ihr artikuliert sich jene Verbindung und passionierte Grundströmung von musikalischem Erleben und Liebeserfahrung, wie sie in der englischen Renaissance bereits Thomas Campion erwähnt. Inwiefern sich in der Suggestivität der musikalischen Rede eine tatsächliche Liebesbezeugung verbirgt, machen die lebensweltlichen Kontexte und Situationen eindringlich deutlich, in denen sich das Musikerpaar befindet. Es fällt beiden meist nicht schwer, die Liebesbotschaften des anderen zu erraten und zu entschlüsseln, da man sich der Zuneigung des anderen in zunehmendem Maße sicher ist. Allerdings tendiert jene gefühlsbetonte Intensität des Schreibstils, begleitet von einer hohen Metaphorizität des Sprechens über musikalische Phänomene, dazu, sich zu verselbständigen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Rede über musikalische Phänomene im romantischen Diskurs durch die Überhöhung des Mediums beinah von sich aus in einer gegebenen Kommunikationssituation Liebes-
29
http://www.schumann-portal.de/pgcms/output.php?PAGE_ID=790 [12.5.2012] Siehe auch: http://www.musee-orsay.fr/de/veranstaltungen/ausstellungen/im-museedorsay/ausstellungen-im-musee-dorsay.html?zoom=1&tx_damzoom_pi1%5BshowUid%5 D=100434&cHash=05f85b87bc [12.5.2012].
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konzepte stimuliert und im Gesprächspartner solche induziert. Aus dem Rückblick ist nicht immer klar zu unterscheiden, ob und inwieweit die Begeisterung und der Enthusiasmus allein der Musik gelten, oder ob darüber hinaus mehr im Spiel ist. Die epochenspezifische romantiktypische Logik des Diskurses über den ‚Mythos Musik‘ neigt zur Übersteigerung und zur exaltierten, erotik-affinen Redeform, was ‚authentische’ wechselseitige Gefühle der Zuneigung, Liebe oder der erotischen Anziehung weder ausschließt noch selbstverständlich voraussetzt. Eine solche Ambivalenz betrifft insbesondere die (musikalische) Wahlverwandtschaft, die sich zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms – wohl nicht erst nach dem Tode Robert Schumanns – entwickelte.30 Zur Sonate für Violine und Klavier op. 78 von Brahms äußert sich Clara Schumann nämlich nicht weniger enthusiasmiert und gefühlsbetont als zuvor über die Kompositionen ihres Mannes: Nach dem ersten feinen reizenden Satz und dem zweiten kannst du dir die Wonne vorstellen, als ich im dritten meine so schwärmerisch geliebte Melodie mit der reizenden Achtel-Bewegung wiederfand.31
Die Formulierung „schwärmerisch geliebt“ ist signifikant; in ihr deutet sich eine erhöhte emotionale Haltung und Sensibilität an, die zwar im konkret geäußerten, semantischen und grammatikalischen Zusammenhang lediglich auf die Rezeption des Musikstücks zu beziehen ist. Dennoch schwingt die Übertragbarkeit dieser besonderen Wirkung auf den Komponisten und Urheber jener Melodie unterschwellig mit, so dass der Leser sich in der Retrospektive unweigerlich fragt, welche Art von Beziehung die Verfasserin des Briefs mit dem Adressaten verbindet. Dies sind offensichtlich prekäre Fragen, die sich nur spekulativ beantworten lassen – und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses angesiedelt sind. Claras frühere Liebesbezeugungen gegenüber Schumann werden durch die Ähnlichkeit der Wortwahl nicht desavouiert, die Musik figuriert vielmehr als ein gleichsam höheres Medium, in dem der eigene Gefühlsausdruck sich gegenüber der subjektiven Intention der oder des Schreibenden weiter entfalten und sogar verselbständigen kann. Die Rede über 30
31
Vgl. diesbezüglich auch Schulz-Grobert, Jürgen: „‚… mit rosen bedacht‘ – Mittelalterliche Liebesbriefverse und die Möglichkeiten ihrer ‚romantischen‘ Aktualisierung“. In: JungKaiser, Ute (Hg.): Intime Textkörper – Der Liebesbrief in den Künsten. 3. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. (Frankfurt/Main 2003.) Frankfurt/Main 2004, S. 33–48, hier S. 45–48. Clara Schumann und ihre Freunde, 1856 – 1896. Band 3 von Clara Schumann: Ein Künstlerleben, Nach Tagebüchern und Briefen. Hg. v. Berthold Litzmann, 4., unveränderte Auflage Leipzig: Breitkopf & Härtel 1920 (Original Harvard University press 1908), S. 402. Zum Verhältnis Clara Schumanns zu Johannes Brahms vgl. Klassen: Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 48–57.
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musikalische Kompositionen produziert durch eine besondere metaphorische Suggestivität und Eigendynamik solche Schwebezustände mit mehrfach codierten Bedeutungsdimensionen. Dies wirft die Frage auf, ob die Aufladung des romantischen Diskurses über Musik mit einer spezifischen Liebestonalität und -semantik, gegenwärtig vor allem im leidenschaftlichschwärmerischen Ton der gewählten Formulierungen, ein Phänomen ist, das sich gewissermaßen konsequenterweise aus der Überhöhung des musikalischen Mediums32 ergibt. Dem Medium der Musik als einer „höheren Sprache“, als welche die Romantiker es betrachteten,33 wird in der Epoche zweifellos viel zugemutet. Der Diskurs über Musik ist entsprechend bilderreich aufgeladen, mehrdeutig schillernd. „Töne sind höhere Worte“34 lautet eine bekannte Tagebuchnotiz Robert Schumanns. Und im Sommer 1828 schrieb der junge Schumann zudem in sein Tagebuch: „Musik ist höhere Potenz der Poesie; die Engel müssen in Tönen reden, Geister in Worten der Poesie“.35 Wenn die „Geister in Worten der Poesie“ musikalisch kommunizieren, dann können sie, sei es spielerisch oder ernsthaft, eine spezifische Liebessemantik mittransportieren, deren Entschlüsselung dem jeweiligen Adressaten oder zeitgenössischen Leser aufgegeben ist. In Schumanns oben zitierten Äußerungen schwingt überdies E.T A. Hoffmann Auffassung mit, Musik sei die „Sprache des Geisterreichs“.36 Jene Vorstellung impliziert und bekräftigt wiederum die Auffassung von einer spezifischen Eigendynamik des musikalischen Mediums, die durch menschliche Gesprächspartner schwerlich zu domestizieren oder kontrollieren ist. Welche Bedeutungsnuancen dabei im Einzelfall – bewusst oder unbewusst – kommuniziert werden, ob ein begeistertes Lob künstlerischer Perfektion, ein Freundschaftsbund mit dem Komponisten bzw. den anderen Rezipi-
32
33
34 35 36
Vgl. Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg 1995; vgl. ferner Schröder, Berenike: Monumentale Erinnerung – ästhetische Erneuerung. Beethovenrezeption und die Ästhetik der Intermedialität in den Schriften der Neudeutschen Schule. [Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 24]. Göttingen 2012. Vgl. etwa Hoffmann, E.T.A.: Fantasie- und Nachtstücke. Hg. v. Walter Müller-Seidel. Darmstadt 1968, S. 326. Vgl. dazu auch Hinderer, Walter: „Literarisch-ästhetische Auftakte zur romantischen Musik“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XLI, 1997, S. 210–235. Siehe auch: Bartscherer, Christoph: „Kongenialität als Kompositionsprinzip. Robert Schumann auf den Spuren E.T.A. Hoffmanns und Jean Pauls.“ In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 14 (2006), S. 88–106. Schumann, Robert: Tagebücher. Hg. Georg Esmann, Bd.1. 1827–1838. Leipzig 1971, S. 96. Ebd. Hoffmann, E.T.A.: Poetische Werke in sechs Bänden. Berlin 1963, Bd. 1, S. 462.
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enten des Stücks oder ein geheimer Liebesbeweis, oder vielleicht alles zugleich, ist nicht leicht auseinanderzudividieren und zu differenzieren. Es bleibt die Aufgabe des aufmerksamen Zuhörers, die empfangenen Zeichen zu entschlüsseln und ihre impliziten, subtilen Bedeutungsdimensionen zu erraten.
Cord-Friedrich Berghahn
Études d’Exécution Transcendante Der Briefwechsel zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult Der Briefwechsel zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult
I. Die Beziehung zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult gehört zu den großen Liebesgeschichten des 19. Jahrhunderts. Sie hat von Anfang an und bis in die Gegenwart zahlreiche Darstellungen zwischen Sensationslust und wissenschaftlicher Neugier erfahren, und sie wurde früh zu einem Mythos.1 Man hat sie schnell als ein ebenso bedeutendes Kapitel der französischen wie der deutschen Kulturgeschichte erkannt; und in den Annalen der Musik figuriert sie neben Hector Berlioz’ Liebe zu Harriet Smithson, Chopins Liebe zu George Sand und Richard Wagners Liebe zu Mathilde Wesendonck als vierte schicksalhafte und tragische Liebesbeziehung der ‚Romantic Generation‘. Die Bezeichnung ‚Romantic Generation‘ stammt vom Pianisten und Musikwissenschaftler Charles Rosen, der in seinem gleichnamigen Buch jene Generation konstelliert hat, deren Durchbruch um 1830 geschah und deren musikalische Innovationen wesentlich von literarisch-philoso-
1
Zu den wichtigsten wissenschaftlichen Darstellungen zählen die entsprechenden Kapitel der Liszt-Biographien von Ernest Newmann: The Man Liszt. A Study of the Tragi-Comedy of a Soul Divided Against Itself [11934]. London 1935, vgl. S. 16ff. und 54ff., und Alan Walker: Franz Liszt (3 Bde.). Bd. I: The Virtuoso Years 1811–1847 [11983]. Revised Ed. Ithaca, NY 1987, S. 190–208 (“Enter Marie d’Agoult”) und passim; vgl. auch den ersten Band der monumentalen Biographie von Jacques Vier: La comtesse d’Agoult et son temps (6 Bde.). Paris 1955–1963: Le Faubourg Saint-Germain (1805–1835), S. 82ff. und 133ff. Ausgesprochen kritisch gegenüber der Person Marie d’Agoult stellt sich Eleanor Perényi in ihrer bemerkenswerten Biographie Liszt. The Artist as Romantic Hero (Boston, Toronto 1974). Wenig ergiebig ist dagegen Oliver Hilmes’ Franz Liszt. Biographie eines Superstars (München 2011, vgl. S. 68–131).
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phischen Ideen her zu verstehen sind.2 Das trifft für den 1811 geborenen Franz Liszt, den unermüdlichen Experimentator mit musikalischen Formen und grenzüberschreitenden Musik-Konzepten, ohne Abstriche zu. Und romantisch in kulturgeschichtlicher Hinsicht ist auch die sechs Jahre ältere Partnerin Marie d’Agoult,3 die schwermütige Halbschwester der unglücklichen Auguste Bußmann (1791–1832), deren Briefwechsel mit Clemens Brentano zusammen mit anderen Dokumenten von HansMagnus Enzensberger unter dem Titel Requiem für eine romantische Frau ediert ist.4 Um das Faktische zu ergänzen: Beide, Auguste und Marie, sind Töchter der Frankfurter Bankiersgattin Marie-Elisabeth Bethmann, die in einer kurzen ersten Ehe mit dem Bankier Jacob Bußmann verheiratet war (ihr entstammt die Tochter Auguste) und nach dessen Tod den französischen Émigré Alexandre Victor François, Vicomte de Flavigny heiratete. Dieser Beziehung entstammt die Tochter Marie de Flavigny, die 1805 geboren wurde. Als Kind strich ihr Goethe durch das immer wieder beschriebene blonde Haar; als Heranwachsende aber fand sich die 12-jährige eingebunden in eine standesbewusste und religiöse Erziehung im Pariser Konvent Sacré-Cœur, während der sie sich als vollkommen vereinsamt empfand. Mehr aus Verzweiflung als aus Liebe, auf jeden Fall aber im Gefühl intellektueller Achtung gab Marie 1827 ihre Hand dem 15 Jahre älteren Grafen Charles d’Agoult, der ihr schon bei seinem Antrag versicherte, sie könne ihre Freiheit jederzeit zurückerhalten. Sechs Jahre später war es soweit. Der erste Band ihrer Memoiren Mes Souvenirs. 1806–1833 beschreibt detailliert Maries intellektuelle Sozialisation in den Kreisen der französischen Romantik um 1830.5 Es sind jene Kreise, die den ästhetischen Rahmen für das Auftreten der ‚Romantic Generation‘ bilden und die im Briefwechsel mit Franz Liszt eine große Rolle spielen werden.6 In diesem 2 3
4 5
6
Rosen, Charles: The Romantic Generation [1995]. Cambrigde, Mass. 1998, vgl. insbes. S. Ix– xiii. Vgl. die faktenreiche (aber ausgesprochen apologetisch-identifikatorisch geschriebene) Biographie von Phyllis Stock-Morton: The Life of Marie d’Agoult, alias Daniel Stern. Baltimore 2000, zu den Konjunkturen der Beziehung d’Agoult/Liszt vgl. Kap. IV–VII, S. 55–119. Enzensberger, Hans Magnus: Requiem für eine romantische Frau: Die Geschichte von Auguste Bußmann und Clemens Brentano. Eine Nacherzählung. Frankfurt/Main 1995. Mes Souvenirs 1806–1833. Par Daniel Stern [i.e. Marie d’Agoult]. Paris [11877]. 3eme Edition 1880, vgl. insbes. den zweiten Teil „Le Monde. – La Cour et les Salons. – La Mode“, S. 251–366. Der Band ist als Teil der französischen Bibliothèque Nationale Numérique vollständig online gestellt: (Stand: 21.07.2012). Vgl. Arnold, Ben: „Liszt as Reader, Intellectual and Musician“. In: Liszt and His World (Analecta Lisztiana 1). Proceedings of the International Liszt Conference held at Virginia Polytechnic Institute and Sate University 20–23 May 1993 (Franz Liszt Studies Series 5).
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Rahmen hat auch Marie d’Agoult ihre Berufung zur Autorschaft erfahren. Und eine bedeutende Autorin politischer und historischer Schriften sollte sie nach 1840 schließlich werden; auch eine Autorin von kulturgeschichtlich bedeutenden, wenngleich literarisch unterkomplexen Schlüsselromanen. Im zweiten, brisanteren und erst durch den Enkel Daniel Ollivier aus hinterlassenen Manuskripten 1927 edierten Band der Autobiographie Marie d’Agoults7 beschreibt diese jenen Wendepunkt ihres Lebens, der sich Anfang 1833 im Salon der befreundeten Marquise Le Vayer zutrug:8 Die Marquise sprach noch, als die Tür sich öffnete und eine seltsame Erscheinung sich meinen Augen darbot. Ich sage Erscheinung, denn ein anderes Wort würde die außerordentliche Gemütsbewegung nicht wiedergeben, die mir der ungewöhnlichste Mensch, den ich jemals gesehen, verursachte. Hochgewachsen und überschlank, ein bleiches Antlitz, mit großen meergrünen Augen, in denen plötzlich Lichter aufblitzen konnten, als träfe ein Strahl die Welle; leidende und doch gebietende Züge, unsicherer Gang, der mehr dahinglitt als schritt; zerstreute, unruhige Miene, wie die eines Phantoms, das jeden Augenblick in die Finsternis abgerufen werden kann: das war der Eindruck von dem jungen Genie, das vor mir stand und dessen geheimnisvolles Leben ebenso lebhafte Neugier erweckte, wie seine Triumphe vor kurzem noch Neid erregt hatten.9
Die beiden Unbehausten verfallen einander sofort. Marie d’Agoult beschwört den „Blitz seines Blicks, seine Gebärde, sein Lächeln, das bald tief und von unendlicher Wehmut und bald satirisch war.“10 Und sie beschwört den sofortigen Gleichklang der Seelen. In den Memoiren heißt es weiter: Wir nahmen die Unterhaltung von Anfang an sehr ernst. Wie auf Verabredung vermieden wir alle Banalitäten. Ohne Zögern und Anstrengung folgten wir dem natürlichen Hang unseres Geistes und wählten nur hohe Gesprächsstoffe, wie sie allein für uns Anziehungskraft haben konnten. Wir sprachen von der ungewissen und traurigen Bestimmung des Menschen […]. In diese halben Andeutungen und verschleierten Geständnisse und in diese sehr freien und sehr vertraulichen Ergüsse, die für uns einen immer größer werdenden Reiz bedeuteten, brachte Franz eine solche Abwechslung, eine Überfülle, eine Originalität der Eindrücke, daß sie
7
8 9 10
Ed. by Michael Saffle. Hillsdale, NY 1998, S. 37–60 (mit Bibliographie der Lektüren Liszts); dort auch Charles Suttoni: „Liszt and Madame d’Agoult. A Reappraisal“, S. 17–35. d’Agoult, Marie: Mémoires 1833–1854. Ed. par Daniel Ollivier. Paris 1927; eine zuverlässige Ausgabe der autobiographischen Texte Marie d’Agoults liegt mittlerweile in den von Charles F. Dupêchez edierten Mémoires, souvenirs et journeaux de la comtesse d’Agoult (2 Bde.; Les temps retrouvé 58 und 59), Paris 1990, vor. Walker: Franz Liszt, Bd. I, S. 190, nennt Ende Januar als Terminus ante quem. d’Agoult, Marie: Memoiren (2 Bde.). Mit einem Geleitwort von Siegfried Wagner. Übertragen v. Egas von Wenden. Dresden 1928. Bd. II, S. 35. Ebd., S. 36.
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in mir eine ganz schlummernde Welt weckten, und mich, nach seinem Fortgehen, in Träumereien ohne Ende ließen.11
Nicht nur für Marie d’Agoult geschah diese Begegnung in einem Augenblick, in dem in ihrem Leben alle Wege offen und alle Aussichten düster schienen; auch Liszt hatte in diesem Januar 1833 seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben versucht. Nach mehr als 10 Jahren einer glanzvollen Karriere als Pianist, die musikgeschichtlich die Erfindung des modernen Virtuosen markiert,12 hat Liszt um 1833 an einem offenbar krisenhaften Moment seiner Laufbahn die Vereinigung der widerstrebenden Elemente seiner Existenz programmatisch unternommen. Diese auseinanderdriftenden Momente seiner Existenz sind der Virtuose, der Komponist, der Intellektuelle und der politisch-religiöse Weltverbesserer. Sie alle waren mit seinem Bild des Künstlers und der Kunst überhaupt zusammenzubringen. Das ist das intellektuelle Programm der 1830er Jahren, das wir im Briefwechsel zwischen ihm und Marie en passant verfolgen können. Die ersten Kompositionen, die diesen neuen Weg, diese Neu-Erfindung des Komponisten-Virtuosen als Synthesefigur der Kunst andeuten, sind seine Klavierbearbeitungen von Berlioz’ Symphonie Fantastique und seine Paganini-Etüden.13 Das ist der Hintergrund dieses Briefwechsels, der ausgesprochen lückenhaft überliefert ist, es fehlen vor allem zahlreiche Briefe von Marie, die teilweise unter der Ägide von Liszts späterer Lebensgefährtin Caroline von Sayn-Wittgenstein vernichtet, zum größten Teil aber von Marie selbst nach der endgültigen Trennung von 1844 verbrannt wurden.14 Daneben lassen sich zahlreiche Briefe nicht datieren, und aus den ersten Monaten der Liebesaffäre haben wir so gut wie keine Dokumente aus erster Hand vorliegen. Die erhaltenen Briefe sind nicht nur Dokumente einer Liaison, die sich zunächst heimlich und ausgesprochen unregelmäßig vollzog; sie sind auch das Protokoll einer Bildungsgeschichte: der von Franz Liszt. Und sie sind – das gilt für den gesamten Briefwechsel und für beide Briefschreibenden – auf eine verstörende Art monologisch.
11 12
13 14
Ebd., S. 39. Vgl. Metzner, Paul: Crescendo of the Virtuoso: Spectacle, Skill, and Self-Promotion in Paris during the Age of Revolution (Studies on the History of Society and Culture 30). Berkeley, Los Angeles, London 1998, S. 136–159 („The Early Career of Franz Liszt as a Concert Pianist“), und Walker: Franz Liszt, Bd. I, S. 168–177 („Paganini“) und S. 285–318 („Liszt and the Keyboard“), insbes. S. 295ff. Walker: Franz Liszt, Bd. I, S. 178ff. Von den über 100 Briefen aus der Pariser Zeit, insbesondere der des ersten gemeinsamen Jahres, stammen nur sehr wenige aus ihrer Feder, was Raum zur Spekulation lässt, vgl. Suttoni: „Liszt and Madame d’Agoult“, S. 24, Anm. 22.
Der Briefwechsel zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult
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Für den 21-jährigen Pianisten und Komponisten, Sozialisten und Katholiken geht es sofort um das Aussehen der Welt, das Schicksal der Kunst und die eigene Bildung zum Weltmann und Künstler. Für Marie geht es – soweit wir das überhaupt aus den Briefen schließen können – um den Ausbruch, um etwas, das sie als die große, unbedingte Liebe empfand oder doch empfinden wollte und das jedenfalls das Ganzandere ihres abgezirkelten Lebens sein sollte. Was beide Briefpartner eint, ist der unbedingte Wille zur Literarizität ihres Briefwechsels. In der Tat sind zwischen Liszts Briefen und seinem Debüt als Autor (mit den Lettres d’un bachelier, den Reisebriefen eines Bakkalaureus der Tonkunst ab 1837)15 zahlreiche Beziehungen zu erkennen; und das gilt auch für das Verhältnis des späten Briefwechsels mit dem belletristischen Oeuvre Marie d’Agoults.
II. Nach mehreren aus Gründen der Familienraison unzuverlässigen Ausgaben liegen die Dokumente dieser Liebe seit 2001 vollständig und kritisch ediert vor.16 Aus den ersten Monaten der Beziehung haben sich zahlreiche Billetts und Briefe Liszts erhalten. Alle sind undatiert, tragen aber oft Angaben des Tages und der Stunde, zu der sie verfasst wurden – einige sind kurz, andere lang und bisweilen über mehrere aufeinanderfolgende Tage verfasst. Im Ton führen sie mitten hinein in die Zirkel der literarischen, künstlerischen und musikalischen Romantik, die für das Paris der Julirevolution und der Epoche Louis-Philippes charakteristisch sind. Liszts Briefe lesen sich wie die Berlioz’, die des jungen Hugo und der Freundin George Sand. Es ist bemerkenswert, dass der blutjunge Pianist ihnen, was Literarizität angeht, in nichts nachsteht – und dies möchte er der Angebeteten in seinen Briefen auch zeigen.
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Im von Dorothea Redepenning herausgegebenen ersten Band der kritischen Ausgabe der Sämtlichen Schriften Franz Liszts liegen die Lettres d’un bachelier seit 2000 in zweisprachiger Edition vor. Franz Liszt – Marie d’Agoult: Correspondance. Nouvelle édition revue, augmentée et annotée par Serge Gut et Jacqueline Bellas. Paris: Fayard, 2001. Nach dieser Ausgabe werden die Briefe Liszts und d’Agoults im Folgenden unter Verwendung der Sigle CLD zitiert. Gut und Bellas präsentieren in der Ausgabe insgesamt 562 Briefe und Billets aus den Jahren 1833 bis 1864. Die 1933 bei S. Fischer erschienene Ausgabe Franz Liszt. Briefe an Marie d’Agoult (hg. von Daniel Ollivier, übertragen von Käthe Illch) bietet deutlich weniger Briefe, und diese sind oftmals kommentarlos gekürzt. Die Ausgabe, die allein im Erscheinungsjahr viermal aufgelegt wurde, hat aber den Vorteil, antiquarisch leicht greifbar zu sein.
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Dabei entwirft er jenes Panorama der Weltliteratur, das auch seine späteren Klavierzyklen und seine noch späteren Symphonischen Dichtungen charakterisieren wird:17 Shakespeare, Goethe, Nodier, Sénancour, Lamartine, Lamennais und immer wieder Byron. Autoren, die den gemeinsamen Lektürehorizont von Franz und Marie formen und deshalb wiederholt in den Briefen begegnen;18 ihre Texte werden in die Briefe als sichtbare und unsichtbare Zitate, im Original und in französischer Übersetzung einmontiert. So heißt es in einem der frühen überlieferten Briefe Liszts aus dem April 1833: Voici en plus 3 lignes de Nodier qui me semblent avoir quelque rapport avec vos pensées de l’autre soir: Je sens qu’il n’y a réellement dans l’existence que quelques heures, quelques instants fugitifs; que lorsqu’ils sont passés, irréparablement passés, tout fait mal dans dans les images de ce temps qui ne reviendra plus. Ce ne pas seulement de l’amertume; c’est du dégoût, c’est quelque chose qui rend la mémoire à charge et qui fait désirer l’apathie imbécile de la brute, qui sent peu, qui ne sent pas ou qui oublie vite. et plus loin: Je suis pressé de sortir de ces détails stériles qui contraignent, qui oppressent mon coeur. Il me faut un autre air, un autre horizon où mes pensées puissent s’épanouir en liberté et commencer à participer à cette immensité qui s’ouvre devant moi Cent fois pardon, Madame, de ce sentimentalisme; à ce soir, si vous ne me faites rien dire. (CLD 54)
Liszt fügt hier wie an anderen Stelle Exzerpte in seine eigenen Briefe ein. Vielleicht, weil ein Kanon gemeinsam gelesener (und befreundeter) Autoren ein Gemeinsames in der Korrespondenz generieren soll, vielleicht aber auch, um seine eigenen literarischen Ambitionen hervorzuheben. Das ist die eine Seite der Korrespondenz aus den ersten Monaten der Beziehung. Die andere ist die sozusagen faktisch-legale. Die Liebe zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult ist eine illegitime Liaison eines Paares aus unterschiedlichen Ständen (und Marie d’Agoult hat stets genug Standesbewusstsein gehabt, um Liszt wissen zu lassen, dass sie nie Madame Liszt werden wird).19 Diese Liaison vollzieht sich vor dem Hintergrund eines 17
18
19
Vgl. Arnold: „Liszt as Reader“, insbes. S. 49–59; vgl. auch Berghahn, Cord-Friedrich: „Weltliteratur und poetische Musik: Intermedialität in den ‚Années de Pèlerinage‘“. In: Franz Liszt. Musik im Spannungsfeld von Nationalismus und Kosmopolitismus. Hg. von Dorothea Redepenning. Heidelberg 2014 [im Druck]. So schreibt Marie d’Agoult in den Memoiren über Liszts Lektüren im Jahr 1833: „Childe Harold, Manfred, Werther, Obermann, die stolzen und verzweifelten Empörer der romantischen Dichtung waren die Genossen seiner schlaflosen Nächte“ (S. 40). Vgl. Suttoni: „Liszt and Madame d’Agoult“, S. 22.
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Régimes, das zumindest auf der Oberfläche keine Kompromittierungen duldete, wie liberal die einzelnen Akteure im Privaten auch sein mochten. Man musste also Versteck spielen, und das Versteck von Liszt und Marie d’Agoult war das sogenannte „Ratzenloch“ (der Begriff fällt stets auf Deutsch), eine gemeinsam angemietete Wohnung, in der 1833 und 1834 zumeist Franz auf Marie wartete. Die Anmietung einer verschwiegenen Wohnung durch einen bekannten Pianisten stellte sich als schwieriges Unterfangen dar. Liszt schreibt irgendwann zwischen Januar und April 1834 in einem fast zur Hälfte in deutscher Sprache abgefassten Billett: „Bis jetzt habe ich noch kein convenables Ratzenloch gefunden – morgen will ich aber noch einige ansehen in der Straße von abcd.“ Das Billet schließt mit einer Mélange französischer und deutscher Sätze, die, auch weil sie in Anführungszeichen gesetzt sind, wie Zitate anmuten, aber Liszts eigene Erfindung sind: Ich bin allein, ich war immer allein – qu’on se souvienne de moi ou qu’on m’oublie. Dieser Winter, hoff’ ich, wird der letzte so sein. Bleiben Sie mir, bleibe mir … Ich bin und hab und will nichts anders. (CLD 101)
Zum Versteckspiel der Liebenden gehören die Pseudonyme, die Liszt für sich und Marie, aber auch für andere Personen der Pariser Gesellschaft einführt, etwa „Thoughtful“ (das ist Liszt), „amico“ (Chopin), „CommeciCommeca“ (ebenfalls Chopin) „Thoughtless“ (George Sand), später kommen literarische Identifikationsfiguren hinzu, vor allem Sénancours Oberman und Byrons Harold; noch später, unter dem Eindruck der italienischen Kunst, kommt auch Michelangelos „Penseroso“ aus der Florentiner Medici-Kapelle als Pseudonym für Thoughtful/Liszt hinzu. Zumindest in der ersten Pariser Zeit der Liebe dürfen die Briefe bisweilen nicht direkt adressiert, sondern über Vertraute geschickt werden. Das sieht dann etwa so aus: „30. août 1833. This is not for marquise, – do you understand?“ (CLD 83). Überhaupt wird das Englische oft verwendet, entweder als Ausweis der Vertrautheit mit Shakespeare und Byron oder als exklusive, nur wenigen geläufige Intimsprache. Als Intimsprache, als Sprache der Zärtlichkeit figuriert neben dem Englischen vor allem das Deutsche, das beide, Liszt wie d’Agoult, beherrschen. Oft haben die Sprachen in der Anfangszeit des Briefwechsels eigene Funktionszuweisungen. So im Brief Liszts vom 16. September 1833, der wieder mit dem Verweis „Not f[or] M[ary]“ über die Marquise de Gabriac geschickt ist. Hier heißt es zunächst französisch: Si la Châteleine de Croissy et Mr d’Ag[oult] n’y met[tent] point d’obstacle, je partirai d’ici Samedi soir… Mr de Meyendorff voulait m’emmener hier… Sans adieu à bienttot – ces 4 jours sont dévorés déjà.
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Schreiben Sie bald und lang, – ich bin so traurig in Ihrer Seele! – Sie wissen nicht wie ungeheuer Sie geliebt sind. (CLD 90)
Ähnliches begegnet uns auch in Maries Briefen; das Anspielen auf einen gemeinsamen literarischen Fond, der in Zitaten aufgerufen und mit der eigenen Situation verbunden wird. Sie empfiehlt und beschwört Lamartines Gedicht Bénédiction de Dieu dans la solitude über das Liszt dann eines seiner großen meditativen Stücke schreiben wird; aber sie verzwirnt auch ganz prosaische Eifersucht auf die Verflossenen des Pianisten in ihre Briefe. Dieses erste Jahr der Liebe zwischen Marie d’Agoult und Franz Liszt kann man als heftige, geheime Liaison beschreiben, die in ihrer Zeit und im Umkreis der französischen Romantik aber auch einer störrischen Konvention zu gehorchen scheint. Es war nicht die erste Affäre zwischen einem romantischen Künstler und einer Adligen, auch nicht die erste im Leben von Franz Liszt. Dann aber kam das Außergewöhnliche: Marie wurde schwanger. Das war – gerade im Hinblick auf die Verhütungspraktiken der französischen Oberschicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – merkwürdig. In der Tat sollten die insgesamt drei Kinder, die aus dieser Beziehung entstanden, die einzigen Kinder Liszts bleiben (und, soweit ich dies überblicke, die einzigen einer illegitimen Liaison der ganzen französischen Romantik). Nie zuvor und nie danach war eine seiner Geliebten schwanger geworden. In einem Aufsatz, der zahlreiche bislang unpublizierte Dokumente aus dem Nachlass der einzigen überlebenden Tochter von Marie und Charles d’Agoult, Claire de Charnace, publizierte, hat Charles Suttoni vor einigen Jahren die Auffassung vertreten, dass die so ungleiche Beziehung zwischen dem Paar seit 1835 nur noch durch die schließlich drei leiblichen Kinder zusammengehalten wurde.20 Suttoni konnte, gegen die Legenden der Liszt-Biographik, plausibel machen, dass Marie d’Agoult ihre Schwangerschaften auch und vor allem als Mittel benutzt hat, um Liszt an sich zu binden (und zur Plausibilität tragen ihre späteren literarischen Ausfälle gegen die Mutterschaft als bestialische, un-autonome Form weiblicher Existenz nicht wenig bei).21 Dem Zeugnis ihrer Tochter Claire zufolge war sie es, die den Plan einer Verlagerung der Existenz des Paares aus Paris in die Schweiz und schließlich nach Italien entwickelt hat.
20 21
Vgl. Suttoni: „Liszt and Madame d’Agoult“. Vgl. etwa die Charakterisierung der Mutterliebe als animalischer Trieb ohne Reflexion in den Memoiren (Bd. II, S. 87ff.).
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III. Damit komme ich zum zweiten Abschnitt dieser Beziehung, den Wanderjahren, oder: um jenen Klavierzyklus zu zitieren, der in diesen Jahren seine erste Gestalt annahm: den Années de Pèlerinage. Sie führten das Paar zunächst nach Genf (1835–1837) und dann, von 1837 bis 1839, nach Italien, nach Como, Mailand, Venedig und Rom.22 Musikgeschichtlich ist das ausgesprochen prekäre Handeln der Marie d’Agoult ein Glück, denn bei allem Leid, das diese problematische Beziehung außerhalb der Pariser Welt gleichsam konzentrierte, waren diese Wanderjahre auch Jahre der Neuorientierung des Komponisten Liszt. Auch davon berichtet der Briefwechsel. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass Briefe natürlich nach wie vor nur in Zeiten der Trennungen geschrieben wurden. Davon aber gab es gerade nach 1837 viele. Zunächst jene Wochen, in denen das berühmte musikalische Duell zwischen Liszt und dem Pianisten Sigismond Thalberg (1812–1871) ausgetragen wurde.23 Hier hat Liszt nicht nur seine Stellung als bedeutendster Klaviervirtuose verteidigt, er stellte zugleich seine neue Klaviertechnik in einer Reihe atemberaubender Stücke vor, die in der Geschichte des Klavierspiels eine neue Epoche eröffneten.24 Dann aber vor allem jene Monate, in denen sich Liszt selbstlos für die Opfer der ungarischen Flutkatastrophe in den Jahren 1838 und 1839 eingesetzt hat; zu ihren Gunsten (wie auch zur Förderung des Bonner Beethovendenkmals) erspielte er in Wien phantastische Summen, und er genoss ganz offensichtlich den neuerlichen Hype um seine Auftritte, jenen Hype, der in der Schweiz unmöglich und im opernbegeisterten Italien nur mit Abstrichen möglich war. In gewisser Hinsicht markiert der Wiener Aufenthalt das Ende der gelebten Beziehung; danach scheint sie wirklich nur noch in den Briefen zu existieren.
22 23 24
Vgl. Vier: La Comtesse d’Agoult, Bd. II: „Les années de Pèlerinage“ (1835–1839); Walker: Franz Liszt, Bd. I., S. 209–231 und 244–252. Dazu ausführlich Walker: Franz Liszt, Bd. I, S. 232–243 („The Lion Shakes His Mane: Liszt’s Duel with Thalberg“). Walker: Franz Liszt, Bd. I, S. 297–316, Walker zeigt das Neue an Liszts Klaviertechnik am Beispiel der Études d’Exécution transcendante (1839/1847), die, nicht anders als die ersten beiden der Années de Pèlerinage mit den Wanderjahren des Paares auf vertrackte Weise autobiographisch verzwirnt sind. Vgl. auch Rosen: The Romantic Generation, S. 491–511 („The Invention of Romantic Piano Sound“); auch Rosen wählt für seine Diskussion jene Zyklen, die mit den Wanderjahren des Paars verbunden sind: die Ètudes d’Exécution transcendante, die Années de Pèlerinage und die ‚Urform‘ des ersten der Wanderjahres, das Album d’un voyageur.
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Vor dem Hintergrund der erwähnten These Suttonis lässt sich auch der Rollentausch innerhalb des Briefwechsels leichter erklären. War Liszt zu Beginn des Austausches (und der Beziehung) der Werbende, und zwar einer, der die Standesgrenzen klar erkannte (so wie Marie sie nie vergaß), so erscheint er in den Briefen nach 1834 immer selbstbewusster als Künstler, der seine Wirkung und sein Schaffen reflektiert und der um seine Stellung in der modernen Musik weiß. Diese Transformation geschah scheinbar ohne Maries Hilfe, ja teilweise gegen ihren Willen. Sie war keine romantische Muse und es scheint zwischen ihr und Franz Liszt nur wenige intellektuelle Synergieeffekte gegeben zu haben; ja sie geht in den überlieferten Briefen auf geradezu provokante Art und Weise nicht auf die vielen Bemerkungen Liszts zu seinen Kompositionen ein. Musikinteressierte Leser der Briefe und Aufzeichnungen Maries werden, gerade im Vergleich zu denen Clara Schumanns, Cosima Wagners und Caroline zu Sayn-Wittgensteins, bitter enttäuscht.25 Maries Gleichgültigkeit gegenüber Liszts künstlerischen Projekten ist das eine. Das andere ist Liszts Versuch, den neuen Künstlertypus, den er geschaffen hat, Marie gegenüber gesellschaftlich aufzuwerten. Dieses Ziel verfolgen die umständlichen Berichte aus Wien, die seine neue Stellung, aber auch seine erotische Anziehungskraft hervorheben. (Überhaupt ist das Moment des Provozierens von Eifersucht eines der Leitmotive dieses Briefwechsels.) Dabei häufen sich indirekte Sprechakte wie in folgendem Beispiel aus einem Brief Liszts vom 28. April 1838, der en passant das „Duell“ Liszts mit Thalberg thematisiert: Une grande nouvelle, Thalberg est arrivé hier soir. Nous devons dîner ensemble aujord’hui chez le Prince Dietrichstein qui m’a fait dire qu’il serait charmé de réunir Castor et Pollux chez lui. Je suis bien aise de l’arrivée de ostrogoth. À cette heure je puis faire le bon prince sans grande mérite. 25
Gleichwohl scheint Liszt zu Beginn der Beziehung noch versucht zu haben, Marie als Klavierspielerin anzuleiten, darauf weist v.a. ein Brief aus dem Juni oder Juli 1833, in dem er anlässlich der Übersendung eines Heftes mit Etüden von Ignaz Moscheles (1794–1870) seine Vortragszeichen kommentiert; hier heißt es: „Pour la complète intelligence des signes, je suis bien aise de pouvoir vous apprendre que les barres en long e à travers indiquent les accelerando à ma façon, et les machines (qui ressemblent assez l’épigraphe de la peau de chagrin) les rallentando [!] encore à ma façon, façon de rat, de chat, de lion et de tigre, comme vous savez.“ (CLD 78) Die merkwürdige Charakteristik der Rallentandos als machines, qui ressemblent assez l’épigraphe de la peau de chagrin (also als „Maschinen, die dem Epigraph des Saffianleder [des peau de chagrin] ähneln“) ist ein intertextuelles Spiel, das natürlich auf Balzacs Le peau de chagrin anspielt, aber auch auf die von Balzac im Titel des Romans abgebildete Zeichnung aus Sternes Tristram Shandy. Diese stellt eine irregulärgeschwungene Linie dar, eine Parodie von Hogarths eleganter ‚Line of Beauty‘ seiner Analysis of Beauty, die Corporal Trims Meinung über die Ehe andeutet und seinen Satz „Whilst a man is free …“ vollendet (Tristram Shandy, Book IX, Ch. 4).
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[…] Je n’ai point fait d’ami ici. Mais j’ai toujours une cour très nombreuse. Ma chambre ne désemplit pas. Je suis l’homme à la mode. 50 exemplaires de mon portrait ont été chetés en 24 heures. Vous ne me faites l’injure de penser que cela me fasse la moindre impression, n’est-ce pas? En somme je suis assez calme. […] (CLD 321f.)
Liszts immer wieder geäußerter Wunsch, die Geliebte möge ihm nach Wien und letzten Endes wohl auch in die gesamte musikalische Welt folgen, wurde nicht erfüllt. Der Grund dafür scheinen aber nicht die Kinder gewesen zu sein, denn deren Eltern konnten Jahre leben, ohne den Wunsch zu verspüren, die Kinder zu sehen. Die Folge dieser dauerhaften Trennung der Lebenswege und -sphären war eine immer stärkere Entfremdung des Paares, die sich im Briefwechsel deutlich niederschlägt. Schließlich machen beide im Herbst 1839 gewissermaßen brieflich ‚Schluss‘ (allerdings nicht ohne Hintertür), wohl in der Ahnung, dass Liszts neuerliche Reise nach Wien und Maries Rückkehr nach Paris das Ende der ‚Wanderjahre‘ und auch der gegenseitigen Hoffnungen markiert. Marie schreibt am 23. Oktober in einem Brief aus Genua: Comment quitter cette chère terre d’Italie sans vous y dire un dernier adieu? Comment voir se détacher de ma vie ces deux années si belles et si pleines sans leur donner un regret`Ô mon cher Franz! Laissez-moi vous le dire encore une fois dans toute l’effusion de mon âme, vous y avez fait naître un sentiment profond, inaltérable qui suivivrait à tous les autres en supposant que les autres pussent s’altérer, le sentiment d’une reconnaissance sans bornes. Soyez mille fois béni! […] Adieu, cher et très cher, je vous écrirai de Lyon. Au moment où je m’embarquais à Livourne le soleil se couchait dans des flots d’or et la lune se levait mélancolique dans de pâles nuages. Peu à peu elle est dégagée et a éclairé toute notre traversée de la plus magnifique lumière! J’ai accepté cela comme un symbole de notre beau passé qui fuit et de cet avenir qui commence si triste mais sera calme. (CLD 383f.)
Franz Liszt eröffnet nur zwei Tage später einen langen Brief aus Venedig wie folgt: Venise. Hôtel de l’Europe. Vendredi 25 Octobre. C’est ici, Marie, que je vous dis entièrement Adieu. Désormais je ne vous retrouverai plus que dans mon coeur et dans ma pensée – mais ici encore, toutes choses, la mer et le ciel, St Marc et les gondoles me parlent de vous et me redisent votre nom chéri. C’est ici que nous sommes venues ensemble d’abord, – que nous nous sommes quittés et que nous sommes retrouvés. C’est ici que vous avez été mourante – et c’est ici aussi que vous avez repris à la vie! Oh! Venise, Venise! Quel profond enchantement il y a pour moi dans tes lagunes… (CLD 385)
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An diesen hymnisch-elegischen Auftakt schließen sich über mehr als 14 Druckseiten Reflexionen, Zustandsbeschreibungen, die Schilderung von Tagesabläufen und Liebes- wie Trennungsbekenntnisse an. Der Brief ist ein Resümee der Liebe zwischen ihm und Marie, und er ist zugleich der Versuch, im Moment der Differenz ein Briefmodell absoluter Direktheit mit dem hohen Ton Lamartines zu verbinden. Der intensive Briefwechsel des Winters 1839/1840 zeigt, wie beide noch einmal versuchen, den anderen für sich zu gewinnen und auf die eigenen Vorstellungen zu adaptieren. Liszts (ohne Zweifel für Marie unternommener) Versuch, an ein ungarisches Adelsdiplom zu gelangen, wird von Marie offen verspottet, Maries immer wieder angeführte Schar der Bewunderer von Liszt unkommentiert übergangen. Ein Brief Maries vom 17. Januar 1840 aus Paris nach Wien klingt etwa so: „Cambys est arrivé de Rome et accouru me voir. Ma réputation d’esprit va crescendo. Koreff me disait l’autre jour que bientôt j’aurais un cercle comme il n’y en a plus à Paris. Je le crois un peu pour dans un an. […] Votre noblesse fait g[rand] effet ici. Votre mère dit que son mari lui avait toujours dit, mais qu’elle avait regardé cela als eine Prahlerei. Adieu cher très cher très aimé Franz.“ (CLD 492) Doch nur wenige Wochen später folgt ein Brief im Tenor tiefer Verletztheit und zugleich frostiger Distanz, in dem sich Marie über Liszts ungarisches Adelsdiplom offen und standesbewusst amüsiert und seinen freundschaftlichen Umgang mit Adligen – hier dem Fürsten Schwarzenberg –26 ridikülisiert: Je reçois ce matin votre petit mot en quittant Vienne. Comment n’être pas remuée jusqu’à la moelle des os? quelle puissance avezvous donc sur moi, Franz, que toute joie et toute souffrance me viennent uniquement par Vous! que vous me fassiez à votre gré ou lever la tête ou le plier? Votre avant-dernière lettre m’avait semble froide… je me désespérais. Il me semblait que je n’étais plus Marie pour vous, que vous ne pourriez plus m’aimer comme le passé… J’avais commencé une longue lettre, je l’ai brûlée dans la crainte qu’elle ne se perdit à vous suivre… ainsi donc jusqu’au 1er avril?… j’ai le spleen depuis huit jours. Rien ni personne n’y peut… depuis si longtemps nous ne vivons plus de la même vie! […] Je n’aime pas beaucoup ce que V[ou]s avez écrit sous votre portrait à Schwarzemb[erg] [!]. Vous, vous pouvez V[ou]s permettre cela en Allemagne, mais ici il faut bien V[ou]s garder de choses de ce genre. On a beaucoup ri du sabre et de la noblesse. On V[ou]s croit très gonflé de vos succès. Il faudra donc donner autant que possible dans le bon enfant. Je serais peut-être d’avis que V[ou]s 26
Liszt hatte Schwarzenberg ein Portrait mit der Widmung „Au grand signeur – artiste – Fritz Schwarzemberg [!] / l’artiste grand signeur – F. Liszt / sympathie dévouée“ überreicht (vgl. CLD 538).
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ne jouiez pas en public isi ou du moins que V[ou]s V[ou]s fissiez excessivement prier. (CLD 548f.)
IV. Der Liebesbriefwechsel, soweit er denn überliefert ist, versiegt in diesem Gestus um 1840. Übrig bleibt eine an Sachfragen wie Unterhaltszahlungen und gesellschaftlichen Konstellationen orientierte Korrespondenz. Drei Mal noch haben Liszt und Marie d’Agoult auf der Rheininsel Nonnenwerth gemeinsame Sommer verbracht, ohne doch je wieder zusammenfinden zu können. Liszt begann 1844 seine letzte große, ihn durch ganz Europa führende Konzertreise, die drei Jahre dauern sollte. Marie blieb in Paris, wo sie dauerhaft von ihrem Mann getrennt lebte, auch die Kinder aus beiden Ehen fast nicht sah. Für seine drei Kinder überwies Liszt fürstliche Summen an seine Mutter, die nach 1842 die Erziehung übernahm, er selbst sah sie erst Ende der 1840er Jahre wieder. Damit wäre die Geschichte des Liebesbriefwechsels zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult an ihrem Ende. Naturgemäß hat sich nicht nur der Mythos dieser außergewöhnlichen Verbindung der französischen Romantik schnell gebildet; beide Partner haben diesen Mythos auch massiv gesteuert und manipuliert. Nach dem Ende seiner letzten großen Virtuosenreise ließ Liszt sich 1848 für 13 Jahre in Weimar nieder; hier wollte er als Dirigent, Komponist und Kulturpolitiker eine neue Ära nicht nur der Musik, sondern der Kunst überhaupt anbrechen lassen. An seiner Seite stand ihm seine Lebensgefährtin, die russische Fürstin Caroline zu Sayn-Wittgenstein (1819–1887), die seit 1850 wie eine Agentin über Liszts Leben wachte. Sie hat die Spuren Marie d’Agoults programmatisch verwischt – und sie hat, was nicht zu verwischen war, stilisiert. Heraus kam die eine Seite des Mythos von Franz Liszt und Marie d’Agoult: das kurze und helle Aufleuchten einer romantischen Liebe.27
27
Diese Version wurde sowohl in der Liszt-Biographik wie auch in der Werkkonfiguration der Gesammelten Schriften kanonisiert. Dabei spielen neben der Alles leitenden Caroline zu Sayn-Wittgenstein die Musikwissenschaftlerin La Mara (d.i. Ida Marie Lipsius, 1837–1927) und die Musikerin und Musikpädagogin Lina Ramann (1833–1912) entscheidende Rollen. La Mara hat viele der ursprünglich französischen Texte Liszts für die von Lina Ramann edierte deutsche Werkausgabe der Gesammelten Schriften (6 Bde., Leipzig 1880–1883) übersetzt und sein publizistisches und kritisches Oeuvre so dem Umfeld der französischen Romantik, in das es bis 1850 unfraglich gehört, gewissermaßen entzogen. Zugleich hat sie in ihren auflagenstarken und bis in das 20. Jahrhundert hinein nachgedruckten Musikalischen Studienköpfen (5 Bde., Leipzig 1868–1882) den Mythos von Liszt und Marie d’Agoult
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Die andere Seite stammt von Marie selbst. Sie hat sich nach 1840 einen glanzvollen Platz in der Pariser Gesellschaft geschaffen. In ihrem Palais rue Neuve des Mathurins 10 gaben sich führende Intellektuelle und Künstler die Klinke in die Hand: Chopin und die gehasste Freundin George Sand (an deren Modell Marie die eigene Autorschaft ausrichtete), Victor Hugo und Théophile Gautier, Lamartine und Lamennais, Heine, Émile de Girardin, Emma und Georg Herwegh. Und in dieser Atmosphäre hat sich Marie d’Agoult unter dem Pseudonym Daniel Stern neu erfunden. Als Daniel Stern hat sie nicht nur zahlreiche politische Interventionen für die Sache der Arbeiter verfasst, sondern auch die auflagenstarken Esquisses morales von 1849 und vor allem die bis heute klassische Histoire de la Révolution de 1848, die 1851–1853 erschien. Sie hat als Daniel Stern aber auch zahlreiche belletristische Texte verfasst, die bis auf einen heute allesamt vergessen sind. Dieser eine ist der Roman Nélida (ein Anagramm von Daniel), der lange Zeit wegen seines angeblich autobiographischen Werts wie eine Quelle zur Liebe von Franz Liszt und der Autorin behandelt wurde. 1846 erstmals publiziert, erzählt er die Liebesgeschichte der Nélida de la Theieullaye, einer jungen Intellektuellen aus adligem Haus, die sich nach einer düsteren Kindheit im strengen Konvent unsterblich in den Maler Guermann verliebt. Diese Konstellation und zahlreiche Details der mäandernden Liebe transformieren ziemlich exakt die reale Geschichte des Paars Franz/Marie. Auch die Wanderungen der Unbehausten von Paris über Genf nach Mailand machen den Text zum ‚roman à clef‘. Doch dann kommt die Fiktion: Guermann ist geradezu süchtig nach der großen Gesellschaft; er wird das Opfer einer erotischen Intrige der Marquise Zepponi (die zuvor schon Nélidas Ehemann zur Untreue verleitete), und er verlässt Nélida in einer ziemlich schäbigen Szene mit ziemlich egoistischen Motiven. Die ‚Botschaft‘ des Romans konzentriert sich in einer der letzten Szenen. Guermann, der zum Hofmaler und Akademieleiter im Herzogtum T*** ernannt wurde, soll die monumentale Halle des Museums ausmalen. Schon im Umgang mit den Duodezherrschern des deutschen Kleinstaats lässt der Maler jede Würde vermissen; ihm geht es nicht länger um die Idee der Kunst, um das Ideal, sondern um den Erfolg. Dann kommt es zur Konfrontation zwischen Willen und Vermögen. Guermann lässt sich die noch leere, auf seine Bilder harrende Halle zeigen:
als Hohem Paar kultiviert (vgl. etwa die fünfte Auflage des ersten Bandes der Musikalischen Studienköpfe, Leipzig 1894, S. 309ff.).
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Guermann ressentit, à la vue de cette immense galerie, un douloureux serrement de coeur; une sueur froide mouilla son front. Il demeura muet, parcourant d’un oeil épouvanté cette voute solenelle dans sa blancheur éblouissante, ca vaste espace inondé de lumière. Son regard, en retombant, rencontre le regard ironique du directeur. Il s’imagina voir Méphistophélès. En cet instant, une horrible souffrance lui fut révélée. Le doute entra dans son âme; il crut se sentir au-dessous de sa tâche; il mesura l’effrayante disproportion de sa force et de son désir. Tel un oiseau voyageur, planant au-dessous de l’Océan, sent, à je ne sais quel engourdissement de ses ailes, qu’il a trop présumé de leur vigueur, et qu’elles ne le porteront pas jusqu’au rivage.28
Mit anderen Worten: Ohne Inspiration durch Nélida ist Guermann nichts. Er erkrankt, schickt ihr einen Brief, in dem er um Verzeihung bittet, und stirbt schließlich in ihren Armen.29 Dass Marie d’Agoult Liszt in ihren sehr viel später niedergeschriebenen und erst posthum veröffentlichten Memoiren gerechter beurteilt und ihre Liebe auch als Generationsphänomen der 1830er deutet, gehört ebenso wie die literarische ‚Abrechnung‘ in Nélida zur mittelbaren Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieses Briefwechsels, der in einer Reihe von Satellitentexten seine Supplementierung erfahren hat.
V. Die künstlerische Verarbeitung der Liebe zu und der Trennung von Marie d’Agoult sieht bei Franz Liszt anders aus, verhält sich aber auch supplementär zum Korpus des Briefwechsels. Liszt hat die Liebe zu Marie d’Agoult als Chiffre in einer ganzen Reihe wichtiger Werke gewissermaßen als esoterischen Text fortgeschrieben. Zu diesen Werken gehören vor allem die großen, literarisch inspirierten und literarisch gedachten Klavierzyklen, also die Études d’exécution transcendante, das Album d’un Voyageur und, nach 1850, die ersten beiden Teile der Années de Pèleringe, die von den schweizer und italienischen Eindrücken der Jahre 1835–1839 ausgehen. Dabei hat Liszt nicht nur eine ganz neue Idee zyklischer Musik entwickelt, die den Klaviermusikzyklus ins Zentrum musikästhetischer Spekulation
28
29
Stern, Daniel [d.i. Marie d’Agoult]: Nélida / Hervé / Julien. Paris [Michel Lévy] 1866. Nélida ist in dieser Edition auf den S. 1–262 abgedruckt, das Zitat auf S. 234. Auch dieser Band ist von der Bibliothèque Nationale Numérique online gestellt: (Stand: 27.7.2012). Dass Marie d’Agoult Liszt in ihren wesentlich später verfassten Memoiren gerechter beurteilt und ihre Liebe als Teil der Geschichte der romantischen Generation interpretiert, dürften die langen Zitate im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes gezeigt haben.
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rückte,30 er hat diese Musik auch zum Medium einer Selbstaussprache gemacht, die im exoterischsten aller Genres, dem Virtuosenstück, das Esoterische, Geheime verschließt und bewahrt. Der Klavierzyklus als poetisches Genre sollte wie die Literatur und die Bildende Kunst die großen Themen der Menschheit behandeln. Das Poetische sah Liszt dabei als Grenzziehung zwischen Kunst und „NichtKunst“.31 Im Vorwort zum 1842 gedruckten Album d’un voyageur schreibt er, dass diese neue, poetische Klaviermusik in Zyklenform „vielleicht mehr als die Poesie selbst geeignet ist, alles das auszudrücken, was unsern altgewohnten Horizont erweitert, alles das, was sich der trockenen Zergliederung entzieht, was sich in den unzugänglichen Tiefen unstillbarer Sehnsucht, unendlicher Ahnungen bewegt“.32 Und im Album d’un voyageur findet sich auch jenes berühmte Stück, das die ästhetische Neupositionierung des Komponisten Liszt wie die erotische Reflexion des Liebenden Liszt paradigmatisch abbildet: Vallée d’Obermann. Schon in den Liebesbriefen des Paares hatte Etienne Pivert de Sénancours (1771–1846) Roman Oberman eine zentrale Rolle gespielt. Marie hatte den Roman – dessen Erstausgabe 1804 im Glanz der Napoleonischen Epoche fast spurlos unterging, der in der Neuausgabe durch SainteBeuve von 1833 aber zu einem Kultbuch der ‚Romantic Generation‘ avancierte33 – durch Liszt kennengelernt.34 Die im Roman etablierte elementare Gleichung von Natur, Religion und Subjekt des Schreibens avancierte im Briefwechsel der beiden zur Chiffre eines anderen, elementaren Zustands. So nimmt es nicht Wunder, wenn Liszt den Roman in seinem großen, technisch ungeheuer anspruchsvollen Stück fortschreibt. Dass er ihn nicht lediglich wortlos vertont, sondern im Medium der Musik fortzuschreiben sucht, macht die nicht ablassende Arbeit an diesem Stück klar. 30 31
32 33 34
Adam-Schmidmeier, Eva-Maria von: Das poetische als zyklisches Prinzip. Studien zum Klaviermusikzyklus im 19. Jahrhundert (Musicologica Berolinensia 10). Berlin 2003. Altenburg, Detlef: „Franz Liszt“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik (26 Bde. in zwei Teilen). 2., neubearbeitete Aufl. Hg. von Ludwig Finscher. Kassel, Basel, Stuttgart, Weimar [u.a.] 1994–2008. Bd. XI, L, Sp. 203–311, hier Sp. 286. Zitiert nach Altenburg: „Franz Liszt“. In dieser Ausgabe wurde aus dem ursprünglichen Oberman dann Obermann, was die unterschiedlichen Schreibungen erklärt. „L’ami Chopin avait le projet de vous faire uns petite visite hier matin (dimanche), je comptais le charger du deuxième volume d’Obermann que voici et que je vous prie de vouloir bioen accepter, souligner et annoter; à votre retour, j’aurai moi-même l’honneur de vous remettre le premier que vous connaissez déjà. L’édition en est vraiment curieuse; pour peu que vous fassiez seulement la moitié de mon travail sur ce dernier volume, elle sera tout à fait hors prix, d’une valeur idéale.“ (CLD 75, Brief vom Juni/Juli 1833, alle Hervorhebungen im Original.)
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1842 erschien es in der ersten Fassung im Album d’un voyageur;35 es war von Liszt zugleich ein ‚Brief‘ an Marie, ein Stück, das die Signale des Briefwechsels wieder aufnehmen und deutlicher machen sollte. Zwischen 1842 und 1855 hat Liszt das Stück wiederholt revidiert; aus dem Album d’un voyageur wurde im Verlauf eines komplexen Prozesses das erste der Années de Pèlerinage mit dem Titel Suisse, das Liszt 1855 bei Schott in Mainz herausgab.36 In dieser Fassung hat Liszt das Stück nicht nur in seiner Substanz umgearbeitet, er hat es auch mit entscheidenden Paratexten umrankt. Dazu gehört der den Noten auf einem gesonderten Blatt vorangestellte Stich Wilhelm Kretschmers (der seitdem von allen LisztAusgaben, selbst der neuen kritischen, stillschweigend unterschlagen wird):
35 36
Album d’un Voyageur. Compositions pour le Piano par F. Liszt. 1re Année. SUISSE. Vienne, chez Tobias Haslinger [1842], o.P. (Hervorhebung im Original). Vgl. Berghahn: „Weltliteratur und poetische Musik“.
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Abb. 1: Vallée d’Obermann. Mainz: Schott, 1855. Frontispiz.
Diesem vorgeschalteten Bild folgt eine Seite, die nur aus Texten besteht, auf ihr stehen drei lange Zitate: zunächst zwei Briefe aus Sénancours Roman Oberman. Liszt bricht deren Chronologie auf und montiert ohne genaue Quellenangabe den 63.37 vor den vierten Brief. Vor dem „hyperelegischen Fragment“ (so Liszts Bezeichung)38 Vallée d’Obermann liest man: 37
38
Der Erstdruck des ersten Jahrs der Années de Pèlerinage von Schott (Mainz 1855) gibt falsch den 53. Brief als Quelle an, vgl. die dort auf den Titelkupfer des Vallée d’Obermann folgende unpaginierte Seite. Vgl. Liszts Brief an Schott, den Verleger der Années de Pèlerinage, in dem er die Gestaltung der Ausgabe kommentiert: „Das düstere hyper-elegische Fragment ‚La vallée d’Obermann‘ welches in den Schweizer Jahrgang der Années de Pèlerinage aufgenommen (da die Szene des Buchs ebenfalls die Schweiz ist) bringt mehrere Hauptmomente des Werks von Senancour, worauf auch die gewählten Epigraphen hinweisen.“ („Elf unge-
Der Briefwechsel zwischen Franz Liszt und Marie d’Agoult
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Que veux-je? que suis-je? Que demander à la nature? … Toute cause est invisible, toute fin trompeuse; toute image change, toute durée s’épuise: … Je sens, j’existe pour me consumer en désirs indomptables, pour m’abreuver de la séduction d’un monde fantastique, pour rester atterré de sa voluptueuse erreur. Indicible sensibilité, charme et tourment des nos vaines années; vaste conscience d’une nature partout accablante et partout impénétrable, passion universelle, sagesse avancée, voluptueux abandon; tout ce qu’un coeur mortel peut contenir de besoins et d’ennuis profonds, j’ai tout senti, tout éprouvé dans cette nuit mémorable. J’ai fait un pas sinistre vers l’âge d’affaiblissement; j’ai dévoré dix années de ma vie.39
Diesem langen Sénancour-Zitat schließt sich eines aus Byrons Childe Harold an, und zwar die 97. Strophe aus dem III. Canto: Could I embody and unbosom now That which is most within me, – could I wreak, My thoughts upon expression, and thus throw Soul, heart, mind, passions, feelings, strong or weak, All that I would have sought, and all I seek, Bear, know, feel, and yet breathe – into one word, And that one word were Lightning, I would speak; But as it is, I live and die unheard, With a most voiceless thought, seathing it as a sword.40
Beide Zitate spielen auf eine entscheidende Nacht an; beide auf eine Wende zum Schlechten. Im Brief an die Geliebte und Schülerin Agnes Street-Klindworth zwingt Liszt Zitat, Stück und die eigene Existenz in ein Bild: Was habe ich Ihnen zu sagen, durch so viel Schweigen hindurch, das auf meinem Geschick lastet? „And if it was lightning, I would speak” sagte Childe Harold. […] Wenn Dir dieser Band in die Hände kommt, dann lies noch einmal diese Zeilen aus dem dritten Gesang, den ich als Motto eines ziemlich verworrenen Stückes gewählt habe, das kürzlich im ersten Band (Schweiz) meiner Wanderjahre erschienen ist und das vielleicht einen bescheidenen Platz auf dem „Parnasso confuso“ verdient, von dem der gute Metastasio einst träumte […].41
In der gedruckten Partitur, der Fixierung des sich immer wandelnden Klavierstücks, das zusammen mit Bild und Zitatmontage (und vor der esoterischen Dimension des Ungesagten und Undechiffrierbaren) gelesen
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40 41
druckte Briefe an Schott“. Hg. und eingel. v. Edgar Istel. In: Die Musik 5 (1905/06), Heft 13, S. 43–52, hier S. 46.) In der leicht greifbaren Übersetzung des Oberman durch Jürg Peter Walser (Frankfurt/Main 1982) finden sich die zitierten Passagen auf den S. 28 (Brief 4) und 241 (Brief 63). Liszt: Vallée d’Obermann / Byron: Poetical Works. Ed. by Frederick Page. A New Edition, corrected by John Jump. Oxford, New York 1970, S. 223. Zitiert nach Haschen, Reinhard: Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment. Berlin 1989, S. 73
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werden will, fallen Existenz und Werk ineins. Liszt hat das Stück nicht nur zum Ort des Unsagbaren gemacht, er hat den Liebesdiskurs im Medium der Musik fortgeschrieben und sein reales Scheitern in der Kunst aufgehoben. Auch deshalb hat Liszt die Form des Stücks nicht ruhen lassen; zwanzig Jahre nach der ersten Fassung hat Liszt seine wiederholten Revisionen von Vallée d’Obermann im ersten der Années de Pèlerinage synthetisiert. Herausgekommen ist ein hochverdichtetes Stück Musik, das Musik und Autobiographie und Literatur zugleich ist. In dieser letzten Fassung des Stücks aus dem Jahr 1855 – die Liszt nie ohne Bewegung hören konnte und die zu spielen er sich weigerte42 – findet sich ein harmonisch komplexer Akkord, der sich, wie der TristanAkkord, eindeutiger Zuschreibungen entzieht und der, ebenfalls wie der Tristan-Akkord, leitmotivisch verwendet wird (Abb. 2).43 In Vallée d’Obermann – aber auch in einer Reihe anderer Stücke, die Liszt nach 1835 komponiert hat – avancieren entscheidende Signale und Symbole der Briefe des Paares zu Elementen eines Kunstintegrals, das sich ganz im Sinne von Liszts gattungsüberschreitender und intermedialer Ästhetik in der Musik erfüllt. Erst dort schien ihm das Unsagbare, oszillierend zwischen Esoterik und Exoterik, darstellbar.
Abb. 2: La Vallée d’Obermann. Mainz: Schott, 1855, Takt 26ff.
42
43
Vgl. etwa die Erzählung seines Schülers August Göllerich: Am 12. September 1885 „verlangte der Meister nachts, daß ich es spiele. Er brach dabei in Tränen aus“. (Zit. nach Haschen: Franz Liszt, S. 72; vgl. die Kontextualisierung der Anekdote bei Herrgott, Gerhard: Wanderer-Fantasien. Franz Liszt und die Figuren des Begehrens. Mit der französischen Version: L’imagination du Promeneur [Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Preprint 342]. o.O. 2008, S. 5–6). Damit soll die alte und müßige Debatte über das – reziproke – Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wagner und seinem Schwiegervater nicht weitergeführt werden; Wagner konnte zur Zeit der Arbeit an Tristan und Isolde (1857) bereits eine Reihe von ‚Vorläufern‘ dieses Akkords kennen, und dasselbe gilt von Liszt. Vgl. die zusammengestellten Bildungen ähnlicher Akkorde seit Beethoven in der Petrucci Music Library:
(Stand: 27.7.2012).
Cornelia Ortlieb
Papierflügel und Federpfau Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé In fast zweihundertfünzig Briefen und Karten, auf Briefumschlägen, Fächern und Zetteln hat der französische Dichter Stéphane Mallarmé die Tänzerin und Salondame Méry Laurent umworben und bedichtet und dabei ein einzigartiges Konvolut ikono-graphischer Materialien geschaffen. Denn neben den klassischen Mitteln des liebenden Andichtens, neben Gedichten also, in denen Mallarmé die überirdische Schönheit der Geliebten beschwört, ihr flammendes Haar, ihre weiße Haut, bis hin zur schimmernden Transparenz ihrer reinen Fingernägel, finden sich in dieser Korrespondenz erstaunlicherweise Zeichnungen und Graphismen mit einem anderen, zärtlich-neckenden Ton und zumindest Fragmente einer ganz eigenen Bildsprache der Liebe. Diese ist wiederum untrennbar mit dem jeweiligen Material ihrer Aufzeichnung verbunden, mehr noch: Das Material agiert seinerseits auf unterschiedliche Weise, mindestens aber in der Vorgabe bestimmter Formate, die der schreibende und zeichnende Liebende gleichermaßen beiläufig wie virtuos handhabt und überwindet. Diesem Wechselspiel entspricht auf der funktionalen Ebene ein ständiges Ausbalancieren von Nähe und Distanz, indem die Botschaften an eine abwesende und zugleich im ritualisierten Umgang immer nur vorübergehend ferne Adressatin gerichtet sind, so dass weite Teile der Korrespondenz mit der Bestätigung bisher getroffener Verabredungen, der Antizipation des nächsten vereinbarten Treffens oder pragmatischen Absprachen zur Präzisierung bereits zugesicherter Begegnungen befasst sind – wenn sie nicht ohnehin nur Grüße und Küsse in wenigen Worten enthalten.1 Auch in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts war für solche organisatorische Aufgaben und kurze Mitteilungen kein aufwendiger Briefwechsel mehr notwendig und die liebevolle kalligraphische Aufberei1
Der Briefwechsel wurde erst 1996 in französischer Sprache veröffentlicht, mit einem instruktiven Vorwort und erhellenden Kommentaren, die (Rand-)Zeichnungen und andere Auffälligkeiten sind in kurzen inhaltsbezogenen ‚Transkriptionen‘ erfasst: Mallarmé, Stéphane: Lettres à Méry Laurent. Hg. v. Bertrand Marchal. Paris 1996. Im Folgenden zitiere ich aus der Korrespondenz nach dieser Ausgabe mit der Sigle SML und der Angabe der Seitenzahl, die Übersetzung ist jeweils meine eigene.
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tung dieser vermeintlich anspruchslosen Texte und Formate demonstriert einmal mehr den Willen zum Überfluss, zur werbenden Gabe und nicht zuletzt zur Kunst. Offensichtlich wird dieser Wille zur Kunst dort, wo Mallarmé die intime Zwiesprache des Liebesbriefs in Formen klassischer Liebesdichtung überführt und die solchermaßen vermeintlich aus dem Augenblick entstandenen Gebilde durch Abschrift und die Tilgung der Anreden in publikationsfähige Texte für die zeitgenössischen Journale verwandelt. Scheint hier noch eben diese Beförderung zum Druck gegen das Argument der materialgebundenen Graphismen zu sprechen, so wird spätestens bei der Reihe der kleinformatigen Briefumschläge und Briefkarten deutlich, wie genau das gewählte Versgebilde des Vierzeilers (des quatrain) an seinen jeweiligen Schriftgrund angepasst ist und welche besondere Sorgfalt Mallarmé auf dessen Positionierung im umgebenden Raum verwendet hat. Mit Blick auf die Schrift-Bild-Ensembles der Briefe mit Zeichnungen oder auf bedrucktem Papier lässt sich auch hier bestätigen, dass sich dem Zeichnenden die leere weiße Seite, die Mallarmé in vielen Texten sprachlich umkreist, zum Raum öffnet,2 und es ist in dieser Hinsicht seinerseits sprechend, dass er für seine beschrifteten Zeichnungen das moderne Format der Bande dessiné, also der zweidimensionalen, flachen Darstellung des sogenannten Comic oder der Graphic Novel wählt.3 Der Schriftsteller und gelegentliche Zeichner tritt damit nicht in Konkurrenz zu den bildenden Künstlern, die zeitgleich den illustrierten Brief zur 2
3
Der Unterschied zwischen Schreibendem und Zeichnendem lässt sich eben so fassen: „Das Schreiben macht die Seite zur Fläche, zum bloßen Träger, aber schon der geringste Strich daneben, der Punkt, der sich an den Rändern des Geschriebenen ansiedelt, die Schraffur, die ausbricht, die Linie, die sich aus dem Textblock schlängelt, macht die Seite zum Raum.“ Raulff, Ulrich: „Rabatten blød. Seitenstreifen nicht beschreibbar“. In: Randzeichnungen. Nebenwege des Schreibens. Marbacher Magazin 129. Hg. v. Heinrich Steinfest. Marbach 2010, S. 5–8, hier S. 6. Zum Paradox jeder Zeichnung, ihre Suggestion räumlicher Tiefe auf der zweidimensionalen weißen Fläche anlegen zu müssen vgl. Pichler, Wolfram u. Ralph Ubl: „Vor dem ersten Strich. Dispositive der Zeichnung in der modernen und vormodernen Kunst“. In: Busch, Werner, Oliver Jehle u. Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung. München 2007, S. 231–55. Zur Funktion von Zeichnungen im Liebesbriefwechsel vgl. auch Fellner, Friederike: „(Nicht)-Eingehängtsein – Franz Kafkas Zeichnung seiner Verbindung zu Felice Bauer“. In: Der Liebesbrief: Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus. Berlin 2008, S. 353–378; zum Verhältnis von Zeichnung und Schrift vgl. auch die demnächst erscheinende Studie von Friederike Fellner: Kafkas Zeichnungen. München 2014. Mit der Konjunktur der Karikatur entwickeln sich in Frankreich wie in anderen Ländern solche Formate bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; das berühmteste deutsche Beispiel sind sicher die Bildergeschichten von Wilhelm Busch, der als „Doppelbegabung“ zugleich und gleichrangig „Wortkünstler“ und „Bildkünstler“ war. Busch, Wilhelm: Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 3 Bde. Hg. v. Herwig Guratzsch u. Hans Joachim Neyer. Hannover 2002, Bd. 1: Frühwerk, S. 11.
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modernen Kunstform des Malerbriefs vollenden, doch er nimmt offensichtlich bestimmte Salonmoden und -rituale gleichermaßen auf, wie populäre Dinge und Materialien der modernen Warenwelt die Bildvorstellungen seiner Korrespondenz speisen. Zugleich bedient sich das poetische Vokabular dieser Sprache der Liebe jedoch aus einem Fundus der Konzepte und galanten Praktiken und Rituale versunkener höfischer Zeitalter, zumal des Rokoko. Als Teil einer größeren Gruppe von Papierarbeiten demonstriert der Briefwechsel somit eine einzigartige Mischung von avantgardistischer Poetik, klassischer Bildersprache und modernen Materialien, wie ich im Folgenden an drei Gruppen von Objekten zeigen möchte: den Fächern, den kleinformatigen Karten und Umschlägen und schließlich den um Tuschezeichnungen ergänzten Briefen und Karten. Sie tragen in ihrer Gesamtheit zur Konturierung einer Bildersprache der Liebe bei. Gemeinsam ist diesen Papierobjekten ihr scheinbar beliebig gewähltes Material, das jeweils der Bearbeitung einigen Widerstand entgegensetzt; alle demonstrieren daher zugleich Beiläufigkeit und Virtuosität. Die Spuren der schreibenden und zeichnenden Hand fügen sich dabei zu ganz eigentümlichen Schriftbildern, in denen zudem buchstäbliches und metaphorisches Sprechen systematisch verbunden sind um immer wieder auf das Material solcher Papiergebilde zurück zu verweisen.
I. Die Fächerfrau In einem frühen Gedicht über seine langjährige Freundin und Geliebte Méry Laurent hat Mallarmé für ihren Zauber ein eigentümliches Bild gefunden: Sie sei „wie ein einzigartiger Fächer, über den ein ganzer Raum staunt“ („comme un éventail seul dont la chambre s’étonne“).4 Nicht zufällig platziert das Kompliment die „Ikone des Fin de siècle“5 in einen Schauraum, unter dem man sich einen der typischen üppig dekorierten Salons der Belle Epoque vorstellen kann,6 aber auch ein Atelier, ein Theater oder einen jener Bühnenräume, in denen weniger die Kunst des 4
5 6
Mallarmé, Stéphane: „Méry. Brief an Méry Laurent, 31.12.1887”. In: SML, S. 40. Bei dem Gedicht handelt es sich um die erste Fassung des im Figaro vom 10.2.1896 erstmals veröffentlichten Gedichts Dame sans trop d’ardeur. Vgl. Newton, Joy: „Méry Laurent, icône fin de siècle”. In: Méry Laurent, Manet, Mallarmé et les autres. Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts de Nancy 2005, S. 9–32. Eine großformatige Photographie, die Mallarmé im Salon Laurents zeigt, dokumentiert auch dessen in jeder Hinsicht reiche Ausstattung, vgl. Stéphane Mallarmé 1842–1898. Un destin d’écriture, Ausst.-Kat. Paris 1998, S. 39.
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Schauspiels als die der Darbietung des Körpers zelebriert wird. Zur erstaunlichen Karriere der erst unter ihrem teils anglisierten neuen Namen berühmten Schönheit „ohne Beruf“7 haben die Auftritte in diesen verschiedenen Räumen der Repräsentation und der Darstellung entscheidend beigetragen, ihr jedoch auch den zweifelhaften Status der immer nur sogenannten Tänzerin, Schauspielerin oder Gesellschaftsdame eingetragen, hinter dem üblicherweise die mehr oder weniger legalisierten Formen der Prostitution vermutet werden. Als Tochter einer zum Zeitpunkt der Geburt schon vierzigjährigen ledigen Wäscherin und eines unbekannten Vaters, in dem man wohl einen der Dienstherren oder Kunden vermuten darf, ist sie anlässlich der Beurkundung ihrer Geburt am 29.4.1849 als Anne Rose Susanne Louviot im Geburtenregister der Stadt Nancy verzeichnet worden;8 nur fünfzehn Jahre später registriert die selbe Stadtverwaltung ihre Eheschließung mit dem zwölf Jahre älteren Lebensmittelhändler Jean Claude Laurent.9 Das jugendliche Alter der Braut und die Eile der Eheschließung haben Spekulationen über eine uneheliche Schwangerschaft befördert, für die lokale Gerüchte den fünfundfünfzigjährigen Marschall Canrobert, den Gouverneur militaire von Nancy, verantwortlich machten.10 Nach dem Bankrott des Ehemanns erfolgte die Scheidung nur sieben Monate nach der Hochzeit; „doppelt befreit von Mutter und Ehemann“11 geht die junge Frau nach Paris, um zu beginnen, was euphemistisch eine Bühnenkarriere genannt werden kann: Sie tritt in kleineren Theatern und Variétés auf, vorzugsweise in musikalischen Komödien und ähnlichen Formaten leichter Unterhaltung.12 Zeitgenossen haben ihre Darbietungen – zumal die der unbekleideten Venus zwischen silbernen Säulen – mit dem zweideutigen Kompliment bedacht, sie spreche „besser mit ihrem Körper als mit ihrem Mund“13 und es ist nicht verwunderlich, dass sie nach zehn solchen unterschiedlich erfolgreichen Jahren 1874 wieder eine Heirat als Ausweg in ein besseres Leben wählt. Diesmal ist der Ehepartner ein Glücksgriff: Der 7 8 9 10
11 12 13
Ihre Heiratsurkunde gibt als Status „sans profession“ („ohne Beruf“) an, vgl. Heiratsregister der Stadt Nancy 1864, Nr. 126, zit. n. Betrand Marchal: Préface, in: SML, S. 11. Geburtenregister der Stadt Nancy 1849, Akte Nr. 424, vgl. ebd. Heiratsregister der Stadt Nancy 1864, Nr. 126, vgl. ebd., S. 12 f. Den Verdacht einer vertuschten Schwangerschaft erhärtet ihr Testament, in dem sie auch ein örtliches Waisenheim großzügig bedenkt. Die Gerüchte um die Beziehung zu Canrobert soll Méry Laurent selbst bestätigt haben, vgl. ebd. S. 13. Andernorts wird sie als „Mätresse“ des berühmten Generals und Arbeitgebers ihrer Mutter bezeichnet, vgl. Newton: Méry Laurent, S. 11. Marchal: Préface, S. 13 f. Newton: Méry Laurent, S. 12. Ebd., S. 13.
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Amerikaner Thomas Evans erweist sich in jeder Hinsicht als überaus großzügiger Gefährte und ist als offizieller Zahnarzt und Vertrauter der kaiserlichen Familie zugleich eine der prominentesten Figuren des öffentlichen Lebens. Unermesslich reich, nicht zuletzt durch eine Serie geglückter Immobilienspekulationen, kleidet er seine Ehefrau, die sich ihm zuliebe nun anglisierend Méry nennt, in die Roben der teuersten Schneider und richtet ihr neben einem Appartement in der Rue de Rome 52 ab 1880 auch einen Sommersitz ein, die Villa des Talus im Bois de Bologne, in der sie dann jeweils mehr als die Hälfte des Jahres verbringen wird. Mit diesem sozialen Aufstieg und einem sorgenfreien Leben ist auch eine offenbar sorgfältig und zielstrebig betriebene Umgestaltung des ehemaligen Provinzmädchens zur Pariser Gesellschaftsdame verbunden: Unterstützt von einem Ehemann mit literarischen und künstlerischen Interessen, nimmt Méry Laurent Sprachunterricht, befasst sich mit Literatur, Musik und Bildender Kunst und gewinnt schließlich, wie es eine vielfach kolportierte Anekdote will, aufgrund eines Beweises von Kennerschaft das Herz Edouard Manets, der in dreizehn Porträts ihre Schönheit verherrlichen wird. Ein lebenslanger Freund – und zeitweiliger Geliebter – mag Manet geworden sein, weil sie mit ihrem begeisterten Urteil über sein vom Salon zurückgewiesenes Bild „Le linge“ („Die Wäsche“) 1876 einen ersten strahlenden Auftritt in der privaten Ausstellung seines Ateliers gehabt haben soll;14 in eben diesem Atelier begegnete sie offenbar Ende der 1870er Jahre oder Anfang der 1880er Jahre Stéphane Mallarmé, der zufällig auch bereits 1873 ihr Nachbar im Haus Nr. 29 in der Rue Moscou gewesen war.15 In den glänzenden Jahren seit der zweiten Heirat gelingt es Méry Laurent, den Kreis der Malerfreunde durch kluge Bilderkäufe zu unterstützen und einen der berühmtesten Salons ihrer Zeit zu etablieren, der sowohl in ihrem zentral gelegenen Appartement in der Rue de Rome als auch in einer zweiten Wohnung am Boulevard Lannes stattfindet und zu den letzten seiner Art zählt.16 Nach Manets Tod 1883 wird Mallarmé ihr ein tröstender Freund und Vertrauter; offenbar konnte „er den Platz 14
15
16
Marchal: Préface, S. 16. Antonin Proust hat die Geschichte dieser Begegnung in seinen Erinnerungen an Manet erzählt; demnach war Manet von ihrem Auftritt so beeindruckt, dass er eine Woche lang von nichts anderem mehr sprechen konnte, vgl. Proust, Antonin: Édouard Manet. Souvenirs. Hg. v. Lie Renouard u. Henri Laurens, Paris 1913, S. 78–80 und ebd. Marchal: Préface, S. 17. Demnach fiele in die Zeit dieser ersten Nachbarschaft auch das Ende der vielfach beschriebenen „Krise“ Mallarmés, die offenbar gleichermaßen persönlicher wie künstlerischer Natur war und ihm entscheidende Impulse für eine neue Ausrichtung seiner Dichtung gab. Newton: Méry Laurent, S. 10, vgl. auch die Liste der bedeutenden Kunstwerke ihrer Sammlung wie der gleichermaßen illustren Gäste ihrer Salons ebd.
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einnehmen, den zehn Jahre lang der Freund [Manet] in ihrem Herzen besetzt hatte und sie mit ihren diversen Großzügigkeiten statt des [vom Salon] zurückgewiesenen Malers den ‚verfluchten Dichter‘ bedenken“.17 Obgleich bis zum ersten datierbaren schriftlichen Kontakt aus dem Jahr 1884, dem selben Jahr, in dem Mallarmé „Madame Laurent“ auch in seine anderen Briefwechsel einführt, fast zehn Jahre liegen, in denen man zumindest von einer nachbarschaftlichen Beziehung oder Bekanntschaft der Beiden ausgehen kann, liegt über dieser Zeit noch eine gewisse Dunkelheit. Doch ab 1883 und bis zu seinem Tod begleitet die Korrespondenz die ritualisierten regelmäßigen Treffen in einer der beiden Wohnungen Laurents über fünfzehn Jahre in Gestalt von fast täglichen Billets Mallarmés, die sie offenbar in annähernd gleicher Zahl erwidert hat.18 Ob dieser Intimität des ständigen, offenbar nach beider Bedürfnissen modellierten Kontakts auch eine erotische entsprochen haben mag, wie es die Umstände dieser außerehelichen Arrangements nahelegen, darf allerdings bezweifelt werden: Méry Laurent blieb bis an ihr Lebensende das vielfach umschwärmte Zentrum eines sich stetig erneuernden Kreises von Bewunderern, unter denen sie manche besonders auszeichnete, eine anachronistische Form der Hofhaltung, die an Jean Pauls Proklamation einer „Tutti-“ oder „Simultanliebe“ erinnert.19 Ein freilich nicht rundum zuverlässiger Bericht Joris-Karl Huysmans in einem seiner geheimen Notizbücher hält ihr Bekenntnis fest, in Mallarmé den besten und wertvollsten aller Freunde gefunden zu haben, mit dem sich aber alles weitere von selbst verbiete aufgrund seiner Unsauberkeit – ihren jugendlichen Liebhaber soll sie dagegen bereits frühmorgens empfangen haben, bezeichnenderweise nach einem ausgiebigen Bad. Die despektierliche Schilderung zerschlissener Flanellhemden und schwarzer Laken, die sie angewidert haben sollen, mag durch Huysmans boshaft zugespitzt worden sein, doch ihre Bemerkung, er, Mallarmé, leide und verstehe nicht, vermag den Überschuss der Briefe, Karten und Geschenke und ihren oft sehnsüchtigmelancholischen Ton zu erklären als das unablässige Werben um eine immer nahe und doch unerreichbare Geliebte.20 Dass diese anhaltende 17 18 19 20
Marchal: Préface, S. 17. Ebd., S. 19. Vgl. Jörg Paulus: „‚Simultanliebe‘ in ‚Schäfersekunden‘. Liebesbriefkultur im Jean-PaulKreis“. In: Stauf, Simonis u. Paulus (Hgg.): Der Liebesbrief, S. 35–60. Huysmans notiert vorgeblich wortgetreu: „Non, non! Jamais – Et il se croit propre! – je l’aime beaucoup et ce qu’il me dégoûte – Je me mettrai au feu pour lui, mais quant à ça, jamais! – il en souffre – et il ne comprend pas.” („Nein, nein! Niemals – Und er glaubt von sich, er wäre reinlich! – ich liebe ihn sehr, aber wie sehr er mich abstößt – Ich würde mich für ihn ins Feuer werfen, aber das: niemals! Er leidet darunter – und er versteht nicht.“), Joris-Karl Huysmans: [Grünes Heft], Abschrift von Pierre Lambert, hier zit. n. Marchal:
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Annäherung mit Variationen des Besingens des überirdisch schönen Körpers Mérys einher geht, ist Huysmans zufolge auch Ausdruck der „Tantalus-Qualen“, die der unglücklich Begehrende gelitten habe, der zudem von einer eifersüchtigen Ehefrau zuhause wegen seiner Untreue wütend beschimpft worden sei.21 Dieser Zusatz erklärt zumindest die auffällige, wiewohl typische Asymmetrie des Briefwechsels: Unter 245 gelisteten Billets und Briefen finden sich nur zwölf von Méry Laurent, wohl aber ständige inhaltliche Hinweis auf einen kontinuierlichen Dialog, von dem, wie so oft, bedauerlicherweise überwiegend nur die männliche Stimme erhalten geblieben ist.22 Wenn das bereits zitierte Gedicht Méry die unterdessen zum Modell und zur Muse transformierte staunenswerte Frau preist, die eine Art frischen Wind in die überhitzten Räume der Belle Époque bringt, adressiert es somit eine längst zum Sinnbild weiblicher Schönheit stilisierte moderne Venus, deren intime Reize schon früh Gegenstand öffentlicher Betrachtung geworden waren: In der persönlichen Sammlung des berühmtesten Pariser Photographen Paul Nadar wie aus den Beständen des Ateliers Charles Reutlinger haben sich Serien von Photographien erhalten, die vor allem die Rundungen des üppigen weißen Körpers und die schwere Flut der rötlichen Haare effektvoll in Szene setzen. In womöglich kaum verhüllter Anspielung auf diese kursierenden Bilder und Laurents entsprechende Bühnenerfolge hat Mallarmé sie seinerseits in einem Vierzeiler in der klassischen Pose der Venus besungen, die scheinbar in einem „ewigen Becken“ ihren Fuß in einen „weißen Lichtreflex“ tauche, die „Quelle der Jugend“ jedoch in sich selbst trage, mithin als eine schaumgeborene Aphrodite im Jungbrunnen ihrer eigenen Schönheit.23
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Préface, S. 21. Marchal fügt salomonisch hinzu, man könne über dieses angebliche Geständnis Verschiedenes denken, aber immerhin sei die Sprecherin nicht umsonst die Tochter einer Wäscherin, ebd. Ebd. Die Annahme liegt nahe, dass Mallarmé selbst mit Rücksicht auf seine Familie ihre Antworten vernichtet hat und manche briefliche Äußerung deutet mehr oder weniger explizit darauf hin. Umgekehrt ließe sich spekulieren, dass die wenigen Briefe und Karten von ihrer Hand gezielt ausgewählt und bewahrt wurden, so beispielsweise ihr Kondolenzschreiben zum Tod Théodore de Banvilles, von ihr selbst bezeichnet als „kleinen freundschaftlichen Gruß, damit Sie verstehen, dass ich Ihren Schmerz teile“ mit dem vielversprechenden und doch offensichtlich freundschaftlich-unverbindlichen Schlusssatz: „Es ist traurig und kurz[,] das Leben[.] Lieben wir uns noch mehr, nicht wahr – bis morgen, wenn nicht schon bis heute Morgen“ („ce petit mot ami pour vous faire comprendre que je partage votre douleur. C’est triste et court la vie Aimons nous plus encore, n’est-ce pas – à demain si ce n’est à ce matin.“ Méry Laurent an Stéphane Mallarmé, 14.3.1891, SML S. 70 f. Stéphane Mallarmé an Méry Laurent, 15.8.1891, SML S. 75.
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Bei Mallarmés Einfall, die Geliebte mit einem Fächer zu vergleichen, handelt es sich dagegen womöglich um eine Art umgekehrte Synekdoche, die als Sonderfall der Metonymie das Verhältnis realer Teilhabe meint: Buchstäblich zusammen-denken muss man Méry und den Fächer, weil Fächer selbst quasi Teile ihres Körpers sind, wie eine undatierte Photographie demonstriert, die sie im japanischen Gewand mit einem Fächer in ihrem leuchtenden Haar zeigt, während sie einen zweiten locker in der Hand hält.24
Abb. 1: Photographie von Méry Laurent mit Fächern in Hand und Haar
Beide Exemplare sind offenbar solche typischen Faltfächer aus Papier, die, mit dem Aufkommen der Japanmode in den 1870er und 80er-Jahren millionenfach produziert, in Frankreich bald zum wichtigsten Accessoire der Dame wurden. Im ersten Heft seines neu gegründeten Modejournals La dernière mode schreibt Mallarmé bereits 1874 unter dem weiblichen Pseudonym Marguerite de Ponty, eine Dame dürfe niemals den nach Tageszeit und Anlass je unterschiedlich gefärbten und gemusterten Fächer vergessen, denn dieser zeige, ob reich geschmückt oder einfach, zuallererst den idealen Wert einer Malerei.25 Mit der Wiederentdeckung dieses alten Accessoires und Gebrauchsgegenstands einher geht aber auch die Erinnerung an die galanten Prakti24 25
Méry Laurent, Manet, Mallarmé et les autres, S. 51, Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, MNR MS 1832. de Ponty, Marguerite [d.i. Stéphane Mallarmé]: „La mode“. In: La Dernière Mode, 1. Heft, 6. September 1874, wieder abgedruckt in Ausst.-Kat. Paris 1998, S. 173, Kat.-Nr. 149.
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ken früherer Zeitalter, wie die Fächerkunst des Barock und des Rokoko, und in den Pariser Salons der 1880er Jahre lebt dann wieder auf, was als ehemals höfische Zeichensprache der Liebe über Jahrhunderte mehr oder weniger ernsthaft entwickelt worden war.26 Diese Fächersprache soll sicherstellen, dass zwei Dialogpartner sich mit zugleich sichtbaren und verborgenen Zeichen verständigen können. Es spricht hier nicht eigentlich der Fächer, sondern die Hand, die ihn hebt, dreht, auf- und zufaltet, komplett zusammenklappt und neigt, unterstützt von Blicken und anderen mimischen Zeichen, die gleichermaßen der heimlichen Zuwendung wie der öffentlichen Tarnung dienen müssen.27 Als ‚Ballett der Hände‘ kommt die virtuose Handhabung des Fächers zudem dem Tanz sehr nahe, den Mallarmé wiederum in seinen spätesten Texten als eine Serie von Faltungen beschrieben hat. Doch auch außerhalb der Salons ist der Fächer allgegenwärtig. So beschreibt Mallarmé in einem Text über die „Jahreszeiten des Lesens“, wie Leserinnen am Strand das Buch als Fächer benutzen, während umgekehrt die glücklichen Nicht-Leserinnen den „anderen und lebendigeren Papier-Flügel nutzen können: unendlich und begrenzt in seiner Entfaltung“; „cette autre aile de papier plus vive: infiniment et sommaire en son déploiement“.28 Zudem ähnelt der Fächer mit seinen gefalteten Seiten bereits vor seiner Beschriftung dem Buch, und lässt, wie Bertrand Marchal bemerkt hat, im Rhythmus der fächelnden Hand und ihrer Schläge beim Zuklappen eine Art wortloses Gedicht erklingen.29 Während der Fächer als Schmuck, Werkzeug und Medium für gewöhnlich in der Hand der Dame liegt, wird dann unter Mallarmés Händen der vieldeutige Gegenstand wieder zum bloßen Material, zum Schreibpapier. Bereits die japanische Fächerkultur hat handbeschriebene Fächer hervorgebracht, bei denen auf farbig bedrucktem Papier Bilder und Schriftzeichen nebeneinander stehen, „mit irgendeiner weisen Sentenz, einem kurzen buddhistischen Text oder […] den Versen eines gefeierten Dichters beschrieben“.30 Diese bunten Fächer sind allerdings für gewöhn26 27
28
29 30
Vgl. Buß, Georg: Der Fächer. Bielefeld, Leipzig 1904. Um 1900 sind diese Handbewegungen offenbar lexikalisiert, zumindest soweit popularisiert, dass sie beispielsweise auf einer Postkarte von 1901 unter dem Titel Correspondance aérienne in einer offenbar standardisierten Form gezeigt werden, vgl. Ferrette, Anne: „L’éventail dans la presse de la seconde moitié du XIXe siècle à 1905“. In: Rien qu’un battement aux cieux. L’éventail dans le monde de Stéphane Mallarmé. Ausst.-Kat. Vulaines-surSeine 2009, S. 8–25, hier S. 8, S. 11. Mallarmé, Stéphane: „Quant au livre“. In Mallarmé: Œuvres complètes, 2 Bde. Hg. von Bertrand Marchal. Paris 1998–2003, Bd. 1, S. 219 f. Hier zit. n. Marchal, Bertrand: Éventails, „Éventails“. In: Ausst.-Kat. Vulaines-sur-Seine 2009, S. 26–34, hier S. 31. Marchal: „Éventails“, ebd. Buß: Der Fächer, S. 42.
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lich den Frauen vorbehalten, „während die Herren meist die weißen Fächer vorziehen“.31 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mehren sich auch in Frankreich die Fächer-Autographen. Sie verlängern einerseits galante Praktiken der Kommunikation, indem beispielsweise bei Soirées und Bällen die Reihe der Tanzherren mit einem Kompliment und einer eigenhändigen Unterschrift den Fächer zum Souvenir festlicher Augenblicke macht. Andererseits können sie, wie auch im Freundeskreis Mallarmés üblich, dezidiert zum Kunstwerk und kostbaren Sammlungsgegenstand umgewidmet werden, wenn bildende Künstler und Schriftsteller dort exklusive Proben ihrer Kunst gewissermaßen aus dem Handgelenk ablegen. Mallarmés Umgang mit solchen Fächern schließt an diese geselligen und künstlerischen Praktiken an und überbietet sie zugleich.32 So enthält die Sektion Éventails der posthum veröffentlichten Sammlung von „Gelegenheits-“ oder „Umstandsgedichten“ („vers de circonstance“) allein siebzehn quatrains, neben diesem typischen Format aber auch Zweizeiler nach Art des Distichons. Die außerhalb der Sammlung veröffentlichten längeren Fächer-Gedichte für Ehefrau, Tochter und andere adressierte Damen sind teils Sonette, teils als Verbund von Vierzeilern gefasst. Diese insgesamt zweiundzwanzig Gedichte verbindet, dass ihr Gattungsname Éventails zugleich jeweils den ersten materiellen Ort ihres Erscheinens denotiert, sie sind mithin zugleich referentiell und selbstreferentiell.33 Zudem sind in den meisten dieser Gedichte Fächer im doppelten Sinn beschrieben: Der Fächer spricht quasi selbst in der ersten Person Präsens von sich als (grammatischem) Subjekt oder wird als eigentümliches Gebilde besprochen oder vielmehr beschrieben; insgesamt dreizehn Gedichte nutzen für diese buchstäbliche und metaphorische Verdopplung des Fächers die Metapher des Flügels.34 In diesem doppelten Sinn ist der beschriebene Fächer als materialer Schriftträger zugleich auch der Ort, vom Fächer zu schreiben, und ent31 32
33 34
Ebd. So lässt sich beispielsweise im Kontext einer symbolistischen Poetik der Fächer als „poetologische Figur der Bewegung“ lesen; im Gedicht Éventail wird dann entsprechend „der Konstitutionsprozess des lyrischen Verses Gegenstand“. Jacobs, Angelika: Fächer und Wind. Hofmannsthals lyrischer Symbolismus im Vergleich mit Mallarmé. Vortrag bei der 17. Internationalen Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft in der Evangelischen Akademie Tutzing 19.–22.9.2011, S. 5 ff. Ich danke Angelika Jacobs für die freundliche Überlassung des Vortragstexts. Marchal: „Éventails“, S. 31. Diese Fächergedichte haben in der Mallarmé-Forschung wie in der neueren Literaturtheorie einige Aufmerksamkeit erfahren, die allerdings meist weniger ihrer materialen Gestalt als ihrer verdichteten Symbolsprache und deren poetologischen Implikationen gilt, vgl. beispielsweise Olds, Marshall C.: „Under Mallarmé’s Wing“, in FANA Quarterly, XIX (2001), H 4, S. 6–28; Jacobs: Fächer und Wind.
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sprechend bleibt das jeweilige Gedicht an sein Material gebunden, auf das es zugleich stets zurück verweist. Die scheinbar beiläufige Gelegenheitsarbeit auf widerständigem Material wird so bereits mit Blick auf die Handwerkskunst dieser Gedichte zugleich Ausweis höchster Virtuosität. Denn Mallarmé benutzt als Schreibmaterial meist die typischen industriell gefertigten Papierfächer, die er offensichtlich in der Regel als bereits gefaltete beschriftet. Die schreibende Hand muss also buchstäblich den Widerstand des Papiers überwinden, das zudem nicht nur durch das halbrunde Format, sondern auch durch die einzelnen symmetrisch gefalteten Flächen klare Begrenzungen vorgibt.35 Zudem arbeiten alle Fächergedichte mit einem Paradox von Lesbarkeit und unterwerfen sich dabei auch wieder der weiblichen Hand, die sie dirigiert: Als Text wird die Aufschrift nur lesbar, wenn der Fächer vollständig aufgeklappt und seine Faltung ausgezogen ist, doch die sichtbaren Knicke durchbrechen auch dann noch die Einheitlichkeit des Schriftbildes und erinnern daran, dass der Text jeden Moment mit einer einzigen Handbewegung zum Verschwinden gebracht werden kann. Seiner Ehefrau und seiner Tochter Généviève hat Mallarmé prachtvolle Fächer mit sorgfältig aufgetragenen Gedichten gewidmet, ähnliche auch anderen mehr oder weniger flüchtigen Damenbekanntschaften, wie sie das gesellige Leben in Fülle hervorbrachte, dort allerdings meist beschränkt auf einen Vierzeiler oder ein Distichon, das die Eigenart der adressierten Dame wie des verwendeten Fächers gleichermaßen hervorbringt. So verdichten beispielsweise die vier Verse auf dem Fächer für die Pianistin Misia Natanson den „Schlag“ des Aufklappens und den Anschlag der Tasten; der erste elliptische Vers: „Flügel, aus nichts als Papier gefaltet“ („Aile que du papier reploie“) führt in ähnlicher Weise ein metaphorisches Sprechen auf seine materiale Grundlage zurück.36 Wie dieser, so ist auch ein Fächer aus dem Besitz Méry Laurents auf japanischem 35
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Roland Barthes hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass das Schreiben oder die ‚Schreibung‘ („scription“) als körperlicher Akt und Geste mit dem jeweiligen Material des Schreibens in spezifischer Weise interagiert und dabei auch mit dem „Widerstand“ („résistance“) argumentiert. Was die Historiker „subjektives Material“ nennen, das also, was jeweils zur Hand ist, wäre in der Geschichte des Schreibens der je unterschiedliche Beschreibstoff, der je eigene Schriften ermöglicht: „Wenn es ‚subjektiv‘ ebenso viele Schriften wie Körper gibt, gibt es historisch auch ebenso viele Schriften wie Beschreibstoffe: der Beschreibstoff determiniert den Schrifttypus, weil er dem Schreibinstrument unterschiedliche Widerstände bietet, aber auch, und noch subtiler, weil die Textur des Materials (seine Glätte oder Rauhheit, seine Härte oder Weichheit, sogar seine Farbe) die Hand zu aggressiven und sanften Gesten zwingt.“ Barthes, Roland: Variations sur l’écriture / Variationen über die Schrift. Französisch-Deutsch. Übers. v. Hans-Horst Henschen. Mainz 2006, S. 173. Fächer von Misia Natanson, Collection Thierry et Pierrette Bodin. In: Ausst.-Kat. Vulaines-sur-Seine 2009, S. 54 f.
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Papier mit ebensolchem Dekor erhalten, allerdings in der üblichen SalonManier von verschiedenen Händen längs der Faltung beschriftet, so dass jeweils ein schmales Segment Verse in unterschiedlicher Länge trägt. Neben solchen handschriftlichen Souvenirs Abraham Dreyfus’, Félicien Champsaurs und Jean Bertheroys, die alle dem Schriftstellerkreis um Méry Laurent angehörten, findet sich hier auch ein Distichon Mallarmés mit einer paradox ergänzten Signatur: „Glücklich der, für den, lächelnd und wild, Méry Laurent den Finger auf den Mund legt. (dies ist nicht) Stéphane Mallarmé“.37 Auch hier bringt die scherzhafte Galanterie der unterzeichneten Verse die gesellige Schreibsituation, von denen diese handeln, mit der Rückbindung der Schrift an ihren Träger zusammen: Das Distichon fügt sich in die Reihe der Autographen wie der Schreiber sich zugleich als nicht durch die Geste ausgezeichneten Außenseiter in den Kreis der Bewunderer reiht und mit dem Akt des Unterzeichnens aus ihm heraustritt – eben als der, der nicht ausgezeichnet wurde. Auf dem Fächer hat jedoch die namentlich genannte Adressatin nicht nur die Schriftzüge des womöglich Übersehenen, sondern auch seinen Namen buchstäblich ständig vor Augen; das kleine Gedicht hat also selbst teil an der dem Fächer eigenen Kunst des Verbergens und Zeigens. Von seinem ehemaligen Schriftträger gelöst, hat sich zudem ein weiteres, schlicht „Éventail“ benanntes Gedicht aus dem Jahr 1890 auch von der Situation seiner Entstehung befreit: Vormals auf einen mit aufgedruckten Blumen geschmückten Fächer geschrieben, besingt es als klassisches Liebessonett in petrarkistischer Tradition die Geliebte, indem es sie mit den Farben und Formen des Fächers verschmilzt, mit den kühlen Rosen, deren weißer Kelch den gefrorenen Atem einschließt, und dem Flügelschlag, der einen Ausschnitt des Himmels aufwirft.38 Diese Evokation des Flügels, seiner Spitze oder seines Schlags durchzieht die Gesamtheit der Fächergedichte und es ist bereits verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass mit den Metaphern um Flügel und Flug zugleich die Poesie als ein anderer Aufflug gemeint ist.39 Mit dem Rückverweis auf das Material dieser Flügel, das Papier, das entweder explizit benannt oder 37
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„Heureux pour qui, souriante et farouche, Méry Laurent met le doigt sur sa bouche (ce n’est pas) Stéphane Mallarmé“. Fächer von ML, 1889, Papier und Dekor japanisch, unmontiert, Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, Inv. no. 96, legs Henri Mondor. In: Ausst.-Kat. Vulaines-sur-Seine 2009, S. 50 f. SML, S. 61, Mallarmé, Stéphane: Éventail (Fächer), in: Poésies. Hg. v. Bertrand Marchal. Paris 1992, S. 162 f. Anders als die fast gleichnamigen, an Ehefrau und Tochter adressierten Gedichte Fächer und Anderer Fächer (Éventail. und Autre éventail), wird dieses Sonett häufig wie auch andere dieser Verse zu bestimmten Umständen und Gelegenheiten nicht in die Reihe der Poésies/Gedichte aufgenommen. Vgl. beispielsweise mit weiteren Belegen Marchal:„Éventails“, S. 32 f.
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durch seine Materialeigenschaften wie die Weiße, die Glätte, gelegentlich auch die Faltungen, evoziert wird, fügt Mallarmés Bildsprache jedoch die Fächergedichte zugleich in die Materialien seiner Liebeskorrespondenz, deren Sprache beständig zwischen buchstäblicher und metaphorischer Rede oszilliert.40
II. Der Federpfau Als klassische Metapher kann das Sprachbild des Flügels auf eine Reihe von optischen und strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Fächern und Schwingen verweisen, es hat aber auch eine materiale Grundlage, denn seit jeher werden Fächer unter anderem aus Vogelfedern hergestellt.41 Zumal die prächtige Pfauenfeder stellt bis heute ein beliebtes Material für solche Schmuckfächer dar. Das Halbrund des typischen aufgeklappten Faltfächers, aber auch der Kreis oder das Oval herkömmlicher orientalischer Fächer, entspricht auch den zum ‚Rad‘ gerundeten aufgestellten Federn, mit denen der männliche Pfau wirbt und droht; das allmähliche Schlagen des Rads kann wiederum dem Aufklappen eines aus einzelnen Segmenten montierten Fächers ähneln. Es hat daher eine ganz eigene Sinnfälligkeit, wenn Mallarmé in zahllosen Adressierungen Méry Laurent, die Fächerfrau, konsequent als Pfau („paon“) anredet und bezeichnet. Diese Fragmente einer Bildersprache der Liebe variieren kaum: „Lieber Pfau“, „mein lieber Pfau“, „kleiner Pfau“ oder auch, erstaunlicherweise, „mein weißer Pfau“ lauten die Anreden in zahllosen Briefen und Karten.42
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Vgl. auch Jacques Derridas Überlegungen zur Faltung und zum Fächer: „La polysémie des ‚blancs‘ et des ‚plis‘ se déploie et se réploie en éventail“ („Die Polysemie/Vieldeutigkeit der ‚Weißen‘ und ‚Falten‘ entfaltet sich und faltet sich im Fächer“), Jacques Derrida: „La double séance“. In: La dissémination. Paris 1972, S. 199–318, hier S. 283. Man hat es also nicht mit einem Thema, sondern mit einer Struktur zu tun, deren Voraussetzung das weiße Papier ist; Derridas Formulierungen differenzieren jedoch nicht zwischen dem Weiß als (Papier-)Farbe und dessen materialer Grundlage. Die Ausstellung Fächerflirt im Münchener Stadtmuseum (15.7.2011–8.1.2012) hat, bedauerlicherweise ohne Katalog oder Dokumentation, eine ganze Reihe solcher Fächer präsentiert, die nach Art von Jagdtrophäen im 19. Jahrhundert noch aus kunstvoll beschnittenen und vernähten Federn von Wildvögeln hergestellt wurden, häufig auch in eindrucksvollen Kombinationen von Farben und Mustern. Verwendet wurden beispielsweise die Federn von Fasan, Auerhahn und Adler, später auch die dann massenhaft verarbeiteten unterschiedlich gefärbten Straußenfedern. Vgl. beispielsweise SML, S. 43, S. 57, S. 58, S. 59, S. 60 etc.; noch einer der letzten Briefe wird sie, großgeschrieben, im laufenden Text „Paon“ nennen, ebd., S. 245.
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Méry Laurent als Pfau ist die königliche, geschmückte Dame als die eine Reihe von gezeichneten Miniaturen sie Schwarz auf Weiß festgehalten hat, ein androgynes Mischwesen von eigentümlicher Pracht und Komik.
Abb. 2: Mallarmé: „La journée du 12“ / „Die Reise des 12.“43
Diese vier Bildstreifen mit Text als Untertitelung stellen geradezu eine Form der bande dessiné da, eine Art Bildergeschichte, über die der Briefwechsel keine weiteren Aufschlüsse gibt. Die Zeichnungen und die begleitenden Schriftzüge sind mit derselben schwarzen Tinte oder Tusche ausgeführt; waagrechte Striche, die die einzelnen Szenen trennen, verstärken den Comic-Effekt. Erzählt oder vielmehr illustriert wird die Geschichte einer kleinen Zugreise, wobei die handelnden Personen mit einiger technischer Virtuosität auf wenige sprechende Merkmale reduziert sind. Der Zeichner hat einen sicheren Zug und schreckt auch vor eindrucksvoll gefüllten monochromen Flächen nicht zurück; zumal in der letzten Szene dominiert definitiv Schwarz über Weiß. Die Protagonistin der vier Zeich43
Mallarmé, Stéphane: „La journée du 12“ (1888), Tintenzeichnung, 11,3 x 9,1 cm, Bibliothèque littéraire Jacques Doucet. In: Roselynne de Ayala, Jean-Pierre Guéno (Hg.): Les plus belles lettres illustrées. Paris 1998, S. 127.
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nungen ist offensichtlich eine Mischfigur aus Dame und Pfau; das prächtig gesträubte Gefieder ist erkennbar dem realen Pfauenschwanz nachgebildet, auch wenn das dritte Bild eine realitätsferne Mischung aus nachgezogener Schleppe und flammenartig strahlendem (Halb-)Gefieder zeigt. Als Dame ist das Tier nicht nur durch seinen überlangen und gerade gehaltenen Körper, sondern auch durch typische Accessoires und Gesten ausgewiesen. So trägt es oder sie auf der ersten Zeichnung, die das Doppelwesen fast exakt in der Mitte platziert, eine zierliche Handtasche in einer angedeuteten hochgereckten Kralle. Zur Erhöhung der komischen Wirkung ist der Pfauen-Dame eine Spiegelfigur beigegeben in Gestalt einer kleinen Frau, der es nur dank ausladender Hutfedern gelingt, wenigstens die Höhe des herabhängenden Pfauenschwanzes zu erreichen, die aber, wie die Zeichnungen schonungslos offenlegen, ohne alle Staffage doch nur halb so groß ist wie das königliche Tier. Und schließlich kehrt ein weiteres komisches Motiv in jeder Zeichnung wieder: Stapel gleichmäßig geformter Vierecke mit angedeuteten runden oder rechteckigen Applikationen stellen dar, was der Text zu Recht im Plural nennt: „les bagages“ – die Masse von Gepäck. Wie der Text deutlich macht, handelt es sich bei diesem Schrift-BildEnsemble um einen Reiseplan, dessen Adressatin in einem eigentümlichen Changieren von buchstäblicher und metaphorischer Rede kenntlich gemacht ist. Denn mit der Zeichnung Méry Laurents als Pfau materialisiert sich auf dem Papier, was zuvor als Metapher reines Sprachbild war – oder vielmehr eine Anrede in Buchstabenschrift: Eben diese Untrennbarkeit von buchstäblicher und metaphorischer Rede im gezeichneten Namen zeigt sich an der eigentümlichen Mischfigur der Pfau-Dame. Nicht zuletzt erweist das Blatt Mallarmé auch als Virtuosen kleiner Formen: Das zierliche Fräulein, in dem man Méry Laurents ständige Begleiterin Élisa wiedererkennen soll, im Original kaum mehr als einen Zentimeter hoch, trägt zum modischen Wespentaillenkleid unverkennbar einen ausladenden Hut mit Federschmuck, eine winzige Handtasche im Pompadour-Format und einen elegant schräg gestellten Sonnenschirm, mithin die neueste Mode, auf wenigen Millimetern zusammengedrängt. Wenn Mallarmés schreibendes Umkreisen der fernen Geliebten häufig obsessive Züge trägt, so mag auch diese gezeichnete Erzählung zu einem solchen Eindruck beitragen: In der Visualisierung förmlich herbeigezwungen, soll die Reisende trotz des teilweise ironischen Untertons von Text und Zeichnung offenbar verstehen, dass sie als Königin zumindest uneingeschränkt über ein Herz gebietet. Freilich bleibt diese Huldigung mit der Wahl des Vogels ambivalent: Wie im Deutschen, so verbinden sich auch im Französischen einige Redensarten fest mit dem außergewöhnlich prächtigen männlichen Tier, die sein Verhalten als Demonstration der
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Eitelkeit beschreiben und bei deren weltlichem Auftritt die Erinnerung an den christlichen Sündenkatalog und die Todsünde der superbia wachhalten.44 Die griechisch-römische Antike hatte den Pfau dagegen noch wegen seines Federkrönchens der Göttin Hera als König des Luftraums zugeordnet und Vorstellungen des Paradieses mit Bildern luxuriöser Gärten, in denen Pfauen sich ergehen, illustriert; in seiner indischen Heimat wird der Anblick des aufgeschlagenen Rades mit dem des bestirnten Firmaments gleichgesetzt.45 Mallarmés zärtlich-zudringliche Bildsprache kann somit diese latenten Bedeutungen zugleich aktivieren und unbestimmt halten; ein verwandtes Beispiel zeigt jedoch darüber hinaus, dass Méry Laurent solchen Ikono-Graphien buchstäblich etwas entgegenzusetzen hatte.
III. Schwingen-Schrift Als Fächer und Federtier apostrophiert, hat Méry Laurent ihrerseits dieser Korrespondenz schon zu deren Eröffnung eine weitere Serie von Flügeln hinzugefügt (Abb. 3). Mallarmé hatte ihr ausweislich des Poststempels am 24. Mai 1884 ein erstes quatrain übersandt, auf einem kleinen Briefumschlag, der offenbar ein nicht erhaltenes „billet“ umschloss: „Que la dame aux doux air vainqueur, / Qui songe, neuf, Boulevard Lannes, / T’ouvre, ô mon billet, comme un cœur / Avec ses ongles diaphanes“. In einer unzureichenden wörtlichen Übersetzung hieße das etwa: „Dass die Dame mit dem sanften Siegerlächeln / Die in Nummer Neun am Boulevard Lannes träumt / Dich öffne, oh mein Billett, wie ein Herz / Mit ihren durchscheinenden Fingernägeln“.46 Laurents Reaktion auf diese Verschmelzung von bewundernder Unterwerfung und leicht despektierlichem Übergriff ist nicht überliefert; wohl aber ein weiterer Adressenvierzeiler auf einem Umschlag unbekannten Inhalts, wiederum dem Poststempel zufolge am 3. Juni 1884 verschickt, der einen Hinweis auf eine vorausgegangene Sendung enthält. Denn neben ihrem Brief hat sich auch ein offenbar zwei Mal verwendeter Umschlag mit einem Vierzeiler in zwei, vielmehr streng genommen sogar drei verschiedenen Handschriften erhalten. Ihre knappe briefliche Antwort besteht aus nur wenigen Sätzen, die für nicht näher bezeichnete Ratschläge des Absenders danken, ankündigen, den Umschlag mit dem 44 45 46
In Wörterbüchern verzeichnet finden sich die üblichen Redensarten „être orgueilleux / vaniteux comme un paon“ („eitel sein wie ein Pfau“ / „sich spreizen wie ein Pfau“). Vgl. mit weiterführenden Hinweisen Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bände. 5. Auflage, Freiburg 1994. Hier: Bd. 4. Oben-Spielverderber, S. 1157 f. SML, S. 31.
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entstellten („défiguré“) Vierzeiler der Adresse aufzubewahren und vom Verschwinden einer „Stéphanie“ sprechen, die womöglich ihm, Mallarmé, gefolgt sei.47 Mit diesem Rückverweis auf die Verpackung der Botschaft, der selbst zur Botschaft wird, ist ein entscheidender Hinweis zu womöglich häufigeren Formen des vierhändigen Schreibens gegeben, denn Mallarmé hatte auf dem kleinformatigen Briefumschlag seine von ihrer Hand geschriebene Adresse durch einen witzigen und sprechenden quatrain erweitert, der als Wortspiel freilich an der Grenze zur Unübersetzbarkeit steht: „Monsieur Mallarmé. Le pervers / À nous fuir, par les bois, s’acharne; / Ô Poste, suis sa trace vers / Valvins, par Avon Seine et Marne“; „Herr Mallarmé. Der Perverse / hört nicht auf, uns durch die Wälder zu entfliehen / O Post, folge seiner Spur / Richtung Valvins durch Avon Seine und Marne.“48 Die letzte Zeile wurde zudem, offenbar von postalischer Hand, korrigiert zu „Paris 87 rue de rome“; der Imperativ zur Spurensuche ist also bis hin zur Adressenermittlung erfolgreich gewesen.
Abb. 3: Laurent: Brief mit 6 Schwingen.49
47 48 49
Ebd., S. 32. Ebd. Méry Laurent an Stéphane Mallarmé 3.6.1884, Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, MNR 1892 2/3.
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Ambivalent und mehrdeutig bleiben auch diese Verse, die so prononciert mit dem Reimwort „vers“ arbeiten: Der Verführer und Verderber – oder auch der Mann mit abweichenden sexuellen Vorlieben – ist aufgrund der Homonymie zu „père vers“ auch der „Vater der Verse“, die ja ihrerseits ihren Namen vom lateinischen „versus“ in Analogie zur Umkehrbewegung des Pfluges erhalten haben. Der verdrehte Herr des ersten Verses verkehrt aber auch die Adressierung in ihr Gegenteil, wiederum buchstäblich und metaphorisch, denn in der Verwandlung des Adressaten zum Absender gibt sich der Verfolger zugleich als Fliehender – mit seinerseits doppeldeutiger Wortwahl, denn das Verb „s’acharner“ meint eigentlich das hartnäckige Verfolgen von Zielen, das Sich-Verbeißen bis hin zum Gewaltakt des Überfalls. Das Tier in den Wäldern als das sich der Absender hier imaginiert, soll sich mithin ins Entziehen verbeißen – und man wird wohl auch hier die Umkehr vollziehen dürfen, dass kaum verhohlen der Wunsch sichtbar wird, sich der Entziehenden (in Bissen) zu bemächtigen. Das deutsche Verb „nachstellen“ bietet sich an, um die eigentümliche Konstellation des sich entziehenden Verfolgers an seine postalische Praxis zurückzubinden: Die Postzustellung folgt der Spur, die die schreibende Hand vorgezeichnet hat indem sie zugleich von Spuren und vom Verfolgen spricht und im Vertrauen auf diese postalische Praxis die Adressatin vor ihrem Verfasser als einem durch nichts aufzuhaltenden Verfolger warnt; im Verbund mit dem ersten postalischen Vierzeiler wird der animalische Zug der antizipierten Liebesbeziehung deutlich, in der Zähne und Klauen zum Einsatz kommen um Papiere und Herzen gleichermaßen zu zerreißen. Es ist daher eine wiederum beziehungsreiche Antwort Laurents, wenn sie verspricht, den ‚entstellten‘ Vierzeiler aufzubewahren, denn der Umschlagtext kann hier zum Index für seinen gleichfalls de-figurierten zweiten Verfasser werden, der sich ja zudem buchstäblich der Handschrift der Frau, der er nachstellt, bemächtigt und sie mit seinen Ergänzungen teilweise gleichsam überschrieben, zumindest aber ihre Botschaft ins Gegenteil verkehrt hat. Die kleine Zeichnung als Teil der Antwort hat somit Teil an diesem beziehungsreichen Hin und Her, aber keinen augenfälligen Bezug zum ohnehin reduzierten Inhalt des Briefes; sie soll vielmehr ganz beiläufig und spontan aus der Feder geflossen sein, wie die Zeichnerin mit einem eigentümlichen grammatikalischen Fehler schreibt: „[V]oici des hirondelles faites comme elles ‚revenez‘“ („Hier sind Schwalben, gemacht wie [S]ie ‚wiederkommen‘“) – mit dem Verb in der zweiten Person Plural, das versehentlich den Adressaten anspricht. Innerhalb der Bildersprache der beiden Schreibenden und womöglich Liebenden haben die sechs angedeuteten Vogelsilhouetten eine erkennbare Entsprechung: Wie Méry Laurent zuvor schreibt, wollte sie eigentlich ein halbes Dutzend Schild-
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kröten zeichnen, und auch „Stéphanie“ ist eine Schildkröte Laurents, ein Haustier, das womöglich aufgrund physiognomischer Ähnlichkeiten scherzhaft den feminisierten Vornamen Mallarmés erhielt, anders als der Pfau aber sonst nicht als ikonisches Zeichen auftritt.50 Auch die stilisierten Vogelschwingen sind jedoch in anderer Hinsicht Teil eines physiognomischen Verweissystems, denn Mallarmé fügt sie regelmäßig als quasi ikonische Zeichen seiner handschriftlichen Unterschrift hinzu. Das Schrift-Bild, als das man die Künstlersignatur generell auffassen kann, lässt in der Doppelinitiale noch seine beiden Bestandteile erkennen: Die geschwungene Linie gehorcht demselben Paradox wie die geschriebene Namenslinie, zugleich einzigartig und identisch wiederholbar zu sein.51 Anders als die ikonischen Zeichen, die seit dem Mittelalter als gemalte Signaturen in der bildenden Kunst den Namenszug vertreten und zugleich eindeutig einem Künstler zuzuordnen sind, stellt die gezeichnete Schwinge eine andere physiognomische Analogie her, die wiederum nach Art einer Synekdoche funktioniert, die den Zeitgenossen geläufig war. Formuliert hat sie Stefan George in seinem literarischen Porträt Mallarmés unter dem Serientitel „Dichterköpfe“, das er mit einigen physischen Auffälligkeiten einleitet, kleinen sprechenden Details: „Den jähen aufstrich in handbewegung stimme und (lächeln wir!) selbst in der bezeichnenden haarlocke und den endhaken der schrift […]: der mann Stéphane Mallarmé“.52 Und auch das berühmte Porträt Manets, das den Dichter, wie so oft, mit einem weißen Blatt Papier in Schreibhaltung zeigt,53 arbeitet an mehreren Stellen mit der angedeuteten V-Form der Vogelschwinge, die ja ihrerseits einem stilisierten Buchstaben gleicht, und ihrer symmetrischen Umkehrung: Nicht nur der Haaransatz, sondern auch die Augenbrauen und der prächtige Schnurrbart des Abgebildeten haben einen solchermaßen geformten Schwung. In den Briefen Mallarmés wird die handschriftli50 51 52 53
Vgl. die Anmerkungen von Bertrand Marchal ebd. Dies ist das Paradox jeder Unterschrift, vgl. zu dessen Implikationen Derrida, Jacques: „Signature Event Context“. In: Margins of Philosophy. Chicago 1985, S. 308–330. George, Stefan: „Dichterköpfe III Mallarmé“. In: Blätter für die Kunst 5 (1893), S. 134–137, hier S. 134. Manet, Édouard: „Stéphane Mallarmé“ (1876), Öl auf Leinwand, 27 x 36 cm, Paris, Musée d’Orsay. Das Porträt findet sich auch als Titelbild auf dem Katalog der Ausstellung zum 100. Todestag, vgl. Ausst.-Kat. Paris 1998. Vgl. auch die Photographie von Dornac, die Mallarmé stehend vor dem Porträt posierend zeigt und zum physiognomischen Vergleich einlädt (Ebd., S. 150) und zu einer Variante des selben Photo-Porträts mit sitzendem Mallarmé: Barbara Wittmann: Gesichter geben. Edouard Manet und die Poetik des Porträts. München 2004, S. 318.
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che Unterschrift durch die Schwinge zur Künstlersignatur, die bei der häufigen Einfügung von Vierzeilern und anderen Gedichten als Beglaubigung von Autorschaft auch eine sachliche Berechtigung hat und offensichtlich die zahlreichen kleinen (Rand-)Zeichnungen mit einschließen soll. Wie schon in den Fächergedichten, so verweisen auch hier gerade die Verse oft auf das Schreibmaterial, an das sie gebunden sind. Explizit als „Papier“ angeredet, wie etwa ein gefalteter Brief, der als eine Art Adressierung seine eigene Entfaltung aufgeschrieben und vorhergesagt bekommt, werden die sonst flüchtigen Zeilen im paratextuellen Außenraum des Textes untrennbar mit ihrem Material verbunden zum Entwurf einer Art sekundären Materialität.54 Die ununterscheidbar gezeichnete und geschriebene Schwinge lässt sich überall in der Korrespondenz wiederfinden als der feine Verbindungsstrich, der Abdruck, physiognomische Metapher, Graphem und ikonisches Zeichen in einem ist. Dass Mallarmé dieses Schriftbild seriell entwickelt und wie eine Art Markenzeichen verwendet, zeigt sich dort, wo es der Unterschrift eigentlich nicht bedarf, wie auf einer gedruckten Visitenkarte mit handschriftlichem Gedicht und Signatur55 oder eben der Seite aus dem Album von Méry Laurent mit mehreren solchen Signaturen, die zusätzlich noch die handschriftliche Unterschrift mit der bekannten Schwinge aufweist (Abb. 4). Diesem Überschuss entspricht die Fülle stets wechselnder Unterzeichnungen in den Briefen und Karten an Méry Laurent, die sich keiner Konvention der allmählichen Annäherung fügen: Schon das dritte Billett Mallarmés ist mit einem halb vertraulichen „Stéphane M“ unterzeichnet, das jedoch bald darauf wieder durch den förmlicheren ausgeschriebenen Vor- und Nachnamen ersetzt wird, und in der Folge finden sich in stetem Wechsel diese Langfassung, die beiden Initialen, der Vorname mit oder ohne beigefügtem „M“ oder auch, nach acht Jahren der Korrespondenz, 54
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Das gefaltete Billett trägt die Aufschrift: „Papier, si tu ne te repais / Des espoirs les plus décevants, / C’est rue, au quinze, de la Paix, / Qu’on te dépliera, chez Evans“, also etwa: „Papier, wenn Du dich nicht an der Enttäuschung der größten Hoffnungen weidest, wird man dich in der Rue de la Paix 15 entfalten.“ Stéphane Mallarmé an Méry Laurent 6.1.1886, SML, S. 34 f. Sandro Zanetti liest Mallarmés diverse Verfahren der Adressierung dagegen als eine Strategie der Privatisierung, die zugleich „eine postalisch-systematische Selbstadressierung in Gang [bringt]“; an deren Ende allerdings nicht „Verfestigung“, sondern – „bestenfalls“ – „Verflüchtigung“ des Geschriebenen stünde, vgl. Zanetti, Sandro: „Spielräume der Adressierung. Kleist, Goethe, Mallarmé, Celan“. In: Waltraud Wiethölter, Anne Bohnenkamp (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt/Main 2010, S. 42–58, hier S. 51 ff. Vgl. Stéphane Mallarmé, Visitenkarte mit Gedicht und Signatur, In: Ausst.-Kat. Paris 1898, S. 48.
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mehrmaliges „Mr Mallarmé“.56 Die wechselnden Namen, denen die metonymische Reihe der Kosenamen für die stets mit ihrem eingeführten Pseudonym als „Méry“ unterzeichnende Pfau-Dame entspricht, können also nicht allein im Kontext der Autorschaft reklamierenden und verbürgenden Künstler-Signatur gelesen werden, auch wenn sie durch die gezeichnete Schwinge wie durch eine Klammer zusammen gehalten werden und sich im Schrift-Bild der Doppelinitiale zu verdichten scheinen. Zudem mag sich für die Adressatin im Zuge ihrer Umwerbung die Signatur eher als Spur, Abdruck und gespeicherte Berührung der zärtlichen Hand ausgenommen haben, die nicht nur die Verfasserschaft des Schreibenden beglaubigt, sondern auch die Präsenz zweier Körper im selben Raum evoziert.57 Doch auch dieses Markenzeichen lässt sich wiederum als Rückverweis auf das Material solcher Grapheme lesen: Die sorgfältig gezogene Signatur mit der großzügigen weißen Rahmung zieht das beim Lesen abschweifende Auge immer wieder auf das Papier zurück (Abb. 4). In der Zusammenschau der ebenso beiläufigen wie kunstvollen Papierarbeiten Mallarmés zeigt sich so eine ganz eigentümliche Weise des Sprechens in Bildern, das die vermeintlich privaten Äußerungen des Briefwechsels mit einer kunstfertigen Ikono-Graphie und den Mitteln poetischen Sprechens verschmilzt. Denn Fächer, Flügel, Feder, Pfau oder auch das Blatt Papier selbst sind materiale Objekte in den Texten, in denen sie zugleich ihr metaphorisches Potential entfalten und die Materialität dieser Texte, ihres Schreibgrunds und der Schriftträger ausstellen. Die Summe all dieser Techniken zeigt sich an einem kleinen Blatt, das Miniatur und Monogramm, Schrift und Bild, buchstäbliche und metaphorische Rede mit dem Verweis auf sein eigenes Material verdichtet. Es handelt sich um einen undatierten Brief Mallarmés auf festem Papier, der in einer markanten Federzeichnung scherzhaft den drohenden Abriss von Méry Laurents Sommerhaus in Talus vorwegnimmt, der am 9. November 1890 stattfinden sollte und auch Gegenstand eines weiteren ‚geflügelten‘ quatrain ist.58 Hier benutzt Mallarmé dieselbe Feder und schwarze Tinte zum
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Vgl. die vielfältigen Beispiele in SML. Tatsächlich bereiten viele Briefe und Karten die meist mehrmals pro Woche an festen Terminen stattfindenden realen Begegnungen vor und nach. Vgl. zum Zusammenhang von Handschrift, Spur und Abdruck Neef, Sonja: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Berlin 2008; Giuriato, Davide u. Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Basel, Frankfurt/Main 2006. DidiHubermann, Georges: Ähnlichkeit und Berührung: Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks. Köln 1999. „À l’oubli, tendre défi d’ailes | Les instants qu’ ils nous ont valus | Attardés, inquiéts, fidèles | Voltigent autour de Talus“; etwa: „Ins Vergessen, zarte Forderung von Flügeln |
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Abb. 4: Albumblatt mit Signatur[en] Mallarmés.59
Zeichnen und zum Schreiben, wobei die Bildunterschrift „Il [le paon] change de maison“; „Er [der Pfau] wechselt das Haus“ beide graphischen Modi nach Art einer Bildlegende zusammenführt, ebenso wie der dicke waagrechte Strich, dessen energischer Zug die beiden ungleichen Teile des Blattes mit beschrifteter Zeichnung und Text zugleich optisch trennt und verbindet.60 Das Geschriebene in den unteren zwei Dritteln der Seite ist dann seinerseits durch eine Reihe sechs kleiner Grapheme unterbrochen, die zur einen Hälfte die Schwalben Méry Laurents wiederholen und zur anderen Hälfte Mallarmés bekannte Schwingen-Signatur variieren: „Je n’ai que ce carton, sous la main; et fidèle a [sic] une vieillle habitude, avant de monter en voiture, je lâche, du côté de la rue de Rome, un vol de [VVVVVV] qui sert de signature à ce beau dessin“ / „Ich habe nur diesen Karton, unter der Hand, und, einer alten Gewohnheit treu, lasse ich
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Die Momente, zu denen sie uns verholfen haben | Aufgehalten, unruhig und treu | Gaukeln sie rund um Talus“. Stéphane Mallarme, [Ohne Titel], SML, S. 70. Ebd., S. 35. Allerdings sind Teile der Zeichnung und eben diese Bildunterschrift bräunlich verblasst, so dass fast der Eindruck von zwei Schichten entsteht – womöglich wurde eine frühere Skizze mit Bildunterschrift zum nun vorliegenden Ensemble aus Bild und (Brief-)Text umgearbeitet.
Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé
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bevor ich in den Wagen steige, von der anderen Seite der rue de Rome einen Schwarm [VVVVVV] fliegen, der als Unterschrift für diese schöne Zeichnung dient.“61 Méry Laurent als Pfau mit sprühendem Gefieder erhält so auf dem Papier den Flug der Schwingen in einem Gruß, der in einer weiteren Rückbesinnung auf das Material, das unter der zeichnenden und schreibenden Hand liegt, zur Signatur seiner selbst wird und womöglich eine neue Serie des vierhändigen Schreibens eröffnet hat. Nicht nur die der Korrespondenz in mehrfacher Hinsicht entsprungenen Gedichte, sondern auch die vermeintlich beiläufigen Handreichungen zu seriellen Verabredungen erweisen sich demnach als eigenwillig und eigentümlich korrespondierende Materialien poetischer Liebessprache.
Abb. 5: Mallarmé: Brief mit Zeichnung und Schwingen. 61
Stéphane Mallarmé an Méry Laurent 31.10.1890. In: de Ayala, Guéno (Hg.): Les plus belles lettres illustrées, S. 125.
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Diskussionsbericht I. Zum Vortrag Lach (Goethes monologische Briefe) Die Diskussion bewegt sich um Lachs Revision der These von der monologischen Struktur der Goethe-Briefe. Problematisiert wird zunächst das Goethe’sche Konzept des Entsagens. Lach will Goethes Ideal der Entsagung nicht als einen den Mangel betonenden Schreibgestus missverstanden wissen und hebt noch einmal hervor, dass sich das Entsagen hier – ungeachtet des Beklagens der Abwesenheit der Geliebten – als eine die Liebe potenzierende Kraft erweise. Die Relevanz der Beachtung unterschiedlicher Rezeptionshaltungen wird in diesem Zusammenhang bestätigt. Die dominante, das Liebesverhältnis nachträglich idealisierende Rezeption, sei klar zu trennen von der Gestaltung des Verhältnisses in den Jahren zwischen 1775 und 1786. Es wird darauf hingewiesen, dass die Analyse weiterer zeitgenössischer Quellen für das Verständnis der Briefe aufschlussreich sein könnte und dass ein idealisierendes Verständnis des Liebesverhältnisses als Erziehungsprogramm zur Klassik zu kurz greife. Goethe habe im besagten Zeitraum eine Phase extremer existenzieller Verunsicherung durchlaufen. Keinesfalls – dies bezeuge auch die 1777 unternommene Harzreise – seien seine Lebensumstände bereits gefestigt gewesen. Weiterhin wird das Nebeneinander von Liebesbekenntnissen und Infragestellungen der Beziehung geltend gemacht, an dem sich ablesen lasse, dass die Verbindung zu der Geliebten Teil dieser prekären existenziellen Situation gewesen sei. Besondere Beachtung erfahren im weiteren Verlauf der Diskussion die Schreibanlässe der Briefe und ihre Funktion. Dabei erhärtet sich die These des Referenten, dass das ‚Schreiben der Liebe‘ zur Stabilisierung der chaotischen inneren Verfasstheit Goethes beigetragen habe. Als Schlüssel zum Verständnis der gesamten brieflichen Korrespondenz wird anschließend das Zusammenspiel von Nähe und Ferne, von Erreichbarkeit und Unerreichbarkeit diskutiert. Bekräftigt wird Lachs These, dass die verheiratete Geliebte – gezwungen, sich immer wieder zu entziehen – eine Liebeskorrespondenz mit zu verantworten habe, in der viele Zeichen und Signale nötig waren, um die grundsätzliche Unerfüllbarkeit der Liebe aufzuwiegen (ähnlich wie in den von Cornelia Ortlieb
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analysierten Briefen Stéphane Mallarmés). Die Abschlussfrage gilt den mehr auf Kontinuität als auf Trennung verweisenden brieflichen Abschiedsformeln Goethes. Zur Debatte steht, ob auch diese (wie die Briefbeilagen) als ein Versuch zu verstehen seien, der Liebe schreibend über den Briefwechsel hinaus Gültigkeit zu verleihen. Es wird zu bedenken gegeben, das solche Abschiedsformeln in der gesamten Korrespondenz Goethes auftauchten und daher nicht exklusiv auf Frau von Stein bezogen werden könnten.
II. Zum Vortrag Reinlein (Verlangende Frauen, zögernde Männer) Um Schreibanlässe sowie um Formen und Funktionen des Schreibens geht es auch in der Diskussion zu Tanja Reinleins Vortrag. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie die von beiden Paaren vorgeblich unmittelbar geäußerte „Herzensschrift“ tatsächlich aufzufassen sei. Auch hier, so die Argumentation, müsse das Verhältnis von Ferne und Nähe dialektisch aufgefasst werden. Das Beklagen der Abwesenheit des Anderen und der Unzulänglichkeit der Schrift beim Schreiben der Gefühle gehöre zwar zum Standardrepertoire der Schreibenden. Zugleich ermögliche aber genau diese Abwesenheit – also die Briefliebe – das Ausloten der Grenzen einer autonom gestalteten Partnerschaft. Dazu gehöre auch die Möglichkeit, sich frei von gesellschaftlicher Beobachtung verständigen zu können, die von beiden Paaren ausgiebig genutzt werde. Die Annahme, den Liebenden gehe es in beiden Briefwechseln mehr um die Etablierung eines gemeinsamen Gefühlsraumes als um die Sicherung einer Lebensgemeinschaft, wird in diesem Kontext kritisch hinterfragt. Dagegen lasse sich nicht nur einwenden, dass es in beiden Fällen zu einer Eheschließung gekommen sei, sondern auch, dass die Korrespondenzen der Paare nach der Heirat einen anderen Ton und Stil hätten und die in den Brautbriefen gewählte Gefühlssprache nicht fortgesetzt werde. Ergänzend dazu wird die Überlegung angestellt, dass für den geschickten sprachlichen Umgang mit Selbst- und Fremdzuschreibungen bzw. mit Imagination und Narzissmus – den Reinlein zufolge vor allem die Frauen beherrschen – das „Anti-Pygmalion-Modell“ Anwendung finden könnte (vgl. den Beitrag von Martina King): Hinter der Oberfläche einer scheinbaren Anpassung an die männlichen Wünsche würden diese auf raffinierte Weise manipuliert und unterlaufen. Konsens ist abschließend, dass die Offenlegung derartiger Kommunikationsstrukturen für die Erforschung und das Verständnis von Liebesbriefkulturen unerlässlich ist. Zu bedenken wird gegeben, dass die beobachteten Schreibstrategien von
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den Briefpartnern selbst – anders als in den Liebesbriefwechseln der Romantik – hier noch nicht reflektiert werden und dass man daher mit der Auswertung von solchen ‚unbewussten‘ Lenkungen analytisch auch anders verfahren müsse.
III. Zum Vortrag Vellusig (Der verliebte Philosoph) Robert Vellusigs These, dass Moses Mendelssohn sich in seinen Brautbriefen als verliebter Philosoph inszeniere und dass diese (den Topos des sich zur komischen Figur machenden Gelehrten aufgreifende) Inszenierung mehr als nur eine Spielfigur sei, wird vor allem unter ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten diskutiert. Zur Debatte steht zunächst ein Problem der bürgerlichen Liebesvorstellungen, das die Literatur wie die Briefkultur bis weit ins 19. Jahrhundert einer Lösung zuzuführen suche und dessen Genese sich in Mendelssohns Brautbriefen gut beobachten lässt: die sich als kompliziert erweisende Vereinbarkeit von Emotion und Vernunft und die Frage nach der gesellschaftlichen Verträglichkeit der Emotionen. Die These des Referenten, dass Mendelssohn, wie viele andere in dieser Zeit, auf der Suche nach einer vernünftigen Liebe gewesen ist, die man über die moralische Liebenswürdigkeit des Gegenstandes begründen kann, erfährt eine Bestätigung. Nicht anders seien auch die erzieherisch anmutenden Hinweise an seine Geliebte zu verstehen. Der Referent betont noch einmal, dass Philosophie bei Mendelssohn als eine Art von Lebensführung zu verstehen sei und dass er diese Grundhaltung in sein Liebesverhältnis zu Fromet Gugenheim eingebracht habe. In diesem Zusammenhang konzentriert sich das Diskussionsinteresse auf die Frage, ob der Briefwechsel als eine Art Strategiefindung verstanden werden könnte, die darauf abziele, die Emotionen in die aufklärerischen Vorstellungen von Sittlichkeit, Geselligkeit, Erziehung und Bildung einzupassen. Dies wird als plausibel erachtet.
IV. Zum Vortrag Paulus (Confessio und Sinceritas) Der Referent zeichnet noch einmal die Transformationsprozesse der von ihm nachgewiesenen Verquickung von Glaubens- und Liebesbekenntnis nach. Diskutiert wird zunächst der Begriff Confessio, der in den Korrespondenzen auf unterschiedliche Weise eine Rolle spielt und dort zum Teil eine Umdeutung erfahren hat. Es zeichnet sich ab, dass den Briefwechseln verschiedene Funktionen von Religion zugeordnet werden können: so zum Beispiel die der Versicherung einer gemeinsamen Lebensgrundlage
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(Francke und Wurm) oder die des Festhaltens an einem Bestimmungsglauben (Wieland und Hogel/La Roche). Ergänzend wird angemerkt, dass die Übersetzung der religiösen Rede in die Liebesrede es erlaube, in einem sprachlich vertrauten Code die Gefühle freier und unbefangener zu kommunizieren. Aus emotionstheoretischer Sicht wird hier allerdings ein Fragezeichen gesetzt. Es wird auf die frühchristlichen Denker verwiesen, an denen sich bereits zeige, dass ein solcher Transfer zugunsten der Emotionen nicht funktioniere und der durch Stoa und Aristotelismus geprägte Umgang mit Emotionen eher dazu geführt habe, dass die Liebe in den religiösen Vorstellungen aufgehoben und entschärft worden sei. Ein weiteres Diskussionsinteresse gilt den religiösen Schreib- oder Sprachgebärden der Briefwechsel. Zur Debatte steht, dass Gebärden wie „Ich gestehe“, „Ich bekenne“, „Ich glaube“, die Frage aufwerfen, was in der Übertragung mit den religiösen Energien geschieht, die diesen Wendungen ursprünglich anhaften und was die aus dem Religiösen stammenden Wendungen in der Liebesrede an Bedeutung hinzugewinnen. Vieles spreche dafür, dass die seit dem Mittelalter schwindende Bedeutung des Glaubensbekenntnisses im 18. Jahrhundert durch das Liebesbekenntnis ersetzt werde.
V. Zum Vortrag Leuschner (Modulationen der Zärtlichkeit) An diesem Briefwechsel rückt ins Interesse der Diskussion, dass er eine Übergangssituation markiert: Zum einen ist die Paarbeziehung zwischen Henriette von der Malsburg und Georg Ernst von und zu Gilsa an der traditionellen Sozialform des ‚ganzen Hauses‘ orientiert, wobei auch die Mitspracherechte der Familie und deren ökonomische Belange eine gewichtige Rolle spielen; zum anderen lässt sich an ihr eine modern anmutende Intimität beobachten, die sich als individueller Gestus von diesen Mitspracherechten deutlich abgrenzt. Die Referentin hebt noch einmal hervor, dass sich diese Scharnierfunktion insbesondere an der Liebessprache zeige, die zwar weitgehend konventionell sei, aber stellenweise einen ganz individuellen, leidenschaftlichen Duktus annehme. Dass das Ringen um den richtigen und angemessenen Ton von den Briefpartnern selbst reflektiert werde, sei für die Zeit ungewöhnlich. Der unbefangene Umgang des Paares mit seinem erotischen Begehren bildet einen weiteren Diskussionspunkt. Es wird darauf hingewiesen, dass der von der Referentin erbrachte Nachweis der Abwesenheit von Sündenbewusstsein und der Leichtigkeit des Tons nur dann außergewöhnlich erscheinen müsse, wenn man die damalige Erziehung der bürgerlichen Töchter vor Augen habe, nicht aber, wenn man die Herkunft des Paares
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aus dem adligen Milieu bedenke. Aus dem Landadel stammend und im Geist der Aufklärung erzogen, hätte sich für die emotionale Bindung der beiden Liebenden eine vielleicht gar nicht so seltene Konstellation ergeben, die sich in ihrer Liebessprache als glückliche Mischung aus adliger Freizügigkeit und bürgerlicher Tugendempfindsamkeit abbilde. Dass man dieser Mischung in dem Kommunikationsmedium Liebesbrief auf völlig andere Weise als in der Literatur begegnet, wird im Hinblick auf die literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Erkenntnisse zum 18. Jahrhundert als besonders aufschlussreich bewertet.
VI. Zum Vortrag Strobel (Philosophische Liebe) Die zentrale These des Referenten, wonach sich Sprache generell, und damit eben auch Liebessprache, aus Kognition und Emotion zusammensetzt, findet in der Diskussion Zustimmung. Dass Louise Kulmus in ihren Briefen ihre Emotionen mit Hilfe philosophischer Kategorien zu reflektieren, zu präzisieren und zu begründen vermag und auf diese Weise zwischen Gottsched und ihr einen emotionalen Konsens herzustellen sucht, wird als Beleg dafür gesehen, dass die Paarbeziehung deutlich über das in der Forschung bisher hervorgehobene Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis hinausging. Verwiesen wird ergänzend auf Louises individuelle, von den Vorgaben der damaligen Briefsteller beträchtlich abweichende Briefsprache. Weitere Überlegungen gelten dem immer wieder stattfindenden Aufschub der Ehe, der – so die These – weniger den sprachlichen Distanzierungsbestrebungen angelastet werden dürfe als den äußeren Umständen. Gerade weil die Heirat sich verzögert habe, sei die Beglaubigung der Liebe mittels gemeinsam erarbeiteter Kategorien für den Fortbestand des Verhältnisses umso entscheidender gewesen. Im weiteren Verlauf der Diskussion erhärtet sich die These, dass der Briefwechsel zwischen Gottsched und Louise Kulmus ein frühes Beispiel dafür sei, dass der Liebesbrief generell die Funktion habe, ein Experimentierfeld für das gemeinsame Leben zu bieten. Dazu gehöre der in ihm möglich werdende Abgleich von Interessen wie auch das Einüben einer von beiden Partnern geteilten Liebessprache. Ebenso sind hierbei von Bedeutung die Verständigung über emotionale Konzepte und deren Grenzen oder die Ausbildung von Sprachformen der Distanzregulierung. In diesem Zusammenhang wird ergänzend angemerkt, dass der Briefwechsel auch die spätere Tätigkeit der Ehefrau als Mitarbeiterin ihres Mannes erhelle. Er zeige eine eigenständig agierende Intellektualität, die Louise Kulmus zu einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe befähigt, sich als solche aber vermutlich nicht habe verwirklichen lassen. Auch, dass
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Luise unter Depressionen gelitten habe und diese möglicherweise ihren frühen Tod mit verursacht hätten, erscheine vor dem Hintergrund des Briefwechsels in einem neuen Licht. Abschließend wird auf einer weiteren, wissenssoziologischen Ebene anhand von verschiedenen Beispielen thematisiert, dass die in diesem Briefwechsel beobachteten philosophischen Kategorien noch im späten 18. Jahrhundert eine bisher wenig beachtete Relevanz besaßen. Die Untersuchung Ihres Auftretens in späteren Liebesbriefwechseln wird daher unter kulturgeschichtlichen Aspekten als gewinnbringend eingeschätzt.
VII. Zum Vortrag Ritzer (Liebe in Zeiten der Leidenschaft) Zur Debatte steht hauptsächlich der Vorrang der Sturm-und-DrangSprache als individuelle Liebessprache und dessen Relativierung in Ritzers emotionstheoretischer Analyse der Brautbriefe. Es wird geltend gemacht, dass die Stürmer und Dränger zwar von der Leidenschaft sprächen und sich um eine theoretische und begriffliche Fassung des Phänomens bemühten, dass sie aber über keine Sprache der Leidenschaft verfügten. Die Emotionen, über die gesprochen werde, seien als solche nicht spürbar – was zum Beispiel im Briefwechsel zwischen Gilsa und Malsburg ganz anders anmute, obwohl dieser noch kein derart autonomes SubjektVerständnis erkennen lasse wie der Briefwechsel von Leisewitz. Eine theoretische und wenig erfahrungsgesättigte emotionale Sprache lasse sich nicht nur bei diesem extrahieren, sondern auch aus den Dramen anderer Literaten dieser Zeit, z.B. bei Lenz oder Klinger. Demgegenüber wird darauf verwiesen, dass Leisewitz seine rationale Herangehensweise zumindest reflektiere, was z.B. bei Klinger, nicht der Fall sei. Ein weiterer Diskussionspunkt ist die von Ritzer thematisierte Federund Maschinen-Metaphorik. Es wird angeregt, sie unter Aspekten der nach-cartesianischen Philosophie weiterführend zu betrachten. Seit Descartes lasse sich die Leidenschaft vom Individuum nicht mehr abspalten und allein dem Bereich des Sinnlichen zuordnen. In den Sturm und Drang falle die Problematik, dass Emotionen nun als etwas begriffen würden, das den Menschen antreibe, sich intellektuell aber nicht mit charakterologischen und anthropologischen Konzepten fassen lassen. Bei Leisewitz erweise sich dieses Problem besonders markant, da er stärker im Denken der Aufklärung verhaftet sei, als andere Stürmer und Dränger. Die Diskussion schließt mit einem Blick auf die generelle Frage nach der Auswertung von Liebeskorrespondenzen. Das Individuelle, Unbefangene, Authentische, dessen Beobachtung in Liebesbrief-Analysen oft im Vordergrund stehe, erweise sich oftmals nicht als Gewähr für eine gelin-
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gende Kommunikation. Entscheidend sei darüber hinaus vielmehr, ob – wie in diesem Briefwechsel offensichtlich der Fall – eine gemeinsame Paar- und Liebessprache gefunden werden könne.
VIII. Zum Vortrag Stauf (Aporien der romantischen Liebe) Das Diskussionsinteresse konzentriert sich auf Staufs These, dass Günderrodes Freitod nicht – wie in der Forschung überwiegend geschehen – vor allem Creuzer angelastet werden könne, sondern im Kontext eines komplexen Geflechtes von schreibend kreierten Selbst- und Fremdanforderungen verstanden werden müsse, die zu einer wechselseitig akzeptierten Ich-Spaltung des Paares geführt habe und den brieflichen Äußerungen im Selbstverständnis der Schreibenden nur im Augenblick ihrer Niederschrift Authentizität zubillige. Günderrodes Rede vom Liebesbrief als „Leiche“ wird in diesem Zusammenhang als eine Mortifikationsfigur diskutiert, die auch bei Roland Barthes Eingang hätte finden können. Die Vorstellung, dass die Schrift Ausdruck von etwas Abwesendem, etwas Verwandeltem ist, gleichzeitig aber auch eine Anwesenheit dieses Abwesenden bezeugt, weise – so die These – auf dekonstruktivistische Theorien voraus. Einen weiteren Diskussionspunkt bildet die Kraft Günderrodes, die eigene gespaltene Ich-Verfasstheit theoretisch auf den Punkt zu bringen und vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis das Glück ihrer Begegnung mit Creuzer zu genießen. Es wird noch einmal hervorgehoben, dass eine wichtige Funktion der Briefe offenbar darin bestehe, in einem fortwährenden Gespräch über gemeinsame, romantisch-mythisch grundierte Kunst- und Wissenschaftsinteressen Creuzers Funktion als Mäzen aufrecht zu erhalten, die Liebe immer wieder zu beschwören, zu bestätigen und damit für beide Briefpartner identitätsstiftend zu wirken. Der weitere Verlauf der Diskussion bestätigt die Annahme, dass vor allem Günderrodes Haltung zur bürgerlichen Welt eine ablehnende gewesen sei, nicht nur im Kontext ihrer Liebesbeziehungen. Mit Creuzer verorte sie sich schreibend in einer himmlischen Sphäre der Kunst und grenze sich und ihn von den Regeln und Vorgaben der bürgerlichen Gesellschaft ab. Abschließend wird somit noch einmal die These bekräftigt, dass dieser Liebesbriefwechsel ein Dokument romantischer Aporien ist und als bewusste und hochgradig emanzipierte Absage an gesellschaftliche Normen verstanden werden muss.
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IX. Zum Vortrag King (Pygmalions Labor) Zur Debatte steht dieser Briefwechsel zunächst als ungewöhnliches wissenschaftliches Erziehungsexperiment. Als spektakulär erscheint vor allem, dass die Korrespondenz und ihr Verlauf Merkmale einer Versuchsanordnung aufweisen, deren Ziel ist es, die nicht standesgemäße Elise Egloff in einer brieflichen Gruppenkommunikation zu einer kultivierten Ehefrau zu erziehen. In weiteren Verlauf der Diskussion wird der teleologische Aspekt dieses Unternehmens in Frage gestellt. Der Einwand lautet, dass es dem Anthropologen Henle möglicherweise nicht nur darum gehe, die Erziehung Elises auf einen vorher bestimmbaren Punkt hinzuleiten, sondern auch darum, herauszufinden, welche Anlagen und Möglichkeiten in der menschlichen Natur überhaupt einer Kultivierung zugänglich seien. Dass der Ton der Liebesbriefe nicht wissenschaftlich, sondern an der bürgerlich-empfindsamen Sprache des 18. Jahrhunderts orientiert sei, widerspreche diesem Erkenntnisinteresse nicht. Es wird in diesem Zusammenhang auch diskutiert, ob das Experiment trotz seiner auf den ersten Blick grausam anmutenden Versuchsanordnung nicht doch zugleich ein emanzipatorisches Moment aufweise. Immerhin handele es sich hierbei auch um die Überwindung von Klassenunterschieden, die, in der Literatur der Zeit längst schon verhandelt, in die Wirklichkeit übertragen und erprobt würde. Hervorgehoben wird in diesem Kontext noch einmal die epistolare Eigenständigkeit, die Elises Briefe trotz des angelernten empfindsamen Musters aufweisen. Der Blick auf ähnliche Projekte bei Adalbert Stifter und Amalia Moorhaupt, Goethe und Christiane Vulpius, Heine und Mathilde zeige, dass derartige Versuche, bei allen Unterschieden im Einzelnen, nicht singulär seien. Das 19. Jahrhundert könne als ein Jahrhundert der Asymmetrien bezeichnet werden, in dem traditionelle Rollen in Auflösung begriffen sind und Standesgrenzen durchlässig werden. Die Frage, ob die Strategie der Familie Henle geglückt sei, wird angesichts des frühen Todes von Elise abschließend kontrovers diskutiert. Zum einen wird ihre Schwindsucht – mit der Referentin – als Indikator für ihre Überforderung aufgefasst, zum anderen wird geltend gemacht, dass es sich hier um eine weit verbreitete Krankheit handle, die nicht ohne weiteres als Ergebnis des Erziehungsexperiments aufgefasst werden könne.
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X. Zum Vortrag Rohde (Authentizität, Fiktionalität und das Imaginäre) Die Diskussion konzentriert sich zunächst kritisch auf den Begriff des Imaginären, dessen grundlegende Bedeutung der Referent für die Schreibgebärden der Liebe sowohl in realen Briefen wie auch im Briefroman geltend gemacht hat. Problematisiert wird in diesem Zusammenhang die Abgrenzung des Imaginären von der Imagination, deren Notwendigkeit sich an unterschiedlichen Bedeutungen im Deutschen und Französischen erweise. Es wird eingewandt, dass sich der Begriff sowohl werkbezogen als auch im Sinne eines kulturell Imaginären verwenden lasse. Und es wird bezweifelt, dass sich die Imagination bzw. Einbildungskraft des Künstlers als bewusste Phantasie vom dem kulturell Imaginären heuristisch unterscheiden lasse. In Bezug auf das liebende Subjekt sei eine derartige Trennung von vorneherein problematisch. Denkbar sei hingegen eine Mischform. Ein weiterer Diskussionspunkt bezieht sich auf wenig beachtete Elemente des Lächerlichen und Komischen in Goethes Werther. Es wird auf einen Brief Goethes an Behrisch verwiesen, der eine Szene des Wirklichkeitsverlustes im Zeichen der Verliebtheit beschreibe, wie sie auch in der Komödie vorkommen könnte und wie sie oft im komischen Roman des 18. Jahrhunderts zu finden sei. Bei Goethe gäbe es vor allem in der Leipziger Zeit häufig Inszenierungen derartiger Momente eines sich völlig der Imagination hingebenden Liebenden, der dann durch diese Hingabe komisch oder lächerlich wirke. Im Werther erfahre diese Hingabe des Liebenden an die Imagination insofern eine Umwertung, als aus dem sich monomanisch den Imaginationen überlassenden ein positiv verstandenes Individuum werde, das offen sei für das Imaginäre.
XI. Zum Vortrag Hübener (Der Liebesbrief als pseudonymes Medium) Die Diskussion konzentriert sich zunächst auf Hübeners These, dass die Dialogizität der Briefe, ihre vielfachen Adressatenbezüge und die Versicherung der Aufrichtigkeit auf Konventionen des 18. Jahrhunderts zurückgreifen. Es wird bekräftigt, dass Bettines Interesse an der Korrespondenz ein Werkinteresse in eigener Sache gewesen sei und dass die Frage, ob ihr eine reale Liebesbeziehung zugrunde liege, der Komplexität dieser Briefe nur unzureichend gerecht wird. Die Technik der Pseudonymisierung sei als eine kühne Form moderner Autoschaft zu verstehen, an der
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sich bereits eine Diversifizierungserfahrung des Ich zeige, die gemeinhin erst mit Hofmannsthal in Verbindung gebracht werde. Möglicherweise liege hierin ein Grund für die nachträgliche Pathologisierung von Bettinas Briefstil durch einige Leser und Interpreten. Die Diskussion berührt auch die in der Forschung geäußerte Annahme, Bettines Fiktion der Herausgeberschaft im Falle des Goethe-Briefwechsels sei als eine auf die Moderne vorausweisende, generelle Absage an Autorschaft zu verstehen. Dagegen wird eingewandt, dass hier die Schutzfunktion ihrer Pseudonymität mit zu berücksichtigen sei. Der Inhalt des Briefbuchs, das Werben um Goethe und manches spektakuläre Detail der Briefe seien in der damaligen Öffentlichkeit so skandalträchtig gewesen, dass die Autorin sich hinter ihrer Herausgeberschaft habe verbergen müssen. Letzter Diskussionspunkt ist die Frage, inwiefern die Ästhetisierung der Briefe mit Karl Heinz Bohrers Thesen über den romantischen Brief übereinstimme. Dies kann nicht gänzlich geklärt werden. Konsens ist jedoch, dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb Bettinas Werk in seiner Abhandlung keine Erwähnung findet.
XII. Zum Vortrag Simonis (Musikalische Liebesbriefe) Diskutiert wird die These vom musikalischen Liebesbrief im Hinblick auf dessen, die briefliche Kommunikation ergänzende, Verweisfunktion. Die Referentin bekräftigt noch einmal ihre Annahme, dass die Liebeskorrespondenz des Paares ohne Berücksichtigung der Partituren als Beigaben nicht vollständig verstanden werden könne. Die Musik kommuniziere in diesem Liebesverhältnis das Unsagbare und bewähre sich als Kommunikationsmittel insbesondere auch in den durch den Vater der Braut erzwungenen Schreibpausen. Ob man mit der Referentin soweit gehen kann, die musikalische Liebessprache als einen nahezu vollgültigen Ersatz für den schriftlichen Liebescode zu verstehen, bleibt umstritten. Zustimmung erfährt hingegen die Auffassung, dass die Musik bei diesem Paar auf eine besonders individuelle Weise als geheime, die schriftlichen Mitteilungen ergänzende Chiffren-Schrift fungiere. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang die Ähnlichkeit zwischen musikalischen und schriftlichen Codierungen der Liebessprache. Das Sprechen über Musik ermögliche diesem Paar nicht nur erst eigentlich das Sprechen über Liebe, sondern trage auch Wesentliches zu der emotionalen Vertiefung der Paarbeziehung bei – wenngleich sich auch zeige, wie sperrig der gemeinsame Alltag sich gegenüber dem gemeinsamen Liebeskonzept oft erweise. Kritisch beurteilt wird in diesem Kontext die männliche und weibliche Rollenverteilung, die sich an Schumanns Egozentrik als Komponist und Claras unterordnender Nachgiebigkeit als Ehefrau erweise.
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Abschließend wird die Frage nach möglichen Brüchen in der romantischen Codierung der Paar- und Liebessprache aufgeworfen. Gibt es auch hier Elemente des Komischen, für die die Musik traditionell eine spezielle Art von Freiraum bereitstellt? Simonis verneint diese Annahme. Weder in den Briefen, noch im Ehetagebuch lasse sich eine Tendenz zum Humoristischen feststellen. Musik sei für die beiden Liebenden offensichtlich ein ausschließlich ernster Kommunikationsgegenstand gewesen.
XIII. Zum Vortrag Berghahn (Études d’Exécution Transcendante) Das Weiterschreiben der Liebeskorrespondenz im Medium der Musik steht auch im Zentrum der Diskussion zu Berghahns Vortrag. Hier wird vor allem die Bedeutung weiterer Paratexte mit in den Blick genommen, so z.B. das Beilegen von Arbeitsproben oder die in der Korrespondenz zahlreich vorhanden literarischen Zitate. Ausgiebig diskutiert wird Marie d’Agoults mangelndes Interesse an den Kompositionen ihres Partners, ihre Strategien der Sublimierung nach dem Abbruch der Beziehung und ihre Abrechnung mit ihm, die sie in ihrem Roman Nélida vornimmt. Berghahns These von einer missglückten Liebeskommunikation erfährt im weiteren Verlauf der Diskussion Bestätigung. Franz Liszt verschließe die Liebe zu Marie d’Agoult als esoterische Botschaft in seinen musikalischen Werken und versuche auf diese Weise die misslungene Kommunikation aufzufangen. Marie d’Agoult verschanze sich hinter ihrem Standesdünkel. Ob dieser mehr adlig oder katholisch begründet war, kann abschließend nicht geklärt werden. Es wird indes zu bedenken gegeben, dass verschiedene Liebessemantiken nicht immer ein Hinderungsgrund für das Gelingen einer Liebeskommunikation sein müssen und man daher auch bei diesem Paar, ungeachtet der unterschiedlichen Interessen und des unterschiedlichen Sprachverhaltens, eine Verständigungsmöglichkeit nicht von vorneherein ausschließen dürfe.
XIV. Zum Vortrag Ortlieb (Papierflügel und Federpfau) In der Diskussion wird darauf verwiesen, dass die von Ortlieb beobachteten Praktiken der Liebessprache nahezu allesamt als zitierte aufgefasst werden müssen – so wie der Fächer, der ein gängiges Accessoire der französischen Modewelt und der Geselligkeit in den Salons des 19. Jahrhunderts sei und auch an galante Praktiken der höfischen Barock- und Roko-
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kokultur erinnere. Als Medium der Liebeskommunikation werde der mit Schrift versehene Fächer auch in Goethes West-östlichem Divan erwähnt. Demgegenüber wird der Einwand erhoben, dass eine solche Vergleichbarkeit nur bedingt gegeben sei, da Mallarmés Fächergedichte weitaus komplexer seien. Das wird zwar nicht bestritten, zugleich aber wird sein Rückgriff auf das petrarkistische Motiv-Repertoire geltend gemacht, das sich auch hier als klassisches Andichten der unerreichbar scheinenden Geliebten zeige. Auch die Doppeladressierung auf dem Umschlag der Billets (an die Geliebte selbst und an den Postboten) sei ein aus dem 18. Jahrhundert bekanntes Phänomen, das von Mallarmé virtuos überboten und, vor allem mit den Zeichnungen im Stil der Bandes Dessinées, um populäre künstlerische Ausdrucksformen der Zeit ergänzt werde. Die weiteren Überlegungen gelten der Frage nach der Exklusivität bzw. Intimität dieser Liebeskommunikation. Dass der Fächer ein Accessoire der öffentlichen Salonkultur sei, mache die Liebeskommunikation zu einer öffentlichen, die Einkleidung der Liebesrede in das Gewand des Gedichtes relativiere wiederum diesen öffentlichen Charakter. Abschließend steht zur Debatte, ob die Bildersprache der Zeichnungen und des Materials eine unterstützende Funktion für Briefsprache hat oder sogar als ‚zweite‘, unabhängige Sprache mit eigenen Botschaften zu verstehen sei. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Bilder einen unverzichtbaren Bestandteil dieser Liebeskommunikation darstellten, deren Semantik indes noch weiter zu diskutieren sei. Diese These wird noch einmal von der Referentin zusätzlich gestützt, indem sie darauf verweist, dass die schriftliche Kommunikation vorwiegend pragmatischen Charakter aufweise und Initmität tatsächlich erst durch die Bildsprache der Zeichnung generiert wird.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Verzeichnis der Autorinnen und Autoren CORD-FRIEDRICH BERGHAHN, Studium der Fächer Deutsch und Englisch (Staatsexamen) an der TU Berlin. Derzeit Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Deutschjüdische Aufklärung, Literatur und Kultur um 1800, Klassische Moderne und Kulturtransfer. Zahlreiche Sammelbände zur Literatur um 1800. Mitherausgeber der Germanisch-Romanischen Monatsschrift. Dissertationsschrift: Moses Mendelssohns Jerusalem (2001, 22011); Habilitationsschrift: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck (2012). 2013 erschien sein Buch Émile Zola. Leben in Bildern im Deutschen Kunst Verlag (München). SONJA BRANDES, BA-Studium Germanistik und Anglistik, MA-Studium „Kultur der technisch-wissenschaftlichen Welt an der TU Braunschweig. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der TU Braunschweig, arbeitet zu einem Thema aus dem Bereich des Forschungsprojektes „Kulturgeschichte des Liebesbriefs“. ANDREA HÜBENER, Studium der Neueren dt. Philologie, Komparatistik und Anglistik (TU Berlin, Univ. of Wales, Cardiff). Promotion an der TU Berlin. Seit 2001 am Institut für Germanistik der TU Braunschweig. Wichtigste Publikationen: Kreisler in Frankreich. Heidelberg 2004 (Diss.); Mitherausgabe von W. Heinse: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass (München 2003–2005); „Stages of Imagination in Music and Literature. E.T.A. Hoffmann and Hector Berlioz“. In: Music and Literature in German Romanticism. Ed. by S. Donovan and R. Elliott. Rochester 2004; „Epistolarische Pflanzschule der Garten- und Liebeskunst […]“. In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel. Hg. v. R. Stauf, A. Simonis, J. Paulus. Berlin 2008; „Codierung von Liebe und Intimität in Lafontaines Klara du Plessis“. In: August Lafontaine (1758–1831). Hg. v. C.-F. Berghahn u. D. Sangmeister. Bielefeld 2010. Forschungsschwerpunkte: Europäische Romantik, Briefkultur und Materialität. MARTINA KING, Studium der Humanmedizin, Germanistik und Philosophie in München und Göttingen, germanistische Promotion 2008. Derzeit DFG-Stipendiatin an der Universität Bern; Habilitationsprojekt Die Ambivalenz des Infektiösen. Mikroben und Mikrobenjagd in der Literaturgeschichte der Moderne 1880-1930. Wichtigste Publikationen: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. Göttingen 2009. „Von Mikroben und Menschen. Bakteriologisches Wissen und Erzählprosa um 1900“. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 141–181. „Inspiration und Infektion. Zur literarischen und medizinischen Wissensgeschichte von ‚auszeichnender Krankheit‘ um 1900“. In: IASL 35/2 (2010), S. 61–97. „Fabulous Microbes. On Tuberculosis, Syphilis and Creativity Myths in Literature around 1900“. In: GRM 62/1 (2012), S. 73–92. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Naturwissenschaft, Konzepte von Autorschaft/Literatursoziologie, klassische Moderne, Literaturtheorie. ROMAN LACH, Studium der Germanistik und Philosophie an der TU Berlin. Promotion bei Norbert Miller: Characters in Motion – Einbildungskraft und Identität in der empfindsamen Komödie der Spätaufklärung (2004), Habilitation 2010 im Rahmen des Forschungs-
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projekts zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs an der TU Braunschweig: Der maskierte Eros. Liebesbriefwechsel des realistischen Zeitalters (2012). Seit 2012 Associate Professor am Department of German Culture and Literature der Keimyung Universität Daegu, Südkorea. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der europäischen Komödie, Romankultur des Realismus, deutsche Korea-Bilder. ULRIKE LEUSCHNER, Dr. phil., Studium der Germanistik, Philosophie und Volkskunde in Würzburg. Promotion 1993. Seit 2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Merck an der Technischen Universität Darmstadt, Editionsphilologin. Veröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, u.a.: Johann Heinrich Merck. Biographie. Hannover 2010; (Hg.): Friedrich Müller genannt Maler Müller: Der dramatisirte Faust (2 Bde., 1995); Johann Heinrich Merck: Briefwechsel (5 Bde., 2007); Gesammelte Schriften (Bde. 1 u. 3, 2012; Bd. 4, 2013); Mitherausgeberin von: treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre (2005 ff.) CORNELIA ORTLIEB, Studium der Neueren Deutschen Philologie, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin. Promotion 1999 / Habilitation 2006. Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Wichtigste Publikationen: Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire bis Georg Trakl (2001); Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart (2010), Mithg.: Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion (2007); „Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder“. In: Johannes Grave, Lena Bader (Hg.): Parler de l’image – Parler dans l’image (erscheint 2013). Forschungsschwerpunkte: Europäische Literaturgeschichte (18.–20. Jahrhundert), Friedrich Heinrich Jacobi: Schreibformen von Kritik und Kommentar um 1800, Die Kulturgeschichte des Wissens und die Literatur, Denken auf Papier von Jean Paul bis Claude Simon, Theorie des Materials und der Materialität in den Künsten. JÖRG PAULUS, Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften am Institut für Germanistik der TU Braunschweig. Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg und Berlin, Wissenschaftliche Tätigkeit u.a. in Weimar, Potsdam, Berlin; Lehre an der TU Berlin, Meiji University Tokyo, Leibniz Universität Hannover. Publikationen: Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800 (Dissertation, 1998); Philologie der Intimität. Liebeskorrespondenz im Jean-Paul-Kreis (Habilitationsschrift, 2013). Publikationen und Editionen zur Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Mitherausgeber der Blätter der Rilke-Gesellschaft. TANJA REINLEIN, Studium der Germanistik und Philosophie in Düsseldorf, Davis und Berkeley. Promotion 2002. 2007–2012 Fachleiterin für Deutsch am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung, Krefeld. Seit 2012 Leiterin des Seminars für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen am ZfsL Krefeld. Wichtigste Publikationen: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale (2003); Mithg.: Schriftgedächtnis – Schriftkulturen (2002); „Gegen kulturhegemoniale Ansprüche“. Körper und Fremdheit in Feridun Zaimoglus Briefroman Liebesmale, scharlachrot. In: Kulturelle Topografien Hg. v. Vittoria Borsò u. Reinhold Görling (2004), S. 287–302.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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MONIKA RITZER, Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Erlangen, Santa Barbara (USA) und Johannesburg (Südafrika). Promotion über Hermann Broch und die Krise der Moderne (1988), Habilitation über den Realismus des 19. Jahrhunderts (1994). Professorin für Neuere und Neueste Literaturgeschichte in Leipzig. Herausgabe des Hebbel-Jahrbuchs und Leitung der hist.-krit. Werkausgabe, Mitherausgabe von KulturPoetik. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Autoren vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Forschungsschwerpunkt: Literatur im kulturhistorischen Kontext. CARSTEN ROHDE, Studium in Bremen und Berlin. Promotion: Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben (2004). Habilitation: Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (2010). Privatdozent am Institut für Literaturwissenschaft des Karlsruher Instituts für Technologie. Wichtigste Publikationen: „Träumen und Gehen“. Peter Handkes geopoetische Prosa seit Langsame Heimkehr (2007); Doppelte Vernunft. Lessing und die reflexive Moderne (2013). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 18. bis 21. Jahrhunderts. ANNETTE SIMONIS, Studium der Germanistik, Anglistik, Pädagogik und Philosophie an der Universität zu Köln. Promotion 1992. Habilitation 1999. Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Braunschweig, seit 2005 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Wichtigste Publikationen: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne (2000); Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur (2001); Hg.: Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld zwischen Künsten und Medien (2009). Forschungsschwerpunkte: Europäische Moderne, Ästhetizismus, Literatur- und Kulturtheorie, Literatur und die Künste, Ästhetik der Intermedialität, Liebeskommunikation. RENATE STAUF: Studium der Germanistik und Geschichte (JLU Gießen), Wissenschaftliche Mitarbeiterin (JLU Gießen), Promotion (JLU Gießen). Wissenschaftliche Assistentin (TU Berlin). Habilitation (TU Berlin). Seit 1999 Professorin für Neuere deutsche Literatur (TU Braunschweig). Seit 2005 Herausgeberin der GermanischRomanischen Monatsschrift. Wichtigste Publikationen: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe (1991); Der problematische Europäer. Heinrich Heine im Konflikt zwischen Nationenkritik und gesellschaftlicher Utopie (1997); Mithg.: Umstrittene Postmoderne. Lektüren (2010); Heinrich Heine. Gedichte und Prosa (2010); Mithg.: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (2008), darin: „‚Erklär mir, Liebe’. Kunst des Liebens und Liebessprache im Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit Hans Werner Henze“, S.401–425; „Lessings Wahrheit“. In: GRM NF 62 (2012), S. 59–72. JOCHEN STROBEL, Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der TU Dresden. Promotion 1997 TU Dresden, Habilitation 2008 Philipps-Universität Marburg. Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg. Wichtigste Publikationen: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns (2000); (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur (2006); Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Verhandlungen zwischen ‚Adeligkeit‘ und Literatur um 1800 (2010); Mithg.: Briefkultur von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Texte und Interpretationen (2013). Forschungsschwerpunkte: Historisch-literarische Semantik; Digital Humanities; Romantik; Briefkultur; RAF und Literatur/Film seit 2000. ROBERT VELLUSIG, Studium der Germanistik und Romanistik in Graz. Promotion 1999. Habilitation 2011. Privatdozent am Institut für Germanistik der Universität Graz. Wichtigste Publikationen: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert (2000); Mithg.: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. (2012); Das Erlebnis und die Dichtung. Studien zur Anthropologie und Mediengeschichte des Erzählens (2013). Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte der Aufklärung, Briefkultur, Literatur und Erlebniskultur, Erzähltheorie, Komik, Anthropologie der Literatur, Ästhetik und Hermeneutik.
Personen- und Werkregister Abbt, Thomas 49f. Anm. 1, 51, 53 Anm. 21, 68, 75 Ackermann, Sophie Charlotte 144 Addison, Joseph 138 – Cato, a Tragedy 138 Andreae, Johann Gerhard Reinhard 144f. Aristoteles 334 Arnim, Achim von 243 Arnim, Bettina von 16, 180, 208f., 239‒269, 339f. – Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde 241f., 246, 250, 252‒254, 256‒258, 267f. Arnim, Siegmund von 248 Anm. 25 Auerbach, Berthold 190, 196, 212 – Die Frau Professorin 190, 212 – Schwarzwälder Dorfgeschichten 190 Balzac, Honoré de 229, 296 Anm. 25 – La peau de chagrin 296 Anm. 25 Banville, Théodore de 313 Anm. 22 Barkhaus, Karoline von 182 Barthes, Roland 23, 218 Anm. 10, 228, 236‒238, 271f., 317 Anm. 35, 337 – Fragmente einer Sprache der Liebe 236‒238 – La Musique, la voix, la langue 271f. Beethoven, Ludwig van 16, 295 Behrisch, Ernst Wolfgang 225‒231, 339 Berlioz, Hector 287, 290f. – Symphonie Fantastique 290 Bertheroy, Jean 318 Bethmann, Marie-Elisabeth 288 Bianconi, Gian Lodovico 84 Birch-Pfeiffer, Charlotte 190, 212 – Dorf und Stadt 190, 212 Bodmer, Johann Jakob 133 Böcklin, Arnold 16 (eigentlich Boecklin) Boenhart, Christian Adolph 108 Anm. 29 Bohrer, Karl Heinz 171, 175, 340 Boie, Ernestine 87 Anm. 14 Brahms, Johannes 284 – Sonate für Violine und Klavier op. 78 284 Breitinger, Johann Jakob 133 Brentano, Clemens 2 Anm. 3, 168, 175f., 179, 288 Brentano, Gunda 168, 181f.
Brentano, Meline 166 Briefsteller für Liebende beiderley Geschlechts 1f. Brion, Friederike 222 Buff, Charlotte 226f., 231‒234 Buff, Helene 232, 234 Burns, Robert 281f. Busch, Wilhelm 308 Anm. 3 Bußmann, Auguste 288 Bußmann, Jacob 288 Byron → Lord Byron Campion, Thomas 274, 283 – Woo her and win her 274 Anm. 6 Canitz, Friedrich Rudolf Ludwig von 106 Cannabich, Christian 96 Canrobert, François Certain de 310 Carl Theodor, Kurfürst von Bayern 176 Caroline von Sachsen-Weimar-Eisenach 251 Anm. 30 Carus, Carl Gustav 205, 209f. – Göthe. Zu dessem näheren Verständnis 209 Anm. 101 Champsaur, Félicien 318 Charnace, Claire e 294 Chopin, Frédéric 287, 293, 300, 302 Anm. 34 Christian, Johann Joseph 79‒81 Cocteau, Jean 279 Anm. 16 Creuzer, Friedrich 7f., 165‒186, 337 – (Hg.) Studien 180 – Symbolik und Mythologie der alten Völker 178 Creuzer, Sophie 167f., 183f. D’Agoult, Charles 288, 299 D’Agoult, Marie 9f., 287‒306, 341 – Esquisses morales 300 – Histoire de la Révolution de 1848 300 – Mes Souvenirs. 1806‒1833 288f., 292 Anm. 18, 294 Anm. 21, 301 Anm. 29 – Nélida de la Theieullaye 300f., 341 D’India, Sigismondo 273 Dante Alighieri 16 Daub, Carl 166 Derrida, Jacques 219, 223, 319 Anm. 40 Descartes, René 133 Destouches, Philippe Néricault 56f. – Les philosophes amoureux 56f.
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Personen- und Werkregister
Deutsches Museum 144 Dörbecker 112 Dornac, Paul Marsan 325 Anm. 53 Dreyfus, Abraham 318 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 198 Ebert 92 Echo 180 Eckermann, Johann Peter 18f. Egloff, Elise 8, 187‒212, 338 Eisenstatt, Izik 74 Enzensberger, Hans Magnus 288 – (Hg.) Requiem für eine romantische Frau 288 Epikur 2 Ernst August II. Konstantin 28 Eschenburg, Johann Joachim 5, 88‒92 Evans, Thomas 311 Fabricius, Anna Catharina 238 Anm. 73 Faustina 30 Fichte, Johann Gottlieb 179 Fischer, Johann Michael 82 Flachsland, Caroline 4, 33‒48, 170 Flaubert, Gustave 229 Flavigny, Alexandre Victor François, Vicomte de 288 Flavigny, Marie de → D’Agoult, Marie Foucault, Michel 239, 242 Fränkel, David 65 Francke, August Hermann 334 Freud, Sigmund 226 Anm. 41 Fritz, Fürst von Schwarzenberg 298 Frühlingssinfonie (Film) 276 Gabriac, Marquise de Cadoëne 293 Galatea 190, 196, 207f. Galvani, Luigi 198 Gautier, Théophile 300 Gedeck, Martina 276 Geliebte Clara (Film) 276 Gellert, Christian Fürchtegott 6, 16, 56, 81, 87, 92, 102, 106, 128, 143, 170, 175 Anm. 22, 194 – Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen 81 Anm. 5, 87 George, Stefan 21, 325 Gilsa, Carolina Friederika Franziska Charlotta Wilhelmina 115 Gilsa, Friedrich-Wilhelm von und zu 100 Anm. 4
Gilsa, Georg Ernst von und zu 6, 99‒116, 334‒336 Gilsa, Philipp Wilhelm von und zu 108 Gilsa, Wilhelm Friedrich von und zu 108 Girardin, Émile de 300 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 58, 194 – Freundschaftliche Briefe 58 Göllerich, August 305 Anm. 42 Goethe, Cornelia Friederike 222 Anm. 23, 227 Goethe, Johann Wolfgang von 3f., 6, 15‒32, 69, 121, 143 Anm. 6, 179, 196, 205, 208‒210, 215‒238, 241f., 246, 248 Anm. 25, 248f. Anm. 26, 250‒254, 256f., 258-p Anm. 49, 267f., 288, 291, 292 Anm. 18, 331f., 338‒340, 342 – Dichtung und Wahrheit 18 Anm. 15, 227, 233 – Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl 21 Anm. 31 – Faust I 229 – Faust II 236 Anm. 64 – (Hg.) Hefte zur Morphologie 209 Anm. 101 – Die Leiden des jungen Werthers 6, 18 Anm. 15, 25, 225f., 227 Anm. 42, 228, 231, 234‒238, 292 Anm. 18, 339 – Reise-, Zerstreuuungs- und Trostbüchlein 251 Anm. 30 – Selige Sehnsucht 19 Anm. 21 – Stella 231 – Warum gabst du uns die tiefen Blicke 20 – West-östlicher Divan 19 Anm. 21, 254, 257, 342 – Wilhelm Meisters Lehrjahre 234 – Wilhelm Meisters Wanderjahre 18f. – Winckelmann und sein Jahrhundert 228 – Zum Shäkespears Tag 18 Anm. 15 Götting, Friebche 52, 72 Anm. 106 Gottsched, Johann Christoph 6, 119‒139, 335f. – Erste Gründe der gesammten Weltweisheit 134 Gottsched, Louise Adelgunde → Kulmus, Louise Adelgunde Grimm, Herman 258 Anm. 48 Grimm, Jacob 143 Grimm, Wilhelm 143 Grönemeyer, Herbert 276
Personen- und Werkregister Günderrode, Karoline von 7f., 165‒186, 337 – Magie und Schicksal 180 – Melete 166, 185 – Udohla 180 Gugenheim, Blümche 55 Gugenheim, Brendel 55f., 58, 60 Gugenheim, Fromet 4f., 49‒75, 333 Gugenheim, Vogel 55, 60 Anm. 51, 60f. Anm. 52 Gumpertz, Aron 52f., 57, 61 Anm. 54, 72 Anm. 106 Gundolf, Friedrich 17, 19‒21 Gutermann, Sophie 93 Haeckel, Ernst 18 Haller, Albrecht von 106 Hamann, Johann Georg 75 Hamburgisches Theater 146 Hauser, Kaspar 189, 193, 207 Hebbel, Friedrich 16 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 178 Heine, Heinrich 281f., 300, 338 Heine, Mathilde 338 Helmholtz, Hermann von 198 Henle, Jacob 8, 187‒212, 338 – Handbuch der Rationellen Pathologie 197, 200, 201 Anm. 68, 203 – Von den Miasmen und Kontagien 201, 203 Henning, Falko 87 Anm. 14 – Ohne Dich ist alles Staub. Vergessene Liebesbriefe 87 Anm. 14 Hennings, August 51 Herder, Johann Gottfried 4, 18 Anm. 15, 24, 33‒48, 170, 179, 220 Herwegh, Emma 300 Herwegh, Georg 205, 300 Herzlieb, Minna 241, 256 Anm. 46 Hesse, Peter von 35, 44, 46 Hetzler, Johann Ludwig 218 Anm. 11 Heyden, Susanne von 165f. Heymann, Mendel 52 Hölderlin, Friedrich 179 Hoffmann, E.T.A. 229 Anm. 48, 285 – Der Sandmann 229 Anm. 48 Hogarth, William 296 Anm. 25 – Analysis of Beauty 296 Anm. 25 Hogel, Christine 5, 82‒86, 88, 334 Hohenwald, Karl von 93 Anm. 25 – Adeliches Briefbuch, enthaltend 300 wohlabgefassete Schreiben 93
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Holzbauer, Ignaz 275 – Günther von Schwarzburg 275 Homer 30 Hopf, Andrea 87 Anm. 14 – Archiv des Herzens, Partnerbriefen 87 Anm. 14 Hopf, Andreas 87 Anm. 14 – Archiv des Herzens, Partnerbriefen 87 Anm. 14 Hoppe, Rolf 276 Hugo, Victor 300 Humboldt, Alexander von 205 Humboldt, Wilhelm von 129 Anm. 43 Hume, David 134 Anm. 68 Huysmans, Joris-Karl 312 Incubus 273 – If Not Now, When? 273 Jacobi, Friedrich Heinrich 18 Anm. 15, 228 Anm. 46 Jean Paul 179, 312 Johannes von Nepomuk 79f. Joubert, Joseph 279 – Recueil des pensées de M. Joubert 279 Juno 29, 30 Kant, Immanuel 90, 133, 179, 199 – Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 90 Kapsberger, Johann Hieronymus 273 Karl August von Sachsen-WeimarEisenach 17 Keller, Gottfried 190, 196, 210, 212 – Der grüne Heinrich 190, 210 – Regine 190, 212 Kestner, Johann Christian 226f., 231‒234 Kinski, Nastassja 276 Klein, Anton 275 Kleist, Ewald von 106 Klinger, Friedrich Maximilian 7, 144‒153, 336 – Die Zwillinge 7, 144‒153 Klopstock, Friedrich Gottlieb 4, 33‒48, 170, 211, 236 Klopstock, Meta → Moller, Meta Koch, Robert 198, 201 König, Johann Ulrich von 106 Kommerell, Max 21f. Kožená, Magdalena 273 – Lettere Amorose 273
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Personen- und Werkregister
Kretschmer, Wilhelm 303 Kulmus, Louise Adelgunde 6, 119‒139, 335f. – Die Pietisterey im Fischbein-Rocke 122 La Mara 299 Anm. 27 – Musikalische Studienköpfe 299 Anm. 27 La Roche, Georg Michael Frank 84 La Roche, Sophie 5, 82‒86, 87 Anm. 14, 334 Lacan, Jacques 218 Anm. 12 Lamartine, Alphonse de 292‒294, 297, 300 – Bénédiction de Dieu dans la solitude 293f. Lammenais, Félicité de 292, 300 Lange, Samuel Gotthold 58 – Freundschaftliche Briefe 58 Lasalle, Albert de 271 Latour, Bruno 97f. Laurent, Jean Claude 310 Laurent, Méry 307‒329 Lavater, Johann Caspar 179, 233 – (Hg.) Physiognomische Fragmente 233 Le Vayer, Jean-Michel-Christophe 289 Leibniz, Gottfried Wilhelm 71, 72 Anm. 105 Leisewitz, Johann Anton 6f., 141‒161, 336 – Der Besuch um Mitternacht 144 – Julius von Tarent 7, 144‒153, 156 – Die Pfandung 144 – Selbstgespräch eines starken Geistes in der Nacht 144, 153 Lengefeld, Charlotte von 87 Anm. 14 Lenz, Jakob Michael Reinhard 336 Leske, Sophie 183 Anm. 43 Lessing, Gotthold Ephraim 16, 39f., 49‒54, 57f., 61f., 65, 68, 71f., 74, 121, 133, 152, 158f. – Die Erziehung des Menschengeschlechts 61 Anm. 56 – Die Juden 61 – Minna von Barnhelm 39f. – Nathan der Weise 61f. Lessing, Justina Salome 52 Anm. 15 Lienhard, Friedrich 16, 17 Lipsius, Ida Marie → La Mara Liszt, Franz 9f., 287‒306, 341 – Album d’un voyageur 295 Anm. 24, 301f. – Années de Pèlerinage 294f., 301f., 304 Anm. 37 und 38, 305
– Études d’exécution transcendante 295 Anm. 24, 301 – Grandes études de Paganini 290 – Reisebriefe eines Bakkalaureus der Tonkunst 291 – Vallée d’Obermann 302, 304‒306 Litterarische Briefe 75 Locke, John 134 Anm. 68 Lord Byron 292f., 304 – Childe Harold’s Pilgrimage 292 Anm. 18, 293, 304 Louis-Philippe I. 291 Lüdke, Friedrich Germanus 63 – Briefe an die Freunde 63 Luther, Martin 96 Mack, Heinrich 153 Madame Laurent 10 Maimonides, Moses 55 Anm. 28 – Termini der Logik 55 Anm. 28 Maischberger, Sandra 119 Mallarmé, Généviève 317, 318 Anm. 38 Mallarmé, Marie 317, 318 Anm. 38 Mallarmé, Stéphane 10, 307‒329, 331f., 342 – Autre éventail 318 Anm. 38, 342 – (Hg.) La dernière mode 314 – Éventail 316 Anm. 32, 318f., 342 – Éventail 318 Anm. 38, 342 – La journée du 12 320f. – Méry 313 Malsburg, August von der 101 Malsburg, Carl Otto von der 108 Malsburg, Gabriel Otto von der 101, 108 Malsburg, Henriette Luise Christiane von der 6, 99‒116, 334‒336 Malsburg, Wilhelm von der 102 Mandelkow, Karl Robert 227 Manet, Edouard 311f., 325 – Le linge 311 Maria Eleonore 44f. Marini, Biagio 273 Mathieu, Marie 188, 191, 193‒196, 203f. Mendelssohn, Moses 4f., 16, 49‒75, 333 – Jerusalem-Schrift 74 Anm. 111 – Philosophische Schriften 63 Anm. 62 – Prediger der Moral 55 Anm. 28 – Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing 72 – Ueber die Frage: was heißt aufklären? 65 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 205
Personen- und Werkregister Mereau, Sophie 2 Anm. 3 Merula, Tarquinio 273 Metastasio, Pietro 305 Mettingh, Lisette 168 mi-Dessau, Mausche 65 Michaelis, Johann Benjamin 53f., 61 Michelangelo Buonarroti 293 – Penseroso 293 Moleschott, Jakob 190 Anm. 10 Moller, Meta 4, 33‒48, 170, 211 Anm. 109 Monteverdi, Claudio 273 Moorhaupt, Amalia 338 Moritz, Karl Philipp 24f. Moscheles, Ignaz 296 Anm. 25 Moser, Friedrich Karl von 106 – Daniel in der Löwen-Grube 106 Mozart, Anna Maria 96 Mozart, Leopold 96 Mozart, Wolfgang Amadeus 6, 95‒97, 273 – Don Giovanni 273 Müller, Johannes 189, 192, 197, 199f. Musenalmanach 144 Nadar, Paul 313 Narziss 180, 241 Natanson, Misia 317 Nees von Esenbeck, Christian 168 Nees von Esenbeck, Lisette 174, 183f. Neuber, Friederike Caroline 123 Neukirch, Benjamin 87, 126f., 129, 136 Anm. 82, 137f. – Anweisung zu teutschen Briefen 126f., 129, 136 Anm. 82, 137f. Nicolai, Friedrich 50, 53f. Nietzsche, Friedrich 16, 18 Nodier, Charles 291f. Novalis 179 Orwell, George 19 Anm. 18 – 1984 19 Anm. 18 Paulus 31 Penelope 208 Peter Friedrich Wilhelm von HolsteinGottorp 35 Petrarca, Francesco 94 Piautaz, Claudine 174f. Anm. 17 Ponty, Marguerite de → Mallarmé, Stéphane Pope, Alexander 47
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Porbeck, Bernhardt von 108 Anm. 29 Preisendanz, Karl 175 Prometheus 19 Anm. 18, 21 Proust, Antonin 311 Anm. 14 Pückler-Muskau, Hermann von 239‒269 – Andeutungen über Landschaftsgärtnerei 268 – Briefe eines Verstorbenen 246, 251 – Tutti Frutti 263, 266 Pückler-Muskau, Lucie von 253 Pygmalion 187‒212, 332, 338 Rabener, Gottlieb Wilhelm 63 – Satyrische Briefe 63 Ramler, Karl Wilhelm 194 Rammler, Otto Friedrich 87 Anm. 14 – Deutscher Reichs-Universal-Briefsteller 87 Anm. 14 Raulff, Ulrich 308 Anm. 2 Reich, Nancy 276f. Reutlinger, Charles 313 Riccoboni, Marie-Jeanne 63 – Lettres de Mylady Catesby 63 Richardson, Samuel 134 Anm. 68, 215 – Pamela 215 Rilke, Rainer Maria 15 Rimpau, Arnold 1 Anm. 2 Rolland, Romain 226 Anm. 41 Rosen, Charles 287, 295 Anm. 24 Rossini, Gioacchino 274 – Il barbiere di Siviglia 274 Rousseau, Jean-Jacques 1, 58f., 63, 66, 75 Anm. 113, 134 Anm. 68, 138, 160, 228 – Discours sur les Sciences et les Arts 58f. – Émile, ou De l’éducation 1 – Julie ou la Nouvelle Héloïse 63, 66, 75 Anm. 113, 160, 228 Rumohr, Karl Friedrich von 248, 248f. Anm. 26, 251f., 267 Runckel, Dorothee von 124, 128f. Sainte-Beuve, Charles Augustin 302 Sand, George 287, 291, 293, 300 Savigny, Friedrich Carl von 166, 168, 182 Sayn-Wittgenstein, Caroline von 290, 296, 299 Schaubert, Johann Wilhelm 81 – Anweisung zur Regelmäsigen Abfassung Teutscher Briefe 81 Anm. 5 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 179, 199, 206
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Personen- und Werkregister
Schiller, Friedrich 60 Anm. 50, 87 Anm. 14, 150, 152, 179 – Don Carlos 152 – Philosophische Briefe 149f. – Über die ästhetische Erziehung des Menschen 60 Anm. 50 Schinkel, Karl Friedrich 268 Anm. 79 Schlegel, Friedrich 179 Schleiermacher, Friedrich 129 Anm. 43, 179, 258‒262, 266f. Schmid, Konrad Arnold 88 Schmid, Marie Dorothea 5, 88‒92, 95 Schmidt, Maria Sophia 42‒44 Schöll, Adolph 15 Schöll, Rosalie 191, 195f. Schöne, Albrecht 87 Schönemann, Lili 227 Schönkopf, Catharina 222 Anm. 23, 225‒228 Schönkopf, Christian Gottlieb 222 Anm. 23 Schönkopf, Katharina Sibylla 222 Anm. 23 Scholum 112 Schott, Bernhard 302f., 304 Anm. 38 Schröder, Friedrich Ludwig 144 Schubert, Franz 274 Schumann, Clara 9, 271‒286, 296, 340f. – Opus 3 279 Schumann, Detlev W. 225 Anm. 39 Schumann, Robert 9, 271‒286, 340f. – Kinderszenen 276 – Opus 3 277 Anm. 10 – Opus 5 277 Anm. 10 – Opus 6 277 Anm. 10 – Opus 14 277 Anm. 10 – Sonate in fis-Moll, op. 11 277 Schweitzer, Anton 96 – Rosamunde 96 Seidel, Philipp 24 Senancour, Étienne Pivert de 291, 292 Anm. 18, 293, 302‒304 – Oberman 292 Anm. 18, 293, 302‒304 Seneca 160f. Seyler, Abel Jakob Gerhard 144f. Seyler, Katharina Maria Sophie 6f., 144f., 154‒161 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 63 – Inquiry concerning virtue 63 Shakespeare, William 88, 273f., 291, 293 – Two Gentlemen of Verona 273f.
Shaw, George Bernard 190 – Pygmalion 190 Smithson, Harriet 287 Sokrates 130, 259 Sosset, Élisa 321 Spalding, Johann Joachim 61, 62 Anm. 57 – Betrachtung über die Bestimmung des Menschen 61, 62 Anm. 57 Spengler, Oswald 16, 28f. Spiess, Johann Jacob 53 Anm. 22 Spinoza, Baruch 18 Stein, Charlotte von 3f., 15‒32, 226 Stendhal 28 Stern, Daniel → D’Agoult, Marie Sterne, Laurence 296 Anm. 25 – The Life and Opinions of Tristram Shandy 296 Anm. 25 Stifter, Adalbert 18, 26, 338 Stiller, Betty 1 Anm. 2 Stockhausen, Johann Christoph 81, 93f. – Grundsätze wohleingerichteter Briefe 81 Anm. 5 Stolberg, Augusta zu 22, 225‒227, 234 Anm. 62 Street-Klindworth, Agnes 304 Strozzi, Barbara 273 Sulzer, Johann Georg 59 Thalberg, Sigismond 295f. Thomasius, Christian 136 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 29f. Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 230 Torquemada, Tomás de 260f. Uslar Gleichen, Frida von 18, 21 Varnhagen von Ense, Karl August 244, 246‒248, 267 Varnhagen von Ense, Rahel 16, 239, 240 Anm. 9, 247 Venus 310, 313 Virchow, Rudolf 198, 200f. – (Hg.) Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin 200 Anm. 63 Vitali, Tomaso Antonio 273 Völlner, Johann Anton 283 Voltaire 83 Voß, Johann Heinrich 87 Anm. 14 Vulpius, Christiane 196, 226, 338
Personen- und Werkregister Wagner, Cosima 296 Wagner, Richard 16, 287, 305 Anm. 43 – Tristan und Isolde 16, 305 Anm. 43 Walser, Jürg Peter 304 Anm. 39 Weber, Aloysia 97f. Weizsäcker, Richard von 119 Wesendonck, Mathilde 287 Wieck, Clara → Schumann, Clara Wieck, Friedrich 276f., 340 Wiegand 114 Wieland, Christoph Martin 5, 82‒86, 87 Anm. 14, 88, 93, 96f., 143, 223f., 334 – Geschichte des Agathon 223f. – Rosamunde 96 Wieland, Regina Katharina 84 Willemer, Marianne 241, 257 Anm. 47, 258 Anm. 48 Wolf, Christa 166f. Wolff, Christian 122, 133‒135, 143 Anm. 5 – Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen 143 Anm. 5 Wurm, Anna Magdalena von 334 Zeitler, Julius 87 Anm. 14 – Deutsche Liebesbriefe auf neun Jahrhunderten 87 Anm. 14 Ziegler, Johann Maximilian 94 – Neuestes Brief-Buch 94 Ziegler, Marianne 123
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