123 66 17MB
German Pages 166 [167] Year 1975
WOLFGANG BONGE N
Schranken der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann, Tübingen
Band 3
Schranken der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Von
Dr. Wolfgang Bongen
DUNCKER &
HUMBLOT
/
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
® 1975 Duncker & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Richard Schröter, BerUn 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03375 2 D 21
Vorwort Diese Arbeit lag im Sommersemester 1974 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Tübingen als Dissertation vor. Später erschienene Literatur und Rechtsprechung wurde, soweit möglich, zumindest noch in den Fußnoten bis Oktober 1974 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Thomas Opperrnann für Anregung und stets aufgeschlossene Förderung der Arbeit. Dank schulde ich auch der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Baden-Württemberg, die die Arbeit im Rahmen des Graduiertenförderungsgesetzes finanziell unterstützt haben. Herrn Senator E. h. Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit in seiri Verlagsprogramm. Tübirigen, im Oktober 1974
Wolfgang Bongen
Inhaltsverzeichnis Einleitung
15
Erster Teil
Die Freizügigkeit
17
Erstes Kapitel Die Entwicklung der Freizügigkeit in Europa vor Inkrafttreten des EWG-Vertrages
17
I. Vorbemerkung ....................................................
17
II. Die Entwicklung bis zum Jahre 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . ..
17
IH. Die Entwicklung bis zum Jahre 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
20
IV. Die Entwicklung der Freizügigkeit nach 1945 ......... . . . . . . . . . . . . . .. 21 1. Nationales Recht .............................................. 21 2. Bi- und multilaterale völkerrechtliche Verträge ................ 21 a) Bilaterale Verträge .......................................... 21 b) Multilaterale Verträge ...................................... 23 3. Freizügigkeit nach dem EGKS-Vertrag ........................ 25 4. Zusammenfassung ............................................ 2Q Zweites Kapitel Freizügigkeit im EWG-Vertrag
I. Vorbemerkung H. Das Kapitel über die Arbeitskräfte ................................ 1. Der Begriff der Freizügigkeit in Art. 48 ff. EWG-Vertrag ...... a) Arbeitnehmerfreizügigkeit .................................. b) Freizügigkeit als Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots ................................................ aal In sachlicher Hinsicht ............. . .................... bb) In persönlicher Hinsicht ................................ c) Zusammenfassung .......................................... 2. Der Inhalt des Kapitels über die Arbeitskräfte .................. 3. Die Verwirklichung der Freizügigkeit .......................... a) Sekundäres Gemeinschaftsrecht .............................. b) Nationales Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . ..
28 28 28 28 28 29 29 30 31 31 31 31 33
8
Inhaltsverzeichnis
IH. Das Niederlassungsrecht ..........................................
33
1. Der Begriff des Niederlassungsrechts in Art. 52 ff. EWG-Vertrag .. a) Niederlassung ............................................... b) Niederlassungsrecht als Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots ............................................ c) Niederlassungsfreiheit als koordinierte Inländerbehandlung ..
33 33
2. Der Inhalt des Kapitels über das Niederlassungsrecht .......... 3. Die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit .................. a) Sekundäres Gemeinschaftsrecht ............ . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Das "Allgemeine Programm" " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Richtlinien allgemeiner Art ............................ ce) Richtlinien, die bestimmte Tätigkeiten betreffen ........ b) Nationales Recht ............................................
34 35 36 37 37 37 37 38 39
IV. Zusammenfassung ........ . .......................................
40
Zweiter Teil
Die Schranken aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit
42
Erstes Kapitel Öffentliche Ordnung und Sicherheit im Polizei recht der Mitgliedstaaten
44
I. Vorbemerkung ....................................................
44
H. Bundesrepublik Deutschland ...................................... 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Öffentliche Sicherheit und Ordnung im Polizei- und Ordnungsrecht ........................... '............................... a) Der Begriff der öffentlichen Sicherheit ...................... b) Der Begriff der öffentlichen Ordnung ...................... c) Rechtliche Einordnung, Funktion und Bedeutung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit .................... 'aa) In der polizeirechtlichen Generalklausei ................ bb) Im Polizei- und Ordnungsrecht außerhalb der Generalklausei .................................................. 3. "Öffentliche Sicherheit", "öffentliche Ordnung" und "Belange der BRD" im Ausländerrecht ...................................... a) Vorbemerkung .............................................. b) Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Ausländerrecht ........................ : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff der Belange der Bundesrepublik Deutschland .... d) Rechtliche Einordnung, Funktion und Bedeutung im AusUinderrecht ....................................................
46 46 47 47 48 50 50 51 52 52 52 55 57
Inhaltsverzeichnis IH. Frankreich
9
59
1. Vorbemerkung
59
2. Der ordre publie im Bereich der police administrative .......... a) Abstrakte Definitionen .................... , . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Bestimmung des ordre publie durch Art. 97 des Gesetzes vom 5.4.1884 .................................................... aa) bon ordre .............................................. bb) "Seeurite" oder "surete publique" ...................... ce) "Salubrite" oder "sante publique" ...................... e) Ausdehnung des traditionellen ordre publie .. . . . . . . . . . . . . . . .. d) Rechtliche Einordnung, Funktion und Bedeutung des ordre publie ...................................................... aa) In der polizeirechtlichen Generalklausel ....... . ........ bb) Im Verwaltungsrecht allgemein ........................
59 59
3. Der Begriff des ordre publie im Ausländerrecht ................
66
IV. Ergebnis ............ . ................ . ............................
67
60 60 61 61 62 64 64 66
Zweites Kapitel Die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den Vorbehaltsklauseln des EWG-Vertrages
I. "Gemeinschaftsrechtliche Begriffe" ................................ 1. Vorbemerkung
................................................
69
69 69
2. Die Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anhand des Vertrages .............................. 70 3. Die Diskussion um den gemeinschaftsrechtlichen Charakter der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 73 4. Zusammenfassung ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
78
H. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln der Art. 48 Abs.3 und 56 Abs. 1 ..
79
1. Vorbemerkung
................................................
79
2. Bestimmung anhand des Vertrages zur Gründung der EWG .... a) Vorbemerkung .............................................. b) Der Wortlaut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Historische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Systematische Auslegung ....... . ................ . ........... e) Teleologische Interpretation ................................ aa) Grundsatz der 'restriktiven Auslegung .................. bb) Öffentliche Ordnung und wirtschaftliche Zwecke ... . .... ce) Politische Zwecke ...................................... dd) Weitere Konkretisierung ................................
80 80 81 83 84 86 86 87 90 91
10
Inhaltsverzeichnis f) Rechtsvergleichung .......................................... aa) Vorbemerkung.......................................... bb) Art. 69 EGKS-Vertrag .................................. ce) Bilaterale völkerrechtliche Verträge .................... dd) Das Europäische Niederlassungsabkommen .............. ee) Nationales Recht ........................................
92 92 92 94 95 97
UI. "Gerechtfertigte" Beschränkungen ........................ . ....... 1. Vorbemerkung ................................................ 2. Art. 69 § 1 Montanvertrag ......................... -.. .. .. .. ... 3. "Gerechtfertigte" Beschränkungen - kei'n selbständiger Maßstab 4. "Gefahr" für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ............ 5. Schlußbemerkung ..............................................
98 98 98 99 100 102
Drittes Kapitel Die Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschajtsrecht
I. Vorbemerkung
104 104
U. Die Richtlinie 64/221/EWG ........................................ 1. Der Geltungsbereich .......................................... 2. Art. 2 Abs. 2 ................................... . .............. 3. Art. 3 Abs. 1 4. Art. 3 Abs. 2 5. Art. 6 .......................................................... 6. Zusammenfassende Bemerkungen ..............................
106 106 107 108 109 144 114
UI. Andere Richtlinien und Verordnungen ............................ 116
1. Vorbemerkung
.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Verordnungen und Richtlinien, die die Freizügigkeit betreffen .. 3. Richtlinien auf dem Gebiet des Niederlassungsrechts ............ a) Generelle Richtlinien ........................................ b) Spezielle Richtlinien ........................................
116 116 117 117 117
Viertes Kapitel Die Vorbehaltsklauseln der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs.l EWG-Vertrag in den nationalen Rechtsordnungen
I. Vorbemerkung
120 120
U. Die Vorbehaltsklauseln im deutschen Ausländerrecht .............. 120 120 1. Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
11
2. "Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" ...... 121 a) b) c) d) e)
Keine notwendigerweise einheitliche Terminologie ...... . . . . .. "Weiter" Begriff aus dem romanischen Rechtskreis? .......... Sachfremder Vergleich ...................................... "Belange der BRD" im AufenthG/EWG ...................... Gemeinschaftsrechtskonforme Inhaltsbestimmung ............ f) Zusammenfassende Bemerkungen .......................... 3. § 12 AufenthG/EWG in der Verwaltungspraxis und -rechtsprechung ..........................................................
122 123 125 126 128 130 131
III. Die Vorbehaltsklauseln in den anderen Mitgliedstaaten ............ 133 1. Vorbemerkung ................................................ 133 2. Belgien ........................................................ 134 3. Frankreich .... :............................................... 136 4. Italien ........................................................ 137 5. Luxemburg .................................................... 137 6. Niederlande ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 IV. Zusammenfassung ..................... . .......................... 141
Fünftes Kapitel Die Weiterentwicklung der Gemeinschaft und die Vorbehaltsklauseln
I. Vorbemerkung
143 143
II. Der Einfluß der Rechtsprechung auf die weitere Entwicklung ...... 144 1. Rechtsbehelfe nach dem Gemeinschaftsrecht .................... a) Die Ideallösung ............................................ b) Zweiteilige Ersatzlösung .......................... . ......... 2. Rechtsbehelfe in den einzelnen Mitgliedstaaten ................ a) Bundesrepublik Deutschland ................................ b) Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Frankreich .......... . ....................................... d) Italien .............. . ....................................... e) Luxemburg f) Niederlande ........................................ . ....... 3. Ergebnis ......................................................
144 144 145 147 147 147 148 148 148 148 149
III. Weitere Richtlinien ............. . .................................. 150 1. Vorbemerkung ................................................ 150 2. Mit der Richtlinie 64/2211EWG vergleichbare Schranken ........ 150
12
Inhaltsverzeichnis 3. Abschließender Katalog ........................................ 150 4. Katalog im Bereich des Niederlassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 151
IV. Vertragsähderung ................................................ 1. Vorbemerkung ................................................ 2. Ausbau der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit - Auswirkungen auf die Vorbehaltsklauseln .......................... a) Auswirkungen auf das allgemeine Ausländerrecht .. , . . . . . . . .. b) Auswirkungen auf das besondere Ausländerrecht
152 152 152 154 154
Schlußbemerkung
156
Literaturverzeichnis
158
Abkürzungsverzeichnis ABI. Alt. ALR AöR APVO AufenthG/EWG AuslG AuslGVwv. AVAVG AVV
AWDdesBB Bad.-Württ. BAnz. bayPAG BB BGBI. BM BRD BT BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE C.E. C.E.E. CDE DÖV Dok. DVBl. EFTA EGKS EGKSV ENA EP EuGHRspr. EuR Euratom EWG EWGV GABl.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Alternative Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Archiv des öffentlichen Rechts Ausländerpolizeiverordnung Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG. Ausländergesetz Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Allgemeine Verwaltungsvorschrift Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters Baden-Württemberg Bundesanzeiger Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei in Bayern Betriebsberater Bundesgesetzblatt Bundesminister Bundesrepublik Deutschland Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Conseil d'Etat Communaute Economique Europeenne Cahiers de droit europeen Die öffentliche Verwaltung Dokument Deutsches Verwaltungsblatt European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäisches Niederlassungsabkommen Europäisches Parlament, Verhandlungen Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Europarecht Europäische Atomgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft = Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft = Gemeinsames Amtsblatt
14 GesBI. GewArch. GG GMBI. G.U. ILO IM (PR
J.O. lit. M.B. Min. BI. nds. Min. BI. NJW OVG prOVG prOVGE prPVG RabelsZ Rdn. RGBI.
RM.C.
SEW StGB VGH VO VVDStRL VwGO ZaöRV ZgesStW
Abkürzungsverzeichnis Gesetzblatt Gewerbearchi v Grundgesetz Gemeinsames Ministerialblatt Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana International Labour Organisation Innenministerium Internationales Privatrecht Journal Officiel de la Republique Fran~aise Buchstabe Moniteur BeIge - Belgisch Staatsblad Ministerialblatt Niedersächsisches Ministerialblatt Neue juristische Wochenschrift Oberverwaltungsgericht (ehemaliges) Preußisches Oberverwaltungsgericht Entscheidungen des (ehemaligen) Preußischen Oberverwal tungsgerich ts Preußisches Polizei verwaltungsgesetz Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Randnummer Reichsgesetzblatt Revue du Marche Commun Social-Economische Wetgeving Strafgesetzbuch Verwal tungsgerichtshof Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Verwal tungsgerichtsordnung Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
Einleitung Den Bestimmungen des EWG-Vertrages über die Arbeitskräfte, das Niederlassungsrecht und die Dienstleistungen1 , die den freien Personenverkehr aller Angehörigen der Mitgliedstaaten in ökonomisch relevanten Funktionen und die von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit freie Ausübung einer Erwerbstätigkeit innerhalb der ganzen Gemeinschaft ermöglichen sollen, wird eine außergewöhnlich starke integrierende Wirkung zugeschrieben2 • Man darf aber nicht übersehen, daß die betreffenden Vertragsartikel nur eine langfristige Entwicklung in Richtung auf die in ihnen umrissenen Ziele einleiten konntenS, die bis zum Ende der übergangszeit abgeschlossen sein sollte, tatsächlich aber bis heute lückenhaft geblieben ist4• Das hat seine Ursache zum einen zweifellos in den der Materie innewohnenden Schwierigkeiten5, andererseits können diese allein den Rückstand nicht hinreichend erklären. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß die Mitgliedstaaten manche Sonderregelungen für Ausländer nur deshalb so zögernd aufgeben, weil sie den eigenen Interessen dienlich sind. Während eine solche wenig gemeinschaftsfreundliche Grundhaltung die weitere Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs aber nur bremsen, nicht aber verhindern kann, läßt sie befürchten, daß die Mitgliedstaaten darüber hinaus versuchen könnten, die bereits erzielten Fortschritte in diesen Bereichen zu unterlaufen. Als Mittel dazu bieten sich die im Gemeinschaftsrecht enthaltenen Vorbehaltsklauseln an6 • Vielfältige Beispiele bi- und multilateraler Niederlassungsabkommen machen deutlich, wie leicht 1 Art. 48 ff. EWGV, Art. 52 ff. EWGV und Art. 59 ff. Artikel ohne nähere Bezeichnung sind solche des EWGV. 2 VgI. etwa Catalano, S. 255 ff.; Chesne, S. 24; Braun, R. M. C. 1959, 437; Desmedt, S. 55; siehe auch Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 1969, Nr. 9/101 S. 28. 3 Siehe dazu z. B. Maestripieri, R. M. C. 1971, 56. 4 Nur die Freizügigkeit der Arbeitnehmer konnte mit der VO der Kommission Nr. 1251170 v. 29. 6. 1970, ABI. Nr. 142/24 (Verbleiberecht) endgültig hergestellt werden, vgI. Bülow, Europarecht 71, 168; man kann den Zeitpunkt ihrer Verwirklichung sogar schon früher ansetzen, vgI. Art. 1 der VO(EWG) 1612/68 v. 15.10.68; ABI. Nr. 257/2 v. 19.10.1968. Zum Stand der Niederlassungsfreiheit am Ende der übergangszeit vgI. Sitzungsdok. Nr. 234 des Europäischen Parlaments vom 9. 2. 1971. G Zu den Gründen des Rückstandes im einzelnen Maestripieri, R. M. C. 71, 55. 6 VgI. Art. 48 Abs. 3 und Abs. 4 und Art. 55 und 56 Abs. 1.
16
Einleitung
das, was mit einer Hand gegeben, mit der anderen wieder genommen werden kann. Der Hinweis auf diese herkömmlichen völkerrechtlichen Verträge, der grundsätzlich wegen des völlig anderen Charakters des EWG-Vertrages nur mit größter Zurückhaltung gegeben werden kann, drängt sich in der angesprochenen Frage geradezu auf, da es hier wie dort in erster Linie Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit sind, die in den Vorbehaltsklauseln zugunsten der jeweiligen Staaten genannt werden. Die Tatsache, daß gerade diese kaum faßbaren Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zur Begründung möglicher Ausnahmen verwendet werden, macht deutlich, daß die Realisierung der in diesen Vertragskapiteln niedergelegten Ziele in ganz besonderem Maße davon abhängt, welche Bestimmung diese Vorbehaltsklauseln bzw. die sie prägenden Begriffe erfahren haben, und inwieweit sich die Mitgliedstaaten ihrer bedienen können. Natürlich kann man die betreffenden Bestimmungen nicht isoliert betrachten, sie sind vielmehr eingbettet in das System der Freizügigkeit, des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs zu würdigen. Dieses ist seinerseits wiederum nur verständlich, wenn man es auf dem Hintergrund der Beschränkungen sieht, denen der freie Personenverkehr, und die ungehinderte Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Europa vor Inkrafttreten des EWG-Vertrages unterlagen und alle die Versuche berücksichtigt, die zu jener Zeit unternommen worden sind, um in diesem Bereich Änderungen herbeizuführen.
Erster Teil
Die Freizügigkeit Erstes Kapitel
Die Entwicklung der Freizügigkeit in Europa vor Inkrafttreten des EW G -Vertrages I. Vorbemerkung Der Stellenwert der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen betreffend die Freizügigkeit1 und der durch sie bewirkten Veränderungen ergibt sich aus einem Überblick darüber, in welchem Umfang in Europa in der Vergangenheit, d. h. bis zum Inkrafttreten des EWG-Vertrages, die Einreise und der Aufenthalt von Ausländern zu Zwecken der Erwerbstätigkeit, und die Ausübung einer solchen erschwert oder gar unterbunden worden sind. Das breite Spektrum der ausländerpolizeilichen Vorschriften und aller der Bestimmungen, die Ausländer an einer beruflichen Betätigung behinderten und gegenüber den Angehörigen des jeweiligen Aufenthaltsstaates benachteiligten, machen die Aufgaben deutlich, denen das Gemeinschaftsrecht gerecht werden muß. Darüber hinaus bieten die vielfältigen Versuche, mehr Freizügigkeit zu schaffen, interessante Vergleichsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Ansatzpunkte und die Gründe für ihre durchweg nur sehr geringe Effektivität.
n. Die Entwicklung bis zum Jahre 1914 Nicht selten findet man in der Literatur die Feststellung, bis zum Beginn des ersten Weltkrieges hätten die meisten europäischen Staaten 1 Der Begriff der Freizügigkeit wird hier nicht im engen Sinne der Art. 48 ff. EWGV verwendet, der nur die Ausübung unselbständiger Erwerbstätigkeit durch Ausländer umfaßt, vielmehr ist jede Art der Erwerbstätigkeit einbezogen; ebenso z. B. Bülow, Die Rechtsstellung des einzelnen in der EWG, S. 80. Man hat es also mit drei verschiedenen Begriffen der Freizügigkeit zu tun: Mit dem des Art. 48 EWGV, dann einem Oberbegriff, der die Ausübung
2
Bongen
1. Teil, 1. Kap.: Freizügigkeit vor Inkrafttreten des EWGV
18
nicht zwischen interner und zwischenstaatlicher Freizügigkeit unterschieden, Arbeitnehmer und Selbständige hätten ohne Paß und Sichtvermerk frei ein- und ausreisen können und überall jeder beliebigen Erwerbstätigkeit nachgehen können2 • Das trifft indessen nur für eine kurze Periode insoweit zu, als damit das Grundprinzip angesprochen werden soll, das ein Recht der freien Niederlassung auch auf dem Gebiet fremder Staaten vorsah. Dieses verdankt seine Entstehung und Ausbildung der durch die Französische Revolution 3 ausgelösten Freiheitsbewegung des liberalen 19. Jahrhunderts 4 und hatte die Versagung der Aus- und Einreise zur Ausnahme gemacht5 • So wurde im Jahre 1867 durch das Paßgesetz des Norddeutschen Bundes6 , das später als Reichsgesetz weitergalt, der Paßzwang auch für Ausländer aufgehoben. Ähnliches geschah in anderen europäischen Staaten, in denen die Paßgesetze zumindest außer Anwendung gerieten7 • Das heißt aber nicht, daß sich nicht insbesondere ausländische Arbeitnehmer vielfältigen Hindernissen und Diskriminierungen ausgesetzt gesehen hätten, die ihnen nur allzuoft die Tätigkeit im Ausland unmöglich gemacht haben. So wurden in Preußen schon in den 80iger und zu Anfang der 90iger Jahre des letzten Jahrhunderts gegen ausländische polnische Arbeiter8 Aufenthaltsverbote und Massenausweisungen verhängt, und es gab starke Bestrebungen, die Einreise und den Aufenthalt dieser Personen nicht zuletzt aus "nationalpolitischen Erwägungen"9 ganz zu unterbinden10• Wenn auch der große Bedarf an Arbeitskräften solche Schritte unmöglich machte, wurde in der Folgezeit doch eine ganze Palette diskriminierender Maßnahmen entwickelt: Die sogenannte Karenzzeit sollte das Seßhaftwerden dieser Arbeitnehmer verhindernl1 , und immer wieder wurde versucht, die Beschäftigung von Ausländern durch Polizeiverordnungen genehmigungspflichtig zu machen12 • In anderen deutjeder Art von Erwerbstätigkeit durch Ausländer umfaßt, und schließlich dem des Art. 11 GG, der nicht nur mit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu tun hat. 2 Vgl. z. B. Schiefer, S. 2; Baudhuin, S. 13. 3 Siehe Titel I der französischen Verfassung vom 3.9.1791; vgl. auch Soder, Handbuch des internationalen Flüchtlingsrechts, Bd. I, S. 8 Anm. 14; Mangoldt / Klein, Bd. I, S. 347, Anm. 8. 4 Franz, DVBl. 63, 797 ff. S Soder, S. 8; Scheuner, S. 208 ff. 6 Paß gesetz des Norddt. Bundes vom 17. 10.1867, EGBL 1867/33. 7 Vgl. Bertelsmann, S. 25 und 42; Rehm, S. 471. 8 Sie machten den ganz überwiegenden Teil der ausländischen Arbeitskräfte aus. Statistische Angaben dazu bei Stirn, S. 28; vgl. auch Bodenstein,
S. 10 ff. 9 10 11 12
Knocke, S. 41. Stirn S. 30.
Einzelheiten bei Bodenstein, S. 10, Schiefer, S. 241; Becker, S. 114.
und Stirn, S. 30.
H. Die Entwicklung bis zum Jahre 1914
19
schen Ländern wurde von ausländischen Arbeitnehmern eine besondere Steuer erhoben 13, oder der Zuzug von Ausländern unter den Vorbehalt gestellt, daß Gründe der Arbeitsmarktlage dies zwingend erforderlich machten. Eine grundlegende Änderung trat mit der Einführung des Legitimationszwanges ein, zu dessen Rechtfertigung Gründe der öffentlichen Ordnung und der staatlichen Sicherheit geltend gemacht wurden14. Preußen machte damit in den Jahren 1907 bzw. 1909 den Anfang15, die anderen deutschen Länder schlossen sich dieser Maßnahme teilweise an16. In der Praxis wurde der Legitimationszwang dazu benutzt, den Zuzug von Ausländern nur aus wirtschaftlichen Gründen zu gestatten17. Insgesamt kann man feststellen, daß im Deutschen Reich vor 1914 nicht in dem Maß Freizügigkeit herrschte, wie man das etwa nach dem Paßgesetz annehmen könnte18. Sondervorschriften für Ausländer aus " sanitären, sittlichen und politischen" Gründen19 waren schon damals zur Regel geworden. Andererseits wurden bereits in dieser Zeit Forderungen gegen diese "Prohibitivmaßnahmen" laut20 : Es wurde sogar die Abschaffung aller für Ausländer diskriminierender Bestimmungen gefordert21 . Auch im europäischen Ausland sah die Situation kaum anders aus. Zwar hielt beispielsweise Frankreich an seiner Tradition in bezug auf zwischenstaatliche Freizügigkeit fest und kannte vor dem 1. Weltkrieg kaum Beschränkungen genereller Art22 , die aus der Zeit nach der Französischen Revolution stammende Ausländergesetzgebung räumte den 13 Auch in Frankreich wurde 1892 und 1898 der Versuch unternommen, eine solche Kopfsteuer einzuführen. 14 Die von der "Deutschen Feldarbeiterzentrale" vgl. zu dieser Einrichtung Knocke, S. 38 - ausgegebenen "Arbeiterlegitimationskarten" galten als Ausweispapiere i. S. d. § 3 des Paßgesetzes v. 17.10.1867, da dieses Gesetz aber einen allgemeinen Paßzwang nicht vorsah, mußte sich ihre Einführung auf die genannten Gründe stützen. 15 Der Paßzwang wurde dagegen erst kurz vor dem 1. Weltkrieg allgemein eingeführt, vgl. RGBL l 1914, 264. 16 Anders dagegen insbesondere Bayern, Baden und Württemberg; eine Gesamtübersicht gibt Becker, S. 114 ff. 17 Vgl. dazu insbes. Bodenstein, S. 9 ff.; im Widerspruch dazu standen die offiziellen Verlautbarungen, vgI. den preuß. Ministerialerlaß v. 31. 5. 1909. 18 Nur die Lage der Selbständigen war günstig. 19 Staatssekretär Delbrück vor dem Reichstag, Sitzungsbericht der 65. Sitzung vom 18. 5. 1912, S. 2106. 20 So der "Mitteleuropäische Wirtschaftsverein" auf seiner Budapester Konferenz v. 7. und 8. 10. 1910. 21 lnt. Sozial. Arbeiterkongreß, Stuttgart 1907, Pkt. l 3 der Resolution. Die deutschen Gewerkschaften haben dagegen nicht selten "lmportverbote" für ausI. Arbeiter gefordert. 22 Latournerie, S. 30 ff. Ähnliches gilt für Luxemburg, wo noch im Gesetz über die Fremdenpolizei v. 30. 12. 1893 innerstaatliche Freizügigkeit und Freizügigkeit für Ausländer gleichgestellt waren, vgI. Schiefer, S. 259.
20
I. Teil, 1. Kap.: Freizügigkeit vor Inkrafttreten des EWGV
Behörden aber einen nahezu unbegrenzten Spielraum ein23 , den diese regelmäßig zuungunsten der Betroffenen ausschöpften24 • In Belgien wurde an denselben Gesetzen, die nach der Unabhängigkeitserklärung in Kraft geblieben waren, zwar immer wieder heftige Kritik geübt25 , die Regierung sah aber von Anfang an ihre Aufgabe in einer verschärften überwachung des Zustroms von Ausländern. Trotzdem darf man nicht verkennen, daß ausländische Arbeitnehmer vor dem 1. Weltkrieg in mancher Hinsicht besser gestellt waren als in den folgenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts26, und so wird es verständlich, daß sich die Zahl ausländischer Arbeitnehmer in den Industrienationen in Größenordnungen bewegte, die mit den heutigen durchaus vergleichbar sind 27• In der Wissenschaft war die Idee eines allgemeinen Freizügigkeitsrechts so stark, daß die Frage, ob und in welchem Umfang eine völkerrechtliche Verpflichtung aller Staaten bestehe, fremden Staatsangehörigen die Einreise und den Aufenthalt zu ermöglichen, durchaus diskutiert wurde 28 • So bejahten die Vertreter der Lehre von der "Zwischenabhängigkeit der Mitglieder der Völker gemeinschaft" eine solche Pflicht eines jeden Staates, auch ohne besondere Abkommen diese Möglichkeiten zu eröffnen und räumte ihnen nur das Recht ein, sie in Einzelfällen aus Gründen der Gefahrenabwehr zu beschränken29 •
111. Die Entwicklung bis zum Jahre 1939 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden kaum noch Versuche unternommen, die verlorene Freizügigkeit wiederzugewinnen, ganz im Gegenteil: In Deutschland wurde die Beschäftigung von Ausländern von 1921 an immer stärker beschränkt30 • Es wurden Genehmigungen erforderlich, die von Bedürfnisprüfungen abhingen, und zur Anpassung an Schwankungen des Arbeitsmarktes wurden mit einigen Herkunftslän23
24 25 26
27
Vgl. insbes. Art. 7 des Gesetzes vom 19. 10. 1797. Godding, S. 301 ff. Gilissen, S. 231 ff. Schiefer, S. 3. Vgl. z. B. Ahl, S. 12; Stirn, S. 28. In den Niederlanden und insbesondere
in Italien erreichte die Ausländerbeschäftigung bei weitem nicht das Niveau der anderen Staaten, ohne daß das auf eine restriktive Ausländerpolitik zurückzuführen wäre. 28 Franz, DVBl. 63, 797, 798 m. w. N. 29 Bluntschli, Art. 381 ff.; FauchiHe / BonfHs, S. 381 ff.; von Frisch, S. 132; ebenso auch wiederholt die Mitglieder des Instituts für internationales Recht, vgI. z. B. die Genfer Resolution von 1892, Delessert, S. 174. 30 VgI. insbes. die Erlasse des Reichsjustizministers, Min. BI. vom 2.5.1921; 8.9.1921; 4.11.1921; 2.1.1923; 2.7.1924; 7.1.1927. Siehe außerdem Reichsarbeitsblatt, VO v. 23.1.1933 und VO vom 19.12.1922; dazu Schiefer, S. 242.
IV. Die Entwicklung nach 1945
21
dern Abkommen geschlossen, die Arbeiterkontingente vorsahensI. Von 1928 an wurden Arbeitsgenehmigungen überhaupt nicht mehr erteilt. Nicht anders verlief die Entwicklung in den übrigen europäischen Staaten: Überall traten neben den Paß- und Visumzwang administrative Maßnahmens2 , und auch die teilweise schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Anwerbevereinbarungen 33 sind kein Zeichen wiedergewonnener Freizügigkeit, sondern signalisieren die zunehmende Reglementierung. IV. Die Entwicklung der Freizügigkeit nach 1945 1. Nationales Recht
Im wirtschaftlich am Boden liegenden Europa gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst kaum Tendenzen, mehr Freizügigkeit zu schaffen34, vielmehr knüpfte man ganz überwiegend direkt an die Ausländerpolitik der Vorkriegszeit an. So blieben in der Bundesrepublik Deutschland die strengen Maßnahmen zum Schutz des nationalen Arbeitsmarktes erhalten35 • Gleiches gilt für Belgien, wo der königliche Beschluß vom 31. 3. 1936 zunächst auch die Nachkriegsentwicklung bestimmte. In Frankreich wurde zwar bald nach Kriegsende die Einreise, der Aufenthalt und die Arbeitsausübung von Ausländern neu geregelt, auch hier war eine Liberalisierung aber nicht zu verzeichnen. 2. Bi- und multilaterale völkerrechtliche Verträge30
a) Bilaterale Verträge 37 Bilaterale Niederlassungsabkommen38 sind grundsätzlich dazu bestimmt, die Angehörigen des jeweiligen Vertragspartners gegenüber 31 32
Stirn, S. 38. Melnyk, S. 24.
33 Vgl. die Abkommen Frankreichs mit Polen und der Tschechoslowakei, vgl. Latournerie, S. 31. 34 Versuche, das Fremdenrecht insgesamt als Problem des Völkerrechts zu behandeln, blieben ohne praktische Wirkungen; Schnitzer in Strupp / Schlochauer, S. 569. 35 Vgl. APVO v. 22.8.1938, RGBl. 1938 I S. 1063, § 2; PaßVO idF v. 30.6.53, § 3 Abs. 2 lit. f S. 3, vgl. Weicken, S. 11; VO über die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte vom 23. 1. 1933, später § 43 AVAVG. 38 Ohne das Recht der EWG. 37 Ohne die sog. Saisonarbeiterverträge, Grenz- und Gastarbeitnehmerabkommen; vgl. Ahl, S. 13; Weicken, S. 12. 38 Vgl. z. B. das dt.-franz. Niederlassungsabkommen v. 27. 10.56, BGBl. II S. 1661; zu den Niederlassungsabkommen allg. Ganshof van der Meersch, Nr. 1858/59; Everling, Niederlassungsrecht, S. 22 Anm. 24.
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I. Teil, 1. Kap.: Freizügigkeit vor Inkrafttreten des EWGV
Ausländern anderer Staatsangehörigkeit zu privilegieren, ihnen die Einreise und den Aufenthalt zu ermöglichen sowie ihre Entfernung aus dem Hoheitsgebiet nur noch in engen Grenzen zuzulassen. Sie sind damit ein Zeichen fehlender allgemeiner Freizügigkeit. Obendrein brachten solche Verträge tatsächlich nur eine geringfügige Besserstellung des begünstigten Personenkreises, da ihre Wirksamkeit regelmäßig durch umfassende Vorbehalte eingeschränkt wurde 39 • So steht die Zulassung der Staatsangehörigen des jeweiligen Vertragspartners immer unter dem ausdrücklich hervorgehobenen Vorbehalt des nationalen Ordre Public'o. Die Entscheidung darüber, wann Gründe desselben vorliegen, ist allein dem Aufnahmeland vorbehalten'!, und es ist deshalb nicht verwunderlich, daß davon im weitesten Umfang Gebrauch gemacht wird42 . Es können insbesondere Gesichtspunkte der wirtschaftlichen Gesamtlage und der des Arbeitsmarktes ins Feld geführt werden 43, so daß insgesamt kaum ein Unterschied gegenüber der Rechtslage nach den allgemein geltenden Ausländergesetzen zu verzeichnen ist, in denen regelmäßig die Einreise und der Aufenthalt aus denselben Gründen verweigert werden können. Wenn trotzdem eine sehr große Zahl ausländischer Arbeitnehmer in den westeuropäischen Industriestaaten tätig ist, so ist das überwiegend auf besondere "Anwerbevereinbarungen"44 zurückzuführen. Sie tragen aber in keiner Weise zu mehr Freizügigkeit bei, sondern sehen nur ein System vor, das es einem beschränkten Interessentenkreis nach einem strengen Ausleseverfahren45 für einen Zeitraum von wenigen Jahren ermöglicht, im Aufnahmeland einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. 39 So sieht Art. I des dt.-franz. Niederlassungsabkommens zwar vor, daß die Angehörigen beider Staaten in den anderen Staaten einreisen und sich dort aufhalten können, stellt diese Vereinbarung aber unter den Vorbehalt aller in Kraft befindlichen Gesetze und anderen Vorschriften. Zur Reichweite dieser und ähnlicher anderer Vorbehalte Schütterle, DVBl. 71, 347 m. w. N.; OVG Lüneburg in NJW 70, 1515; Kloesel / Christ, Anm. 2 zu Art. 2 des dt.-türk. Niederlassungsabkommens. 40 Vgl. Fehlot, S. 27; Jaenicke, S. 2. 41 So ausdrücklich in Nr. 3 Abs. a des Protokolls zum dt.-franz. Niederlassungsabkommen. 42 Die beispielsweise von Jaenicke, S. 2, befürwortete enge Auslegung entspricht nicht der Praxis. 43 Vgl. etwa das Urteil des BVerG vom 18. 12. 69 zum dt.-griech. Niederlassungsvertrag vom 18. 3. 60, BGBl. II 62, 1505, DVBI. 70, 623. 44 Die erste Anwerbevereinbarung schloß die BRD am 20. 12. 1955 mit Italien, BAnz. vom 17.1. 1956. 45 Regelmäßig werden nicht nur Gesundheit, Alter und Eignung der Bewerber geprüft, sondern auch Gesichtspunkte der öffentlichen Ordnung und Sicherheit des Aufnahmelandes. So wurde beispielsweise durch § 5 Abs. 2 der zweiten Anwerbevereinbarung mit Italien vom 16.4.1962 - BAnz. Nr. 200 v. 19.10.1962 - das italienische Ministerio deI Lavoro verpflichtet, keine Bewerber vorzustellen, die nach den deutschen Rechtsvorschriften aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die Einreise ungeeignet erschienen. In der ersten An-
IV. Die Entwicklung nach 1945
23
b) Multilaterale Verträge 46
Eine gewisse Ähnlichkeit mit den bilateralen Niederlassungsabkommen weist das europäische Niederlassungsabkommen auf47 : Auch seine Auswirkungen blieben wegen weiter nationaler Vorbehalte und Einschränkungsmöglichkeiten gering. Einmal konnte jeder Staat bei Unterzeichnung des Vertrages und bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunden Vorbehalte zu bestimmten Vertragsregelungen machen, soweit widersprechende Bestimmungen innerstaatlichen Rechts es erforderlich machten48 • Darüber hinaus steht beispielsweise die Verpflichtung zur Erleichterung eines längeren oder dauernden Aufenthalts von Angehörigen anderer Unterzeichnerstaaten unter dem Vorbehalt, daß die "wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse" dies gestatten49 • Jedem Staat ist es dabei selbst überlassen festzulegen, was darunter zu verstehen ist50 • Das gilt auch für die Gründe der "öffentlichen Ordnung, der Sicherheit, der Volksgesundheit oder der Sittlichkeit"51, die ebenfalls Ausnahmen rechtfertigen können 52 • Nicht genug damit, anstatt den weiten Begriff der öffentlichen Ordnung in irgend einer Form zu bestimmen und dadurch die Vorbehaltsklausel einzugrenzen, wird in den Protokollen, die Bestandteil des Vertrages sind53, ausdrücklich festgestellt, daß dieser Begriff "in dem weiten Sinne, in dem er im allgemeinen in den kontinentalen Ländern" verstanden wird, zu interpretiewerbevereinbarung waren dagegen nur solche Bewerber ausgeschlossen, die "andere als geringfügige Strafen" aufwiesen und wiederholt wegen "asozialen Verhaltens" in Erscheinung getreten waren. 48 Auch dieser überblick kann nicht abschließend sein, die Vielzahl der Verträge, die die Grundsituation ohnehin meist nur in Details änderten, ist kaum zu überblicken. Sie sind sehr unterschiedlicher Natur, man denke etwa an das übereinkommen Nr. 111 der ILO vom 25.7. 1959, BGBl. 1961, II, 97, das Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf abhelfen sollte, den Ratsbeschluß des Europäischen Wirtschaftsrates vom 30. 10. 1953, BAnz. Nr. 75 vom 17.4.1957 oder die Bemühungen im Rahmen der EFTA um mehr Freizügigkeit; vgl. dazu Fröhlich, S. 9 und 11. 47 Vom 13. 12. 1955; BGBl. 1959, II, 997; Inkraftgetreten am 23.2.1965 gemäß Bekanntmachung des Bundesministers des Auswärtigen vom 30.7.1965, BGBl. 1965, II, 1099. 48 Vgl. Art. 26 und Abschnitt VII, Art. 32, des Protokolls zu Art. 26. 49 Art. 2 ENA. Für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit trifft Art. 10 ENA eine ähnliche Regelung. Durch das Abkommen sollte auch die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit erleichtert werden, vgl. Art. 5 des Abkommens. Aber auch hier gilt die Voraussetzung, daß keine wichtigen Gründe wirtschaftlicher und sozialer Art entgegenstehen. Die selbständige Erwerbstätigkeit wird also nur in einer mit der "wirtschaftlichen Konjunktur" zu vereinbarenden Weise hergestellt, vgl. den Briefwechsel zum Abkommen vom 27. 10. 1956. 50 Protokoll zu verschiedenen Vertrags artikeln, Abschnitt I lit. a, 2. 51 Abschnitt I lit. a, 1 des Protokolls. 52 In Art. 1 des Vertrages betreffend die Einreisemöglichkeit, in Art. 3 die Ausweisung. 53 Vgl. Art. 32 des Vertrages.
I. Teil, 1. Kap.: Freizügigkeit vor Inkrafttreten des EWGV
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ren sei. Danach kann insbesondere die Einreise von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten aus politischen Gründen verweigert werden54 • Nur in engen geographischen Grenzen55 gelang es, eine sehr viel größere Freizügigkeit zu schaffen: Im Jahre 1954 wurde ein gemeinsamer skandinavischer Arbeitsmarkt geschaffen56 ; Dänische, schwedische, norwegische und finnische Staatsangehörige brauchten danach weder einen Paß, noch eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Arbeitserlaubnis, um in einem dieser Staaten einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Ein weiterer gemeinsamer Arbeitsmarkt entstand für den Bereich der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs durch das Beneluxabkommen57 , nachdem diese Staaten schon zuvor durch enge vertragliche Vereinbarungen ein relativ großes Maß an Freizügigkeit geschaffen hatten 58 • Dieser Vertrag setzt die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in die Lage, das Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien beliebig zu betreten und zu verlassen59, und räumt ihnen Inländerbehandlung insbesondere hinsichtlich der Ausübung gewerblicher und beruflicher Tätigkeiten ein60 • Er stellt Einreise, Ausreise, Freizügigkeit, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung zwar ebenfalls unter den Vorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, der Gesundheit und der guten Sitten61 , und trägt selbst nichts zur Bestimmung oder Eingrenzung dieser Begriffe bei, die Vertragsstaaten haben aber in einem besonderen Abkommen zur Ausführung der Art. 55 und 56 des Beneluxabkommens62 eine sorgfältig abgestufte Regelung über die Reichweite der Vorbehaltsklauseln getroffen63 ; Die Niederlassung wird danach ausschließlich an die Voraussetzung ausreichender Existenzgrundlagen und eines guten Leumunds geknüpft64 , und nur die Ausweisung wird in weiterem Rahmen zugelassen, sie setzt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit vorausG5 • Abschnitt UI, lit. a des Protokolls zu Art. 1, 2 und 3 des Vertrages. Es fanden sich nur Staaten zusammen, die keine so großen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede aufwiesen, wie das zwischen den Unterzeichnerstaaten des Europäischen Niederlassungsabkommens - den Mitgliedern des Europarates - der Fall ist. 58 Vgl. dazu Hampel, S. 29. 57 Vom 3.2.1959, vgl. etwa das belgische Zustimmungsgesetz vom 20.6.1960, Moniteur beIge, 27.10.1960. Auszüge auch bei Erdmann, S. 340. Siehe auch van Gerven, in: Ganshof van der Meersch, Nr. 1860 m. w. N. 58 Hampel, S. 29; Verhoeven, droit du Benelux, S. 443. 59 Art. 2 Abs. 1 des Beneluxabkommens. 80 Art. 2 Abs. 2 des Beneluxabkommens. u Art. 55 des Beneluxabkommens. 82 Vom 19.9.1960, vgl. z. B. Moniteur BeIge 1963, 9339. Siehe dazu Verhoeven, droit du Benelux, S. 444. 83 Verhoeven, systeme juridique beIge, S. 300. 84 Art. 2 dieses Ausführungsabkommens. 85 Art. 4 desselben Abkommens; vgl. auch Art. 5. 54
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IV. Die Entwicklung nach 1945
25
Aber nicht nur deshalb ist das Beneluxabkommen auch heute noch neben den Bestimmungen über die Freizügigkeit, das Niederlassungsrecht und die Dienstleistungen im EWG~Vertrag von erheblicher Bedeutung 66, es faßt auch den begünstigten Personenkreis weiter und schließt nicht nur diejenigen Staatsangehörigen ein, die die Ausübung einer Erwerbstätigkeit beabsichtigen. Das hat dazu geführt, daß im Ausländerrecht der Mitgliedstaaten der Beneluxunion zwischen den Angehörigen dieser Staaten und denen der übrigen Mitgliedstaaten der EWG differenziert wird67 . Das ist nicht zuletzt auch eine Folge jener Bestimmung, die eine Ausweisung nach dreijährigem Aufenthalt nur noch dann zuläßt, wenn dieser eine Gefahr für die staatliche Sicherheit darstellt, oder er, falls der Betroffene wegen eines Vergehens oder Verbrechens rechtskräftig verurteilt ist, eine Gefahr für die Gesellschaft des Aufenthaltsstaates dar~tellt68. 3. Freizügigkeit nach dem EGKS-Vertrag
In Art. 69 § 1 EGKSV verpflichten sich die Mitgliedstaaten, alle Beschränkungen hinsichtlich der Beschäftigung anerkannter Kohle- und Stahlfacharbeiter zu beseitigen, die auf der Staatsangehörigkeit beruhen. Zulässig bleiben allein Beschränkungen, die sich aus "grundlegenden Erfordernissen der Gesundheit und der öffentlichen .Ordnung ergeben"69. Der allein verbindliche französische Originaltext und auch die amtliche deutsche übersetzung des Vertrages enthalten den Begriff der Freizügigkeit in Art. 69 überhaupt nichFo, lediglich der Ausdruck "mouvement" in der Überschrift des VIII. Kapitels des EGKS-Vertrages wird in der unverbindlichen amtlichen deutschen übersetzung mit " Freizügigkeit " wiedergegeben71 • . Diese zurückhaltende Terminologie des Montanvertrages ist durchaus angebracht: Freizügigkeit ist keines der von diesem Vertrag selbständig 8e Man muß andererseits aber auch die einschränkenden Sonderbestimmungen in Art. 10 und 11 des Abkommens zwischen den Vertragspartnern über die Verlegung der Personenkontrolle an die äußeren Grenzen des Beneluxgebietes berücksichtigen, vgl. M. B. 1. 7.1960. 67 Vgl. z. B. Art. 96 des niederl. Vreemdelingenbesluit. . e8 Art. 5 des zitierten Ausführungsabkommens vom 19. 9. 1960. GD Art. 69 § 1, 2. Halbsatz des EGKSV; vgl. zu Art. 69 EGKSV das Gesetz über den Beschluß vom 8. 12. 1954 betreffend die Anwendung des Art. 69 vom 30. 5. 1956, BGBl. II, S. 99 und das Gesetz vom 4.4. 1963, BGBL II,
S.173.
70 Die in den meisten deutschen Textausgaben für Art. 69 EGKSV verwendete überschrift "Freizügigkeit" hat keinerlei offiziellen Charakter. 71 Vgl. Petz I ZöHner, S. 20.
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r. Teil, 1. Kap.: Freizügigkeit vor Inkrafttreten des EWGV
angestrebten Ziele72 , sie wird nur insoweit gewährt, als sie zur Verwirklichung der Vertragszwecke erforderlich ist: Der EGKS-Vertrag strebt für einen genau bestimmten Personenkreis die Abschaffung aller der Beschränkungen an 73 , die der Aufnahme und Ausübung der von ihm erfaßten und im einzelnen festgelegten Tätigkeiten entgegenstehen. Man kann von Freizügigkeit hier also überhaupt nur dann sprechen, wenn man darunter lediglich ein diesen Bereich umfassendes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit verstehen will. Wie alle bi- und multilateralen Verträge, die bereits angesprochen wurden, enthält auch der Montanvertrag in Art. 69 § 1 einen Vorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der auf Grund seiner weiten Fassung erhebliche Gefahren in sich birgt. Um so mehr muß es enttäuschen, daß auf die Festlegung dieser Beschränkung entsprechend dem ausdrücklichen Gebot des Art. 69 § 2 EGKS-Vertrag einverständlich verzichtet worden ist74 • 4. Zusammenfassung
Diese Übersicht zeigt, daß der Erfolg der Bemühungen um mehr Freizügigkeit ganz überwiegend nur gering war, da sich die angesprochenen Staaten immer wieder die Möglichkeit vorbehielten, den Zustrom, den Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit von Ausländern zu steuern und nur in dem Rahmen zuzulassen, in dem sie es mit ihren eigenen Interessen für vereinbar hielten75 • Die erste Barriere, der sich Ausländer regelmäßig gegenübersahen, bestand in der Aufenthaltserlaubnis. Wenn auch die sprachliche Fassung der Gründe, aus denen sie versagt werden konnte, im einzelnen unterschiedlich war76 , diente sie doch in jedem Falle dazu, beliebigen, der Einreise und dem Aufenthalt von Ausländern entgegenstehenden staatlichen Interessen Vorrang zu verschaffen. Wirksame Rechtsmittel standen dem Betroffenen gegen eine Ablehnung nicht zur Verfügung 77 • Vgl. Art. 2 und Art. 4 EGKSV. Das ist mittlerweile verwirklicht. 74 Siehe dazu Petz / Zöllner, S. 21. 75 Einen überblick über die bestehenden Hindernisse in allen hier angesprochenen Staaten geben z. B. Fleck, Int. Niederlassungsrecht, und Schiefer, S. 241 ff. 76 In der BRD konnte u. a. eine Gefahr für die "öffentliche Sittlichkeit" berücksichtigt werden, vgl. Gesetz über das Paßwesen vom 4.3. 1952, BGBl. I, 290, in Frankreich eine Gefahr für den "credit public" und in Belgien wurde die Gefährdung der Wirtschaft ausdrücklich erwähnt; weitere Beispiele in der übersicht bei Hampel. 77 Lyon-Caen, S. 699; in Frankreich war dem Betroffenen der Zugang zum Conseil d'Etat überhaupt verwehrt, vgl. Rondepierre, S. 21, Nr. 72. 72
73
IV. Die Entwicklung nach 1945
27
Die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit wurde zusätzlich in erster Linie durch die in praktisch allen hier angesprochenen Staaten erforderliche Arbeitserlaubnis erschwert78 • Die Hindernisse, die der Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeit entgegenstanden, waren dagegen sehr unterschiedlicher Natur: Ein Teil der späteren Mitgliedstaaten der EWG79 kannte zwar weniger spezielle Hindernisse für Ausländer, dafür sahen sie aber strenge Berufsregelungen als Regulativ vor. Solche Vorschriften drosselten den Zustrom von Ausländern, da diese die erforderlichen Ausbildungsund Prüfungsnachweise in aller Regel nicht erbringen konnten 8o • Die übrigen Staaten sahen dagegen auch für Ausländer, die selbständig erwerbstätig sein wollten, bestimmte Erlaubnisse vor 81 , die ihnen vielfach verwehrt wurden 82 • Der Erfolg der Bestimmungen des EWG-Vertrages wird daran zu messen sein, inwieweit es ihnen gelungen ist, diese Beschränkungen abzubauen.
78 Zweck der Arbeitserlaubnis war es, die nationalen Arbeitsmärkte inländischen Arbeitnehmern freizuhalten, vgl. Europäische Dokumentation, S. 2. In Belgien war neben der "permis de travail" ein Gesundheitszeugnis und ein polizeiliches Führungszeugnis erforderlich. In Frankreich gab es vier verschiedene Arten von Arbeitskarten, deren Erteilung an strenge gesundheitliche Voraussetzungen geknüpft war und die erst nach überprüfung der polizeilichen und moralischen Führung erteilt wurde. 79 Dazu gehören insbesondere die BRD und Luxemburg. 80 Man denke etwa an den großen Befähigungsnachweis für Handwerker; vgl. dazu FröhZer, Gewerbearchiv 1961, 146 ff.; aber auch in diesen Staaten gab es einige diskriminierende Bestimmungen, beispielsweise das Erfordernis einer besonderen Reisegewerbekarte für Ausländer in der BRD, § 55 GewO. 81 Hierzu gehörten Frankreich und Belgien, vgl. Everling, Rechtsangleichung, S. 67 m. w. N. 82 In Frankreich wurde beispielsweise die moralische Haltung und die Ehrenhaftigkeit des Antragstellers einer Handelskarte bei deren Erteilung berücksichtigt, dazu das wirtschaftliche und soziale Interesse Frankreichs; siehe dazu Feblot, S. 46 ff.
Zweites Kapitel
Freizügigkeit im EWG-Vertrag I. Vorbemerkung Auf dem Hintergrund dieser Ausführungen über die wichtigsten Hindernisse, der sich Arbeitnehmer und Selbständige gegenübersahen, sollen nunmehr im Vergleich mit den bisher dargestellten Versuchen, mehr Freizügigkeit zu schaffen, die Kapitel über die Arbeitskräfte und die Niederlassungsfreiheit des EWG-Vertrages untersucht werden. Nur dann, wenn über die von ihnen getroffenen Regelungen Klarheit besteht, kann man sich den Vorbehalten und Einschränkungen zuwenden, die im Gemeinschaftsrecht enthalten sind. Die Darstellung der Ausgestaltung, der Wirkung und der Reichweite der Art. 48 ff. und 52 ff. muß aber auf wenige Grundzüge beschränkt werden, die für das Verständnis der Vorbehaltsklauseln unerläßliche Voraussetzung sind.
11. Das Kapitel über die Arbeitskräfte t 1. Der Begriff der Freizügigkeit in Art. 48 ff. EWGV
a) Arbeitnehmerfreizügigkeit Der Begriff der Freizügigkeit2 wird im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nur im Kapitel über die Arbeitskräfte verwendet und ist dort nur in der Wendung "Freizügigkeit der Arbeitnehmer" zu finden s. Allein diese Tatsache zwingt zu dem Schluß, daß der Begriff der Freizügigkeit hier nicht dieselbe Bedeutung haben kann wie beispielsweise in Art. 11 GG, da es keinen Grund gibt, nur Arbeitnehmern das Recht einzuräumen, an jedem beliebigen Ort innerhalb der Gemeinschaft Aufenthalt und Wohnsitz nehmen zu Titel II, Kapitell EWG-Vertrag (Art. 48 - 51). Im Gegensatz zu Art. 69 Montanvertrag wird hier in den verbindlichen Texten (vgl. Art. 248 EWGV) der Begriff der Freizügigkeit verwendet. Im französischen Text ist von "libre circulation du travailleur" die Rede und nicht nur von "mouvement" wie in Art. 69 EGKSV. 3 Art. 48 Abs. 1 und Art. 49 Abs. 1 EWGV. 1
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H. Das Kapitel über die Arbeitskräfte
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können, sich innerhalb des ganzen Gemeinschaftsgebietes frei bewegen und aufhalten zu können4• b) Freizügigkeit als Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots
Was im Vertrag von Rom unter Freizügigkeit zu verstehen ist, ergibt sich zunächst aus Art. 48 Abs. 2: Danach umfaßt die Herstellung der Freizügigkeit die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung von Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten in bezug auf "Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen" gegenüber den eigenen Staatsangehörigen5• Die Freizügigkeit stellt also eine spezielle Ausformung des allgemeinen Diskriminierungsverbots im EWG-Vertrag dar6 und ist damit weiter als der aus dem Verfassungsrecht bekannte Freizügigkeitsbegriff, andererseits aber enger als dieser, weil er nur den Produktionsfaktor Arbeit erfaßt. aa) In sachlicher Hinsicht Der sachliche Geltungsbereich der Freizügigkeit hängt in erster Linie davon ab, was unter "Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen"7 zu verstehen ist. Diese drei Begriffe lassen indessen kaum mehr erkennen, als daß die Freizügigkeit nur im Rahmen der funktionellen Integration zu sehen ist8 und die Mobilität des Faktors Arbeit ermöglichen soll. Sie sind dagegen kaum geeignet, den sachlichen Geltungsbereich des in Art. 48 Abs. 2 enthaltenen Verbots einer unterschiedlichen Behandlung von Arbeitnehmern aus Gründen ihrer Nationalität eindeutig gegenüber Art. 7 Abs. 1 abzugrenzen 9 • Angesichts dieser Problematik liegt es nahe, von vornherein die Notwendigkeit, zwischen dem allgemeinen nationalitätsbezogenen DiskriminierungsC So, wenn man die Definition der Freizügigkeit in Art. 11 GG vgl. BVerfGE 2, 266, 273 - und in Art. 16 Abs. 1 der Verfassung der ital. Republik vom 1. 1. 1948 übertrüge. 5 Zu eng Fröhlich, S. 29, der das Gebot der Inländerbehandlung nur soweit gelten lassen will, als es um eine materielle Gleichwertigkeit geht, eine formelle Gleichbehandlung aber ausschließt und damit beispielsweise weiterhin besondere Erlaubnisse für Ausländer als zulässig ansieht. , Vgl. Art. 7 Abs. 1 EWG-Vertrag. Zum Verhältnis des Art. 7 Abs. 1 zu den besonderen Diskriminierungsverboten vgl. Fe,ige, S. 30 ff. 7 Art. 48 Abs. 2 EWGV. 8 Grabitz, S. 68. Vgl. Art. 69 EGKSV, dort ist überhaupt nur von "Beschäftigung" die Rede. 9 So läßt beispielsweise der Begriff der "Beschäftigung" zunächst nicht erkennen, ob darunter die für die Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit geltenden gesetzlichen Voraussetzungen fallen; so im Ergebnis zu Recht H. Knolle, in: Groeben / Boeckh, Art. 48 Anm. 5 e.
30
I. Teil, 2. Kap.: Freizügigkeit im EWGV
verbot in Art. 7 Abs. 1 und dem speziellen in Art. 48 'Zu differenzieren, mit der Begründung zu verneinen, Art. 7 Abs. 1 umfasse ohnehin den gesamten Anwendungsbereich des ihn konkretisierenden Art. 48. Da jedoch nur das im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehende spezielle Diskriminierungsverbot die Berücksichtigung von Sondervorschriften aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erlaubt, verbietet sich hier ein solches Vorgehen. Gewisse Anhaltspunkte dafür, was unter "Beschäftigung", "Entlohnung" und "sonstigen Arbeitsbedingungen" zu verstehen ist, ergeben sich aus Art. 48 Abs. 3 des Vertrages und den dort aufgezählten Rechten10, die den Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeitsregelungen ausdrücklich gewährt werden. Letztlich wird man in Zweifelsfällen hauptsächlich anhand der Zweckbestimmung dieses Vertragskapitels zu entscheiden haben, wie weit diese Begriffe und der sachliche Geltungsbereich der Freizügigkeit zu fassen sind: Grundsätzlich kann man davon ausgehen, daß der EWG-Vertrag diese umfassend herstellen wolltei!, und damit Art. 48 Abs. 2 staatsangehörigkeitsbezogene Diskriminierungen insoweit ausschließen sollte, als sie in ir~end einer Weise die Ausübung einer Erwerbstätigkeit des von ihr Betroffenen berühren12 • In Einzelfällen können auch die Richtlinien und Verordnungen des Rates über die Freizügigkeit die Abgrenzung erleichtern13 . bb) In persönlicher Hinsicht Die Freizügigkeit im Sinne des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stellt sich als spezielles Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in bezug auf den ganzen Bereich dessen dar, was mit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch Arbeitnehmer zusammenhängt. Es ist zum Verständnis der Freizügigkeitsregelungen also erforderlich, den Begriff "Arbeitnehmer" in der Terminologie des EWG-Vertrages zu untersuchen14• Auf Einzelheiten kommt es dabei jedoch nicht anIS, es genügt vielmehr eine Abgrenzung zu dem Kreis der Selbständigen. Dieser Aufgabe wird die Lit. a - d; diese Aufstellung ist aber nicht abschließend. VgI. dazu unten II. Teil, 2. Kap., Abschn. II 2 e aa. 12 Ähnlich Bülow, S. 83; Everling, S. 42, stellt fest, daß Art. 48 Diskriminierungen im "weitesten Sinne" verbiete. 13 VgI. etwa die VO(EWG) Nr. 1612/68 vom 15.10.68, ABI. Nr. L 257/2 v. 19. 10. 68, insbesondere Titel 11. 14 Man kann nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß der Begriff im Gemeinschaftsrecht ebenso verwendet wird wie gleichlautende Begriffe in den Mitgliedstaaten. 15 VgI. dazu die Entscheidung des Gerichtshofs der Gemeinschaften in der Rechtssache 75/63, RsprGH Bd. X, 385 ff. 10 11
H. Das Kapitel über die Arbeitskräfte
31
Definition gerecht, die jeden als Arbeitnehmer versteht, der eine Beschäftigung "im Lohn- oder Gehaltsverhältnis" ausübt16 • c) Zusammenfassung
Die Freizügigkeit im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist also - sieht man vom Verbleiberecht einmal ab - beschränkt auf die Zwecke der Ausübung unselbständiger Erwerbstätigkeit. In diesem Rahmen ermöglicht sie aber allen Angehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft die Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit im gesamten Gemeinschaftsgebiet zu den gleichen Bedingungen, denen die Angehörigen des jeweiligen Aufenthaltsstaates unterliegen. 2. Der Inhalt des Kapitels über die Arbeitskräfte
Mit der Bestimmung des Begriffs der Freizügigkeit ist gleichzeitig auch der Inhalt des Kapitels über die Arbeitskräfte weitgehend geklärt17 • Darüber hinaus finden sich in diesem Kapitel Bestimmungen über die Verwirklichung der Freizügigkeit und solche, die "flankierende Maßnahmen" enthalten18• 3. Die Verwirklichung der Freizügigkeit
Das Inkrafttreten des EWG-Vertrages am 1. 1. 1958 hat zunächst keine Änderungen im Bereich der Freizügigkeit gebracht, die Vertragsbestimmungen bedurften der Verwirklichung. Diese Aufgabe war im Laufe der Übergangszeit zu bewältigen19• Sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten hatten dazu beigetragen. a) Sekundäres Gemeinschaftsrecht 20 Der Rat leitete die Verwirklichung der Freizügigkeit mit der Verordnung Nr. 15 ein21 • Diese Verordnung ermöglichte noch einen beschränkten Vorrang der nationalen Arbeitsmärkte und beseitigte nicht VgI. VO (EWG) Nr. 15 des Rates, ABI. 1961, 1073 ff. Art. 1. Gegenstand besonderer Betrachtungen werden die Einschränkungsmöglichkeiten nach Art. 48 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 sein. 18 Art. 49, Art. 50 und Art. 51 EWGV. 1U Art. 48 Abs. 1. 20 Den Bestimmungen des sekundären Gemeinschaftsrechts ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weil sie einen überblick über die Entwicklung der Freizügigkeit geben und einen Eindruck der zu bewältigenden Schwierigkeiten vermitteln. 21 ABI. 1961, 1073; BGBI. 1961, II, 1610 vom 16.8.61. 16
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I. Teil, 2. Kap.: Freizügigkeit im EWGV
das Erfordernis einer Arbeitserlaubnis, sondern regelte nur ihre Erteilung und Verlängerung22 • Außerdem sah die Verordnung in beschränktem Umfang schon eine Familienzusammenführung vor23 • Diese Verordnung wurde am 25.3.1964 durch die Verordnung Nr. 38/64 abgelöst24 • Jeder Arbeitnehmer erhielt einen Anspruch auf die Erteilung einer Arbeitserlaubnis 25 • Darüber hinaus wurden den ausländischen Arbeitnehmern eine ganze Reihe weiterer Rechte eingeräumt26 , nicht zuletzt wurden die "Annexrechte"27 ausgebaut. Eine Schutzklausel erlaubte es den Mitgliedstaaten aber nach wie vor, bei einem Überangebot von Arbeitskräften die Arbeitserlaubnis zu versagen28. Durch die Verordnung 1612/68 vom 15.10. 196829 wurde die Freizügigkeit endgültig hergestellt3o • Sie ist heute noch gültig und nennt verschiedene Rechts- und Verwaltungsvorschriften bzw. Verwaltungspraktiken, die mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung unvereinbar sind31 . Gleichzeitig mit dieser Verordnung erging - wie schon bei den vorangegangenen Verordnungen des Rats32 - eine Richtlinie (68/360)33 "zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft". Kernpunkte dieser Richtlinie sind die Regelungen über Aus- und Einreise der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und das Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, das nur an von Seiten der Gemeinschaft bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden kann34 • Durch die von der Kommission erlassene Verordnung 1251/70 vom 29. 6. 197035 erhielten die Arbeitnehmer außerdem das Recht, in einem Mitgliedstaat zu verbleiben, wenn sie dort einer Beschäftigung nachgegangen sind. Art. 2, 6 und 7 der VO. Art. 11 - 15 der Verordnung. 24 ABI. 1964, 965. 25 Art. 22 der Verordnung. 26 VgI. insbes. Art. 8 ff. der VO. 27 Damit sind die Rechte gemeint, die die Stellung der Familienangehörigen betreffen. 28 Art. 2 der VO 38/64. 29 ABI. L 257/2 ff. vom 19. 10. 1968. Sie löste die VO 38/64 ab und stellt damit die dritte Verordnungsgeneration im Bereich der Freizügigkeitsregelung dar. 30 Art. 48 der VO. 31 VgI. beispielsweise Art. 3 der VO hinsichtlich des Zugangs zu der Beschäftigung und Art. 7 wegen der Ausübung derselben. 32 Richtlinie des Rats vom 16. 8. 1961, ABI. 1513/61 vom 13. 12. 1961 und Richtlinie des Rats vom 25.3.1964, 64/240/EWG, ABI. 981/64 vom 17.4.1964. 33 Vom 15. 10. 1968, ABI. Nr. L 257/2 ff. vom 19. 10. 68. U VgI. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 68/360/EWG. 35 ABI. L 142/24 vom 30. 6. 1970. 22 23
III. Das Niederlassungsrecht
33
Insgesamt zeigt dieser Überblick das durchaus erfolgreiche Bemühen der Gemeinschaft um die Verwirklichung der Freizügigkeitsregelungen des Vertrages. Zwar wäre es wünschenswert, auch zugunsten der Ar~ beitnehmer die gegenseitige Anerkennung von Befähigungsnachweisen, Zeugnissen und Diplomen vorzusehen 36 , man kann indessen die Verwirklichung der Freizügigkeit nur anhand des Vertrages beurteilen und dort gibt es keine dem Art. 57 EWGV entsprechende Vertragsbestimmung. b) Nationales Recht
Die Aufgabe der Mitgliedstaaten bestand in erster Linie darin, die Richtlinien des Rates umzusetzen, was insbesondere Änderungen im Bereich der Ausländergesetze erforderlich machte. Daneben hatten sie den angesprochenen Verordnungen widersprechende Bestimmungen und Praktiken zu beseitigen. Beanstandungen gab es hauptsächlich wegen der schleppenden Umsetzung der Richtlinien, teilweise entsprach aber auch die Rechtslage in den Mitgliedstaaten nach der Anpassung nicht dem Gemeinschaftsrecht37 • Im übrigen ließ vielfach die tatsächliche Lage der Arbeitnehmer anderer Mitgliedstaaten mehr zu wünschen übrig als die Rechtssituation 38 • 111. Das Niederlassungsrecht39 1. Der Begriff des Niederlassungsrechts in Art. 52 ff. EWGV
a) Niederlassung Nach Art. 52 Abs. 2 EWG-Vertrag ist unter dem Begriff der Niederlassung die Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit durch Angehörige eines Mitgliedstaates in einem anderen zu verstehen. Durch diese Bestimmung werden die Kapitel über die Arbeitskräfte und das Niederlassungsrecht gegeneinander abgegrenzVo. 36 Vgl. dazu das Arbeitsprogramm der Europäischen Gemeinschaften, das die Kommission dem Rat am 20. 3. 1969 vorgelegt hat - Bulletin der Europäschen Gemeinschaften, Sonderdruck 4/69, S. 7. 37 Antwort der Kommission vom 18. 10. 1971, ABI. Nr. L 108/3, auf die Anfrage Nr. 183/71 des Abgeordneten Couste betreffend das aktive und passive Wahlrecht der Arbeitnehmer zu den Organen der Arbeitnehmervertretungen. 38 VgI. z. B. die Antwort der Kommission vom 23. 8. 71, ABI. C. 84/3· auf die Anfrage Nr. 122/71 der Abgeordneten Romagnoli und Bermani. 89 Titel III, Kapitel 2 des EWG-Vertrages, Art. 52 - 58. fO Art. 52 Abs. 2 stellt klar, daß auch die Gründung und Leitung von Unternehmen als Niederlassung anzusehen ist. , Abgrenzungen finden sich in einzelnen Liberalisierungsrichtlinien, siehe z. B. Art. 2 und 3 der Richtlinie des Rates vom 25.2. 64, 64/224/EWG, ABI. 869/64, Vermittlertätigkeiten im Handel.
3 Bongen
I. Teil, 2. Kap.: Freizügigkeit im EWGV
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Eine selbständige Erwerbstätigkeit liegt dann vor, wenn eine Tätigkeit auf eigene Rechnung und eigenes Risiko ausgeübt wird 41 • Dabei muß es sich nicht etwa um ein Gewerbe im Sinne der deutschen Gewerbeordnung handeln42 , auch die Ausübung eines "freien Berufs" fällt unter den Begriff der Niederlassung im Sinne des EWG-Vertrages. Neben diesem Kriterium der selbständigen, auf Erwerb gerichteten Tätigkeit, das zur Abgrenzung der Niederlassung gegenüber der Freizügigkeit dient, ist ein anderes dazu bestimmt, Niederlassungen von Dienstleistungen43 zu unterscheiden: Es ergibt sich aus Art. 60 EWGV und besteht darin, daß von einer Niederlassung nur dann gesprochen werden kann, wenn ein ständiger beruflicher oder gewerblicher Mittelpunkt geschaffen wird, während Dienstleistungen in der Terminologie des Vertrages Leistungen über die Grenze sind, die keinen oder nur einen kurzen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erfordern4'. b) Niederlassungsrecht als Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots
Im yertrag taucht der Begriff Niederlassung nicht alleine auf, sondern in den Wendungen "Niederlassungsrecht"45, "Niederlassungsfreiheit"46 und "freie Niederlassung"47. Diese Begriffe sind anhand des Vertrages näher zu bestimmen. In Art. 52 Abs. 1 EWG-Vertrag heißt es lediglich, daß Beschränkungen der freien Niederlassung von Angehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufgehoben werden. Aus dieser Formulierung und dem Wortsinn des Begriffs der Niederlassungsfreiheit könnte man schließen, daß der EWG-Vertrag eine allgemeine Gewerbefreiheit einführen wollte und eine besonders liberale Ausgestaltung aller Rechtsvorschriften durchsetzen sollte, die die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten in den Mitgliedstaaten regeln 48 . Allein die Tatsache, daß die Bestimmungen der Art. 52 ff. EWGV von ihrer Zielsetzung her als Parallelvorschriften zu 41 42
43
Platz, S. 13; Everling, Niederlassungsrecht, S. 16. Vgl. Fröhler, in: Landmann / Fröhler, Einleitung, Nr. 86 Art. 59 ff. EWGV (Titel III, Kap. 3 EWG-Vertrag).
110.
44 Dieser Dienstleistungsbegriff entspricht also nicht dem im allgemeinen wirtschaftlichen Sprachgebrauch, wie er beispielsweise auch in Art. 90 Abs. 2 EWGV verwendet wird; vgl. aber den Dienstleistungsbegriff im deutschen Außenwirtschaftsrecht, z. B. § 15 ff. Außenwirtschaftsgesetz; siehe auch
Vignes, S. 674.
überschrift des Titels III, Kap. 2 EWGV. Art. 52 Abs. 2 EWGV. 47 Art. 52 Abs. 1 EWGV. 48 Vgl. Platz, S. 49; Vignes, S. 715; Gaudet, SEW 61, 60. Audinet, S. 996, spricht von einer "expression malheureuse"; siehe auch Kahlert, S. 11. 45
48
III. Das Niederlassungsrecht
35
den Art. 48 ff. EWGV zu verstehen sind49 , entzieht einer solchen Auslegung den Boden, und Art. 52 Abs. 2 schließt diese Fehlinterpretation völlig aus: Dort wird festgestellt, daß unter Niederlassungsfreiheit die Möglichkeit der Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit durch Angehörige eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen unter denselben Bedingungen zu verstehen ist, die dieser für seine eigenen Angehörigen vorsieht. Danach ist auch die Niederlassungsfreiheit im EWG-Vertrag eine Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots. Sie bedeutet zunächst einmal Inländerbehandlung50 aller Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, soweit es sich um die Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit handelt 51 . Wie für die übrigen Freiheiten gilt also auch für die Niederlassungsfreiheit, daß ihre Herstellung die Beseitigung der Beschränkungen und Diskriminierungen bedeutet, die in ausschließlich gegen den grenzüberschreitenden Verkehr gerichteten staatlichen Maßnahmen bestehen52 . Diesem Inhalt wird der Begriff der Niederlassungsfreiheit nur sehr unvollständig gerecht, aber auch der des Niederlassungsrechts ist nur beschränkt tauglich, ihm Ausdruck zu verleihen, da er die Komponente der Gleichheit außer acht läßt53 . c) Niederlassungsjreiheit als koordinierte Inländerbehandlung
Über die Durchsetzung der Inländerbehandlung hinaus sieht der Vertrag die gegenseitige Anerkennung von "Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen" durch die einzelnen Mitgliedstaaten vor und außerdem die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten in den Mitgliedstaaten54 . Der Vertrag strebt also eine "koordinierte Inländerbehandlung" an 55 . Dieses erweiterte Konzept zur Herstellung der Freizügigkeit56 ist von größter Bedeutung, da ein Bülow, die Rechtsstellung des einzelnen in der EWG, S. 83. Platz, S. 4. 51 Bülow, die Rechtstellung des einzelnen in der EWG, S. 82/83, weist nach, daß den unterschiedlichen Formulierungen in Art. 48 und 52 keine Bedeutung zukommt. 52 Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 84. 53 Verhoeven, systeme juridique beIge, S. 278. 54 Art. 57 Abs. 1 und Abs. 2. 55 Platz, S. 4. 58 M. E. ist es nicht angebracht, um der oben dargestellten gemeinsamen Struktur aller im Vertrag vorgesehenen Freiheiten willen - dem Diskriminierungsverbot - die Koordinierung neben die Herstellung der Niederlassungsfreiheit zu stellen. So aber Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 85. Zwar steht es außer Zweifel, daß die Koordinierung hinsichtlich Tatbestand und Rechtsfolge vom Diskriminierungsverbot in Art. 52 zu unterscheiden ist, trotzdem ist es vorzuziehen, das Vertrags49
50
,.
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I. Teil, 2. Kap.: Freizügigkeit im EWGV
Diskriminierungsverbot allein nur die Länder getroffen hätte, die Ausländerdiskriminierungen in größerem Maß kannten, weniger dagegen diejenigen, die auf Sondervorschriften weitgehend verzichten konnten, da ihre Rechtsordnung für die Aufnahme und Ausübung vieler Berufe strenge Vorschriften kennt, die zwar für In- und Ausländer gleichermaßen gelten, faktisch aber Ausländer wesentlich stärker be~ treffen57 • 2. Der Inhalt des Kapitels über das Niederlassungsrecht
Wie schon beim Kapitel über die Arbeitnehmer mit der Bestimmung des Begriffs der Freizügigkeit der Inhalt des ganzen Vertragskapitels über die Arbeitskräfte im wesentlichen umschrieben war, sind auch hier nach Erläuterung des Begriffs der Niederlassungsfreiheit nur noch ergänzende Anmerkungen zu machen 58 • Als Mittel zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit sieht der Vertrag ausschließlich die Richtlinie vor: Diskriminierungen werden mit Hilfe dieses Instruments beseitigt, nicht - diskriminierende Hindernisse durch Koordinierung auf dieselbe Weise aufgehoben 59 • Zunächst war aber ein "allgemeines Programm" aufzustellen60 , das für "jede Art von Tätigkeit die allgemeinen Voraussetzungen und insbesondere die Stufen für die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit" festlegte 6l • In Art. 54 Abs. 3 des Vertrages sind die Prioritäten zusammengefaßt, die Rat und Kommission beim Erlaß von Richtlinien zur Verwirklichung des allgemeinen Diskriminierungsverbots während der übergangszeit zu beachten hatten. Ganz allgemein wird dort festgestellt, daß diejenigen Tätigkeiten mit Vorrang zu liberalisieren sind, die die Entwicklung der Produktion und des Handels in besonderer Weise fördern 62 • Innerhalb des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit weckt Art. 53 Aufmerksamkeit, da er im Kapitel über die Arbeitskräfte keine Parallele hat. Er sieht vor, daß die Mitgliedstaaten vorbehaltlich anderer kapitel 2 in Titel III des EWG-Vertrages als Einheit zu sehen. Es handelt sich dabei aber weitgehend um ein terminologisches Problem, dem man aus dem Wege gehen kann, wenn man zwischen der Niederlassungsfreiheit im engeren und weiteren Sinne unterscheidet. Vgl. auch Megret I Louis I Vignes I Waelbroeck, Bd. III, S. 141. 57 Vgl. dazu Schlachter, Revue du Marche Commun, 1961,76. 5B Die Art. 55 und 56 werden ausgeklammert. 59 Art. 54 Abs. 2 und Art. 57 Abs. 2. 80 Art. 54 Abs. 1. Die Vertragsschöpfer waren allerdings nicht sicher, ob ein solches zustandekommen würde, siehe Art. 54 Abs. 2. 61 Art. 54 Abs. 1 S. 2. 62 Art. 54 Abs. 3 lit. a.
In. Das Niederlassungsrecht
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Vertragsbestimmungen63 keine neuen Diskriminierungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit einführen dürfen. Offensichtlich ist dieser Artikel in der Erwartung in den Vertrag aufgenommen worden, daß gerade die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit sehr lange auf sich warten lassen könnte. 3. Die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit
a) Sekundäres Gemeinschaftsrecht aal Das "Allgemeine Programm "64 Das in Art. 54 EWGV vorgesehene "Allgemeine Programm" wurde am 18.12. 1961 vom Rat erlassen65 • Es legte die allgemeinen Voraussetzungen und die Stufen für die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit fest, indem es in sieben Abschnitten die Begünstigten genau bestimmte66 , Regelungen für Fragen der Einreise und des Aufenthalts vorsah 67, aufzuhebende Vorschriften und Praktiken nannte 68 und einen genauen Zeitplan aufstellte69 • Große praktische Bedeutung haben die "übergangsregelungen" erlangt, die in Abschnitt V bis zur gegenseitigen Anerkennung der Befähigungsnachweise und der Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der selbständigen Erwerbstätigkeiten vorgesehen sind. Sie können die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten bei Vorlage eines Nachweises über die tatsächliche und rechtmäßige Ausübung der betreffenden Tätigkeit im Herkunftsland vorsehen, ohne daß von dem Betroffenen im Aufnahmeland an sich erforderliche Befähigungsnachweise verlangt werden. bb) Richtlinien allgemeiner Art Unter den Richtlinien zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit sind diejenigen, die nicht nur für bestimmte Arten von Erwerbstätigkeiten Gültigkeit haben, von besonderer Bedeutung. An erster Stelle ist unter ihnen die Richtlinie des Rates vom 25.2.1964 zu nennen70 , die Also auch Art. 56. Seine Bedeutung liegt in der Selbstbindung des Rates. Es ließ sehr gut erkennen, wo die wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit lagen und wie sie überwunden werden sollten. 65 ABI. 36/62 vom 15. 1. 1962. 86 Abschnitt 1. 87 Abschnitt I!. 88 Abschnitt In. 89 Abschnitt IV. 70 64/220/EWG, ABI. 845/64 vom 4. 4. 1964. VgI. dazu Oppermann, BB 1964, 563 ff. (570). 83
64
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I. Teil, 2. Kap.: Freizügigkeit im EWGV
der Aufhebung von Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Angehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft für den Niederlassungs- und Dienstleistungsverkehr dient. Diese Richtlinie entspricht weitgehend der des Rates vom 25.3.1964 zur Aufhebung der Reiseund Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft71 • Sie sieht die freie Einreise bei Vorlage eines Ausweises für alle Angehörigen eines Mitgliedstaates vor, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen 72 . Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie gibt diesem Personenkreis ein Recht auf unbefristeten Aufenthalt, soweit die Beschränkungen für die angestrebten Tätigkeiten auf Grund des Vertrages aufgehoben worden sind. Im Bereich der Freizügigkeit ist die Richtlinie 240/64/EWG vom 25.3. 1964 längst durch die Richtlinie 68/360/EWG73 abgelöst, für die Niederlassungsfreiheit steht dieser Schritt noch aus, dem Rat liegt nur ein entsprechender Richtlinienvorschlag der Kommission vor74 . cc) Richtlinien, die bestimmte Tätigkeiten betreffen
Es liegt zwar eine Vielzahl von Richtlinien vor, die bestimmte Tätigkeiten betreffen75 , die Niederlassungsfreiheit konnte jedoch bis zum Ende der übergangszeit nicht verwirklicht werden76 . Zu diesem Zeitpunkt war die Niederlassungsfreiheit nur in bezug auf die Produktionstätigkeiten, auf Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe und solchen auf dem Gebiet des Handels weitgehend verwirklicht77. Keinerlei Richtlinien gab es dagegen für die "freien Berufe". Erst im Jahre 1969 hat die Kommission auch für sie Richtlinienvorschläge vorgelegt. Der Rat hat die von ihm erlassenen Liberalisierungsrichtlinien in vielen Fällen durch übergangsmaßnahmen ergänzt, die bis zur eigentlichen Koordinierung der Berufsaufnahme- und -ausübungsvorschrifRichtlinie 64/240/EWG, ABI. Nr. 62 vom 17.4.1964,981/64. Art. 2, Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 1 der Richtlinie. Auch Ehegatten und Unterhaltsberechtigte zählen zum Kreis der Begünstigten, Art. 1 Abs. 1, c, d. 73 Vom 15. 10. 1968, ABI. Nr. L 257 vom 19. 10. 1968, S. 13. 74 Von der Kommission dem Rat vorgelegt am 14.7.1971, ABI. Nr. C 91/19 vom 14.9.1971. In diesem Vorschlag wird festgestellt, daß es dringend geboten sei, auch die Bestimmungen über die Einreise und den Aufenthalt für diesen Personenkreis zu verbessern. Zu Einzelheiten siehe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, 1971, 9/10, S. 90/91. 75 Einen überblick: für den Zeitraum bis 1968 gibt der "Erste Gesamtbericht über die Tätigkeiten der Gemeinschaften", Ziff. 80 - 84, und der "Zweite Gesamtbericht", Ziff. 58 - 69. 76 Zu den überlegungen, ob die Niederlassungsfreiheit am Ende der übergangszeit Direktwirkung erlangt hat vgl. z. B. Kahlert, S. 25 ff. und Maestripieri, liberte d'etablissement, S. 56. 77 Sattler, S. 12 ff.; eine detaillierte Darstellung der Lage am Ende der übergangszeit gibt auch Maestripieri, liberte d'etablissement, S. 48 ff. 71
72
IH. Das Niederlassungsrecht
39
ten 78 dazu beitragen sollen, die Freizügigkeit soweit wie möglich zu verwirklichen 79 • Zu einer echten Koordinierung der Vorschriften über die Berufsaufnahme und -ausübung ist es dagegen nicht gekommen, ebensowenig hat der Rat bis zum Ende der Übergangszeit Richtlinien über die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen erlassen. Bis heute hat sich an dieser Gesamtlage nichts geändert80 • Zwar liegt dem Rat inzwischen eine große Zahl von Richtlinienvorschlägen der Kommission zur Verwirklichung der Freizügigkeit auf dem Gebiet der freien Berufe vor, Fortschritte werden aber insbesondere dort noch auf sich warten lassen, wo zumindest Übergangsmaßnahmen für erforderlich gehalten werden81 • b ) Nationales Recht
Im Bereich des Niederlassungsrechts kam es insbesondere dadurch zu Schwierigkeiten, daß die zur Umsetzung der Richtlinien gesetzten Fristen vielfach weit überschritten wurden 82 • Da auch am Ende der Übergangszeit viele Richtlinien noch nicht umgesetzt waren, entstand die Frage, ob sie auch nach diesem Zeitpunkt umsetzungsbedürftig geblieben sind83, oder ob sie angesichts des Art. 8 Abs. 7 EWG-Vertrag unmit78 Man kann in diesen übergangsmaßnahmen der Sache nach aber auch einen ersten Schritt zur Koordinierung sehen, vgl. Everling, die Rechtsangleichung, S. 80 m. w. N. 79 Zu den übergangsmaßnahmen siehe I. Teil, 2. Kap., Abschn. IH 3 a; Sattler, S. 15. 80 Nicht zu Unrecht stellt Oppermann, FIDE-Generalbericht, S. 5, fest, daß die bisherige Realisierung der Niederlassungsfreiheit im Vergleich zur Freizügigkeit "eher mittelmäßig" wirkt. 81 Vgl. die mündliche Anfrage Nr. 12/71 des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments an den Rat vom 17.1.1972, ABI., Anhang Verhandlungen des Europäischen Parlaments, Nr. 145, S. 7; Antwort des amtierenden Präsidenten des Rates der Europäischen Gemeinschaften Thorn, a.a.O., S. 9. Siehe auch Nr. 14 des Entschließungsantrags des Europäischen Parlaments zum 5. Gesamtbericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Tätigkeit der Gemeinschaft 1971, Europäisches Parlament, Sitzungsdokumente 1972 - 1973, Dok. 28/72 vom 4. 5. 1972. - Zur Lage bei den freien Berufen vgl. Jura Europae, Niederlassungsrecht, Bd. 1, Kap. 00.54. Von großer Bedeutung ist in diesem Bereich das Urteil des EuGH vom 21. 6.1974 in der Rechtssache 2/74, DVBl. 667/74; vgl. dazu Wagenbaur, AWD des BB 1974, S. 337. 82 Diese Fristen von sechs Monaten sind angesichts "der technischen und politischen Schwierigkeiten bei der Anpassung der nationalen Gesetzgebung an die Bestimmungen der Richtlinien im allgemeinen zu kurz bemessen", so die Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission an den Rat betreffend den Stand der Durchführung der Richtlinien des Rats zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs in den Mitgliedstaaten (Dok. 234/70, S. 3), ABI. der Europäischen Gemeinschaften, Anhang Nr. 133, 246, Sitzung vom ·12. 2. 1971.
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1. Teil, 2. Kap.: Freizügigkeit im EWGV
telbar anwendbar geworden sind84 • Es ist hier nicht der Ort, dieser Frage auf den Grund zu gehen, es kann lediglich festgestellt werden, daß man zumindest in der Praxis davon ausgeht, daß die Richtlinien auch weiterhin nicht direkt angewendet werden 85 • Abgesehen von den Fristüberschreitungen kann man aber feststellen, daß die Richtlinien überwiegend zufriedenstellend verwirklicht worden sind86 , die Kommission sah sich nur in wenigen Fällen gezwungen, gegen einzelne Mitgliedstaaten gemäß Art. 169 EWG-Vertrag den Gerichtshof anzurufen 87 • Nur in Einzelfällen erwies es sich, daß es den zuständigen nationalen Stellen an "politischem Willen" und am "Verständnis für die Gemeinschaft und ihre Rechtsprobleme" fehlt 88 •
IV. Zusammenfassung Die Tatsache der getrennten Behandlung selbständig und unselbständig Erwerbstätiger im Vertrag von Rom, die angesichts der zahlreichen bilateralen Niederlassungsabkommen und auch des Europäischen Niederlassungsabkommens keineswegs als selbstverständlich angesehen werden kann89 , ist charakteristisch dafür, wie das Gemeinschaftsrecht einen gemeinsamen Markt für jede Art der Erwerbstätigkeit anstrebt. Für diese Trennung 90 gibt es verschiedene Gründe: Schon vor 1nkrafttreten des EWG-Vertrages war die Lage der Arbeitnehmer und der Selbständigen vielfach unterschiedlich 9 t, und es war abzusehen, daß die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sehr viel leichter zu verwirklichen 83 So beispielsweise das Europäische Parlament in seiner Sitzung am 12. 2. 1971, vgl. oben Anm. 82), Nr. 4. Siehe auch Maestripieri, liberte d'etablissement, S. 56 m. w. N. 8' Vgl. insbes. Meier, S. 971; Kahlert, S. 25 ff. 85 So der Vizepräsident der Kommission Mansholt für dieselbe zu der unter Fn. 82 zitierten Entschließung des Europäischen Parlaments, a.a.O., S. 250; siehe auch den Bericht von Dehousse, Dok. 185/68 und die Verhandlungen des Europäischen Parlaments vom 22. 1. 69, ABI. Nr. 110, Januar 1969. Dem steht auch nicht das Urteil des EuGH v. 21. 6. 74, DVBI. 74, 667, entgegen. 86 So in der Begründung zu der oben unter Fn ..82 zitierten Entschließung, a.a.O., S. 57. 87 Nachweise im einzelnen in der Mitteilung der Kommission an den Rat vom 30. 4. 1970, SEK (70) 277end./2, abgedruckt als Anlage I zu Dok. 234 des Europäischen Parlaments (Europäisches Parlament, Sitzungs dokumente 1970 - 71, 9. 2. 1971). BB Ziff. 8 Abs. 3 der unter Fn. 82 zitierten Entschließung des Europäischen Parlaments. B9 Vgl. Art. 10 des Europäischen Niederlassungsabkommens; siehe auch Hampel, S. 31. 90 Auch die Unterscheidung Niederlassung-Dienstleistung ist ungewöhnlich, Maestripie1'i, liberte d'etablissement, S. 49. 91 Man denke etwa an die Anwerbevereinbarungen für ausländische Arbeitnehmer.
IV. Zusammenfassung
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sein würde. Die heutige Lage bestätigt das. Allerdings darf man nicht verkennen, daß die vom Vertrag im Kapitel über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gesteckten Ziele sehr viel bescheidener sind als die im Kapitel über die Selbständigen. Die Tatsache, daß man auf eine dem Art. 57 entsprechende Vorschrift verzichtet hat, läßt darauf schließen, daß man in erster Linie an den großen Strom ungelernter Arbeitnehmer zwischen den industriell unterschiedlich entwickelten Gebieten der Gemeinschaft gedacht hat. Man wird deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit darüber zu wachen haben, daß das weniger ausgeprägte Interesse an der Niederlassungsfreiheit nicht auch in der Handhabung der Vorbehaltsklauseln seinen Niederschlag findet.
Zweiter Teil
Die Schranken aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit Die oben angestellten Untersuchungen haben deutlich gemacht, wie stark die Effektivität aller Freizügigkeitsregelungen von der Reichweite und der Handhabung der in ihnen enthaltenen Vorbehaltsklauseln bestimmt wird. Gleiches gilt grundsätzlich auch für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit nach dem Vertrag zur Gründung der EWG. Mit ihrem weiteren Ausbau bzw. nach ihrer Verwirklichung rücken die vorgesehenen Schranken in den Mittelpunkt des Interesses, da sich integrationshemmende oder gar -feindliche Tendenzen nurmehr in ihnen niederschlagen können. Der EWG-Vertrag enthält zwei voneinander zu unterscheidende Vorbehalte1 zugunsten der Mitgliedstaaten, die sowohl im Kapitel über die Arbeitnehmer als auch in dem über die Niederlassungsfreiheit zu finden sind: Es handelt sich dabei einerseits um die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen2 , die in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 verankert sind, andererseits um die "Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" bzw. um Tätigkeiten, die mit der "Ausübung öffentlicher Gewalt" verbunden sind8 , sie werden nicht liberalisiert. Da sich sowohl Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 als auch Art. 48 Abs. 4 und 55 des Vertrages in ihrer Zweckbestimmung entsprechen, ist es nicht sinnvoll und erforderlich, beide Kapitel weiter getrennt zu untersuchen 4 • Aufmerksamkeit erfordern insbesondere die Vorbehaltsklauseln in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 EWG-Vertrag, da sie gegenüber allen von der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit Begünstigten unabhängig von der Art der ausgeübten Erwerbstätigkeit angewendet werden können und aufgrund der sie prägenden Begriffe ganz besonders 1 Wobei es gelegentlich nicht einfach ist zu differenzieren, vgI. Schmidt, S.35. 2 So die Formulierung in Art. 48 Abs. 3. 3 Art. 48 Abs. 4 und Art. 55. 4 Ebenso z. B. in der Richtlinie 64/221/EWG v. 25.2. 64, ABI. 850/64 v. 4.4.64.
H. Teil: Schranken aus Gründen der öffentl. Ordnung u. Sicherheit
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dazu geeignet erscheinen, ein nahezu beliebiges Abweichen der Mitgliedstaaten von den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu decken5 • Grundsätzlich gelten diese Bedenken auch gegenüber dem Begriff der öffentlichen Gesundheit. Der Rat hat aber in einem Katalog die Krankheiten und Gebrechen abschließend zusammengestellt, die diese und die öffentliche Ordnung und Sicherheit6 im Sinne der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 gefährden können 7 , so daß insoweit eine weite Auslegung und der Mißbrauch dieser Vertragsbestimmungen von vorneherein weitgehend ausgeschlossen sind8 . Darüber hinaus existiert kein vergleichbarer Fallkatalog, in dem mögliche Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zusammengefaßt wärenD. Das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Reichweite der Vorbehaltsklauseln in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 zu ermitteln und durch eine Untersuchung der sie bestimmenden Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit Klarheit darüber zu schaffen, ob sie eine Gefahr für das Prinzip der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in sich bergen, darf keine falschen Erwartungen über die möglichen Ergebnisse wekken: Der Versuch einer abstrakten Definition der zentralen Begriffe soll überhaupt nicht unternommen werden, da er m. E. keinen Erfolg verspricht: Das Ergebnis solcher Bemühungen müßte zwangsläufig in ähnlich weiten Formulierungen bestehen, die keinen Fortschritt auf dem Wege zu einer exakteren Bestimmung der Vorbehaltsklauseln darstellen könntenlO • Es ist andererseits aber auch nicht beabsichtigt, im einzelnen die wichtigsten Normen etc. in den verschiedenen Mitgliedstaaten zusammenzustellen, die Gegenstand der Vorbehaltsklauseln sein könnten, vielmehr wird festzustellen sein, ob und inwieweit eine Eingrenzung dieser Begriffe vom Gemeinschaftsrecht her erfolgt ist oder möglich erscheint. Eine klare Aussage über die diesen Begriffen im Gemeinschaftsrecht zukommende Aufgabe und ihre Wirkung kann mehr zu ihrer Bestimmung beitragen, als das auf den genannten anderen Wegen möglich wäre. 5 So erwartet beispielsweise Dürig, in: Maunz 1 Dürig 1 Herzog, Art. 11 GG, S. 55, je nach der nationalen Arbeitsmarktlage geradezu "Schulfälle" eines "detournement de pouvoir". e Art. 4 der Richtlinie 64/221/EWG ist nicht auf Gründe der öffentlichen Gesundheit beschränkt; vgl. Grabitz, S. 96; a. M. Verhoeven, droit du Benelux et de la CEE, S. 445. 7 Art. 4 der Richtlinie 64/2211EWG vom 25.2.1964 und Anhang A und B dieser Richtlinie, ABI. 853/64. 8 Damit ist nicht gesagt, daß dieser Katalog nicht noch genauer gefaßt werden könnte, entsprechende Bestrebungen gibt es beispielsweise hinsichtlich des Begriffs der Suchtkrankheiten. 9 Vgl. dazu unten H. Teil, 5. Kap., Abschn. III 3. 10 VgI. dazu unten II. Teil, 2. Kap., Abschn. II 1.
Erstes Kapitel
Öffentliche Ordnung und Sicherheit im Polizeirecht der Mitgliedstaaten I. Vorbemerkung Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist in den verschiedensten Bereichen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zuhause - beispielsweise im Internationalen Privatrecht, im Zivil- und Prozeßrecht und im Polizei- und Ordnungsrecht - und ist seit langer Zeit Gegenstand vielfältiger Untersuchungen. Das bedeutet indessen nicht, daß die in diesen sehr unterschiedlichen Rechtsgebieten gewonnenen Erkenntnisse beliebig austauschbar wären und die Diskussion um die Verwendung dieser Begriffe im EWG-Vertrag beeinflussen könnten. Natürlich kann man in einem bestimmten Gebiet zu einer bestimmten Zeit nur von einer einheitlichen öffentlichen Gesamtordnung im Sinne einer Verfassungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung ausgehen, es ist jedoch nicht gesagt, daß der Begriff der öffentlichen Ordnung in allen seinen Anwendungsbereichen diese umfassende Bedeutung haben müßte oder auch nur dieselben Teilbereiche umfassen müßte. Seine Reichweite ist vielmehr abhängig von der ihm jeweils zukommenden Funktion 1. Vergleiche können deshalb nur mit Vorsicht angestellt werden und erfordern eine sehr sorgfältige Auswertung. Insofern ist es erwägenswert, Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 zu untersuchen, ohne die anderweitige Verwendung gleichlautender Begriffe zu berücksichtigen. Aus mehreren Gründen kann man jedoch nicht so verfahren: Einmal ist es zweckmäßig, diese Begriffe auf dem gesicherten Hintergrund der Verwendung gleichlautender Begriffe in entsprechenden Funktionen im nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu erläutern, da sie sich einer präzisen abstrakten Definition entziehen. Zum anderen ist mit der Tendenz nationaler Instanzen zu rechnen, die Begriffe im Gemeinschaftsrecht ebenso auszulegen wie gleichlautende aus dem nationalen Recht. Die auf diese Weise auf die Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 einwirkenden Einflüsse gilt es zu erkennen und zu berücksich1 Vgl. Simitis, S. 168/169. Er stellt den ordre public-Begriff des Zivilrechts dem des Polizeirechts gegenüber und leitet daraus unterschiedliche Begriffsinhalte ab; siehe auch Simitis, S. 111, Anm. 225 m. w. N.
I. Vorbemerkung
45
tigen. Diese Überlegungen rechtfertigen es, das nationale Recht in den angedeuteten Grenzen, die im einzelnen nunmehr genauer abzustecken sind, der Untersuchung zugrunde zu legen und in die Diskussion einzubeziehen2 • In gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen, die Fragen des Aufenthalts und der Niederlassung von Ausländern zum Gegenstand haben, werden mit Hilfe des nationalen ordre public hauptsächlich Zwecke der polizeilichen Gefahrenabwehr im weitesten Sinne verfolgts. Man kann davon ausgehen, daß dieselbe Interessenlage der Mitgliedstaaten mit ein Grund für die Aufnahme der Vorbehaltsklauseln ins Gemeinschaftsrecht war. Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit rechtfertigen hier Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot im Bereich des Niederlassungsrechts und der Freizügigkeit, und es ist in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten in erster Linie das allgemeine Ausländerrecht, das diesem Gesichtspunkt Rechnung trägt. Von den Bestimmungen dieses Rechtsgebietes, die alle diskriminierenden Charakter haben, rücken insbesondere diejenigen in den Mittelpunkt des Interesses, die ihrerseits die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verwenden, Bestimmungen also, die sich ihrer zur tatbestandlichen Umschreibung der Zulässigkeit ausländerpolizeilicher Verfügungen bedienen. Diese sind auf Grund ihrer AufgabensteIlung in engem Zusammenhang mit entsprechenden Vorschriften des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts zu sehen, mit den polizeirechtlichen Generalklauseln. Man kann sich von dieser Darlegung der Verwendung des Begriffs der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Polizeirecht und im besonderen im allgemeinen Ausländerrecht der Mitgliedstaaten Erkenntnisse darüber erhoffen, woher den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit Gefahren drohen könnten, wenn die Vorbehaltsklauseln in die Hand der Mitgliedstaaten gelegt würden, und auch darüber, wie die Mitgliedstaaten in ihren eigenen Rechtsordnungen solche gefährlich weiten Begriffe in den Griff zu bekommen versuchen. Die Untersuchungen können zunächst keinen direkten Aufschluß über die Verwendung der Begriffe nach dem Gemeinschaftsrecht geben. 2 Der Rahmen dieser Arbeit zwingt dazu, diese Untersuchung auf zwei Mitgliedstaaten zu beschränken. Die Bundesrepublik und Frankreich wurden u. a. deshalb paradigmatisch ausgewählt, weil nicht selten ein Unterschied zwischen dem Begriff der öffentlichen Ordnung im deutschen Recht und dem des ordre public im romanischen Rechtskreis behauptet wird, vgI. unten 11. Teil, 1. Kap., Abschn. IV. Im übrigen halten sich in diesen beiden Staaten die meisten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auf (sieht man von Großbritannien ab), vgI. etwa ABI. der Europäischen Gemeinschaften v. 16.8.74, Nr. C 97/15.
3
Jaenicke, S. 2.
II. Teil, 1. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten
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Für einen Teil der Mitgliedstaaten haben die Vorbehaltsklauseln über das allgemeine Ausländerrecht hinaus nur geringes Interesse, da man dort ohne diskriminierende Bestimmungen auskommt und von der uneingeschränkten Möglichkeit der Anwendung nicht-diskriminierender Schutznormen Gebrauch macht'. Ganz außer Betracht bleiben können die Bereiche des Internationalen Privatrechts oder auch des Zivilrechts5 • Dort dient der ordre public dazu, Kollisionsfälle zu lösen 6 oder hat die Aufgabe, Rechtsinstitute vor Störungen zu schützen, die sich aus Rechtsgeschäften ergeben7 • Es ist natürlich mit Hilfe sehr vager Formulierungen möglich, diese Funktionsunterschiede zu überspielen und den Begriff der öffentlichen Ordnung losgelöst von seinem Anwendungsbereich zu betrachten. Praktisch verwertbare Aussagen sind dann indessen nicht mehr möglichs, so daß dieses Unterfangen nur wenig sinnvoll erscheint: Die Behandlung von Kollisionsfällen im IPR, die Bestimmung der Grenzen der Vertragsfreiheit und die Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln im Bereich der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit haben trotz Verwendung gleichlautender Begriffe wenig gemein. 11. Bundesrepublik Deutschland 1. Vorbemerkung
Die Begrüfe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit prägen die Polizei und ihre Aufgabe seit langer Zeit: Nach dem Polizeibegriff des 15. -17. Jahrhunderts, der den Zustand "guter Ordnung" des Gemeinwesens bezeichnete9 , und dem des absoluten Staates, der die Polizei als Teil der in der Hand des Territorialherren vereinigten Staatsgewalt ansah10 , ging aus der Aufklärung ein neuer Polizeibegriff hervorl l , der dadurch gekennzeichnet war, daß als Aufgabe der Polizei ausschließlich die Gefahrenabwehr angesehen wurde, die "Beförderung , Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 90. Vgl. Fanara, in: Quadri / Monaco / Trabucchi, Art. 36 Nr. 2 m. w. N.; Maestripieri, la libre circulation des personnes et des services dans la CEE, 5
S.180. S So das IPR. Legt man die in Frankreich übliche Terminologie zugrunde, so wird das IPR selbstredend nur insoweit außer acht gelassen, als es sich dabei um Kollitionsrecht handelt, nicht dagegen insoweit, als es die Rechtsstellung der Ausländer zum Gegenstand hat. Vgl. zu der in Frankreich verbreiteten Einteilung des Rechtsgebietes des IPR z. B. Makarov, S. 18; Febtot, S.13. 7 Siehe Simitis, S. 168/169. 8 Vgl. etwa Hitdmann, 78/79; Chesne, S. 154. g Vgl. z. B. die Reichspolizeiverordnungen aus den Jahren 1530, 1548 und 1577. Im einzelnen siehe Knemeyer, S. 153. 10 Man spricht vom Polizeistaat, vgl. Götz, S. 12. 11 Pütter, Kap. III, § 331.
II. Bundesrepublik Deutschland
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der Wohlfahrt" dagegen ausgeklammert war. Er fand Eingang in das Preußische Allgemeine Landrecht12 : "Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevol'Stehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey." Im Zuge der Reaktion gegen die Ideen der französischen Revolution lebte der Polizeistaat wieder auf13 , ohne daß diese Bestimmung des ALR aufgehoben worden wäre. Erst mit dem "Kreuzbergurteil"14 .begrenzte das Preußische Oberverwaltungsgericht die Polizeiaufgaben entsprechend § 10 II 17 ALR. In der Folgezeit wurden die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu Zentralbegriffen aller Polizeigesetze und dienten der allgemeinen Umschreibung polizeilicher Aufgaben15 . Musterbeispiel wurde § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes aus dem Jahre 1931. In den modernen Polizeigesetzen der deutschen Bundesländer sind überall generelle Definitionen der Polizeiaufgaben nach diesem Vorbild zu finden 16 . Sie werden darüber hinaus überwiegend als polizeirechtliche Generalermächtigungen verstanden17. Die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind so eng mit dem Polizeibegriff verknüpft, daß man in einigen Ländern die Polizeigesetze "Sicherheits- und Ordnungsgesetze" nennt 18 . Ein Teil der Lehre definiert die Polizei überhaupt durch diese Begriffe19 und bestimmt sie als diejenige Staatstätigkeit, die dazu dient, von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht wird20 . 2. öffentliche Sicherheit und Ordnung im Polizei- und Ordnungsrecht 21
a) Der Begriff der öffentlichen Sicherheit Eine Definition dieses Begriffs, die bis heute ihre Gültigkeit weitgehend behalten hat, findet sich in der amtlichen Begründung zum § 10 II 17 im ALR aus dem Jahre 1794. Für Preußen spricht man vom "nachlandrechtlichen Polizeistaat", die Beförderung der Wohlfahrt fand wieder Eingang in den Polizeibegriff, vgl. 12
13
Götz, S. 13.
14 PrOVGE 9, 353 ff.; vgl. dagegen das Preußische Polizeiverwaltungsgesetz vom 11. 3. 1856. 15 Auch in Bayern kennt man die generelle Umschreibung der Gefahrenabwehraufgabe, vgl. Art. 2 bay. PAG. IB Es bestehen hauptsächlich terminologische Unterschiede, vgl. etwa Reiff / Wöhrte zu § 1 des Polizeigesetzes Bad.-Württ. in der Fassung vom
16.1.1968.
17 Anders in Bayern, dort werden Aufgaben und Ermächtigung der Polizei scharf getrennt. 18 z. B. in Hessen, Niedersachsen und Hamburg. U So der materielle Polizei begriff. !O Vgl. Friauf, S. 147.
48
11. Teil,!. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten
Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz aus dem Jahre 19312 2. Die öffentliche Sicherheit umfaßt danach den "Schutz vor Schäden, die entweder den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen oder das Leben, die Gesundheit, Freiheit, Ehre oder das Vermögen der einzelnen bedrohen". Dem folgen Definitionen jüngeren Datums, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit sowohl den Schutz der Rechte und Rechtsgüter des einzelnen als auch den des Gemeinwesens, seiner Normen und Einrichtungen23 zählen. Sie verstehen also unter dem Schutz der öffentlichen Sicherheit den der gesamten Rechtsordnung24 . Dieser Interpretation will das baden-württembergische Polizeigesetz25 dadurch Rechnung tragen, daß es in § 1 anstelle von Sicherheit und Ordnung von Recht und Ordnung spricht. Da nach diesem umfassenden Begriff der öffentlichen Sicherheit also in jeder Verletzung einer Norm des positiv geltenden Rechts eine die öffentliche Sicherheit gefährdende Handlung zu sehen ist 26 , ist es erforderlich, die Zuständigkeit der Polizei durch organisationsrechtliche Regelungen zu beschränken. Das geschieht in erster Linie dadurdl, daß man der Generalklausel sowohl gegenüber polizei- und ordnungsrechtlichen27 , als auch gegenüber allen nichtpolizeilichen Regelungen28 nur subsidiäre Bedeutung beimißt. Um dieses "formale Argument"2U der Zuständigkeit zu umgehen, wird aber auch ein engerer Begriff der öffentlichen Sicherheit für die polizeirechtliche Generalmächtigung verwendet 30 . Danach soll sie nicht als Sammelbezeichnung aller Rechtsgüter verstanden werden, sondern nur den Bestand aller strafrechtlich geschützten Rechtsgüter umf~ssen31. Dieser Begriff ist speziell auf die Generalermächtigung zugeschnitten und ist deshalb dort vorzuziehen, beide Begriffe ermöglichen jedoch eine klare Abgrenzung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit. b) Der Begriff der öffentlichen Ordnung
Auch der Begriff der öffentlichen Ordnung ist in der amtlichen Begründung zum Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz definiert 32 . DaOhne Ausländerrecht. Amtl. Begründung des preuß. Ministers des Inneren, Abschnitt IV zu § 14 PrPVG, vgl. z. B. Scheer I Trubel, Teil II, S. 95 ff. 23 Siehe etwa Wolff, Bd. III, S. 48; Götz, S. 31. 24 Drews I Wacke, § 5 Nr. 2 c, S. 64. !5 Bad.-Württ. Polizeigesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. 1. 1968, GesBl. S. 61. 26 Drews I Wacke, S. 22. !7 Friauf, S. 157, spricht von innerpolizeilicher Subsidiarität. Sie ist teilweise ausdrücklich gesetzlich geregelt, vgl. § 1 II des nordrhein-westfälischen Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden v. 16. 10. 1956. 28 Friauf, S. 158; Drews I Wacke, S. 65, 109. !II Dürig, in: Maunz I Dürig I Herzog, Art. 2 I GG, Rdn. 80. so DüTig, ebd. 31 Nur Recht mit klarer "Störungsabwehrfunktion". !1 22
H. Bundesrepublik Deutschland
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nach versteht man unter dieser Wendung den "Inbegriff der Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben ... der Menschen" angesehen wird. Auch diese Definition hat ihre Gültigkeit bis heute weitgehend behalten. Es bestehen aber Meinungsunterschiede darüber, was unter dem Begriff der Norm zu verstehen ist: Einerseits wird ausdrücklich festgestellt, daß es sich dabei nur um ungeschriebene Normen handele, die nicht den Charakter von Rechtsnormen hätten33 , andere subsumieren unter den Normbegriff in diesem Zusammenhang dagegen auch geschriebene und ungeschriebene Rechtsvorschriften, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und moralischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung menschlichen Miteinanderlebens angesehen wird 34• Diese unterschiedlichen Meinungen betreffen aber nur die Abgrenzung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit untereinander: Nach der zuerst genannten Ansicht stehen diese ohne Überschneidungen nebeneinander, während die andere zur Folge hat, daß sich die Anwendungsbereiche insofern überdecken, als es sich um Rechtsnormen handelt. Da das Begriffspaar der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hier ohnehin gemeinsam untersucht werden soll, ist diese interne Abgrenzung ohne praktische Bedeutung. Wichtig ist dagegen die Einigkeit darüber, daß die öffentliche Ordnung nicht nur die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen umfaßt, sondern der Begriff - obwohl Rechtsbegriff über die rechtliche Ordnung hinausreicht 35 • Dies erschwert seine inhaltliche Erfassung erheblich36 • Nicht selten wird die Frage gestellt, ob auf den Begriff der öffentlichen Ordnung nicht insoweit verzichtet werden könne, als er nicht Rechtsnormen umfaßt, da die Durchsetzung aller wirklich erforderlichen Ordnungsnormen heute durch Rechtsnormen ohnehin genügend gesichert sei3 7 • Dann fiele der Begriff der öffentlichen Ordnung mit dem Vgl. dazu Bumbacher, S. 42. So beispielsweise Götz, S. 45; Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog, Art. 2 Abs. 1 Rdn. 81, vermeidet den Begriff der Norm in diesem Zusammenhang und spricht von der öffentlichen Ordnung als "Restbestand" unerläßlicher Voraussetzungen eines menschlichen Zusammenlebens, der nicht vom Strafrecht (vgl. seine Definition der öffentlichen Sicherheit) geschützt wird. 34 Wolff, Bd. IH § 125 III, 2, S. 49; BVerfGE 21, 379, 384. Reift / Wöhrle, § 1; VGH Bad.-Württ., Verw. Rspr. 14, 89. Unabhängig von dieser Meinung kann der Bereich der öffentlichen Ordnung selbstverständlich durch Gesetz eingeschränkt werden, BVerG, Verw. Rspr. 17 Nr. 191, S. 722 ff. In jedem Fall erfährt sie eine starke Determinierung durch Rechtsnormen, vgl. Häberle, S. 579. 35 Vgl. dazu z. B. OVG Münster, Verw. Rspr. 5, 559 und 7, 119. 36 Schleberger, S. 28. 37 So beispielsweise Götz, S. 47 . 32 33
• Bongen
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H. Teil, 1. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten
der öffentlichen Sicherheit zusammen und wäre als rechtlich gesetzte Ordnung zu verstehen. Die gegenwärtig genannten Fälle38 dessen, was durch Ordnungsnormen verboten sein soll, und eine perfektionierte Gesetzgebung sprechen für die Richtigkeit dieser Ansicht39 • c) Rechtliche Einordnung, Funktion und Bedeutung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit
aa) In der polizeirechtlichen Generalklausel Bereits bei der Definition dieser Begriffe wurde gesagt, daß sie in erster Linie dazu verwendet werden, die Aufgaben der Polizei- und Ordnungsbehörden allgemein zu umschreiben und diese Behörden generell zu ermächtigen, Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Rechtsgüter zu ergreifen. Angesichts dieser Genralermächtigung rückt das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit auf der einen und Eingriffsmöglichkeiten auf der anderen Seite in den Vordergrund des Interesses40 • Damit verbunden ist die Frage, Qb mit ihr nicht Maßnahmen möglich werden, die die Rechte der Betroffenen gefährden. Eine solche Gefahr kann wegen der weiten Begriffe, die die Generalermächtigung ausmachen, nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, andererseits darf man sich von dem Begriff der Generalermächtigung nicht täuschen lassen: Es geht nicht darum, den Polizei und Ordnungsbehörden unbegrenzte Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen, vielmehr handelt es sich dabei um ein mit verschiedenen Sicherungen gegen mißbräuchliche Verwendung versehenes Hilfsmittel, das dazu dienen soll, diese für alle Eventualitäten zu wappnen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang zunächst die Tatsache, daß die sie bestimmenden Begriffe durch einen Bestand von Rechten, insbesondere Grundrechten inhaltlich geprägt und begrenzt werden41 • Außerdem darf man nicht übersehen, daß es sich bei den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt42 , deren Verwendung unbeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Dazu kommt, daß Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Vgl. dazu insbes. Drews / Wacke, S. 43 ff. Man darf allerdings nicht davon ausgehen, daß allein dadurch mehr Freiheit für den einzelnen geschaffen würde, vgl. Woltt, Bd. IH, S. 55 m. w. N. 40 Ähnlich liegt es teilweise bei der Verwendung der Begriffe im Europarecht. Dort handelt es sich um das Spannungsverhältnis zwischen Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit auf der einen Seite und den Einschränkungsmöglichkeiten auf der anderen. 41 Umgekehrt werden die grundrechtsimmanenten Schranken durch die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gekennzeichnet, Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog, Art. 2 Abs. I GG, Rdn. 79. 42 In diesem Bereich ist also die Frage, ob es sich überhaupt um Rechtsbegriffe handelt, vgl. Bumbacher, S. 15, klar beantwortet. 3B
39
11. Bundesrepublik Deutschland
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überhaupt nur dann ergriffen werden können, wenn eine polizeiliche Gefahr bestimmter Intensität festgestellt werden kann. Gerade der Begriff der "Gefahr", bei dem es sich ebenfalls um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, hat in der Rechtsprechung größte Aufmerksamkeit gefunden43 : Es wird sorgfältig darauf geachtet, daß die Voraussetzungen, die für ihr Vorhandensein entwickelt worden sind44 , eingehalten werden. Nicht anders verhält es sich mit der Ermittlung des richtigen Adressaten polizeilicher Maßnahmen45 • Zusammenfassend kann man feststellen, daß die polizeiliche Generalklausei bzw. die sie bestimmenden Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung keinen Ersatz für die "Staatsräson" bieten und es sich bei diesen Begriffen auch nicht um "allgemeine Formeln" handelt, die polizeilicher Willkür Tür und Tor öffnen könnten. bb) Im Polizei- und Ordnungsrecht außerhalb der Generalklausel Gelegentlich finden die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Zusammenhang mit dem Polizeirecht auch außerhalb der Generalklausel Verwendung. Es wird beispielsweise ganz allgemein vom "Sicherheits- und Ordnungs recht gesprochen46 , womit unter Hinweis auf die polizeiliche Aufgabenstellung in ihrer weitesten Umschreibung das gesamte Polizei- und Ordnungsrecht gemeint ist. Häufig ist auch von den "Sicherheits- und Ordnungsgesetzen" die Rede, die das allgemeine Polizeirecht umfassen47 • In keinem Fall zieht man aber die Grenzen so weit, daß man alles das, was zur Ausgestaltung der Verfassungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung gehört, unter dem Begriff der öffentlichen Ordnung zusammenfassen könnte. Die Verwendung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit außerhalb der polizeirechtlichen Generalklausel ist ohne unmittelbare rechtliche Bedeutung: Während sie in diesen dazu dienen, die Polizei- und Ordnungsbehörden zu den verschiedensten Maßnahmen zu ermächtigen, und diese Maßnahmen umgekehrt anhand der unbestimmten Rechtsbegriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung überprüft werden können, wird dadurch kein zusätzlicher Beurteilungsmaßstab geschaffen und angelegt, daß man bestimmte Rechtsnormen zum Sicherheits und Ordnungsrecht zählt. Vgl. z. B. Friauf, S. 163 m. w. N. Seit den Zeiten des preußischen Oberverwaltungsgerichts hat sich die Rechtsprechung hierum besondere Verdienste erworben. 45 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog, Art. 2 Abs. I GG, Rdn. 81. 48 Beinhardt, DVBl. 61, 608. 47 Vgl. oben II. Teil, 1. Kap., Abschn. II 2. 43
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H. Teil, 1. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten 3...Öffentliche Sicherheit", .. öffentliche Ordnung" und ..Belange der BRD" im Ausländerrecht4S
a) Vorbemerkung Obwohl das allgemeine Ausländerrecht49 Teil des Polizei- und Ordnungsrechts ist, kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß es keine Unterschiede in der Bestimmung und Verwendung der Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geben kann. Als Indiz für mögliche Abweichungen muß man die Tatsache werten, daß im Ausländerrecht neben diesen beiden an verschiedenen Stellen der der "Belange der Bundesrepublik Deutschland" verwendet wird, der dem Polizei- und Ordnungsrechtfremd ist. Es gibt natürlich auch außerhalb des allgemeinen Ausländerrechts Beschränkungen für Ausländer, die auf den Grundgedanken der Gefahren abwehr zurückgehen, in der Bundesrepublik Deutschland sind sie indessen relativ selten und betreffen jeweils nur einen sehr beschränkten Personenkreis bzw. einen eng umrissenen Sachverhalt50 • Es ist deshalb sinnvoll, sich in erster Linie dem allgemeinen Ausländerrecht zuzuwenden51 • b) Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Ausländerrecht
Es gilt in erster Linie die Frage zu beantworten, ob diese Begriffe im Ausländerrecht52 ebenso zu verstehen sind wie im allgemeinen Polizei48 Ohne die Besonderheiten, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht und aus anderen völkerrechtlichen Verträgen ergeben. 49 Zu der Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Ausländerrecht siehe Schiedermair, S. 10. Unter allgemeinem Ausländerrecht faßt man alle die Bestimmungen zusammen, die für die Rechtsstellung aller Ausländer von Bedeutung sind. Vielfach bezeichnet man überhaupt nur das als Ausländerrecht, vgl. Weissmann, S. 18 ff. 50 Außerdem ist zu berücksichtigen, daß Erwägungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in diesem Bereich ihren Niederschlag überwiegend in Rechtsnormen gefunden haben, die Sonderregelungen enthalten, weniger dagegen mit Hilfe dieser unbestimmten Rechtsbegriffe die zuständigen Behörden zu Verfügungen ermächtigt werden. Vgl. Schiedermair, S. 446 ff. 51 Die Tatsache, daß das allgemeine Ausländerrecht von zentraler Bedeutung unter allen Sonderregelungen für Ausländer ist, wird dadurch unterstrichen, daß nur in diesem Bereich bislang eine Koordinierungsrichtlinie des Rates nach Art. 56 Abs. 1 existiert, die Richtlinie 64/221/EWG vom 25. 2. 1964. Wie bereits erwähnt, haben die Mitgliedstaaten im übrigen außerhalb des allgemeinen Ausländerrechts die Möglichkeit, die öffentliche Ordnung durch nicht-diskriminierende Normen ungehindert zu schützen; vgl. Steindorff. Dienstleistungen und ordre public, S. 90. 52 In erster Linie also im Ausländergesetz vom 28. 4. 65, BGBl. I, 353. Dort dienen sie dazu, genau festgelegte Maßnahmen (z. B. die Ausweisung) in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen zu umschreiben. Die Tatbestände
II. Bundesrepublik Deutschland
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und Ordnungs recht. Die "Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes" vom 7. Juli 1967 53 bejaht das ausdrücklich 54• Damit ist klargestellt, daß insbesondere wirtschaftliche, soziale oder politische Gründe aZleine auch im Ausländerrecht nicht ausreichen können, um Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu rechtfertigen55 • Aus der Feststellung, daß die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht zu verstehen sind, folgt indessen nicht, daß die zuständigen Behörden die aus diesen Gründen im Ausländergesetz vorgesehenen Maßnahmen nur dann treffen könnten, wenn alle entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind, die für ein Eingreifen der Polizei- und Ordnungsbehörden auf Grund der Generalermächtigung vorliegen müssen 56 • Die überwiegende Meinung in der Literatur und die Rechtsprechung verlangen insbesondere nicht den Nachweis einer drohenden "konkreten Gefahr" oder gar einer "Störung" der öffentlichen Ordnung57 • Als Begründung dafür wird hauptsächlich angeführt, daß es sich bei den entsprechenden ausländerpolizeilichen Verfügungen, beispielsweise bei der Ausweisung, nicht um selbständige polizeiliche Verfügungen handle58 • In so allgemeiner Form kann man dieser Begründung nicht folgen: Bei Verfügungen auf Grund der Generalklausel ist es als Korrektiv zur Sicherung des Betroffenen unerläßlich, eine bereits bestehende Störung oder eine drohende Gefahr zu verlangen, die sich aus dem tatsächlich vorliegenden Sachverhalt ergibt59 • Darüber besteht Einigkeit in Anbesind also allgemein gefaßt wie die polizeirechtliche Generalermächtigung, die möglichen Eingriffe selbst, die Rechtsfolgen, dagegen speziell. 53 GMBl. 1967,231. 6' AuslGVwv. Anm. 3 zu § 6 AuslG. Diese Aussage ist nicht auf § 6 AuslG beschränkt. 55 Denkbar ist natürlich auch hier, daß Störungen solcher Art in Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung "umschlagen" können. 68 Vgl. z. B. Kloesel / Christ, A 1, S. 4 zu § 6 AuslG; Weissmann, § 2 AuslG, Anm. 5 c; Schiedermair, § 6 AuslG, Anm. 7. Siehe dagegen aber Dolde, S. 115 mit Hinweis auf Drews / Wacke, S. 50. 67 Kloesel / Christ, A 1, S. 4 zu § 6 AuslG; OVG Münster, Urteil vom 13.7. 1970, DÖV 70, 344; AuslGVwv. Nr. 8 zu § 13 AuslG; Das BVerwG, DVBl. 70, 624, erachtet eine abstrakte Gefahr für ausreichend, vgl. auch BVerG, E 35, 291. In seinem Urteil vom 5. 3. 68 (IV A 206/67) hält das OVG Münster sogar "allgemeine" Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für ausreichend. Auch der in § 6 Abs. 2 AuslG verwendete Begriff der "Störung" ist nach der h. M. nicht mit dem gleichlautenden Begriff des Polizei rechts identisch, a. M. Rittst4eg, NJW 72, 2158, der auch zum Begriff der "Gefahr" auf das allgemeine Polizeirecht verweist. 58 BVerwG, Urteil vom 16.6.1970 I C 47.69 - DÖV 72, 96; vgl. dazu Drews I Wacke, S. 290 ff. 59 Drews / Wacke, S. 292, spricht von einer "bevorstehenden" Gefahr; vgl. Wolff, Bd. IH, § 125 II b 2. Eine drohende Gefahr liegt vor, wenn ein Scha-
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II. Teil, 1. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten
tracht der Tatsache, daß die Generalklausel sonst einen gefährlich weiten Anwendungsbereich bekommen könnte. Diese Bedenken bestehen dagegen nicht, wenn es um den Erlaß von Verfügungen geht, die auf Gesetzen und Verordnungen beruhen, in denen ein bestimmter Sachverhalt für (abstrakt) gefährlich erklärt worden ist. In diesen Fällen ist der Nachweis einer vorliegenden Störung oder einer bevorstehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht erforderlich. Damit ist also die Frage von entscheidender Bedeutung, inwieweit der Gesetzgeber im Ausländerrecht bestimmte Sachverhalte für abstrakt gefährlich erklärt hat 60 , und damit für auf diesen beruhende Verfügungen der Nachweis drohender konkreter Gefahren entfallen kann61 . Es ist in aller Regel möglich, zwischen der polizeirechtlichen Generalermächtigung einerseits und besonderen Ermächtigungen auf der anderen Seite zu differenzieren 62 und von unselbständigen Verfügungen immer dann zu sprechen, wenn sie ihre Ermächtigungsgrundlage nicht in jener haben. Verfügungen auf Grund des Ausländergesetzes wären somit immer unselbständig. Die oben dargelegten Gründe für die unterschiedlichen Anforderungen an selbständige und unselbständige Verfügungen lassen diese Ansicht jedoch als zu formal erscheinen: Gerade im Ausländergesetz hat der Gesetzgeber nicht nur "bestimmte Verhaltensarten oder Zustände"63 als gefährlich eingestuft, sondern hat teilweise auf die in der polizeirechtlichen Generalklausel verwendeten Begriffe zurückgegriffen64 . Es wäre deshalb sehr bedenklich, wenn man auf das dort als unentbehrlich anerkannte Kriterium der drohenden konkreten Gefahr verzichten wollte 65 . Dagegen bestehen keine Einwände, beispielsweise die Ausweisung dann als unselbständige Verfügung anzusehen, wenn sie auf einen der in § 10 AuslG genauer umrissenen Tatbestände zurückgeht. So ist es im Ergebnis richtig, wenn etwa auf Grund des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG eine Ausweisung wegen strafbarer Handlungen verfügt wird, ohne daß eine bestehende Störung oder bevorstehende Gefahr für die öffentliche Ordnung nachgewiesen denseintritt wahrscheinlich ist. Von einer konkreten Gefahr spricht man, wenn eine solche sich aus dem tatsächlich vorliegenden Sachverhalt ergibt. 80 Wolff, Bd. III § 129 IV d. 01 So Drews / Wacke, S. 292. 8! So Drews / Wacke, S. 292. 03 Wolft, Bd. III, § 129 IV. 01 Oder hat diese sogar durch noch weitere "Belange der BRD" - ersetzt, vgl. etwa § 2, § 6 Abs. 2 und § 10 Abs. 1 Nr. 11 AuslG. 85 So aber insbesondere das BVerwG, a.a.O. Bei § 6 Abs. 2 AuslG wird dagegen teilweise eine konkrete Gefahr verlangt, vgI. Urteil des VGH Bad.-Württ. v. 14.7.69, NJW 69, 2109. Man darf aber nicht übersehen, daß gelegentlich alle Bestimmungen, die sich derselben Begriffe wie die polizeirechtliche Generalklausel bedienen, als "Generalklauseln" bezeichnet werden, vgl. WoZft, Bd. I § 47 II a; dann steht es durchaus mit der hier vertretenen Ansicht im Einklang, wenn man
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wird, und der Gedanke der Gefahrenabwehr nur im Bereich des Ermessens der entscheidenden Behörde eine Rolle spielt66 • Sieht man von dieser Erweiterung gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht durch die herrschende Meinung einmal ab, so ist festzustellen, daß durch die Auslegung der Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im traditionell polizeirechtlichen Sinne wenigstens einer uferlos weiten Interpretation ein Riegel vorgeschoben ist. Auch das war im Ausländerrecht nicht immer selbstverständlich: Vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes ergab sich aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausländerpolizeiverordnung vom 17. Juli 196267, daß der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht in dem engen Sinn des deutschen Polizei- und Ordnungsrecht zu verstehen ist68 . Diese Meinung wurde anfangs vereinzelt auch noch zum Ausländergesetz vertreten 69 und hatte zur Folge, daß praktisch jedes Interesse der BRD unter die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung subsumiert werden konnte7o . Durch die Änderung in der Auslegung ist es jedoch nicht zu einer nennenswerten Verbesserung der Rechtsstellung der Ausländer gekommen, da neben71 oder anstatt72 dieses Begriffs derjenige der "Belange der BRD"73 verwendet wird. c) Der Begriff der Belange der Bundesrepublik Deutschland
Dieser Begriff ist in die Untersuchung einzubeziehen, weil er einmal im Ausländerrecht neben denen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Verwendung findet und zum anderen im "Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG"74 alle nicht auf "Generalklauseln" beruhende Verfügungen für unselbständig hält; vgl. auch OVG Koblenz, Verw. Rspr. 18, 460. 66 Vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 11. 6. 1968, I C 13.67, Buchholz, 402.24, Nr. 4 zu § 10 AuslG. 67 Allgemeine Verwaltungsvorschrift (AVV) des Bundesministers des Innern, GMBL 1962, S. 268 zur Ausländerpolizeiverordnung vom 22.8. 1938, RGBl. I, S. 1053. 08 Nr. 4 Abs. 2 AVV; die AVV galt zwar ausdrücklich nur für EWG-Ausländer, da sie der Erfüllung der Verordnung Nr. 15 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft diente, man muß jedoch davon ausgehen, daß sie die EWG-Ausländer nicht durch erweiterte Auslegungsmöglichkeiten schlechter stellen sollte, so daß diesem Auslegungshinweis allgemeine Gültigkeit zukommt. 69 Rauballl Sträter, § 6 Anm. 2. 70 Es erübrigt sich ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch damals nicht an die "engeren Voraussetzungen für ein Einschreiten der Behörden" wie im Polizei- und Ordnungsrecht gebunden waren, vgl. Nr. 4 Abs. 2 A VV. 71 § 6 Abs. 2 AuslG. 72 z. B. § 2 und § 10 AuslG. 73 Der Begriff tauchte auch schon in § 5 Abs. 1 lit. ader APVO auf. 74 AufenthG/EWG vom 26. Juli 1969, BGBL I, S. 927, § 12.
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mit dazu dient, die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag wiederzugeben 75 . In der Begründung der Bundesregierung zu § 2 Aus1G76, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Gegenstand hat, wird festgestellt, daß ein Ausländer gegen Belange der BRD verstößt, wenn seine Anwesenheit im Bundesgebiet mit den "Interessen des Staates oder der Allgemeinheit nicht in Einklang steht". Diese Auslegung des § 2 AuslG ist eine Konsequenz der Tatsache, daß Ausländern kein Recht auf Einreise und Aufenthalt zugestanden wird. Der Begriff der Belange der BRD dient also zumindest an dieser Stelle nicht dazu, eine Ausnahmeregelung zu ermöglichen, er verkörpert vielmehr das System selbst77 und weist insoweit keine Gemeinsamkeit mit den Begriffen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Polizeirecht auf. Die festgestellte Weite des Begriff erschwert seine Bestimmung, und es ist kaum von Nutzen, daß derselbe Begriff außer in § 2 noch an anderen Stellen im Ausländergesetz verwendet wird78 . Aus der Formulierung des § 10 Abs. 1 Nr. 11 AuslG ergibt sich lediglich, daß alle in § 10 Abs. 1 Nr. 1-10 AuslG genannten Gründe "erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland" darstellen79 , es ist also wenigstens ein Katalog von Beispielfällen vorhanden. Auf diesen greift die bereits mehrfach zitierte allgemeine Ausführungsvorschrift zum Ausländergesetz zurück, wenn sie anordnet, daß Belange der BRD in der Regel als verletzt anzusehen sind, wenn ein Sachverhalt vorliegt, der eine Ausweisung rechtfertigen würde80. Schließlich hat dieser Begriff auch in der Rechtsprechung und der Lehre nicht die wünschenswerte und erforderliche Präzisierung erfahren81 , die den Behörden exakte rechtliche Maßstäbe an die Hand geben könnte. Man begnügt sich vielfach mit der Feststellung, der Begriff sei sehr weit gewählt82 und solle dazu dienen, jedes Interesse der BRD durchzusetzen83 . Er umfasse insbesondere alle "Wirkungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art", die für die Bevölkerung oder das 75 Amtl. Begründung zu § 12 AufenthG/EWG, BT-Drucksache V/4125. 78 Vgl. z. B. Schiedermair, § 2 AuslG Anm. 2, S. 97. 77 Siehe dazu unten Ir. Teil, 1. Kap., Abschn. I 3 d. 78 § 6 Abs. 2 AuslG (politische Betätigung), § 10 Abs. 1 Nr. 11 AuslG (Ausweisung). 79 In § 10 Abs. 1 Nr. 11 AuslG ist von "anderen Gründen" die Rede. 80 AuslGVwv zu § 2 AuslG; die Aufstellung in § 10 AuslG ist natürlich nicht abschließend. Außerdem verlangt § 2 im Gegensatz zu 9 u. 10 AuslG nicht die Verletzung "wesentlicher" Belange, so daß § 10 nur eine Orientierungshilfe sein kann; vgl. dazu OVG Berlin, Beschluß vom 22. 1. 1970, Schüler / Wirtz, § 2 Nr. 8. 81 Vgl. Dolde, S. 113, 114 m. w. N. 82 Weissmann, § 2 AuslG, Anm. 4. Kanein, DVBl. 66, 818, spricht davon, daß den Behörden ein "denkbar weiter" Spielraum geschaffen werden sollte. 83 Schiedermair, § 2 AuslG, Anm. 10.
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Staatswesen nachteilig sein könntens4 • Der Begriff der Belange der BRD schließt damit den Anwendungsbereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein und geht weit über ihn hinaus. Der m. E. gelungene Versuch, unter sonstigen erheblichen Belangen in § 6 Abs. 2 AuslG nur gewichtige außenpolitische Interessen der Bundes republik Deutschland zu verstehens5 , kann für die hier wesentlich interessanteren Bestimmungen des § 2 und § 10 AuslG nicht übernommen werden, da eine dem § 6 Abs. 2 AuslG entsprechende tatbestandliche Aufgliederung fehlt. Auch die Beschränkung der Ausweisungsgründe auf "wesentliche" BeiangeS6 ist nicht geeignet, in irgend einer Form zur Konkretisierung des Begriffs beizutragen, da sich diese Formulierung jeder Präzisierung entzieht und es im wesentlichen nur ermöglicht, Bagatellfälle auszuschließen s7 • Es ist deshalb nicht überraschend, daß dieser Gesetzesbegriff ernsten Bedenken begegnet und gelegentlich auch bezweifelt wird, daß er dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügt und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht zuwiderläuft ss • Seine verfassungsmäßige Auslegung bereitet zumindest größte Schwierigkeitens9 • d) Rechtliche Einordnung, Funktion und Bedeutung im Ausländerrecht
Entscheidend für die Interpretation der polizeirechtlichen Generalklausein und der sie bestimmenden Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist die Tatsache, daß sie fest in die geltende Rechtsordnung eingebettet sind und besonders vom Grundgesetz inhaltlich stark geprägt werden, daß zwischen den Schranken der Grundrechtsausübung und den Generalklauseln auf der einen Seite, und den Grundrechten auf der anderen wechselseitige Beziehungen bestehen90 • Diese Tatsache hat den Begriffen zusammen mit einer umfassenden Rechtsprechung die notwendige Bestimmtheit gegeben, die sich aus den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit ergibt91 • Es wurde bereits ange84 85 88 87
Schiedermair, § 2 AuslG, Anm. 10. Dolde, S. 183. Vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 11 AuslG. Vgl. Schiedermair, § 10 AuslG, Anm. 24; Schütterle, S. 348, 349, m. w. N.,
die die Bedeutung dieses Zusatzes belegen sollen. 88 Dolde, S. 112, m. w. N. in Fußnote 73; vgl. auch BVerfG in JZ 1957, 167 (mit Anm. Dürig) zu § 7 Abs. 1 lit. a PaßG, der denselben Begriff enthält. Diese Bedenken aus rechtsstaatlichen Gründen werden nicht dadurch ausgeräumt, daß im Einzelfall durch einen Verwaltungsakt konkretisiert wird, welches Verhalten eine Beeinträchtigung erheblicher Belange darstellt; a. M. Tomuschat, S. 49. 89 Vgl. auch Franz, DVBl. 65, 467; Klinkhardt, DVBl. 65, 465. Es bietet sich nicht die Interpretation an, die das BVerwG in der Entscheidung 3, 171, 176 und das BVerfG in der E 6, 32, 42 gefunden hat. 90 Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog, Art. 5 GG, Rdn. 244. 91 Friauf, S. 158; Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog, Art. 2 Abs.2 GG, Rdn. 81.
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deutet, daß diese Feststellung zumindest in Teilbereichen für den Begriff der Belange der BRD keine Gültigkeit hat, und es gilt deshalb nunmehr Einzelheiten über die Verwendung dieser Begriffe im Ausländerrecht zu ermitteln. Man muß zunächst trennen zwischen Bereichen, in denen auch Ausländer Rechte haben, die über das in einem Rechtsstaat unverzichtbare Minimum hinausgehen 92 , und solchen, in denen das nicht der Fall ist93 • Nur im zuerst genannten Bereich ist es ähnlich wie im Polizeirecht möglich, die fraglichen Begriffe - auch den der Belange der BRD ähnlich wie im Polizei- und Ordnungsrecht zu bestimmen. Dagegen fehlt der rechtliche Maßstab dort, wo weder das Grundgesetz noch das Ausländergesetz Rechte der Ausländer vorsieht. Das ist in den grundlegenden Fragen der Einreise und des Aufenthalts der Fa1l94 • In diesem Bereich ist der Begriff der Belange der BRD als der weiteste dieser drei kaum noch faßbar. Da man ihm die Aufgabe zumißt, jedes Interesse der BRD durchzusetzen, kann von einem Regel-Ausnahmeverhältnis nicht mehr die Rede sein. Es gibt keine wirkliche Abwägung der Interessen des betroffenen Ausländers gegen die in aller Regel nur pauschal dargelegten staatlichen Interessen95 • Es lassen sich beliebig viele Beispiele dafür finden, wie schlecht die rechtliche Lage der Ausländer dadurch ist 96 • Auch der Rechtsschutz bleibt in diesem Bereich aus denselben Gründen weitgehend ohne Wirkung 97 : Zwar handelt es sich bei den Begriffen um unbestimmte Rechtsbegriffe, die in vollem Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen sind, der betroffene Ausländer kann aber nur geltend machen, er sei in seinem Recht auf eine ordnungsgemäße, d. h. ermessensfehlerfreie Entscheidung verletzt. Ein solcher Ermessensfehler wird aber in vielen Fällen gerade wegen der fehlenden rechtlichen Maßstäbe nur dann festzustellen sein, wenn die Grenze zum Ermessensmißbrauch, zur Willkür, überschritten ist. 92 Dazu gehört beispielsweise § 6 AuslG, die politische Betätigungsfreiheit hat sich an Art. 5 GG zu orientieren. 93 Hierzu zählt in erster Linie Einreise und Aufenthalt. 94 Vgl. z. B. die amtliche Begründung zu § 2 AuslG, Schiedermair, § 2 AuslG, Anm.2und3. 95 So findet die Feststellung, die ständige Niederlassung von Ausländern verstoße gegen Belange der BRD, da diese kein Einwanderungsland sei, als Begründung immer wieder Verwendung, vgl. z. B. Urteil des bayr. VGH v. 4.6.1969, NJW 70, 1012 (Anm. Franz); siehe auch die Anmerkung von Wirtz, NJW 70, 2177. - Kanein, DVBl. 66, 618, lehnt eine Abwägung zwischen den Belangen des einzelnen und denen des Staates überhaupt ab, letzteres genieße uneingeschränkt Vorrang. 96 Vgl. beispielsweise das Urteil des VGH Bad.-Württ. in DÖV 1967, 352; siehe auch das Urteil des BVerwG vom 25. 2. 1969, DÖV 1969, 46. 97 Lyon-Caen, S. 697.
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Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der der Belange der BRD in weiten Bereichen des Ausländerrechts nicht genau festgelegte Schranken darstellen, die nur im Lichte der Rechte und Freiheiten, die sie begrenzen, zu verstehen sind und Ausnahmecharakter haben, sondern daß sie das allgegenwärtige Motiv für polizeiliche Eingriffe darstellen. Sie verkörpern das System der Ausländerpolizei98 • 111. Frankreich 1. Vorbemerkung
Auch die folgende Untersuchung erfaßt nicht, das sei an dieser Stelle erneut unterstrichen, den außerordentlich vagen und weiten Begriff des ordre public in allen seinen verschiedenen Verwendungsbereichen99 , sondern gibt einen kurzen Überblick über Inhalt und Bedeutung des Begriffs im Bereich der "police administrative"lOo und im Ausländerrecht. 2. Der ordre public im Bereich der police administrative
a) Abstrakte Definitionen
In der Rechtsprechung des Conseil d'Etat findet sich kein Definitionsversuch des ordre public 101 • Will man nicht versuchen, anhand der umfangreichen Rechtsprechung ein mosaikartiges Bild des ordre public im polizeirechtlichen Sinne zusammenzusetzen, bietet es sich an, auf Definitionen in der Literatur zurückzugreifen. Diese sind indessen wenig geeignet, als Grundlage eines Vergleichs mit der Verwendung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im deutschen Polizeiund Ordnungsrecht zu dienen: Wenn der Versuch einer Definition überhaupt unternommen wird102 , so ist das Ergebnis regelmäßig ohne große Aussagekraft103• Der ordre public wird als "amenagement harmo98 Wie noch zu zeigen sein wird, gilt diese Feststellung auch für die anderen Mitgliedstaaten, vgl. Verhoeven, Systeme juridique beIge, S. 299. Siehe dazu auch Lyon-Caen, S. 695, 696. 89 Etwa im IPR oder im Zivilrecht, vgl. Art. 6 und 1133 c. c. Vgl. WaHne, S. 642, Nr. 1079. 100 Vgl. dazu die einführenden überlegungen, S. 43 ff. Zum Begriff der police administrative siehe z. B. Benoit, S. 745 m. w. N. 101 Bernard, S. 45. 102 Chesne, S. 155, lehnt es beispielsweise ab, ,,3. rechercher l'introuvable definition de l'ordre public". 103 Das dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß die Definitionen nicht nur unter dem Aspekt der Verwendung des Begriffs in der polizeirechtlichen Generalklausel gesehen wird.
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nieux des rapports sociaux dans une certaine collectivite"104 oder als "etat de paix interieure de l'agglomeration resultant de sa protection contre les differents dommages qui pourraient l'atteindre, realise par une equitable determination des libertes individuelles"lo5 beschrieben. Es wäre vorschnell, allein auf Grund dieser und ähnlicher Definitionen Erwägungen darüber anzustellen, ob der ordre public im französischen Verwaltungsrecht nicht weiter ist als im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht, da er nicht nur das umfaßt, was zum menschlichen Zusammenleben in der Gesellschaft unerläßlich ist, sondern einen Idealzustand umschreibt. b) Bestimmung des ordre public durch Art. 97 des Gesetzes vom 5. 4.1884
Konkrete Ansatzpunkte für die Bestimmung des ordre public im Bereich der police administrative ergeben sich in erster Linie aus Art. 97 des Gesetzes vom 5. 4. 1884, das als "charte de la commune"106 bekannt ist, wegen seiner Bedeutung für den ordre public aber auch "base legale de l'ordre public" genannt werden könnte l07 . Zwar gilt dieses GesetzlOS unmittelbar nur für die "police mumClpale", seine Bedeutung reicht aber weit über diesen Rahmen hinaus: Es umschreibt durch die Bestimmung des ordre public den Gesamtbereich der "police administrative generale"109 mit Hilfe der schon klassischen Trilogie des "bon ordre", der "surete" und der "salubrite publique"l1O. Diese drei Begriffe 111 gilt es im einzelnen darzulegen112 • aa) bon ordre Der Begriff des "bon ordre"113 dient zunächst ganz allgemein der Abwehr von Störungen, die über ein übliches, beim Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft unvermeidliches Normalmaß hinaus-
Bernard, S. 50. Teitgen, S. 24. 108 Auch die Bezeichnung "code municipal" ist bekannt. 107 Bernard, S. 13. 108 Vgl. heute den "code de l'administration communale", in den das Gesetz integriert ist - Decret vom 22. 5.1957. 109 Im Gegensatz zur "police administrative speciale nicht zu verwechseln mit dem Unterschied police administrative - police judicaire. 110 Besonderheiten, die auf der Tatsache beruhen, daß das Gesetz unmittelbar auf die Ortspolizei beschränkt ist, werden kenntlich gemacht. 111 WaHne, S. 440, spricht von vier Gegenständen der police administrative, er fügt die "tranquillite publique" an, inhaltliche Unterschiede ergeben dadurch aber nicht. 112 Wobei insbesondere den grundlegenden Arbeiten von Bernard und Teitgen gefolgt werden kann. 118 Gelegentlich wird der bon ordre mit der tranquillite publique gleichgesetzt, Teitgen, S. 27; Laubadere, traite elementaire, S. 530. 104 105
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gehen114 • Besser faßbar ist dieser Begriff des bon ordre, wenn man zwischen einem "bon ordre" im engeren Sinne und der "tranquillite publique" unterscheidet: In diesem engeren Sinne dient er insbesondere dazu, Maßnahmen gegen von Menschenansammlungen aller Art verursachte Störungen zu ermöglichen115 , während die tranquillite publique weitgehend mit dem "repos des habitants" gleichgesetzt wird und hauptsächlich den Schutz vor Lärm umfaßt116 • bb) "Seeurite" oder "surete publique" Anders als im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht, in dem der Begriff der öffentlichen Sicherheit neben dem der öffentlichen Ordnung verwendet wird, dient die seeurite publique im französischen Verwaltungsrecht der genaueren Bestimmung des ordre publie und umschreibt die Aufgabe der zuständigen Behörden, für den Schutz vor Gefahren jeglicher Art zu sorgen, die einzelnen oder der Allgemeinheit drohen können. Durch die Beschränkung des Art. 97 des Gesetzes vom 5. 4. 1884 auf örtliche Bereiche tritt bei den ausdrücklich genannten Anwendungsfällen der Schutz vor Gefahren des Verkehrs in den Vordergrund, aber auch die Abwehr von Überschwemmungen, Brandgefahr und Epedemien117 wird ausdrücklich erwähnt. Auch der Schutz des reibungslosen Funktionierens staatlicher Einrichtungen und der Staatssicherheit gehört zur seeurite publique und damit zum ordre publie, wenn beide naturgemäß auch nicht im Art. 97 des genannten Gesetzes erwähnt werden konnten118• Der Begriff der seeurite publique hat im Lauf der Zeit eine erhebliche Ausdehnung erfahren und dient heute in einem kaum zu übersehenden Anwendungsbereich119 dem Schutz aller Rechte und Rechtsgüter einzelner oder der Allgemeinheit und ist insofern dem deutschen Begriff der öffentlichen Sicherheit nicht unähnlich. ce) "Salubrite" oder "sante publique" Unter diesem Begriff sind die Ordnungs behörden zum Schutz der öffentlichen Hygiene und der öffentlichen Gesundheit im weitesten 114 Diese weite Fassung, die Laubadere, a.a.O., mit "limitation de risques de desordre" umschreibt, erschwert eine Abgrenzung zum übergeordneten Begriff des ordre publie. Vgl. den Begriff der öffentl. Ordnung im deutschen Polizeirecht. 115 Vgl. die in Art. 97 des genannten Gesetzes enthaltenen Fallgruppen und Beispiele. 116 Siehe Robert, S. 345. 117 Das Gesetz spricht zusammenfassend von "fleaux calamiteux". 118 Vgl. Teitgen, S. 38 ff. 119 Das reicht vom Schutz vor baufälligen Häusern C. E. vom 18. 2. 1955, Ville de Cherbourg - revue du droit publie et de la science politique 55, 980, bis zu Eingriffen in den öffentlichen Personenverkehr, C. E. vom 11. 7.1934 - Beaumont et Meley - reeueil Dalloz 1934, 3.41.
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Sinne ermächtigt. Die eng umgrenzte Bedeutung, die diesem Begriff ursprünglich zukam - man verstand darunter nur Maßnahmen zum Schutze der Hygiene an öffentlichen Plätzen120 - hat heute längst einem Anwendungsbereich Platz gemacht, den man umfassend "police sanitaire" nennt121 • c) Ausdehnung des traditionellen ordre public
Obwohl die Begriffe des bon ordre, der securite und der sante publique, die dem ordre public im Verwaltungsrecht in besonderer Weise ihren Stempel aufdrücken, im Laufe der Zeit eine beträchtliche Entwicklung und Erweiterung erfahren haben, ist es durchaus nicht unstreitig, ob sie ausreichen, den ordre public zu charakterisieren: Auf der einen Seite wird energisch die Meinung vertreten, der ordre public umfasse ausschließlich das, was durch diese drei Grundelemente abgegrenzt sei122, auf der anderen gibt es aber Stimmen, die unter Hinweis auf einige Entscheidungen des Conseil d'Etat betonen, der Entwicklung des öffentlichen Rechts und seiner Aufgabenstellung entspräche eine Ausdehnung des ordre public über die drei Grundelemente hinaus. Die traditionelle Konzeption passe zum Bild des Nachtwächterstaates, dem Anwachsen der Staatsaufgaben, dem Entstehen einer Leistungsverwaltung und der Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat habe sich aber auch der ordre public angepaßt, so daß er nunmehr nicht mehr ausschließlich von den drei traditionellen Ausgangspunkten her interpretiert werden könne. Diese gegensätzlichen Meinungen entzündeten sich insbesondere an der Frage, ob Gesichtspunkte der Ästhetik allein ausreichen können, Maßnahmen zum Schutz des ordre public zu rechtfertigen123, ob die Moralität durch die Generalermächtigung geschützt wird124, und ob man Bernard, S. 26. Vgl. z. B. C. E. vom 28.4. 1961, Commune de Corneilles-en-Parisis actualite juridique, 1961.11.487. 122 So insbesondere Rotland, S. 399: "L'ordre public, c'est tout cela, ce n'est rien que cela". - Vede~, S~ 665, weist etwas vorsichtiger darauf hin, daß die Rechtsprechung die Frage, ob die Verwaltungsbehörden auf Grund der Generalermächtigung in andere Bereiche vordringen könnten, "im allgemeinen" negativ beantworte. - WaHne, S. 440: "Ordre, securite, salubrite et tranquillite publiques, voila les quatre objets que peut exclusivement poursuivre l'autorite de police lorsqu'elle limite la liberte des citoyens." - Teitgen, S. 43, "le bon ordre, la surete et la salubrite ... sont les seuls elements de l'ordre public". 123 Zu denjenigen, die die Ästhetik gleichberechtigt neben die traditionellen Elemente des ordre public im Ordnungsrecht stellen wollen, gehört z. B. Charlier, revue du droit public et de la science politique, 1947, 127; vgl. ebenso den Schluß antrag des Commissaire du Gouvernement Letourneur in der Rechtssache "societe nouvelle d'imprimerie et de publicite", C. E. 23.1. 1951, Revue de droit public et de Science politique, 1951, S. 1098. Vgl. dagegen Bernard, S. 30. 124 Vgl. dazu unten die Fußnoten 29 - 31. 120 121
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von einem ordre public econimique sprechen kann t25 • Bei allen diesen Fragenkomplexen, denen sich weitere anfügen ließen t26 , handelt es sich um das Grundproblem, ob sie zum ordre public im polizeirechtlichen Sinne gehören, ob Erfordernisse aus einem ihrer Bereiche allein ausreichen können, um Maßnahmen auf Grund der Generalklausel zu rechtfertigen, oder ob Gesichtspunkte dieser Art nur dann berücksichtigt werden können, wenn sie sich unter einen der drei genannten Grundbegriffe subsumieren lassen. Großes Aufsehen haben in diesem Zusammenhang Entscheidungen des Conseil d'Etat zum Schutze der Moralitätt27 erregt: der Conseil d'Etat hielt lokale Aufführungsverbote bestimmter Filme auf Grund der Generalklausel wiederholt allein wegen ihres "caractere immoral" für zulässig und stellte nicht etwa auf mögliche" troubles serieux" ab128• Er hob damit entgegen der klassischen Konzeption t29 die moralite publique in eine Reihe neben den bon ordre, die securite und die sante publique. Auch hinsichtlich der Ästhetik ist eine ähnliche Tendenz spürbar geworden - Fragen der Ästhetik sollen nicht mehr nur auf dem Umweg über die öffentliche Sicherheit berücksichtigt werden können t3o • Verallgemeinern kann man diese Entwicklung indessen nicht, so daß man zusammenfassend feststellen kann, daß der Begriff des ordre public nach wie vor ganz wesentlich durch seine drei herkömmlichen Elemente geprägt wird und nur vereinzelt Erweiterungen über den durch sie gesteckten Rahmen hinaus sichtbar geworden sind. Abgesehen von diesen Einzelerscheinungen 131 kann man keine grundlegenden Unterschiede gegenüber den Begriffen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht feststellen, wie sie einige der oben zitierten allgemeinen Definitionen nahelegen. Die 125 Von einem ordre publie eeonomique ist zwar gelegentlich die Rede, vgl. etwa Cour de Cassation, 29.11. 1950 - Tissot - Reeueil Dalloz 1951.170, im Bereich der Generalklausel geht es dabei aber immer nur um untergeordnete Gesichtspunkte, beispielsweise um Maße und Gewichte, um Öffnungszeiten ete., vgl. z. B. C. E. vom 30.5. 1952 - Confederation des Produeteurs - Reeueil arrets du C. E., S. 289. 126 Vgl. Bernard, S. 40 ff. 121 Es ist auch vom Schutz des "öffentlichen Anstandes" und der "Moralhygiene" die Rede, vgl. z. B. C. E. 30. 5. 1930 - Beauge - Reeueil arrets du C. E., S. 582. 128 C. E. 18.12.1959 Lutetia - aetualite juridique, 1960, I, S. 20. Weitere Nachweise bei Robert, S. 498 ff. 129 Siehe etwa noch C. E., 7.1.1958 Editions du fleuve noir - Recueil Dalloz, 1958, S. 570; vgl. Teitgen, S. 34. 130 Vgl. Robert, S. 442. 131 Vgl. dagegen für das deutsche Polizei- und Ordnungsrecht das "Kreuzbergurteil", preuß. OVG, amtl. Sammlung 9, 353 ff. und die Rechtsprechung zum Film "die Sünderin", z. B. Urteil des OVG Lüneburg v. 4.11.1952, DVBl. 53,83.
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Untersuchungen der Anwendungsbereiche des ordre public administratU bestätigen vielmehr die Auffassung, daß er auch im französischen
Ordnungsrecht nur das unverzichtbare Minimum dessen umfaßt, was Voraussetzung jedes menschlichen Zusammenlebens ist132 • Eine kurze Betrachtung der Funktion und Bedeutung des BegrUfs sowie seiner Einordnung in das System des Ordnungsrechts soll das Bild abrunden. d) Rechtliche Einordnung, Funktion und Bedeutung des ordre public
aal In der polizeirechtlichen Generalklausel Die Probleme, die eine allgemeine Umschreibung der Aufgaben der Polizei- und Ordnungsbehörden und ihre Generalermächtigung mit sich bringen, gleichen denen in Deutschland: Auch in Frankreich steht die Frage nach der Begrenzung dieSer Ermächtigung im Vordergrund, die Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Freiheit und genereller Eingriffsbefugnis. Grundsätzlich wird zunächst betont, die Freiheit stelle die Regel dar, die Einschränkung, der polizei~che Eingriff, nur die Ausnahme133. Das hat seinen Niederschlag im Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes gefundenl34 • Über die Verwirklichung dieses Prinzips hinsichtlich der Eingriffe auf Grund der Generalklausel in die persönliche Freiheit des einzelnen gehen die Meinungen auseinander: Einerseits wird die Generalklausel als gesetzliche Eingriffsermächtigung angesehen13S, andere sehen Eingriffe aus Gründen des ordre public als Ausnahme von dieser RegeP36. In jedem Fall gilt es aber, zwischen Freiheit und EingrUf auf Grund des ordre public nuancierte Lösungen zu treffen137 : Beide, Freiheit und Erfordernisse der Ordnung, müssen so gegeneinander abgewogen werden, daß sie das erforderliche und angestrebte Gleichgewicht erlangen138. Hierzu muß man einmal berücksichtigen, 132 Vgl. Vedel, S. 15: "L'ordre public au sens administratif du terme, est constitue par un certain minimum de eonditions essentiels a une vie eonvenable." 133 Lyon-Caen, in revue trimestrielle de droit europeen, Bd. 2, 1966, S. 693, 694. Bernard, S. 83; WaHne, S. 437; Robert, S. 507. 134 Vgl. beispielsweise Conseil d'Etat, arret Barinstein, reeueil Sirey, 1948, 3.1. 135 Waline, S. 439; Vedel, S. 665. 13B Duez, in: Duez / Debeyre, S. 513, der die Gegenmeinung für juristische "Akrobatie" hält. 137 C. E. 19.5.1933 Benjamin - reeueil Sirey, 1934.3.1; reeueil Dalloz 1933.3.56; siehe auch Vedel, S. 674. 138 Zu Einzelheiten siehe Dalloz, "liberte individuelle"; Robert, S. 345, 442, 498.
III. Frankreich
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daß es Freiheiten unterschiedlichen Gewichts gibt139, zum anderen müssen polizeiliche Eingriffe den jeweiligen Umständen von Ort und Zeit Rechnung tragen140, sie müssen erforderlich141 und verhältnismäßig sein. Eine ganz entscheidende Sicherung gegen eine übermäßige Ausdehnung des ordre public stellt die gerichtliche Überprüfbarkeit der auf der Generalklausel beruhenden Maßnahmen142 dar. Grundsätzlich erstreckt sich die richterliche Kontrolle immer auf die materielle Richtigkeit der zugrunde liegenden Tatsachen, meist prüft der Richter die rechtliche Qualifizierung, nie stellt er dagegen die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Maßnahme143 • Der Vergleich mit dem deutschen System lenkt das Hauptinteresse auf den zweiten Punkt, auf das Problem also, inwieweit es gerichtlicher Kontrolle unterliegt, ob die der Maßnahme zugrunde liegenden Tatsachen so beschaffen sind, daß sie diese tragen können. Wie oben bereits angedeutet, lehnt es der Richter in Frankreich in Einzelfällen ab, diese rechtliche Qualifizierung der Tatsachen zu überprüfen, den Verwaltungsbehörden wird in diesen Fällen ein besonders weiter Spielraum gelassen1". Es ist kaum möglich, eine allgemeingültige Aussage darüber zu machen, in welchen Fällen eine solche Kontrolle ausgeübt wird145 • Mit Sicherheit ist das nur dann der Fall, wenn es um die Einhaltung von Regeln geht, die die Rechtsprechung selbst entwickelt hat1 46 • Ein besonders wichtiger Fall, der hierzu zählt, ist die Beeinträchtigung der persönlichen Freiheiten147 • Gerade beim Ausbalancieren des Verhältnisses der Freiheiten des einzelnen und des ordre public ist die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit kaum zu überschätzen148• Insgesamt kann 138 Es gilt zumindest die von der Verfassung und die gesetzlich garantierten Freiheiten zu unterscheiden. Die Rechtsprechung des Conseil d'Etat differenziert weiter und unterscheidet vom Gesetz nur vorgesehene oder erwähnte Freiheiten und solche, die im einzelnen eine Regelung erfahren haben, vgl. Bernhard, S. 113 ff. 140 Siehe Vedet, S. 675, 676. 141 Vgl. z. B. C. E. 20.1.1965, dame Vieini, reeueil arrets du C. E., S. 41; siehe de Laubadere, Manuel de Droit administratif, S. 206. 142 Das franz. Recht unterwirft Rechtsverordnungen und individuelle Entscheidungen nicht verschiedenen Regelungen. 143 Fromont, S. 170; zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe Teitgen, S.238. 144 Fromont, S. 175, stellt diese Rechtsprechung der deutschen zum "Ermessensbegriff" an die Seite. 145 Steindorjj, die Nichtigkeitsklage, S. 59 ff., stellt die Hypothese auf, der Richter übe eine je nach dem Schutzbedürfnis der Beteiligten mehr oder weniger weitreichende Kontrolle aus; vgl. auch Odent, S. 979. 148 Vgl. Fromont, S. 178. m So die ständige Rechtsprechung des Staatsrats bezüglich der Befugnisse der Ortspolizei, vgl. Fromont, S. 178. 148 Vedet, S. 681.
5 Bongen
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H. Teil, 1. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten
man feststellen, daß Maßnahmen aufgrund des ordre public soweit richterlicher Prüfungskompetenz unterliegen, daß man nicht von einem Bereich sprechen kann, in dem den Ordnungsbehörden uneingeschränkte Befugnisse eingeräumt wären149. bb) Im Verwaltungsrecht allgemein Wie auch im deutschen Verwaltungsrecht wird der ordre publieBegriff auch in Frankreich verwendet, ohne daß ihm eine bestimmte rechtliche Funktion zukäme wie in der Generalklausel. Er dient in diesem Zusammenhang insbesondere der Umschreibung aller der Bestimmungen, die den weiten Zielen dienen sollen, die die oben genannten allgemeinen Definitionen aufstellen150, also beispielsweise der "satisfaction des besoins collectifs"151. Ohne die Grenzen, die sich aus der Verwendung des ordre public-Begriffs als Generalermächtigung ergeben, sprengt er sogar den Rahmen der Eingriffsverwaltung152 • 3. Der Begriff des ordre public im Ausländerrecht
Zwischen der Verwendung der Begriffe öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht einerseits und im Ausländergesetz andererseits wurden beträchtliche Unterschiede festgestellt. Nicht anders verhält es sich mit der Verwendung des ordre public-Begriffs in Frankreich153 . Da insbesondere ein Recht der Ausländer auf Einreise und Aufenthalt fehlt 154 , kann der ordre public nicht in einer Wechselbeziehung zwischen Freiheit und notwendiger Beschränkung Gestalt annehmen. Er kennzeichnet nicht eine "Ausnahme", da die "Regel" nicht ebenso ausgeprägt ist wie im allgemeinen Ordnungsrecht1 55• Auch der Rechtsschutz, der Ausländern gegen ausländerpolizeiliche Maßnahmen zur Verfügung steht, kann deshalb nicht den hohen Stand erreichen, wie er sonst gegenüber ordnungsbehördlichen Eingriffen selbstverständlich ist: Zwar steht dem Ausländer heute gegen die Ausweisung der "recours pour exces de pouvoir" zur Verfügungl56, der 149
Bernard, S. 143.
150 Siehe oben H. Teil, 1. Kap., Abschn. H 2 a. 151 Bernard, S. 48 ff. 152 Bernard, S. 71 ff. m. w. N. 153 Von besonderer Bedeutung ist seine Verwendung in Art. 23 der Ordonnanee vom 2. 11. 1945 betreffend die Ausweisung. 154 Die Bestimmungen für Ausländer aus EWG-Mitgliedstaaten werden an dieser Stelle ausgeklammert. 155 Vgl. insbesondere Lyon-Caen, S. 695. 158 Das war nicht immer so, früher hielt der Conseil d'Etat die Ausweisung überhaupt für einen Regierungsakt, vgl. z. B. C. E. 4. 8. 1836, Naundorf, reeueil arrets du Conseil d'Etat, S. 393.
IV. Ergebnis
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Nutzen bleibt allerdings vielfach gering, da der Conseil d'Etat sich meist nicht berufen fühlt, etwa die Frage zu klären, ob die von den Verwaltungsbehörden vorgenommene Würdigung, daß der Aufenthalt eines Ausländers eine Gefahr für den ordre public darstellt, zutreffend ist157 • Angesichts dieser Tatsache stellen auch andere Garantien158 keinen vollwertigen Ersatz dar. Diese Rechtsposition des Ausländers findet ihre Begründung in dem Bestreben, staatlichen Interessen, insbesondere der Staatssicherheit und solchen wirtschaftlicher Art, bedingungslos Geltung und Vorrang zu verschaffen159 • Die für die Begrüfe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im deutschen Ausländerrecht getroffenen Feststellungen160 haben also auch für das französische Ausländerrecht Gültigkeit: Der ordre public dient als Rechtfertigung für das Fehlen wirkungsvoll schützender Regeln161 •
IV. Ergebnis Die Untersuchung der Verwendung des Begriffs der öffentlichen Ordnung im deutschen und französischen Verwaltungs- und Ausländerrecht, die stellvertretend auch für die anderen Mitgliedstaaten gelten soll, hat keine gravierenden Unterschiede zutage gefördert. Insbesondere ließ sich keine Bestätigung der auch für diesen Bereich des Verwaltungsrechts vielfach vertretenen Ansicht finden, der ordre public habe im romanischen Rechtskreis einen wesentlich weiteren Inhalt als im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht1 62 • Diese Meinungen dürften ihren Ursprung im Internationalen Privatrecht haben163 , wo sie für die gleichlautenden, im übrigen aber streng zu trennenden Begriffe durchC. E. 24. 10. 1952, Eckert, recueil arrets du Conseil d'Etat, S. 407. Vgl. dazu im einzelnen Robert, S. 290. 159 Man rechnet deshalb die Ausländerpolizei zum Bereich der sog. "haute police"; vgl. Bernard, S. 139, 140 m. w. N. 160 Vgl. oben 11. Teil, 1. Kap., Abschn. I, 3 d (am Ende). 161 Lyon-Caen, S. 695. 182 So insbesondere zur Begründung der Umsetzung der Richtlinie 64/221/ EWG vom 25. 2. 1964 durch das "Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG" (AufenthG/EWG) vom 22.7.1969 und der zusätzlichen Verwendung des Begriffs der "Belange der BRD" in § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG; vgl. unten II. Teil, 4. Kap., Abschn. II 2. Vgl. die amtl. Begründung zu § 12 AufenthG/EWG, Drucksache des BT, V/4125; ebenso Fröhlich, S. 33; nicht dagegen Chesne und Guggenheim, S. 310, auf die Fröhlich verweist, vgl. Rdn. 55, S. 33. 163 Viele Autoren greifen auf Definitionen des IPR und des Privatrechts zurück oder verweisen auf Literatur aus diesen Bereichen; vgl. z. B. Maestripieri, libre circulation, S. 180, der aber selbst Zweifel daran äußert, ob diese überlegungen für Art. 48 und 56 EWGV verwertbar sind; Chesne, S. 155, 156; Desmedt, S. 65; v. Brunn, NJW 62, 985. Das mag nicht zuletzt in der Abgrenzung dieses Bereichs in Frankreich seine Ursache haben. 157 158
68
H. Teil, 1. Kap.: Öffentl. Ordnung im Polizeirecht der Gliedstaaten
aus ihre Berechtigung haben 164 • Es ist aber nicht möglich, im Bereich des Internationalen Privatrechts gewonnene Ergebnisse hier in irgend einer Form zu verwerten 165• Deutlich geworden ist indessen eine unterschiedliche Verwendung des Begriffs der öffentlichen Ordnung im Bereich der polizeilichen Generalermächti,gung einerseits und im Ausländerrecht andererseits, in Deutschland und gleichermaßen in Frankreich. Nicht anders verhält es sich in den anderen Gliedstaaten der Gemeinschaft 166 • Es wird von besonderem Interesse sein festzustellen, inwieweit das Gemeinschaftsrecht hier eine Änderung herbeiführen konnte.
Vgl. z. B. Makarov, S. 88. Vgl. die Formulierung im Europäischen Niederlassungsabkommen vom 13. 12. 1959, BGBl. 1959 II, S. 997 ff., Protokoll, AbsChnitt 111 zu den Art. 1, 2 und 3, a: "Der Begriff ,öffentliche Ordnung' ist in dem weiten Sinne auszulegen, in dem er im allgemeinen in den kontinentalen Ländern verstanden wird." 166 Es bestehen im wesentlichen nur Unterschiede in der Terminologie, Lyon-Caen, S. 695. 164 165
Zweites Kapitel
Die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den Vorbehalts klauseln des EWG-Vertrages I. "Gemeinschaftsrechtliche Begriffe" 1. Vorbemerkung
Die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit werden in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 nicht näher erläutert 1• Es liegt jedoch auf der Hand, wem die Aufgabe zukommt, sie zu konkretisieren: Sieht man einmal von der Eingrenzung durch die in Art. 52 Abs. 2 vorgesehenen Koordinierungsrichtlinien ab 2 , die der Rat zu erlassen nat, obliegt sie zunächst allen den nationalen Stellen, die mit diesen Vertragsbestimmungen in Berührung kommen, darüber hinaus der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und nicht zuletzt dem Europäischen Gerichtshof3• Damit ist indessen noch nicht das Problem gelöst, woraus sich die Maßstäbe für die Bestimmung dieser Begriffe ergeben. Dazu lassen sich zwei entgegengerichtete Grundpositionen einnehmen: einmal bietet es sich an, diese Begrüfe in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 anhand des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen, zum anderen könnte man in ihnen ~uch eine Rückverweisung auf nationales Recht sehen und sie nachdem Vorbild gleichlautender Begriffe in den Rechtsordnungen-eIer einzelnen Mitgliedstaaten interpretieren4 • Diese Frage wird meist in der Form angeschnitten, daß Erwägungen darüber angestellt werden, ob den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschaftsrechtlicher Charakter zugebilligt werden könne. Vielfach wird jedoch versäumt, über die Verwendung dieses 1 Im Vergleich zu Art. 36 oder Art. 224 EWGV vermißt man die gleichzeitige Nennung verdeutlichender Begriffe. 2 VgI. insbesondere die Richtlinie 64/2211EWG, ABI. 850/64 v. 25.2. 64. 3 VgI. Art. 155, 169 und 177 EWGV. Gerade die Prüfungskompetenz des Gerichtshofs wird gelegentlich für so selbstverständlich gehalten, daß man sie nicht mehr der Erwähnung für wert hält, vgI. Broecksz vordem Europäischen Parlament am 17.1.1972, ABI., Verhandlungen des EP, Nr. 145, Januar 1972, S. 15. 4 Hierbei ist insbesondere an die in Art. 215 II EWGV gewählte Methode zu denken, vgl. dazu Feige, S. 130.
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II. Teil, 2. Kap.: Offent!. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Terminus Rechenschaft abzulegen und deutlich zu machen, unter welchen Voraussetzungen ein im Vertrag verwendeter Begriff dieser Kategorie zugerechnet werden kann und welche Konsequenzen eine solche Klassifizierung mit sich bringt. Größerer Klarheit wegen könnte man deshalb versucht sein, überhaupt nicht von gemeinschaftsrechtlichen Begriffen zu sprechen. Dieser Ausweg bleibt jedoch wegen der Verbreitung dieser Wendung in der Diskussion um die Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 verwehrt. Um Mißverständnissen aus terminologischen Gründen vorzubeugen, soll deshalb vorweg festgestellt werden, daß in den gesamten folgenden Ausführungen unter "gemeinschaftsrechtlichen" Begriffen nur solche verstanden werden, die anhand gemeinschaftsrechtlicher Maßstäbe zu definieren sind ("materieller" Gemeinschaftsrech tsbegriff). 2. Die Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anhand des Vertrages
Niemand 'kommt bei Begriffen, die nach dem Vertrag ohne Schwierigkeiten zu bestimmen sind, auf den Gedanken, ihre gemeinschaftsrechtliche Natur anzuzweifeln, für ihre Auslegung auf nationales Recht zu verweisen und auf dort vorhandene gleichlautende Begriffe zurückzugreifen 5 • Diese Feststellung erleichtert die Lösung des Problems jedoch kaum, sondern verschiebt sie nur und wirft die Frage auf, wann ein Begriff als vom Vertrag bestimmt gelten kann, ob das gleichsam auf den ersten Blick zu entscheiden ist, oder erst nach Anwendung der bekannten Auslegungsmethoden. Das berücksichtigt der Generalanwalt Lagrange in seinem Schlußantrag in der Rechtssache 75/638 nicht genügend, wenn er dem Arbeitnehmerbegriff in Art. 48 ff. gemeinschaftsrechtlichen Charakter abspricht und daraus ausdrücklich die Schlußfolgerung zieht, daß in ihm nur ein Verweis auf Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gesehen werden könne, die zu seiner Bestimmung heranzuziehen seien7 • Er stützt seine Meinung auf die Feststellung, der einzige Anhaltspunkt für die Bestimmung dieses Begriffs sei in seiner Gegenüberstellung zu dem des Selbständigen zu sehen. Damit sei der Begriff aber vom Vertrag nicht "hinreichend genau" bestimmt. Der Gerichtshof folgte in seiner Entscheidung dem Generalanwalt nicht und maß dem Begriff des Arbeitnehmers ohne Einschränkung gemeinschaftrechtlichen Charakter zu8 • 5 Man denke etwa an den Begriff der Freizügigkeit, der in Art. 48 Abs. 2 näher bestimmt worden ist. 6 Urteil vom 19.3. 1964, EuGHRspr. X, 379, 413. 7 Ebd., S. 412, 413. 8 Ebd., S. 400.
1. "Gemeinschaftsrechtliche Begriffe"
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Dieser Ansicht ist auch hinsichtlich der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu folgen: Es widerspräche den Zi~len des EWG-Vertrages, wenn man bestimmte Begriffe - insbesondere solche, deren Bestimmung anhand des Vertrages Schwierigkeiten bereitet definieren wollte, indem man die Möglichkeit eröffnete, auf gleichlautende Begriffe in den Mitgliedstaaten zurückzugreifen9 • Dadurch würde die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts weitgehend unmöglich gemacht, und die Kommission und der Gerichtshof entscheidend geschwächt. Dieser Weg zurück zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten birgt überdies gerade bei nicht auf Anhieb zu bestimmenden Begriffen die Gefahr in sich, daß ein voreiliger Rückzug von den allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätzen auf nationales Recht angetreten wird. Ihr erliegt der Generalanwalt selbst: Er unterläßt es, den Arbeitnehmerbegriff näher zu untersuchen und begnügt sich mit einer wenig tiefgreifenden Betrachtung des Textes. Dabei hätte beispielsweise schon ein Blick auf die Zweckbestimmung dieses Begriffs wesentlich genauere Ergebnisse ermöglicht. Wenn man also schon in ähnlicher Form zwischen gemeinschaftsrechtlichen, anhand des Vertrages hinreichend genau zu bestimmenden Begriffen, und solchen mit nichtgemeinschaftsrechtlichem Charakter unterscheiden wollte, müßte man zumindest klarstellen, welche Auslegungsmethoden anzuwenden sind, ehe auf nationales Recht zurückgegriffen werden kann. Zu berücksichtigen sind überdies die weitreichenden Folgen, die sich ergeben könnten, wenn man die Auslegung bestimmter Begriffe im Vertrag nach nationalem Recht vornehmen wollte. So würden die Mitgliedstaaten dadurch beispielsweise in die Lage versetzt, den subjektiven Anwendungsbereich des Vertragskapitels über die Arbeitskräfte in weitem Rahmen selbst zu bestimmen, wenn man ihnen die Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs überlassen wollte. Es bestünde die Möglichkeit, die entsprechenden Vertragskapitel zu unterlaufen und wir kungslos zu machen. Gleiches gilt für die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Wollte man so verfahren, hieße das die Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 weitgehend auf eine Stufe stellen mit den bekannten gleichlautenden Souveränitätsvorbehalten in gewöhnlichen Niederlassungsabkommen. Damit würde man dem Gemeinschaftsrecht nicht gerecht, da dieses dann nach Belieben zur Fassade abgewertet werden könnte, hin9 Vgl. aber Fröhlich, S. 28, der ausdrücklich feststellt, daß das jeweilige nationale Recht für die Bestimmung dieses Begriffs ausschlaggebend sei; ebenso Knolle, in: Groeben / Boeckh, Art. 48 Rdn. 3 b. Dagegen bestehen keine Bedenken, einen dem Art. 215 11 EWGV entsprechenden Weg einzuschlagen.
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Ir. Teil, 2. Kap.: Offent!. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
ter der sich weiterbestehende nationale Sonderregelungen für Ausländer in beliebigem Umfang verbergen könnten. Man würde die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit damit von vorne herein als Prinzip aufgeben und sie der völligen Aushöhlung preisgeben, wenn man die Auslegung dieser Klauseln und Begriffe in der dargestellten Weise ganz den Mitgliedstaaten überlassen wollte lO • Diese Gründe sprechen eindeutig dafür, den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ohne jede Einschränkung gemeinschaftsrechtlichen Charakter zuzuerkennen und damit den Weg freizumachen, sie vom Vertrag her zu bestimmen. Das heißt indessen nicht - das kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden -, daß diese Begriffe zwangsläufig bereits heute positiv so bestimmt sein müßten, daß zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten keinerlei Unterschiede bestehen könnten, ihnen bleibt vielmehr durchaus ein im einzelnen noch festzulegender Spielraum, innerhalb dessen sie bestimmen können, was für die öffentliche Ordnung essentiell istl l. Damit bleibt die Möglichkeit, der unbestreitbaren Tatsache Rechnung zu tragen, daß in den einzelnen Mitgliedstaaten gegenwärtig keineswegs völlig übereinstimmende Vorstellungen über die Grundsätze eines geordneten Zusammenlebens im Gemeinwesen existieren, sondern in den Verfassungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnungen durchaus Unterschiede festzustellen sind. Sie lassen erkennen, wie weit die Europäische Integration fortgeschritten ist. Man kann also zunächst eine mehr punktuelle, negative Eingrenzung der Begriffe d~r öffentlichen Ordnung und Sicherheit erwarten. Diese kann natürlich nicht ein für alle Mal festgelegt werden, wenn man die Gemeinschaft nicht als ein statisches Gebilde begreifen will. Von gemeinschaftsrechtlichen Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu sprechen heißt also nicht, eine einheitliche öffentliche Ordnung feststellen und voraussetzen, sondern nur den Weg zu ihr offenhalten. Wenn man es dagegen von vornherein allein den Mitgliedstaaten überlassen wollte, die Vorbehaltsklauseln auszufüllen, würde man diese Entwicklung abschneiden und der Dynamik des Vertrages in keiner Weise gerecht werden. 10 Troclet, in: Ganshof van der Meersch, Nr. 1842. Ausgehend von der stillschweigenden Annahme, die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit des Gemeinschaftsrechts seien identisch mit denen des deutschen Ausländerrechts, kommt Hanau, S. 202, zu der Ansicht, das Gemeinschaftsrecht bringe keine Einschränkung der Ausweisungsmöglichkeiten, wie sie das AuslG vorsieht. 11 Wenn man die Formulierung Steindorffs, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 92, 93, zugrunde legt, kommt es darauf an, den "Kompetenzund Verantwortungsbereich" der Mitgliedstaaten abzugrenzen, innerhalb dessen sie entscheiden können, was für ihre politische, gesellschaftliche usw. Ordnung wichtig ist.
1.
"Gemeinschafts rechtliche Begriffe"
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Der zeitliche Verlauf dieses Prozesses hängt entscheidend von der Gesamtentwicklung der Gemeinschaft ab, eine gemeinschaftsfreundliche Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis und eine vorrangig am Gemeinschaftsrecht orientierte Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten können zusätzliche Impulse geben. Eine Schlüsselposition kommt neben der Kommission - auch dem Europäischen Gerichtshof zu, und die Entwicklung eines einheitlichen Inhalts der Begriffe hängt davon ab, welche Auslegungsbefugnisse ihm zukommen bzw. er für sich in Anspruch nimmt. Es ist jedoch kaum zu befürchten, daß sich der Gerichtshof dieser Aufgabe dadurch entziehen könnte, daß er hier enge Grenzen zieht, wenn der Umfang der überprüfbarkeit auch nicht ganz klar zu definieren ist, da nicht wie im deutschen Recht zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensbegriffen unterschieden wird12 • Natürlich ist es dem Gerichtshof nicht möglich, die tatsächliche Entwicklung der Gemeinschaft vorwegzunehmen, er kann die Entwicklung einer europäischen öffentlichen Ordnung zwar begünstigen, im übrigen eine solche aber nur feststellen und nachzeichnen. 3. Die Diskussion um den gemeinschaftsrechtlichen Charakter der Begriffe
Auf dem Hintergrund dieses Standpunktes, der in Grundzügen vorweg skizziert wurde, um darauf aufbauend bestehende Unterschiede in der Diskussion unbeeinflußt von terminologischen Differenzen deutlich machen zu können, soll nunmehr zusammenfassend ein überblick über den Streitstand gegeben werden, indem die bereits angesprochenen Argumente genauer beleuchtet werden. In einem Bericht zur Definition der Begriffe "öffentlichen Verwaltung" und "öffentliche Gewalt" in Art. 48 Abs. 4 und Art. 55 Abs. 1, die ganz ähnliche Fragen aufwerfen, hat der Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments festgestellt13 , daß die Mitgliedstaaten selbst darüber zu entscheiden hätten, was unter diesen Begriffen zu verstehen sei, da bei ihnen hierfür eindeutige Regelungen existierten. Das Europäische Parlament hat sich in einer entsprechenden Entschließung diese Formulierung zu eigen gemacht1' und festgestellt, daß Art. 48 Abs. 4 auf jede Beschäftigung anzuwenden sei, die ein Mitgliedstaat zu Vgl. dazu Steindorff, die Nichtigkeitsklage, S. 123 ff. Bericht des Abgeordneten Broecksz, ausgearbeitet im Namen des Rechtsausschusses, Dok. 225/71 des Europäischen Parlaments; vgl. dazu die Erläuterungen vor dem Europäischen Parlament am 17.1. 72, ABl., Verhandlungen des Europ. Parlaments, Nr. 145, S. 12 ff. 14 "Entschließung zur Definition der Begriffe "öffentliche Verwaltung" und "öffentliche Gewalt" in den Mitgliedstaaten und ihren Folgen für die Anwendung von Art. 48 Abs. 3 und Art. 55 des EWG-Vertrages", ABI., 15. Jahrg., Nr. C 10 v. 5. 2. 72, S. 4. 12 IS
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H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
seiner öffentlichen Verwaltung rechne15 • Es wurde zwar angemerkt, daß die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs durch diese Formulierung nicht in Frage gestellt werden sollten16 , das genügt indessen kaum, um die Haltung des Europäischen Parlaments zur Frage nach der Natur dieser Begriffe eindeutig zu klären, denn die überprüfbarkeit aller im Vertrag verwendeten Begriffe kann nicht als sicheres Zeichen für ihre rechtliche Natur gewertet werden, es kommt vielmehr darauf an, welche Prüfungsmaßstäbe man dem Gerichtshof zuweist. Zurecht hat der Vizepräsident der Kommission Haferkamp vor Verabschiedung der genannten Entschließung eindringlich auf die Gefährlichkeit ihrer Formulierung hingewiesen und davor gewarnt, den Eindruck entstehen zu lassen, die Auslegung der fraglichen Begriffe sei nach Auffassung des Parlaments in die Hand der Mitgliedstaaten gelegt. Die Kommission stehe auf dem Standpunkt, daß es sich um gemeinschaftsrechtliche Begriffe handele17 • Mit der von ihm vorgeschlagenen Formulierung macht er deutlich, daß ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff nicht unbedingt seinen Inhalt so eng umschreiben muß, daß den Mitgliedstaaten keinerlei Spielraum mehr bleibt. Diese Tatsache scheint der Rechtsausschuß und das Parlament außer acht gelassen zu haben: Sie sehen offensichtlich die einzige Alternative gegenüber dem von ihnen eingeschlagenen Weg in einem gemeinschaftsrechtlichen Begriff, der von vorn herein eine völlig einheitliche Rechtslage in der Gemeinschaft voraussetzt bzw. erzeugt18 • Auch in der Literatur steht weithin die Frage im Mittelpunkt, ob man angesichts der bestehenden Unterschiede in den Mitgliedstaaten von einem gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sprechen kann. Selmer19 stellt fest, daß der Vertrag von unterschiedlichen Auffassungen des Begriffs der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgeht und sie als gegeben hinnimmt2o• Er lehnt es deshalb ab, einen "innerhalb der gesamten Gemeinschaft gültigen Begriff der öffentlichen Ordnung" anzuerkennen, der "nur noch VgI. Nr. 5 und Nr. 7 der unter Nr. 14 zitierten Entschließung. SO der Berichterstatter Broecksz in seiner unter Nr. 13 zitierten Erläuterung, S. 13 und S. 15. 17 Verhandlungen des EP vom 17.1.1972, ABI., Verh. des Europ. Parlaments, Nr. 145, S. 14. 18 Wenn man aber zum Vergleich die "Entschließung betreffend die Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag einer Richtlinie zur Koordinierung der für Reisen und den Aufenthalt von Ausländern geltenden Sonderrnaßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind", ABI. Nr. 134, vom 14.12. 1962, S. 2861/62, heranzieht, so muß man die genannten Ausführungen des Parlaments wohl für in der Formulierung mißglückt halten. 19 Selmer, DÖV 67, 328 ff. !O Selmer, S. 331. 15
1B
I. "Gemeinschaftsrechtliche Begriffe"
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der Auslegung bedarf"21. Diese Ansicht begründet er damit, es müsse auch den Schöpfern des EWG-Vertrages bekannt gewesen sein, daß der Versuch der Bestimmung eines für alle EWG-Staaten einheitlichen Begriffs der öffentlichen Ordnung angesichts der in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichenden Verfassungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnungen und der hierin zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Wertvorstellungen zumindest vorläufig zum Scheitern verurteilt sein müßte. Diese Begründung erlaubt die Schlußfolgerung, daß auch Selmer es nur ablehnt, von der öffentlichen Ordnung als einem so eng umrissenen gemeinschaftsrechtlichen Begriff zu sprechen, daß sein Gehalt für alle Mitgliedstaaten einheitlich festgelegt wäre und er den tatsächlich existierenden Unterschieden nicht Rechnung tragen könnte bzw. diese beseitigen müßte. Das stünde mit der hier vertretenen Ansicht durchaus im Einklang, da die Feststellung, daß es sich um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff handelt, nur besagt, daß dieser vom Gemeinschaftsrecht her zu verstehen ist. Als Bestätigung dieser Interpretation durch Selmer selbst könnte man seine Aussage interpretieren, mit der Feststellung einer "Neutralität des EWG-Vertrages gegenüber den unterschiedlichen ordre publics" der Mitgliedstaaten22 sei nicht gesagt, daß der status quo ante konserviert werden solle, da das dem Sinn des EWG-Vertrages widerspräche. Selmers weitere Ausführungen weisen jedoch eindeutig in eine andere Richtung: Er führt aus, daß das auch seiner Ansicht nach notwendige Korrektiv zur Begrenzung der Vorbehaltsklauseln aus Gründen der "innerstaatlichen" öffentlichen Ordnung und Sicherheit sich aus einem "mehr quantitativen Aspekt" des Art. 48 Abs. 323 ergebe und den Umfang der Vorbehaltsklauseln insgesamt bestimme: Nicht alle Beschränkungen aus Gründen der "innerstaatlichen" öffentlichen Ordnung und Sicherheit seien zulässig, sondern nur die "gerechtfertigten" Beschränkungen. Von seinem Standpunkt aus ist es daher überhaupt nicht erforderlich und angebracht, die Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sorgfältig anhand des Gemeinschaftsrechts vorzunehmen. Auf diese Meinung Selmers ist noch zurückzukommen24 , an dieser Stelle ist nur die Feststellung erheblich, daß er es ablehnt, von den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in irgend einer Weise als gemeinschaftsrechtlichen Begriffen zu sprechen: Er versieht sie ausdrücklich mit dem Attribut "innerstaatlich"25. !1 Selmer, S. 330. n Selmer, S. 331. !S Selmer behandelt nur Art. 48 Abs. 3, seine Ausführungen treffen aber auch für Art. 56 Abs. 1 zu. 24 Vgl. unten !I. Teil, 2. Kap., Abschn. !Ir 3. !5 Selmer, S. 331; problematisch erscheint dabei, wie er sich zu den Kompetenzen des Gerichtshofes hinsichtlich dieser Begriffe stellt.
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H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Insbesondere Grabitz 26 tritt dieser Ansicht entgegen und betont, die Begriffe müßten eine einheitliche Bedeutung für die gesamte Gemeinschaft haben27 • Er folgert das insbesondere aus der Systematik dieser Vertragsbestimmungen. Aber auch Grabitz geht nicht davon aus, daß es innerhalb der Gemeinschaft eine einheitliche öffentliche Ordnung gibt, er will die bestehenden Unterschiede der nationalen Verfassungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnungen keineswegs in Abrede stellen28 • Wenn er also von einheitlichen Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 EWG-Vertrag spricht, so drückt er dadurch nur aus, daß die Begriffe der Verfügung der Mitgliedstaaten entzogen werden sollten, daß sie auf Grund des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen sind und keinen Rückgriff auf nationales Recht darstellen. Damit ist über die Qualität dieser gemeinschaftsrechtlichen Begriffe noch nichts ausgesagt, es ist offen, welche Genauigkeit ihre Bestimmung anhand des Gemeinschaftsrechts erreicht hat und welcher Spielraum den Mitgliedstaaten gegenwärtig zur Ver. fügung steht29 • Selmers Standpunkt berücksichtigt diese Möglichkeit mit keinem Wort, er wird allein von der Alternative geprägt, die zwischen einer einheitlichen öffentlichen Ordnung in der gesamten Gemeinschaft, die in der Tat nicht existiert, und der Neutralität des Vertrages gegenüber den nationalen öffentlichen Ordnungen bestehen soll. Den Beweis dafür, daß der Vertrag diese Begriffe gänzlich der Bestimmung durch die Gemeinschaft entziehen will, bleibt er dagegen schuldig. Die unterschiedlichen Standpunkte beider Verfasser werden auch in ihrer Argumentation in bezug auf Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag deutlich, den jeder als Bestätigung seiner Ansicht in Anspruch nimmt: Selmer30 schließt aus der Tatsache, daß Art. 56 Abs. 2 "nur" eine Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften vorsieht, die Sonderregelungen für Ausländer enthalten und aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind, daß der Vertrag von unterschiedlichen Auffassungen des Begriffs der öffentlichen Ordnung in den Mitgliedstaaten ausgeht und sie als gegeben hinnimmt. Er macht auch mit diesen Ausführungen deutlich, daß er nur deshalb nicht von einem gemeinschaftsrechtlichen Begriff sprechen will, weil ihnen kein vollständig einheitlicher Inhalt gegeben wird. Man könnte das als rein
!8
Grabitz, S. 92 ff. Grabitz, S. 93. Grabitz, S. 93.
30
SeImer, S. 331.
!G
U
!D Man denke an das Beispiel des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts: Dort spricht man übereinstimmend von einem einheitlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, obwohl sein konkreter Inhalt nach Zeit und Ort unterschiedlich sein kann.
I. "Gemeinschaftsrechtliche Begriffe"
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terminologische Frage abtun, wenn Selmer nicht daran anknüpfend den Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ganz dem Gemeinschaftsrecht entziehen würde. Grabitz kann Art. 56 Abs. 2 für seinen Standpunkt in Anspruch nehmen und feststellen, daß unterschiedliche Sonderregelungen für Ausländer in den einzelnen Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Existenz eines gemeinschaftsrechtlichen Begriffs überhaupt nicht entgegenstehen, sondern dieser nur den Rahmen darstellt, in dem sich die Sonderregelungen zu halten habens1 • RolveringS2 vertritt die Meinung, es hieße den Mitgliedstaaten jede Möglichkeit zu nationalen Definitionen nehmen, wenn man die Begriffe "voll als Gemeinschaftsbegriffe" definieren wollte. Er begründet diese Ansicht wie Selmer und will nur dann von gemeinschaftsrechtlichen Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sprechen, wenn eine einheitliche öffentliche Ordnung in der ganzen Gemeinschaft festzustellen ist, die er aber - völlig zurecht - erst mit der Verwirklichung einer politischen Gemeinschaft, der vollständigen Integration, erreicht siehtSs • Von diesem Ausgangspunkt mißdeutet er einen Bericht des Binnenmarktausschusses34, den dieser über den Vorschlag der Kommission für eine Koordinierungsrichtlinie, der Grundlage für die spätere Richtlinie 64/2211EWG wurde 35 , gefertigt hat: In diesem Bericht wird entgegen Rolverings Interpretation nicht gefordert, eine einheitliche öffentliche Ordnung zu bestimmen - wie sollte das auch per Richtlinie möglich sein? - und den Mitgliedstaaten jede Möglichkeit zu eigener Interpretation zu nehmen, sondern es wird dort nur festgestellt, man hätte wenigstens eine Koordinierung derjenigen gesetzlichen Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten vornehmen müssen36, die die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit definieren 37 • 31 32
33
Grabitz, S 93. Rolvering, S. 33. Rolvering, S. 34.
34 Martino-Bericht, Sitzungsdokument Nr. 102 des Europäischen Parlaments 1962 - 1963, S. 4, Nr. 15. ("Bericht im Namen des Binnenmarktausschusses über den Vorschlag der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an den Rat (Dok. 68) betreffend eine Richtlinie zur Verwirklichung der für Reisen und den Aufenthalt von Ausländern geltenden Sondermaßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind".) 35 Abgedruckt als Anlage zu dem oben unter Nr. 34 zitierten Dokument, vgl. S. 10 ff. 38 Vgl. S. 4, Nr. 15 des genannten Berichts. Ausdrücklich werden dort Vorschriften Italiens und Luxemburgs zitiert, die die Begriffe der öffentlichen Sicherheit definieren. 37 Das bestätigt auch ein Blick auf den aufgrund dieses Berichts geänderten Richtlinienvorschlag des Europäischen Parlaments, ABI. v. 14. 12.62, Nr. 134, S. 2861.
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H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Das Begriffspaar der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hat in besonderem Maße in seiner Verwendung in Art. 36 EWG-Vertrag Interesse gefunden, und es wird auch dort regelmäßig die Frage aufgeworfen, wie es zu interpretieren ist. Vielfach findet man die Feststellung, es sei ebenso wie die anderen dort verwendeten Begriffe in dem Sinne zu verstehen, der ihnen im Recht der Mitgliedstaaten beigemessen wird38• Man darf sich von dieser Feststellung indessen nicht täuschen lassen und muß sie in dem Zusammenhang sehen, in dem sie regelmäßig getroffen wird: Damit soll nämlich nach einhelliger Meinung 39 nicht gesagt sein, daß mit Art. 36 den Mitgliedstaaten ein Blankoscheck ausgestellt worden wäre, der es in ihr Belieben stellen würde, welchen Inhalt sie ihm geben wollen, es wird vielmehr als selbstverständlich angesehen, daß auch diese Begriffe gemeinschaftsrechtliche Grenzen haben, die letztlich vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften abzustecken sind40 • Nur innerhalb dieser Grenzen können unterschiedliche Auffassungen über die Grundsätze eines geordneten Zusammenlebens im jeweiligen politischen Gemeinwesen zum Tragen kommen. 4. Zusammenfassung
Diese und eine ganze Reihe weiterer Stellungnahmen41 lassen Einigkeit darüber erkennen, daß gegenwärtig auf Grund der historischen Entwicklung und der politischen Verhältnisse innerhalb der gesamten Gemeinschaft nicht von der Existenz einer einheitlichen öffentlichen Ordnung gesprochen werden kann. Überwiegend geht man jedoch wie hier davon aus, daß diese Tatsache nichts mit der Frage zu tun hat, ob und in welchem Umfang die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den genannten Vertrags artikeln vom Gemeinschaftsrecht her zu bestimmen sind. Nach der hier gewählten Terminologie handelt es sich um gemeinschaftsrechtliche Begriffe, da es letztlich vom Gemeinschaftsrecht abhängt, in welchem Umfang die Mitgliedstaaten eigene Wertvorstellungen durchsetzen können. Das Fixieren dieser Grenzen, eine Aufgabe, die letztlich dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zufällt, kann nicht ein für allemal erledigt werden, es handelt sich dabei vielmehr um einen langfristigen Prozeß, der den Entwicklungsstand der Gemeinschaft 88 Megret / Louis / Vignes / Waelbroeck, S. 115; Fanara, in: Quadri / Monaco / Trabucchi, S. 209; Wertheimer, SEW 68, 286; Ehlermann, Europarecht 73, S. 13; Verloren van Themaat, SEW 67,639. 89 Ehlermann, Europarecht 73, S. 12. 40 Ehlermann, Europarecht 73, S. 13. 41 Fröhlich, S. 53; Hildmann, S. 78 ff.; Jaenicke, S. 3 ff.; Lyon-Caen, S. 704; Maestripieri, la libre circulation, S. 179 ff., 184.
II. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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widerspiegelt. Es ist deshalb nicht ausreichend, sich mit einigen wenigen einmal niedergelegten Schranken für Sonderregelungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auseinanderzusetzen und es im übrigen den Mitgliedstaaten zu überlassen, wie sie den Inhalt dieser Begriffe bestimmen wollen.
11. Der Inhalt der Vorbehaltsklausein der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 1. Vorbemerkung
Die Feststellung, daß die angesprochenen Begriffe der beliebigen Bestimmung durch die Mitgliedstaaten entzogen sind, und ihr Inhalt letztlich anhand des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen ist, bedeutet nicht, daß dieser nunmehr abschließend ermittelt werden könnte und damit die Voraussetzung geschaffen wäre, die Reichweite der Vorbehaltsklausein umfassend darzulegen. Das hat verschiedene Ursachen: Zum einen erscheint es von vornherein unmöglich, eine abstrakte Definition der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu geben42 , die mehr enthält als die Feststellung, daß sie die Grundsätze eines geordneten menschlichen Zusammenlebens umfassen, da die Aufgabe dieser Vertragsbestimmungen und der sie beherrschenden Begriffe - soweit man das vorweg überhaupt sagen kann - darin besteht, als "soupape de surete"43 für eine abzusehende Art und Zahl von Fällen zu wirken. Mögliche Begriffsbestimmungen müssen sich deshalb in dem angedeuteten weiten Rahmen bewegen, wenn sie sich nicht in Widerspruch zu dieser Funktion setzen wollen. So wird vielfach auch im Gemeinschaftsrecht zu Recht völlig auf solche Definitionsversuche verzichtet44 und eingeräumt, daß es sehr schwer sei, diese Begriffe abstrakt zu definieren45 , wenn nicht im Augenblick sogar unmöglich48 • Im übrigen sind sie allenfalls deshalb von gewissem Interesse, weil sie Vergleichsmöglichkeiten mit denen des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts bieten und Ähnlichkeit mit diesen aufweisen. Zum anderen kann man - darauf wurde bereits wiederholt hingewiesen - wenigstens im gegenwärtigen Stadium noch nicht davon ausgehen, daß ein einheitlicher Inhalt dieser Begriffe positiv konkret Ehlermann, Europarecht 73, S. 12/13. Lyon-Caen, S. 694. U Chesne, S. 155. 46 Fanara, in: Quadri/ Monaco I Trabucchi, Art. 36, Nr. 2; Maestripieri, la !ibre circulation, S. 180, spricht vom "caractere insaisissable" der Begriffe. 42 43
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VgI. den Richtlinienentwurf des Europäischen Parlaments, ABI. v.
14.12.1962, S. 2861/62.
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II. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
zu bestimmen wäre. Es bleibt also nur übrig, die gemeinschaftsrechtlichen Schranken möglichst genau zu ermitteln, so daß der Inhalt dieser Begrüfe wenigstens in einzelnen Teilbereichen deutlich wird. Gelegentlich wird der Versuch unternommen, zwischen dem Begriff der öffentlichen Ordnung und dem der öffentlichen Sicherheit zu differenzieren41 . Im Gemeinschaftsrecht ist hierfür indessen keine tragfähige Begründung und auch keine Notwendigkeit erkennbar, die Begrüfe können deshalb als "binome", als "endiadis"48, behandelt werden. Ausgangspunkt der überlegungen sind die Vertragsbestimmungen in den Kapiteln über die Arbeitskräfte und die Niederlassungsfreiheit. Vertragsartikel aus anderen Abschnitten werden ergänzend und vergleichend herangezogen. 2. Bestimmung anhand des Vertrages zur Gründung der EWG a) Vorbemerkung
Von ausschlaggebender Bedeutung ist zunächst, inwieweit man sich zur Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts der allgemeinen juristischen Interpretationsmethoden bedienen kann. Darauf kann keine einheitliche Antwort gegeben werden49 . Im übrigen ist es nicht Sinn der vorliegenden Arbeit, dieses Problem abstrakt zur Diskussion zu stellen50• M. E. kann man grundsätzlich davon ausgehen, daß die üblichen Interpretationsregeln herangezogen werden können51 , auch wenn sie ihren Hauptanwendungsbereich etwa bei der Auslegung nationalen Rechts gefunden haben. Man muß nur in jedem Falle besonders sorgfältig prüfen, inwieweit sie mit dem besonderen Charakter der Gemeinschaft und ihrer Verträge in Einklang zu bringen sind, und welches Gewicht den mit ihrer Hilfe ermittelten Ergebnissen zugemessen werden kann. 47 z. B. Fanara, in: Quadri / Monaco / Trabucchi, S. 206. Er begründet das aber mit überlegungen, die ausschließlich aus dem inländischen italienischen Recht stammen. 48 Maestripieri, la libre circulation, S. 181. Der Montanvertrag spricht in Art. 69 ohnehin nur von öffentlicher Ordnung, ebenso der Spaak-Bericht vom 21. 4. 1956. 49 Zuleeg, Europarecht 69, S. 97. 60 Ein Hinweis auf die vorhandene Literatur mag genügen, vgl. Ophüls, in: Festschrift Müller-Armack, S. 297 ff.; Monaco, Kölner Schriften zum Europarecht, Bd. I, S. 178 m. w. N.; Korreferate dazu von Bisdom, S. 188 ff. und Kar! Wolf, S. 193 ff.; Mestmäcker, S. 345; Zuleeg, Europarecht 69, S. 97. 61 A. M. Ophüls, ebd., er setzt sich für besondere Auslegungsgrundsätze ein.
II. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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b) Der Wortlaut
Auch wenn jede Interpretation vom Wortlaut auszugehen hat52, ist der Auslegung des Vertragstextes aus philologischer Sicht schon deshalb mit Vorsicht zu begegnen, weil der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in wesentlichen Teilen nicht den Endpunkt einer Entwicklung markiert, sondern die Ausgangsbasis für die Verwirklichung der in ihm niedergelegten Ziele darstellt und den Weg zu diesen skizziert. Damit ist ihm ein starkes dynamisches Moment zu eigen, dem die Wortinterpretation allein kaum gerecht werden kann53, obwohl ihr im Völkerrecht sonst große Bedeutung zukommt. Zumindest bedürfen die mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnisse aber der kritischen Kontrolle anhand der mittels anderer Methoden gewonnenen Erkenntnisse54• Zudem ist nicht zu übersehen, daß die Ausgangsbasis für eine Interpretation vom Wortlaut her wenig tragfähig ist, da der Vertragstext in den vier Sprachen der Gemeinschaft gleichermaßen verbindlich ist 55, so daß es nicht möglich ist, von bestimmten Begriffen auf eine beabsichtigte Anlehnung an gleichlautende eines einzelnen Mitgliedstaates zu schließen58• Letztlich besteht auch hinsichtlich der Verwendung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in den verschiedensten Anwendungsbereichen außerhalb des Gemeinschaftsrechts Einigkeit darüber, daß allein die damit zur Geltung gebrachte Technik ausschlaggebend ist57, nicht aber die jeweils verwendeten Begriffe selbst. Man kann deshalb beispielsweise nicht schon aus der unterschiedlichen Terminologie des Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag einerseits und des Art. 36 andererseits auf inhaltliche Unterschiede schließen58 • Die Interpretation der 62
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Bernhardt, S. 31; Zuleeg, S. 99, Fußnote 19 m . w. N. Lagrange, revue de droit publie 1958, S. 481 ff.
54 Der Gerichtshof mißt der Auslegung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch überhaupt keine eigenständige Bedeutung zu, sondern will die mit ihrer Hilfe gewonnenen Ergebnisse nur dann zusätzlich berücksichtigen, wenn sie durch andere Gesichtspunkte bestätigt werden, vgI. Urteil in der Rechtssache 30/59 vom 23.2. 1961, EuGHRspr. VII, 1 ff., 44. Es ist aber wegen des engen Zusammenhangs mit der zur Entscheidung anstehenden Sache fraglich, inwieweit man diese Entscheidung verallgemeinern kann. 55 Art. 248 EWG-Vertrag; für Verordnungen und andere Dokumente Art. 4 der VO Nr. 1 des Rates vom 1. 7.1958, ABI. 58, 385; zur Auslegung mehrsprachiger Texte siehe DöHe, RabelsZ 26 (1961), S. 27 ff. 56 Im übrigen könnte man auch abgesehen von diesen Gründen nicht davon ausgehen, daß der Vertrag mit der Sprache eine bestimmte Begriffswelt übernehmen wollte. 57 Diese Frage wurde insbesondere im Hinblick auf Art. 30 EGBGB diskutiert. 58 In Art. 36 taucht beispielsweise der Begriff der öffentlichen Sittlichkeit auf; vgI. auch Art. 69 EGKSV.
6 Bongen
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II. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist auf diesem Wege also nicht einmal in Ansätzen möglich 59 • Dagegen findet man durchaus den Versuch, mit Hilfe logisch-grammatikalischer Überlegungen die Formulierungen der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag insgesamt in den Griff zu bekommen. Gegenstand solcher Betrachtungen ist insbesondere die Formulierung, daß die jeweiligen Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit "gerechtfertigt" sein müssen60 • Wie oben bereits angedeutet wurde, sieht insbesondere Selmer61 darin das allein entscheidende Korrektiv, das die Bestimmung und Eingrenzung der Vorbehaltsklauseln überhaupt erst möglich machen soll. Er ist darauf deshalb angewiesen, weil er die Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit selbst ganz den Mitgliedstaaten überlassen will. Zweifellos verdient diese Formulierung große Aufmerksamkeit und wird im Detail noch genau zu untersuchen sein62 , diese ihr von Selmer zugedachte Rolle kann sie jedoch nicht übernehmen: Es ist aus grammatikalisch-logischen Gesichtspunkten nicht möglich, von einer "Rechtfertigungsklausel" zu sprechen und dabei die sie kennzeichnende Kausalbeziehung außer acht zu lassen, indem man die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausklammert: Der Vertrag spricht nicht von beliebigen "Rechtfertigungsklauseln" , denen selbständige Bedeutung zukäme63 , sondern von "aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen64 • Die Frage nach dem Inhalt dieser Vertragsbestimmungen ist also beantwortet, wenn es gelingt, die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festzulegen. Die von Selmer angestellten Untersuchungen sind deshalb nicht unbrauchbar, sie können nur nicht gleichsam im leeren Raum vorgenommen werden, sondern haben allein in der Eingrenzung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ihre Berechtigung, sie gilt es anhand des Vertrages und seiner Ziele zu bestimmen. Im übrigen macht ein einziger Blick auf Art. 69 § 1 EGKS-Vertrag deutlich65 , daß 59 Sie liefert also keinerlei Anhaltspunkte für die verschiedentlich gemachte Feststellung, die Begriffe seien so zu verstehen wie im französischen Ordnungsrecht, vgl. z. B. die Begründung zum AufenthG/EWG vom 22.7.1969, BT-Drucksache V/4125. 60 "Justifil~es"; "giustificate"; "gerechtvaardigde". 61 SeImer, S. 331; vgl. dazu oben Ir. Teil, 2. Kap., Abschn. I, 3. 62 Vgl. unten II. Teil, 2. Kap., Abschn. III, 3. 63 SeImer, S. 331, geht davon aus, daß ihr Inhalt zwar nicht ausdrücklich geklärt sei, aber anhand der Vertragsziele geklärt werden könne. 64 So die Formulierung in Art. 48 Abs. 3, entsprechend die in Art. 56 Abs. 1 EWGV. Man kann allein diese Wendung insgesamt als Rechtfertigungsklausel bezeichnen. 65 Dort ist von Beschränkungen die Rede, die "sich aus grundlegenden Erfordernissen der Gesundheit und der öffentlichen Ordnung ergeben".
II. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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durch eine geringfügig abweichende Formulierung66 überlegungen wie die Selmers keinerlei Ansatzmöglichkeiten mehr hätten. Steindorff61 läßt es zwar offen, ob sich die von ihm für Art. 56 Abs. 1 entwickelten inhaltlichen Grenzen, die ebenso für Art. 48 Abs. 3 Gültigkeit haben, auch auf das Erfordernis der "Rechtfertigung" stützen lassen, eine zusätzliche Voraussetzung will er jedoch in jedem Fall allein auf diese Formulierung stützen: Die Staaten sollen sich auf die Vorbehaltsklauseln nur berufen können, wenn es um Sachverhalte geht, deren Gestaltung die inländische öffentliche Ordnung nicht nur unwesentlich berührt. Diese Auslegung entwickelt Steindorff nach dem Muster des Internationalen Privatrechts, in dem die Vorbehalte des ordre public nur bei ausreichender Inlandsbeziehung Anwendung finden können. M. E. stehen die oben genannten Gründe auch diesem Versuch entgegen, allein aus der Formulierung, daß Beschränkungen "gerechtfertigt" sein müssen, bestimmte Anforderungen an mögliche Sonderregelungen für Ausländer abzuleiten. Im übrigen handelt es sich bei dieser VOn Steindorff entwickelten Schranke nach der Natur und Zweckbestimmung dieser gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen um einen Grundsatz, zu dessen Begründung keineswegs auf die Wendung "gerechtfertigte Beschränkungen" zurückgegriffen werden muß68. c) Historische Interpretation
Diese Auslegungsmethode setzt voraus, daß zunächst deutlich gemacht wird, ob man den wahren historischen Willen der Vertragschließenden zum Ausgangspunkt der überlegungen machen will 69 , oder ob die objektiv historische Auslegungsmethode zu bevorzugen ist10 • Ohne zu dieser Frage abschließend Stellung zu nehmen, kann man schon aus praktischen Erwägungen die subjektiv historische Auslegungsmethode ausklammern, da die Grundlagen für sie weithin fehlen: Es blieben für ihre Anwendung nur die amtlichen Begründungen, die die Regierungen der Mitgliedstaaten den jeweiligen Parlamenten vorgelegt haben, und der sogenannte "Sp aak-B ericht " , dagegen sind die Verhandlungsniederschriften und alle anderen Vorarbeiten nicht zuGG Sie wird im Detail noch mit denen des EWG-Vertrages zu vergleichen sein, vgl. unten 11. Teil, 2. Kap., Abschn. H, 2 f bb. G7 Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 95_ GS Vgl. unten H. Teil, 2. Kap., Abschn. H, 2 e. G9 "Subjektiv historische Auslegung"; diese Methode will insbesondere Ophüls, S. 285 ff., für das Gemeinschaftsrecht heranziehen; vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Bülow, KSE 1, S. 209. 70 Zuleeg, S. 102.
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II. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
gänglich, ebensowenig die "auslegenden Beschlüsse des Interimsausschusses71 . Da man von der statischen Betrachtung der Funktion der Norm, i. e. des Vertrages, im Zeitpunkt ihres Erlasses angesichts des bereits dargelegten dynamischen Charakters des Vertrages, der gerade auf Veränderung der nationalen (wirtschaftlichen) Ordnungen der Mitgliedstaaten angelegt ist, keine brauchbaren Erkenntnisse erwarten kann, ist diese Interpretationsmethode ohne Schaden zu vernachlässigen72 . d) Systematische Auslegung 73
Betrachtet man Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 unter dem Aspekt ihrer Einordnung in die Kapitel über die Arbeitskräfte und die Niederlassungsfreiheit und versucht auf diese Weise, dem Inhalt dieser Vertragsbestimmungen und damit auch den zur Diskussion stehenden Begriffen näherzukommen, so drängt sich die Feststellung geradezu auf, daß es sich sowohl bei Art. 48 Abs. 3 EWG-Vertrag als auch bei Art. 56 Abs. 1 im Rahmen des Titels II!, Kapitell bzw. Kapitel 2, des Vertrages um Ausnahmevorschriften handelt, um "Vorbehalte"74. Die "Regeln" finden sich am Anfang des jeweiligen Kapitels und werden zusätzlich durch ihre bestimmten Aussagen hervorgehoben: Die Freizügigkeit "wird hergestellt", die Beschränkungen der freien Niederlassung "werden aufgehoben". Dieses Regel-Ausnahmeverhältnis ist allgemein anerkannt75• Schwieriger ist die Frage zu beantworten, welche Schlußfolgerungen aus dieser Feststellung zu ziehen sind, ob sie alleine ausreicht, eine restriktive Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und damit der Vorbehaltsklauseln insgesamt zu begründen76 . M. E. ist eine solche Schlußfolgerung vorschnell. Die Tatsache, daß es sich bei einer Vertragsbestimmung um eine Regelung mit Ausnahmecharakter handelt, besagt zunächst nur soviel, daß diese nicht in einer Weise interpretiert werden darf, daß dadurch die "Regel" entwertet und aus den Angeln gehoben würde. Das heißt indessen nicht, daß es im EWG-Vertrag keine weiten Ausnahmen geben könnte. Ophüls, S. 288. Zuleeg, S. 102; Bernhardt, S. 133, Fußnote 4. 73 Grundsätzlich zur systematischen Auslegung Monaco, S. 183 m. w. N. 74 Vgl. die Formulierung in Art. 48 Abs. 3 EWGV. 75 Für viele andere beispielsweise Everling, das Niederlassungsrecht, S. 47 ff.; Platz, S. 52. 76 So die allgemeine Meinung, vgl. z. B. Hildmann, S. 81; Fröhlich, S. 52; Rolvering, S. 33; Thibierge, S. 339; Der Europäische Gerichtshof hat in einer Entscheidung zwar zum Ausdruck gebracht, daß in einem Regel-Ausnahmeverhältnis die Regel im Zweifel weit auszulegen sei, es ging dabei indessen nicht um einen Fall der Vertragsauslegung; vgl. den Leitsatz zum Urteil in den Rechtssachen 42 und 49/59 vom 22.3.61, EuGHRspr. VII, 113 ff., 171 ff.; siehe auch Dölle / Zweigert, § 7 Nr. 9. 71
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H. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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Man sollte deshalb darauf verzichten, von einem solchen Grundsatz zu sprechen und die Ausgestaltung des jeweiligen Regel-Ausnahmeverhältnisses gesondert überprüfen. Hinweise, die zur genaueren Erfassung des Spannungsverhältnisses zwischen den "Regeln" in Art. 48 ff. und Art. 52 ff. und den "Ausnahmen" in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 beitragen, kann man insbesondere der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 36 entnehmen, den dieser als Ausnahme von einem fundamentalen Gebot des Vertrages restriktiv interpretieren will77 • Da die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit in ihrer Bedeutung für die Verwirklichung der Vertragsziele den Art. 30 ff. EWG-Vertrag in keiner Weise nachstehen, und die Vorbehaltsklauseln in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 noch weiter gefaßt sind78, ist es gerechtfertigt, diese Rechtsprechung für die genannten Vertragsbestimmungen zu übernehmen und die restriktive Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wie der Vorbehaltsklauseln insgesamt zu befürworten. Die wünschenswerte Präzisierung dieser Feststellung ist hier noch nicht möglich, sie kann nur in Verbindung mit anderen Interpretationsmethoden erzielt werden. Man sollte deshalb die Brauchbarkeit dieser Auslegungsregel jedoch nicht generell in Zweifel ziehen, auch wenn der Wert ähnlicher Feststellungen normalerweise nicht allzu hoch zu veranschlagen sein mag 79 : Er hängt entscheidend davon ab, wie die Möglichkeiten der Ausgestaltung und überprüfbarkeit dieser Regel zu beurteilen sind. Angesichts der Befugnisse der Kommission und des Gerichtshofes ist in dieser Hinsicht durchaus Optimismus möglich. Gelingt es, das grundsätzliche Gebot einer engen Auslegung der Vorbehaltsklauseln zur obersten Maxime bei der Anwendung der Vorbehaltsklauseln zu machen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Herstellung und Sicherung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit getan. Natürlich ist es aber alleine nicht geeignet, die Mitgliedstaaten davon abzuhalten, diese Vertragsartikel wie vergleichbare Bestimmungen in gewöhnlichen Niederlassungsabkommen dazu zu benützen, jeglichen Eigeninteressen Vorrang zu verschaffen. Nicht umsonst wurden diese denkbar weiten Begriffe zur Ausgestaltung der Vorbehaltsklauseln gewählt. Im übrigen kann man kaum davon sprechen, daß durch diesen Interpretationsgrundsatz die Kompetenzaufteilung zwischen den einzelnen 77 Rechtssache 7/68, EuGHRspr. 14 (1968), 633 ff., 644, "Ausnahmen von diesem Grundsatz sind eng auszulegen"; Rechtssache 13178, EuGHRspr. 14 (1968), 679 ff., 694. 78 Ehtermann, Europarecht 73, S. 1. 79 Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 94.
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II. Teil, 2. Kap.: Offentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft in ein starres Schema gepreßt würde80• Es ist zumindest dann, wenn man für dieses Auslegun~s prinzip nicht alleinige Geltung beansprucht, durchaus möglich, den verschiedensten Sachverhaltskonstellationen gerecht zu werden. e) Teleologische Interpretation
aal Grundsatz der restriktiven Auslegung Man findet den Grundsatz der restriktiven Auslegung der Vorbehaltsklauseln bestätigt, wenn man diese anhand der Interessen der Beteiligten überprüft8t : Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit stellen tragende Elemente des gemeinsamen Marktes dar und sind für eine Wirtschafts- und Währungsunion, erst recht aber für eine volle Integration der Mitgliedstaaten, unverzichtbare Voraussetzung82 • Daraus ergibt sich in Übereinstimmung mit den Interessen der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten83 , daß diese Rechte umfassend verwirklicht und gewährleistet werden sollten, da Eigeninteressen der Mitgliedstaaten von vergleichbarem Gewicht nicht ~rkennbar sind. Eine weite Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bzw. der Vorbehaltsklauseln insgesamt kommt damit nicht in Betracht. Wie ähnliche Klauseln in anderen Vertragskapiteln84 können Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 also nicht die Aufgabe haben, den Mitgliedstaaten aus Gründen ihrer Souveränität umfassende Möglichkeiten zu schaffen, im eigenen Interesse nahezu beliebig von vertraglichen Verpflichtungen abweichen zu können. Insofern unterscheiden sie sich von entsprechenden Klauseln in gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen. Man muß jedoch berücksichtigen, daß die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben müssen, möglichen unerwünschten Folgen der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit in Bereichen zu begegnen, die das Gemeinschaftsrecht (noch) nicht erfaßt und deshalb auch kein geeignetes Instrumentarium für die Bekämpfung von Schwierigkeiten in denselben vorsieht. Für diese Fälle müssen die Mitgliedstaaten auf die Vorbehaltsklausein zurückgreifen können85 • Diese Vertragsbestimmungen sollen also verhindern, daß die (bislang) ins Werk gesetzte Teilintegration den Mitgliedstaaten die Möglichkeit nimmt, ihre innere Ordnung überall dort nach eigenen Maßstäben zu bestimmen und zu schützen, wo das Gemeinschaftsrecht selbst nicht unmittelbar ordnend eingreift. So aber Steindorjf, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 94. Vgl. Zuleeg, S. 104. 82 EuGHRspr., Bd. X, 362: "Die Herstellung einer möglichst weitgehenden Freizügigkeit gehört ... zu den Grundlagen der Gemeinschaft." 83 Auch sie sind in die Interessenabwägung einzubeziehen, vgl. Zuleeg, 80 81
S.104. 8' 85
Vgl. etwa Art. 36 EWGV. Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 92/93.
H. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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Es wird in Einzelfällen noch deutlicher werden, welcher Anwendungsbereich der Vorbehaltsklauseln sich daraus für die Mitgliedstaaten ergibt. Für die Interpretation der Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 EWG-Vertrag ist hier indessen die Frage von größerer Bedeutung, inwieweit sich diese Aussage umkehren läßt und man davon ausgehen kann, daß die VorbehaltsklauseIn den Mitgliedstaaten ausschließlich Maßnahmen ermöglichen, die den Vertragszielen, im besonderen den in jenen Kapiteln geschaffenen Freiheiten, in keinem Fall in ihrem Zweck, sondern allenfalls in ihrer Wirkung entgegenstehen dürfen86, ob die Mitgliedstaaten mit ihnen also nur Ziele verfolgen dürfen, deren Regelung nicht dem Gemeinschaftsrecht zugewiesen ist87• Diese Frage läßt sich entsprechend der derzeitigen Vertragsgestaltung am besten hinsichtlich wirtschaftlicher Zwecke verdeutlichen und beantworten, die zweifelsfrei im Mittelpunkt der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen stehen. bb) Öffentliche Ordnung und wirtschaftliche Zwecke Der Vertrag greift tief in die Wirtschaftsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ein und prägt sie in wesentlichen Teilen. Soweit das der Fall ist, können sich die Mitgliedstaaten nicht auf die VorbehaltsklauseIn berufen und eigene Maßnahmen rechtfertigen, da sonst die Vertragsziele selbst in Frage gestellt würden. Der Vertrag hat entsprechend seiner Bestimmung gerade im Sektor der Wirtschaft eine ganze Reihe spezieller Mechanismen geschaffen, die von vornherein verhindern. sollen, daß Konfliktstoff entsteht, oder die dazu bestimmt sind, solchen abzubauen, ohne daß die Mitgliedstaaten eingreifen könnten oder müßten88• Da die wirtschaftliche Ordnung also Regelungsgegenstand des ganzen Vertrages ist, besteht Einigkeit darüber, daß sie nicht Teil der öffentlichen Ordnung im Sinne der Vorbehaltsklauseln sein kann8s • Diese stellen kein Mittel dar, mit dessen Hilfe die Mitgliedstaaten ihre eigenen Interessen gegenüber den Zielen der Gemeinschaft durchsetzen könnten9o • 88 87 88
Steindorjj, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 92. Steindorjf, ebd., S. 93.
Vgl. dagegen die Bestimmung des Art. 226 EWGV. Vielfach wird in diesem Zusammenhang dargelegt, sie sei in den Mitgliedstaaten Teil der öffentlichen Ordnung, vgl. z. B. Everling, Niederlassungsrecht, S. 48; Selmer, S. 332. Diese Feststellung ist zwar nicht zu beanstanden, wenn man von der öffentlichen Ordnung allgemein als dem Inbegriff der Normen spricht, deren Einhaltung Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens ist, man muß sich aber der Tatsache bewußt sein, daß das nicht in gleicher Weise für die polizeirechtliche Generalklausel gilt, die hier wegen ihrer engen Berührungspunkte und ihrer vergleichbaren Aufgabenstellung besonders interessiert. 90 Vgl. für viele andere etwa Cartou, S. 176. 89
H. Teil, 2. Kap.: ÖffentI. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
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Gänzlich ungeeignet zur Begründung dieser Feststellung ist dagegen der Versuch, zwischen "rechtlichen" und "wirtschaftlichen" Gründen zu unterscheiden und festzustellen, nur die zuerst genannten berührten die nationale Souveränität91 . Ein Blick auf Art. 226 Abs. 1 EWG-Vertrag bestätigt die Feststellung, daß die Vorbehaltsklauseln nicht zu wirtschaftlichen Zwecken eingesetzt werden können: Dort wurde den Mitgliedstaaten für die Dauer der übergangszeit bei schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Möglichkeit eingeräumt, eine Genehmigung für besondere Schutzmaßnahmen bei der Kommission zu beantragen. Eine solche Bestimmung wäre zumindest in dieser allgemeinen Form nicht notwendig gewesen, wenn jeder Mitgliedstaat - ohne die einschränkenden Voraussetzungen des Art. 226 - gemäß Art. 48 Abs. 3, 56 Abs. 1 und ähnlichen anderen Vorbehaltsklauseln ohnehin selbst Maßnahmen im wirtschaftlichen Bereich hätte treffen können 92 . In Art. 226 erhielten die Mitgliedstaaten also unter sehr engen Voraussetzungen für die übergangszeit ausnahmsweise Kompetenzen, die normalerweise Gegenstand gemeinschaftsrechtlicher Regelungen sind93 . Anders dagegen die Vorbehaltsklauseln: Sie geben den Mitgliedstaaten nicht Kompetenzen, die an sich der Gemeinschaft zustehen, sondern sollen die Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten grundsätzlich trennen und Konflikte vermeiden, die sich aus der Teilintegration ergeben. Die Richtlinie des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft "zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind" - 64/221/ EWG94 - bestätigt das Ergebnis, daß Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht zur Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke geltend gemacht werden dürfen 95 . Die Richtlinie unterläßt es aber, diese Aussagen zu konkretisieren. Dem stand möglicherweise die berechtigte Furcht entgegen, man könnte damit einen bestimmten Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts zementieren. Bedauerlicherweise gibt die Richtlinie aber auch keinen ausdrücklichen Hinweis auf das Prinzip, das dem Verbot der Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke zugrunde liegt. 91
So aber die Stellungnahme des Sozialausschusses, ausgearbeitet von
Troc!et, Europäisches Parlament, Sitzungsdokument Nr. 102 vom 21. 11.62,
S. 17, betreffend einen Richtlinienvorschlag der Kommission an den Rat Dok. 69 -, aus dem die Richtlinie 64/221/EWG hervorging. SeImer, S. 332. Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 92. 9' Vom 25. 2. 1964, ABI. S. 850, vgl. unten H. Teil, 3. Kap., Abschn. H, 3.
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Art. 2 Abs. 2 der genannten Richtlinie.
H. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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Zunächst ist nur ausgeschlossen, daß wirtschaftliche Zwecke allein Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit rechtfertigen können. Offen ist dagegen die Behandlung der Fälle, in denen Störungen im Bereich des Wirtschaftslebens solche Intensität oder Ausdehnung annehmen, daß es zu nachhaltigen Störungen außerhalb dieses Bereichs zu kommen droht - bei den starken Interdependenzen dieser ohnehin nicht scharf zu trennenden Sektoren keine Seltenheit. Nach der ü~erwiegend vertretenen Meinung sollen die Vorbehaltsklauseln auch hier zur Anwendung kommen können, da "objektiv" eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vorliege96 • Eine Grenze wird erst dort gezogen, wo die jeweiligen Behörden eine solche Gefährdung oder Störung der öffentlichen Ordnung erkennbar nur aus wirtschaftlichen Interessen bekämpfen97 • Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 sollen also insbesondere in den Fällen zulässig sein, in denen die wirtschaftliche Ordnung gefährdet oder gestört ist, die Motive der handelnden Behörden aber nicht in diesem Sektor zu suchen sind, auch wenn die Folgen der getroffenen Maßnahmen die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit beschränken. Diese Ansicht birgt nicht so große Gefahren in sich, wie das auf den ersten Blick den Anschein haben mag: Dazu trägt neben der Kontrolle des Gerichtshofes nicht zuletzt die Bestimmung der Richtlinie 64/221/ EWG vom 25.2.196498 bei, die kollektive Maßnahmen verbietet 99 • Man würde deshalb das Gebot der restriktiven Auslegung überspannen und die Vorbehaltsklauseln in einer ihrer Funktion abträglichen Weise einschränken, wenn man ihren Einsatz schon dann ablehnen wollte, wenn die zu bekämpfenden Störungen ihre Wurzel im wirtschaftlichen Bereich haben1°O: Zwar können ausschließlich Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit Maßnahmen rechtfertigen, die die Niederlassungsfreiheit und die Freizügigkeit beeinträchtigen, diese Gründe reichen andererseits aber auch dazu aus, ohne daß zusätzlich nach ihren Ursachen gefragt werden müßte 101 • Selbständig können wirtschaftliche 98 97
SeImer, S. 333. SeImer, S. 333.
ABI. S. 850. Man kann dieses Verbot in Art. 3 Abs. 1 der genannten Richtlinie über deren enge Grenzen für die Vorbehaltsklauseln allgemein anwenden, vgI. unten H. Teil, 3. Kap., Abschn. H, 3. 100 So aber Ehlermann, in: Groeben! Boeckh, Art. 36 Rdn. II 2. 101 Auch der von Ehlermann, ebd., gegebene Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Art. 224 und 226 kann keine andere Ansicht begründen, man kann aus der Gegenüberstellung beider Vertragsartikel allein nicht schließen, daß Störungen der öffentlichen Ordnung i. S. d. Art. 224 nicht auch wirtschaftliche Gründe haben könnten. 98 99
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H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Zwecke dagegen Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 nicht rechtfertigen102. Abschließend ist nach der praktischen Bedeutung der hier hauptsächlich anhand des Beispiels der Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke dargelegten funktionalen Eingrenzung der Vorbehaltsklauseln zu fragen. Sie ist angesichts der vorhandenen Abgrenzungsmöglichkeiten nicht sehr hoch einzuschätzen: Der gemeinschaftsrechtswidrige Zweck der betreffenden Maßnahmen wird kaum je offen zutage treten. Wie will man beispielsweise feststellen, ob eine ausländerpolizeiliche Verfügung - um solche wird es in den meisten Fällen gehen - primär darauf gerichtet ist, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu stören103, weil sie wirtschaftlichen Zwecken dient? Man kann also auch angesichts dieses Grundsatzes, dessen Hauptanwendungsbereich sich m. E . . weitgehend auf die grundsätzliche Kompetenzzuweisung hinsichtlich ganzer Sachbereiche beschränkt, nicht darauf verzichten, die inhaltlichen Grenzen der Vorbehaltsklauseln im einzelnen zu fixieren 104 • ce) Politische Zwecke Vergleicht man die Zielsetzung der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 mit der des Art. 224 EWGV, so ergeben sich auch daraus wichtige Hinweise für die Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung und der Vorbehaltsklauseln:. In dieser Bestimmung wird entsprechend dem Prinzip des bereits erwähnten Art. 226 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, in bestimmten Ausnahmesituationen Maßnahmen zu ergreifen, die sonst im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehen105 • Aufmerksamkeit weckt dabei die Tatsache, daß in Art. 224 - anders als in Art. 226 - schwerwiegende innerstaatliche Störungen der "öffentlichen Ordnung" als eine Fallgruppe der alternativ genannten tatbestandlichen Voraussetzungen erscheinen. Der Vergleich dieser Wen102 Vgl. die Verwendung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Polizei- und Ordnungs recht der Mitgliedstaaten. 103 So die insbesondere von Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 93, verwendete Formulierung. 104 Angesichts dieser praktischen Schwierigkeiten erscheint auch die Auseinandersetzung darüber, ob dem Gebot der einschränkenden Auslegung der Vorbehaltsklauseln nennenswerte Bedeutung zukommt - vgl. oben H. Teil, 2. Kap., Abschn. H, 2 e aa -, in einem anderen Licht: Steindorff, der diese Frage verneint, stützt sich ausschließlich auf die Kompetenzteilung durch die Vorbehaltsklauseln. Wenn man sich dem in vollem Umfang anschließen wollte, gäbe es in der Tat Schwierigkeiten, wie die Beschränkung auf eine enge Handhabung der Vorbehaltsklauseln in dem den Mitgliedstaaten zugewiesenen Bereich begründet und präzisiert werden könnte. 105 Daig, in: Groeben / Boeckh, Art. 224 Rdn. 2; vgl. auch Rdn. 3, Vorbemerkung zu Art. 223 - 225.
II. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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dung mit den in Art. 224 parallel dazu verwendeten Merkmalen macht aber deutlich, daß dem Begriff der öffentlichen Ordnung hier eine andere Bedeutung zukommen muß als in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1: Es ist von "ersten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannungen", dem "Kriegsfall" und von Bündnisverpflichtungen der Mitgliedstaaten die Rede, die diese "im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit" übernommen haben. Gegenstand des Art. 224 ist also ganz offensichtlich der Schutz der politischen Ordnung106, der Staatssicherheit, wobei mit den "Störungen der öffentlichen Ordnung" die interne Komponente umschrieben wird. Auch wenn es nicht sehr vorteilhaft erscheint, denselben Begriff innerhalb des Gemeinschaftsrechts unterschiedlich zu bestimmen, so läßt sich das wegen der anderen in Art. 224 genannten Tatbestandsmerkmalen und den sich daraus ergebenden dargelegten Konsequenzen doch nicht vermeiden107 : Die Gegenüberstellung der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 einerseits und des Art. 224 andererseits deutet darauf hin, daß den Mitgliedstaaten in den Vorbehaltsklauseln mit Hilfe des Begriffs der öffentlichen Ordnung in erster Linie die Verfolgung polizeilicher Zwecke ermöglicht werden sollte, und es allenfalls zweitrangig um den Schutz der jeweiligen politischen Gesamtordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ging. Eine solche Interpretation käme den vorrangigen Interessen der betroffenen Ausländer, die sich insofern mit denen der Gemeinschaft decken, in besonderem Maße entgegen, ohne daß die Mitgliedstaaten berechtigte eigene Schutzinteressen nicht ausreichend wahrnehmen könnten. dd) Weitere Konkretisierung An dieser Stelle ist es nicht möglich, mit Hilfe der teleologischen Interpretation weitere Aussagen über die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der Vorbehaltsklauseln zu machen. Die beteiligten Interessen spielen jedoch natürlich bei sämtlichen weiteren Überlegungen eine ausschlaggebende Rolle .. Es wäre beispielsweise aber verfrüht, allein aus der Tatsache, daß die Vorbehaltsklauseln Daig, in: Groeben I Boeckh, Art. 224, Rdn. 4. Ein Blick auf die Rechtsfolgen der angesprochenen Vertragsbestimmungen verdeutlicht die unterschiedlichen Funktionen: Art. 224 versucht die schlimmsten Folgen zu vermeiden - die Mitgliedstaaten sollen sich miteinander "ins Benehmen setzen" -, wenn aus den genannten Gründen eine Beeinträchtigung der Funktion der Gemeinschaft unvermeidbar war, während Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 nicht für solche Extremsituationen geschaffen sind, sondern den Mitgliedstaaten Maßnahmen vorbehalten sollen, die zwar nachteilige Auswirkungen auf die Gemeinschaftsziele haben und deshalb unbedingt die Ausnahme bleiben sollen, dennoch aber gerechtfertigt sind, da sie Zwecken dienen, die die Gemeinschaft primär nicht erfaßt. 108
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II. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
vom Gemeinschaftsrecht geschaffenen Rechten des einzelnen gegenüberstehen, folgern zu wollen, daß eine interessengerechte Abwägung zwangsläufig zu Sicherungen der Art führen müßte, wie sie etwa im deutschen Polizeirecht zur Eingrenzung der Generalermächtigung entwickelt worden sind. f) Rechtsvergleichung
aa) Vorbemerkung Die Rechtsvergleichung hat einen festen Platz bei der Auslegung des Vertrages durch den Gerichtshof108 • Der Umfang, in dem sie möglich erscheint, und die Bewertung der mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnisse hängt in erster Linie von dem herangezogenen tertium comparationis ab. Naheliegend und vielversprechend ist der Vergleich mit anderen gemeinschafts rechtlichen Verträgen, insbesondere dem älteren Montanvertrag. Vergleiche zu anderen völkerrechtlichen Verträgen zieht die Rechtsprechung des Gerichtshofs nur in bescheidenerem Umfang und verwendet auf diese Weise gewonnene Ergebnisse regelmäßig nur ergänzend109 • Das heißt aber nicht, daß solche Vergleiche von vornherein entbehrlich wären, in unserem Fall bieten sie sich zu den bilateralen Niederlassungsverträgen und dem Europäischen Niederlassungsabkommen vielmehr geradezu an. Mit besonderer Vorsicht sind Vergleiche mit innerstaatlichem Recht vorzunehmen, ausgeschlossen sind sie aber selbst dann nicht, wenn nicht alle Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsame Prinzipien erkennen lassen llo • bb) Art. 69 EGKS-Vertrag1ll Artikel 69 § 1 EGKSV kommt Modellcharakter für die Regelung der Freizügigkeit im EWG-Vertrag zu, in ihm sind aber nur die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung angesprochen, während der Begriff der öffentlichen Sicherheit nicht verwendet wird. Daraus kann man indessen nicht schließen, daß Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag gegenüber dem Montanvertrag zusätzliche Einschränkungsmöglichkeiten bringen sollte112 , für einen solchen Rückschritt gibt es keine Zur Bedeutung dieser Auslegungsmethode siehe z. B. K. Wolf, S. 199. K. Wolf, S. 199. 110 K. Wolf, S. 200. m Vom 18.4.1951, BGBL 1952, II, S. 447; siehe auch BGEl. 1960, II, S. 1573; 1. Teil, 1. Kap., Abschn. IV, 3. 112 Es ist insbesondere nicht möglich, zwischen den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nach dem Vorbild nationaler Rechtsordnungen zu differenzieren, wie das z. B. Fanara, in: Quadri / Monaco / Trabucchi, Art. 36 Anm. 2 nach dem italienischen Vorbild tut; vgl. dagegen Ruggiero / 108
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Ir. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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GrÜnde113 • Man kann diese unterschiedliche Terminologie deshalb als Beweis dafür ansehen, daß dem Begriff der öffentlichen Sicherheit neben dem der öffentlichen Ordnung allenfalls klarstellende Bedeutung zukommt. Ein weiterer ins Auge springender Unterschied besteht darin, daß der Montanvertrag ausdrücklich nur Beschränkungen aus "grundlegenden" Erfordernissen der öffentlichen Ordnung vorsiehtl14 , der EWGVertrag eine solche Formulierung dagegen nicht enthält. Aber auch dieser Unterschied läßt nicht den Schluß zu, die Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag enthielten einen weiteren Vorbehalt als Art. 69 § 1 EGKS-Vertrag. Vielmehr dürfte die Änderung rein redaktionellen Charakter haben, da man ein inhaltlich so wenig bestimmtes Attribut ohnehin kaum für geeignet gehalten haben mag, die Auslegung der Vertragsbestimmungen nachhaltig zu beeinflussen. Zudem muß man aus dem Gebot der restriktiven Auslegung der Vorbehalts klauseln auch ohne diesen Zusatz schließen, daß nur schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als Rechtfertigung der entsprechenden Maßnahmen in Betracht kommen können. Diese Ansicht wird durch den Richtlinienentwurf der Kommission bestätigt, aus dem die Richtlinie 64/221/EWG hervorging: Er enthält in Art. 2 Abs. 3 die Formulierung, die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit müßten "besonders schwerwiegender Natur" sein115 • Die Kommission führte zu dieser vom Vertragstext abweichenden Formulierung des Richtlinienentwurfs aus, sie entspräche dem Sinn der entsprechenden Vertragsbestimmung ll6 und sei auch im Hinblick auf zahlreiche bi- und multilaterale Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten angebracht 117• Auch Art. 69 § 2 EGKS-Vertrag enthält einen Gesichtspunkt, der für die Auslegung der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag aufschlußde Dominicis, in: Quadri / Monaco / Trabucchi, Art. 56, Rdn. 2, S. 437; siehe auch Chesne, S. 15. 113 Nach der Terminologie Fanaras, ebd., hätte z. B. die Staatssicherheit nach Art. 69 § 1 EGKSV nicht berücksichtigt werden können, vgl. dazu etwa Raneletti, S. 435 ff.
114 Trotzdem sollen sich die Mitgliedstaaten darin einig gewesen sein, daß eine Änderung der in den einzelnen Staaten geltenden einschlägigen Vorschriften nicht erforderlich sei, vgl. Petz / Zöllner, C I 36. 115 Vgl. Sitzungs dokument 102 des Europäischen Parlaments vom 21. 11. 1962, S. 10 ff., 12. 118 Vgl. die Stellungnahme des Sozialausschusses zu dem genannten Richtlinienentwurf, ausgearbeitet von Troclet, Dok. 102, S. 15 ff.; 17; Nr. 22 .. 117 Die Kommission verwies auf das Beneluxabkommen vom 11. 4. 1960, Art. 4 und 5; das deutsch-französische Abkommen vom 17.10., Art. 3; den dt.-ital. Vertrag vom 27.11. 1957, Art. 2; schließlich noch auf das Europ. Niederlassungsabkommen vom 13.12.1957, Art. 3. M. E. ist diese Begründung nur wenig überzeugend, da sie voraussetzt, daß die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im EWG-Vertrag mit denen dieser Abkommen gleichgesetzt werden können.
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H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
reich ist: Zwar weist das in dieser Bestimmung des Montanvertrages vorgesehene Verfahren zur Festlegung der Beschränkungen nach Art. 69 § 1 EGKS-Vertrag noch vorgemeinschaftlichen Charakter auf118, andererseits läßt Art. 69 § 2 EGKS-Vertrag keinerlei Zweifel daran, daß es nicht den Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte, die Einschränkungen selbständig zu bestimmen. Darin ist ein weiteres Argument für die gemeinschaftsrechtliche Natur der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu sehen. Bedauerlicherweise ist im gegenseitigen Einverständnis darauf verzichtet worden, dem in Art. 69 § 2 EGKS-Vertrag niedergelegten Auftrag Rechnung zu tragen119 • Das ist als Zeichen für den fehlenden politischen Willen der Mitgliedstaaten zu werten, solchen für sie sehr einschneidenden Bestimmungen nachzukommen. Selbst dann, wenn sie auf das Verfahren nach Art. 69 § 2 EGKS-Vertrag in der übereinstimmenden überzeugung verzichtet haben sollten, die Bestimmungen der Mitgliedstaaten entsprächen ohnehin den Anforderungen dieses Vertragsartikels, so offenbarten sie dadurch die Ansicht, daß diese Vorbehaltsklausel ähnlich weit ausgelegt werden könnte wie die entsprechenden Bestimmungen in gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen und legten damit eine wenig gemeinschaftsfreundliche Haltung an den Tag. ce) Bilaterale völkerrechtliche Verträge120 Ein Vergleich der einschlägigen Bestimmungen des EWG-Vertrages mit herkömmlichen Niederlassungsabkommen ist nur dann möglich, wenn man ihre unterschiedlichen Charaktere in Rechnung stellt. Diese zeigen sich gerade in der Natur und der Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sehr deutlich: In den bilateralen Verträgen kann man die von ihnen geprägten Bestimmungen ohne Einschränkung als Vorbehaltsklauseln ansprechen. Sie dienen dazu, den Vertragschließenden nahezu unbeschränkte Möglichkeiten zu sichern, im eigenen Interesse liegenden Maßnahmen gegen Angehörige des Vertragspartners Vorrang zu verschaffen121 • Es gibt so gut wie keine Ansätze für eine nähere Bestimmung oder gar Eingrenzung dieser unbeschränkten Souveränitätsvorbehalte122, die der Verwirklichung der je118 Die Mitgliedstaaten legen die Beschränkungen "im gegenseitigen Einverständnis" fest. 119 Vgl. Petz / ZöHner, Einführung C I 36. 120 I. Teil, 1. Kap., Abschn. IV 2 a. 121 Vgl. Jaenicke, Abschnitt I. 122 Man kann es kaum als Fortschritt bezeichnen, wenn beispielsweise in Nr. 1 des Protokolls zum Niederlassungs- und Schiffahrtsabkommen zwischen der BRD und Griechenland vom 18.3. 1960, BGBL 1962, H, 1505, eine "wohlwollende" Prüfung der Anträge auf Aufenthaltserlaubnis vereinbart wurde.
II. Der Inhalt der Vorbehaltsklauseln
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welligen Vertragsziele nicht gerade zuträglich sind. Es ist zu einem nicht geringen Teil diesen Vorbehalten zuzuschreiben, wenn solche Verträge nur in bescheidenem Umfang mehr Freizügigkeit bringen konnten123 • Insbesondere die Möglichkeit, die Vorbehaltsklauseln zu wirtschaftlichen Zwecken einzusetzen, verhinderte größere Fortschritte124• Nach einer restriktiven Auslegung des § 55 Abs. 3 AuslG läßt dieses Gesetz überdies nur die aufenthalts rechtlichen Vorschriften der völkerrechtlichen Verträge "unberührt", nicht dagegen beispielsweise die wichtigen berufsrechtlichen Bestimmungen125 • Angesichts des ermittelten Grundsatzes, demzufolge die Vorbehaltsklauseln im Gemeinschaftsrecht nur die Verfolgung solcher Zwecken ermöglichen sollen, die das Gemeinschaftsrecht selbst nicht erfaßt, also ganz andere Regelungsaufgaben erfüllt als dieses 126, und des strikten Gebots restriktiver Auslegung der Vorbehaltsklauseln liegt es auf der Hand, daß ein Vergleich mit bilateralen völkerrechtlichen Verträgen insoweit nicht zur Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit beitragen kann. Er macht aber deutlich, daß Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 nicht uneingeschränkt als Souveränitätsvorbehalte angesprochen werden können wie bilaterale Niederlassungsabkommen127• dd) Das Europäische Niederlassungsabkommen128 Im Hinblick auf den Souveränitätsvorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unterscheidet sich das Europäische 123 Ansätze zu einer Bestimmung und Beschränkung der Zulässigkeit ausländerpolizeilicher Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit kann man allenfalls in Vorschriften sehen, die wie die des Art. 2 S. 2 des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen der BRD und der ital. Republik vom 21. 11. 1957, BGBL 1959, H, S. 949, nach ordnungsgemäßem Aufenthalt von 5 Jahren entsprechende Maßnahmen nur erlauben, wenn die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit "besonders schwerwiegend" sind. 124 Vgl. z. B. Urteil des BVerwG vom 18. 12. 1969 in der Rechtssache I c 43.69, DVBl. 70, 623 ff. m. w. N. in der Anm. von Franz. Anderer Meinung ist dagegen Kempen, Gewerbearchiv 70, 248, 249, der entgegen der zitierten Entscheidung des BVerwG die Ansicht vertritt, die öffentliche Ordnung schließe zumindest in Art. 1 Abs. 2 des dt.-griech. Niederlassungsabkommens v. 18.3. 60 die wirtschaftliche Ordnung nicht ein. 125 So die h. M., vgl. BVerwG, a.a.O.; Kempen, a.a.O., S. 249; SchütterZe, DVBl. 71, 345, 346; a. M. Franz, DVBl. 70, 625 ff.; VG Ansbach, GewArch 67,91; Baum, GewArch 68, 245 ff. 125 Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 91. 127 Chesne, S. 159, spricht vom "caractere attenue de la reserve de souverainte de l'article 56". 128 Vgl. oben I. Teil, 1. Kap., Abschn. IV 2 b.
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II. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Niederlassungsabkommen129 nur wenig von den gewöhnlichen bilateralen Verträgen, es enthält ebenfalls keine vertragliche Eingrenzung dieser Begriffe. Im Gegenteil, es wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Begriff der öffentlichen Ordnung weit zu verstehen sei - eine Feststellung, die trotz des Hinweises auf die Auslegung gleichlautender Begriffe in den "kontinentalen Ländern" Europas130 völlig unbestimmt ist1 31 • Dieser Interpretationshinweis auf eine verbreitet weite Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in den Ländern Kontinentaleuropas ist aber deshalb von Interesse, weil anderenorts häufig zwischen einer engen deutschen Auslegung und einer weiten im romanischen Rechtskreis differenziert wird132 • Beide Aussagen sind nur schwer auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und hinsichtlich der sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen zu beurteilen, da sie sehr allgemein gehalten sind und nicht eindeutig klarstellen, auf welchen Grundlagen sie basieren und in welchem Rechtsgebiet sie ihre Berechtigung haben. Gerade letzteres ist aber von entscheidender Bedeutung: Wenn man damit die Verwendung des Begriffs in völkerrechtlichen Verträgen ansprechen will, so ist nach den oben erzielten Ergebnissen allein die erste Ansicht haltbar, von einer engen Auslegung im deutschen Recht kann zumindest in diesem Bereich nicht die Rede sein. Unterschiede zwischen dem deutschen und dem romanischen Rechtskreis, wie sie der an zweiter Stelle genannte Standpunkt zum Ausdruck bringt, finden sich aber auch nicht bei der Verwendung dieses Begriffs in den nationalen polizeirechtlichen Generalklauseln133 • Damit bleibt als Erklärung für diese Feststellung nur die bereits geäußerte Vermutung, daß sie auf die unterschiedliche Verwendung der gleichlautenden Begriffe im Internationalen Privatrecht der einzelnen Mitgliedstaaten zurückgehen könnte134 • In diesem Bereich gewonnene Erkenntnisse sind jedoch für die hier zur Diskussion stehenden Fragen ohne Bedeutung und in keiner Weise übertragbar. 129 Vom 13.12.1955, BGBL 1959, II, S. 997; in Kraft getreten am 23.2.1965 laut Bekanntmachung des BM des Auswärtigen v. 30.7.65, BGBl., II, 1099. 130 Zusatzprotokoll, Abschnitt III, lit. a zu Art. 1,2 und 3 ENA. 131 Kritisch beispielsweise Franz, ZRP, 70, 229 ff., 234; vgl. auch Schütterle, S.348. 132 Vgl. die amtliche Begründung zu § 12 AufenthG/EWG vom 22.7.1969, BT-Drucksache V/4125. 133 Siehe oben 11. Teil, 1. Kap., Abschn. III. 134 Da der Begriff gerade in diesem Bereich vielfach vergleichend erörtert wurde, konnten Argumente aus diesem Rechtsgebiet Eingang in die Diskussion um den gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Ordnung finden, ohne daß über die Vergleichbarkeit bei der Materien Rechenschaft abgelegt worden wäre. Begünstigt wurde das durch die in Frankreich teilweise übliche Abgrenzung des Internationalen Privatrechts, zu dem nicht selten auch das Ausländerrecht gerechnet wird, vgl. oben 11. Teil, 1. Kap., Abschn. IV. Vgl. im einzelnen Desmedt, Cahiers de droit europeen, 1966, 64 ff.; Chesne,
H. Der Inhalt der Vorbehalts klauseln
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Unabhängig davon hat aber auch der Auslegungshinweis zum Europäischen Niederlassungsabkommen ebensowenig Gültigkeit für die Begriffe im Gemeinschaftsrecht wie die aus bilateralen Niederlassungsabkommen, da er dem für diese zweifelsfrei ermittelten Grundsatz der restriktiven Auslegung konträr gegenübersteht. ee) Nationales Recht Nicht selten wird bei dem Versuch, die gemeinschaftsrechtlichen Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu bestimmen, zunächst auf die Verwendung gleichlautender Begriffe in den einzelnen Mitgliedstaaten hingewiesen135 • Es wurde bereits mehrfach dargelegt, daß Vergleiche dieser Art aber nur dann verwertbare Ergebnisse liefern, wenn man geeignete Rechtsgebiete dazu heranzieht. Es hat keinen Sinn, die Begriffe aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln beispielsweise mit dem ordre public zu vergleichen, soweit dieser dazu verwendet wird, Grenzen der Vertragsfreiheit festzulegen. Zum Vergleich mit Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 bietet sich ganz allgemein das jeweilige nationale Polizei- und Ordnungsrecht, im besonderen das Ausländerrecht an136, da die gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln in allen Mitgliedstaaten dazu dienen, die jeweiligen Ausländerbehörden mit denselben Begriffen zu Einzeleingriffen zu ermächtigen. Zwischen der Verwendung der gleichlautenden Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Polizei- und Ordnungs recht einerseits und im Ausländerrecht auf der anderen Seite wurden beträchtliche Unterschiede festgestellt137 , die letztlich daher rühren, daß insbesondere in den entscheidenden Fragen der Einreise und des Aufenthalts im Ausländerrecht den mit Hilfe dieser Begriffe umschriebenen Versagungsgründen keine Rechte des einzelnen gegenüberstehen. Hier hat der EWG-Vertrag eine entscheidende Änderung gebracht: Angesichts des Rechts aller vom Gemeinschaftsrecht begünstigten Angehörigen der Mitgliedstaaten, sich zum Zwecke der Erwerbstätigkeit innerhalb des gesamten Gemeinschaftsgebietes frei zu bewegen und aufzuhalten, kann der Begriff der öffentlichen Ordnung im Ausländerrecht der Mitgliedstaaten gegenüber diesem Personenkreis nur die
s.
155; Wybo, S. 111 ff.; Hildmann, S. 78, 79; siehe auch v. Brunn, NJW 62, 985 ff., 986, 987.
135 Auch wenn dadurch nicht unbedingt der gemeinschaftsrechtliche Charakter der Begriffe in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 angezweifelt wird; vgl. Henze, S. 64; Hildmann, S. 79; Fröhlich, S. 52; Maestripieri, la libre circulation, S. 178. 138 Vgl. oben II. Teil. 137
Lyon-Caen, S. 700.
7 Bongen
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H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Funktion haben, die derjenigen der gleichlautenden Begriffe im Polizeirecht entspricht, nämlich die Umschreibung von Ausnahmen. Daraus kann man zwar nicht ableiten, daß die gemeinschaftsrechtlichen Begriffe denselben Inhalt haben müßten wie jene polizeirechtlichen, es ergeben sich aber wichtige Hinweise darauf, wie der Inhalt der Begriffe in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 zu ermitteln ist, nämlich in Abwägung mit den Rechten, die den begünstigten Personen eingeräumt werden. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob und inwieweit die im Polizeirecht entwickelten Sicherungen gegen eine unangemessen weite oder gar mißbräuchliche Verwendung dieser Begriffe auch hier eingesetzt werden können.
BI. "Gerechtfertigte" Beschränkungen 1. Vorbemerkung
Wenn an dieser Stelle noch einma1138 auf die Formulierung der Vorbehaltsklauseln eingegangen werden soll, daß Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit "gerechtfertigt" sein müssen, so geschieht das nicht unter dem Aspekt, daß sie allein es ermöglichen könnte, den Umfang der Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 EWG-Vertrag mit den Zielen des Gemeinschaftsrechts in Einklang zu bringen139• Wie wir gesehen haben, trägt dazu in erster Linie die sorgfältige Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei. Diese Formulierung muß aber untersucht werden, um feststellen zu können, inwieweit in ihr ein zusätzliches Korrektiv gesehen werden kann, das den Inhalt dieser Vertragsartikel begrenzt. 2. Art. 69 § 1 Montanvertrag
Zunächst liegt es nahe, der Rechtfertigungsklausel überhaupt keine Aufmerksamkeit zu schenken und in ihr lediglich eine von der älteren Bestimmung des Art. 69 § 1 EGKSV abweichende Formulierung zu sehen, hinter der sich keine inhaltlichen Unterschiede verbergen: Im Montanvertrag steht die Freizügigkeit unter dem Vorbehalt der Beschränkungen, die sich aus "grundlegenden Erfordernissen der Gesundheit und der öffentlichen Ordnung ergeben". Im Vertragstext fehlt also ein Anknüpfungspunkt, aus dem sich zusätzliche Voraussetzungen 188 139
Vgl. oben II. Teil, 2. Kap., Abschn. I 3 und II 2 b. So aber Setmer, S. 331.
IH. "Gerechtfertigte" Beschränkungen
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für das Eingreifen der Vorbehaltsklausel ableiten ließen: Wenn grundlegende Erfordernisse der öffentlichen Ordnung vorliegen, sind Beschränkungen nach dem Wortlaut des Montanvertrages ohne weiteres möglich140 • Gegen diese Annahme, daß der gegenüber dem Montanvertrag geänderten Formulierung der Art. 48 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 EWG-Vertrag keine besondere Bedeutung zukommt, spricht indessen einmal die Tatsache, daß dieselbe Formulierung auch in Art. 36 EWG-Vertrag auftaucht, der die zulässigen Ausnahmen vom Gebot der Beseitigung der Hindernisse für den freien Warenverkehr festlegt. Man kann also nicht davon ausgehen, daß sie nur mehr oder weniger zufällig in die Vorbehaltsklauseln Eingang gefunden hätte. Darüber hinaus kann man Überlegungen anstellen, ob diese Formulierung in Art. 48 bs. 3 und 56 Abs. 1 nicht als Ersatz für die gegenüber dem Montanvertrag fehlende ausdrückliche Voraussetzung der "grundlegenden" Erfordernisse der öffentlichen Ordnung geschaffen worden sein könnte. Es verbietet sich also, die Tatsache, daß Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit "gerechtfertigt" sein müssen, außer acht zu lassen. 3. "Gerechtfertigte" Beschränkungen - kein selbständiger Maßstab
Fragt man, wann Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit " gerechtfertigt " sind, so ist die Antwort nicht aus dem Prädikat, der "Rechtfertigungsklausel" zu entnehmen. Mit dieser Formulierung ist weder Inhalt und Reichweite der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bestimmtl4l , noch ist darin ein zusätzliches Kriterium zu sehen, das den Anwendungsbereich der Vorbehaltsklausein von sich aus in irgendeiner Form einschränken könnte: Sprachliche Gesichtspunkte schließen beide Möglichkeiten zwingend aus. Es ist deshalb nicht möglich, Ehlermann142 zu folgen, und allein aus der Tatsache, daß die Beschränkungen nach dem Vertragstext "gerechtfertigt" sein müssen, zu schließen, daß die Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit "notwendig" sein müssen und nicht etwa nur angezeigt, sinnvoll oder vorteilhaft. Im Ergebnis ist dieser Meinung dagegen voll und ganz zuzustimmen, nur beruht sie auf anderen Überlegungen: Die Tatsache, daß das Gemeinschaftsrecht den Angehörigen der Mitgliedstaaten ein Recht gibt, zum 140 Damit wird nicht zu der Frage Stellung genommen, ob sich aus anderen Gründen für Art. 69 § 1 EGKSV zusätzliche Schranken ableiten lassen.
141
Selmer, S. 331. Ehlermann, Europarecht,
73, S. 14; derselbe auch in: Groeben I Boeckh, Art. 36, Anm. IH, 1 - 3; möglicherweise liegen hier aber auch nur mißverständliche Formulierungen vor. 142
'P
100 H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
Zwecke der Erwerbstätigkeit in einen Mitgliedstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten und derselben ungehindert nachzugehen, sowie das strikte Gebot der restriktiven Auslegung der Vorbehaltsklauseln läßt Maßnahmen nicht bereits dann gerechtfertigt erscheinen, wenn an ihnen ein irgend wie geartetes Interesse besteht, das sie nicht von vorne herein als willkürlich ausweist, sondern nur dann, wenn sie tatsächlich notwendig sind143 : Die öffentliche Ordnung muß gestört sein, oder es muß zumindest eine Gefahr für sie zu erkennen sein, deren vorauszusetzende Intensität es im einzelnen noch festzustellen gilt144 • Dieselben Grundsätze, insbesondere der der restriktiven Auslegung der Vorbehaltsklauseln, stellen an den Nachweis der Notwendigkeit von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit weitere Anforderungen: Man kann eine Maßnahme nur dann als notwendig und damit auch als gerechtfertigt bezeichnen, wenn ihr "Strengegrad" der Art des durch sie zu schützenden Interesses der öffentlichen Ordnung entspricht. Die Sonderregelung muß also geeignet sein, der Gefahr zu begegnen und muß das mildeste Mittel zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen145 • Außerdem kann man nur solche Maßnahmen als notwendig ansehen, bei denen die mit ihnen verbundenen Nachteile für den Betroffenen nicht in einem Mißverhältnis zum verfolgten Zweck stehen146 • Von diesen Voraussetzungen soll der der "Gefahr" besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, da ihr die größte Bedeutung zukommen dürfte147 • 4. "Gefahr" für die öffentliche Ordnung und Sicherheit
Weder im Vertrag noch in der Koordinierungsrichtlinie 64/221/EWG und den nationalen Bestimmungen, die diese umsetzen148, taucht der Begriff der "Gefahr" auf, es ist nur allgemein von "Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" die Rede. Solche Gründe liegen zweifellos vor, wenn die öffentliche Ordnung gestört ist. Darin können 143 144
Ehlermann, Europarecht 73, S. 14/15. Ehlermann, Europarecht 73, S. 14/15; er verwendet das Gebot restrik-
tiver Auslegung dagegen nur zur genaueren Bestimmung dessen, was "notwendig" erscheint; vgl. auch Meier, Rdn. 141. 145 Grundsatz der Erforderlichkeit in der Terminologie des deutschen Verwaltungsrechts. 146 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 147 Angesichts des Umfangs der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle in den meisten Mitgliedstaaten - vgl. Ir. Teil, 5. Kap., Abschn. H 2 - kann man an die Effektivität aller dieser zusätzlichen Kriterien nur dann größere Erwartungen stellen, wenn der Europäische Gerichtshof ihnen besondere Aufmerksamkeit widmet. 148 In der Bundesrepublik beispielsweise das AufenthG/EWG vom 22. Juli 1969.
II!. "Gerechtfertigte" Beschränkungen
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sie sich aber nicht erschöpfen, sie liegen vielmehr auch dann vor, wenn die öffentliche Ordnung in einem bestimmten Maß gefährdet ist, da es schlechterdings undenkbar ist, daß den jeweiligen Behörden die Hände gebunden sein sollten, bis die öffentliche Ordnung verletzt ist. Der Zweck dieser Klauseln liegt wie der ähnlicher Bestimmungen im Polizei- und Ordnungsrecht vielmehr hauptsächlich darin, Schäden überhaupt nicht eintreten zu lassen. Zudem ist es in vielen Fällen ohnehin nicht möglich, zwischen einer Gefährdung und einer Verletzung der öffentlichen Ordnung zu unterscheiden149 • So dreht sich die Diskussion nicht um die Frage, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit Maßnahmen gemäß den Vorbehaltsklauseln rechtfertigen kann, sondern nur darum, wie sie beschaffen sein muß. Zumindest dort, wo der Gedanke der Gefahrenabwehr nicht nur das Motiv zu gesetzgeberischer Tätigkeit ist, kommt dieser Frage entscheidende Bedeutung zu. Um das erforderliche Mindestmaß an Aktualität und Intensität zu ermitteln, das die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aufweisen müssen, um Maßnahmen nach den Vorbehaltsklauseln rechtfertigen zu können, muß man deshalb entsprechend differenzieren: Die Vor.behaltsklauseln enthalten nicht bestimmte Sachverhalte, die sie als abstrakt gefährlich umschrieben, sondern bedienen sich ausschließlich der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, um die Voraussetzungen der Ausländer betreffenden Sondermaßnahmen festzulegen. Verfügungen - meist handelt es sich um solche ausländerpolizeilicher Natur -, die sich auf Bestimmungen der Mitgliedstaaten stützen, die ihrerseits nur dieselben pauschalen Begriffe verwenden wie in den Vorbehaltsklauseln selbst, sind mit dem Gemeinschaftsrecht nur dann vereinbar, wenn eine im Einzelfall bevorstehende Gefahr nachgewiesen ist, da sonst nicht sichergestellt wäre, daß den Vorbehaltsklauseln nicht doch im Widerspruch zu den Ergebnissen der systematischen und der teleologischen Interpretation - insbesondere dem Gebot der restriktiven Auslegung - dadurch ein denkbar weiter Anwendungsbereich geschaffen werden könnte, daß solche Verfügungen nur den für jedes Verwaltungshandeln ohnehin geltenden Grundsätzen der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Angemessenheit unterworfen werden. Sie setzen also voraus, daß nach dem tatsächlich vorliegenden Sachverhalt der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist150 • Im Bereich der polizeirechtlichen Generalermächtigung gewonnene Erfahrungen dienen hier als Vorbild151 • Es ist jedoch nicht mit Sicherheit zu sagen, ob sich diese Voraussetzung im europäischen Gemeinschaftsrecht 14G
150 151
Bumbacher, S. 103.
Es muß sich also um eine "drohende konkrete Gefahr" handeln. So auch Ehlermann, Europarecht 73, S. 14, 15.
102 H. Teil, 2. Kap.: Öffentl. Ordnung u. Sicherheit in Art. 48 u. 56 EWGV
in ähnlicher Weise bewähren kann. Das hängt nicht zuletzt von der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ab. Durch diesen Grundsatz, der ausschließlich für (ausländerpolizeiliche) Verfügungen gilt, die auf Bestimmungen beruhen, die die in den Vorbehaltsklauseln verwendeten Begriffe nur aufnehmen und wiederholen, sind die Mitgliedstaaten dagegen in ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit keineswegs daran gehindert, in Rechtsnomen bestimmte Sachverhalte152 , die nach allgemeiner Erfahrung eine (abstrakte) Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit erkennen lassen, zu umreißen und - gestützt auf die Vorbehaltsklauseln - Bestimmungen zu schaffen, die Ausländer Sonderregelungen unterwerfen oder die Behörden zu Verfügungen ermächtigen, die Ausländer betreffen, ohne daß eine bevorstehende Gefahr erforderlich wäre. Dagegen bestehen auch nach dem Gemeinschaftsrecht nicht dieselben Bedenken wie gegen die oben angeführten Maßnahmen, da eine Kontrolle von Seiten der Gemeinschaft sehr viel weniger Schwierigkeiten bereitet. Die Kommission kann beispielsweise gegebenenfalls vor dem Gerichtshof ein Verfahren gegen einen Mitgliedstaat anstrengen, ohne sich erst durch die Beobachtung einer gewissen Anzahl von Einzelfällen ein Bild über die Auslegung einer Generalklausel verschaffen zu müssen. 5. Schlußbemerkung
In der Literatur wird die Formulierung, daß Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit "gerechtfertigt" sein müssen, vielfach nur beiläufig erwähnt153, nicht selten wird sie auch völlig übergangen154 und gelegentlich finden sich sehr eigenwillige Interpretationsversuche 155, die keine praktischen Folgen zeitigen konnten. Dabei kann ihr in der dargelegten Gestalt um so größere Bedeutung zukommen, je weniger scharf die Konturen der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vom Gemeinschaftsrecht vorgezeich152 Vgl. die Unterscheidung zwischen unselbständigen und selbständigen Verfügungen im deutschen Polizeirecht, siehe oben H. Teil, 1. Kap., Abschn. H 3 b. 153 Grabitz, S. 96, leitet aus der Rechtfertigungsklausel ohne nähere Begründung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ab; vgl. auch van Gerven, Nr. 1863; Everling, das Niederlassungsrecht, S. 42 ff. 164 Vgl. z. B. Knolle, in: Groeben / Boeckh, Art. 48; Sandri und Ruggierode Dominicis, in: Quadri / Monaco / Trabucchi, Art. 48 und Art. 56; le Tallec, die Ausländerpolizei; Chesne, l'etablissement des etrangers en France et la CEE. Anders dagegen Ehlermann, Europarecht 73, S. 14, und die überwiegende Meinung zu Art. 36 EWGV, dort ist die Rechtfertigungsklausel in der ihr hier beigemessenen Bedeutung anerkannt. 155 Vgl. Audinet, S. 1004; Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sollen Sondermaßnahmen für Ausländer nur dann rechtfertigen, wenn andere Mitgliedstaaten sie als gerechtfertigt anerkennen.
II!. "Gerechtfertigte" Beschränkungen
103
net sind, je größere Unterschiede sich insofern in den einzelnen Mitgliedstaaten zeigen. Selbst wenn man davon ausgehen könnte - was tatsächlich nicht der Fall ist -, daß in den Mitgliedstaaten ausländerpolizeiliche Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ohnehin nur in Fällen drohender konkreter Gefahren zulässig wären, entfiele die Möglichkeit, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anzurufen, wenn man diesen Grundsatz nicht dem Gemeinschaftsrecht entnehmen wollte, sondern allein dem jeweiligen nationalen Recht. Entsprechendes gilt für die Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit156 • Wieweit der Europäische Gerichtshof sich dieser Ansatzpunkte für eine effektive Sicherung gegen eine weite Verwendung der Vorbehaltsklauseln bedient und damit eine entscheidende Besserstellung des betroffenen Personenkreises gegenüber der Rechtslage nach den nationalen Ausländerrechten durchsetzt, läßt sich für den Bereich der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit gegenwärtig noch kaum entscheiden151 • Wenn man sich aber trotz der nicht zu verkennenden Unterschiede die Rechtsprechung zu Art. 36 EWG-Vertrag vor Augen führt, sind die Aussichten dafür optimistisch zu beurteilen158•
Vgl. etwa Vedel, S. 676 ff. Zwar ist dem Gerichtshof die Unterscheidung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensbegriffen fremd, er bestimmt jedoch den Umfang seiner Nachprüfungsbefugnis selbst. - Vgl. dazu v. Simson, S. 396 ff.; Reinicke, S. 418 ff., 427; Matthies, ZaöRV Bd. 16, 448, 450; Steindorff, die Nichtigkeitsklage, S. 95. 158 Nachweise bei Ehlermann, Europarecht 73, S. 15/16. 158
157
Drittes Kapitel
Die Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht I. Vorbemerkung Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag sieht den Erlaß von Richtlinien des Rats zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften vor, die Sonderregelungen für Ausländer enthalten und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Ehe die Koordinierungsversuche im einzelnen beleuchtet werden, ist zunächst etwas näher auf diese Vertragsbestimmung einzugehen. Da Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag im Kapitel über das Niederlassungsrecht zu finden ist, liegt die Annahme nahe, er solle nur der Koordinierung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften dienen, die Sonderregelungen in diesem Rechtsgebiet vorsehen. Der Wortlaut scheint diese Ansicht zu bestätigen. Da eine dem Art. 56 Abs. 2 entsprechende Bestimmung im Vertragskapitel über die Arbeitnehmer fehlt, hätte eine solche Auslegung möglicherweise zu Unterschieden bei der Verwirklichung beider Vertragskapitel geführt, die weder sachlich zu rechtfertigen noch in irgend einer Weise zweckmäßig gewesen wären. In der Tat verbietet es der Zweck dieser Vertragsbestimmung, sie auf das Kapitel über die Niederlassungsfreiheit zu beschränken1 • Bestätigt wird diese Auffassung durch die besonders wichtige allgemeine Koordinierungsrichtlinie des Rates vom 25. 2.19642 • Der Umfang der in Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag gestellten Aufgabe wird maßgeblich durch den Terminus der "Koordinierung"S bestimmt. Es wird vielfach versucht, ihn in Abgrenzung gegenüber denjenigen der "Angleichung" (Art. 100 EWGV) und "Harmonisierung" (Art. 99 EWGV) zu bestimmen4 • Dieses Problem ist in der Literatur eingehend Vgl. le Tallec, A WD des BB 64, 274, 275. Vgl. Begründung und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 64!221!EWG des Rats vom 25. 2. 64, ABl., S. 850. 3 Der Begriff wird hier nur unter dem Aspekt seiner Verwendung in Art. 56 Abs. 2 gesehen, seine Verwendung in Art. 105 und 111 EWGV kann dagegen dahingestellt bleiben. 4 Nicolaysen, Niederlassungsrecht und Rechtsangleichung, S. 91 ff., stützt seine überlegungen dagegen weniger auf eine solche Abgrenzung, sondern orientiert sich stärker an der Zweckbestimmung des Art. 56 Abs. 2; an ande1
2
I. Vorbemerkung
105
diskutiert worden5 und soll hier nicht erneut aufgerollt werden, da die Begriffe letzten Endes weitgehend auf dasselbe hinauslaufen dürften und dem Rat allgemein ein weiter Spielraum bei ihrer Würdigung zugestanden wird8• Er kann sich in koordinierenden Richtlinien mit kleinen Schritten begnügen, es ist ihm aber freigestellt, auch recht detaillierte Regelungen zu treffen, wenn sie auch nicht die Schwelle zur "Vereinheitlichung" überschreiten dürfen7 • Abstrakt ist dieser Spielraum des Rates aber wohl schwer zu bestimmen8 • Die Zielsetzung des Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag wird gelegentlich mit der Bemerkung in· Frage gestellt, es sei kein einheitlicher ordre public für Ausländer innerhalb der Gemeinschaft vonnöten, sondern der Abbau jeglicher Diskriminierung dieses Personenkreises gegenüber Inländern im nationalen Recht des jeweiligen Aufenthaltsstaates9 • Dieser Ansicht kann nur zugestimmt werden, soweit damit das Ziel der Vertragskapitel über die Arbeitskräfte und die Freizügigkeit insgesamt umschrieben werden soll, nicht dagegen, soweit damit die Funktion des Art. 56 Abs. 2 umrissen wird: Die Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 legen fest, wieweit diese Vertragskapitel und der in ihnen niedergelegte. Grundsatz des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit Ausnahmen zuläßt. Das Gemeinschaftsrecht sieht in Art. 56 Abs. 2 unmittelbar nur vor, daß diese Ausnahmen koordiniert, d. h. in mehr oder weniger große Übereinstimmung gebracht werden sollen, läßt sie dadurch aber zunächst als solche bestehen. Insoweit führt also Art. 56 Abs. 2 in der Tat nicht zu einem für In- und Ausländer einheitlichen ordre public 10 • Da die vorgesehene Koordinierung aber nicht Selbstzweck ist, sondern letztlich der engen Begrenzung der zulässigen Beschränkungen dient, ist sie ein Mittel dazu, die Sondervorschriften für Ausländer abzubauen. Die Gemeinschaft kann entsprechend dem Entwicklungsstand der Integration die Koordinierung auf einem kleinerwerdenden Nenner vornehmen. Das Ziel einer ausnahmslosen Gleichstellung der Ausländer mit Inländern würde dagegen die Abschaffung der Vorbehaltsklauseln erfordern, Koordinierungsrichtlinien rer Stelle, die Niederlassungsfreiheit am Ende der übergangszeit, S. 80 ff., grenzt er jedoch ebenfalls gegenüber den anderen Begriffen ab; Fröhlich, S. 58, vertritt die Meinung, es habe keine klare Vorstellung über die Verwendung dieser verschiedenen Begriffe im Vertrag bestanden. 6 Vgl. z. B. Strauß, Fragen der Rechtsangleichung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften; Lochner, ZgesStW 118 (1962), 35; weitere Nachweise bei Nicolaysen, Niederlassungsrecht und Rechtsangleichung, S. 92, Anm.9. e Vgl. Renauld, CDE 1967, 611, 617 ff. m. w. N. Anm. 18; Everling, aktuelle Fragen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 74. 7 Fröhlich, S. 58. B Everling, aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 74. 9 Rolvering, S. 33. 10 Vgl. Lyon-Caen, S. 704.
106 H. Teil, 3. Kap.: Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht
des Rates und die Arbeit des Gerichtshofes können dahin nur den Weg bereiten, sie sind selbst dagegen kein Mittel, mit deren Hilfe sich dieses Ziel unmittelbar erreichen ließe. Wenn in den Koordinierungsrichtlinien "nur" Elemente möglicher Sondervorschriften der Mitgliedstaaten benannt werden und Grenzen aufgezeigt werden, die bei Inanspruchnahme der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln nicht überschritten werden dürfen, dagegen von vorne herein nicht der Versuch unternommen wird, die Vorbehalte der Mitgliedstaaten im Detail positiv zu erfassen und beim Namen zu nennen, so kann man das nicht als Beweis dafür ansehen, daß es keinen gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Ordnung gibtl l • Man kann daraus nur schließen, daß es innerhalb der Gemeinschaft keine einheitliche öffentliche Ordnung gibt. Aber es wäre ohnehin kaum denkbar, daß die Sondervorschriften im Detail festgelegt werden könnten, das widerspräche dem Charakter der in den Vorbehaltsklauseln verwendeten Begriffen und müßte an unüberwindbaren technischen Hindernissen scheitern - nicht ohne Grund wird die Richtlinie als Koordinierungsmittel eingesetzt. Schließlich kann man sich die Frage stellen, ob angesichts der Tatsache, daß der Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vom Gemeinschaftsrecht her zu bestimmen ist, für Art. 56 Abs. 2 überhaupt eine Notwendigkeit besteht. Das ist zu bejahen, da es sonst praktisch ausschließlich dem Gerichtshof überlassen wäre, den Inhalt derselben zu bestimmen, was zumindest erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zur Folge hätte.
11. Die Richtlinie 62/221/EWG12 1. Der Geltungsbereich
Schon der Titel der Richtlinie "zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind"13, verrät, daß sie dem Auftrag des Artikels 56 Abs. 2 EWG-Vertrag nur teilweise nachkommt14. Sie erfaßt nur den Bereich des allgemeinen Ausländerrechts, koordiniert dagegen nicht gerechtfertigte Sondervorschriften in anderen Rechtsgebieten, etwa berufsrechtliche Bestimmungen. Da die Mitgliedstaaten in diesem Be11 12 13 14
So aber SeImer, S. 331. ABI. 850/64 v. 25. 2. 1964. Zu der Richtlinie allgemein vgI. insbes. Desmedt, S. 64 ff. Jaenicke, S. 4.
II. Die Richtlinie 64/2211EWG
107
reich aber zu nicht-diskriminierenden Bestimmungen greifen können, sind Sondervorschriften diskriminierenden Charakters außerhalb des allgemeinen Ausländerrechts seltener. Dazu kommt, daß eine ganze Reihe von diesen Bestimmungen unter die Ausnahmen nach Art. 48 Abs. 4 und Art. 55 EWG-Vertrag fallen l5 , und durch Richtlinien, die der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit dienen l6 , eine gewisse Koordinierung der übrigen Sonderbestimmungen für Ausländer erzielt wird, indem in ihnen diejenigen genannt werden17 , die in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht aufrecht erhalten bleiben könnenl8 • Obwohl es trotzdem im Interesse der vollständigen Verwirklichung und Sicherung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit wünschenswert gewesen wäre, daß der Rat Koordinierungsrichtlinien für alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hätte oder dieser Aufgabe wenigstens in Zukunft noch nachkäme, dem Art. 56 Abs. 2 also in vollem Umfang Rechnung trüge, sind die Schwierigkeiten nicht zu verkennen, die solchen Richtlinien entgegenstehen. Insgesamt könnten sie wohl kaum präziser sein als die Richtlinie 64/2211EWG. Solange letztere dem Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag allein Rechnung trägt, ist mit besonderer Sorgfalt zu untersuchen, inwieweit die in ihrem Geltungsbereich entwickelten Grundsätze auch außerhalb desselben Anwendung finden können. Auf diese Weise wird der angesprochene Mangel nicht allzu spürbar. 2. Art. 2 Abs. 2
Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie legt fest, daß wirtschaftliche Zwecke nicht als Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geltend gemacht werden können. Es entspricht der tatsächlichen Bedeutung dieser Feststellungl9, daß sie an die Spitze aller inhaltlichen Abgrenzung gesetzt wurde: Gerade wirtschaftliche Zwecke haben bislang offen oder verdeckt vielfach eine entscheidende Rolle bei der Frage der Einreise oder des Aufenthalts von Ausländern gespie1t2°. Durch diese Richtlinienbestimmung werden die oben erzielten Ergebnisse bestätigt2 t, sie trägt aber nicht ausdrücklich zur genaueren 15 Gelegentlich ist auf Anhieb nicht einfach zu entscheiden, ob Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 oder Art. 48 Abs. 4 und Art. 55 EWGV eingreifen. 16 Meist enthalten sie übergangsmaßnahmen. 17 Wenn auch nicht abschließend. 18 Dem steht die Protokollerklärung Dok. 301164 MC/PV 5 - des Rates, derzufolge diskriminierende Bestimmungen nicht genannt werden müssen, nicht im Wege; vgl. Rigaux, S. 11/12. 19 Goldman, S. 273. 20 Vgl. die circulaire vom 24. 1. 1972 des franz. Innenministers, "relative aux conditions de sejour en France des ressortissants des etats membres de la CEE", J. O. vom 18.2.1972, S. 1790, Titel III, Nr. II, 55. 21 Vgl. oben II. Teil. 2. Kap .• Abschn. II 2 e bb.
108 H. Teil, 3. Kap.: Vorbehalts klauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht Bestimmung dessen bei, was unter "wirtschaftlichen Zwecken" zu verstehen ist, es muß deshalb bei den bereits angestellten überlegungen sein Bewenden haben. 3. Art. 3 Abs. 1
In Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie ist festgelegt, daß Maßnahmen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausschließlich auf Grund des persönlichen Verhaltens der in Betracht kommenden Einzelpersonen ergriffen werden können. Diese Bestimmung, die mehr die Vorbehaltsklauseln insgesamt betrifft und erst zweitrangig zur Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit beiträgt, stellt eine ähnliche Schranke dar, wie sie in der "Störer"eigenschaft aus dem deutschen Polizei- und Ordnungsrecht bekannt ist. Der Schutz, den sie gegenüber Eingriffen gewährt, die nur pauschal begründet sind22 , ist kaum hoch genug zu bewerten: Es ist nicht länger möglich, ausländerpolizeiliche Maßnahmen gegen Angehörige anderer Mitgliedstaaten etwa aus Gründen völkerrechtlicher Vergeltung, der .. Überfremdungsgefahr" , aus Gründen der allgemeinen Wirtschaftslage23 oder anderen staatlichen Interessen zu ergreifen, denen bislang nach dem nationalen Ausländerrecht der Mitgliedstaaten stets Vorrang eingeräumt werden konnte. Man kann diese Begrenzung der Vorbehaltsklauseln aus dem Gebot der restriktiven Auslegung ableiten und feststellen, daß sie nicht nur im Bereich von Fragen der Einreise und des Aufenthalts von Angehörigen anderer EWG-Staaten zu berücksichtigen ist, sondern über den unmittelbaren Geltungsbereich der Richtlinie 64/2211EWG Beachtung verdient. Auf der anderen Seite ist Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 64/2211EWG ganz auf die erforderliche Begründung von Einzelakten angelegt, wie sie in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie aufgezählt sind, und man kann ihn nicht auf diskriminierende Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind und sich in Gesetzen und Verordnungen finden, übertragen. Sonst müßte man sämtliche abstrakt-generelle Maßnahmen, die eine Ausländerdiskriminierung enthalten, von vorne herein für unzulässig halten24 • Die große Bedeutung dieser Richtlinienbestimmung und die Tatsache, daß sie eine einschneidende Änderung gegenüber der bisherigen Praxis der Ausländerbehörden bedingt25 , machen es erforderlich, in SeImer, S. 333; le Tallec, AWD des BB 1964, 274 ff., 278. Das kann man hier unabhängig von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie und der Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung und Sicherheit feststellen. 24 Etwa schon das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis oder gesetzliche Beschränkungen bei der Ausübung bestimmter Berufe. 22 23
Ir. Die Richtlinie 64/221/EWG
109
Einzelheiten festzustellen, was unter dem "persönlichen Verhalten" der in Betracht kommenden Einzelperson zu verstehen ist, das "ausschließlich" berücksichtigt werden darf. Die Diskussion hat sich hauptsächlich dar an entzündet, ob ausländerpolizeiliche Maßnahmen, insbesondere die Ausweisung, gegenüber Angehörigen eines Mitgliedstaates möglich sind, um dadurch "andere Ausländer von ähnlichem Verhalten abzuhalten "26, ob also Gesichtspunkte der Generalprävention eine Rolle spielen dürfen 21 • Man kann versuchen, bei der Antwort zu differenzieren: Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie ist es zweifellos unzulässig, bestimmte ausländerpolizeiliche Maßnahmen allein damit zu begründen, die Abschreckung Dritter mache sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich. Fraglich könnte dagegen sein, ob es den Ausländerbehörden auch versagt ist, solche überlegungen neben anderen zu berücksichtigen. Da nach dem Wortlaut der Richtlinienbestimmung aber ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sein darf, muß man generalpräventive Aspekte gänzlich ausschließen28 • M. E. erscheint es sinnvoller, in anderer Weise zu unterscheiden und die beiden folgenden Aspekte des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie in jedem Anwendungsfall getrennt zu prüfen: Einmal ist davon auszugehen, daß nur individuelle Gründe entsprechende Maßnahmen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit rechtfertigen können, zum anderen kann nur das Verhalten der Betroffenen berücksichtigt werden, also nicht etwa allein die Tatsache, daß ihr Aufenthalt an sich schon als störend empfunden wird. Gerade der zweite Gesichtspunkt ist dazu geeignet, eine Würdigung jedes einzelnen Falles herbeizuführen und die Möglichkeit einer echten überprüfung zu schaffen. 4. Art. 3 Abs. 2
"Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen (aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit) 25 Vgl. dagegen die circulaire des französischen Innenministers vom 24. 1. 1972, J. O. vom 18. 2. 1972, Titel II, Nr. II, wonach diese Richtlinienbestimmung nur dazu dienen soll, den "caractere individuel" der jeweiligen Verfügung zu unterstreichen, und festgestellt wird, daß das französische Recht diesem Grundsatz ohnehin Rechnung trägt. Das entspricht zumindest hinsichtlich ausländerpolizeilicher Maßnahmen nicht ganz den Tatsachen. 26 So die Formulierung des VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.3.71, Nr. I 588170; ähnlich schon früher der VGH in dem Beschluß v. 23.12.65, DÖV 67, 352, gegen den auch SeLmer, S. 333, Rdn. 59 Bedenken erhebt. 27 Wenn man diesen strafrechtlichen Begriff für das Ausländerrecht einmal übernehmen will. 28 In der Rechtsprechung werden häufig generalpräventive Gesichtspunkte auch gegenüber EWG-Ausländern geltend gemacht, vgl. oben Anm. 26. So auch ausdrücklich BVerwGE 42,133.
110 H. Teil, 3. Kap.: Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht
nicht begründen" - diese Formulierung des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/2211EWG hat vielfach Anlaß zu kritischen Betrachtungen gegeben29 • Ein Blick auf die übereinstimmenden Formulierungen in den anderen Gemeinschaftssprachenso läßt ernste Zweifel über den Inhalt dieser nicht sehr glücklichen Formulierung jedoch nicht aufkommen: Mit ihrer Hilfe sollte verhindert werden, daß strafrechtliche Verurteilungen "automatisch" als Rechtfertigung für Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dienen können. Der Sinn dieser Vorschrift liegt weniger darin, die Schaffung oder Aufrechterhaltung einer Rechtsvorschrift zu unterbinden, die einen solchen Automatismus herstelltsl, vielmehr sollen in erster Linie die Ausländerbehörden daran gehindert werden, Verfügungen mit einem bloßen Hinweis auf die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung zu begründen. Ohne diese Richtlinienbestimmung wäre die Entscheidung darüber, ob Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind, weitgehend in den Bereich nationalen Strafrechts verschoben, da die Mitgliedstaaten zweifellos ohne sie gerade den Bestand aller strafrechtlich geschützten Rechtsgüter zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit rechnen und in jeder strafbaren Handlung eine Gefahr für diese sehen würden, die ausländerpolizeiliche Maßnahmen rechtfertigen könnte32 • Damit wäre der Gemeinschaft weitgehend die Möglichkeit genommen, die Schranken der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit zu bestimmen oder gar zu koordinieren. Die Tatsache, daß diese Möglichkeit des Rückzuges auf nationale Vorschriften nicht offengelassen wurde, kann als Zeichen dafür gewer~ tet werden, daß es nicht den Mitgliedstaaten überlassen werden sollte, über die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verfügen33 • Der Sinn dieses Richtlinienartikels kann aber nicht allein in dem Verbot einer automatischen Verknüpfung ausländerpolizeilicher Maßnahmen mit strafrechtlichen Verurteilungen gesehen werden34 : Da sie Vgl. z. B. Selmer, S. 334. Franz.: "La seule existence des condamnations p€males ne peut automatiquement motiver ces mesures"; ital.: "La sola esistenza di condanne penali non puo automaticamente giustificare l'adozione di taU provvedimenti." 31 Selmer, S. 334, sieht darin dagegen sogar den einzigen Zweck dieser Bestimmung. 32 Vgl. z. B. § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG. 33 Vgl. die Stellungnahme des Sozialausschusses, ausgearbeitet von Troclet, zu dem Richtlinienvorschlag, der Kommission - Dok. 69 -, aus dem die Richtlinie 64/2211EWG hervorging, Sitzungsdokument des Europäischen Parlaments Nr. 102 vom 21.11.1962, S. 17, Nr. 22: "... es würde offensichtlich dem Geist des Vertrages widersprechen, wenn man ganz allgemein irgendeine Verurteilung in die unter diese Begriffe fallenden Einspruchsgründe einbeziehen wollte". 29
30
11. Die Richtlinie 64/2211EWG
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die in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 vorgesehenen Maßnahmen allein nicht ohne weiteres, nicht automatisch, zulassen, ist zu fragen, welche zusätzlichen Anforderungen sie erfüllen müssen, um Maßnahmen aus Gründen der öffentÜchen Ordnung und Sicherheit zu rechtfertigen. Einmal könnte man in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/2211EWG nur einen klarstellenden Hinweis darauf sehen, daß auch dann, wenn strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, in jedem Fall die rechtfertigenden Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit selbständig zu prüfen sind35 • Damit käme dieser Richtlinienbestimmung keine nennenswerte praktische Bedeutung zu: Sie ließe zwar erkennen, daß strafrechtliche Verurteilungen nach dem Gemeinschaftsrecht nicht den Nachweis von Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ersetzen können, trüge andererseits aber in keiner Weise dazu bei, den Inhalt der Vorbehaltsklauseln in dieser Hinsicht zu verdeutlichen. Man wird dem Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie also nicht gerecht, wenn man ihn entsprechend dieser Interpretation nur als "Illustration" und "Erläuterung" versteht36 • Eine Existenzberechtigung hat er vielmehr nur dann, wenn man in ihm die unterschiedliche Zweckbestimmung von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und solchen der Strafverfolgung hervorgehoben sieht und ihm die Aufgabe zuweist, zwischen beiden zu differenzieren 37 : Die einen dienen der Bekämpfung von bereits eingetretenen Störungen und der Abwehr von Gefahren für die 34 So aber beispielsweise Bleckmann, systeme juridique allemand, S. 153, der § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG bei gemeinschaftsfreundlicher Interpretation für vereinbar mit der Richtlinie 64/221/EWG hält, da er der entscheidenden Behörde ein Ermessen gibt. 35 So beispielsweise der VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.8.1971, Nr. I 267170; vgl. auch Beschluß des VGH vom 11. 8.1971, Nr. I 624/71; siehe auch die circulaire des franz. Innenministers v. 24. 1. 72 betreffend die Aufenthaltsbedingungen für Angehörige der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in Frankreich, J. O. vom 18.2.1972, Nr. 11 55. 36 So aber Troclet in seinem bereits mehrfach zitierten Bericht im Namen des Sozialausschusses an das Europ. Parlament (vgl. oben 11. Teil, 2. Kap., Abschn. II, 2 e aa, Anm. 50), S. 17, Nr. 22 zu der dem Art. 3 Abs. 2 der späteren Richtlinie entsprechenden Bestimmung im Entwurf. 37 Der Binnenmarkt- und der Sozial ausschuß schlagen in ihren Berichten zu dem Entwurf der Kommission - Dok. 69 -, aus dem die Richtlinie 64/221/EWG hervorging, dagegen vor, nur solche strafrechtlichen Verurteilungen sollten Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit rechtfertigen können, die sowohl im Herkunftsland des Betroffenen als auch im Aufnahmeland ergehen könnten; vgl. Bericht de Martino, Sitzungsdokument 102 des Europäischen Parlaments, S. 6 Nr. 21. Dieser Vorschlag trägt zwar dem Gedanken der Koordinierung möglicher Sonderregelungen in ganz besonderem Maße Rechnung, findet aber weder im Vertrag, noch in der Richtlinie 64/221/EWG eine Grundlage, so daß er nur de lege ferenda verwirklicht werden könnte. Im übrigen würde er große praktische Schwierigkeiten heraufbeschwören.
112 H. Teil, 3. Kap.: Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht öffentliche Ordnung und Sicherheit, während die andere Kategorie ausschließlich an in der Vergangenheit liegende strafrechtlich relevante Handlungen anknüpft und Sanktionen vorsieht, die allenfalls indirekt gefahrenabwehrenden Effekt haben können, sich primär jedoch gegen den jeweiligen Täter richten. Auch wenn es durchaus überschneidungen geben kann3s, so hat die unterschiedliche Zweckbestimmung beider Bereiche, die man beispiels~ weise auch an Hand der Definition der französischen "police admini~ strative" und der "police judicaire"39 aufzeigen kann, doch tiefgreifende Konsequenzen, die eine sorgfältige Trennung unerläßlich machen, in den deutschen Rechtsordnungen ist das geradezu selbstverständlich. Ausschlaggebend ist dabei ein zeitliches Moment: Gefährdungen und Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Vergangenheit können zwar strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, das wird sogar die Regel sein, Maßnahmen aus Gründen der Störungsbeseitigung und Gefahrenabwehr können sie dagegen nicht mehr rechtfertigen. Wenn man es als Aufgabe des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie ansieht, dieser Unterscheidung auch im Bereich des Gemeinschaftsrechts Geltung zu verschaffen, da strafrechtliche Verurteilungen und polizeiliche Verfügungen ganz verschiedenen Aufgaben gerecht werden müssen, können Straftaten (ausländer-)polizeiliche Verfügungen nur dann rechtfertigen, wenn sie zur Zeit derselben eine aktuelle Gefährdung oder Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen40 • Von besonderem praktischen Interesse ist die Frage, wie eine gegenwärtige Gefahr festgestellt werden kann41 • Anhaltspunkte dafür wird man beispielsweise der Art und der Anzahl der von dem Betreffenden begangenen strafbaren Handlungen entnehmen können42 • Es wäre 38 So kann in Italien der Strafrichter nach Art. 215 Abs. 2 S. 4 Strafgesetzbuch als Maßnahme aus Gründen der Sicherheit eine Ausweisung anordnen. Nach Art. 202 Abs. 1 ist das aber nur gegenüber Personen "socialmente pericolose, che abbiano commesso un fatto preveduto dalla legge come reato", möglich. . 39 Siehe z. B. Vedel, S. 663. 40 Die circulaire des französischen Innenministers vom 24.1.72, J. O. v. 28.2.72, Titel 111, Nr. 11 55, hält einen "trouble grave et actuel a l'ordre public" für erforderlich; bedenklich aber, wenn in derselben circulaire die Rede davon ist, Gegenstand ausländerpolizeilicher Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung sei es, asoziales Verhalten zu sanktionieren. 41 Das Vorliegen einer "Störung" bereitet insofern keine Schwierigkeiten. 42 Auf keinen Fall kann man sich hier jedoch die Argumentation des BVerwG, Urteil vom 15. 1. 1970 - I C 18.69 - , vgl. Buchholz, 402.24, zu eigen machen, die mit der Begründung, den Ausländerbehörden fehlten "ausreichende Kenntnisse auf dem Gebiet der Kriminologie" von vornherein jede genauere Prüfung ablehnt.
II. Die Richtlinie 64/221/EWG
113
allerdings verfehlt, wenn man allein mit Hilfe solcher Überlegungen dem Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG gerecht werden wollte48 und so den Versuch unternehmen würde, die unterschiedliche Zweckbestimmung der Vorbehaltsklauseln einerseits und des nationalen Strafrechts andererseits zu überbrucken 44 • Solche Gesichtspunkte können nur als Indizien für eine mögliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verstanden werden, können die Unterscheidung jedoch nicht ersetzen und starre Regeln für ihre Lösung aufstellen45 • Diese Interpretation des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG vermag allerdings kaum mehr als den dargelegten Grundgedanken deutlich zu machen, der im übrigen bereits bei der Untersuchung der Frage, welche Sonderregelungen für Ausländer nach Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind, ermittelt werden konnte46 • Sie bietet dagegen m. E. keine genaueren Anhaltspunkte für die Ermittlung der als Voraussetzung für die Anwendung dieser Vertragsbestimmungen zu fordernde Intensität und Aktualität einer Gefahr für die zu schützenden Rechtsgüter. Hierfür kann man nur auf die anderweitig bereits ermittelten Maßstäbe verweisen47 • Abschließend ist festzustellen, daß diese aus Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG abgeleiteten Gesichtspunkte nicht auf den Geltungsbereich derselben beschränkt bleiben können. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß die getroffene Unterscheidung grundlegenden Charakter hat, die Auslegung der "Rechtfertigungsklausel" bestätigt und schließlich seine Begründung auch in dem umfassenden Gebot der restriktiven Auslegung der Vorbehaltsklauseln findet. 43 Le Tallec, A WD des BB 64, 278, sieht wie viele andere vgl. die folgende Anmerkung - in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie dagegen nur eine besondere Anforderung an die Art der strafbaren Handlung und deren Gefährlichkeit; vgl. auch die amtliche Begründung zum AufenthG/EWG, Drucksache des Deutschen Bundestages, V/4125, S. 13. Dort werden als zusätzliche Elemente neben der Tatsache einer Bestrafung die "Art des Delikts", der "Tatausführung", "Rückfalltat" oder Wiederholungsgefahr aufgeführt; noch enger § 95 Abs. 4 des niederländischen Vreemdelingenbesluit, vgl. unten II. Teil, 4. Kap., Abschn. III 6. 44 Auf der oben unter Fußnote 43 dargelegten Ansicht basierend ziehen Grabitz, S. 97, und SeImer, S. 333, aus dieser Richtlinienvorschrift den Schluß, daß nicht-strafbare Handlungen - man denke etwa an Verstöße gegen das Aufenthalts- oder Gewerberecht - keine Maßnahmen aufgrund der Vorbehaltsklauseln rechtfertigen könnten, da dazu nicht einmal alle strafbaren Handlungen ausreichten. Die hier vertretene Meinung läßt diesen Schluß nicht ohne weiteres zu. 45 Vgl. die Ausführungen in der oben Anm. 40 - zitierten circulaire des französischen Innenministers. 48 Vgl. oben II. Teil, 2. Kap., Abschn. III. 47 Vgl. oben II. Teil, 2. Kap., Abschn. III 4.
8 Bongen
114 H. Teil, 3. Kap.: Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht 5. Art. 6
Diese Richtlinienbestimmung sieht vor, daß dem Betroffenen die "Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, bekanntzugeben (sind), es sei denn, daß Gründe der Sicherheit des Staates dieser Bekanntgabe entgegenstehen "48. Die außerordentliche Bedeutung dieser Vorschrift als Voraussetzung für jeden effektiven Rechtsschutz liegt auf der Hand49 und braucht kaum näher dargelegt zu werden. Hier soll vielmehr der Tatsache Aufmerksamkeit gewidmet werden, daß die genannte Richtlinienbestimmung zwischen dem Begriff der "öffentlichen" und dem der "staatlichen Sicherheit" unterscheidet. Wären beide gleichzusetzen, verlöre Art. 6 der Richtlinie insoweit jede Bedeutung, als Gründe der öffentlichen Sicherheit dann nie bekanntgegeben werden müßten. Man kann daraus schließen, daß der Begriff der öffentlichen Sicherheit weiter ist als der der staatlichen Sicherheit. Auch wenn dieser hier nicht im Detail untersucht werden kann - seine Bestimmung erscheint im übrigen nicht ganz unproblematisch50 - wird deutlich, daß die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den Vorbehaltsklauseln den gleichlautenden in den polizeirechtlichen Generalermächtigungen der Mitgliedstaaten auch dadurch angenähert sind, daß sie im Gegensatz zu Art. 224 EWG-Vertrag nicht den Schutz der politischen Ordnung umfassen. 6. Zusammenfassende Bemerkungen
Damit ist die Richtlinie 64/2211EWG insoweit im Detail dargelegt, als sie von unmittelbarer Bedeutung für die nähere Bestimmung der Vorbehaltsklauseln und der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist. Sie enthält zwar eine ganze Reihe weiterer Vorschriften, die von erheblicher Bedeutung für die Praxis sind und in ihrer Wirkung für den betroffenen Personenkreis auch nicht unterschätzt werden sollen, indessen aber nur wenig zur Klärung der hier relevanten Fragen beitragen können - man denke etwa an die Bestimmungen über die Rechtsmittels1 • Dazu kommen diejenigen Richtlinienartikel, die in Siehe auch Art. 7 der Richtlinie. So mußten beispielsweise in Frankreich ausländerpolizeiliche Verfügungen nicht begründet werden, vgl. etwa Desage, S. 196; Auby / Fromont, S. 460; gleiches gilt für Belgien, Auby / Fromont, S. 172. 50 Vgl. die Stellungnahme des Binnenmarktausschusses zu dem Richtlinienvorschlag der Kommission an den Rat, aus dem die Richtlinie 64/2211EWG hervorging, Sitzungsdokument Nr. 102 des Europäischen Parlaments vom 21. 11. 1962, S. 13. 61 Siehe dazu unten H. Teil, 5. Kap., Abschn. H 2. 48
49
III. Andere Richtlinien und Verordnungen
115
erster Linie technische Einzelheiten betreffen und keine großen Probleme aufwerfen52 • Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Koordinierungsrichtlinie auch insoweit, als das Gemeinschaftsrecht die öffentliche Ordnung der Mitgliedstaaten nicht selbst so prägt, wie das insbesondere im wirtschaftlichen Bereich der Fall ist, die Vorbehaltsklauseln in Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 entscheidend eingrenzt und bestimmt. Den Mitgliedstaaten bleibt in diesem Bereich aber ein weiter Entscheidungsspielraum, innerhalb dessen sie festlegen können, was für ihre politische, gesellschaftliche usw. Ordnung ausschlaggebend ist. Ob sie damit dem Entwicklungsstand der Gemeinschaft und ihrer erweiterten Ziele in vollem Umfang gerecht wird, muß hier offen gelassen werden53 • Ebensowenig ist die Frage zu beantworten, ob die Richtlinie trotz ihrer Vorkehrungen unter bestimmten Voraussetzungen Entwicklungen erlauben könnte, die der Verwirklichung der Gemeinschaftsziele abträglich sind. Das hängt maßgeblich davon ab, ob die Kommission gegebenenfalls in der Lage ist, sich mit dem nötigen politischen Gewicht solchen Tendenzen entgegenzustellen54 und ihnen zu wehren.
52 Man denke etwa an Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie. Aufmerksamkeit verdient hier aber noch Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie, demzufolge die Mitgliedstaaten "keine neuen Bestimmungen und Maßnahmen einführen (dürfen), die einschränkender sind als diejenigen, welche bei Bekanntgabe dieser Richtlinie gelten". Da man ihm angesichts anderer eindeutiger Bestimmungen - vgI. insbesondere Art. 48 Abs. 1 und 2 der VO Nr. 15 über die ersten Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABI. 1073/61, siehe auch Desmedt, S. 70 und Chesne, S. 160 - trotz seiner Stellung in der Richtlinie nicht nur eine auf Krankheiten und Gebrechen beschränkte Bedeutung zumessen kann, und dieser Artikel auch anders als beispielsweise die standstill-Klauseln der Art. 53 und 31 EWGVertrag nicht unter dem Vorbehalt der Sonderregelungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit steht, läßt er erkennen, daß es letztlich doch das Ziel des Gemeinschaftsrechts ist, zumindest im Bereich der Fragen der Einreise und des Aufenthalts alle Beschränkungen abzubauen. Das Einfrieren des status quo ante kann als erster Schritt in dieser Richtung verstanden werden - wie gesagt aber nur für den Anwendungsbereich der Richtlinie 64/2211EWG. 53 Das Europäische Parlament geht davon aus, daß die Richtlinie 64/221/ EWG nicht mehr dem Entwicklungsstand der Gemeinschaft entspricht und revisionsbedürftig ist. VgI. dazu die Entschließung des Europäischen Parlaments, ABI. C 4, S. 8/9 vom 20. 1. 72, und dazu den Bericht im Namen des Sozialausschusses, Berichterstatter Califice, ABI. Nr. 144, S. 31, außerdem das Sitzungsdokument Nr. 184/71 des Europäischen Parlaments. Siehe auch die Entschließung des Europäischen Parlaments, ABI. Nr. C 14/21 vom 27.3.73, vgl. dazu das Sitzungsdokument 284/72. 54 Gegebenenfalls gemeinsam mit dem Gerichtshof.
116 H. Teil, 3.Kap.: Vorbehalts klauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht
111. Andere Richtlinien und Verordnungen 1. Vorbemerkung
Neben der Richtlinie 64/221/EWG tragen auch die Richtlinien und Verordnungen zur Herstellung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit dazu bei, den Inhalt der Vorbehaltsklauseln zu verdeutlichen, da sie erkennen lassen, welche Sonderregelungen für Ausländer bestehen bleiben können und welche nicht. Sie können ihrer großen Zahl wegen insbesondere im Bereich der Niederlassungsfreiheit nur zusammenfassend angesprochen werden. 2. Verordnungen und Richtlinien, die die Freizügigkeit betreffen55
In der Verordnung Nr. 15 "über die ersten Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft"58 findet sich der Vorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit überhaupt nur in den einleitend dargelegten Gründen57 • Dort wird obendrein der Eindruck erweckt, nur die Bewegungsfreiheit sei ihm unterworfen, während beispielsweise in Artikel 8 und 9 derselben Verordnung 58 unter der überschrift "Gleichbehandlung" Bestimmungen zusammengefaßt sind, die die Stellung ausländischer Arbeitnehmer im Sinne des Art. 48 Abs. 3 lit. a - d des Vertrages verbessern, ohne daß die Vorbehaltsklausel erwähnt würde. In der gleichzeitig mit dieser Verordnung ergangenen Richtlinie 59 wird sie dagegen ausdrücklich hervorgehoben60 • Die Feststellung kann man bei den Verordnungen und Richtlinien machen, die die genannten ablösten61 • Dennoch wäre es falsch, wenn man aus dem Fehlen der Vorbehaltsklauseln in den genannten Verordnungen schließen wollte, sie hätte dadurch insoweit außer Kraft gesetzt werden sollen62 • Nach dem eindeutigen Vertragstext ist ihr vielmehr die gesamte FreizügigkeitsVgI. den überblick oben 1. Teil, 2. Kap., Abschn. II 2. Vom 16. 8. 1961, ABI. 1073/61 vom 26. 8. 61. 57 Absatz 1 der Gründe. 58 Kapitel 3 der Verordnung. 59 Richtlinie des Rates vom 16.8.1961 "betreffend die Verwaltungsverfahren und -praktiken für Aufnahme, Beschäftigung und Aufenthalt der Arbeitnehmer eines Mitgliedstaates und ihrer Familienangehörigen in den anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft", ABI. 1513/61 vom 13. 12.61. 55
56
60
Art. 8 lit. c.
VgI. VO Nr. 38/64 des Rates vom 25.3.64, ABI. 965/64 vom 17.4.1964; Richtlinie 64/240/EWG vom gleichen Datum, ABI. 981/64 vom 17.4.64; VO Nr. 1612/68/EWG vom 15.10.68, ABI. Nr. 257/2 vom 19.10.68; Richtlinie 68/360 vom 15. 10.68, ABI. Nr. L 257/13 vom 19. 10. 68. 82 So aber Rigaux, § 4 BI; auch Hildmann, S. 81, will ohne nähere Begründung - die Vorbehaltsklauseln nur auf Fragen der Einreise und des Aufenthalts anwenden. Gi
III. Andere Richtlinien und Verordnungen
117
regelung unterworfen und es gibt keinerlei Bestätigung dafür, daß die Vorbehaltsklauseln in der dargelegten Weise hätten eingeschränkt werden sollen63 , vielmehr hat der Rat in einer Protokollerklärung ausdrücklich festgestellt, daß der Vorbehalt von Sonderregelungen für Ausländer aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht jedesmal wiederholt werden muß64. Richtig ist also nur soviel, daß die Vorbehaltsklauseln gerade für das allgemeine Ausländerrecht von besonderer Bedeutung sind, es kann deshalb aber nicht die Rede davon sein, sie seien auf diesen Anwendungsbereich beschränkt. Verfehlt ist es auch, aus der Tatsache, daß Vorbehalte aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den genannten Verordnungen und Richtlinien nur teilweise genannt werden, zu schließen, es sei den Mitgliedstaaten - insbesondere ihren mit der Ausländerpolizei beauftragten Behörden - überlassen, die möglichen Ausnahmen überall dort völlig autonom zu bestimmen, wo sie nicht ausdrücklich erscheinen65 . 3. Richtlinien auf dem Gebiet des Niederlassungsrechts
a) Generelle Richtlinien66 In der heute noch gültigen Richtlinie 64/220/EWG taucht der Vorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit an zwei verschiedenen Stellen auf, in Art. 4 und Art. 8. Das hat indessen nicht zu größerer Klarheit beigetragen, im Gegenteil: Art. 4 muß den Eindruck erwecken, daß die Beschränkungen der Vorbehaltsklausel auf individuelle Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nur für das Aufenthaltsrecht Geltung hätten - eine Parallele also zu Interpretationsschwierigkeiten im Bereich der Freizügigkeit. Eine solche Auslegung stünde im Gegensatz zur Richtlinie 64/221/ EWG, und es ist zu begrüßen, daß im Richtlinienentwurf der Kommission vom 14.7.1971 eine dem Art. 4 der Richtlinie 64/220/EWG entsprechende Bestimmung nicht mehr enthalten ist, und der dem Art. 8 dieser Richtlinie entsprechende Art. 9 des Entwurfs damit keine Zweifel mehr aufkommen läßt. 63 Insbesondere Art. 10 der geltenden Richtlinie 68/360 hat diesbezügliche Zweifel, die beispielsweise auch durch Art. 8 lit c der Richtlinie vom 16. 8. 1961, ABI. 1513/61 vom 13. 12. 61 genährt wurden, endgültig ausgeräumt. 64 Dok. 301/64 MC/PV 5. 65 So aber Rigaux, § 4 B 1. 66 Es handelt sich strenggenommen nur um eine allgemeine Richtlinie des Rates - 64/220/EWG, ABI. v. 4.4. 1964, 845/64. Daneben ist aber das Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, ABI. 36/62 v. 15.1.62, und der Vorschlag der Kommission für eine Nachfolgerichtlinie, dem Rat vorgelegt am 14.7.71, ABI. Nr. C 91/19 v. 14.9. 71 zu beachten.
118 Ir. Teil, 3. Kap.: Vorbehaltsklauseln im sekundären Gemeinschaftsrecht Dieser Entwurf einer Nachfolgerichtlinie vom 14. Juli 1971 wirft dagegen ein anderes Problem auf, das ebenso beispielsweise bei der Richtlinie 64/220/EWG67 zu zeigen ist: Sie enthält Regelungen, die Ausländer besonderen Anforderungen unterwerfen, sie also gegenüber Inländern diskriminieren, man denke etwa an die "Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaates der EWG"68. Nach dem Vertrag sind solche Sonderregelungen nur möglich, wenn sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind. Der Richtlinienentwurf enthält sie jedoch gleichsam als Grundbestand von Sonderregelungen für Ausländer, die von vornherein von allen Mitgliedstaaten als selbstverständlich angesehen worden sein dürften, und ermöglicht daneben und über sie hinaus weitere Sonderregelungen aus denselben Gründen mit Hilfe der Bestimmung in Art. 9 des Richtlinienentwurfs. Diese Tatsache verdeutlicht, wie wenig die Mitgliedstaaten bereit sind, die Vorbehaltsklauseln in gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu gießen, die ihnen kaum eigenen Spielraum lassen. b) Spezielle Richtlinien
Es wurde bereits erwähnt, daß die im Bereich des Niederlassungsrechts ergangenen Richtlinien in der Regel den Vorbehalt des Art. 56 Abs. 1 nicht ausdrücklich wiederholen, sondern ihn als selbstverständlich voraussetzen. Sonderregelungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dürften hier jedoch bei weitem nicht ebenso häufig gerechtfertigt sein, wie das im allgemeinen Ausländerrecht der Fall ist, in vielen Berufen werden sich sogar überhaupt keine begründen lassen. Gewisse Anhaltspunkte dafür, wie weit die Vorbehaltsklausel im Bereich der Niederlassungsfreiheit angewendet wird, ergeben sich daraus, daß die Liberalisierungsrichtlinien Sonderregelungen für Ausländer nennen, die in den einzelnen Mitgliedstaaten gebräuchlich sind und nicht bestehen bleiben können. Diese Aufzählungen sind indessen nicht abschließend, und es liegt nahe, diskriminierende Rechts- und Verwal~ tungsvorschriften in den einschlägigen Richtlinien immer dann nicht zu erwähnen, wenn über ihre Zulässigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Rat keine Einigung erzielt werden kann, die Klärung also letztlich doch dem Gerichtshof zuzuschieben. Dennoch ist allein die nicht selten außerordentlich langwierige Diskussion um solche Sonderregelungen im Rat als Schutz gegen eine allzu weite Auslegung der Vorbehaltsklausel anzusehen 69. 87 Das gilt ebenso z. B. für die Richtlinie 68/360/EWG. 68 Art. 14 Abs. 1 S. 2.
IIr. Andere Richtlinien und Verordnungen
119
Im übrigen ist die Tatsache, daß im Rat um den Gebrauch, den die Mitgliedstaaten von der Vorbehaltsklausel machen, gerungen wird, als äußeres Zeichen dafür zu werten, daß es sich bei den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit um solche gemeinschaftsrechtlicher Natur handelt.
69 Dadurch wird die bereits wiederholt gemachte Feststellung bestätigt, daß die Vorbehaltsklauseln dort weniger Gefahren in sich bergen, wo es in ihrem Gefolge um Sonderregelungen geht, die in Form von Rechtsnormen bestimmte Anforderungen diskriminierender Art an Ausländer stellen.
Viertes Kapitel
Die Vorbehaltsklauseln der Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs.l EWG-Vertrag in den nationalen Rechtsordnungen I. Vorbemerkung Dieses Kapitel ist nicht nur so zu verstehen, daß nunmehr lediglich noch festgestellt werden sollte, ob und inwieweit die Mitgliedstaaten die gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln richtig wiedergeben und verwenden. Dazu sind die ermittelten Maßstäbe zumindest teilweise nicht exakt genug 1 • Da man sich aber von einem Blick auf die Rechtslage und -praxis in den Mitgliedstaaten eine zusätzliche Verdeutlichung der bisher au{gezeigten Versuche, die Vorbehaltsklauseln vom Gemeinschaftsrecht her einzugrenzen, versprechen kann, wird dieses Kapitel vor eine zusammenfassende Auswertung gezogen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung muß die Umsetzung der Richtlinie 64/2211EWG stehen, da sie den Vorbehaltsklauseln die schärfsten Konturen verliehen hat. 11. Die Vorbehaltsklauseln im deutschen Ausländerrecht 1. Vorbemerkung
Die BRD hat die Richtlinie 64/221/EWG erst mit dem "Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" vom 22. Juli 1969 2 in innerstaatliches Recht umgesetzt. Das heißt aber nicht, daß die Bestimmungen betreffend die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit über fünf Jahre völlig ignoriert worden wären: Sogar schon vor Erlaß der Richtlinie 64/221/EWG durch den Rat war in Nr. 4 der "Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausländerpolizeiverordnung und zur Verordnung Nr. 15 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der 1 Man wird im gegenwärtigen Entwicklungsstadium der Gemeinschaft kaum auf einen ganz offensichtlich gemeinschafts rechtswidrigen Gebrauch der Vorbehaltsklauseln stoßen. 2 AufenthG/EWG, BGBl., I, 1969, 927, i. d. F. v. 17.4.1974, BGBl. I, 948.
H. Die Vorbehalts klauseln im deutschen Ausländerrecht
121
Gemeinschaft" vom 17. Juli 1962 3 der Versuch unternommen worden, die gemeinschaftsrechtlichen Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit etwas genauer zu bestimmen4 • Im Ausländergesetz vom 28. 4. 1965 5 wurde die Koordinierungsrichtlinie noch nicht berücksichtigt, obwohl die Umsetzungsfrist von einem halben Jahr bereits überschritten war. Diese knapp bemessene Zeitspanne6 ist nicht der einzige Grund dafür gewesen 7 : Der Regierungsentwurf zum Ausländergesetz hatte in § 30 ein Verordnungsrecht der Bundesregierung vorgesehen, das diese in die Lage versetzen sollte, "Verpflichtungen der BRD aus der Mitgliedschaft bei den Europäischen Gemeinschaften zu entsprechen"8 und auf diese Weise die Umsetzung der Richtlinien zu ermöglichen. Er fand jedoch keine Aufnahme in das Ausländergesetz 9 , so daß für Angehörige der Mitgliedstaaten ein besonderes Gesetz erforderlich wurde. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes am 23. Juli 1969 sollten Bestimmungen in der Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz vom 10.9.196510 und Erlasse der Innenminister der Länderl l der Richtlinie 64/221/EWG Rechnung tragen. 2. "Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft"
§ 12 AufenthG/EWG enthält die "Einschränkungen der Freizügigkeit", d. h. er nimmt die Schranken der Vorbehalts klauseln in Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag auf und setzt die Richtlinie 64/221/ EWG uml2 • Er bestimmt, daß "die Versagung der Einreise, der Aufenthaltserlaubnis oder ihrer Verlängerung, beschränkende Maßnahmen A VV, GMBI. 1962, 268. VgI. dazu unten Anm. 11. 5 BGBI. I, S. 353; es stand mit vielen Punkten nicht mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang; vgl. Bleckmann, systeme juridique allemand, S. 150. 6 Sie wird generell als zu kurz bemessen angesehen, vgI. den Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments vom 12. 2. 71, ABI. C 19 vom 1. 3. 71, S. 35. 7 Nicolaysen, die Niederlassungsfreiheit am Ende der übergangszeit, S. 81. 8 BT-Drucksache IV, 868. 9 In anderen Mitgliedstaaten hat man diesen "rationellen" Weg trotz des Nachteils fehlender Bestandskraft freigegeben, vgI. Belgien, Gesetz vom 19.2.1965, M. B. vom 26.2.1965; Frankreich, Gesetz vom 14.12.1964 und vom 6.7.66, J. O. Nr. 156 vom 7.7.1966 und Gesetz vom 26.12.69, J. O. vom 28.12. 69; Italien, Gesetz Nr. 871 vom 13.7.65, G. U. vom 18.7.65. VgI. dazu beispielsweise Rambow, DVBI. 1968,443; Schier 1 Megret, S. 107. 10 BGBI. I, S. 353; § 1 IV Nr. 1, § 4 I Nr. 4. 11 Z. B. Erlaß des IM Bad.-Württ. über den Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG vom 30.8.1965, GABI. 65, 453; Runderlaß des Niedersächsischen IM vom 14.2. 1966, Nds. MBI. 8/66, S. 148. 12 Das AufenthG/EWG verwendet den Begriff der Freizügigkeit nicht im engen Sinn des Gemeinschaftsrechts. 3 4
122 II. Teil, 4. Kap.: Vorbehalts klauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen
nach § 7 AuslG13 sowie die Ausweisung oder Abschiebung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der EWG nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder dann zulässig (ist), wenn ihre Anwesenheit Belange der BRD beeinträchtigt" 14. Auf den ersten Blick muß man angesichts dieser Formulierung den Eindruck gewinnen, der Gesetzgeber sei über die Vorbehaltsklauseln im Vertrag und die Richtlinie 64/2211EWG hinausgegangen, indem er den Begriffen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit den der "Belange der Bundesrepublik Deutschland" angefügt hat1 5 • Der Bundesgesetzgeber war sich indessen darüber im klaren, daß er mit dem Versuch einer Ausweitung des Rechtsgehalts der Vorbehaltsklauseln den EWG-Vertrag verletzen würde und hat betont, daß es sich lediglich um eine terminologisch bedingte Erweiterung handele, die sich bei der Umsetzung der Richtlinie 64/2211EWG in das eigene nationale Recht als notwendig erwiesen habe, um deren Inhalt in vollem Umfang wiederzugeben: Der Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sei in § 12 AufenthG/EWG im Sinne des "herkömmlichen Polizei-(Ordnungs-)rechts"16 zu verstehen, wobei nur die sich aus der Richtlinie 64/2211EWG ergebenden Einschränkungen17 zu berücksichtigen seien. Dieser Begriff sei aber "wesentlich enger" als der dem "romanischen Rechtskreis" entstammende Begriff des ordre public, der in das Gemeinschaftsrecht Eingang gefunden habe. Dieser umfasse im Gegensatz zu dem des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts die "Gesamtheit der im Interesse des öffentlichen Wohls erlassenen Vorschriften", und es sei deshalb zu seiner Wiedergabe gerechtfertigt, zusätzlich die "Beeinträchtigung sonstiger erheblicher Belange" als Grund für die in § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG genannten' ausländerpolizeilichen Maßnahmen in das Gesetz aufzunehmen. Diese Argumentation stößt aus verschiedenen Gründen auf erhebliche Bedenken:
a) Keine notwendigerweise einheitliche TerminoLogie Schon der Ausgangspunkt dieser Begründung ist problematisch: Es ist keineswegs selbstverständlich, daß die Begriffe der öffentlichen 13 § 7 AuslG betrifft den räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Aufenthaltserlaubnis, der beschränkt werden kann; zum Verhältnis AufenthG/EWG - Ausländergesez vgl. § 15 AufenthG/EWG. 14 Diese Aufstellung bedeutet keine Einschränkung der Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 EWGV, das AufenthG/EWG betrifft - wie die Richtlinie 64/221/EWG - überhaupt nur den Teilbereich des allgemeinen Ausländerrechts. 15 Grabitz, S. 93/94, schließt fälschlich allein aus den verwendeten Begriffen, daß der deutsche Gesetzgeber die ihm "gemeinschafts rechtlich gezogenen Schranken" überschritten habe. 16 BT-Drucksache V, 4125, S. 13. 17 Sie sind in § 12 Abs. 2 - 5 wiedergegeben.
Ir. Die Vorbehaltsklauseln im deutschen Ausländerrecht
123
Ordnung und Sicherheit in diesem Gesetz ebenso verstanden werden müssen, wie das üblicherweise im Polizei- und Ordnungsrecht der Fall ist. Zwar dient eine klare und einheitliche Terminologie ganz ohne Zweifel der Rechtssicherheit und ist schon aus diesem Grunde erstrebenswert, das ist aber nur ein praktischer Gesichtspunkt, der gegenüber anderen Überlegungen durchaus zurücktreten kann. Im übrigen wurden die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auch vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes in der Ausländerpolizeiverordnung nicht so verwendet wie im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht18 • Wenn diese Einheit heute hergestellt ist19, so ist das insoweit zu begrüßen, als es dadurch nicht zu neuen Unklarheiten kommt. Aber auch bezüglich des Ausländergesetzes, wo diese Bedingung erfüllt ist, muß man sich der Tatsache bewußt sein, daß damit die Unterschiede in der Funktion dieser Begriffe in beiden Bereichen keineswegs überwunden sind. Ebensowenig sind damit die im Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten zusätzlichen freiheitssichernden Kriterien in das Ausländerrecht übernommen. b) »Weiter" Begriff aus dem romanischen Rechtskreis?
Das zweite Glied in der Argumentation des Gesetzgebers zur Begründung des § 12 AufenthG/EWG ist die Feststellung, der Begriff der öffentlichen Ordnung des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts sei "enger" als der des romanischen Rechtskreises, der in den EWG-Vertrag und damit auch in die Richtlinie 64/211/EWG Eingang gefunden habe. Diese Ausführungen fordern in zweifacher Hinsicht Kritik heraus: Zunächst ist daran zu erinnern, daß weder Untersuchungen unter historischen und sprachlichen, noch unter systematischen oder teleologischen Aspekten die Feststellung begründen konnten, die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit seien aus der Rechtsordnung eines oder mehrerer Mitgliedstaaten in das Gemeinschaftsrecht übernommen worden. Diese Tatsache wird durch "die Ergebnisse der Überlegung ergänzt, welche Aussage mit der Feststellung einer Übernahme nationaler Begriffe, wie sie in der Begründung zu § 12 AufenthG/EWG behauptet wird, verbunden sein kann: Einmal kann damit nicht gemeint sein, daß der diesen Begriffen in einem bestimmten Mitgliedstaat zugeschriebene, in der Verwaltungspraxis und einer meist unübersehbaren Rechtsprechung ermittelte, Inhalt dieser Begriffe auch für das Gemeinschaftsrecht Bedeutung erlangen sollte: Mit der Feststellung, der BeAVV vom 17.7.1962 zur APVO § 4 Abs. 2. Vgl. Anm. 3 zu § 6 AuslGVwv. vom 7.7.1967, vgl. oben H. Teil, 1. Kap., Abschn. Ir 3 b. 18
19
124 II. Teil, 4. Kap.: Vorbehalts klauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen griff der öffentlichen Ordnung sei aus dem romanischen Rechtskreis übernommen, soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß nur diejenigen Grundsätze in der ganzen Gemeinschaft Sonderregelungen für Ausländer rechtfertigen könnten, die die Staaten, aus denen der Begriff übernommen sein soll, hinsichtlich ihrer eigenen politischen, gesellschaftlichen usw'. Ordnung für essentiell halten. Wie wenig andererseits abstrakte Definitionen dieser Begriffe einen Vergleich ermöglichen, wird dadurch deutlich, daß nur zwischen einer "weiten" und einer "engen" Verwendung unterschieden wird und lediglich allgemeine, sehr wenig exakte Begriffsbestimmungen einer so entscheidenden Feststellung zugrunde gelegt werden können2o • überdies verbietet es auch die besondere, vom Gemeinschaftsrecht bestimmte Funktion dieser Begriffe in den Vorbehaltsklauseln des Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 davon auszugehen, sie seien aus der Rechtsordnung einzelner Mitgliedstaaten übernommen worden, da sie dort wiederum in einer ganz anderen Wechselbeziehung zu einer Vielzahl von Rechten einzelner Gestalt angenommen haben und aus diesem Gefüge nicht ohne Schaden herausgelöst werden können. Aber selbst wenn man sich diese Feststellung der Begründung zu § 12 AufenthG/EWG zu eigen machen wollte, ist es nicht möglich, generell von einer weiten Verwendung der Begriffe im romanischen Rechtskreis zu sprechen und ihr eine enge Begrenzung derselben im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht gegenüberzustellen21 : Wie die Untersuchungen gezeigt haben, ist es insbesondere unzutreffend davon zu sprechen, der ordre public umfasse im romanischen Rechtskreis die "Gesamtheit der im Interesse des öffentlichen Wohls erlassenen Vorschriften", wenn man ihn in seiner Funktion als polizeirechtliche Generalermächtigung sieht22 • Wollte man diese Definition für die Vorbehaltsklauseln des Gemeinschaftsrechts übernehmen, so nähmen diese eine Gestalt an, die mit allen bisherigen Erkenntnissen unvereinbar wäre, sie würden ähnlich weit wie der Vorbehalt des nationalen ordre public, der in der zwischenstaatlichen Freizügigkeit außerhalb des EWG-Vertrages allgemein verbreitet ist23 • Damit wäre durch das Gemeinschaftsrecht - sieht man von den durch die Richtlinie 64/2211EWG ausdrücklich errichteten Schranken einmal ab - kein Fortschritt erzielt: Jeder Mitgliedstaat könnte auch weiterhin in nahezu beliebigem Umfang Sonderrnaßnahmen gegen Ausländer ergreifen, da das Merkmal der öffentlichen Ord20
Vgl. die amtl. Begründung zu § 12 AufenthG/EWG, BT-Drucksache
V/4125, S. 13. 21 22 23
Wie das in der amtlichen Begründung zu § 12 AufenthG/EWG geschieht. Vgl. oben II. Teil, l. Kap., Abschn. IV. Vgl. Jaenicke, Nr. I 2.
H. Die Vorbehaltsklauseln im deutschen Ausländerrecht
125.
nUQg in dieser Definition nur durch das ebenso schwer zu bestimmende Kriterium des öffentlichen Interesses ersetzt wird24 • Im übrigen wäre nach dieser Definition der ordre public kaum vom öffentlichen Recht insgesamt zu unterscheiden. Man fühlt sich an die Auslegung des ordre public in der Rechtslehre in Frankreich während des 19. Jahrhunderts erinnert, der mit dem öffentlichen Recht gleichgesetzt und mit ähnlichen Formulierungen definiert wurde2 5 • c) Sachfremder Vergleich
Die Feststellung, der ordre public werde im romanischen Rechtskreis weiter verstanden als in der deutschen polizeirechtlichen GeneralklauseI, und die in der Begründung zu § 12 AufenthG/EWG gewählte Definition, derzufolge der Begriff in jenem Rechtskreis nicht nur die für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben unentbehrlichen Normen umfaßt, sondern alle im Interesse des öffentlichen Wohls erlassenen Vorschriften, vermittelt zusammen mit den oben im einzelnen dargelegten Gründen den Eindruck, daß diese Definition des "ordre public im romanischen Rechtskreis" nicht aus demselben engen Anwendungsbereich stammt wie die ihr gegenübergestellte aus der deutschen polizeirechtlichen Generalklausel: Die dem § 12 AufenthG/EWG zugrunde gelegte allgemeine Bestimmung des romanischen ordre public läßt nichts von den im Polizei recht sorgfältig ermittelten Schranken erkennen. Das heißt nicht, daß man in dieser Weise überhaupt nicht vom ordre public im romanischen Rechtskreis sprechen könnte, man darf diesen Begriff dann aber nicht mit Definitionen vergleichen, die im deutschen Recht nur in einem sehr engen Rahmen Gültigkeit haben. Neben den bereits angedeuteten Erklärungen kann man versuchen, diese Ungereimtheit dadurch zu begründen, daß der ordre public in Frankreich für den Bereich der polizeirechtlichen Generalklausel insbesondere vom Conseil d'Etat nie abstrakt definiert worden ist, und deshalb in der Praxis bewährte Abgrenzungen wie im deutschen Polizei- und Ordnungs recht fehlen, so daß auf in der Literatur unternommene Interpretationsversuche zurückgegriffen worden sein könnte. Nicht ganz von deI' Hand zu weisen ist aber auch die Möglichkeit, daß die Feststellung, der ordre public sei im romanischen Rechtskreis weiter als im deutschen Polizei- und Ordnungs recht, durch Erkenntnisse beeinflußt wurde, die in anderen Rechtsgebieten gewonnen wurden und dort auch ihre Berechtigung haben. So wird der ordre public im deutschen und französischen Internationalen Privatrecht26 unterschiedlich 24 25
Siehe dazu Bumbacher, S. 42 ff. m. w. N.; Häberle, S. 266 ff. Simitis, S. 101 m. w. N.
20 Wenn hier vom IPR die Rede ist, so ist darunter Kollisionsrecht in dem Sinne zu verstehen, wie es in der deutschen Rechtsterminologie allgemein
126 H. Teil, 4. Kap.: Vorbehalts klauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen
verwendet: Nach deutscher Auffassung handelt es sich beim ordre public 21 im Internationalen Privatrecht um ein Hilfsmittel, das es erlaubt, in Einzelfällen korrigierend einzugreifen, und das gemäß den allgemeinen Kollisionsregeln an sich anwendbare ausländische Recht ausnahmsweise nicht zum Zuge kommen zu lassen28 • Diese Funktion des ordre public zieht seinem Inhalt enge Grenzen, er umfaßt nur den "unantastbaren Teil der eigenen Rechtsordnung"29 und verschafft den Rechtssätzen Vorrang, deren Beachtung schlechthin unverzichtbar erscheint. In den romanischen Ländern faßt man dagegen unter derselben Bezeichnung vielfach alle Regeln zusammen, die zur Anwendung eigenen Rechts führen 30• Sie wird also nicht nur von einem Minimum unverzichtbarer Rechtssätze bestimmt. Dieser Unterschied ist indessen in keiner Weise übertragbar und ist für den Bereich der Gefahrenabwehr ohne jede Bedeutung. Der Grund für diese mögliche mangelhafte Differenzierung zwischen der Verwendung des ordre public-Begriffs in den verschiedenen Rechtsgebieten ist mit einiger Wahrscheinlichkeit in der weiten, systematisch kaum faßbaren Umschreibung des Sachgebiets des Internationalen Privatrechts in Frankreich zu suchen, wo neben dem Kollisionsrecht insbesondere auch die die Rechtsstellung von Ausländern betreffenden Fragen zu diesem Rechtsgebiet gezählt werden31 • Zusammenfassend kann man also feststellen, daß die zur Begründung der weiten Fassung des § 12 AufenthG/EWG gewählte Definition des ordre public in diesem Bereich nicht brauchbar ist. d) "Belange der BRD" im AufenthG/EWG
Um festzustellen, ob die Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aus anderen Gründen die zusätzliche Verwendung des Begriffs der Belange der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen kann, ist dieser näher zu beleuchten. gebräuchlich ist. In Frankreich spricht man vom IPR vielfach in einem sehr viel weiteren Sinn und versteht darunter neben dem Kollisionsrecht das Recht der Staatsangehörigkeit, das Fremdenrecht und das Internationale Prozeßrecht, vgl. z. B. Feblot, S. 14; Makarov, S. 18. 27 Die Formulierung des Art. 30 EGBGB wird allgemein als eine zum ordre public synonyme Wendung verstanden, vgl. z. B. Simitis, S. 203 m. w. N. 28 Vgl. beispielsweise v. Brunn, NJW 62, 987. 29
30 31
Kegel, S. 167. Raape, S. 91.
Siehe Fußnote 26.
Ir. Die Vorbehaltsklauseln im deutschen Ausländerrecht
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Im Ausländergesetz 32 ist der Begriff der Belange der BRD nach allgemeiner Meinung dazu bestimmt, jedes Interesse der BRD durchzusetzen33 . Ein so weiter Vorbehalt ist mit dem ermittelten Inhalt der Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 und ihrer Funktion nicht vereinbar. Er wäre dazu geeignet, mögliche Fortschritte durch den EWG-Vertrag im Bereich der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit in Frage zu stellen. Man kann also die Möglichkeit ausschließen, daß der Begriff in diesem umfassenden Sinn zur Wiedergabe der gemeinschaftsrechtlichen Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verwendet werden kann. Daran ändert auch der einschränkende Zusatz in § 12 AufenthG/EWG zunächst nichts, demzufolge es sich um "erhebliche" Belange handeln muß. Eine solche Schranke ist hier kaum geeignet, einen derart weiten Begriff wirksam einzugrenzen34 • Sie kann - das beweisen die Erfahrungen mit § 10 Abs. 1 Nr. 11 AuslG - nur Bagatellfälle ausschließen35 . Man darf davon ausgehen, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen die Bundesrepublik Deutschland Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben hätte, wenn die Bundesregierung diese mit dem Ausländergesetz übereinstimmende Interpretation des Begriffs der Belange der BRD auch für das AufenthG/EWG vertreten würde36 . Dazu ist es indessen nicht gekommen, vielmehr wurde der Kommission wiederholt versichert, der Begriff der Belange der BRD solle im AufenthG/EWG ausschließlich dem Zweck dienen, die Beziehungen der BRD zum Ausland, die Bestandteil der Vorbehaltsklauseln sein müßten, schützen zu können und darüber hinaus auch eine Einmischung von Ausländern in die inneren Angelegenheiten der BRD unterbinden zu können. Dem Versuch, diese Interpretation auf Nr. 5 der "Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes" zu § 6 AuslG37 und Nr. 15 derselben Verwaltungsvorschrift zu § 10 AuslG zu stützen, steht die Tatsache im Wege, daß diese Anwendungsbereiche dort nur beispielhaft genannt werden 38, sie beschränken den Begriff der Belange der BRD nicht auf diese Fälle. Vgl. z. B. § 2, § 6 und § 10 AuslG. Siehe oben H. Teil, 1. Kap., Abschn. H 3 c; vgl. auch Kanein, DVBl. 66, 618. 34 Steindorff, Dienstleistungsfreiheit und ordre public, S. 94. 35 Vgl. aber Schütterle, DVBl. 71, 349. 38 Wegen anderer Bestimmungen des AufenthG/EWG sind Verfahren nach Art. 169 EWGV eingeleitet worden, vgl. dazu Sitzungsdokument Nr. 234 des Europäischen Parlaments vom 9. 2. 1971 über den Stand der Verwirklichung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit. 37 AuslGVwv vom 7. 7. 1967, abgedruckt z. B. bei Kloesel / Christ. 38 In Nr. 15 AuslGVwv. zu § 10 AuslG heißt es, daß "besonders" die auswärtigen Beziehungen und die unbeeinträchtigte politische Willensbildung in der BRD zu den Belangen der BRD gehöre. 32
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128 II. Teil, 4. Kap.: Vorbehalts klauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen Darüber hinaus gibt es keine Erklärung dafür, warum auf den weiten und überaus schwer bestimmbaren Begriff39 der Belange der BRD zurückgegriffen worden sein sollte, wenn es dem Gesetzgeber nur darum gegangen wäre, diese beiden Anwendungsbereiche berücksichtigen zu können. Das um so weniger, als die Einführung des Begriffs der Belange der BRD mit einer gegenüber dem Ausländergesetz stark eingeschränkten Bedeutung einen Nachteil mit sich bringt, der durch die Gleichsetzung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im AufenthG/EWG mit denen im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht gerade vermieden werden sollte 40 : Der Begriff wird in zwei Gesetzen unterschiedlich verwendet. Das muß man gerade hinsichtlich des Begriffs der Belange der BRD für besonders nachteilig halten, da das AufenthG/EWG für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten nicht etwa ganz an die Stelle des Ausländergesetzes getreten ist, sondern diesem nur insoweit vorgeht, als es abweichende Bestimmungen enthält41 • Bei dieser Verzahnung erscheint eine unterschiedliche Auslegung dieses Begriffs in beiden Gesetzen gänzlich unpraktikabel und kann kaum als vom Gesetzgeber tatsächlich beabsichtigt angesehen werden. Man kommt daran indessen nicht vorbei, solange der Begriff der Belange der BRD im AufenthG/EWG enthalten ist, so daß nunmehr im Detail festzustellen ist, ob und inwieweit für den Begriff überhaupt ein Anwendungsbereich bleibt, wenn man ihn nach den Maßstäben des Gemeinschaftsrechts auslegt. e) Gemeinschaftsr,echtskonforme Inhaltsbestimmung
Der Begriff der "erheblichen Belange der BRD" ist hier nur insoweit von Interesse, als es um solche Belange geht, die nicht ohnehin als Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anzusehen sind. Was die Beziehungen zu anderen Staaten angeht, so kann man davon ausgehen, daß deren innere Ordnung nicht Bestandteil der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der gemeindeutschen Generalklausel ist42 • Auch die "guten Beziehungen" der Bundesrepublik zu anderen Staaten43 fallen nicht unter den Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne der Generalklausel44 • Aus diesem Grunde wäre die 39 Nicht ohne Grund werden gerade an der Verfassungskonformität dieses Begriffs Zweifel laut, vgl. oben H. Teil, 1. Kap., Abschn. H 3 c. 40 Vgl. oben H. Teil, 4. Kap., Abschn. H 2 a. 41 § 15 AuslG. 42 Bayer, DÖV 68, 714, 715, m. w. N. 43 D. h. die außenpolitischen Interessen der BRD. 44 A. M. Bayer, S. 715 ff., der die Polizeibehörden in "Ausnahmefällen" durch die Generalklausel ermächtigt sehen will, die guten Beziehungen zu anderen Staaten zu schützen und insbesondere gegen die Kritik Privater einzuschreiten. Er begründet diese Ansicht damit, daß es im deutschen Recht eine Vielzahl von Vorschriften gebe, die das Verhältnis der BRD zu ande-
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Aufnahme des Begriffs der Belange der BRD in das AufenthG/EWG zumindest in dem durch diese Schutzzwecke bestimmten Rahmen angebracht, wenn nachgewiesen werden kann, daß die gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln45 insofern weiter sind als die Generalklausei des deutschen Polizeirechts und sowohl den Schutz der inneren Ordnung anderer Staaten als auch die guten Beziehungen zu diesen sichern sollten. Zum ersten Punkt ist festzustellen, daß bei einer solchen Auslegung der Vorbehaltsklauseln das Verhalten jedes Angehörigen eines Mitgliedstaates innerhalb der gesamten Gemeinschaft letztlich an den Maßstäben der öffentlichen Ordnung seines Herkunftlandes gemessen werden müßte. Ein solches Ergebnis stimmt nicht mit dem Sinn und Zweck' der Vorbehaltsklauseln überein, da es mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht in Einklang zu bringen ist. Weder das allgemeine Völkerrecht46 noch die gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklausein machen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu Hütern der öffentlichen Ordnung der übrigen Gliedstaaten. In der Praxis wäre es den Behörden und Gerichten des jeweiligen Aufnahmestaates im übrigen auch kaum möglich, die regelmäßig ohnehin nicht einfache Frage nach einem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung für einen fremden Rechtskreis zu beantworten. M. E. sind auch die Beziehungen zu anderen Staaten nicht durch die angesprochenen Vorbehaltsklauseln geschützt47 ; Wollte man anders entscheiden, so hieße das den Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit für den Bereich der Außenpolitik weiter fassen als hinsichtlich des Schutzes der inneren Ordnung der Mitgliedstaaten und entgegen der dort anerkannten Ansicht praktisch jedes staatliche Interesse als Grund für Maßnahmen nach den Vorbehaltsklauseln gelten zu lassen. ren Staaten schützen, und damit der Schluß erlaubt sei, die guten Beziehungen stellten einen Bestandteil der öffentlichen Sicherheit im Sinne der polizeirechtlichen Generalklausel dar. M. E. ist diese Argumentation abzulehnen: Die aufgezählten gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der guten Beziehungen zu anderen Staaten erscheinen teilweise gerade deshalb erforderlich, weil die guten Beziehungen nicht Teil der polizeirechtIichen Generalermächtigung sind. Zumindest ist es nicht möglich, aus dem Schutz der guten Auslandsbeziehungen gegen ganz bestimmte Beeinträchtigungen auf einen umfassenden Schutz durch die Generalklausel zu schließen. Im übrigen kann man nicht abstrakt prüfen, inwieweit diese Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zulassen, ohne von Anfang an insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung in die notwendige Abwägung einzubeziehen. Vgl. auch Dolde, S. 113. 45 D. h. die in ihnen enthaltenen gemeinschaftsrechtlichen Begriffe der . öffentlichen Ordnung und Sicherheit. 48 47
Bayer, S. 713.
In Betracht kommen sowohl Mitgliedstaaten als auch Drittstaaten.
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130 11. Teil, 4. Kap.: Vorbehaltsklauseln L d. nationalen Rechtsordnungen Damit ist keineswegs gesagt, daß die Mitgliedstaaten in jedem Fall tatenlos zusehen müßten, wenn Ausländer die innere Ordnung anderer Staaten oder die außenpolitischen Interessen der BRD beeinträchtigen: Nicht selten wird in diesen Fällen gleichzeitig eine Gefährdung der inneren Ordnung des Aufenthaltsstaates vorliegen, die Maßnahmen auf Grund der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln rechtfertigt. Im übrigen steht es den Mitgliedstaaten frei, mit Hilfe strafrechtlicher Maßnahmen für einen gewissen Schutz der inneren Ordnung anderer Mitgliedstaaten zu sorgen 48 • Es kann also nicht die Rede davon sein, daß eine solche Auslegung der Vorbehaltsklauseln Terroristen die Arbeit von einem Mitgliedstaat aus in einem anderen ermöglichen oder auch nur erleichtern würde, und es ist nicht möglich, mit diesem Argument die Aufnahme des Begriffs der Belange der BRD in das Aufenthaltsgesetz für Angehörige der Gemeinschaft rechtfertigen zu wollen. Ebensowenig ist es zum Schutz der freien politischen Willensbildung erforderlich, den Begriff einzuführen, sie ist durch den der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne der Generalklausel hinreichend abgedeckt. f) Zusammenfassende Bemerkungen
Damit ist nachgewiesen, daß die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne der polizeirechtlichen Generalklausel ausreichen, um die gleichlautenden gemeinschaftsrechtlichen Begriffe umzusetzen, die zusätzliche Verwendung des Begriffs der Belange der BRD also weder erforderlich noch zulässig ist49 • Angesichts der Schwierigkeiten, die bei der Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auftreten, ist ein Verfahren der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland oder eine Überprüfung nach Art. 177 EWG-Vertrag aber wohl nur dann zu erwarten, wenn sich in der Anwendungspraxis und der Rechtsprechung die Folgen einer ähnlich weiten Interpretation wie nach dem Ausländergesetz zeigen 50•
Man muß dabei auch den § 3 Abs. 3 StGB berücksichtigen. Vgl. ebenso Bteckmann, systeme juridique allemand, S. 156; 168, 169. 50 Im übrigen ist die Richtlinie 64/221/EWG in § 12 AufenthG/EWG weitgehend zufriedenstellend umgesetzt worden. Es soll aber nicht weiter untersucht werden, inwieweit dieses Gesetz mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Eine (unzulässige) Abweichung stellt beispielsweise § 1 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG/EWG dar, in dem "voller" Unterhalt verlangt wird, vgl. dagegen VO Nr. 1612/68. 48
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II. Die Vorbehaltsklauseln im deutschen Ausländerrecht
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3. § 12 AufenthG/EWG in der Verwaltungspraxis und -rechtsprechung
Der ganz überwiegenden Mehrzahl der Ausweisungen51 von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten der Gemeinschaft liegen strafbare Handlungen zugrunde. Aus diesem Grunde rückt zunächst § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG, der Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/2211EWG umsetzt52, in den Mittelpunkt des Interesses. Die praktischen Auswirkungen dieser Bestimmung53 sind indessen gering geblieben: Das hat seine Ursache zu einem guten Teil darin, daß auch gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten nach dem von § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG bestimmten Muster verfahren wird, und die dur·ch das Gemeinschaftsrecht bedingten Unterschiede nicht ausreichend berücksichtigt werden: Im Ausländergesetz hat der Gesetzgeber strafrechtliche Verurteilungen wegen Vergehen und Verbrechen als Grundlage für mögliche Ausweisungen normiert und damit zum Ausdruck gebracht, daß er in diesen Fällen eine (abstrakte) Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit gegeben sieht. Eine auf dieser Bestimmung beruhende Ausweisung wird zurecht als unselbständige Verfügung 54 angesehen, die nicht voraussetzt, daß ein Schadenseintritt nach dem tatsächlich vorliegenden Sachverhalt wahrscheinlich ist. Die entscheidende Behörde berücksichtigt den Grundgedanken der Gefahrenabwehr nur im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens. Dasselbe Verfahren verbietet sich gegenüber begünstigten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, da § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG der grundsätzlichen Unterscheidung des Gemeinschaftsrechts zwischen Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und strafrechtlichen Verurteilungen55 nicht ausreichend Rechnung trägt. Da es auf Grund des auf Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/2211EWG beruhenden § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG eine dem § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG entsprechende besondere Ermächtigungsgrundlage für die Ausweisung von begünstigten Gemeinschaftsangehörigen wegen strafbarer Handlungen nicht geben kann56 , ist es aber auch aus innerstaatlichem deutschen Recht nicht möglich, ebenso zu verfahren wie 61 Die Ausweisung soll als bedeutsamste in § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG vorgesehene ausländerpolizeiliche Maßnahme beispielhaft näher untersucht werden. 62 Vgl. oben II. Teil, 3. Kap., Abschn. II 4. 53 Vor dem Inkrafttreten des AufenthG/EWG sorgten Erlasse der Landesinnenminister für die Umsetzung der Richtlinie 64/221/EWG, vgl. oben II. Teil, 4. Kap., Abschn. II 2. 54 Vgl. oben II. Teil,!. Kap., Abschn. II 3 b. 55 § 12 Abs. 4 hat nach dem Gemeinschaftsrecht die Aufgabe, gerade zwischen strafrechtlichen Verurteilungen und Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu unterscheiden - vgl. oben II. Teil, 3. Kap., Abschn. II 4 - so daß es nicht möglich ist, mit Hilfe des § 15 AufenthG/EWG dem Katalog des § 10 AuslG insoweit Gültigkeit zu verschaffen. n Siehe oben H. Teil, 3. Kap., Abschn. II 4.
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132 H. Teil, 4. Kap.: Vorbehaltsklauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen
gegenüber Ausländern aus Drittstaaten, da die Ausweisung in dem genannten Fall keine unselbständige Verfügung mehr darstellt57 • Die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sind also als Tatbestandsmerkmale, als unmittelbare Voraussetzung, für den Erlaß von Ausweisungsverfügungengegen EWG-Angehörige anzusehen, sie sind damit nicht mehr nur im Rahmen des Ermessens der handelnden Behörde zu berücksichtigen. Eine solche Maßnahme nach § 12 AufenthG IEWG ist eine selbständige Verfügung, die eine drohende konkrete Gefahr voraussetzt. Das Gemeinschaftsrecht bestätigt diesen strengen Maßstab generell. Die Rechtsprechung läßt diese Rechtslage außer acht, wenn sie auch gegenüber EWG-Ausländern entsprechend § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG vorgeht und allenfalls an die strafrechtlichen Verurteilungen etwas strengere Maßstäbe anlegt, wie das teilweise schon nach bi- und multilateralen Vereinbarungen der Fall war 58• Im einzelnen prüfen die Verwaltungsgerichte regelmäßig zunächst an Hand des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG die Rechtmäßigkeit der Ausweisung und untersuchen dann, ob die Behörde überhaupt von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht hat59 und ob das in einer nach § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG nicht zu beanstandenden Weise geschehen ist60 • Damit stellt sich ihnen überhaupt nicht die Frage, ob eine konkrete Gefahr im polizeirechtlichen Sinne erforderlich ist, da sie in § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG ja zweifelsfrei eine besondere Ermächtigung vor sich haben, und die Erfordernisse des Gemeinschaftsrechts nicht ohne weiteres auf der Hand liegen. Die Überlegungen nach § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG beschränken sich darauf, ob allgemeine Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die Ausweisung rechtfertigen61 • Die Rechtsprechung bejaht das regelmäßig, wenn die Art und die Zahl der begangenen Delikte den Verstoß nicht nur als ganz geringfügig ausweist. Sie verwendet diese Gesichtspunkte also keineswegs dazu, eine drohende konkrete Gefahr zu begründen62 • Siehe oben Ir. Teil, 1. Kap., Abschn. Ir 3 b. Vgl. etwa Art. 2 Abs. 2 S. 2 des dt.-ital. Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages vom 21. 11. 57, BGBl. 59 Ir, S. 949; 1961 H, S. 1662. Das BVerwG verlangt in BVerwGE 42, 138 schwerwiegende Ausweisungsgründe sogar nur dann, wenn der Ausländer mit einem(r) Deutschen verheiratet ist. 59 Der VGH Bad.-Württ. versteht in seinem Beschluß vom 11. 8. 1971 1267170- § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG so, daß damit gerade auf das Ermessen abgestellt werden sollte. 60 Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. 6. 1968 I C 13.67 - Buchholz, 402.24, Nr. 4 zu § 10 AuslG; VGH Bad.-Württ., Beschluß vom 23. 12.65 - IV 149/64, DÖV 67, 352; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.8.71- I 624171. 61 OVG Münster, Urteil vom 5. 3. 68 IV A 206/67. 62 Siehe oben H. Teil, 3. Kap., Abschn. Ir 4. 67
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IH. Die Vorbehaltsklauseln in den anderen Mitgliedstaaten
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Im übrigen hält sie es auch weiterhin - trotz § 12 Abs. 3 AufenthG/ EWG, demzufolge nur das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf, - im Rahmen der Gründe der öffentliche~ Ordnung und Sicherheit für zulässig, die Abschreckung Dritter zu verfolgen 63 • Diese wenigen Beispiele deuten an, daß neben einer nicht befriedigenden Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln" die Verwaltungspraxis und die Rechtsprechung mit einer zu engen Verklammerung des AufenthG/EWG und des Ausländergesetzes eine vom Gemeinschaftsrecht bezweckte Besserstellung der begünstigten Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten verhindern und dem Gemeinschaftsrecht nur eine ähnliche Bedeutung zumessen wie etwa dem Europäischen Niederlassungsabkommen oder bilateralen Verträgen. Man muß das in erster Linie der Tatsache zuschreiben, daß es verabsäumt wurde, von Anfang an durch eine klare Terminologie die Unterschiede zu den dort vorhandenen Vorbehaltsklauseln zu unterstreichen. Insgesamt wird die heutige ausländerpolizeiliche Praxis und die Rechtsprechung nicht der Tatsache gerecht, daß den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zusteht. Man kann keine gemeinschaftsrechtskonformen Entscheidungen erwarten, wenn diesem Grundsatz nicht das ihm gebührende Gewicht beigemessen wird. ID. Die Vorbehaltsklauseln in den anderen Mitgliedstaaten 1. Vorbemerkung
Wie gezeigt worden ist, hat die Umsetzung der Richtlinie 64/221/EWG in deutsches Recht erhebliche Schwierigkeiten bereitet und ist in ihrem Ergebnis teilweise unbefriedigend. Derselbe Vorgang soll nunmehr in den anderen Mitgliedstaaten untersucht werden65 • Wie in der Bundesrepublik Deutschland ließ die Umsetzung der genannten Richtlinie auch in den übrigen Gemeinschaftsstaaten lange auf sich warten68 • Das nährt den Verdacht, daß die Mitgliedstaaten ihr gegenüber eine wenig positive Haltung einnehmen. Der Verzug kann angesichts der sachlichen Probleme eine solche Feststellung indessen alleine nicht begründen67 • Deshalb ist mit besonderer Sorgfalt und 63 Vgl. etwa Beschluß des VGH Bad.-Württ. vom 12.3.1971, Nr. I 588/70. Ebenso BVerwGE 42, 133. 64 Bzw. der Richtlinie 64/2211EWG. 8& Dabei kann der Richtlinie 64/2211EWG vom 25. 2. 64 wiederum nur insoweit Beachtung geschenkt werden, als sie die gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln näher bestimmt . 68 Zu den ersten Umsetzungsmaßnahmen vgl. Desmedt, S. 68.
134 H. Teil, 4. Kap.: Vorbehaltsklauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen
Aufmerksamkeit zu verfolgen, ob und inwieweit andere Indizien ebenso eine wenig gemeinschaftsfreundliche Haltung der Mitgliedstaaten dokumentieren. 2. Belgien
In Belgien68 kann unerwünschten Ausländern69 die Einreise versagt werden70 • Unerwünscht sind Ausländer insbesondere dann, wenn Grund zu der Annahme besteht, daß sie die "tranquillite publique", den "ordre public" oder die "securite du pays" beeinträchtigen könnten 71 • Für Angehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft besteht insoweit keine Sonderregelung. Diese Bestimmung entspricht nicht dem Gemeinschaftsrecht72 • Zunächst mag man sich daran stoßen, daß neben dem ordre public die "tranquillite publique" als Abweisungsgrund genannt ist und von der "securite du pays" die Rede ist. Darin sind jedoch nur terminologische Abweichungen von den Vorbehaltsklauseln des Gemeinschaftsrechts zu sehen, die den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen nicht sprengen7S • Dennoch wäre es von Vorteil, wenn die im Gemeinschaftsrecht gewählte Formulierung übernommen würde, und so jeder Anschein einer unzulässigen Ausweitung der Vorbehaltsklauseln von vornherein vermieden würde. Der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist vielmehr darin zu sehen, daß Ausländer darüber hinaus aus weiteren, nicht näher verdeutlichten Gründen als unerwünscht abgewiesen werden können 74 • 87 Vgl. die Begründung des Rechtsausschusses zum Entschließungsantrag vom 21. 1. 71 betreffend den Stand der Durchführung der Richtlinien des Rates zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit, Sitzungsdokument des Europäischen Parlaments, Nr. 234, v. 9.2. 1971, Abschnitt III Nr. 13. 68 Allgemein dazu de Kock, S. 525 ff. 89 "Signalt'! comme indesirable en Belgique". 70 Vgl. den "arrete royal aux conditions d'entree, de sejour et d'etablissement des etrangers en Belgique" vom 21. 12. 1965, Moniteur BeIge vom 31. 12. 65, Kapitel II, Art. 2 Abs. 2. Siehe dazu Art. 2 Abs. A des Gesetzes vom 28.3.1952 "sur la police des etrangers", M. B. vom 30./31. 3.1952 in der Fassung vom 30. 4. 1964, M. B. vom 30. 6. 64. - Die Änderungen vom 1. 4. 1969, M. B. vom 20. 6. 1969 brachten keine hier relevanten Neuerungen, ebensowenig der arrete royal vom 11. 7. 1969, M. B., S. 7760. - Die Abweisungsgrunde des Art. 2 Abs. 1 des arrete royal sind hier nicht von Interesse. 7l Kapitel II Art. 2 Abs. 3 des oben genannten königlichen Erlasses vom 21. 12.65, vgl. Anm. 6. 72 Vgl. Verhoeven, systeme juridique beIge, S. 302. 73 Lyon-Caen, S. 697, nennt die unterschiedlichen Formulierungen "clauses de style"; Chesne, S. 155, spricht vom ordre public als einer Technik, die unter wechselnden Bezeichnungen auftritt; vgl. auch die Feststellungen oben II. Teil, 2. Kap., Abschn. Ir 2 b. Diese Formulierungen dürften nicht zuletzt deshalb gewählt worden sein, da sie in Belgien traditionell im Ausländerrecht verwendet werden, vgl. schon Art. 7 des Gesetzes vom 19.10.1797, Bulletin usuel des lois et arretes, Bd. I, 1849, S. 162; vgl. dazu und zu den folgenden Ausländergesetzen im einzelnen Godding, S. 302 ff. 74 Vgl. dazu Verhoeven, revue trimestrielle de droit beIge, 1970,427,431.
IH. Die Vorbehaltsklauseln in den anderen Mitgliedstaaten
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Es besteht natürlich die Möglichkeit, diese Bestimmung gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, das rechtfertigt ihre weite Fassung indessen nicht. Ordnungsgemäß nach Belgien eingereiste Ausländer können nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 des Ausländerpolizeigesetzes vom 28. 3. 195275 ausgewiesen werden 76, wenn sie sich nicht an die mit der Einreiseerlaubnis verknüpften Bedingungen halten, oder ihre Anwesenheit als schädlich oder gefährlich für den ordre public, die "securite" oder die "economie du pays" angesehen wird77 • Auch insoweit sind die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG nicht durch besondere Bestimmungen privilegiert. Es bedarf keines besonderen Hinweises, daß Gründe der "economie du pays" ausländerpolizeiliche Maßnahmen gegenüber EWG-Ausländern nicht rechtfertigen können, und diese Bestimmung deshalb insoweit der Korrektur bedarf. Im Gegensatz zu dem Begriff der "tranquillite publique" kann man darin nicht nur eine Stilfrage sehen. Das ergibt sich einmal aus dem Vergleich mit den Gründen, die eine Ausweisung rechtfertigen, wenn dem Betroffenen bereits eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist: In diesen Fällen ist es erforderlich, daß Gründe des "ordre public" oder der "securite du pays" vorliegen78 • Zum anderen wird der Begriff der "economie du pays" auch anderweitig nicht neben dem des ordre public verwendeF9. Die insgesamt unbefriedigende Anpassung des belgischen Ausländerpolizeigesetzes an die gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln80 ist nicht darauf zurückzuführen, daß der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit entgegengebracht worden wäre und bestimmte Regelungen ausstünden 81 • Man muß deshalb die überzeugung gewinnen, daß nur geringe Neigung besteht, die herkömmlichen Voraussetzungen für ausländerpolizeiliche M. B. 30./31. 3. 1952. Der arrete spricht in diesem Fall von "renvoyer" im Gegensatz zu "expulser" in Art. 3 Abs. 3, vgl. unten Anm. 78. 77 Ausführliche Rechtsprechungsnachweise finden sich bei Verwilghen, S. 397 ff. 78 Art. 4 Abs. A 1 des Ausländerpolizeigesetzes. Hier kommt im übrigen die Befugnis zur Ausweisung dem König zu, im Fall des Art. 3 Abs. 3 dagegen dem Justizminister. 79 Insbesondere nicht in den älteren ausländerpolizeilichen Bestimmungen. 80 Zweifel sind auch hinsichtlich Art. 4 Abs. A 2 angebracht, der eine Ausweisung zuläßt, wenn der Ausländer wegen Straftaten verfolgt oder verurteilt worden ist, die eine Auslieferung rechtfertigen würde. Vgl. aber Art. 12 des arrete royal vom 11.7.69, der eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nur mit den in der Vorbehaltsklausel verwendeten Begriffen zuläßt. 81 Vgl. Kap. IH des arrete royal vom 21. 12. 65 und den arrete royal vom 11. 7. 69. 75 78
136 II. Teil, 4. Kap.: VorbehaltskIauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen
Maßnahmen in vollem Umfang dem Gemeinschaftsrecht anzupassen82 • Wenn es bisher wegen der genannten Bestimmungen nicht zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gekommen ist, so ist das in erster Linie damit zu erklären, daß die belgischen Behörden und Gerichte die Bestimmungen gemeinschaftsrechtskonform anwenden83 • 3. Frankreich
Auch in Frankreich sind die Auswirkungen der Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 EWG-Vertrag und der Konkretisierung dieser Vorbehaltsklauseln in der Richtlinie 64/221/EWG auf das Ausländerpolizeirecht gering geblieben84 : Zwar wird in dem decret Nr. 70-29 vom 5.!. 1970 angeordnet, daß die "carte de sejour" nur aus Gründen des ordre public versagt bzw. nicht verlängert werden kann8S, andererseits wird in Art. 14 desselben decret der Art. 23 der ordonnance Nr. 45-2658 vom 2. 11. 194586 ausdrücklich aufrechterhalten. In dieser Bestimmung ist die Ausweisung von Ausländern vorgesehen, die eine Gefahr für den "ordre public" oder den "credit public" darstellen. Diese Formulierung, die der französische Gesetzgeber offensichtlich für vereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht hält87, weckt Bedenken, da der credit public nicht zu den Begriffen gehört, die im nationalen Polizeirecht regelmäßig neben dem des ordre public verwendet werden und lediglich zu seiner Verdeutlichung beitragen sollen bzw. als Synonyme desselben verstanden werden88• Es ist aber kaum definitiv festzustellen, ob diese Gesichtspunkte durchschlagen können, oder ob dieser Begriff mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist, da er gewöhnlich nicht klar zum Begriff des ordre public abgegrenzt wird und in der 82 Insbesondere setzt sich das belgische Recht nicht ausreichend deutlich mit der Richtlinie 64/221/EWG auseinander, vgl. dazu Verhoeven, revue trimestrielle de droit beIge, 447; Herremann, S.· 225. 83 Damit ist dem Gemeinschaftsrecht keineswegs genüge getan, Verhoeven, a.a.O., (Anm. 82), S. 447. 84 Eine Gesamtdarstellung der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit in Frankreich gibt Simon / Depitre, revue critique de droit internationale prive, 70, S. 227. 85 "Reglementant les conditions d'entree et de sejour en France des ressortissants des etats membres de la CEE beneficiaires de la libre circulation des personnes et des services", Journal Officiel, vom 14.1.1970, S. 516; Art. 11; vgl. zuvor schon die circulaire des Innenministers vom 19.7.1964, Nr. 382, nicht im J. O. veröffentlicht. 86 Ordonnance "relative aux conditions d'entree et de sejour en France des etrangers et portant creation de l'office national d'immigration", J. O. vom
4.11.1945.
87 Vgl. Circulaire des Innenministers vom 24. 1. 72, "relative aux conditions de sejour en France des ressortissants des etats membres de la CEE, J. O. vom 18.2.1972, S. 1780, Titel III, Nr. II C, 61. 88 Vgl. oben II. Teil, 1. Kap., Abschn. III 2.
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Kommentierung vielfach völlig übergangen bzw. nur mit außergewöhnlich vagen Formulierungen umschrieben wird89 • Zusammenfassend ist hervorzuheben, daß auch in Frankreich keine entscheidende Privilegierung der vom Gemeinschaftsrecht Begünstigten in dem hier zur Diskussion stehenden Bereich zu verzeichnen ist: Auch wenn ein direkter Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen nur schwer nachweisbar ist, wird deutlich, daß keine Neigung besteht, dem Ausgangspunkt der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit - dem Recht des Betroffenen auf Einreise und Aufenthalt - vorrangig Rechnung zu tragen. Es wird vielmehr versucht, die erforderlichen Änderungen in der Praxis möglichst gering zu halten indem hervorgehoben wird, das französische Ausländerrecht werde den in der Richtlinie 64/2211EWG niedergelegten Prinzipien ohnehin gerecht90 • Der Versuch, die vom EWG-Vertrag begünstigten Personen und alle anderen Ausländer einheitlichen Bestimmungen zu unterwerfen, erscheint aber nicht gangbar, da kaum ein Mitgliedstaat bereit sein dürfte, auch Angehörigen dritter Staaten seine Grenzen in der vom Vertrag vorgesehenen Weise zu öffnen91 • 4. Italien
In Italien hat der "Decreto deI Presidente della Repubblica" Nr. 1656 vom 30. 12. 196592 die Richtlinie 64/2211EWG umgesetzt. Dabei werden weitgehend die Formulierungen der Richtlinie zur näheren Bestimmung des ordine pubblico übernommen 93, insbesondere wurde den Begriffen des ordine pubblico und der pubblica sicurezza kein weiterer hinzugefügt. Es besteht also zumindest insoweit kein Anlaß, an der Übereinstimmung dieser Bestimmungen mit dem Gemeinschaftsrecht zu zweifeln94• 5. Luxemburg
Am 28. 3. 1972 trat in Luxemburg ein neues Ausländergesetz in Kraft95 • Gleichzeitig ergingen Sonderregelungen für die vom GemeinS. 190; Rondepierre, S. 23, Nr. 81; Ducouloux-Favard, S. 213 ff. Vgl. die circulaire vom 24. 1. 1972, Titel III, Nr. I und Ir. 91 Vgl. Lyon-Caen, S. 701. 92 Gazzetta ufficiale, 3. 3. 1966, Nr. 55. 93 Vgl. Art. 5 des Decreto, vgl. Mazziotti, S. 48/49. G4 Vgl. auch Circolare des Innenministers Nr. 443/150153/IV vom 31. 3. 66. Die Möglichkeit der Ausweisung nach Art. 215 Abs. 2 S. 4 des Strafgesetzbuches durch den Richter ist dagegen nach der hier vertretenen Ansicht nicht ohne weiteres mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar; vgl. aber Mazziotti, S. 54. 89
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Desage,
138 H. Teil, 4. Kap.: Vorbehaltsklauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen
schaftsrecht begünstigten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten96 . Zuvor war dieser Personenkreis gegenüber anderen Ausländern bezüglich möglicher ausländerpolizeilicher Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht privilegiert, und die Ermächtigung zu solchen war außerordentlich weit gefaßt 97 und mit dem Gemeinschaftsrecht kaum in Einklang zu bringen98 . Nach den neuen Bestimmungen kann die Einreise in das Großherzogturn Luxemburg allen Ausländern' versagt werden aus Gründen der "securite publique", der "tranquillite", des "ordre" und der "sante publique"99. Wie bereits mehrfach festgestellt wurde, kann man aus der zusätzlichen Verwendung des Begriffs der "tranquillite publique" nicht ohne weiteres schließen, daß der Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln überschritten worden wäre. Es ist aber bemerkenswert, daß nach Art. 9 Abs. 1 des reglement Angehörigen der Mitgliedstaaten der EWG die Aufenthaltserlaubnis nur aus. Gründen des ordre public, der securite und der sante publique verweigert oder entzogen werden kann - dieselben Gründe rechtfertigen auch eine Ausweisung -, die tranquillite hier indessen nicht erwähnt wird10o • Im Ausländergesetz findet sich keine entsprechende Abstufung10t, so daß man den unterschiedlichen Formulierungen in den die Gemeinschaftsangehörigen betreffenden Bestimmungen doch zumindest den Versuch sehen muß, gerade für die Abweisung möglichst weite Grundlagen zu schaffen. Darin findet eine nicht gerade gemeinschaftsfreundliche Haltung Ausdruck. Außerdem sei noch auf eine Abweichung der für die vom Gemeinschaftsrecht begünstigten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten geschaffenen Bestimmungen von denen des belgischen Ausländergesetzes hingewiesen, die ebenfalls beweist, wie zurückhaltend die Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts vorgingen und wie wenig sie bereit waren, über die im Gemeinschaftsrecht, d. h. der Richtlinie 64/2211EWG vorgeschriebene Minimal95 Memorial, Journal Officiel du Grand-Duche de Luxembourg, recueil de legislation, 13.4.72, A, Nr. 24, S. 817; zur Beurteilung der Situation vor diesem Gesetz, Bleckmann, systeme juridique luxembourgeois, S. 441. 96 Vgl. "reglement grand-ducal du 28.3. 72 relatif aux conditions d'entree et de sejour de certaines categories d'etrangers faisant l'objet de conventions internationales", Memorial, a.a.O., S. 826, Abschnitt I; vgl. Art. 37 des oben genannten Gesetzes. 91 Vgl. insbes. die Gründe für die Verweigerung der "carte d'identite pour les etrangers" - Art. 3 des arrete grand-ducal vom 31. 5. 34, geändert durch den arrete vom 31. 10. 35 und vom 12. 8. 37. 9B Vgl. Bleckmann, systeme juridique luxembourgeois, S. 448. 99 Insoweit sieht der reglement keine Sonderbestimmungen vor, es gilt Art. 2 des genaIlnten Gesetzes. 100 Vgl. ebenso Art. 11 des reglement, der das Verbleiberecht (Richtlinie 1251/70 vom 29. 6. 70) unter denselben Vorbehalt stellt. 101 Vgl. Art. 2, 2. Alt. und Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2.
III. Die Vorbehaltsklauseln in den anderen Mitgliedstaaten
139
lösung hinauszugehen: Nach Art. 1 und Art. 5 des belgischen Ausländergesetzes kann einem Ausländer die Einreise bzw. die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn er "est susceptible de compromettre la securite, la tranquillite, l'ordre ou la sante publies" . Dagegen kann die Aufenthaltserlaubnis nur entzogen werden (oder auch nicht verlängert werden), wenn der Ausländer "par sa conduite compromet la tranquillite, l'ordre ou la securite publics"102. Diese Unterscheidung fehlt in den für EWG-Ausländer geltenden Bestimmungen des reglement - dort ist nur allgemein von Gründen der öffentlichen Ordnung die Rede. 6. Niederlande
In den Niederlanden trat am 13. 1. 1965 ein neues Ausländergesetz in Kraft l03 . Dazu erging am 19.9.1966 der "Vreemdelingenbesluit"104, der in Art. 91 ff. 105 Sonderbestimmungen für die vom Gemeinschaftsrecht begünstigten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten der EWG enthälVo6 • Diese Vorschriften tragen den gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln in erster Linie dadurch Rechnung, daß die Begriffe der "algemeen Belang"107 und der "openbare rust"108, die im Ausländergesetz insbesondere im Zusammenhang mit der Erteilung, der Verlängerung und dem Entzug der Aufenthaltserlaubnis Bedeutung haben, hier allein durch die der "openbare orde", der "nationale veiligheit" und der "volksgezondheit" ersetzt werden l09 . Unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht ist dagegen Art. 21 des Vreemdelingenwet, der festlegt, unter welchen Voraussetzungen Ausländer für. unerwünscht erklärt werden können llo . Er verstößt insbesondere gegen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG. 102 Art. 6 Nr. 2. 103 Vreemdelingenwet, Staatsblad van het Koningrijk der Nederlanden,
1965, S. 73 (Nr. 40). 104 Staatsblad 1966, Nr. 387, geändert durch den königlichen Erlaß vom 15.7.69, Staatsblad, 69, Nr. 305. 105 Abschnitt IV, Nr. 305. 108 Damit ist ein Teil der beispielsweise von Lyon-Caen, S. 700, geäußerten Kritik erledigt. 107 Die Erteilung und Verlängerung der "vergunning tot verblijf" kann nach § 11 Abs. 5 aus Gründen allgemeiner Belange verweigert werden. 108 Dieser Begriff (vgl. dazu den gleichlautenden im belgischen Ausländerrecht, z. B. in Art. 2 des arrete royal v. 21. 12. 65) findet im niederländischen Vreemdelingenwet neben denen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit und Volksgesundheit Verwendung, vgl. etwa Art. 8, Art. 11 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 3. 109 Vgl. Art. 95 des Vreemdelingenbesluit. Art. 91 ff. des Vreemdelingenbesluit erfassen zwar anders als Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG die Ausweisung nicht direkt, so daß es auch für EWG-Ausländer bei der Regelung der Art. 22 ff. Vreemdelingenwet bleibt, da die Gemeinschaftsangehörigen aber ein Recht auf die Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis haben, und sich diese Tatsache auf die Ausweisungsmöglichkeiten
140 H. Teil, 4. Kap.: Vorbehaltsklauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen Im übrigen sind im Art. 95 des Vreemdelingenbesluit die abgestuften Voraussetzungen für die Erteilung, die Verlängerung oder den Entzug der Aufenthaltserlaubnis aus Art. 11 Abs. 5 und Art. 12 des Vreemdelingenwet übernommen111 : Ebenso wie dort setzt die Nichtverlängerung und der Entzug der Aufenthaltserlaubnis im Unterschied zu ihrer Erteilungll2 voraus, daß der Betroffene gegen die öffentliche Ordnung verstoßen hat oder eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt113 • Für eine solche Unterscheidung bietet das Gemeinschaftsrecht keine Grundlage, sie ist nur vom allgemeinen niederländischen Ausländerrecht her zu erklären, stellt allerdings auch keinen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar. Dagegen begegnet die Bestimmung, daß die Aufenthaltserlaubnis darüber hinaus entzogen bzw. ihre Verlängerung verweigert werden kann, wenn sie auf Grund unrichtiger Angaben erteilt oder verlängert worden ist114, Bedenken: Diese Bestimmung, die ebenfalls aus dem allgemein gültigen Ausländergesetz übernommen worden ist115, ist entweder überflüssig 116 oder sie stellt einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar. Eine andere Meinung ließe sich nur begründen, wenn der Begriff der openbare orde im niederländischen Ausländerrecht enger wäre als der entsprechende gemeinschaftsrechtliche Begriff. Auch die Umsetzung des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/2211EWG117 in Art. 95 Abs. 4 S. 2 des Vreemdelingenbesluit kann nicht befriedigen: Dort heißt es nur, daß dann, wenn das persönliche Verhalten zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, die Art des Delikts u~d das Strafmaß zu berücksichtigen sind118 • Diese Auffassung entspricht auch der herrschenden Meinung über die Auslegung dieser Bestimmungenll9 nur teilweise, der oben vertretenen Ansicht über die grundsätzliche Trennung ausländerpolizeilicher Maßnahmen auf Grund der öffentlichen Ordnung und Sicherheit von strafrechtlichen Verurteilungen wird sie überhaupt nicht gerecht. auswirkt - vgl. dazu im Detail Bleckmann, systeme juridique neerlandais, S. 402 -, ist dem Gemeinschaftsrecht Genüge getan. 110 Bleckmann, systeme juridique neerlandais, S. 402. 111 Vgl. dazu Bleckmann, ebd., S. 404. 112 Diese kann verweigert werden, wenn der Antragsteller eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit oder die Volksgesundheit darstellt, Art. 95 Abs. 1. 113 Art. 95 Abs. 2 und Art. 12 lit. c vreemdelingenwet. Vgl. Bleckmann, S. 403, 404. 114 Art. 95 Abs. 2 des vreemdelingenbesluit. 115 Art. 12 Abs. a vreemdelingenwet. 118 Dann nämlich, wenn in einer solchen Täuschung ohnehin ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung zu sehen ist. 117 "Strafrechtliche Verurteilungen allein ... ". 118 ••• "worden de aard van het vergrijp en de strafmaat in anmerking genomen". 11V Vgl. oben H. Teil, 3. Kap., Abschn. H 4.
IV. Zusammenfassung
141
IV. Zusammenfassung
Die Untersuchungen bestätigen den eingangs geäußerten Verdacht, daß die Mitgliedstaaten keine große Neigung zeigen, die gesetzlichen Grundlagen für ausländerpolizeiliche Maßnahmen dem Gemeinschaftsrecht anzugleichen. Sie versuchen vielmehr, die in ihren eigenen Ausländergesetzen enthaltenen Vorschrüten für die Einreise, die Erteilung und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie die Ausweisung möglichst weitgehend in derselben Form auch hinsichtlich des von der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit des Gemeinschaftsrechts begünstigten Personenkreises aufrechtzuerhalten. Dabei dokumentiert die Tatsache, daß nicht einmal die Umsetzung der Richtlinie 64/2211EWG reibungslos erfolgte, die mangelnde Bereitschaft der Mitgliedstaaten, der durch das Gemeinschaftsrecht völlig veränderten Ausgangssituation auch bei der Handhabung der Vorbehaltsklauseln Rechnung zu tragen. Diese Tendenz wird - natürlich unbeabsichtigt - durch die Richtlinie 64/221/EWG noch begünstigt: Die Mitgliedstaaten sehen sich berechtigt, innerhalb der dort ausdrücklich gezogenen Schranken nach eigenem Belieben den Inhalt der Vorbehaltsklauseln zu bestimmen. Dadurch wird der "erste Schritt" auf dem Wege zur Koordinierung und zum Abbau der nationalen Sonderbestimmungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, der nur als Ausgangsbasis und Minimalprogramm zu verstehen ist und den Entwicklungsstand der Gemeinschaft im Jahre 1964 dokumentiert, zementiert und als Endpunkt festgeschrieben. Dazu kommt, daß ein Teil der Bestimmungen der Richtlinie 64/2211EWG stark auslegungsfähig und -bedürftig ist, und die weitere Eingrenzung des Anwendungsbereichs der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das aufmerksame Verfolgen der Entwicklung der Gemeinschaft in der Bereitschaft voraussetzt, dieser Dynamik mit einer fortschreitenden Eingrenzung der nationalen Regelungskompetenzen Rechnung zu tragen. Die dadurch zwangsläufig entstehende Unsicherheit macht die Haltung der Kommission verständlich, die offensichtlich zunächst die Entwicklung der nationalen Verwaltungspraxis und -rechtsprechung in den einzelnen Mitgliedstaaten abwarten und beobachten will, ehe sie aktiv wird. Sie begibt sich dadurch allerdings der Chance, von Anfang an einer für die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit gefährlichen Entwicklung zu wehren. Außerdem nimmt sie dem Gerichtshof damit teilweise die Möglichkeit, die Auslegung der Vorbehaltsklauseln mit zu beeinflussen. Das ist insbesondere deshalb zu bedauern, weil gerade von ihm zu erwarten wäre, . daß er den Charakter der Vorbehaltsklauseln verdeutlichen
142 II. Teil, 4. Kap.: Vorbehalts klauseln i. d. nationalen Rechtsordnungen würde und über die Richtlinie 64/221!EWG hinaus die Interpretation der Vorbehaltsklauseln dynamisieren und Maßstäbe für ihre Anpassung an die Entwicklung der Gemeinschaft schaffen könnte. Es erscheint fraglich, ob die Fixierung der Vorbehaltsklauseln und der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die Richtlinie 64/221!EWG noch rückgängig gemacht und dem Grundgedanken der Bestimmung der Vorbehaltsklauseln vom Gemeinschaftsrecht her mehr Geltung verschafft werden kann.
Fünftes Kapitel
Die Weiterentwicklung der Gemeinschaft und die Vorbehaltsklauseln I. Vorbemerkung Die Reichweite der Vorbehaltsklauseln ist nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern ist eine Funktion der politischen Entwicklung. Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 werden nur dann nicht zum Hemmschuh für die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit, wenn sich ihre Interpretation an der Entwicklung der Gemeinschaft orientiert und sie umgekehrt proportional zur vollständigen Integration der Mitgliedstaaten eingegrenzt und abgebaut werden, bis alle Angehörigen der Mitgliedstaaten überall in der Gemeinschaft ausnahmslos denselben Bestimmungen unterliegen wie Inländer1 • Die Anstöße dazu - die ständige Wiederholung der Frage, ob die Interpretation der Vorbehaltsklauseln dem Entwicklungsstand der Gemeinschaft entspricht - wird man in erster Linie vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften erwarten müssen. Andererseits kann der Gerichtshof diese Entwicklung nicht allein vorantreiben, seine Entscheidungen könnten nur punktuellen Charakter haben und Fortschritte in der angedeuteten Richtung wären allenfalls sehr langfristig zu erhoffen. Deshalb ist es bedeutsam, inwieweit nationale Rechtsmittelinstanzen dazu beitragen können. Es gilt also festzustellen, ob und inwieweit ausländerpolizeiliche Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gegenüber Gemeinschaftsangehörigen überprüfbar sind. Die Antwort darauf offenbart gleichzeitig, inwieweit die Mitgliedstaaten bereit waren und sind, dem Recht auf Freizügigkeit und Niederlassung Geltung zu schaffen und es zu sichern, da gerade in ihm deutlich wird, ob der große Spielraum der Verwaltung in diesem Bereich eingegrenzt werden konnte. Natürlich können auch Rat und Kommission nicht tatenlos bleiben, das ihnen zur Verfügung stehende Instrumentarium bedarf jedoch keiner besonderen Darstellung. Im übrigen ist es nicht möglich, Vorhersagen darüber zu machen, inwieweit beide Organe dieses tatsächlich einsetzen könnten, um die Freizügigkeit und die Niederlassungsfrei..: heit zu sichern bzw. auszubauen, wenn man sich nicht in den Bereich 1
Das läßt sich freilich nicht ohne Vertragsänderung bewerkstelligen.
144 II. Teil, 5. Kap.: Weiterentwicklung der EWG u. die Vorbehaltsklauseln
der Spekulation um mögliche Entwicklungstendenzen der Gemeinschaft begeben will. Die Untersuchung kann nur deutlich machen, inwieweit ein Eingreifen dieser Organe zweckmäßig und wünschenswert
ist.
n. Der Einfluß der Rechtsprechung auf die weitere Entwicklung 1. Rechtsbehelfe nach dem Gemeinschaftsrecht a) Die Ideallösung
Art. 8 und Art. 9 der Richtlinie 64/2211EWG sehen Rechtsbehelfe vor, die es dem Betroffenen ermöglichen sollen, sich gegen Entscheidungen zu wehren, die ihm die Einreise, die Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verwehren oder seine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet anordnen. Aus dem Zusammenhang beider Richtlinienartikel wird als Ideallösung2 ein Rechtsmittel deutlich, das aufschiebende Wirkung hat und nicht nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betrifft', sondern auch eine Kontrolle der Zweckmäßigkeit einschließt4 • Die Richtlinie führt dieses umfassende Rechtsmittel jedoch nicht verbindlich ein, sondern sieht es nur insoweit vor, als in den einzelnen Mitgliedstaaten Inländern entsprechende Rechtsbehelfe gegenüber Verwaltungsakten zur Verfügung stehen. Damit sollte eine Besserstellung der von dieser Richtlinie begünstigten Ausländer gegenüber den eigenen Staatsangehörigen vermieden werdenS. Da die errichtete Schwelle insbesondere durch die Voraussetzung einer Zweckmäßigkeitsüberprüfung6 aber für die meisten Mitgliedstaaten zu hoch ist7, hat diese Lösung gegenwärtig nur geringe praktische Bedeutung und es kommen ganz überwiegend neben dem nach nationalem Recht offenen Rechtsweg die in Art. 9 der Richtlinie vorgesehenen Ausweichlösungen zur Anwendung. Le Tallec, A WD des BB 64, 274; 278. Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie. , Der "legalite" wird die "opportunite" gegenübergestellt; vgl. dazu le Tallec, AWD des BB 64, 279; Ducouloux-Favard, S. 216; Verhoeven, droit du BENELUX, S. 449. 5 Dabei wäre eine solche "Besserstellung" m. E. nicht unbedingt inakzeptabel, da die ausländerpolizeilichen Maßnahmen für den Betroffenen unvergleichbar einschneidend sind. o Aber auch die Voraussetzung der aufschiebenden Wirkung erweist sich beispielsweise für das französische Recht als Hindernis, vgl. Fromont, Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung, S. 205. 7 Vgl. unten H. Teil, 5. Kap., Abschn. H 2 a. Lediglich in der BRD sind die Voraussetzungen der Ideallösung gegeben. Allgemeines zur Gerichtsbarkeit und den Rechtsmitteln in den Mitgliedstaaten, siehe Oppermann, FIDEGeneralbericht, Teil 1, S. 7. !
3
II. Einfluß der Rechtsprechung auf die Entwicklung
145
Diese Regelung ist unbefriedigend, weil sie nicht dazu beiträgt, die in der Richtlinie offensichtlich als nicht ausreichend angesehenen Rechtsmittel der Mitgliedstaaten selbst zu verbessern, sondern lediglich den Anschein einer fortschrittlichen Regelung durch die Einrichtung "besonderer Stellen" wahrt, denen aber echte Befugnisse fehlen. Im übrigen läßt die Richtlinie die Tatsache außer acht, daß die Kritik an den unzureichenden Rechtsmitteln gegen ausländerpolizeiliche Maßnahmen sich nicht gegen die überwiegend ausgeschlossene Opportunitätskontrolle und den fehlenden Suspensiveffekt richtet, sondern dagegen, daß gerade im Ausländerrecht vielfach nicht einmal die überprüfbarkeit der Gesetzmäßigkeit umfassend gewährleistet ist8 • Dies ist aber keine Folge diskriminierender Bestimmungen und einer gerade Ausländer benachteiligenden Praxis, sondern ergibt sich ganz allgemein aus dem Bestreben der gerichtlichen Instanzen, der Verwaltung einen gewissen Spielraum zu belassen. Hauptsächlich auf Grund der im allgemeinen Ausländerrecht sehr verbreiteten Begriffe der öffentlichen Ordnung etc. greift dieser Gedanke hier in besonderem Maße Platz'. Gegen diese faktische Diskriminierung ist das in der Richtlinie gewählte System von Rechtsmitteln wirkungslos. b) Zweiteilige Ersatzlösung
Erfüllen die Rechtsmittel, die Inländern gegenüber Verwaltungsakten zustehen, nicht die genannten Voraussetzungen, kann die Verwaltungsbehörde nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nur dann verweigern, wenn sie die Stellungnahme einer "zuständigen Stelle des Aufnahmelandes" erhalten hat10. Gleiches gilt für die Entfernung des Betroffenen aus dem Hoheitsgebiet. Diese Stelle darf nicht mit der entscheidenden Behörde identisch seinl l , und der Betroffene muß sich vor ihr entsprechend den "innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten" lassen können12. Diese Bestimmungen bieten dem Betroffenen nur geringen Schutz und bleiben weit hinter den Anforderungen zurück, die man an einen wirksamen Rechtsbehelf stellen muß: Zunächst ist über Art und Zusammensetzung der "zuständigen Stelle"13 nichts 8
Vgl. z. B. Fromont, Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung, S. 175. (betr. Frankreich).
9 Vgl. z. B. Auby / Fromont, S. 258 10 Außer in dringenden Fällen.
Art. 9 Abs. 1 S. 2. Art. 9 Abs. 1 S. 1. Sie ist nach dem Vorbild des Beneluxabkommens eingerichtet worden, vgl. Art. 7 der dazu ergangenen convention d'execution vom 19.9. 1960; siehe aber auch Art. 3 Abs. 2 des dt.-franz. Niederlassungsabkommens vom 27.10.1956, Art. 2 Abs. 3 des dt.-ital. Vertrages vom 27.11. 57 und das Europäische Niederlassungsabkommen. Ähnliche Einrichtungen kennen aber auch 11 12 13
10 Bongen
146 H. Teil, 5. Kap.: Weiterentwicklung der EWG u. die Vorbehaltsklauseln
gesagt und es ist allein den Mitgliedstaaten überlassen, welches Gewicht sie ihren Stellungnahmen zubilligen wollen14 • Auch die Vertretung und Verteidigung unterliegt nicht gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen. Schließlich ist anzumerken, daß in den genannten Fällen des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie, die ohnehin nur vorliegen, wenn kein ausreichender Rechtsschutz existiert, eine weitergehende Ausnahme vorgesehen ist, die den Betroffenen auch die Anrufung dieser Stelle verwehrt16, obwohl eine entsprechende Ausnahme für die Mitgliedstaaten, die einen umfassenden Rechtsschutz gewähren, nicht vorgesehen ist. Für den Fall der Verweigerung der ersten Aufenthaltserlaubnis und für den der Entfernung des Betroffenen aus dem Hoheitsgebiet vor Erteilung einer solchen, sieht Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 64/2211EWG eine ähnliche Regelung vor, die grundsätzlich nicht anders zu beurteilen ist: Danach wird die Kontrollinstanz - in der Richtlinie wird sie nicht zu Unrecht nur "Stelle" genannt - nur auf Antrag des Betroffenen na-ch der Entscheidung zu deren Überprüfung tätig. Der Betroffene kann sich persönlich verteidigen, wenn nicht Gründe der Sicherheit des Staates entgegenstehenl6 • Bemerkenswert ist, daß der Fall der Verweigerung der Einreise überhaupt nicht erwähnt wird. Es wäre mit den Bestimmungen der Richtlinie 64/2211EWG - nicht mit denen des Vertrages - also durchaus vereinbar, wenn ein Mitgliedstaat keinerlei Möglichkeiten vorsehen würde, gegen eine Abweisung vorzugehen. Diese Minimallösung ist zumindest nicht als Ausdruck eines ausgeprägten Willens der Mitgliedstaaten zu werten, den Vorbehaltsklauseln enge Grenzen zu ziehen. Es ist zu bezweifeln, ob angesichts dieser Bestimmungen von der Überprüfung der genannten ausländerpolizeilichen Maßnahmen eine integrierende Wirkung ausgehen kann, die zur gemeinschaftsrechtlichen Ausformung der Vorbehaltsklauseln beiträgt. Vor einer Gesamtwürdigung ist aber ein Blick auf die in den nationalen Rechtsordnungen vorgesehenen Rechtsmittel angebracht, da diesen nach dem dargestellten System erhebliche Bedeutung zukommt. die nationalen Ausländergesetze teilweise seit geraumer Zeit, vgl. unten H. Teil, 5. Kap., Abschn. H 2 b. 14 Art. 9 Abs. 1 S. 1- in "dringenden Fällen". 15 Verhoeven, le systeme juridique beIge, S. 307, er lehnt es deshalb ab, von einem "recours" zu sprechen und stellt fest, daß es sich nur um eine "procedure d'avis" handele. IG Art. 9 Abs. 2, S. 2; vgl. dazu im einzelnen le TaUec, AWD des BB 1964, S.279.
11. Einfluß der Rechtsprechung auf die Entwicklung
147
2. Rechtsbehelfe in den einzelnen Mitgliedstaaten a) Bundesrepublik Deutschland
In der Bundesrepublik Deutschland ist als einzigem Mitgliedstaat der Gemeinschaft die "Ideallösung" verwirklicht. Zwar können die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit einer angegrüfenen Entscheidung nicht selbst überprüfen, eine derart umfassende Kontrolle findet aber im Vorverfahren nach § 68 VwGO statt, das den Anforderungen des Art. 8 und Art. 9 der Richtlinie 64/221!EWG gerecht wird17. Die vorgesehenen Ausweichlösungen kommen also nicht zur Anwendung.
b) Belgien
In Belgien genügt die Reichweite der Kontrolle durch den Conseil d'Etat den Anforderungen nicht, die von der Richtlinie 64/221!EWG an ein ideales Rechtsmittel gestellt werden: er prüft generell nur die Gesetzmäßigkeit, eine Kontrolle der Zweckmäßigkeit und eine aufschiebende Wirkung der Rechtsmittel ist nicht vorgesehen18. Damit mußte die in der Richtlinie vorgesehene Ersatzlösung zur Anwendung kommen. Die in Art. 9 der Richtlinie enthaltenen Aufgaben wurden der bereits seit 1952 bestehenden19 "Commission consultative des etrangers"20 zugewiesen. Wie gering die Fortschritte aufgrund des Gemeinschaftsrechts sind, wird deutlich durch die lange Liste der Fälle, in denen die Kommission kraft innerstaatlichen Rechts oder internationaler Vereinbarungen ähnliche Aufgaben wahrnimmt21 . Daneben steht der Rechtsweg offen und es ist hervorzuheben, daß der belgische Conseil d'Etat22 seine überprüfungsbefugnisse weiter ausgedehnt hat als der französische: Er überprüft regelmäßig die von der entscheidenden Verwaltungsbehörde getroffenen Würdigung der festgestellten Tatsachen23, während der französische Conseil d'Etat das vielfach gerade bei ausländerpolizei17 Aufschiebende Wirkung - § 80 VwGO. 18 Vgl. z. B. HuberIant, S. 494; Verhoeven, revue trimestrielle de droit
beIge, 1970,450; Verhoeven, le systeme juridique beIge, S. 309, m. w. N. (Anm. 86). 18 Siehe Art. 10 (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 und 3 und Art. 5) des Gesetzes vom 28. 3.1952 über die Ausländerpolizei; vgl. Verwilghen, S. 381. 20 In das Gesetz vom 28. 3. 1952 wurde durch Gesetz vom 1. 4. 1969 (M. B. vom 20. 6. 69, S. 6182) eine entsprechende Bestimmung eingefügt. Die Besetzung der Kommission wurde gleichzeitig etwas geändert. Vgl. auch den "Arrete royal determinant la procedure et le foncitonnement de la Commission consultative des etrangers" vom 22. 12. 69, M. B. v. 12.2. 1970. 21 Vgl. dazu Verwilghen, S. 406. 22 Zur möglichen gerichtlichen überprüfbarkeit siehe insbesondere Verhoeven, le systeme juridique beIge, S. 310; vgl. auch Rondepierre, S. 9, 22 und 25. 23 HuberIant, S. 508 ff., 514, m. w. N.; zu dieser Frage generell auch Auby / Fromont, S. 173 m. w. N. 10'
148 H. Teil, 5. Kap.: Weiterentwicklung der EWG u. die Vorbehaltsklauseln
lichen Maßnahmen, die auf den ordre public gestützt werden, ablehnt und der Behörde auf diese Weise einen großen Spielraum beläßt2'. c) Frankreich
Auch in Frankreich genügt der Rechtsweg nicht den Anforderungen des Art. 9 der Richtlinie 64/2211EWG25. Für die Ausweichlösungen konnte auf die durch Art. 25 der Ordonnance vom 2.11. 1945 26 geschaffene "commission speciale" zurückgegriffen werden27 . Auch das dafür vorgesehene Verfahren wurde nicht geändert28 . Die Rechtsprechung des Conseil d'Etat bewegt sich in den bereits angedeuteten Grenzen2D. d) Italien
In Italien stellt die Einrichtung der "Commissione consultativa" eine Neuerung dar 30, die nach der Richtlinie erforderlich wurde 31 , da insbesondere gegen die Ausweisung der Rechtsweg nicht gegeben war32 und es keine aufschiebende Wirkung gab 33. e) Luxemburg
Der reglement ministeriel vom 11. 4.196434 hat die nach der Richtlinie 64/221/EWG auch hier notwendige "commission consultative" eingerichtet35• Die rechtliche Lage entspricht weitgehend der in Belgien und Frankreich3'.
f)
Niederlande
In den Niederlanden existierte bis zum Inkrafttreten des Vreemdelingenwet am 13. 1. 196537 nicht die Möglichkeit, gegen ausländerpolizeiliche Maßnahmen den Rechtsweg zu beschreiten38. Heute steht auch 24 Vgl. etwa Ducouloux-Favard, S.216, 217 m. w. N,; Fromont, Rechtsbehelfe gegenüber der Verwaltung, S. 175; Rondepierre, S. 26, Nr. 92. 25 Wegen der fehlenden aufschiebenden Wirkung vgl. Fromont, Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung, S. 151, 205; zur Würdigung der Zweckmäßigkeit, S. 172; vgl. auch Ducouloux-Favard, S. 216; Rondepierre, S. 9, Nr. 13; S. 22, Nr. 74; S. 25/26, Nr. 90/91. 26 Nr. 45-2658; J. O. vom 4. 11. 45. 27 Vgl. decret Nr. 70-29 vom 5. 1. 70, J. O. vom 14. 1. 70, S. 516, Art. 11 Abs. 2. 28 Nr. 58 der circulaire vom 24. 1. 72, J. O. v. 18. 2. 72, S. 1795. 29 Vgl. auch Lyon-Caen, S. 699. 30 Siehe Art. 9 des decreto vom 30. 12. 1965, Nr. 1656, G. U. vom 3.3. 1966, Nr. 55; Circolare Nr. 443/150153/IV vom 31. 3.66, Abschnitt V. 31 Mazziotti, S. 51. 82 Lyon-Caen, S. 700. aa Mazziotti, S. 51. 84 Memorial Nr. 38 vom 15. 5. 1964. 36 Vgl. auch Art. 16 des Gesetzes vom 28.3. 1972, Memorial vom 13.4. 1972, Nr. A24. 36 Vgl. dazu Lyon-Caen, S. 699. 37 Staatsblad 1965, Nr. 40.
H. Einfluß der Rechtsprechung auf die Entwicklung
149
für den Bereich des Ausländerrechts letztlich der Weg zum "Raad van Staate" offen39• Davorgeschaltet ist aber eine Art Widerspruchsverfah~ ren, in dem unter bestimmten Voraussetzungen auch die "Adviescom~ missie voor vreemdelingenzaken "40 zu hören ist41 • Die Richtlinie 64/221!EWG machte gewisse Änderungen dieser Bestimmungen erforderlich42 , da der Rechtsweg zum Staatsrat den Anforderungen des Art. 9 derselben nicht genügte, so daß auch das niederländische Ausländerrecht nicht ohne die Ersatzlösung auskommt. 3. Ergebnis
Die Untersuchungen ergeben, daß die Richtlinie 64/221/EWG keine entscheidende Änderung der bisherigen Möglichkeiten gebracht hat, Rechtsbehelfe gegen ausländerpolizeiliche Maßnahmen zu ergreifen. Von dem Konsultativorgan ist wegen seiner fehlenden Kompetenzen und seiner Besetzung43 kein nennenswerter Einfluß auf die Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln zu erwarten. Damit wurde die Chance weitgehend vergeben, durch die überprüfbarkeit ausländerpolizeilicher Maßnahmen gegenüber den begünstigten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten dem Recht auf Freizügigkeit und freie Niederlassung im Unterschied zu allen bisherigen völkerrechtlichen Vereinbarungen das entsprechende Gewicht zu geben und zusätzlich verstärkt den Abbau der Schranken über die nationalen Rechtswege voranzutreiben. Zumindest teilweise ist keine Möglichkeit gegeben zu überprüfen, ob die vorgebrachten Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die ergriffenen Maßnahmen nach dem Gemeinschaftsrecht rechtfertigen können. Die Richtlinie 64/221!EWG läßt also von den vorgesehenen Rechtsbehelfen nur den Schluß auf einen nicht sehr ausgeprägten Willen der Mitgliedstaaten zu, die gemeinschaftsrechtlichen Ziele in diesem Bereich mit effektiven Mitteln durchzusetzen. Das läßt befürchten, daß auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften alleine nicht in der Lage sein wird, eine kontinuier~ liche Entwicklung der Vorbehaltsklauseln parallel zur Gesamtentwicklung der Gemeinschaft sicherzustellen, auch wenn er den Rahmen seiner Prüfungskompetenzen sehr weit spannt. 38 Lyon-Caen, S. 699; zu den niederländischen Rechtsbehelfen allgemein, vgl. Fromont, DÖV 72, 405. 39 Vgl. Art. 34 ff. des Vremdelingenwet; Lyon-Caen, S. 700; Bleckmann, le systeme juridique neerlandais, S. 387 ff., 398. 40 Art. 2 ff. des Vreemdelingenbesluit vom 29. 9. 66. 41 Art. 29 ff. des Vreemdelingenwet. 42 Art. 103 und 104 Vreemdelingenbesluit. 43 überwiegend identisch mit der, die auch gegenüber Ausländern aus anderen Staaten tätig wird.
150 H. Teil, 5. Kap.: Weiterentwicklung der EWG u. die Vorbehaltsklauseln
m. Weitere Richtlinien 1. Vorbemerkung
Will man feststellen, ob und inwieweit der Rat auf Vorschlag der Kommission mit Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden Mittels der Richtlinie eine genauere Bestimmung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und damit eine Eingrenzung der Reichweite der Vorbehaltsklauseln erzielen kann, ist man hinsichtlich der Realisierungschancen weitgehend auf Spekulationen angewiesen, da sie direkt von der weiteren politischen Entwicklung der Gemeinschaft abhängen. Darum kann es hier nicht gehen. Gegenstand der folgenden Untersuchung ist vielmehr nur die Frage, inwieweit dieses Mittel überhaupt tauglich ist, Schwachstellen zu korrigieren, die im gegenwärtigen Stadium der Interpretation der Vorbehaltsklauseln diese zu einer Gefahr für die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit werden lassen können. 2. Mit der Richtlinie 64/221/EWG vergleichbare Schranken
Eine Eingrenzung der Vorbehaltsklauseln ist am ehesten durch einen Ausbau der Richtlinie 64/2211EWG zu erwarten. Für den Bereich des allgemeinen Ausländerrechts sind die mannigfaltigen Ansatzpunkte hierfür bereits in der Diskussion der Richtlinie deutlich geworden. Zu klären bleibt, ob es auch außerhalb des allgemeinen Ausländerrechts, d. h. des Anwendungsbereichs dieser Koordinierungsrichtlinie möglich ist, parallel dazu wirksame Schranken für die Vorbehaltsklauseln zu errichten, obwohl im besonderen Ausländerrecht Sonderregelungen noch vielfältiger sind. Es wurde bereits bei der Untersuchung der Richtlinie 64/221/EWG festgestellt, daß einige der dort entwickelten Schranken der Vorbehaltsklauseln eine weit über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinausgehende Bedeutung haben. Diese Grundsätze ließen sich zweifellos in Richtlinien zusammenfassen. Darüber hinaus stellen Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Bereich des besonderen Ausländerrechts in erster Linie das Motiv für den Erlaß von Rechtsnormen dar, so daß die überwiegend für Einzelmaßnahmen entwickelten Schranken in der Richtlinie nur beschränkt verwendbar sind. Insbesondere die nach dem Vorbild des Polizeirechts entwickelten Korrektive sind hier ohne Wirkung. Es wäre also nur wenig gewonnen, wenn man diesen Weg parallel zur Richtlinie 64/221/EWG einschlagen wollte. 3. Abschließender Katalog
Die Forderung nach einem abschließenden Katalog der Fälle, in denen Sonderregelungen für Ausländer aus Gründen der öffentlichen
IIr. Weitere Richtlinien
151
Ordnung und Sicherheit möglich sind, ist hauptsächlich für den Bereich des allgemeinen Ausländerrechts, für Fragen der Einreise und des Aufenthalts, nicht neu44 • Im Anwendungsbereich der Richtlinie 64/2211EWG existiert ein entsprechender Katalog aller Krankheiten und Gebrechen, die Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit rechtfertigen können. Es erscheint aber kaum möglich, einen umfassenden Katalog aller Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aufzustellen: Diese weiten Begriffe werden in den Vorbehaltsklauseln wie anderswo gerade deshalb verwendet, um eine Reaktion auf alle eintretenden Fälle zu ermöglichen 45 • Ein Katalog von Fällen bringt aber eine Beschränkung auf die vorhersehbaren Fälle, wenn nicht generalisierende Begriffe aufgenommen werden, die gegenüber denen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit keinen Fortschritt bedeuten 46 • Wenn sich die Mitgliedstaaten also auf einen Katalog klar gefaßter Fälle einigen könnten, hieße das die Vorbehaltsklauseln in ihrem gegenwärtigen Charakter und ihrer Aufgabenstellung verändern. Dafür bestehen mit Sicherheit keine Realisierungschancen. 4. Katalog im Bereich des Niederlassungsrechts
Wenn sich auch diese umfassende Lösung nicht dazu eignet, den durch die weiten Vorbehaltsklauseln heraufbeschworenen Gefahren zu begegnen, so kann man doch an einen Katalog aller selbständigen Erwerbstätigkeiten denken, die in einzelnen Mitgliedstaaten nicht oder nur teilweise liberalisiert werden müssen47 • Schon in der Vergangenheit wurde innerhalb des Rates der Europäischen Gemeinschaften um die Aufrechterhaltung bzw. Abschaffung vieler diskriminierender Bestimmungen der einzelnen Mitgliedstaaten teilweise heftig gerungen, und den Liberalisierungsrichtlinien wurde regelmäßig eine Aufstellung der zu beseitigenden Bestimmungen beigegeben. Diese Listen sind aber nicht abschließend und es ist zu beobachten, daß umstrittene Bereiche48 ausgeklammert werden. Damit wird es dem Gerichtshof überlassen, darüber zu entscheiden, ob sie von den Vorbehaltsklauseln gedeckt werden. Man muß daraus schließen, daß 44 Vgl. die Forderungen Emilio Brusas auf der Genfer Sitzung des Instituts für internationales Recht im Jahre 1892, siehe Verhoeven, le systeme juridique beIge, S. 300. 45 Siehe Chesne, S. 154. 48 Vgl. das bayrische Polizeirecht, z. B. Art. 5 11 PAG, vgl. Wolff, III, § 126 I. 47 Bei unselbständigen Erwerbstätigkeiten gibt es solche Ausnahmen kaum. Eine Änderung könnte aber dann eintreten, wenn mit einer Koordinierung der Bestimmungen über die Aufnahme und Ausübung unselbständiger Berufe begonnen würde. 48 Das gilt hinsichtlich Art. 55 und Art. 56 EWGV.
152 H. Teil, 5. Kap.: Weiterentwicklung der EWG u. die Vorbehaltsklauseln bei den Mitgliedstaaten kaum Neigung bestehen dürfte, einer solchen abschließenden Regelung zuzustimmen. IV. Vertragsveränderung 1. Vorbemerkung
Vertragsänderungen können naturgemäß nur als letztes Mittel angesehen werden, um von den Vorbehaltsklauseln ausgehenden Gefahren zu begegnen. Allein zu diesem Zweck werden sich. die Mitgliedstaaten dieses Mittels nicht bedienen, man kann aber versuchen, die Folgen einer möglichen Neukonzeption der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit anläßlich der Ausdehnung der Vertragsziele auf die Vorbehaltsklauseln schon heute zu skizzieren. Noch weniger wahrscheinlich als eine Überarbeitung der Kapitel über die Arbeitskräfte und die Niederlassungsfreiheit ist eine völlige Abschaffung der Vorbehaltsklauseln. M. E. besteht dafür auch langfristig keine Realisierungschance. Gerade die eingeschränkte AufgabensteIlung der Vorbehaltsklauseln provoziert aber die Frage, inwieweit sie überhaupt noch zwingend erforderlich sind oder ob sie nicht vielmehr deshalb von den Mitgliedstaaten verteidigt werden, um gegebenenfalls ein "Sicherheitsventil"49 zur Verfügung zu haben, mit dessen Hilfe auch eine restriktive Ausländerpolitik verwirklicht werden kann, ohne daß eine Vertragsverletzung ganz offen zutage treten muß. 2. Ausbau der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit - Auswirkungen auf die Vorbehaltsklauseln
Solange die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit entsprechend ihrer derzeitigen Zielsetzung nur dazu bestimmt sind, den Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit innerhalb der ganzen Gemeinschaft zu ermöglichen50, hängt die völlige Gleichstellung aller Angehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft mit denen des jeweiligen Aufenthaltsstaates nicht nur vom Abbau der Vorbehaltsklauseln ab: Auch wenn Art. 48 Abs. 3 und Art. 56 Abs. 1 gestrichen würden, kämen die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten nicht in den Genuß uneingeschränkter Inländerbehandlung. Dem Personenkreis der Begünstigten fehlt insbesondere jegliches Recht zu politischer Betätigung, nicht zuletzt alle aktivbürgerlichen Rechte, und daran würde sich auch durch eine Abschaffung der Vorbehaltsklauseln nichts ändern. Es hat mit dem Recht auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in seiner derzeitigen Form und mit den Vor49 60
Chesne, S. 154. "Faktormobilität", vgl. Kahlert, S. 12.
IV. Vertrags änderung
153
behaltsklauseln vielmehr zunächst unmittelbar nichts zu tun, wenn Angehörigen anderer Mitgliedstaaten die politische Betätigung verweigert wird. Insofern ist es verfehlt, gerade in den Vorbehaltsklauseln ein Mittel zur politischen Disziplinierung dieses Personenkreises zu sehen51 • Dennoch haben Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit indirekt entscheidende Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, unerwünschter politischer Betätigung zu wehren bzw. auf solche zu reagieren: Sobald aus politischen Gründen in das Recht des einzelnen eingegriffen wird, in jeden Mitgliedstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten und einer Erwerbstätigkeit nachzugehen 52, müssen die Vorbehaltsklauseln als Maßstab berücksichtigt werden. Nach der derzeitigen Rechtslage hat es zur Lösung von Fällen dieser Art im wesentlichen mit dem Hinweis sein Bewenden, daß die Freizügigkeit l,lnd die Niederlassungsfreiheit umfassend verwirklicht werden sollten und deshalb weitgehend Vorrang verdienen gegenüber dem Bestreben, nicht erwünschte politische Aktivitäten durch Eingriffe in diese Rechte zu bekämpfen. Dieser Interpretationshinweis läßt indessen die nötige Klarheit vermissen und wird immer wieder dem Einwand begegnen, daß das Gemeinschaftsrecht nicht die freie politische Betätigung sichern solle und ein solches Recht deshalb auch nicht auf Umwegen eingeführt werden dürfe. Es ist in der Tat nicht sehr einleuchtend, daß die Mitgliedstaaten zwar ohne Einschränkung berechtigt sein sollen, jede politische Betätigung zu untersagen, das aber nicht mit Sanktionen betreffend den Aufenthalt durchsetzen können, wenn es sich bei den betroffenen Personen um Angehörige von Mitgliedstaaten der Gemeinschaft handelt. Eine Neudefinition der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit durch eine Vertragsänderung könnte diese Schwierigkeiten zumindest teilweise beseitigen, selbst wenn die VorbehaItsklauseln unverändert blieben: Wenn man beide Vertragskapitel nicht mehr ausschließlich als Mittel zur Verwirklichung der Mobilität des Faktors Arbeit verstünde, würde die Möglichkeit geschaffen, der Reichweite der Vorbehaltsklauseln in der Gegenüberstellung der Interessen der Mitgliedstaaten zu einem neu geschaffenen breiten Spektrum genau umrissener Rechte des einzelnen wesentlich schärfere Konturen zu geben. Die politische Betätigung - wenn man bei diesem Beispiel bleiben will - wäre in ihrem Umfang also selbst zu bestimmen, so daß Einschränkungsmöglichkeiten nicht nur anhand ihrer Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit und die freie Ausübung einer Erwerbstätigkeit ermittelt werden könnten. So aber Grabitz, S. 97. Es geht insbesondere um die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. um die Ausweisung. GI
52
154 H. Teil, 5. Kap.: Weiterentwicklung der EWG u. die Vorbehaltsklauseln M. E. wäre in einer solchen Vertragsänderung ein erster bedeutender Schritt, eine Vorleistung, in Richtung auf eine volle Integration der Mitgliedstaaten zu sehen, durch den das bestehende Vertragsgefüge zwar gesprengt, nicht aber untragbar beeinträchtigt würde. a) Auswirkungen auf das allgemeine AuslÜlnderrecht
Wenn die Vorbehaltsklauseln abgeschafft werden könnten, hätte das zur Folge, daß das allgemeine Ausländerrecht für den vom Gemeinschaftsrecht begünstigten Personenkreis weitgehend außer Kraft zu setzen wäre. Bei einer vorangegangenen Ausdehnung der Zielsetzung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit im oben angedeuteten Sinne bliebe für ausländerpolizeiliche Bestimmungen praktisch überhaupt kein Raum mehr. Das hätte neben dem Wegfall der heute schon nicht mehr sehr bedeutsamen Aufenthaltserlaubnis zur Folge, daß keine Möglichkeit für die Mitgliedstaaten mehr bestünde, den von der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit begünstigten Angehörigen der Mitgliedstaaten die Einreise oder den Aufenthalt zu verwehren. Da kollektive Maßnahmen aber ohnehin schon nach der derzeitigen Rechtslage nicht mehr zulässig sind, hätte das in der Praxis in erster Linie zur Folge, daß Ausländer aus den anderen Mitgliedstaaten wegen strafbarer Handlungen nicht mehr abgewiesen oder ausgewiesen werden könnten. Wenn man sich von der Vorstellung frei macht, daß diese und ähnliche Maßnahmen gegenüber Ausländern aus Gründen staatlicher Souveränität selbstverständlich möglich sein müßten, kann man in ihnen keinen zwingenden Grund für die Aufrechterhaltung der Vorbehaltsklauseln sehen: Gegenüber Ausländern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ist eine effektive Verbrechensbekämpfung zweifellos auch dann möglich, wenn nur dieselben Mittel zur Verfügung stehen wie gegenüber Inländern. b) Auswirkungen auf das besondere Ausländerrecht
Außerhalb des allgemeinen Ausländerrechts hätte der Wegfall der Generalklauseln weniger die Folge, daß den Mitgliedstaaten Verfügungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unmöglich würden, es wären vielmehr in erster Linie gesetzliche Bestimmungen zu ändern, die auf den Generalklauseln beruhen und vornehmlich Sonderregelungen für selbständig erwerbstätige Ausländer enthalten. Mit fortschreitender (wirtschaftlicher) Integration der Mitgliedstaaten erscheint es möglich, ohne solche Bestimmungen auszukommen, wenn auch einzuräumen ist, daß hierfür ein längerer Zeitraum notwendig sein könnte als bis zum Abbau des allgemeinen Ausländerrechts. Das
IV. Vertrags änderung
155
wäre aber relativ unschädlich, da in diesem Bereich die Gefahr des Mißbrauchs nicht in dem Maße gegeben ist, wie das in den weiten Bestimmungen des allgemeinen Ausländerrechts der Fall ist, die lediglich die Begriffe der gemeinschaftsrechtlichen Vorbehaltsklauseln aufgreifen und wiederholen und sie dazu verwenden, die Verwaltungsbehörden zu Einzelmaßnahmen zu ermächtigen.
Schlufibemerkung Die Untersuchungen machen deutlich, daß es bislang nicht gelungen ist, die Vorbehaltsklauseln in den Vertragskapiteln über die Arbeitskräfte und die Niederlassungsfreiheit eindeutig von entsprechenden Bestimmungen in herkömmlichen Niederlassungsabkommen abzugrenzen, obwohl sich das Gemeinschaftsrecht von diesen in seiner Grundkonzeption und seiner Zielsetzung klar unterscheidet. Zwar hat insbesondere die Tatsache, daß der EWG-Vertrag dem begünstigten Personenkreis ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Ausübung einer Erwerbstätigkeit einräumt, in einer Eingrenzung der Vorbehaltsklauseln ihren Niederschlag gefunden, die äußere Ähnlichkeit mit Bestimmungen in den genannten völkerrechtlichen Verträgen macht es jedoch sehr schwer, ihren Anwendungsbereich entscheidend, enger zu fassen. Es ist zu beobachten, daß sich die Mitgliedstaaten durch sie in die Lage versetzt sehen, Sonderregelungen für Ausländer im bisher gewohnten Umfang aufrechtzuerhalten und nur dort Abstriche zu machen, wo ihnen ausdrücklich Grenzen gesetzt sind, etwa durch die Richtlinie 64/221/EWG. Man muß davon ausgehen, daß sich an dieser Situation nichts ändern wird, solange die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die Vorbehaltsklauseln prägen: Mehr oder weniger deutlich werden sich auch in Zukunft Tendenzen, die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu "zügeln", gerade in Mitgliedstaaten mit hohen A1;lsländeranteilen mit Hilfe der Vorbehaltsklauseln Geltung zu verschaffen suchen. Selbst wenn man der Meinung ist, daß solche Bestimmungen für Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Krisen von Vorteil sind, da sie es trotz der Kontrolltätigkeit der Kommission und des Gerichtshofs ermög-' lichen, den Vertrag zu "biegen" anstatt ihn offen zu brechen, steht diesem - ohnehin recht fragwürdigen - Vorzug der entscheidende Nachteil gegenüber, daß sie eine latente Gefahr für die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit unabhängig von möglichen Krisenzeiten darstellen. Die in den Mitgliedstaaten festzustellende Neigung, die Vorbehaltsklauseln möglichst weit auszulegen und die Rechtsstellung der EWGAngehörigen gegenüber der anderer Ausländer so wenig wie möglich zu ändern und damit zu verbessern, bestätigt diese Befürchtungen. Richtlinien wie die zur Koordinierung der Sondervorschriften für Ein-
Schlußbemerkung
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reise und Aufenthalt (64/2211EWG) können dieser Gefahr allenfalls für eine kürzere Zeitspanne nach ihrem Erlaß wehren, im übrigen bergen sie die Gefahr der Verfestigung der in ihnen enthaltenen Schranken der Vorbehaltsklauseln in sich, die den weiteren Abbau der Einschränkungsmöglichkeiten aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit parallel zur Entwicklung der Gemeinschaft und ihrer Ziele gefährden kann. Aus diesen Gründen ist nicht auszuschließen, daß sich die Vorbehaltsklauseln als Hemmschuh für ein engeres Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten erweisen könnten, zumindest aber dazu geeignet sind, die starke Integrationskraft der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit zu egalisieren. Sie harmonieren schon heute - insbesondere wenn man an die von ihnen ermöglichte ausländerpolizeiliche Praxis der Mitgliedstaaten denkt - nur schlecht mit dem Entwicklungsstand der Gemeinschaft und sollten deshalb als Relikt vertraglicher Vereinbarungen angesehen und behandelt werden, bei denen die Wahrung der vollen Souveränität der Vertragspartner unverzichtbare Voraussetzung war.
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