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German Pages [263] Year 2021
Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft / Vienna Forum for Theology and the Study of Religions
Band 22
Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien von Karl Baier und Christian Danz
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Christian Danz (Hg.)
Schellings Gottheiten von Samothrake im Kontext
V&R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF und des Rektorats der Universität Wien. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Nike von Samothrake (https://pixabay.com/de/photos/winged-sieg-vonsamothrace-louvre-1891666/) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0718 ISBN 978-3-7370-1281-2
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Danz Schellings Gottheiten von Samothrake im Kontext. Eine Einleitung . . . .
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Michael Hackl Schelling in München. Eine Zusammenschau der Jahre 1806–1820
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Sebastian Engelmann Die pädagogische Funktion der Antike bei Friedrich W. Thiersch. Oder: Das Klassische als das Exemplarische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christopher Arnold Schellings Sicht auf die deutsche und französische Philosophie um 1813 – die Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche als facettenreiches Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ryan Scheerlinck Vorreden zu den Weltaltern. Schelling, Jacobi, Eschenmayer und die Natürliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Patrick Leistner Ursprung und Wissenschaft. Beobachtungen zu Schellings Methodik in dem Werk Ueber die Gottheiten von Samothrake . . . . . . . . . . . . . . 129 David Farrell Krell Schelling archaeologicus. ἀρχή und τέλος in Schellings Samothrake-Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
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Inhalt
Alexander Bilda ›Wahre Namen‹ oder ›Wurzelphantasmagorien‹? Schellings Philosophie der Götternamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Mathias René Hofter Schelling und die Ägineten. Sein Beitrag zur Entdeckung der archaischen griechischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Astrid Fendt Die Ägineten in archäologisch-kunstgeschichtlicher Sicht und im Kontext der Kunstsammlungen von König Ludwig I. . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Christoph Binkelmann Nachahmung der Natur? Die Rolle der Kunst bei Schelling in seiner ersten Münchener Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Christian Danz »Über Bedeutung ‹und Ursprung› der Mythologie zusammen, weil nicht voneinander zu trennen«. Schellings Gottheiten von Samothrake im Kontext der werkgeschichtlichen Entstehung seiner Philosophie der Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Vorwort
Der vorliegende Band erkundet Schellings Münchener Akademierede Ueber die Gottheiten von Samothrake (1815) im Kontext seiner kleineren Schriften, die er zwischen 1812 und 1817 publizierte, und geht auf einen Workshop zurück, der vom 5. bis 7. Februar 2020 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien im Rahmen des vom FWF geförderten Projekts »Edition von Schellings ›Allgemeiner Zeitschrift‹ und den ›Gottheiten von Samothrace‹ (1812– 1815)« (P 31080-G24) stattfand. Zu danken habe ich sowohl der Universität Wien als auch dem FWF für die Unterstützung des Workshops sowie der Publikation des Bandes. Ebenso gilt mein Dank den Referenten, dass sie an dem Workshop teilgenommen und ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Herr Patrick Leistner und Herr Patrick Pertl (beide Wien) haben dankenswerterweise die Texte vereinheitlicht und die Register erstellt. Dem Verlag Vienna University Press danke ich für die gewohnt sehr gute Zusammenarbeit. Wien, August 2020
Christian Danz
Christian Danz
Schellings Gottheiten von Samothrake im Kontext. Eine Einleitung
Die werkgeschichtliche Entwicklung von Schellings Philosophie im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist aufgrund der Quellenlage nur äußerst schwer zu rekonstruieren. Außer dem Zeitschriftenprojekt Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, von dem lediglich ein Band im Jahre 1813 gedruckt wurde,1 der Beylage zu den Weltaltern mit dem Titel Ueber die Gottheiten von Samothrace,2 erschienen 1815, sowie Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke,3 den er zwei Jahre später mit Anmerkungen versehen herausgab, publizierte er keine größeren Werke. Im Fokus seiner Arbeiten stand in diesen Jahren ein anderes Projekt, die Weltalter. An ihnen arbeitete er seit 1810 und kündigte dessen Erscheinen nicht nur mehrfach an, er gab das Manuskript auch in den Druck und zog es wieder zurück. Im Juni 1816 schreibt er an seinen Verleger Johann Friedrich Cotta: »Sie fragen wegen der Weltalter. Nachdem ich Ihnen so oft deren Erscheinung angekündigt, wollte ich lieber nichts mehr davon erwähnen, bis ich Sie mit den Aushängebogen überraschen könnte. Es geht mir mit diesem Buch, wie den Weinliebhabern mit den Weinen; es ist mir durch das lange Liegen endlich so gut geworden, daß ich es gern immer noch besser hätte, indeß muß dieser Zögerung einmal ein Ziel gesetzt werden,
1 F.W.J. Schelling (Hrsg.), Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, Nürnberg 1813. Abgedruckt in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 8, hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1861, 139–193. Schellings Werke werden in diesem Band, sofern nichts anderes vermerkt, nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Sämmtliche Werke in XIV Bänden, hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861 (= SW, Band- und Seitenangabe); Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. (= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe). Der vorliegende Tagungsband entstand im Rahmen des vom FWF. Der Wissenschaftsfonds (Austria) geförderten Projekts »Edition von Schellings ›Allgemeiner Zeitschrift‹ und den ›Gottheiten von Samothrace‹ (1812–1815)« (P 31080-G24). 2 F.W.J. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrace, Stuttgart/Tübingen 1815. Abgedruckt in: SW VIII, 345–424. 3 J.M. Wagner, Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, hrsg. v. F.W.J. Schelling, Stuttgart/ Tübingen 1817. Abgedruckt in: SW IX, 115–206.
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zumal ich mit nichts Anderem hervortreten kann, eh’ dieses Fundament gelegt ist. Und so denke ich, es soll gewiß noch im Lauf dieses Jahrs erscheinen.«4
Allein, Ende des Jahres 1816 lagen die Weltalter nicht vor. Sie erschienen auch in den Folgejahren nicht. Aus dem Projekt entwickelt sich in den 1820er Jahren sein Spätwerk, eröffnet mit seiner Münchener Vorlesung System der Weltalter vom Wintersemester 1827/28.5 So verwundert es nicht, dass die Weltalter im Fokus des Interesses stehen, wenn es um die werkgeschichtliche Entwicklung von Schellings Denken im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geht. Aber ihre Einordnung in den Entwicklungsgang seines Denkens blieb in der Forschung umstritten.6 Seinen Grund hat dies auch darin, dass bislang ein Großteil des überlieferten Nachlassmaterials zu diesem Fragment gebliebenen Projekt schlicht nicht zugänglich ist.7 Wenig Aufmerksamkeit fanden hingegen die kleineren Schriften und Texte, die in dieser Zeit gleichsam als Nebenprodukte des Weltalter-Projekts entstanden. Im Jahre 1811, im unmittelbaren Kontext seiner Streitsache mit Friedrich Heinrich Jacobi über die göttlichen Dinge,8 plante Schelling ein neues Zeitschriftenprojekt, die Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche.9 Schon in den Jahren zuvor hatte er zahlreiche solche Projekte, die der Verbreitung seiner Philosophie sowie der Steuerung und Reflexion der Ausdifferenzierungsprozesse im Wissenschaftssystem dienen sollten,10 initiiert: die Zeitschrift für speculative Physik (1800–1801), die Neue Zeitschrift für speculative Physik (1802), das Kritische Journal der Philosophie (1802–1803) und die Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft (1805–1808). Für seine neue Zeitschriften-Idee wechselte Schelling von seinem bisherigen Verlag, der Cotta’schen Buchhandlung in Tübingen und Stuttgart, zu Johann Leonhard Schrag in Nürnberg.11 Der Ver4 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 25. 6. 1816 (H. Fuhrmans/L. Lohrer [Hrsg.], Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, Stuttgart 1965, 126f., hier: 127). 5 F.W.J. Schelling, System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hrsg. v. S. Peetz, Frankfurt a.M. 1990. 6 Vgl. A. Lanfranconi, Krisis. Eine Lektüre der »Weltalter«-Texte F.W.J. Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992. 7 Neben der Edition des Nachlasstextes in den Sämmtlichen Werken (SW VIII, 195–344) und der Edition von Schröter liegt inzwischen eine Auswahl von Fragmenten vor, die Klaus Grotsch besorgte. Vgl. F.W.J. Schelling, Die Weltalter. Fragmente in den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. M. Schröter, München 1946; ders., Weltalter-Fragmente, 2 Bde., hrsg. v. K. Grotsch, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 8 Vgl. F.W.J. Schelling, Denkmal von den göttlichen Dingen, in: AA I/18, 129–230. Zu Schellings erster Münchener Zeit von 1806 bis 1820 vgl. den Beitrag von Michael Hackl in diesem Band. 9 Zu Schellings Zeitschriftenprojekt vgl. die Beiträge von Christopher Arnold und Ryan Scheerlinck in diesem Band. 10 Vgl. AA III/2,1, 31–35. 11 Vgl. F.W.J. Schelling an J.L. Schrag am 2. 6. 1811 (Schelling und Cotta, 304); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 3. 1. 1812 (a. a. O., 61–63).
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lagswechsel verlief nicht ohne Spannungen. Mit Johann Friedrich Cotta, der seinen erfolgreichen Autor nur ungern an einen anderen Verlag verlor, kam es im April 1813 zu einer Kontroverse über die Publikation der Memoiren von Denis Diderots Tochter, die der Stuttgarter Verleger in seiner Zeitschrift Morgenblatt in deutscher Übersetzung publizierte, während sie zeitgleich in Schellings Zeitschrift in französischer Sprache erschienen.12 Im Hintergrund des Zeitschriften-Projekts, dem der Philosoph eine hohe Bedeutung beimaß, stehen der Streit mit Jacobi sowie der gescheiterte Versuch Schellings, eine Professur an der Tübinger Universität zu erhalten.13 Den kulturund sozialgeschichtlichen Kontext der Allgemeine[n] Zeitschrift bilden die im Umkreis der Befreiungskriege gegen die napoleonische Besatzung entstehenden nationalen Einheitsbestrebungen in Deutschland. Bereits in einem aus dem Nachlass Schellings überlieferten Textfragment mit dem Titel Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft, welches vermutlich im Jahre 1807 entstanden ist,14 greift Schelling den in dieser Zeit vor allem bei liberalen Intellektuellen geprägten Topos von der unvollendeten Reformation auf, der mit einer Vision der politischen Einheit Deutschlands verbunden wird.15 Diese Intention lässt auch das Zeitschriftenprojekt erkennen. Die Zeitschrift habe, wie es in der von Schelling verfassten [Ankündigung der Allgemeine(n) Zeitschrift von Deutschen für Deutsche] heißt, den Zweck, »Deutschen einen Vereinigungspunkt zu geben, in der gegenwärtigen Gesetzlosigkeit deutscher Literatur einen Ort zu erhalten, wo der ernste Mann ruhig sich mittheilen, ein Wort zum Besten des Ganzen sprechen kann«.16 Diesem Anliegen trägt das Programm der Allgemeine[n] Zeitschrift Rechnung, eine allgemein lesbare zu sein und »Gegenstände der Wissenschaft und des Lebens, […] Religion, Naturwissenschaften« zu behandeln.17 Das verbindet Schellings Zeitschriftenplan mit anderen gleichzeitigen Initiativen, wie Friedrich Schlegels Deutsche[m] Museum18 oder dessen Vorgänger, dem von Friedrich Perthes herausgegebenen Vaterländische[n] Museum. Die überlieferte Korrespondenz mit Perthes lässt erkennen, dass sich Schelling be12 13 14 15
Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 21. 4. 1813, 29. 4. 1813 u. 7. 5. 1813 (a. a. O., 83–86). Vgl. AA II/8, 22–24. Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft, in: SW VIII, 3–18. Vgl. H.-H. Brandhorst, Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Lutherund Reformationsverständnis im deutschen Vormärz (1815–1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs, Göttingen 1981; C. Danz, The State as »a Consequence of the Curse of Humanity«: The Late Schelling’s Philosophy of Religion and of the State, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 21 (2014), 28–46. 16 F.W.J. Schelling, [Ankündigung der Allgemeine(n) Zeitschrift von Deutschen für Deutsche], in: ders., L. Pareyson (Hrsg.), Schellingiana Rarioria, Turin 1977, 401. 17 A. a. O., 400f. 18 Vgl. E. Behler, Die Zeitschriften der Brüder Schlegel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Romantik, Darmstadt 1983, 100–146.
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mühte, Autoren des Vaterländische[n] Museums für seine eigene Zeitschrift zu gewinnen. In einer besonderen Konkurrenzsituation, die bislang kaum erforscht ist,19 stand die Allgemeine Zeitschrift zu dem in Wien erscheinenden Deutsche[n] Museum, die sowohl von Schelling als auch von Schlegel wahrgenommen wurde. In beider Briefwechsel wird das thematisiert, Schlegel vermutete sogar, was Überschneidungen in den Programmen beider Zeitschriften nahelegen, bei Schelling ein Plagiat seines eigenen Unternehmens. In seiner Vorrede zur Allgemeine[n] Zeitschrift bezieht sich Schelling explizit auf das Deutsche[] Museum und grenzt seine Zeitschrift davon ab.20 Bislang konnte keine direkte Korrespondenz zwischen Schelling und Friedrich Schlegel in der Angelegenheit nachgewiesen werden. Der Austausch lief über August Wilhelm Schlegel. Das erste Heft der Allgemeine[n] Zeitschrift erschien im Frühjahr 1813. Schellings Vorrede ist auf den 2. Januar 1813 datiert. Der Rekurs auf das Allgemeine sowie die Wissenschaft und deren Verbindung mit dem Leben markieren Stichworte, die sich auch in anderen Texten Schellings um 1810 finden und in den Kontext des von ihm in dieser Zeit konzipierten Programms einer universalen Wissenschaft gehören.21 Von den Beiträgen, die er für die Zeitschrift verfasste, hebt sich seine Auseinandersetzung mit Carl August Eschenmayer über die 1809 publizierte Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit ab,22 während die anderen sich auf Kommentierungen und Anmerkungen zur Literatur beschränken. Von diesen wiederum fällt seine Edition sowie seine Einleitung zu den Memoiren Diderots Tochter auf, da sich Schelling hier explizit der französischen Philosophie zuwendet.23 Ähnlich wie die anderen Zeitschriftenprojekte Schellings war die Allgemeine Zeitschrift nicht auf Dauer angelegt. Sie diente der Netzwerkbildung. Nachdem vier Hefte des ersten Jahrgangs erschienen waren, lief das Projekt aus. Die Verbindung von Wissenschaft, Religion und Leben ist auch für einen weiteren Text Schellings signifikant, den er im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts publizierte. Seine Rede über die samothrakischen Geheimnisse an19 Vgl. a. a. O., 108–110. 20 F.W.J. Schelling, Vorrede zur Allg. Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, in: SW VIII, 139– 144, hier: 141f. 21 Vgl. P. Ziche, Passive Wissenschaft. Schellings Wissenschaftsphilosophie in der Zeit der ›Stuttgarter Privatvorlesungen‹, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings ›Stuttgarter Privatvorlesungen‹, hrsg. v. L. Hühn/P. Schwab, Freiburg i.Br./München 2014, 121–139; Vf., »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst […] war ihrem tiefsten Sinn nach die heilig geachtete Lehre der Kabiren«. Überlegungen zum Systembegriff in Schellings Akademievortrag ›Ueber die Gottheiten von Samothrake‹, in: Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811–1821). Systeme der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus, Bd. V, hrsg. v. dems./J. Stolzenberg/V. Waibel, Hamburg 2018, 181–198. 22 Vgl. hierzu den Beitrag von Ryan Scheerlinck in diesem Band. 23 Vgl. hierzu den Beitrag von Christopher Arnold in diesem Band.
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lässlich des Namensfestes des Bayerischen Königs am 12. Oktober 1815, die er am Tag zuvor in einer öffentlichen Sitzung der Münchener Akademie der Wissenschaften hielt, greift jedoch zugleich ein Thema auf, das sich durch dessen gesamtes Werk zieht.24 Es ist seine letzte größere Abhandlung, die er selbst in den Druck gegeben hat. Nicht zu unrecht steht der Text, der sich als Beylage zu den Weltaltern deklariert, im Fokus der Forschung.25 Schelling erwähnt diese Abhandlung erstmals in einem Brief an seinen Verleger Cotta vom 19. August 1814.26 Entstanden ist sie jedoch im Frühjahr 1815. Am 17. August schickte Schelling das Manuskript an den Stuttgarter und Tübinger Verlag.27 Zwar setzte er alles daran, dass die Rede zu seinem öffentlichen Vortrag im Druck vorlag, doch dies ließ sich nicht realisieren. Eigentümlich ist der Aufbau der Abhandlung. Seinem Redetext, der ohne Absätze gedruckt wurde, fügte Schelling einen umfangreichen Anmerkungsapparat sowie eine Nachschrift bei, welche den Text in den Kontext der Weltalter einordnet. Den im Anmerkungsteil ausgeführten philologischen Untersuchungen zu den Wurzeln der Namen der samothrakischen Kabiren maß der Philosoph, wie aus zahlreichen Briefen hervorgeht, eine hohe Bedeutung bei. Sie sollen gleichsam, wie er an Eberhard Friedrich von Georgii am 13. Oktober 1815 schreibt, »Gelehrsamkeit nach Weltbrauch« dokumentieren.28 Von der Forschung wurde der Untersuchung über die samothrakischen Gottheiten eine Schlüsselfunktion zugesprochen. Mit ihr vollziehe sich der Übergang zu einer geschichtlichen Philosophie. Schelling wende sich mit dem Mythos der Religionsgeschichte zu.29 Allein, Gegenstand der Akademierede von 1815 ist nicht einfach nur der Mythos. Im Fokus stehen die Mysterien der ÄgäisInsel, genauer das Verhältnis von esoterischer und exoterischer Religion. Es wird anhand der von Mnaseas überlieferten Namen der Kabiren entschlüsselt. Mit 24 Vgl. hierzu die Beiträge von Patrick Leistner, David Farrell Krell, Alexander Bilda und Christian Danz in diesem Band. 25 Vgl. V. Reinecke, Der Wiederholungsprozess und die mythologischen Tatsachen in Schellings Spätphilosophie. Eine religionswissenschaftliche Studie unter der Voraussetzung des Verhältnisses der »Weltalter« zu der Abhandlung »Über die Gottheiten von Samothrake«, Rheinfelden 1986; H. Schneider: »Die Gottheiten von Samothrake«, in: Schellings Denken der Freiheit. Wolfdietrich Schmid-Kowarzik zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H. Paetzold/dems., Kassel 2010, 135–148; Vf., »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst«. 26 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 19. 8. 1814 (Schelling und Cotta, 97). 27 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 17. 8. 1815 (Schelling und Cotta, 100). 28 F.W.J. Schelling an E.F. v. Georgii am 13. 10. 1815 (G.L. Plitt [Hrsg.], Aus Schellings Leben in Briefen, Bd. 2: 1803–1820, Leipzig 1870, 359). 29 Vgl. S. Peetz, Die Philosophie der Mythologie, in: F.W.J. Schelling, hrsg. v. H.J. Sandkühler, Stuttgart/Weimar 1998, 150–168, hier: 154: »Die Abhandlung ist das erste Dokument dafür, daß Schellings Philosophie sich aufgrund ihrer Konfrontation mit der religiösen Dimension der Mythologie in der Weise wandelt, daß für sie fortan die Erkenntnis ihres Gegenstandes erst dann vollständig ist, wenn sie auch dessen geschichtliche Dimension in sich zu integrieren vermag.«
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dem Verhältnis von Mythologie und Mysterien nimmt die Rede ein prominentes Thema der Identitätsphilosophie auf, in der sowohl die Mythologie als auch die Mysterien eine gewichtige Rolle spielen.30 Schon hier ist der »Monotheismus« (SW VI, 67) Gegenstand der Mysterien. In ihnen werden die Götter des Polytheismus als Darstellungen des Wesens gewusst. Die Abhandlung von 1815 führt diesen Gedanken weiter. Was in den »Geheimnissen« dargestellt werde, sei »dasselbe« wie »in dem öffentlichen Dienst, aber nur nach seinen verborgenen Beziehungen« (SW VIII, 362). Grundlage der Bestimmung ist auch in der Akademierede die Potenzenlehre. Erst aus ihr ergibt sich Schellings Entschlüsselung der samothrakischen Kabiren als einer aufsteigenden Kette, in der sich das unauflösliche Leben selbst darstellt.31 Schellings Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrace ist in der Tat ein Schlüsseltext, dem eine Scharnierfunktion für seine weitere werkgeschichtliche Entwicklung zukommt. Aber diese besteht in der Weiterentwicklung seiner Identitätsphilosophie und nicht in deren Ablösung. Aus ihr ergibt sich erst der Grundgedanke der Rede über die samothrakischen Geheimnisse, dass das Wesen nur in den Göttergestalten zur Darstellung kommt. In seinem Tagebuch aus dem Jahre 1815, in dem sich eine Gliederungsskizze zu dem Akademievortrag findet, hat Schelling diesen Gedanken auf eine Formel gebracht, die den gedanklichen Nukleus der späteren Vorlesungen über Philosophie der Mythologie vorwegnimmt. »Über Bed|eutung| ‹und Urspr|ung|› der Mythol|ogie| zusammen|,| weil nicht voneinander zu trennen. (Entscheidend) |,| nicht zwei get|rennte| Untersuchungen|,| sondern Eine und das|selbe.|«32 Der Vortrag über die samothrakischen Geheimnisse steht im Kontext der Kontroversen über die Altertumswissenschaften und deren methodische Grundlegung, auf die er vielfältig Bezug nimmt. Wenige Jahre zuvor erschien Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, der sich mit seiner religiössymbolischen Deutung des Mythos auch auf Schelling bezieht und in einem regen brieflichen Austausch mit dem Münchener Philosophen stand.33 Creuzers Plä30 Vgl. nur den Anhang Ueber die äußeren Formen, unter welchen Religion existirt, den Schelling seiner 1804 erschienenen Abhandlung Philosophie und Religion beifügte: F.W.J. Schelling, Philosophie und Religion, in: SW VI, 11–70, bes. 65–70. 31 Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 368. 32 F.W.J. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814–1816. Die Weltalter II – Über die Gottheiten von Samothrake, hrsg. von L. Knatz/H.J. Sandkühler/M. Schraven, Hamburg 2002, 95. Vgl. hierzu den Beitrag von Christian Danz in diesem Band. 33 Vgl. F. Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen, 4 Bde., Leipzig/Darmstadt 1810–1812. Zu Schelling und Creuzer vgl. F. Wirtz, Die Mythologie bei F.W.J. Schelling und F. Creuzer, Diss. Tübingen 2020; J. Rohls, Schelling und die Heidelberger Romantik. Das Verhältnis von Schelling und Creuzer seit 1804, in: Schelling in Würzburg, hrsg. v. C. Danz, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 293–337. Die Briefe Creuzers an Schelling sind zugänglich in: A. Bilda/F. Wirtz, Unveröffentlichte Briefe von Creuzer an Schelling aus den
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doyer für eine Orientierung der Altertumswissenschaften an der Bildhaftigkeit der Sprache, seinen Thesen von einem Urmonotheismus als Grundlage der Mythologie sowie einer Symbolwanderung von Ost nach West lösten den sogenannten ›Symbolikstreit‹ aus,34 in den zunehmend auch Schelling hineingezogen und vor dessen Hintergrund seine Abhandlung über die Gottheiten von Samothrake aufgenommen wurde.35 Schelling, der sich in seinem Akademievortrag auf Creuzers Symbolik und Mythologie sowie auf dessen Deutung der samothrakischen Gottheiten bezieht, widerspricht sowohl dessen Grundthese von einem Monotheismus, der der Mythologie zugrunde liegt, als auch seiner Annahme einer Symbolwanderung von Ost nach West, um die griechische Mythologie zu interpretieren. Diese Thesen sowie die zeitgenössischen Überzeugungen eines Ursprungs der griechischen Kunst und Religion in Ägypten bestreitet Schelling und setzt ihnen eine Deutung der samothrakischen Gottheiten als Erscheinung eines Ursystems entgegen, von dem sich Bruchstücke im Alten Testament finden. Auch in München blieb Schellings Deutung der samothrakischen Mysterien nicht unwidersprochen. Am 28. März 1816 hielt Friedrich Thiersch in der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag zum Thema Ueber die Epochen der bildenden Kunst der Griechen, in dem er die zeitgenössische Meinung von einem ägyptischen Ursprung der griechischen Kunst und Religion erneuerte und sich damit auch gegen Schellings Deutung der antiken Religionsgeschichte in dessen Akademievortrag vom Jahr zuvor wendete.36 Dieser reagierte auf Thierschs Vortrag nicht nur in seiner Korrespondenz,37 sondern auch in seinen Anmerkungen zu dem von ihm herausgegebenen Bericht über die Aeginetischen Bild-
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Jahren 1813–1844, in: Schelling-Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 7 (2019), 217–249. Vgl. E. Howald, Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Dokumenten, Tübingen 1926; G.S. Williamson, The Longing for Myth in Germany. Religion and Aesthetic Culture from Romanticism to Nietzsche, Chicago/London 2004, 135–150; G.W. Most, Hermann gegen Creuzer über die Mythologie, in: Gottfried Hermann (1772–1848). Internationales Symposium in Leipzig 11.–13. Oktober 2007, hrsg. v. K. Stier/E. Wöckener-Gade, Tübingen 2010, 165–179. Zur zeitgenössischen Rezeption der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten vgl. den Beitrag von Alexander Bilda in diesem Band. F. Thiersch, Ueber die Epochen der bildenden Kunst der Griechen. Erste Abhandlung, Einleitung und älteste Epoche enthaltend, München o. J. Zu Thiersch vgl. den Beitrag von Sebastian Engelmann in diesem Band. Vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 4. 4. 1816 (Aus Schellings Leben in Briefen, Bd. 2, 368– 370, bes. 370). Vgl. auch F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 6. 4. 1816 (Cotta und Schelling, 119f., bes. 120). Vgl. hierzu auch den anonymen Beitrag Ueber die ältesten Epochen der griechischen Kunst, in: Kunst-Blatt, Nr. 8 und 9 vom 17. und 28. 6. 1816, 29–31. 33–36. Der Beitrag stammt vermutlich von Aloys Hirt und wurde von Schelling am 6. April 1816 an Cotta mit der Bitte geschickt, ihn im Kunst-Blatt zu publizieren. Thiersch nahm im Jahre 1819 noch einmal Stellung zu den Ägineten, ohne jedoch den von Schelling herausgegebenen Bericht Wagners zu erwähnen. Vgl. F. Thiersch, Ueber die mythologische Bedeutung der auf Aegina gefundenen Bildsäulen, in: Amalthea 1 (1820), 137–160.
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Christian Danz
werke von Johann Martin Wagner.38 Diese Anmerkungen stehen, was in der Forschung bislang nur wenig Berücksichtigung fand, in einem engen problemgeschichtlichen Zusammenhang mit den Gottheiten von Samothrake und dürfen als eine Weiterführung von deren Grundgedanken im Medium der Kunstgeschichte verstanden werden.39 Johann Martin Wagner, der im Auftrag von Kronprinz Ludwig im Jahre 1812 die im Jahr zuvor aufgefundenen Marmorskulpturen des Aphaia-Tempels40 auf der Insel Ägina ersteigerte, diese 1815 nach Rom brachte, fertigte während ihrer Restauration durch Berthel Thorvaldsen einen Bericht über die archaischen Skulpturen an den Giebeln des – wie man meinte – panhellenistischen JupiterTempels an.41 Ein Jahr später, im Jahre 1816 beauftragte der Kronprinz Schelling, den Bericht Wagners herauszugeben. Am 30. September schrieb der Münchener Philosoph an seinen Verleger Cotta, um diesem den Bericht zur Publikation anzubieten.42 Im Dezember hat Schelling seine Anmerkungen ausgearbeitet und Anfang Januar 1817 das Manuskript an den Verlag geschickt, das im März dieses Jahres im Stuttgarter und Tübinger Verlag Cottas erschien.43 Schellings Anmerkungen, die er dem Bericht Wagners beifügte, widersprechen sowohl dessen als auch Thierschs kunstgeschichtlicher Einordnung der Ägineten, ihr eigentümlicher Stil verdanke sich einer ägyptischen Herkunft. Dieser zeitgenössischen Überzeugung widerspricht er mit dem Argument, die Eigenart eines Stils lasse sich nicht durch einen Bildtransfer erklären. »Gesetzt aber auch, jenes insgemein angenommene Verhältniß zwischen Ägyptiern und Griechen, wornach man jene als die Lehrmeister, diese als die Schüler anzusehen hätte, wäre mehr als zweifelhaft, und der Ausdruck: entlehnen, und die Vorstellung einer materiellen Ueberlieferung oder Mittheilung überhaupt erschienen in keinem Fall als die angemessensten« (SW IX, 120). Dass ein Stil oder, allgemeiner formuliert, Prozesse nicht auf Mitteilung beruhen, ist ein Gedanke,
38 Vgl. hierzu die Beiträge von Matthias Hofter, Astrid Fendt und Christoph Binkelmann in diesem Band. 39 Hinweise hierzu finden sich in der englischen Ausgabe des Berichts über die Aeginetischen Bildwerke von Louis A. Rupprecht Jr. Vgl. Report on the Aeginetian Sculptures. With Historical Supplements. Johann Martin Wagner with Schelling, transl., ed., and with an introduction by L.A. Rupprecht Jr., Albany 2018, 263–294. 40 Zur kunstgeschichtlichen Einordnung der Ägineten vgl. den Beitrag von Astrid Fendt in diesem Band. 41 Vgl. L.A. Rupprecht Jr., Translator’s Historical Introduction, in: Report on the Aeginetian Sculptures, 1–63. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias Hofter in diesem Band. 42 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 30. 9. 1816 (Cotta und Schelling, 126). 43 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 6. 1. 1817 (Cotta und Schelling, 130). Seine Schlussanmerkung schickte Schelling erst im Februar an Cotta. Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 15. 2. 1817 (Cotta und Schelling, 133).
Schellings Gottheiten von Samothrake im Kontext
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der für Schellings Naturphilosophie insgesamt konstitutiv ist.44 Auch in der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten steht der Gedanke im Hintergrund. Explizit aufgenommen und ausgesprochen hat ihn Schelling in seinen Anmerkungen zu Wagners Bericht. Er besagt, dass Besonderes durch Verteilung der Kräfte entsteht. So verwundert es nicht, dass Schelling das Charakteristische und die Selbständigkeit der äginetischen Kunst in den Fokus rückt, welches sich einer Individualisierung »ein und desselbe[n], nur in der griechischen Kunst wieder von vorn ansetzende[n] Princip[s]« (SW IX, 121) verdanke. Es ist derselbe identitätsphilosophische Gedanke, der auch der Abhandlung über die Gottheiten von Samothrake zugrunde liegt, den Schelling in seinen kunstgeschichtlichen Anmerkungen zu Wagner betont.45 Ähnlichkeit und Unterschiede zwischen Kunststilen lassen sich nicht durch Vergleich oder durch Symboltransfers bestimmen. Schellings Texte, die er zwischen 1813 und 1817 publizierte, greifen frühere Gedanken auf und führen sie vor dem debattengeschichtlichen Hintergrund der Zeit weiter. Überlegungen, die sich hier formieren und ausprobiert werden, vertieft er in der weiteren werkgeschichtlichen Entwicklung. Signifikant ist das an seinem Verständnis von Mysterien und Mythologie, welches die Akademierede von 1815 in Aufnahme seiner frühen Deutung des Ceres-Mythos im Kontext der Identitätsphilosophie präsentiert. Angemessen rekonstruieren kann man die Entwicklung von Schellings Denken am Ende seiner ersten Münchener Zeit nur dann, wenn man seine bislang nur wenig beachteten kleineren Schriften und ihren problemgeschichtlichen Horizont einbezieht. Einen ersten Beitrag hierzu leisten die in diesem Band versammelten Beiträge, die Schellings Gottheiten von Samothrake in ihrem werkgeschichtlichen Münchener Kontext thematisieren.
44 Vgl. F.W.J. Schelling, Allgemeine Deduction des dynamischen Proceßes, in: AA I/8, 297–366, bes. 314. 45 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, in: SW VII, 289– 329, bes. 303f. Zum Verhältnis von Schellings Vorlesungen über die Philosophie der Kunst und seinen Anmerkungen zu Wagner vgl. den Beitrag von Christoph Binkelmann in diesem Band.
Michael Hackl
Schelling in München. Eine Zusammenschau der Jahre 1806–1820 »München ist schon jetzt der Sammelplatz vieler interessanten Menschen, und die Schätze der Kunst und Wissenschaft, die sich hier anhäufen, werden wohl noch immer mehrere herbeyziehen«. (Rar1, 281) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1807)
1.
Bayern wird Königreich
Bayerns politische sowie kultur- und wissenschaftspolitische Entwicklungen im 19. Jahrhundert sind eng mit den politischen Umbrüchen während der napoleonischen Ära in Europa verknüpft. Mit dem Bogenhausener Vertrag und dem Frieden von Preßburg (1805) wurde der Erhalt Bayerns anerkannt und 1806 wurde es durch Napoleon zum Königreich erhoben, was für das Land ein stark vergrößertes und zusammenhängendes Staatsgebiet bedeutete. München war nun nicht mehr bloß Residenzstadt, es war fortan kultureller Mittelpunkt des neubegründeten Königreichs.2 Friedrich Schellings Zeit in Bayern beginnt just während der Koalitionskriege. 1803 wurde er auf Geheiß Georg Friedrich von Zentners und des Grafen Maximilian von Montgelas in Bayerns Norden, an die neugestalte Universität Würzburg berufen.3 Da es während der napoleonischen Kriege weiter zu territorialen Verschiebungen kam, und Bayern zwischenzeitlich Würzburg und somit den Einfluss auf die hiesige Universität verlor, war Schellings dortige Stellung nicht mehr gesichert. Nachdem er daraufhin erneut Zentner und Montgelas kontaktiert hat,4 sicherten ihm diese eine Anstellung an der Münchner Akademie der Wissenschaften zu, womit seine wissenschaftliche 1 L. Pareyson (Hrsg.), Schellingiana Rariora, Turin 1977 (Siglum Rar mit Angabe der Seite). 2 Vgl. H. Lehmbruch, Aspekte der Stadtentwicklung Münchens 1775–1825, in: Klassizismus in Bayern, Schwaben und Franken. Architekturzeichnungen 1775–1825, hrsg. v. W. Nerdinger, München 1980, 29–36, bes. 33. 3 Vgl. A.F. Marcus an F.W.J. Schelling am 13. 8. 1803 (F.W.J. Schelling, Aus Schellings Leben. In Briefen, hrsg. v. G.L. Plitt, 3 Bde., Leipzig 1869–1870, hier: Bd. 1, 473f. [Siglum Plitt mit Angabe des Bandes und der Seite]). 4 Vgl. F.W.J. Schelling an G.F. v. Zentner am 19. 1. 1806 (Plitt III, 296–299); F.W.J. Schelling an M. Montgelas am 15. 3. 1806 (Plitt III, 313).
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Karriere im südlichen Bayern ihren Anfang nahm. Um Schellings erste Münchner Zeit umfassend zu ergründen, ist sowohl die Entwicklung Bayerns als auch das hiesige wissenschaftliche Umfeld sowie sein eigenes philosophisches Schaffen während dieser Zeit zu beleuchten. Staatsminister Montgelas, der bereits in Zweibrücken Berater des Kurfürsten Max IV. Joseph, des späteren Königs Maximilian I. Joseph von Bayern war, war die treibende Kraft der Modernisierung Bayerns. Als Innen-, Außen- und Finanzminister, von 1803 bis 1817 hatte er bis auf wenige Jahre alle drei Ministerien gleichzeitig inne,5 war er für die Reformierung des jungen Königreichs verantwortlich und gilt als Schöpfer des modernen bayerischen Verfassungsstaats. Darüber hinaus lag die (bildungs-)politische Öffnung in seiner Hand. Um die durch Frankreich gewonnene Selbstständigkeit nach Außen und nach Innen zu festigen, hat Bayern 1808 eine für das gesamte Königreich geltende Konstitution erlassen. Mit dieser wurden die bestehenden Ständeverfassungen einzelner Gebiete aufgehoben und die bürgerlichen Freiheiten für alle Bürger im Staat verfassungsmäßig verankert.6 Von der Aufhebung war auch Tirol betroffen, was dort zu großen Widerständen führte und 1809 im Krieg gegen Bayern mündete.7 Der in München weilende österreichische Gesandte Graf Friedrich Lothar von Stadion versuchte zuvor noch König Max I. und Montgelas für eine Koalition mit Österreich zu gewinnen, Bayern aber blieb dem Bündnis mit Frankreich treu. Stadion bemühte sich daraufhin um die Unterstützung von Kronprinz Ludwig. Ludwig bekräftigte im Gespräch zwar seine Sympathie für Österreich und betonte, dass er der Frankreichpolitik Bayerns kritisch gegenüberstand, allerdings lehnte er den Rat des österreichischen Fürsten Paul Esterházy ab, sich offen für den österreichischen Kaiser zu erklären, da er keine realistische Chance Österreichs sah, den Krieg gegen Frankreich zu gewinnen. Für Ludwig stand trotz aller Nähe zu Österreich die Souveränität Bayerns im Fokus. Die Uneinigkeit zwischen König und Kronprinz in dieser Frage fand sich ebenso in der bayerischen Öffentlichkeit wieder. Während der fränkische Norden für Österreich Partei ergriff, stand man in Altbayern zu Frankreich. Die Gespaltenheit hat auch vor den hiesigen Gelehrten nicht Halt gemacht, wobei einige ostentativ für Österreich eintraten, darunter Friedrich Heinrich Jacobi, 5 Vgl. M. Spindler (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. IV/1, Bd. IV/2, München 1974/1975, bes. Bd. IV/2, 1287–1289 (Siglum HBG mit Angabe des Bandes und der Seite). 6 Vgl. E. Weis, Montgelas. Eine Biographie 1759–1838. Bd 1: Montgelas. Zwischen Revolution und Reform 1759–1799. Bd. 2: Montgelas. Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799– 1838, München 2005, bes. Bd. 2, 380f.; ders., Hardenberg und Montgelas. Versuch eines Vergleichs ihrer Persönlichkeiten und ihrer Politik, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998), 191–207; H. Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 1986, 214. 7 Vgl. P.M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge (MA)/London 2016, 92–97 sowie Weis, Montgelas, Bd. 2, 444. 459. 461.
Schelling in München. Eine Zusammenschau der Jahre 1806–1820
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Friedrich Jacobs, Friedrich von Schlichtegroll und Johann Michael Sailer.8 Anders Schelling, dieser nahm wie die bayerische Regierung eine österreich-kritische Haltung ein. Im Brief an Karl Joseph Hieronymus Windischmann spricht er von Friedrich Schlegel als dem »furor fanaticus«,9 weil dieser, wie berichtet wird, als »angestellter Armeepoet« mit den Österreichern ins Feld zog.10 Seine Kritik verbirgt Schelling auch vor Friedrichs Bruder August Wilhelm Schlegel nicht, spricht aber lediglich von den österreichischen Offizieren als »wahre[m] Gesindel; […] Wir können es hier in der Nähe sehr gut beurtheilen, und Sie können sich darauf verlassen, daß die österreichische Niederlage vollkommen und fast beispiellos ist«. Der geführte Krieg fand tatsächlich ein schnelles Ende, was hauptsächlich auf die zögerliche Kriegsführung Österreichs zurückzuführen ist, aber auch auf die Leistung des Kronprinzen, von dem Schelling sagt, dass er im Krieg »die größten Proben von Tapferkeit und Entschlossenheit gegeben« hat.11 An der Seite Frankreichs konnte Ludwig in der Schlacht von Abensberg (1809) gegen Österreich den Sieg herbeiführen, wobei er auf persönliche Anordnung Napoleons bloß eine der drei bayerischen Divisionen anführen durfte; Napoleon ist nämlich zuvor Ludwigs anti-französische Haltung bekanntgeworden.12 Bayern Regierung hielt nach dem gewonnenen Krieg gegen Österreich an dem Bündnis mit Frankreich fest, was sich jedoch mit Napoleons Russlandfeldzug (1812) änderte. Im Krieg gegen Russland kam Bayern seiner Bündnispflicht zunächst nach, man stand sogar mit den eigenen Truppen in Moskau. Als aber Frankreich nach den schweren Kriegsverlusten, und das ohne zu zögern, von Bayern forderte, die Armee wieder auf den »gleichen Stand zu setzen wie vor dem Krieg«, beraubte sich Napoleon der »letzten Sympathien in der öffentlichen Meinung Bayerns«.13 Der Russlandfeldzug hat die politische, wirtschaftliche und militärische Lage Bayerns stark verändert. Das Königreich stand nun zwischen den drei Machtblöcken: Frankreich, Russland-Preußen und Österreich. Ob der Nähe zu Frankreich sah man an der Isar die Gefahr, dass sich Napoleon mit dem österreichischen Kaiser Franz auf Kosten Bayerns einigen könnte. Daher drängte Montgelas darauf, das Bündnis mit Frankreich zu stärken oder sich Österreich zuzuwenden. Trotz der abzusehenden Abtretungen von Tirol, Vorarlberg und 8 Sailer war übrigens ein bedeutender Lehrer für den Kronprinzen Ludwig. Vgl. M. Spindler, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825–1848), in: HBG IV/1, 87–223, bes. 90f. 9 F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 9. 5. 1809 (Plitt II, 158). 10 F.A. Klier, Oesterreichs letzter Krieg im Jahre 1809 gegen Frankreich, Baiern, und die Rheinischen Bundes-Staaten, München 1810, 50. Als »angestellter Armeepoet« begleitete Friedrich Schlegel »die österreichische Armee«, um »– vermuthlich – Sinn- und Heldengedichte, auf die österreichischen Siege zu verfertigen und zu besingen«. (Klier, Oesterreichs letzter Krieg, 50) 11 F.W.J. Schelling an A.W. Schlegel am 2. 5. 1809 (Plitt I, 440); vgl. F.W.J. Schelling an L. Oken am 6. 5. 1809 (Plitt I, 442). 12 Vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 408. 416f. 439; Gollwitzer, Ludwig I., 140–146. 13 Weis, Montgelas, Bd. 2, 660f. Vgl. a. a. O., 653–663. 665. 682f.
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Salzburg an Österreich in Folge des Bündnisses mit demselben, entschloss sich die Münchner Regierung zum anti-französischen Bündnis. Das sei das »kleinere Übel«. Der Bündniswechsel hat den Ausgang der Völkerschlacht bei Leipzig wesentlich mitentschieden, weshalb Napoleon in einer Staatsratssitzung am 11. 11. 1813 ausgerufen hat: »München muß niedergebrannt werden. München wird niedergebrannt werden.«14 Nach der Niederlage Napoleons war Bayerns Rolle als Mitglied des Deutschen Bundes gefestigt, wenngleich der Wiener Kongress keine letztgültige Regelung der bayerischen Grenzen brachte. Dazu kam es erst mit dem Vertrag von München (1816). Aufgrund der veränderten Bündnispolitik konnte Kronprinz Ludwig 1817 den von ihm angefeindeten Minister Montgelas, der in seinen Augen – und nicht sein Vater König Max I. Joseph – »de facto Baierns Beherrscher« war, stürzen. Der Sturz erlaubte es ihm, sogleich eine neue Verfassung auszuarbeiten, die das »undeutsche System« Montgelas’, welches den Staat dem König »übergeordnet hatte«, aufhebt.15 Schelling stand der »großen und liberalen Art zu denken« Montgelas’ prinzipiell offen gegenüber,16 von der verfassungsmäßigen Neustrukturierung erhoffte er sich aber weitreichende Verbesserungen für Bayern. Dazu schreibt er im Januar 1819 an Per Daniel Amadeus Atterbom, dass »die Einführung dieser Verfassung und vielleicht schon die erste Stände-Versammlung Epoche für uns machen [wird]. Auch in geistiger Hinsicht.«17 Tatsächlich ist die 1818er Verfassung Bayerns von »Optimismus und gläubigem Vertrauen auf das Volk« geprägt,18 so heißt es in der Verfassung: »Baiern! – Dieß sind die Grundzüge der aus Unserm freien Entschluße euch gegebenen Verfassung, – sehet darin die Grundsätze eines Königs, welcher das Glück seines Herzens und den Ruhm seines Thrones nur von dem Glücke des Vaterlandes und von der Liebe seines Volkes empfangen will!«19
Da Ludwig treibende Kraft hinter der Verfassung war, hat das Zugeständnis an das Volk seinen Ruf als »liberaler Kronprinz […] begründet«. Dabei war er es, der sein »Königtum als von Gott gegeben und ererbt« ansah, während für Montgelas das »Gottesgnadentum nichts weiter als Priesterbetrug« war.20 Wiewohl der 14 A. a. O., 670f. Vgl. a. a. O., 672–687. 15 Spindler, Regierungszeit Ludwigs I., 101. Vgl. Gollwitzer, Ludwig I., 201–222; M. Dirrigl, Maximilian II. König von Bayern 1848–1864, 2 Teile, München 1984, bes. T. 2, 1565f. 16 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 2. 1812 (F.W.J. Schelling, Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, hrsg. v. H. Fuhrmans/L. Lohrer, Stuttgart 1965, 66). 17 F.W.J. Schelling an P.D.A. Atterbom am 29. 1. 1819 (Plitt II, 432). 18 Spindler, Regierungszeit Ludwigs I., 101. Vgl. a. a. O., 100f. 19 Bayerische Verfassung 1818, 26. 5. 1818 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv: https://www.bavari kon.de/object/GDA-OBJ-00000BAV80000807?lang=de). 20 Spindler, Regierungszeit Ludwigs I., 101. Vgl. a. a. O., 100f. Dass Ludwig sein Amt als absolut verstand, belegt sein Rücktritt 1848. Es war ihm nämlich zutiefst zuwider, ein bloßer, wie er
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Monarch mit der Verfassung von 1818 eine »Anzahl von Rechten entäußert« hat, haben »zahlreiche Bestimmungen in die Verfassung« Eingang gefunden, die »die Einflußnahme der Krone […] gewährleiste[ten]«.21 Das mit der Verfassung von 1818 eingeführte Zweikammersystem bildete fortan das Fundament der Regentschaft von Max I. und blieb die verfassungsrechtliche Grundlage bis zum Ende der Monarchie 1918.
2.
Schelling und die Münchner Kunst- und Wissenschaftslandschaft
Im Fokus der Reformen unter Maximilian I. und seines Ministers stand auch die Bildungspolitik; dazu zählte die Reformierung der Schulen sowie der Universitäten und der Münchner Akademie der Wissenschaften. Dass sich Bayern unter dem Minister Montgelas sukzessive zu einem modernen Staat entwickelt hat, ist in Deutschland nicht verborgen geblieben. Mit Blick auf den öffentlichen Unterricht bemerkt Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1821 gegenüber Friedrich Immanuel Niethammer etwas zugespitzt, dass »vor 20 Jahren Bayern um 300 Jahre hinter Preußen zurückgewesen, aber seitdem sei man in den Institutionen des öffentlichen Unterrichts dort um 50 oder 100 Jahre vorausgekommen vor uns«.22 Zu den ersten Reformen gehörte die Durchsetzung der bereits 1771 verfügten Schulpflicht. Zudem schuf man 1802 eine zentrale Schulbehörde, die 1806 dem Innenministerium zugeteilt wurde und dort ab 1808 eine eigene Sektion bildete. Zuständig dafür war Zentner, sein wichtigster Mitarbeiter war Niethammer, der von Schelling bei seiner Berufung nach München unterstützt wurde.23 Von Joseph Wismayr und Katejan Weiller wurde 1803 eine Schulunterrichtsreform ausgearbeitet, die eine »lebenspraktisch-nützliche Weltorientierung« der Schüler vorsah.24 Der Wismayr’sche Plan sollte die Berufsausbildung der Schüler verbessern, was wiederum der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes dienen soll. Den Gegenpol dazu bildete das Niethammer’sche Normativ,25 welches in Streit des Philanthropismus und Humanismus (1808) publik wurde.
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sagt, »Unterschreibkönig [zu] sein, gebunden und gefesselt an beiden Händen, nein, das kann ich nicht« (zitiert nach: Gollwitzer, Ludwig I., 717). Gollwitzer, Ludwig I., 221f.; vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 809. G.W.F. Hegel an F.I. Niethammer am 9. 6. 1821 (G.W.F. Hegel, Briefe von und an Hegel, 4 Bde., hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1952, hier: Bd. 2, 270). Vgl. F.I. Niethammer an F.W.J. Schelling am 13. 3. 1807 (Plitt I, 378). A. Reble, Das Schulwesen, in: HBG IV/2, 949–990, hier: 957. Vgl. a. a. O., 957–961. Vgl. R.S. Turner, Universitäten, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. III. 1800– 1870: Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des deutschen Reiches, hrsg. v. K.-E. Jeismann/P. Lundgreen, München 1987, 221–249, bes. 225. 231.
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Niethammers darin ausgearbeitetes Konzept sucht einen Ausgleich zwischen realem und neuhumanistischem Lehrplan. Seine Ausführungen bestimmten zwischenzeitlich die bildungspolitischen Reformen Bayerns, deren Einfluss wurde aber bereits 1816 wieder getilgt. Schelling war in die bildungspolitischen Debatten zu jener Zeit nur bedingt eingebunden, hat aber Niethammers Vorhaben unterstützt und sein Werk mehrfach rezensiert.26 Später wirkte Niethammer nochmals an einer neuen Schulordnung mit, konnte allerdings seine Position nicht erneut durchsetzen. Erst später, sodann unter Friedrich Wilhelm von Thiersch und diesmal unter dem Einfluss von Schelling kam es 1830 zu einer Stabilisierung der Schulreform.27 Montgelas’ Reformpläne waren lange vorbereitet, so auch jene der Hochschulen. Bereits 1796 wies er auf den »beklagenswerten Zustand« der bayerischen Universitäten hin, der insbesondere damit zusammenhängt, dass der Wahl der Professoren »keinerlei Beachtung« geschenkt wird. Durch Neuberufungen »von auswärts« und der Entlassung »untüchtiger« Professoren sollte die Wissenschaft in Bayern gestärkt werden.28 Montgelas pflegte sich bei den Berufungen sogar »stärker einzuschalten […], als es Zentner und Niethammer oft recht war«.29 Die Münchner Regierung machte sich »Freizügigkeit und kulturellen Austausch innerhalb Deutschlands zu ihrem Grundsatz. Bayern trachtete nicht nur danach, die besten Gelehrten ohne Rücksicht auf ihre Herkunft zu gewinnen; der Dienst des bayerischen Staates war auch von den Gelehrten sehr gesucht.«30 Neben den Neuberufungen war man ebenso um den Ausbau der wissenschaftlichen und künstlerischen Sammlungen sowie der Bibliotheken und Archive bestrebt.31 Aufgrund der politischen Situation in Bayern votierte Zentner während des zweiten Koalitionskrieges für die Verlegung der Ingolstädter Universität nach München,32 was damals aber von Kurfürst Max Joseph abgelehnt wurde, da er keine Universität als »Unruheherd in der Residenzstadt« haben wollte.33 Statt26 Vgl. C. Danz/M. Hackl, Editorischer Bericht. Rezensionen von F.I. Niethammer: »Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit« (1808/09), in: AA I/18, 3–51. 27 Vgl. Reble, Schulwesen, 959−964; Weis, Montgelas, Bd. 2, 611f.; Gollwitzer, Ludwig I., 546f. 28 Weis, Montgelas, Bd. 2, 613; ders., Die Wissenschaften in Bayern unter Max I. (1799–1825), in: Festschrift für Max Spindler zum 75. Geburtstag, hrsg. v. D. Albrecht/A. Kraus/K. Reindel, München 1969, 593–609, bes. 595. Die Berufungen der Professoren gingen vereinzelt vom König, meist aber von Montgelas oder Zentner aus, auch Fachkollegen gaben Anregungen. Vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 618. 29 Weis, Montgelas, Bd. 2, 610f. Vgl. F.W.J. Schelling an G.H. Schubert am 11. 3. 1809 (Plitt II, 148). 30 Weis, Wissenschaften in Bayern, 595. Vgl. a. a. O., 607. 31 Vgl. dazu a. a. O., 603. 32 Vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 615. 33 L. Böhm, Das akademische Bildungswesen in seiner organisatorischen Entwicklung (1800– 1920), in: HBG IV/2, 991–1033, hier: 998.
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dessen wurde die Hochschule nach Landshut verlegt, mit ihrer Verlegung und Neubegründung erhielt sie die Namen ihrer Stifter, sie wurde in Ludwig-Maximilians-Universität umbenannt.34 1802 wurde Schelling auf deren Eröffnungsfeier zum Ehrendoktor der Medizin ernannt.35 In jener Zeit erhielten die Universitäten in Würzburg (1803) und Landshut (1804) außerdem neue Statuten. Besonders Zentner ist es zu verdanken, dass die bayerischen Universitäten in Erlangen, Landshut und Würzburg, nachdem letztere 1814 wieder an Bayern fiel, erhalten blieben. Spätere Vorschläge zum Umbau, wie die Forderung des Geheimen Referendars von Hartmann eine Reichsuniversität zu gründen oder Niethammers Vorschlag, die Universitäten in Spezialschulen nach französischem Vorbild umzubilden, wurden nicht umgesetzt.36 Zur Verlegung der LudwigMaximilians-Universität an ihren heutigen Ort kam es erst 1826. Das Reformprogramm umfasste ebenfalls die Residenzstadt, in dieser sollte die Akademie der Wissenschaften in »ein renommiertes wissenschaftlich blühendes Institut« verwandelt werden;37 zu diesem Zweck kamen zahlreiche Neuberufene an die Akademie.38 Hierzu zählte wie eingangs beschrieben auch Schelling, der von Würzburg nach München berufen wurde. Anfänglich stand er, wie er Windischmann mitteilt, dem Wechsel an die Isar kritisch gegenüber und stellte sich die Frage nach der »Perspective, nun in das eigentliche Bayern hinein zu müssen«.39 Obwohl berichtet wird, dass Schelling in seiner ersten Würzburger Vorlesung verkündet hat, das »Licht« im »finsteren Süddeutschland […] zu verbreiten«,40 stand er seit seiner Münchner Zeit der Entwicklung des eigentlichen Bayerns offen gegenüber. Dass er rasch nach seiner Ankunft in der Residenzstadt ein positives Bild vom Süden Bayerns bekommen hat, dürfte dem kulturellen Leben sowie der »Aufgeschlossenheit der Regierung für die Wissenschaft« geschuldet gewesen sein.41 Immerhin hat er dem Philologen Heinrich Karl Abraham Eichstädt bereits Ende 1806 eingehend geschildert, dass es der 34 Die Universität trägt die Namen ihrer Stifter Ludwig IX. der Reiche und Maximilian I. Joseph. Vgl. Akademisches Dankfest auf der baierischen Ludwigs-Maximilians-Universität zu Landshut, Landshut 1802, 4. Vgl. F.D. Reithofer, Geschichte und Beschreibung der KöniglichBaierischen Ludwig-Maximilians-Universität in Landshut, Landshut 1811. 35 Vgl. Akademisches Dankfest, 55–70; Weis, Montgelas, Bd. 2, 613. 615f.; Böhm, Das akademische Bildungswesen, 999; F.W.J. Schelling an seine Eltern am 8. 7. 1802 (Plitt II, 372f.). Zur Universität Landshut vgl. F.W.J. Schelling an G.W.F. Hegel am 11. 1. 1807 (Plitt II, 111f.). 36 Zur Entwicklung der bayerischen Universitäten vgl. Böhm, Das akademische Bildungswesen, 995–1008. 37 R. Heydenreuter, Die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Dokumente und Erläuterungen zur Verfassungsgeschichte, Regensburg 2011, 46. 38 Vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 620f. 39 F.W.J. Schelling an K.H.J. Windischmann am 16. 1. 1806 (Plitt II, 78). 40 W.E. Gerabek, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik. Studien zu Schellings Würzberger Periode, Frankfurt a.M. 1995, 223. 41 Weis, Wissenschaften in Bayern, 595. Vgl. a. a. O., 607f.; ders., Montgelas, Bd. 2, 608–633.
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»guten Gesinnungen der Bayerschen Regierung« zu verdanken ist, dass der »Süden Deutschlands, zum Theil wenigstens,« der Ort werden kann, der »für die Wissenschaft wird, was der Norden so lange für sie war«.42 Außerdem lässt er seinen Bruder kurz nach seiner Ankunft an der Isar wissen, dass München »für einen Gelehrten gegenwärtig die anmuthigste [Stadt] ist, die es in Deutschland giebt«.43 Er hatte aber auch mit Hindernissen zu kämpfen, Schelling stieß bei seiner Berufung an die Akademie der Wissenschaften auf Widerstand, doch kam dieser, wie zuvor in Würzburg, aus dem norddeutschen Umfeld, genauer: aus dem Umfeld Jacobis. Aber auch diesmal konnte man Schellings Berufung nicht verhindern.44 Am 1. 5. 1807 traten die neuen Statuten der Akademie der Wissenschaften in Kraft, gemäß denen Jacobi, ein Rheinländer aus dem ehemals wittelsbachischen Düsseldorf, zum Präsidenten und Schelling zum ordentlichen Mitglied der I. Klasse derselben ernannt wurde.45 Zur Eröffnungsfeier hielt Jacobi in Anwesenheit des Königs Maximilian I. seine Rede Ueber gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck, in der er die Reformation »eine die gesammte Menschheit dieser Weltgegend veredelnde« Veränderung nannte.46 Er verwies dabei nicht bloß auf die Fortschrittlichkeit der Reformation, sondern ebenso auf die Rückständigkeit des Katholizismus, sodass in München der Eindruck erweckt wurde, man dürfe sich glücklich schätzen, dass die protestantischen Gelehrten hierher kommen, um das katholische Bayern ins Licht zu führen.47 Zwar hatte der Münchner Lorenz von Westenrieder Jahre vor Jacobi eine ähnliche Kritik an Bayern geübt, allerdings richtete sich seine Kritik explizit an das unaufgeklärte Bayern und nicht, wie bei Jacobi, an das neue, modernisierte Bayern.48 An der öffentlichen Kritik des Präsidenten Jacobi, die einer Generalkritik Altbayerns gleichkam, entzündete sich im Umfeld der Münchner Akademie der Wissen42 F.W.J. Schelling an H.K.A. Eichstädt am 16. 11. 1806 (Plitt II, 107). Vgl. F.W.J. Schelling an A.W. Schlegel am 7. 11. 1807 (Plitt I, 392); F.W.J. Schelling an J.W. v. Goethe am 16. 11. 1806 (Plitt II, 106). 43 K.E. Schelling an F.W.J. Schelling am 19. 5. 1806 (Plitt III, 339). Vgl. Rar, 281–283. 44 Vgl. C. Arnold/M. Hackl, Editorischer Bericht. F.W.J. Schelling’s Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen […], in: AA I/18, 53–127, bes. 67–72. 45 Vgl. Heydenreuter, Bayerische Akademie, 167f. Vgl. außerdem a. a. O., 46–48. 158–176. 46 F.H. Jacobi, Ueber gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck. Eine Abhandlung vorgelesen bey der feyerlichen Erneuung der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu München vom Präsidenten der Akademie, in: ders., Werke. Gesamtausgabe, hrsg. v. K. Hammacher/W. Jaeschke, Hamburg 1998ff., Bd. 5, 321–386, hier: 355. 47 Vgl. F. Thiersch, Betrachtungen über die angenommenen Unterschiede zwischen Nord und Süddeutschland. Ein Beytrag zur Kenntnis der neuesten Aeußerungen des Zeitgeistes, München 1809, 10. 48 Vgl. L. Westenrieder, Geschichte der baierischen Akademie der Wissenschaften. Teil 1: 1759– 1777, München 1784, 4. 6f.; ders., Geschichte der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften. Teil 2: 1778–1800, München 1807, Vorrede o. S.
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schaften ein jahrelanger Streit zwischen den Altbayern und den von auswärts Berufenen. Ähnliche Streitereien gab es auch an der Landshuter Universität, allerdings wurde diesen, immerhin fanden sie außerhalb der Hauptstadt statt, wenig Aufmerksamkeit geschenkt.49 Bayern war zu großen Reformen bereit, und die Reformen waren durchwegs im Sinne der Aufklärung ausgelegt. Um sie rasch umsetzen zu können, legte Montgelas großen Wert darauf, dass seine Mitarbeiter an der »führenden« deutschen Universität Göttingen studiert haben.50 Die bayerische Regierung versuchte ebenso die besten Gelehrten nach Bayern zu holen. Doch das Vorgehen blieb nicht ohne Folgen. So bemerkte der österreichische Gesandte Stadion in einem Bericht vom Februar 1808, dass in München »blos gestritten wird, und nichts geschieht«, weil besonders Präsident Jacobi ständig fordere, dass »alles besser und anders werden müsste«, da die »Geistes-Kultur, wie sie in Bayern ist, nichts tauge«. Den Grund für diese Diskussionen sah Stadion mitunter darin, dass man in Bayern »eine Schaar Norddeutscher Gelehrter oder Literatoren, mehr auf Reputation als auf gründliche Untersuchung, durchaus Protestanten hinzugefügt«. Es sei eine »ganze Kolonie norddeutscher Gelehrter oder Vielwisser nach und nach hierher gerufen worden, die ihre kümmerliche Celebrität in Gotha, Jena oder Halle gegen gute Besoldung und Aussichten neuen Ruhms und großen Einflusses in München vertauscht habe«.51 Stadion, der später Einfluss auf Jacobi nahm, hat die Situation klar aufgefasst. Vom Bild, das die »neuen Ankömmlinge« abgaben, war Minister Montgelas offenkundig ernüchtert, denn diese verhielten sich, so notiert er, wie »Missionäre«.52 Der Missionierungs-Anspruch der sogenannten Nordlichter wurde als Angriff auf die »altbayerische[] Identität« verstanden.53 Zwar macht auch Schelling im Brief an Johann Friedrich Cotta deutlich, dass es der protestantische Geist sei, der »seit langer Zeit die Ehre des deutschen Geistes fast allein unterhalten hat«,54 doch anders als sein streitbarer Kollege versuchte er nicht, noch dazu öffentlich, die Münchner Regierung
49 Vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 626f. 641; ders., Bayerns Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, in: HBG IV/2, 1034–1088, bes. 1044f. 50 Weis, Montgelas, Bd. 2, 614. Vgl. a. a. O., 617; ders., Wissenschaften in Bayern, 594f. 51 Zitiert nach: W. Brunbauer, Bayerische Skandalchronik. Polizei und Kriminalität im München des frühen 19. Jahrhunderts, Rosenheim 1984, 169. 52 M. Montgelas, Denkwürdigkeiten des Bayerischen Staatsministers Maximilien Grafen von Montgelas. (1799–1817), hrsg. v. L. Graf von Montgelas, Stuttgart 1887, 175f.; vgl. Weis, Wissenschaften in Bayern, 601. 53 W. Altgeld, Akademische »Nordlichter«. Ein Streit um Aufklärung, Religion und Nation nach der Neueröffnung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1807, in: Archiv für Kulturgeschichte 67.2 (1985), 339–388, hier: 354. 54 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 2. 1810 (Schelling, Schelling und Cotta, 41).
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hierüber zu belehren, stattdessen hob er die Bedeutung Bayerns für die Entwicklung der Wissenschaft in Deutschland hervor.55 Die Bayern gegenüber als belehrend auftretenden Nordlichter haben sich auch während des Krieges von 1809 unklug verhalten. Obwohl die bayerische Regierung am Bündnis mit Frankreich festhielt, wandten sich viele der Neuberufenen dem Kriegsgegner Österreich zu. Dass das Haus des Akademiepräsidenten »Herd des Franzosenhasses« war, und dieser eigenmächtig mit dem österreichischen Gesandten Stadion politische Verhandlungen führte,56 irritierte Montgelas besonders. Im März 1809 wandte sich Jacobi direkt an Montgelas, um ihm von den Verhandlungen mit Stadion zu berichten und erklärte dem mächtigen Minister, dass Österreich für Bayern keine Gefahr darstellt.57 Diese Intervention wurde als Anmaßung verstanden. Mit seinen Verhandlungen erweckte er den Eindruck, dass er und nicht die bayerische Regierung die Zukunft Bayerns bestimmt. Dass Jacobis Stimme bei der Regierung ungehört blieb, machte sich auch daran bemerkbar, dass auf sein späteres Bittschreiben an Montgelas, als er in Folge anhaltender öffentlicher Diffamierungen an seiner Person, die von spitzbübischen Streichen bis zu literarischen Angriffen reichten, um die Wiederherstellung seiner Ehre bat, keine Reaktion folgte.58 Montgelas war das Verhalten Jacobis und das vieler anderer Nordlichter zuwider. Für ihn hat die Treue zur Regierung einen besonders hohen Stellenwert, so schreibt er: »Je aufgeklärter die Menschen sind, desto mehr lieben sie ihre Pflicht und stehen zu einer Regierung, die sich wirklich um ihr Glück bemüht.«59 Bei den Nordlichtern konnte er diese Treue gegenüber der bayerischen Regierung nicht erkennen,60 vielmehr bereite ihm deren Verhalten Sorge, wie Schelling in seinem Jahreskalender vermerkt, soll er geäußert haben: »J’ai diablement peur de ces litterateurs du Nord.«61
55 Auch Caroline Schelling thematisierte gegenüber Luise Gotter den Streit und spricht davon, dass man in München über den »Zuwachs von Ausländern und Protestanten zu schreien« beginnt, vielleicht nicht ohne Grund, »da jene sich gar zu sehr als Ausländer und Protestanten anstellten«. (Plitt II, 88) 56 R. Burkhard, Die Berufungen nach Altbayern unter dem Ministerium Montgelas, Delitzsch 1927, 137; vgl. Weis, Montgelas, Bd. 2, 423f. 453f. 626f. 57 Vgl. F.H. Jacobi an M. Montgelas am 11. 3. 1809 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Sign.: MA 89). 58 Vgl. F.H. Jacobi an M. Montgelas am 7. 12. 1809 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Sign.: MInn 45167); F.H. Jacobi an M. Montgelas am 17. 7. 1810 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Sign.: MInn 24078); Weis, Montgelas, Bd. 2, 629f. Zur Übersicht über die Situation um den Gelehrtenstreit in München vgl. Arnold/Hackl, Editorischer Bericht. F.W.J. Schelling’s Denkmal, 74–121. 59 Zitiert nach: Weis, Montgelas, Bd. 2, 617. 60 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter, hrsg. v. L. Knatz/H.J. Sandkühler/M. Schraven, Hamburg 1994, 17. 61 Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813, 4.
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Der Streit zwischen den Altbayern und den Nordlichtern um deren Protagonisten Johann Christoph Aretin auf der einen und Jacobi auf der anderen Seite machte nicht einmal vor Mordverdächtigungen halt. Die Gelehrten aus dem Norden, insbesondere der attackierte Friedrich Thiersch selbst, beschuldigten die Altbayern um Aretin, einen Messerangriff auf ihn verübt zu haben. Zwar wurde die Tat aus Eifersucht von einem Dritten begangen, dennoch hielt sich in München auch nach deren Aufklärung hartnäckig das Gerücht des Mordversuchs seitens der Patrioten. Obzwar bewiesen wurde, dass die Patrioten an dem Attentat nicht beteiligt waren, nahmen die Streitigkeiten kein Ende: Sie wurden immer wieder auf neue Schauplätze verlegt.62 Auch wenn sich Schelling weitestgehend aus dem Akademienstreit heraushielt, war er wesentlich an dessen Beendigung beteiligt. Als Konsequenz der andauernden Streitigkeiten, die sich während seines mit Jacobi geführten Theismusstreits um die göttlichen Dinge zuspitzten, entschloss sich die bayerische Regierung, Jacobi im September 1812 von seinem Amt als Präsident der Akademie der Wissenschaften zu entlassen. Mit seiner Entlassung endete der öffentliche Streit.63 Die Regierung erließ umgehend neue Akademiestatuten und verzichtete künftig auf das Amt des Präsidenten.64 Erst mit der Verlegung der Ludwig-Maximilians-Universität von Landshut nach München erhielt die Akademie 1827 neue Statuten. Mit diesen kehrte sie zu den Gründungsstatuten aus dem 18. Jahrhundert zurück und verstand sich nun wieder als ein »Verein von Gelehrten«.65 Im Gegensatz zu seinem Düsseldorfer Kollegen Jacobi hat Schelling in seiner 1807 zum Namensfest des Königs Maximilian I. gehaltenen Rede Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur nicht den Norden glorifiziert und den Süden als unaufgeklärt darstellt, er hat vielmehr die Einheit Deutschlands und die Leistungen Bayerns sowie dessen bevorstehende reiche Zukunft in Wissenschaft und Kunst beschworen. Der Fokus auf die Kunst und der offene Ton hat besonders dem anwesenden Kronprinzen, dem die Kunst ein gewichtiges Anliegen war, »imponiert[]«,66 und seither stand Schelling in dessen Gunst. (SW VII, 328f.) Da Bayern im Deutschen Bund militärisch und wirtschaftlich nicht mit Österreich oder Preußen konkurrieren konnte, sah der bayerische Thronfolger in der Kunstförderung die Möglichkeit, an »Ansehen und […] po-
62 Vgl. Arnold/Hackl, Editorischer Bericht. F.W.J. Schelling’s Denkmal, 97f. Vgl. Brunbauer, Bayerische Skandalchronik, 163. 165f. 184–188. 63 Vgl. Arnold/Hackl, Editorischer Bericht. F.W.J. Schelling’s Denkmal, 62–127. 64 Vgl. Heydenreuter, Bayerische Akademie, 167 Anm. 65 Böhm, Das akademische Bildungswesen, 1011f. 66 Gollwitzer, Ludwig I., 104.
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litische[m] Gewicht« zu gewinnen.67 Zum Zweck der Kunstförderung wurde 1808 die schon länger geplante Akademie der bildenden Künste gegründet,68 an deren Statuten Schelling sogleich mitwirkte.69 Ungeachtet mangelnder finanzieller Mittel wurden große Hoffnungen in die Entwicklung der Akademie der bildenden Künste gesetzt. Gegen den Wunsch des Direktors Johann Peter Langer, der wie Jacobi aus Düsseldorf stammt, wurde Schelling und nicht der Maler Moritz Kellerhoven zum »GeneralSekretär« derselben ernannt, womit Schellings Stellung in München »fixirt« war.70 Langer seinerseits stärkte seinen Einfluss an der Akademie, indem er für seinen Sohn Joseph Robert Langer die Professur für Malerei erwirkte. Zudem hat er die Berufung von Carl von Fischer zum Professor für Baukunst anstelle von Friedrich Gärtner, dem »Gefolgsmann« des Leiters der Münchner Gemäldegalerie Johann Christian von Mannlich, durchgesetzt.71 Die Berufung war aber auch im Sinne Montgelas’, schließlich war er Fischers Protegé. Dieser sollte nach »französische[m] Vorbild« die »Reformierung der Architektur und die bevorstehende Umgestaltung der neuen Hauptstadt« leisten.72 Die Neugestaltung war dringend notwendig, denn seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist München stark gewachsen und hat seine Einwohnerzahl bis in die Mitte der 1820er Jahre auf etwa 65.000 mehr als verdoppelt.73 Max I. hatte für die »Ausgestaltung Neumünchens« keine »dezidierte« Vorstellung, seinem Sohn Ludwig hingegen war sie ein umso dringlicheres Anliegen.74 Er wollte »aus München eine Stadt machen, die Teutschland so zur Ehre gereichen soll, daß Keiner Teutschland kennt, wenn er 67 F. Büttner, Ludwig I. Kunstförderung und Kunstpolitik, in: Die Herrscher Bayerns. 25 historische Portraits von Tassilo III. bis Ludwig III., hrsg. v. A. Schmid/K. Weigand, München 2001, 310–329, hier: 325. 68 Vgl. P.W. Pölnitz, Münchener Kunst und Münchener Kunstkämpfe 1799–1831, in: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte, hrsg. v. Historischen Verein von Oberbayern, Bd. 72, München 1936, 1–117, bes. 6; F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann im Sommer 1808 (Plitt II, 88f.). 69 Vgl. Rar, 311–337; vgl. W.G. Jacobs, Der Zusammenhang der Gründungsurkunde der Akademie der bildenden Künste mit Schellings Münchner Rede »Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur«, in: Schelling und die Akademie der bildenden Künste, hrsg. v. der Akademie der bildenden Künste, München 2002, 11–28, bes. 11–15. 70 F.W.J. Schelling an J. F. Cotta am 15. 5. 1808 (Schelling, Schelling und Cotta, 31). Vgl. Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 6; G. Schickel, Der Lehrer und Akademiedirektor, in: Friedrich von Gärtner. Ein Architektenleben 1791–1847. Mit Briefen an Johann Martin Wagner, hrsg. v. W. Nerdinger, München 1992, 175–183, bes. 181. Schelling hat sich recht positiv zu Langer geäußert. Vgl. F.W.J. Schelling an J.W. v. Goethe am 7. 6. 1808 (Plitt III, 515f.); Rar, 282; SW VII, 549–552. 71 Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 5f. 72 W. Nerdinger, Carl von Fischer – Architekt zwischen Reform und Restauration, in: Carl von Fischer. 1782–1820, hrsg. v. dems., München/Pullach 1982, 9. 73 Vgl. Lehmbruch, Stadtentwicklung Münchens, 30. 74 R. Bauer, Max I. Joseph. Der König und seine Residenzstadt, in: Die Herrscher Bayerns, hrsg. v. A. Schmid/K. Weigand, 295–309, hier: 308; vgl. Nerdinger, Carl von Fischer, 11.
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nicht München gesehen hat«.75 Anders als von Napoleon ausgerufen, ist München nicht niedergebrannt worden, sondern ist dank dem ehrgeizigen Plan Ludwigs sukzessive zum Kulturzentrum im Deutschen Bund erwachsen. Ob seiner Sparsamkeit hat der Kronprinz für seine Kunstsammlung sehr hohe Summen ausgegeben.76 In einem Brief vom 8. 10. 1813 lässt Ludwig seinen Kunstagenten Johann Martin Wagner wissen, dass es sein »Wille« ist, »das schönste Kaufbare […] zu erwerben«; und diese Aufgabe sah er in »Wagners Hände« sehr gut aufgehoben, in bessere könne man »das Geschäfte nicht legen«.77 Als Professor für Baukunst an der Akademie der bildenden Künste und Mitglied der Baukommission war Fischer für die Begutachtung aller wichtigen Baufragen in München zuständig und verantwortete anfänglich die städtische Umgestaltung. Zu seinen Projekten zählten neben dem Prinz-Carl-Palais oder dem Nationaltheater am Max-Joseph-Platz, ein Erziehungsinstitut oder ein Allgemeines Krankenhaus. Diese Bauvorhaben standen im Dienst von Montgelas’ Reformprogramm, welches auch in die von Schelling vorgelegte Konstitution der Akademie der bildenden Künste Eingang gefunden hat. Darin wird die »Wichtigkeit der Architektur für das öffentliche Leben [hervorgehoben], die nahe Beziehung, die sie auf den Geist und Geschmack einer ganzen Nation hat«. (Rar, 318) Daneben verantwortete Fischer die Stadterweiterung hin zur Maxvorstadt. Entgegen seiner anfänglichen Zustimmung distanzierte sich der Kronprinz von dessen Plänen, ihm schwebte weniger die von Fischer forcierte Öffnung des städtischen Raums vor, sondern in Anlehnung an die ChampsElysées die Idee der Ludwigsstraße.78 Ursprünglich sollte Fischer sogar die für den Englischen Garten geplante Walhalla, eine Ruhmeshalle »großer Deutsche[r]« entwerfen.79 Da Ludwig mehr »archäologische Genauigkeit« wünschte als das bei Fischer der Fall war, wurde das Bauvorhaben trotz der vorliegenden Pläne gemeinsam mit einem Invalidenhaus und der Glyptothek von Schelling und Langer 1814 öffentlich ausgeschrieben,80 wobei »Inhalt und Formulierung« 75 Zitiert nach: J.N. Sepp, Ludwig Augustus. König von Bayern und das Zeitalter der Wiedergeburt der Künste, Schaffhausen 1869, 349 (im Druck kursiv). 76 Vgl. Gollwitzer, Ludwig I., 116. Zur Kunstförderung Ludwigs vgl. H. Putz, Für Königtum und Kunst. Die Kunstförderung König Ludwigs I. von Bayern, München 2013; W. Pölnitz, Ludwig I. von Bayern und Johann Martin von Wagner. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunstbestrebungen König Ludwigs I., München 1929. 77 Kronprinz Ludwig an J.M. Wagner am 8. 10. 1813 (König Ludwig I. von Bayern/J.M. Wagner, Der Briefwechsel. Teil 1: 1809–1815, hrsg. v. M. Baumeister/H. Glaser/H. Putz, München 2017, hier: T. 1, Bd. 2, 345). Zu Ludwigs regem Streben nach Kunst vgl. Kronprinz Ludwig an J.M. Wagner am 29. 5. 1811 (König Ludwig I./J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 262–264). 78 Vgl. A. Buttlar, Leo von Klenze. Leben – Werk – Vision, München 2014, 82. 165–199. 79 Kronprinz Ludwig an J. Müller am 2. 10. 1808 (zitiert nach: Buttlar, Klenze, 141). 80 Vgl. Nerdinger, Carl von Fischer, 90–92; Buttlar, Klenze, 141−164. Ludwig hat Wagner gebeten, die Ausschreibung auf Italienisch zu übersetzen und in Rom zu verbreiten. Vgl. Kronprinz Ludwig an J.M. Wagner am 10. 3. 1814 (König Ludwig I./J.M. Wagner, Briefwechsel,
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auf den Kronprinzen zurückgehen.81 Dieser wandte sich verstärkt dem Klassizismus zu, er wolle »nicht ruhen, bis München aussieht wie Athen«.82 Um das umzusetzen holte er 1816 den Architekten Leo von Klenze nach München. Obwohl die Ausschreibung noch nicht beendet war, wurden Klenze vorab die Aufträge für den Bau der Glyptothek und der Walhalla, dem »Pantheon der Deutschen« zugesagt,83 welches, wie die später von Gärtner projektierte und von Klenze vollendete Befreiungshalle in Kelheim, Ludwigs »Orientierung über das bayerische Territorium hinaus auf ganz Deutschland« symbolisiert.84 Gegenüber Klenze bezeichnete der Kronprinz die Walhalla als das »Kinde meiner Liebe«.85 Durch den Stilwandel kam es zunehmend zu Spannungen zwischen den hiesigen Künstlern.86 Die aufkeimenden Münchner Kunstkämpfe beschränkten sich nicht nur auf die Architektur, sie setzten sich ebenfalls in der Malerei fort. Mit dem Nazarenerkreis erwuchs an der Akademie der bildenden Künste eine aus der Düsseldorfer Schule entwachsene Gruppierung um Peter Cornelius, die von der Notwendigkeit einer »norddeutsch-patriotischen Kunst« überzeugt war.87 Ludwig war dem aufgeschlossen, schon während seiner ersten Reise nach Italien (1804/ 05) hat er die Gesellschaft »deutscher Künstler« genossen.88 Nach seinem ersten Italienaufenthalt hat er sich für das Historische begeistert, doch über die Jahre fokussierte er sich zunehmend auf die »romantische[] christlich-deutsche[] Kunst«. Ihn reizten die Romantiker und die Klassizisten gleichermaßen. Die Hinwendung zum Mittelalter ging so weit, dass sich der Kronprinz in Rom in vermeintlich altdeutscher Tracht zeigte. Klenze monierte jedoch, dass dieser in einen »erbärmlichen Kosakenrock gesteckt [wurde], von welchem man ihn glauben machte, er sey altdeutsch«.89
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T. 1, Bd. 2, 358). Auf Bitte Wagners wurde die Ausschreibung des Wettbewerbs sogar verlängert. Vgl. König Ludwig I./J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 361 Anm. Buttlar, Klenze, 110f. Zitiert nach: Sepp, Ludwig Augustus, 345. Buttlar, Klenze, 141. Buttlar, Klenze, 416. Zur Baugeschichte der Befreiungshalle vgl. a. a. O., 408–418. Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 27. 1. 1818 (König Ludwig I. von Bayern/L. von Klenze, Der Briefwechsel. Teil 1: Kronprinzenzeit König Ludwigs I., Teil 2: Regierungszeit König Ludwigs I., Teil 3: Nach dem Thronverzicht König Ludwigs I., München 2004–2011, hier: T. 1, Bd. 1, 412). Vgl. Buttlar, Klenze, 81–108. Buttlar, Klenze, 88; vgl. Gollwitzer, Ludwig I., 116f. Gollwitzer, Ludwig I., 99f.; vgl. Spindler, Regierungszeit Ludwigs I., 92. Zu den Nazarenern vgl. F. Büttner, Der Streit um die »neudeutsche religios-patriotische Kunst«, in: Aurora 43 (1983), 55–76; J. Erichsen, Mehr als ein Sammler. König Ludwig I. von Bayern und die Korono der Kunst, in: Kunstmarkt und Kunstbetrieb in Rom (1750–1850). Akteure und Handlungsorte, hrsg. v. H. Putz/A. Fronhöfer, Berlin/Boston 2019, 123–137, bes. 128f. Zitiert nach: Buttlar, Klenze, 88 (im Druck kursiv). Vgl. Spindler, Regierungszeit Ludwigs I., 104f.
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Zu der Stilwende trug Ludwigs Leibarzt Johann Nepomuk von Ringseis bei, der wie Johann Georg von Dillis und Leo von Klenze den Kronprinzen auf seinen Reisen nach Italien begleitet hat.90 Schelling äußerte zwar gegenüber Wagner, dem Bildhauer und einflussreichen Kunstagenten des bayerischen Thronfolgers in Rom,91 den Wunsch, Ludwig auf einer seiner Italienreisen begleiten zu wollen, allerdings blieb dieser ungehört.92 Ringseis jedenfalls nutzte seinen Einfluss und leitete die »antiklassische Wende« in der Baupolitik ein, er konnte den Kronprinzen davon überzeugen, dass »die gothische Architektur als von Gott selbst dem Erbauer dictiert, die einzig wahre, rechte und schöne sey«.93 Diese Wendung brachte nicht bloß Klenze als Vertreter des Klassizismus »außer Fassung«, sondern auch Wagner, wie aus seinem Brief an Schelling hervorgeht: »Dr. Ringseis hat sich […] wie ein Wahnsinniger betragen […]. Die Secte der sogenannten Nazarener oder die exaltierte, frömmelnde Künstlerschaft fand an dem Doctor nun gerade ihren Mann […], sie erwählten ihn zu ihrem Werkzeug, um durch ihn auf den Kronprinzen zu wirken […]. Ihr Plan ist eigentlich der, alles zu stürzen, was nicht ihre Secte ist, und sich selbst an die Plätze der gestürzten zu stellen.«94
Infolge des Schwenks gewannen die Nazarener zunehmend an Einfluss. 1819 wurde Cornelius beauftragt, die Innengestaltung der von Klenze entworfenen Glyptothek zu übernehmen.95 Obwohl Cornelius Aufträge von höchster Stelle erhielt, war er bei seinen Künstlerkollegen nicht unumstritten. Er stand mit Klenze wegen der Fresken in der Glyptothek im Streit, ebenso mit Dillis wegen der Pinakothek und mit Gärtner, dem Cornelius übrigens den Bauauftrag für die Ludwigskirche vermittelt hat, wegen der Ausmalung der Allerheiligen-Hofkir-
90 Vgl. Gollwitzer, Ludwig I., 101. 106f. 116f.; Buttlar, Klenze, 444. Vgl. Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 24. 1. 1818 (König Ludwig I./J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 404). 91 Zur Bedeutung Wagners für Ludwig und die Münchener Kunstsammlung vgl. H. Putz/ A. Fronhöfer (Hrsg.), Kunstmarkt und Kunstbetrieb in Rom (1750–1850). Akteure und Handlungsorte, Berlin/Boston 2019. 92 Vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 13. 4. 1817 (Plitt II, 385): »Die beste Gelegenheit für mich nach Rom zu kommen wäre, wenn unser gnädigster Kronprinz mich mitnehmen wollte. Aber an so was denken die großen Herrn nicht von selbst, und mich zudrängen ist nicht meine Art. Einmal werde ich doch noch hinkommen, ist’s nicht lebend, so doch als Geist.« 93 Buttlar, Klenze, 88. Vgl. Gollwitzer, Ludwig I., 116f. Klenzes Urteil zufolge, sei Ringseis ein »Polyhistor, Mystiker, Frömmler, auch gelegentlich Geisterbeschwörer«, der Ludwig für einen »Restaurationsversuch des Mittelalters« gewinnen wollte (zitiert nach: König Ludwig I./ J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 430 Anm.). 94 J.M. Wagner an F.W.J. Schelling am 27. 6. 1818 (zitiert nach: Buttlar, Klenze, 88 [im Druck kursiv]). In seiner Rolle als Kunstagent hat sich Wagner stets fair gegenüber den Nazarenern verhalten. Vgl. J. Selch, Der Kunstagent und sein Netzwerk. Johann Martin Wagner in Rom, in: Kunstmarkt und Kunstbetrieb in Rom (1750–1850). Akteure und Handlungsorte, hrsg. v. H. Putz/A. Fronhöfer, 189–209, bes. 207 Anm. 95 Vgl. König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 6 Anm.
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che. Ludwig hingegen spendete Cornelius »uneingeschränktes Lob«.96 Ungeachtet der Zusammenarbeit und den gemeinsamen Aufträgen sparte Gärtner nicht mit Kritik an Cornelius und den Nazarenern, wie auch an den diesen nahestehenden Franz Christian Gau und Joseph Anton Koch.97 Schelling sah den »Taumel der Frömmler-Kunst und Zunft« der Nazarener im »vorüber gehn«, den Arbeiten von Cornelius hingegen stand er wie der Kronprinz positiv gegenüber.98 Wie auch Ludwig schätzte er, anders als Gärtner, die künstlerischen Arbeiten Kochs. In einem im Morgenblatt anonym erschienen Beitrag zur Kunstausstellung (1811) an der Akademie der bildenden Künste beschrieb Schelling Kochs Landschaftsbild als »Krone der Ausstellung« (Rar, 388); das teilte er ebenfalls Wagner mit, wobei er zusätzlich anmerkt, dass dies der Fall sei, »obgleich auch sie wie Alles Gegner fand«.99 Koch wurde 1812 mit Wagner zum »Correspondenten« der Akademie der bildenden Künste ernannt. (Rar, 409)100 Schelling und Langer konnten sich überdies darauf einigen, dass Kochs Einreichung für die Preisaufgabe (1814) als beste Arbeit im Bereich Landschaftsmalerei ausgezeichnet wurde.101 Obwohl Schelling hinsichtlich der Bedeutung von Koch und Cornelius dem Kronprinzen zustimmte, spotte er vor Wagner, wiewohl er von dem Architekten Klenze sowie dem bayerischen Thronfolger zwecks dem Bau der Glyptothek konsultiert wurde,102 über den klassizistischen Bau am Münchner Königsplatz. Es sei »völlig ohne Styl, ohne Consequenz, das sich nicht einmal mit den besseren Gebäuden aus den Zeiten Ludwig XIV. vergleichen läßt, aber an welches ungeheure Summen verschwendet werden, Summen, für die nicht nur die Elginsche Sammlung zu kaufen stand, sondern noch mehr als Eine griechische Insel sich umgraben ließ. Wie es nun gegenwärtig in Ansehung der Kunst bei uns steht, können Sie leicht ermessen, wenn Sie wissen, daß der Meister jenes kostbaren Gebäudes an des alten braven Gärtner Stelle 96 Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 27. Vgl. dazu Schickel, Lehrer und Akademiedirektor, 177; F. Büttner, Gärtner und die Nazarener, in: Friedrich von Gärtner. Ein Architektenleben 1791– 1847. Mit Briefen an Johann Martin Wagner, hrsg. v. W. Nerdinger, München 1992, 123–134. 97 Vgl. F. Gärtner an J.M. Wagner am 4. 6. 1818 (F. Gärtner, Die Briefe Friedrich von Gärtners an Johann Martin von Wagner, in: Friedrich von Gärtner. Ein Architektenleben 1791–1847. Mit Briefen an Johann Martin Wagner, hrsg. v. W. Nerdinger, München 1992, 263−338, bes. 272); Büttner, Gärtner und die Nazarener. 98 F.W.J. Schelling an J.M. Wagner um 1818 (Plitt II, 423). Vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 22. 12. 1816 (Plitt II, 379f.); F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 2. 12. 1818 (Plitt II, 396f.); Buttlar, Klenze, 129; Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 25f. 99 F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 25. 2. 1812 (Plitt II, 292). Vgl. F.W.J. Schelling an P. Gotter am 18. 10. 1811 (Plitt II, 265); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 26. 9. 1815 (Schelling, Schelling und Cotta, 105f.). 100 F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 2. 11. 1814 (Plitt II, 347). 101 Vgl. Rar, 434. 102 Vgl. Buttlar, Klenze, 128. Vgl. L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 23. 11. 1816 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 237f.); Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 26. 8. 1817 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 322f.).
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Hof-Bau-Intendant und allein-dirigirender Baumeister geworden ist; Fritz Gärtner ist ihm untergeordnet als – Bau-Praktikant.«103
Die 1842 von Klenze bei Donaustauf vollendete klassizistische Walhalla, für die Ludwig bereits in der Planungsphase eine Büste von Schelling anfertigen ließ (1807), wusste dieser hingegen zu schätzen.104 Übrigens wurde die von Christian Friedrich Tieck angefertigte Büste nicht mit den anderen Büsten untergebracht, Ludwig ließ Schellings Büste in seiner Bibliothek aufstellen.105 Eingang in die Walhalla hat sie aber erst nach dem Tod Schellings gefunden. Zwar übte Schelling vor Wagner Kritik am ersten Bauprojekt des Kronprinzen, allerdings war er damit nicht alleine, auch die Münchner Bevölkerung hatte anfänglich nicht viel für das »närrische Haus des Kronprinzen« übrig.106 Wagner sprach sogar in Anwesenheit Ludwigs »abfällig[]« von Klenzes Baustil und lobte stattdessen die Arbeiten von Friedrich Gärtner.107 Dass sich Wagner für die Architektur Gärtners einsetzte, dürfte damit zusammenhängen, dass er seit langem in engem Kontakt mit der Familie Gärtner stand.108 Er kritisierte aber nicht nur Klenzes Glyptothek,109 sondern wünschte sich auch für das »dem deutschen
103 F.W.J. Schelling an J.M. Wagner um 1818 (Plitt II, 423f.). 104 Vgl. F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1843 (Plitt III, 180). Vgl. Arnold/Hackl, Editorischer Bericht. F.W.J. Schelling’s Denkmal, 90f. Schelling wurde vom Kronprinzen damit beauftragt, ein Bildnis von Herzog Christoph von Württemberg für die Herstellung von dessen Walhalla-Büste zu besorgen. Obwohl er eine Münze mit seinem Porträt aus den königlich württembergischen Archiven besorgt hat (vgl. L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 20. 4. 1820 [König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 114]), ließ Ludwig 1821 noch einmal nach »ein[em] gute[n] mamorne[n] Brustbild« des Herzogs forschen (Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 30. 9. 1821 (a. a. O., 439). Schelling seinerseits schreibt im Oktober 1822, dass er über den neuerlichen Auftrag befremdet ist, schien man doch »vorauszusetzen […], daß ich das erstemal nicht allen Fleiß und Eifer angewendet, ein Bildniß Herzog Christophs aufzufinden« (zitiert nach: a. a. O., 440 Anm.). 105 Vgl. Kronprinz Ludwig an J.G. Dillis am 8. 9. 1809 (R. Messerer [Hrsg.], Briefwechsel zwischen Ludwig I. von Bayern und Georg von Dillis 1807−1841, München 1966, 101). 106 Dirrigl, Maximilian II., T. 2, 1572; vgl. Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 31. 107 Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 59. Klenze übt scharfe Kritik an den Entwürfen Gärtners: »Das Projekt [Glyptothek] selbst war nach H. Wagners Angabe vom jungen Gärtner gezeichnet mit unter den Preißprojekten, und glich eher einer Menagerie wo ein jeder Affe seinen eigenen Verschlag hat als einem Musäo« (L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 2. 6. 1817 [König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 278]). 108 Vgl. W. Nerdinger, Friedrich von Gärtner – Ansichten eines Architektenlebens, in: Friedrich von Gärtner. Ein Architektenleben 1791–1847. Mit Briefen an Johann Martin Wagner, hrsg. v. dems., München 1992, 9–24, bes. 9–14; K. Thoss, Der junge Friedrich und sein väterlicher Protegé, in: Friedrich von Gärtner. Ein Architektenleben 1791–1847. Mit Briefen an Johann Martin Wagner, hrsg. v. W. Nerdinger, München 1992, 27–38. 109 Vgl. Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 13. 12. 1816 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 252f.). Bezüglich des Baus der Glyptothek gab es eine ausführliche Kontroverse zwischen Wagner und Klenze. Vgl. L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 12. 9. 1817 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 338–343); L. Klenze, Letzte Antwort, Beilage D5
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Ruhm Gewidmeten Gebäude«, das den »altdeutschen Namen Wallhalla« trägt, »eine deutsche Form oder Bauart«. Anders als Klenze forciert er keine »griechische Tempel Form«, sondern eine Form mit »ächt deutschen Ursprung«, die ihm die »Gothische Bau Art« ist. Sie allein scheint ihm für die Walhalla geeignet, sie entspricht bestens dem »Karakter« des Gebäudes.110 Wider aller Einwände setzte sich Klenze mit seinen Entwürfen durch. Aufgrund der anhaltenden Kritik Wagners, dürfte es Klenze recht gewesen sein, dass ihn Ludwig wissen ließ, dass seiner Ansicht nach Wagner »nicht zur Münchner Akademie der Künste« gehört, weil »zwischen beyden keine Liebe« besteht.111 Nebenbei versuchte sich Klenze trotzdem die Unterstützung Wagners zu sichern.112 So vergab er bildhauerische Aufträge für die Glyptothek, den Marstall und die Walhalla an ihn. Er erhoffte sich dessen Beistand im Streit mit Ringseis und den Nazarenern sowie dem »hochmüthigen Kunstdespoten« Cornelius. Wagner gegenüber blieb er stets kritisch, er fürchtete nämlich »dessen Gewicht in München […]. Wagner […] war der einzige, der vom fernen Rom aus an den König appellieren konnte, die Kunstdiktatur Klenzes zu verhindern.« Tatsächlich war es durch geschickte Agitation Wagner, der dessen »Kunstdiktatur« verhinderte,113 indem er dem Kronprinzen immer wieder darlegte, »wie schädlich sich […] für das Bauwesen im Land die einseitige Begünstigung Klenzes auswirken müsse«.114 Zwischen Klenze und Gärtner gab es von Anfang an Spannungen. Klenze, der bis in die 1820er Jahre im Wesentlichen mit den Bauvorhaben am Odeonsund Königsplatz sowie dem Bau der (Alten) Pinakothek für die Neugestaltung Münchens verantwortlich war, verhinderte lange Zeit Gärtners Aufstieg, dieser wiederum kritisierte dessen Bauten und gewann später durch Wagners Einfluss tatsächlich die Gunst Ludwigs.115 Wagner selbst konnte seine Stellung ebenfalls ausbauen, auf Wunsch Ludwigs wurde er 1823 zum Generalsekretär der Aka-
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(König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 3, 538–541); L. Klenze, Beilage D4 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 3, 526–532). J.M. Wagner an Kronprinz Ludwig am 7. 6. 1814 (König Ludwig I./J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 378f.). Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 13. 12. 1816 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 252). Zum Einfluss Klenzes auf Ludwig vgl. Buttlar, Klenze sowie H. Putz, Zu reaktionär für den Kronprinzen? Leo von Klenzes Gutachten »über einige Staatseinrichtungen« (1824), in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 68.2 (2005), 835–851. Buttlar, Klenze, 87–90; vgl. F. Gärtner an J.M. Wagner am 8. 8. 1824 (Gärtner, Briefe Gärtners an Wagner, 293f.). H. Lehmbruch, »Gärtner liebster bester Gärtner«. Eine Karriere im Dienst des Königs, in: Friedrich von Gärtner. Ein Architektenleben 1791–1847. Mit Briefen an Johann Martin Wagner, hrsg. v. W. Nerdinger, München 1992, 87–120, hier: 102; vgl. Buttlar, Klenze, 90. 102. Vgl. Buttlar, Klenze, 85–91; Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe; Nerdinger, Friedrich von Gärtner; vgl. F. Gärtner an J.M. Wagner am 1. 11. 1826 (Gärtner, Briefe Gärtners an Wagner, 301f.).
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demie der bildenden Künste ernannt. Ursprünglich sollte zwar Cornelius diese Aufgabe übernehmen, da dieser aber ablehnte, wurde Wagner Schellings Nachfolger.116 Ludwig kamen die Streitigkeiten zwischen den Künstlern nicht ungelegen, betonte er doch 1826 gegenüber Wagner: »Monopol taugt nichts! Darum wünsche ich von Ihnen einen tüchtigen Architekten zu erfahren, der mit Klenze in die Schranke treten kann. Mit einem, welches dies nicht könnte, wäre nicht gedient.«117 Die künftigen Entwicklungen an den Akademien hat Schelling bereits 1811 im Brief an Pauline Gotter gut charakterisiert. In München sei »der behaglichste Mittags- und Abendschlaf der Wissenschaft und besonders der Poesie« zugange, »der Musik und bildenden Künsten scheint dieser Himmel noch hold«.118 Obwohl sich die Akademie der bildenden Künste unter der Leitung von Langer und Schelling stetig weiterentwickelt hat, gab es auch an deren Spitze Unstimmigkeiten. Im Februar 1811 hat sich Langer direkt an König Maximilian I. Joseph gewandt, um anzumahnen, dass Schelling »die Arbeiten unserer Akademie keine Liebe einflössen […], welche Gesinnung er auch durch Nichtbesuch der Akademie und der Werkstätten der Künstler an den Tag legt; weder ich noch die Professoren verstehen die Kunst, Herrn Schelling wahre Kunstliebe beizubringen«. Langer bittet daher den König, den Generalsekretär an seine »unerfüllten Pflichten« zu erinnern.119 Laut Satzung war es die Aufgabe des Generalsekretärs, die »literarischen Verhältnisse der Akademie« zu besorgen. (Rar, 330)120 Zu Schellings Pflichten gehörten außerdem verwaltungstechnische Aufgaben,121 die Organisation von Kunstaustellungen,122 aber auch das Verfassen von Ausschreibungen und Preisaufgaben. Dass seine Leistungen als Generalsekretär von der bayerischen Regierung – ungeachtet Langers Mahnung – sehr wohl wertgeschätzt wurden, darauf deutet die von Montgelas veranlasste Ehrenmitgliedschaft Schellings an der Akademie der bildenden Künste vom 12. 10. 1812 hin.123 116 Vgl. König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 3, 98 Anm.; L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 26. 8. 1823 (a. a. O., 198); Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 1. 9. 1823 (a. a. O., 203); Kronprinz Ludwig an L. Klenze am 2. 9. 1823 (a. a. O., 208). Zu Schellings bzw. Wagners Gehalt als Generalsekretär vgl. L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 20. 8. 1823 (a. a. O., 188); L. Klenze an Kronprinz Ludwig am 5. 9. 1823 (a. a. O., 211); F.W.J. Schelling an K.E. Schelling am 3. 11. 1813 (Plitt III, 14f.). 117 Zitiert nach: Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 57. Vgl. Lehmbruch, Gärtner, 108–120; Schickel, Lehrer und Akademiedirektor, 177; Buttlar, Klenze, 91. 118 F.W.J. Schelling an P. Gotter am 18. 8. 1811 (Plitt II, 262). 119 H. Loewe, Friedrich Thiersch. Ein Humanistenleben im Rahmen der Geistesgeschichte seiner Zeit, München/Berlin 1925, 225. 120 Vgl. X. Tilliette, Schelling. Biographie. Aus dem Französischen von Susanne Schaper, Stuttgart 2004, 284f. 121 Vgl. König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 86 Anm., 366 Anm. 122 Vgl. Rar, 363–381. 384–395. 403–405. 410–414. 424–438. 123 Vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Sign.: Nachlaß Montgelas 311.
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Abgesehen von manchen Unstimmigkeiten zwischen Schelling und Langer eskalierten die Münchner Kunstkämpfe im Umfeld der Akademie der bildenden Künste – anders als der Gelehrtenstreit an der von Jacobi geführten Akademie der Wissenschaften – nicht. Der geführte Streit der Stilrichtung trug vielmehr zur künstlerischen und architektonischen Entwicklung Münchens bei,124 fanden doch unter anderen Gärtner, Klenze, aber auch Cornelius und die Nazarener in München Platz zur künstlerischen Entfaltung. Entgegen der offen ausgetragenen Differenzen arbeitete man bei den gemeinsamen Bauaufträgen schließlich produktiv zusammen. Man verlor sich nicht in persönlichen Machtkämpfen oder in Streitigkeiten zwischen Norden und Süden, wenngleich es derlei Tendenzen gab. So erklärte Gärtner seinerseits Klenze zum »Erzfeind des bayerischen Volkes«,125 auf der anderen Seite versuchte der Düsseldorfer Langer 1819/20 mit viel Energie die Berufung Gärtners auf die Nachfolge Fischers zu verhindern, letztlich erfolglos. Während sich Gärtner bei der Nachbesetzung die Unterstützung Schellings erhoffte,126 verzichtete dieser darauf, öffentlich Partei zu ergreifen. Es scheint, als habe sich Schelling trotz seiner Nähe zu den Altbayern nicht hinreißen lassen, den Streit anzuheizen oder stilbildend Einfluss zu nehmen.
3.
Schelling philosophisches Schaffen während der ersten Münchner Phase
Bereits während seiner ersten Münchner Periode (1806–1820) hat Schelling große Anerkennung von der bayerischen Regierung erhalten und war aktiv in die akademische und bildungspolitische Entwicklung des Landes eingebunden. Als er vom Main an die Isar wechselte, hat er sich zunächst mehreren Publikationen gewidmet, darunter der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre, welche im selben Jahr erschienen ist.127 Zudem hat er sich an kleineren naturphilosophischen Arbeiten probiert. Mit der Verabschiedung seines Projekts »Wünschelruthe«, mit dem er zunächst geglaubt hat, »zur ganzen Magie der Vorzeit de[n] Schlüssel« gefunden zu haben,128 hat er sich mit der Arbeit an der Akademierede Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur wie zuvor in Jena und Würzburg der Ästhetik zugewandt. 124 Vgl. Gollwitzer, Ludwig I., 756; Brunbauer, Bayerische Skandalchronik, 178. 125 F. Gärtner an J.M. Wagner am 15. 2. 1831 (Gärtner, Briefe Gärtners an Wagner, 316). 126 Vgl. F. Gärtner an J.M. Wagner am 3. 8. 1820 (Gärtner, Briefe Gärtners an Wagner, 281); F. Gärtner an J.M. Wagner am 15. 9. 1819 (a. a. O., 279); F. Gärtner an J.M. Wagner am 12. 8. 1819 (a. a. O., 277). 127 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 25. 6. 1806 (Schelling, Schelling und Cotta, 50). 128 F.W.J. Schelling an A.W. Schlegel am 7. 11. 1807 (Plitt I, 392); F.W.J. Schelling an G.W.F. Hegel am 22. 3. 1807 (Plitt II, 115f.). Vgl. Rar, 305–307; SW VIII, 327.
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Darüber hinaus hat er Vorbereitungen für Neuausgaben seiner Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums (1802) und seines Dialogs Bruno (1802) getroffen, wobei beide Schriften – zudem unverändert – erst viel später erschienen sind, die zweite Auflage der Methodenschrift 1813 und die des Bruno erst in Berlin (1843).129 Außerdem hat er den ersten Band seiner Philosophischen Schriften (1809) bearbeitet, denen er die neu verfassten Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit beigegeben hat. Diese sind als »Fortsetzung« seiner Naturphilosophie gedacht (SW VII, 333), worauf eine ganze Reihe anderer Abhandlungen folgen sollte, »in denen das Ganze des ideellen Theils der Philosophie allmählich dargestellt wird«. (SW VII, 416) Dass Schelling bei der Ausarbeitung des ideellen Theils seine Weltalter im Blick hatte, ist zumindest naheliegend, im Januar 1811 schreibt er nämlich an Cotta, dass er an einem Werk arbeite, das er »seit vielen Jahren innerlich entworfen« hat.130 Jedenfalls hat er sich auch nach der Veröffentlichung der gegen Jacobi gerichteten Polemik, das Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen (1812), intensiv der Fragment gebliebenen Konzeption gewidmet,131 was wohl ein Grund dafür sein dürfte, warum er seither fast nichts mehr publiziert hat, zumindest fast nichts, was nicht auf äußere Veranlassung hin entstanden wäre. Die napoleonische Ära war nicht bloß für Bayern, sondern für ganz Deutschland eine Zeit der Zerrissenheit und auf diese hat Schelling in der ebenfalls Fragment geblieben Schrift Über das Wesen deutscher Wissenschaft (1807) Bezug genommen.132 Im Unterschied zu Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) ist das Fragment nicht konkret politisch ausgerichtet, wenngleich sich auch aus der vorgelegten philosophischen Bestimmung des deutschen Geistes nationale Folgerungen ergeben.133 Der Darstellung des deutschen Geistes hat sich Schelling erstmals nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs bzw. zur Zeit der Koalitionskriege gewidmet; schon damals finden sich weiterführende Diskurse in seinem Umfeld zur Rolle Nord- und Süddeutschlands, wobei er zunehmend für den bayerischen Süden Partei ergreift. An Hegel schreibt er 1807, er habe sich ihn »oft herausgewünscht aus dem verödeten Norden, der nachgerade selbst zum Gefäß, das Bessere zu fassen, verdorben scheint«.134 Thematisch hat Schelling zu jener Zeit ein Zeitschriftenprojekt ins 129 130 131 132 133 134
Vgl. Schelling, Schelling und Cotta, 288. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 30. 1. 1811 (Schelling, Schelling und Cotta, 50). Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 12. 3. 1824 (a. a. O., 146f.). Vgl. F.W.J. Schelling an F.H. Jacobi am 16. 6. 1807 (Rar, 292). Vgl. SW VIII, 13. F.W.J. Schelling an G.W.F. Hegel am 11. 1. 1807 (Plitt II, 111); G.W.F. Hegel an F.W.J. Schelling am 23. 2. 1807 (Plitt III, 409). Vgl. ebenso L. Oken an F.W.J. Schelling am 2. 5. 1805 (Plitt III, 212). Ganz unverhofft dürfte für Hegel der von Schelling geäußerte Wunsch nicht gewesen sein, hat Hegel doch schon um 1800 an Schelling geschrieben, dass er »eine katholische Stadt einer protestantischen vorziehen [würde]; ich will jene Religion einmal in der
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Auge gefasst, welches »den entscheidenden Krieg führen [soll]. Nicht streng wissenschaftlich, wie das Kritische: sondern populär im großen Styl, so daß sich die Rede an den Kern des deutschen Volkes wendet und in Klarheit ohne Scheu und Frucht das Höchste ausspricht.«135 Aus diesem Projekt ist nichts geworden, erst auf dem Höhepunkt der Münchner Streitigkeiten zwischen den Nord- und Süddeutschen wurde diese Problematik erneut aufgegriffen. Thematisch konkretisiert haben sich seine Überlegungen mit der von ihm herausgegebenen Allgemeine[n] Zeitschrift von Deutschen für Deutschen. Mit dem Zeitschriftenprojekt, das »kein Fach ausschließen« und bei dem er die »Redaktion übernehmen« wird, ist er bezüglich der Drucklegung nicht an seinen Verleger Cotta, sondern im Juni 1811 an den Buchhändler Johann Leonhard Schrag herangetreten.136 Trotz des späteren Austausches mit Cotta zum Druck der Zeitschrift ist es zwischen beiden hier nicht zu einer Zusammenarbeit gekommen.137 Bei den Vorbereitungen zu dieser ist bei ihm überdies der Plan gereift, eine »Reihe von Briefen über die deutsche Philosophie erscheinen zu lassen, worinn ich dem jetzt gewonnenen Punkt von Klarheit gemäß alle Beziehungen derselben zu Religion, Staat, öffentlichem und allgemeinmenschlichem Leben zum Hauptgesichtspunkt machen werde«;138 umgesetzt wurde das Vorhaben nicht. Mit der neugegründeten Zeitung wollte er einen Ort schaffen,139 der im Geiste des Kronprinzen Ludwig den Blick hinaus auf ganz Deutschland richtet. Es wird das »Wesen deutscher Wissenschaft, Kunst und Bildung […] ins Licht gestellt«, hierdurch soll es »aus dem Verwirrenden und Verdunkelnden, wovon es umhüllt wird,
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Nähe sehen« (G.W.F. Hegel an F.W.J. Schelling am 2. 11. 1800 [Plitt II, 285]). Zwar hat Hegel mehrere Jahre auf »Bayerischem Grund und Boden« verbracht (G.W.F. Hegel an F.I. Niethammer am 10. 10. 1816 [Hegel, Briefe von und an Hegel, Bd. 2, 141]), jedoch nur im nördlichen, protestantischen Teil. Montgelas bemühte sich zwar um eine Professur für Hegel (vgl. Weis, Bayerns Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung, 1041; ders., Montgelas, Bd. 2, 497), doch den Ruf nach Erlangen nahm er nicht mehr wahr, da er zwischenzeitlich eine ordentliche Professur an der Heidelberger Universität erhalten hat. Vgl. G.W.F. Hegel an den Senat der Universität Erlangen am 21. 9. 1816 (Hegel, Briefe von und an Hegel, Bd. 2, 135f.); Hegel, Briefe von und an Hegel, Bd. 2, 294. F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 25. 9. 1805 (Plitt II, 74). Zu dem Zeitschriftenprojekt vgl. C. Binkelmann, Editorischer Bericht. Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft, in: AA II/7,2 (im Druck). F.W.J. Schelling an J.L. Schrag am 2. 6. 1811 (BADW, Schelling – Edition und Archiv). Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 3. 1. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 61–63); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 4. 1812 (a. a. O., 71); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 (a. a. O., 72f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 16. 8. 1812 (a. a. O., 77f.). Zum Kontakt zwischen Cotta und Schelling wegen früheren Zeitschriftenprojekten in Jena und Würzburg vgl. B. Fischer, Johann Friedrich Cotta. Verleger – Entrepreneur – Politiker, Göttingen 2014, 183f. 202. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 72). Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 3. 12. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 61f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 16. 8. 1812 (a. a. O., 77).
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hervorgehoben und so auch zu freierer Entwicklung angeregt werden«. (SW VIII, 142)140 In ihr sollte publik gemacht werden, was in »Wissenschaft oder Kunst allgemein interessant ist«141 und soll damit einen »langgewünschten Vereinigungspunkt der jetzt vielfach getrennten Geister und Bestrebungen abgeben […]. Es muß sich zeigen, ob denn wirklich die wissenschaftliche Welt so in Parteiungen zerfallen ist, daß sich auch hier an nichts Gemeinsames mehr denken läßt, oder ob die Besten in jeder Art des Wissens, Forschens und Könnens den Werth einer Vereinigung einsehen«. (SW VIII, 143f., Hervorhebung M.H.)
Die in Konkurrenz zu Friedrich Schlegels Deutsches Museum (1812–1813) stehende Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutschen Schellings, die ursprünglich ebenfalls den Namen ›Deutsches Museum‹ tragen sollte,142 hat keinen enzyklopädischen Anspruch. Es geht allein darum, vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege, eine, wie es Karl Rosenkranz benennt, »Kräftigung des Deutschen Nationalgefühls« zu erreichen.143 Das »Gefühl[], daß wir kein Volk und Reich mehr sind«, hat Schelling, wie er 1814 an Cotta schreibt, tatsächlich gehemmt.144 Verstärkt dürfte dieses Gefühl durch den Akademienstreit und die Nachwirkungen um den mit Jacobi ausgetragenen Theismusstreit worden sein, immerhin stand er im Spannungsfeld der süd- und norddeutschen Gelehrten. Da er direkt in die Streitigkeiten involviert war, konnte die Zeitschrift kein neutraler Publikationsort sein. Dass die Allgemeine Zeitschrift nicht neutral sein könne, das war für Friedrich Schlegel schon vor Erscheinen des ersten Heftes unstrittig. Seinem Bruder August Wilhelm Schlegel schreibt er, dass die Zeitschrift »eine ganz rheinbundische und französische Tendenz« haben wird.145 Wohl aufgrund der Vorbehalte ist es dem Herausgeber schwergefallen, trotz intensiver Bemühungen, Beiträger für seine Zeitschrift zu finden. Hierfür hat er sogar in seiner Funktion als Generalsekretär eine öffentliche »Einladung zur Mitarbeit« versandt. (Rar, 415) Als Herausgeber hat Schelling weitestgehend darauf verzichtet, abgesehen von der Beantwortung des Sendschreibens Carl August von Eschenmayers oder seinem »literarische[n] Kunstgriff« Aus einem Brief an den Herausgeber (Rar, 418– 420), etwas zu der Zeitschrift beizutragen. Tatsächlich finden sich in der Zeit140 Vgl. Buttlar, Klenze, 416. 141 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 72 [Hervorhebung M.H.]); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 4. 1812 (a. a. O., 71). 142 Vgl. F. Schlegel an A.W. Schlegel am 4. 1. 1812 und 28. 1. 1812 (X. Tilliette [Hrsg.], Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Ergänzungsband. Melchior Meyr über Schelling, Bd. 2, Turin 1981, 85f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 72). 143 K. Rosenkranz, Schelling. Vorlesungen, gehalten im Sommer 1842 an der Universität Königsberg, Danzig 1843, 319. 144 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 2. 11. 1814 (Schelling, Schelling und Cotta, 93). 145 F. Schlegel an A.W. Schlegel am 28. 1. 1812 (Tilliette [Hrsg.], Schelling im Spiegel, Bd. 2, 85f.).
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schrift neben den Memoiren Diderots146 der Tochter und der Schrift von Friedrich Heinrich de la Motte Fouqué ausschließlich Beiträge von philosophischen Gefolgsleuten Schellings oder seinem Münchner Umfeld,147 darunter Franz von Baader, Bernhard Joseph Docen, Eschenmayer, Nikolaus Möller, Thiersch und Johann Christian von Pfister. Die Zeitschrift wurde dementsprechend nicht zu dem übergreifenden Organ und ist bereits im Erscheinungsjahr nach vier Heften eingestellt worden. Trotz des schnellen Endes hielt Schelling an seiner »Idee eines großen Journals als ausschließlichen Vereinigungspuncts der vorzüglichsten Männer« fest. Da er einsehen musste, dass ihm der Zusammenschluss der Parteien nicht gelingt, suchte er die Unterstützung Cottas, denn dieser konnte seiner Ansicht nach den nötigen Vereinigungspunct »stiften«. Für das neue Projekt wollte er sich nur für die »Redaction eines Fachs und zu Beyträgen […] sich anbieten«.148 Da er aber nicht hinreichend Unterstützung bekam, ist es nicht zur Neubegründung bzw. zur Umsetzung des Zeitschriftenprojekts gekommen. Am Rande sei erwähnt, dass auch Schlegels Zeitschrift mit dem zweiten Jahrgang ihr Ende fand. Obwohl das Werk Die Weltalter 1815, nach jahrelanger Arbeit daran, noch nicht vollendet war, hat Schelling seine Akademierede »über die samothracischen Mysterien«,149 die ihm zum Namensfest Königs Max I. am 12. 10. 1815 angetragen wurde,150 als »Erste Beylage zum ersten Theile der Weltalter« verstanden.151 Sein Versuch, »das eigentliche Ursystem der Menschheit, nach wissenschaftlicher Entwickelung, wo möglich auf geschichtlichem Weg, aus langer Verdunkelung ans Licht zu bringen« (SW VIII, 423), ist allerdings »in Deutschland so wenig oder 146 Den französischen Mémoires Diderots hat Cotta kurze Zeit nach dessen Erscheinen – ohne Absprache und zum Missfallen Schellings – im Morgenblatt in deutscher Übersetzung abgedruckt. Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 21. 4. 1813 (Schelling, Schelling und Cotta, 83f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 29. 4. 1813 (a. a. O., 84f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 7. 5. 1813 (a. a. O., 85f.). 147 Vgl. F.W.J. Schelling an K.A. Eschenmayer am 24. 2. 1812 (Plitt II, 288f.); F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 27. 2. 1812 (Plitt II, 295); F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 5. 4. 1812 (Plitt II, 301–303); F.W.J. Schelling an K.A. Eschenmayer am 5. 4. 1812 (Plitt II, 303f.); F.W.J. Schelling an G.H. Schubert am 6. 4. 1812 (Plitt II, 306f.); F.W.J. Schelling an J.C. Pfister am 4. 4. 1812 (Plitt II, 299f.); F.W.J. Schelling an J.C. Pfister am 23. 8. 1812 (Plitt II, 323f.). 148 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 9. 1814 (Schelling, Schelling und Cotta, 90); F.W.J. Schelling an J.D. Gries um 1814 (Plitt II, 343). 149 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 19. 8. 1814 (Schelling, Schelling und Cotta, 87f.). 150 Die feierlichen Reden von Schelling und dem Meteorologen Anselm Ellinger wurden allerdings schon am Vortag des Namenstags, am 11. 10. 1815, gehalten. Vgl. Geschichte der Akademie in den Jahren 1814 und 1815, München 1817, VIII–X. 151 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 8. 8. 1815 (Schelling, Schelling und Cotta, 99); vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 14. 10. 1815 (a. a. O., 111). Aufgrund von Druckverzögerungen erschien die Rede erst nach dem Namenstag des Königs. Vgl. F.W.J. Schelling an J.G. Cotta’sche Buchhandlung am 4. 10. 1815 (a. a. O., 106f.).
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vielmehr gar nicht verstanden worden«. (SW IX, 196 Anm.) Dieser Umstand dürfte sein Übriges dazu beigetragen haben, dass er mit dem Abschluss seines groß angelegten Weltalter-Projekts immer mehr zögerte. Dennoch wollte er dieses aber nach wie vor vollenden, obgleich er im November 1817 an Friedrich Schlegel schreibt, dass er auf die Frage, wann sein Werk erscheinen wird, gar »nicht mehr antworten« sollte.152 Seinem Bruder Karl Eberhard Schelling hingegen schreibt er wenige Monate später, dass er vorhat, »diesen Sommer endlich [s]ein Werk [zu] vollenden«.153 Auch aus diesem Plan ist nichts geworden. Im Januar 1819 teilt er Atterbom mit, dass er »keine große Neigung [hatte] […], an diesem Werk im vorigen Winter und Frühling zu arbeiten«.154 Wiewohl die Weltalter nicht abgeschlossen wurden, hat das Programm von Ueber die Gottheiten von Samothrake, die Mythologie so ernst zu nehmen wie ein Philosophem,155 ein Konzept der Frühschriften, auf sein späteres Schaffen Einfluss gehabt. Die Grundkonzeption hat in die ab Erlangen immer wieder gehaltenen Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie Eingang gefunden, und diese bilden wiederum den Ausgangspunkt seiner positiven Philosophie.156 In seiner Münchner Zeit bis 1820 hat Schelling zu diesem Thema außer der Akademierede keine weiteren Schriften mehr verfasst, was mitunter dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass seine Arbeiten 1816 durch eine weitere Auftragsarbeit unterbrochen werden sollten. Von Kronprinz Ludwig wurde Schelling mit der Herausgabe des Berichts über die »ersteigert[en]«157 Äginetischen Werke betraut.158 Allerdings hat er sich Wagner zuvor als Herausgeber der Beschreibungen angeboten. Diesbezüglich schreibt Schelling am 4. 4. 1816 an Wagner: 152 F.W.J. Schelling an F. Schlegel am 13. 11. 1817 (J. Körner, Aus Friedrich Schlegels Brieftasche. Ungedruckte Briefe, in: Deutsche Rundschau 174 [1918], 104–127, hier: 117f.). 153 F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1818 (Plitt II, 410). 154 F.W.J. Schelling an P.D.A. Atterbom am 29. 1. 1819 (Plitt II, 432). 155 Vgl. SW IX, 196 Anm. 156 Vgl. v. Vf., Freiheit als Prinzip. Schellings absoluter Idealismus der Mitwissenschaft als Antwort auf die metaphysischen und ethischen Problemhorizonte bei Hans Jonas, Vittorio Hösle und Klaus Michael Meyer-Abich, Göttingen 2020, bes. Kap. III.7. 157 Pölnitz, Münchener Kunstkämpfe, 10; ders., Ludwig I. von Bayern und Johann Martin von Wagner; Gollwitzer, Ludwig I., 114; Nerdinger, Friedrich von Gärtner, 10; SW IX, 118. Zum Ankauf der Ägineten vgl. Kronprinz Ludwig an J.M. Wagner am 28. 7. 1812 (König Ludwig I./ J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 223–227); J.M. Wagner an Kronprinz Ludwig am 28. 2. 1813 (a. a. O., 260–262, vgl. Beilage: 263–267). Vgl. des Weiteren Johann Martin Wagners Reisetagebuch der für den Ankauf der Ägineten nach Griechenland unternommenen Reise in: R. Herbig, Johann Martin von Wagners Reise nach Griechenland (1812–1813), in: Würzburger Festgabe für Heinrich Bulle, dargebracht zum 70. Geburtstag am 11. Dezember 1937, hrsg. v. dems., Stuttgart 1938, 1–46. 158 Vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 22. 12. 1816 (Plitt II, 377). Ludwig wusste die Leistung Wagners beim Erwerb der Ägineten sehr zu schätzen, er dankte ihm für sein »rastloses eifriges Bemühen« (Kronprinz Ludwig an J.M. Wagner am 12. 6. 1813 [König Ludwig I./J.M. Wagner, Briefwechsel, T. 1, Bd. 2, 288]).
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»Wären Sie damit einverstanden, so wollte ich Sie bitten, Sr. Königl. Hoheit dieses auf gute Art vorzuschlagen; ich möchte es weder überhaupt noch ohne Sie thun. Sonst fürchte ich, fällt über kurz oder lang die Sache einem unsrer hiesigen norddeutschen Magister in die Hände.«159 Schellings Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, Wagners Bericht »zu überarbeiten und mit Anmerkungen zu begleiten«.160 Während seiner Arbeit an den Kunstgeschichtlichen Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke konnte Schelling die Ägineten nicht im Original sehen, da diese bis 1818 in Rom restauriert wurden.161 Aufgestellt wurden die Äginetischen Werke schließlich im Äginetensaal der Glyptothek.162 Zur feierlichen Eröffnung der Ausstellung wurde Schelling 1828 von König Ludwig I. auf Klenzes Bitte hin eingeladen.163 Klenze war davon überzeugt, dass es Schelling »große Freude« machen würde, an der Feier teilzunehmen, immerhin hat er durch die »Herausgabe der Bekannten Schrift Wagners« so viel zum »Ruf und Ruhm« der Ägineten »beigetragen«.164 Schelling hat Cotta zwar mehrfach während seiner Arbeit an dem Bericht brieflich versichert, dass die im April 1816 mit dem Kronprinzen abgestimmte Fassung165 und im Januar 1817166 vollendeten Kunstgeschichtlichen Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke seine »Hauptarbeit nicht stören«167 würden und ihn ebenso wenig von seinem »Hauptzweck entfremde«,168 dennoch ist es zur Vollendung der Hauptarbeit nicht gekommen. Gustav Leopold Plitts Urteil, dass sich Schelling »nicht wohl mit Mehrerem gleichzeitig […] ernstlich beschäftigen« konnte,169 trifft scheinbar zu, dürfte aber im Wesentlichen den hiesigen Verhältnissen geschuldet gewesen 159 F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 4. 4. 1816 (Plitt II, 370). 160 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 30. 9. 1816 (Schelling, Schelling und Cotta, 126f.); vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 4. 4. 1816 (Plitt II, 368–370); F.W.J. Schelling an K.E. Schelling am 7. 1. 1817 (Plitt II, 381). 161 Vgl. König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 1, Bd. 1, 248 Anm.; a. a. O., 271 Anm. 162 Am Äginetensaal kritisiert Wagner gegenüber Kronprinz Ludwig, dass dieser viel zu klein sei und man »den Antiken zumuthet, nach der Pfeiffe des Baumeisters zu danzen« (J.M. Wagner an Kronprinz Ludwig am 30. 11. 1816 [a. a. O., 253 Anm.]). 163 Vgl. König Ludwig I. an L. Klenze am 6. 7. 1828 (König Ludwig I./L. Klenze, Briefwechsel, T. 2, Bd. 1, 383). 164 L. Klenze an König Ludwig I. am 5. 7. 1828 (a. a. O., 381). 165 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 18. 4. 1816 (Schelling, Schelling und Cotta, 121). 166 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 6. 1. 1817 (a. a. O., 130); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 11. 1. 1817 (a. a. O., 130); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 14. 1. 1817 (a. a. O., 130); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 20. 1. 1817 (a. a. O., 131f.); F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 7. 1. 1817 (Plitt II, 383f.). 167 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 30. 9. 1816 (Schelling, Schelling und Cotta, 126f.); vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 4. 4. 1816 (Plitt II, 368–370); F.W.J. Schelling an K.E. Schelling am 7. 1. 1817 (Plitt II, 381). 168 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 1. 3. 1817 (Schelling, Schelling und Cotta, 134). 169 Plitt II, 94.
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sein. Denn während seiner zweiten Münchner Phase hat Schelling gezeigt, dass er verschiedene Ämter ausfüllen und darüber hinaus seine eigene Philosophie maßgeblich weiterentwickeln kann. Dass die Gründe dafür, dass die Weltalter während seiner ersten Münchner Phase nicht vollendet wurden, darin zu suchen sind, dass Schelling aufgrund der »unglaublich vielen Zerstreuungen in den hiesigen Verhältnisses« das »rein litterarische[] Leben« gefehlt hat,170 mag sein. Jedenfalls klagte er bereits 1814 im Brief an Cotta, er sei »zur Hälfte verloren. Ich wünsche mir sehr einen andern Wirkungskreis, […] den ich mit Begeisterung wieder annähme, wenn sich wo die rechte Gelegenheit dazu fände.«171 Zugegeben, die Münchner Phase von 1806– 1820 war von vielfältigen Streitigkeiten begleitet und von persönlichen Schicksalsschlägen geprägt, in diesen Jahren schenkte Schelling aber auch seiner Frau und seinen Kindern besondere Aufmerksamkeit.172 Schelling suchte zunehmend Distanz zu den hiesigen Zerstreuungen, weswegen er verschiedene Versuche unternommen hat, an eine Universität zu wechseln, dazu ist es aber zunächst nicht gekommen.173 Für die Professur in Tübingen zog er sogar einen »allmähliche[n] und schickliche[n] Uebergang« von der Philosophie in die Theologie in Erwägung.174 Sehr ernst dürfte es ihm mit dem Uebergang nicht gewesen sein, denn seinem Bruder schrieb er dazu, dass dieser gar »nicht [s]eine Absicht war«.175 Auch wenn Schelling an Gotthilf Heinrich Schubert 1815 schrieb, dass er aus seiner Erfahrung heraus raten würde, »einen protestantischen Ort jedem katholischen vorzuziehen«,176 bedeutet das keine Abkehr von Bayerns Süden, sondern ist vielmehr eine energische Abgrenzung gegen den ihm erneut gemachten Vorwurf: er sei »katholisch geworden!!«177 In der bayerischen Residenzstadt war er hochgeschätzt, neben seiner Tätigkeit als Generalsekretär war er nach Jacobis Entlassung in die Neuordnung der Akademie der Wissenschaften eingebunden und wurde zum »Secretär [s]einer Classe« 170 171 172 173 174 175 176 177
F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 9. 10. 1820 (Schelling, Schelling und Cotta, 143). F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 2. 11. 1814 (a. a. O., 93). Vgl. Plitt II, 87–97. Vgl. Tilliette, Schelling, 285–288. Vgl. ebenso F.W.J. Schelling an die Mutter um 1817 (Plitt II, 392f.). F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1816 (Plitt II, 366). F.W.J. Schelling an K.E. Schelling am 7. 11. 1817 (Plitt II, 393). F.W.J. Schelling an G.H. Schubert am 28. 2. 1815 (Plitt II, 354). F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 19. 2. 1815 (Schelling, Schelling und Cotta, 95). Bzgl. Schellings Haltung zu dieser Frage vgl. auch seinen Brief an die Mutter am 22. 2. 1815 (Plitt II, 352). Es finden sich mehrere öffentliche Widerrufe der Behauptung, dass Schelling katholisch geworden sei. Vgl. z. B. Allgemeine Zeitung. Mit allerhöchsten Privilegien, Nr. 60, 1. 3. 1815, 239; Berlinische Nachrichten. Von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 28, 7. 3. 1815, o. S. Zu dem Schelling schon früher gemachten Katholizismus-Vorwurf, der in das Jahr 1803 zurückreicht, vgl. H. Fuhrmans (Hrsg.), Briefe und Dokumente, Bd. 3, Bonn 1975, 59 Anm., 509 Anm. Vgl. ebenso F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 4. 3. 1804 (Plitt II, 12).
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ernannt.178 Seinem Bruder beschreibt er sein Naheverhältnis zu Bayern eingängig. Er hat »ein Gefühl von Rechtlichkeit in Bezug auf die bayrische Regierung. – Subalterne haben mich im Anfang illiberal und unsittlich behandelt, aber ich habe mich doch von der Wohlmeinung der Regierung immer überzeugt, und die ersten Männer des Staats, in deren Händen, Gott sei Dank, seit einer Reihe von Jahren mein Schicksal gelegen, haben mir nie etwas Unwürdiges zugemuthet noch mich anders als mit Liberalität und nobler Denkart behandelt.«
Die Beziehung zu Bayern will er, wie er fortfährt, nicht »[l]eichtsinnig abbrechen und abtrünnig werden möchte ich grade in den gegenwärtigen Zeiten am wenigsten, wo jeder Ehren-Mann, denke ich, auch in Verhältnissen zu Regierungen Charakter zeigen muß«.179 Es dürfte gerade diese Haltung gewesen sein, die Schelling in München viel Anerkennung einbrachte, denn anders als viele seiner neuberufenen Kollegen stand er – gemäß dem Grundsatz Montgelas’ – zu seiner Regierung, die sich wirklich um ihr Glück bemüht. Sein Entschluss an eine Universität zu wechseln, gründet im Wesentlichen auf der Hoffnung, sich durch »Vorlesungen nützlich« machen zu können.180 Er hoffte darauf, dass die Landshuter Universität, zu deren Verfall es nach dem Sturz des Minister Montgelas gekommen ist,181 nach München verlegt wird. Die Verlegung sei ihm »auch darum erwünscht […], weil diese Versetzung mir Gelegenheit zu nützlicherem Wirken auch als Lehrer wieder geben würde, ohne mich zu Aufhebung meiner übrigen, in so manchem andren Betracht vortheilhaften und angenehmen Verhältnisse zu nöthigen«.182 Dass er sich 1820 »doch entschließen konnte, Bayern oder überhaupt das südliche Deutschland zu verlassen« und bei König Maximilian I. um Versetzung an die Universität Erlangen bat, begründet er gegenüber Friedrich Creuzer mit seinem Gesundheitszustand, dessen Verbesserung er sich durch das mildere Klima in Franken erhoffte, sowie, und das dürfte der gewichtigere Punkt sein, den »unschätzbaren Vortheilen eines durchaus freiwilligen Lehramtes jene ungestörte Muße genießen, die ich unter den – nicht bedeutenden aber doch zeitraubenden – Geschäften meiner hiesigen Aemter, den unvermeidlichen Zerstreuungen einer ge-
178 F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1818 (Plitt II, 410). Vgl. Heydenreuter, Bayerische Akademie, 279. 179 F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1816 (Plitt II, 366f.). 180 F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1820 (Plitt II, 444); vgl. F.W.J. Schelling an K.E. Schelling um 1820 (Plitt II, 444f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 9. 10. 1820 (Schelling, Schelling und Cotta, 143). 181 Vgl. Weis, Wissenschaften in Bayern, 600f. 182 F.W.J. Schelling an P.D.A. Atterbom am 29. 1. 1819 (Plitt II, 432). Vgl. Weis, Wissenschaften in Bayern, 609.
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räuschvollen Hauptstadt und dem Zeitverlust, den das Herbeiströmen von Fremden verursacht, oft schmerzlich vermißte.«183
Tatsächlich hat Schelling in Erlangen und danach keine größere philosophische Arbeit mehr publiziert. Horst Fuhrmans Einschätzung, dass dieser nach 1820 »der Gefangene seines Ruhmes geworden« ist,184 mag angesichts des nicht vollendeten Weltalter-Projekts einsichtig erscheinen, allerdings ist nicht zu verkennen, dass er nach seiner Rückkehr an die Isar, an die neugegründete LudwigMaximilians-Universität, jene Vorlesungen gehalten hat, die sein fulminantes Spätwerk begründen. Nach dem Regierungsantritt König Ludwigs I. von Bayern (1825) gab es einen grundlegenden Wandel im akademischen Umfeld Bayerns. Mit dem Umzug der Universität von Landshut nach München wurden zahlreiche Professoren »nicht mehr berufen«, darunter Schellings Kontrahenten Jakob Salat oder Kajetan Weiller. Einen besonderen Fokus legte man auf das Fach Philosophie, und dieses sollte Schelling ausfüllen.185 Dem Ruf des inzwischen König gewordenen Ludwig I. ist Schelling gerne nachgekommen, weil sich, wie er seinen Bruder wissen ließ, in München »durch die Regierungsveränderung so vieles Andere zum Vortheil verändert, so viele schlechte Subjecte sind entfernt, andre hat der Tod weggenommen, daß es fast ganz neue Verhältnisse sind, in die ich eintrete«. In der Residenzstadt fand er nun jenes geistige Klima, welches er für die Arbeiten an seinem Spätwerk benötigte, der klimatische Unterschied Münchens zu Franken schien ihm dagegen »nicht mehr so bedeutend«.186 In seiner Ersten Vorlesung an der Münchner Universität bedauerte es Schelling, dass er »im eigentlichen Bayern […] nie gelehrt« hatte und »zu früh verstummt« sei. Daher möchte er jetzt der bayerischen Jugend, in der, wie bereits 1807 beschworen,187 für »Wissenschaft und Kunst so anziehenden und in Deutschland einzigen Stadt«, zum »Führer auf dem Weg höherer Forschung und allgemeinbildender Wissenschaft« werden. (SW IX, 355) In den folgenden Jahren wird er in München sein philosophisches Spätwerk ausarbeiten und öffentlich vortragen. Glaubt man seinen eigenen Worten, gehen dessen Grundlagen auf die erste Münchner Phase zurück. Nicht erst mit den Mysterien in den Gottheiten von Samothrake ist das Programm der Spätphilosophie konzeptionell eröffnet worden,188 die »neue[] Epoche der Entwicklung [s]eines Systems« wurde bereits mit
183 F.W.J. Schelling an F. Creuzer am 11. 10. 1820 (Plitt II, 445f.). 184 H. Fuhrmans, Einführung, in: F.W.J. Schelling, Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, hrsg. v. H. Fuhrmans/L. Lohrer, Stuttgart 1965, 253–281, hier: 277. 185 Spindler, Regierungszeit Ludwigs I., 123; vgl. a. a. O., 121–128. 186 F.W.J. Schelling an K.E. Schelling am 6. 6. 1827 (Plitt III, 24f.). 187 Vgl. Rar, 281. 188 Vgl. SW XIII, 462f.
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der 1812 gegen Jacobi verfassten Denkmalschrift eingeleitet.189 In der Münchner Urfassung der Philosophie der Offenbarung wurde systematisch auf ideeller Seite entfaltet, was im Frühwerk auf reeller dargetan,190 nur wurde diese Seite bloß vorgetragen und nicht schriftlich fixiert. Daher lässt sich mit Hegels Urteil, das eigentlich Schellings früheres Schaffen beschreiben soll, besonders gut die Darstellung seiner Spätphilosophie charakterisieren, nämlich dass er »seine philosophische Ausbildung vor dem Publikum gemacht« hat.191 Schelling mag seine Spätphilosophie nicht auf Papier verewigt haben, dennoch war er in Bayern keineswegs Gefangener seines Ruhmes, immerhin war es der vom Kronprinzen und vom späteren König Ludwig I. geschaffene geistige Nährboden, der ihm schließlich den Raum für die öffentliche Darstellung seiner Philosophie der Offenbarung, seiner wahrhaften Philosophie der Freiheit, verschafft hat.
189 F.W.J. Schelling an J.G. Cotta am 10. 2. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 66). Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung. 1841/42. Nachschrift H.E.G. Paulus, hrsg. v. M. Frank, Frankurt a.M. 1993, 138. 190 Vgl. v. Vf., Freiheit als Prinzip, Kap. III. 191 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders., Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, hrsg. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 20, hier: 421.
Sebastian Engelmann
Die pädagogische Funktion der Antike bei Friedrich W. Thiersch. Oder: Das Klassische als das Exemplarische
Der wohl einseitigste Schulplan des 19. Jahrhunderts, Schulreformen in Bayern, der Neuhumanismus, Gymnasialpädagogik, die ungebrochene Wertschätzung der Antike und eine Fixierung auf Methoden statt bildungstheoretischer Grundlegung – nicht zu vergessen eine gewisse Nähe zu Johann Friedrich Herbart: All das sind Stichworte, die in der übersichtlichen und zugleich detailreichen wissenschaftlichen Diskussion um Leben und Werk von Friedrich Thiersch fallen. Weder sein bildungspolitisches noch sein didaktisches Werk werden in der Erziehungswissenschaft heute noch beachtet – was nicht verwundert, denn oft genug werden diejenigen vergessen, welche nur punktuell wirksam geworden sind.1 Das Einschreiben in die Geschichte der Pädagogik erfolgt über die Erzeugung von Anschlussfähigkeit, Relevanzsetzungen, Schulbildung oder hagiografische Verklärungen samt der Zuschreibung einer »Aura des Zeitlosen«,2 die in den seltensten Fällen so zeitlos ist, wie sie erscheinen mag. Das disziplinäre Gedächtnis ist strukturiert durch Erfolgsgeschichten, ein gewisses Maß an Moralisierung, einen klaren nationalstaatlichen Fokus und eine Tendenz zur Bildung von Epochen.3 Im Werk von Friedrich Thiersch fallen sowohl Zeitloses als auch sehr konkret zeitlich Bedingtes zusammen: Seine pädagogischen Bemühungen beziehen ihre systematische Strahlkraft aus der axiomatisch gesetzten Normativität der Antike. Sie sind zugleich aber auch in einen konkreten zeithistorischen Zusammenhang eingeordnet, der in der pädagogischen Diskussion unter den eingangs genannten 1 Vgl. v. Vf., Alles wie gehabt? Zur Konstruktion von Klassikern und Geschichte(n) der Pädagogik, in: Erinnern – Umschreiben – Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis, hrsg. v. M. Rieger-Ladich/A. Rohstock/K. Amos, Weilerswist 2019, 65–93. 2 H. Scheuerl, Was ist ein pa¨dagogischer Klassiker?, in: Zeitschrift fu¨r Pa¨dagogik 41 (1995), 155– 160, hier: 155. 3 Vgl. D. Tröhler, Vergessene Traditionen in der Pädagogik – Zur »Erfolgsgeschichte« der pädagogischen Historiographie, in: Erfolg oder Misserfolg? Urteile und Bilanzen in der Historiografie der Erziehung, hrsg. v. M. Liedtke/E. Matthes/G. Miller-Kipp, Bad Heilbrunn 2004, 213– 230.
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Stichworten verhandelt wird. Somit entzieht sich Thiersch der klaren Zuordnung. Es fällt schwer, eine ungebrochene Erfolgsgeschichte seines bildungspolitischen und pädagogischen Wirkens zu erzählen. Denn kohärent, bruchlos und der Kritik nicht würdig, das ist die Position von Thiersch im Kontext von sowohl Theorie- als auch Sozialgeschichte keineswegs. In diesem Beitrag werde ich die Frage beantworten, auf welche Art die Bedeutung der Antike von Friedrich Thiersch in pädagogische Methode überführt wird. Ich wende mich folglich nur einem kleinen Aspekt des Werkes Thierschs zu, der dennoch Weichenstellungen für die Interpretation vornimmt. Die These, die meinen Beitrag leitet, ist, dass die unbedingte Wertschätzung des Altphilologen Thiersch für die Antike in pädagogischer Umsetzung in der Praxis zu einer in der Geschichte der Pädagogik wiederkehrenden Figur der Einschränkung führt. Einschränkung meint hier die Engführung auf einen privilegierten Gegenstand einer allgemeinen Bildung, eine normative Schließung, die letztlich immer wieder von öffnenden Bewegungen konterkariert wird. Anhand des ›Falls Thiersch‹ wird das Schwanken der Pädagogik zwischen dem Allgemeinen und dem Speziellen deutlich, das sie seit ihrer Begründung als wissenschaftliche Disziplin wellenförmig durchzieht. Bereits im 19. Jahrhundert wird deutlich, dass es sich bei der Pädagogik keineswegs um ein entrücktes, ja gar von gesellschaftlichen Umständen losgelöstes Projekt handelt, sondern um einen stetigen Kampf der Deutungen. Dies lässt sich sowohl anhand der Titel von Publikationen zu Thiersch wie Bierles Der Kampf um Fr. Thierschs Lehrplan vom 8. 2. 1829 von 1923 oder auch an aktuellen Überlegungen zur Begründung pädagogischer Ordnungen ausweisen.4 Um diese allgemeine These anhand des speziellen Beispiels zu plausibilisieren werde ich in einem ersten Schritt den pädagogischen Kontext einführen, in den sich das Wirken Thierschs einordnen lässt. Denn nicht zuletzt die in Schulen stattfindende Praxis übersetzte die oft abstrakten Überlegungen – vermittelt durch Regularien wie Lehrpläne oder auch Gesetzestexte – in Handlungsanweisungen, die in diesem Fall eng mit dem Stichwort Neuhumanismus verbunden sind. In einem zweiten Schritt werde ich mich der Position von Friedrich Thiersch in ebendiesem Netzwerk des pädagogischen Denkens zuwenden und auch die Zeitgenossen zu Wort kommen lassen. Bevor in diesem Teil Thiersch allerdings in den Mittelpunkt gerückt wird, wird Friedrich Immanuel Niethammer berücksichtigt. Niethammers Text Der Streit des Philantropismus und Humanismus aus dem Jahr 1808 muss als Wegmarke für Thierschs Entwürfe eines neuhumanistischen Lehrplans verstanden werden. Den Abschluss des Textes bildet eine Zusammenfassung und konzise Bestimmung weiterer For4 Vgl. v. Vf., (No) Future! Pädagogik, Postpolitik und Populismus, in: System Schule auf dem Prüfstand, hrsg. v. R. Koerrenz/N. Berkemeyer, Weinheim/Basel 2020, 184–201.
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schungslinien. Freilich muss angemerkt werden, dass bereits zahlreiche Forscher sich dem Themenkomplex Thiersch zugewandt haben.5 Neu ist an diesem Text die Fokussierung auf die pädagogische Funktion der Antike, die erneute Kontextualisierung und letztlich die bildungsphilosophische Pointe, welche Thiersch und Schelling als Brüder im Geiste – zumindest was die Oberflächenstruktur ihrer Bildungsvorstellungen betrifft – ausweisen wird.
1.
Literarische Erziehung, Neuhumanismus und die Wertschätzung der Antike – Stichworte
Bevor der Beitrag aber die angekündigten Stationen diskutiert gilt es, einige methodische Vorbemerkungen zu machen. Das Werk von Friedrich Thiersch – das hier als Spezielles für ein Allgemeines steht – wird aus der Perspektive einer Allgemeinen Pädagogik interpretiert. Diese »beschäftigt sich mit der Reflexion von grundlagentheoretischen Fragestellungen, erschließt Wissen anderer Disziplinen und vermittelt dieses auch innerhalb der eigenen Disziplin […]. Sie wendet sich dabei insbesondere den Grundbegriffen der Disziplin zu – immer darauf bedacht, die historische und kulturelle Verortung von Wissensbeständen zu berücksichtigen und damit zur Komplexitätssteigerung pädagogischen Denkens und Handelns beizutragen.«6
Das Sprechen, Schreiben und Streiten über die Zielsetzungen und die Ausgestaltung von Bildungs- und Erziehungssystemen ist dabei als zeitloses Problem zu verstehen, dass sich kontextspezifisch manifestiert. Der Kontext, der Rahmen muss hier dementsprechend skizziert werden, um das Werk von Thiersch dann als auf mannigfache Art mit diesem verbunden und durch diesen bedingt ausweisen zu können. Dabei hat ein solcher Blick auf die Geschichte der Pädagogik zwei Probleme, die Jürgen Oelkers klar herausgearbeitet hat: die Geschichte und die Pädagogik.7 Jedwede Historisierung pädagogischen Denkens verkennt und verfehlt die verschiedenen Zugänge, Vorbedingungen und die Komplexität ihres 5 Aus pädagogischer Perspektive ist insbesondere die Arbeit von Elmar Schwinger hervorzuheben, aus historiographischer Perspektive die Arbeit von Hans-Martin Kirchner – beide werden Berücksichtigung finden. Dennoch ist auch dieser Text teilweise im Modus der Wiederholung verfasst, sammelt Ideen und Fragmente neu, sortiert sie, steht auf den Schultern der sprichwörtlichen Riesen und versucht, die Diskussion um Bildungsreform und Thiersch erneut ins Gedächtnis zu rufen – denn die Probleme sind auch heute die Gleichen, auch wenn sie in einem völlig anderen Kontext stehen. 6 Vgl. Vf., Brennpunkt Bildungsreform – Die Perspektive einer Allgemeinen Erziehungswissenschaft, in: Schulreform gestern, heute, morgen. Zugänge, Gegenstände und Trends, hrsg. v. W. Bos/N. Berkemeyer/B. Hermstein, Weinheim/Basel 2019, 607–617, hier: 608. 7 Vgl. J. Oelkers, Die Geschichte der Pädagogik und ihre Probleme, in: Zeitschrift für Pädagogik 44 (1999), 461–483, bes. 461.
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Gegenstandes. Es gibt also immer weiteren Forschungsbedarf – und auch diese erste Einlassung, anschließend an einen geschichtswissenschaftlichen und weniger pädagogischen Forschungsstand, muss erneut hinterfragt und wiederholt perspektiviert werden. In diesem Beitrag sind es die Literarische Erziehung, der Neuhumanismus und die pädagogische Wertschätzung der Antike, die als Bedeutungschiffren berücksichtigt werden sollen, um Thiersch als Pädagogen zu verstehen.8 Literarische Erziehung ist ein bestenfalls noch aus der eigenen Schulzeit bekanntes Konzept. Auf den ersten Blick bedeutet es nicht viel anderes als die Erziehung – verstanden als intentionale Beeinflussung der Verhältnisse eines Menschen zur Welt9 – durch mediale Einflussnahme. In diesem besonderen Fall wird ein Buch als Medium der Erziehung verwendet. Dass Bücher als Medien der Erziehung ab der Verfügbarkeit von gedruckten Exemplaren verwendet wurden, ist klar. Dass ihnen selbst aus erziehungstheoretischer Perspektive die Möglichkeit der Erziehung zukommt, wurde ebenfalls erziehungstheoretisch herausgearbeitet.10 Der Literarischen Erziehung kommt in der Schule eine besondere Funktion zu. Sie dient sowohl der »Spracherziehung, insbesondere des eigen- und fremdsprachlichen Unterrichtes, und zwar sowohl als Belehrung und Bildung durch Literatur als auch zu ihr«.11 Systematisch ist die Literarische Erziehung sowohl eine Erziehung zur Auseinandersetzung mit Literatur als auch eine Erziehung durch Literatur. Die Spracherziehung ist der Literarischen Erziehung notwendigerweise beigeordnet. Heutzutage wird die Literarische Erziehung, die selbst nur selten mit diesem Kompositum bedacht wird, oft auf sie reduziert, wenn Lyrik beispielsweise nicht mehr Teil des Unterrichts ist und so das poetische Prinzip der Sprache ausgeblendet wird: »In den Gedichten spielt die Sprache. Aus diesem Grund lesen wir heute kaum noch Gedichte. Gedichte sind magische Zeremonien der Sprache. Das poetische Prinzip gibt der Sprache den Genuss zurück, indem es radikal mit der Ökonomie der Sinnproduktion bricht.«12 Die Aufgabe der Literarischen Erziehung ist jedoch allumfassender, sie ist mehr als Spracherziehung. Sie soll insbesondere einen Zugang zu einem »Teilbereich der
8 Teile dieses Kapitels stützen sich auf meinen Text A.H. Niemeyers pädagogischer Blick auf die Pädagogik des 18. Jahrhundert – Heterogenität, Normativität, Differenz, in: Reformpädagogik als Projekt der Moderne. August Hermann Niemeyer und das pädagogische 18. Jahrhundert. Ein Studienbuch, hrsg. v. R. Koerrenz, Paderborn 2019, 49–72. 9 Vgl. K. Kenklies, Do¯gen’s Time and the Flow of Otiosity – Exiting the Educational Rat Race, in: Journal for Philosophy of Education 54.3 (2020), 617–630. 10 Vgl. U. Sauerbrey, Das Buch als pa¨dagogisches Medium a¨sthetischer Empfindung? Versuche zu einer erziehungstheoretischen Analyse, in: Pa¨dagogik im Verborgenen. Bildung und Erziehung in der a¨sthetischen Gegenwart, hrsg. v. C. Bach, Wiesbaden 2019, 45–61. 11 W. Böhm/S. Seichter, Wörterbuch der Pädagogik, Paderborn 2018, 313. 12 B.-C. Han, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 2020, 75.
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Kultur, speziell des Schönen«13 ermöglichen. Die Annahme ist, dass durch eine Auseinandersetzung mit dem Schönen – was freilich eine Theorie der ästhetischen Wahrnehmung voraussetzt – bildende Erfahrungen ermöglicht werden. Die Literarische Erziehung »wird so zu einer wichtigen Instanz für die Vermittlung von Werten, Normen und Lebensweistümern.«14 Insbesondere im pädagogischen Humanismus wurde diese Form der Erziehung gepflegt, die auf allgemeinen Vorstellungen des Menschen basiert. Humanitas meinte in der römischen Antike die höchstmögliche Entfaltung der menschlichen Kräfte, ein auch in der Aufklärung wirkmächtig werdendes Menschenbild, das von der prinzipiellen Möglichkeit einer Verbesserung des Menschen ausgeht. Verbunden wurde diese Entfaltung mit einer bestimmten moralischen Haltung den Mitmenschen gegenüber – angetrieben von einem Lob der Individualität. Diese Motive wurden in der Renaissance aufgegriffen und in den neuerlichen Rezeptionsprozessen im 18. Jahrhundert modifiziert: »Der deutsche Neuhumanismus Ende des 18. und Anfang des 19. Jhs. säkularisierte die ursprünglich christliche Grundtendenz des Renaissance-Humanismus und artikulierte eine weltimmanente Bildungstheorie, die in der Freiheit der Individualität gipfelte: Frei von theologischen und sozialen Zwängen löst sich der Mensch im freien Spiel seiner Kräfte aus vorgegebenen Bindungen und gestaltet sich zur harmonischen Idealität.«15
Mit dieser kurzen Einleitung ist die Varianz der folgenden Verständnisse von Humanismus aber noch nicht geklärt. Denn im Begriffsverständnis von Humanismus selbst lassen sich unterschiedliche Facetten ausmachen. Herwig Blankertz versteht den Humanismus erstens als »Ru¨ ckwendung der nachantiken Welt auf die als beispielhaft empfundene Norm vollendeten Menschentums in der Antike«.16 Deutlich wird bereits hier, dass die Antike als Vorbild verstanden wird, an dem formelhafte Werte, Normen und das Gute Leben nachvollzogen werden können. Zweitens versteht Blankertz unter Humanismus eine in der Renaissance ansetzende konkrete Bewegung von Gelehrten. Unter Schul-Humanismus versteht Blankertz drittens eine Kennzeichnung fu¨ r die Programme der Lateinschulen vom 16. bis 18. Jahrhundert und deren Ziel einer »humanistische[n] Weisheit und Beredsamkeit im Dienste konfessionell gebundener Frömmigkeit«.17 Hiervon wiederum abgegrenzt versteht Blankertz unter Neuhumanismus »die Erneuerung des Humanismus von der Mitte des 18. Jahrhunderts an«.18
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Böhm/Seichter, Wörterbuch, 313. Ebd. A. a. O., 223. H. Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Münster 1982, 94. 17 Blankertz, Geschichte der Pädagogik, 95. 18 Ebd.
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Systematischer Kerngehalt bleibt ein positives Menschenbild sowie die Wertschätzung der Antike, insbesondere ihrer Literatur und Kunst, als privilegierter Bildungsgegenstand, die eine auch materiale Bildungstheorie begründet. Formale Bildungstheorien – wie (trotz einiger Diskussionspunkte) die ebenfalls von Griechenbegeisterung getragenen Fragmente einer Theorie der Bildung von Wilhelm von Humboldt – nehmen ihren Ausgang im Subjekt und beschreiben den formalen Prozess der Bildung. Materiale Bildungstheorien bestimmen Bildung vom Objekt ausgehend. Gerade dort, wo die Lektüre von Klassikern griechischer Sprache als privilegierte Bildungsgu¨ ter von den Humanisten zur Erinnerung an die exemplaria graeca empfohlen wurde, wirken sie nach. Aber diese Vorstellung einer absoluten Wertschätzung der Antike und einer kontemplativen Versenkung in das Alte, Schöne und Gute blieb nicht unwidersprochen. Dadurch, dass insbesondere Humanisten das Prinzip der Gelehrsamkeit vertraten, d. h. ein genaues Studium als gutes erzieherisches Handeln auswiesen, traten sie gegenläufigen Bewegungen entgegen, die das Lernen vornehmlich an die Lebenswelt der Schüler anpassen und dadurch erleichtern wollten. In der Regel wird, wenn von Humanismus in pädagogischen Diskussionen gesprochen wird, zwischen drei Phasen unterschieden: Eine erste Phase des fru¨ hen Humanismus vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, ein gesamteuropäischer Humanismus beginnend im 15. bis in das 16. Jahrhundert und eine Phase des Neuhumanismus – gerade auch in Deutschland – im 18. und fru¨ hen 19. Jahrhundert. In diesem Beitrag interessiert insbesondere die letzte Phase, wobei eine Betrachtung der sich wandelnden Motive über den gesamten Zeitraum ebenfalls von Interesse ist. Ohne genauer ins Detail zu gehen, ist der Humanismus in all seiner Varianz relevanter Bezugspunkt, in verschiedenen Geschichten der Pädagogik, wobei er nach Ansichten einiger »eher eine literarische Strömung«19 bleibt. Wie viele andere Bewegungen einer sich radikal wandelnden Zeit, die gesellschaftliche Ordnungen fraglich werden ließ, verstanden sich die Humanist*innen »mit nicht geringem Selbst- und Sendungsbewußtsein […] als die Anwälte einer neuen Bildung gegenu¨ ber […] einer erstarrten Tradition«.20 Durch das Studium des Menschlichen, das sich maßgeblich in der oben skizzierten Wertschätzung der antiken griechischen und römische Schriften Bahn bricht, sollte »schon auf der weltlichen Ebene […] die Gelehrsamkeit sich mit Fragen der Moral, des Charakters, der Lebensfu¨ hrung und des Stils befassen, mit Poesie und Rhetorik auch die seit der Antike vernachlässigten ästhetischen Fragen in ihren Lehrbetrieb einbeziehen«.21 19 H. Scheuerl, Geschichte der Erziehung: Ein Grundriß, Stuttgart 1985, 58. 20 Scheuerl, Geschichte der Erziehung, 59. 21 Ebd.
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Und dies verweist erneut auf die oben bereits erwähnte Grundkonstante humanistischen Denkens: »Der Humanismus unterstellte einen Zusammenhang zwischen vollendetem Menschentum und dessen Vergegenwärtigung u¨ ber die in bezug [sic!] auf eben dieses Menschentum als klassisch definierte Literatur.«22
Diese normative Unterstellung ermöglichte es, Unterricht und pädagogische Praxis zu orientieren, sie gar vollkommen aus diesem Prinzip abzuleiten. Dementsprechend fanden die hiervon abgeleiteten pädagogisches Konzepte viele Anhänger, die in dieser Art des Lernens und der Bildung eine Möglichkeit des Umgangs mit den sich rapide verändernden gesellschaftlichen Bedingungen sahen. Verinnerlichung und Persönlichkeitsbildung waren vermeintlich vorbildhaft in der humanistischen Bildung verankert, was auch mit einer Entpolitisierung einherging. »Das Politisch-Nationale am Humanismus tritt hier zuru¨ ck, was einer Verinnerlichung und Persönlichkeitsbildung zugutekommt.«23 In dieser Wendung nach Innen entwickelte sich eine besondere Spielart des deutschen Fru¨ hhumanismus. Dieser »entwarf ein umfassendes Programm der gelehrten humanistischen Bildung durch Schulen und Universitäten. Während die Humanisten in Italien meist als Hoferzieher und Hofliteraten wirkten, waren sie in Deutschland mehr Schulreformer. Sie vertreten das allgemeine Bildungsideal der Renaissance, wandeln es aber etwas ins SchulmäßigGelehrte ab. Ihr Bildungsziel ist die freie, selbstbewußte, an der reinen Sprache und Poesie der Antike geläuterte und zur Eloquenz erzogene Persönlichkeit«.24
Noch spezifischer wurde dies im sogenannten Schul-Humanismus und philologischen Neuhumanismus ausbuchstabiert. Der philologische Neuhumanismus hatte das übergeordnete Anliegen, »das Studium der alten Sprachen an der Universität und den Lateinschulen zu modernisieren, und reiht sich ein in den allgemeinen Kampf des 17. und 18. Jahrhunderts gegen den Verbalismus«.25 Verbalismus meint »die beständige Gefahr, in Schule, Unterricht und Erziehung statt der Gegenstände selbst und statt der Selbsttätigkeit des Schu¨ lers die rein sprachliche Vermittlung dominieren zu lassen«.26 Denn die ursprünglich im Fru¨ hhumanismus angelegte Strategie zum Umgang mit Offenheit war nicht konsequent tradiert worden. Sie hatte sich aufgrund einer formalistischen Verkürzung auf die ich später zurückkommen werde maßgeblich gewandelt:
22 23 24 25 26
Blankertz, Geschichte der Pädagogik, 19. A. Reble, Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1967, 63. Reble, Geschichte der Pädagogik, 70f. A. a. O., 170. Böhm/Seichter, Wörterbuch, 489.
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»[Der, S.E.] Schulhumanismus hat seine Funktion, Mittel zur Erschließung des [altsprachlichen, S.E.] Bibelwortes zu sein, bereits im 17. Jahrhundert weitgehend, vollends aber im 18. Jahrhundert eingebu¨ ßt. Dieser Funktionsverlust war in dem Maße fortgeschritten, in dem der Humanismus in den Schulen formalistisch erstarrte.«27
Statt einer Betonung der sprachlichen Vermittlung und dem formalisierten Vorgehen sollten die Quellen wieder in den Mittelpunkt gerückt werden, um so ihre angenommene erzieherische und bildende Wirkung zu entfalten. Dieses grundsätzlich positiv klingende Bestreben war aber aufgrund der formalistischen Verkürzung durch den Schul-Humanismus nicht mehr in allen Fällen realisierbar – statt der angestrebten Auseinandersetzung mit den Quellen hatte sich eine stupide Rekapitulation der klassischen Texte eingestellt, die »sich im Schulbetrieb aus dem alten Humanismus heraus entwickelt hatte«.28 Freilich gab es hierzu Gegenbewegungen. Statt einer absoluten Betonung des Studiums der Grammatik sollten die Kinder und Jugendlichen – so eine gemäßigtere neuhumanistische Position – an den Texten »nicht in erster Linie grammatische und rhetorische Akrobatik lernen, sondern ihre Urteilskraft, ihr Geschmack und ihr sittlicher Charakter sollten sich aus dem antiken Geist, aus der klassischen Welt und ihrem Menschentum heraus bilden [sic!]«.29
Spätestens in den zwei bekannten Schriften Wilhelm von Humboldts Theorie der Bildung des Menschen – die ihren Titel nicht von Humboldt, sondern vom Herausgeber der Akademie-Ausgabe erhalten hat – und Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten werden neuhumanistische Bildungsideen formuliert, die bis heute nachhallen. Festzuhalten bleibt: »Humanisten im ausgehenden Mittelalter maßen der griechisch-römischen Antike einen besonderen Wert zu, und das wurde im 19. Jahrhundert im Neuhumanismus wieder aufgegriffen.«30 Es geht also um Literarische Erziehung im oben entwickelten Sinne, um eine angenommene allgemeine formale Bildungstheorie bei zeitgleicher Fokussierung auf materiale Elemente und Unterricht am antiken Beispiel, auf das im Folgenden eingegangen werden soll. Denn die Wertschätzung der Antike war nicht einzig und allein bei den Humanisten präsent. Der Zeitgenosse August Herrmann Niemeyer, wohl der relevanteste pädagogische Zeitbeobachter des 18. Jahrhunderts, weist für die humanistische Pädagogik in seiner Charakteristik der Pädagogik ebenfalls die Hochschätzung des Studiums der alten Sprachen aus. Bereits durch ein Eintauchen in diese – so Niemeyers Deutung – könne Bildung stattfinden. Hierbei 27 28 29 30
Blankertz, Geschichte der Pädagogik, 91. Reble, Geschichte der Pädagogik, 170. Ebd. R. Koerrenz/H. Kauhaus/K. Kenklies/M. Schwarzkopf, Geschichte der Pädagogik, Paderborn 2017, 178.
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handelt es sich um ein Bild, das später bei Johann Friedrich Herbart prominent platziert erneut aufgerufen werden sollte. Herbart gehört neben Schleiermacher zur Gründungsgeneration der wissenschaftlichen Pädagogik. Für den 1809 auf den ehemaligen Lehrstuhl Immanuel Kants gerufenen Pädagogen ist die »gegenüberstehende (objektive) Welt grundsätzlich erkennbar; unser Verstand hat die in ihr vorgegebenen Gesetze zu erkennen, nicht sie zu erfinden«.31 Moralität ist für Herbart das oberste Ziel aller Erziehung. In seinem bekannten Text Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung von 1804 entwickelt Herbart eine Theorie der ästhetischen Notwendigkeit: »Wenn das Kind – oder allgemein der Mensch – lernt, die Welt und einzelne Situationen richtig wahrzunehmen, dann offenbart sich ihm darin mit ›ästhetischer Notwendigkeit‹, was gut und was richtig ist. Darin wird er so direkt tief im Innern angesprochen, dass dieses Gute und Richtige ihn überzeigt und er es nicht nur weiß, sondern auch – quasi aus eigenem Urteil – will.«32
Und diese ästhetische Notwendigkeit wird insbesondere an der Lektüre griechischer Schriften empfunden, denen Herbart eine in der Kulturentwicklung zentrale Stellung zuschreibt: »Aber die Zeitreihe der Geschichte endigt sich in die Gegenwart, und in den Anfa¨ ngen unsrer Kultur, bei den Griechen, ist durch-klassische Darstellungen eines idealischen Knabenalters durch die Homerischen Gedichte ein lichter Punkt fu¨ r die gesamte Nachwelt fixiert worden.«33
Weiter noch macht Herbart deutlich, dass im Unterricht der griechischen Sprache der Vorzug gegeben werden sollte, um das oben genannte Ziel der Moralität zu erreichen. Herbart orientiert sich am Modell der griechischen Helden, »an dem nachfolgende Generationen ein bestimmtes Verständnis von idealem Erwachsensein erlernen konnten«.34 Die an diesem Stoff durchgeführte, taktvolle ästhetische Darstellung der Welt, so Herbart, sei das eigentliche Hauptgeschäft der Erziehung. Einher geht dies unweigerlich mit einer Hochschätzung der Antike und ihrer klassischen Texte. Beim Studium klassischer Texte ging es jedoch auch für Herbart im Unterricht weniger darum, eine Sprache aktiv zu sprechen, sondern darum, sie zunächst in ihrer grammatikalischen Struktur zu durchdringen, durch das formelhafte das Ideal kennenzulernen und die ästhetische Notwendigkeit zu erkennen. Die Realien, die Sachkenntnisse in verschiedensten Fächern, darunter auch die Neuen Sprachen, wurden nicht ge31 Böhm/Seichter, Wörterbuch, 213. 32 Koerrenz/Kauhaus/Kenklies/Schwarzkopf, Geschichte der Pädagogik, 172. 33 J.F. Herbart, Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung, in: Johann Friedrich Herbart. Pädagogische Schriften, hrsg. v. W. Asmus, Stuttgart 1982, 105–121, hier: 117. 34 Koerrenz/Kauhaus/Kenklies/Schwarzkopf, Geschichte der Pädagogik, 21f..
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nerell abgelehnt, stehen aber einer gründlichen Auseinandersetzung mit den alten Sprachen regelrecht im Wege. Allerdings weist schon Niemeyer darauf hin, dass diese strikte Auslegung einiger Humanisten durch gemäßigtere Positionen gebrochen wurde. Aktive Übungen können zum Studium der Grammatik hinzutreten, auch aktuellere Schriftstücke können gelesen werden, um einen Zugang zur Sprache zu ermöglichen. Aber auch dieser gemäßigte Zugang zeichnet sich durch eine Wertschätzung der ›Alten‹ aus – trotz aller Gemeinsamkeiten erscheint die historische Realität zu diesem Zeitpunkt also diffuser als gedacht; ein genauerer Blick in die Archive würde Differenzen und Gemeinsamkeiten, Weiterentwicklungen und Verwerfungen zutage fördern – all dies kann dieser Text nicht leisten. Zusammenfassend habe ich in diesem Teilkapitel herausgearbeitet, dass die Stichworte Literarische Erziehung, Neuhumanismus und Wertschätzung der Antike Ankerpunkte darstellen, den historisch-systematischen Kontext des Werks von Friedrich Thiersch zu erschließen – Thiersch ist dabei Teil einer Tradition, die aufs Engste mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik in Deutschland verbunden scheint, was insbesondere an den systematischen Parallelen zum Werk Johann Friedrich Herbarts deutlich wird. Die Wertschätzung der Antike und die pädagogische Manifestation dieser Wertschätzung in der Lehrplanstruktur können dabei als der Dreh- und Angelpunkt der pädagogischen Bemühungen Thierschs verstanden werden, wie unten weiter herausgearbeitet wird. Dieses Vorgehen wird auch dadurch gerechtfertigt, dass eine der wenigen pädagogischen Qualifikationsarbeiten von Elmar Schwinger – die vom Würzburger Pädagogen Albert Reble betreut wurde – den Titel Literarische Erziehung und Gymnasium trägt. Die 1988 erschienene Schrift beschäftigt sich noch genauer mit der Entwicklung des bayerischen Gymnasiums in der Ära Niethammer/Thiersch, was dazu überleitet, nun diese beiden Bezugsautoren in aller Kürze vorzustellen und ihre Ideen zu kontextualisieren.
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Niethammer und Thiersch – Bayerische Pädagogen, ihre Schulreformen und die Position der Antike
Friedrich Immanuel Niethammer – der als Zentralschulrat in München wirkte – tat dies in einer sehr konfliktreichen Zeit. Denn es ging um nichts anderes als die ›richtige‹ Einrichtung der Schulen in Bayern. Er wirkte, wie es oben auch für Thiersch schon 1923 festgehalten wurde, in der Zeit »eines umfassenden Kampfes um die rechte Einrichtung der Schulen in Bayern«.35 Niethammer, der 35 A. Lischewski, Friedrich Immanuel Niethammer, in: Hauptwerke der Pädagogik, hrsg. v. W. Böhm/B. Fuchs/S. Seichter, Paderborn 2011, 316–318, hier: 316.
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1776 in Württemberg geboren wurde, besuchte 1784 das Tübinger Stift, an dem vier Jahre später auch der junge Schelling als herzoglicher Stipendiat sein Studium der Theologie aufnehmen sollte. Laut Hojer wurde schon in der Zeit am Stift eine Eigenart Niethammers grundgelegt, »die in seinen Schriften und Werken später immer wieder hervortrat: seine allen Extremen abgeneigte Geisteshaltung, verbunden mit der Fähigkeit zur Wahrung und Durchsetzung des eigenen Standpunktes«.36 Nach dem Studium in Tübingen ging Niethammer nach Jena. Er lernte dort Schelling, Fichte und Goethe persönlich kennen, war mit Hölderlin und Hegel schon vorher lange befreundet. Für Niethammer – sowohl den Theologen als auch den Pädagogen – war es »unerläßlich, das Individuum in seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Lage ernst zu nehmen«.37 Die Individuen selbst seien es, die den Fortschritt der Menschheit befördern können. Diese Position vertrat Niethammer auch in seinem schulpolitischen Wirken, in dem er bereits 1808 den erst 1804 von Wismayr etablierten Schulplan als unhaltbar auswies. Der durchaus additive und wenig kohärente Plan von Wismayr gab »den Ideen der späten Aufklärung schulorganisatorische Gestalt in einem Augenblick, als sich die Zeit der Aufklärung und des Philanthropismus bereits ihrem Ende näherte und die neuhumanistisch-klassisch-idealistische Bewegung auch in Bayern Fuß faßte«.38
Ebendiese im Lehrplan von Wismayr geronnenen Bewegungen der Zeit analysierte und konterkarierte Niethammer durch eigene Überlegungen: »Entscheidend ist, daß Niethammer diesen Plan nicht nur beiläufig kritisierte, sondern daß es ihm auch gelang, die damit beginnende Auseinandersetzung um ein modernes Schulwesen von der partikulären und konfessionellen Betrachtungensweise auf die Ebene von wissenschaftlich zu diskutierenden Prinzipien zu erheben.«39
Was war aber das Problem, dass Niethammer in seiner Schrift Der Streit des Philantropismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unsrer Zeit von 1808 bearbeiten sollte? Bevor Wismayr seinen schon erwähnten Lehrplan aufstellen konnte, entwickelte bereits 1774 Johann Adam von Ickstatt einen Lehrplan, »der ganz dem Geiste des aufgeklärten Philantropismus verpflichtet war, und v. a. eine zu Stand und Beruf hinführende Unterweisung der Schüler vorsah«.40 Philanthropismus – Menschenliebe – bezeichnet in der päd36 E. Hojer, Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848), in: Große bayerische Pädagogen, hrsg. W. Böhm/W. Eykmann, Bad Heilbrunn 1991, 117–131, hier: 118. 37 Hojer, Niethammer, 119. 38 E. Schwinger, Literarische Erziehung und Gymnasium: zur Entwicklung des bayerischen Gymnasiums in der Ära Niethammer/Thiersch, Bad Heilbrunn 1988, 108. 39 Hojer, Niethammer, 124. 40 Lischewski, Niethammer, 316.
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agogischen Diskussion in erster Linie eine Erziehungsbewegung. Getragen von zahlreichen Texten und Schulversuchen eint die philanthropischen Überlegungen ein generelles Vertrauen auf die gute Natur des Menschen und die Vernunft als Leitstern des menschlichen Handelns. Die allgemeine Ausrichtung wurde auf unterschiedliche Arten ausgestaltet, sie »strahlte in viele Bereiche aus: freie Entfaltung des kindlichen Wachstums- und Lernbedu¨ rfnisses; Schaffung einer dafür geeigneten Umwelt; auf praktische Weltorientierung und gemeinnützige Lebenstüchtigkeit ausgerichteter Unterricht; Einbeziehung von Leibeserziehung und körperlicher Arbeit; Betonung von Muttersprache, Realien, lebenden Sprachen; Anschauung und Selbsttätigkeit als Unterrichtsprinzipien; Sexualerziehung und Moralunterricht; kosmopolitische Ausrichtung und Toleranz«.41
Es wird ersichtlich, dass sich die Überlegungen der Philanthropen in vielen Bereichen realisierten und auf verschiedene praktische Umsetzungen von Erziehung und Bildung Auswirkungen hatten. Und zunächst klingt das alles sehr fortschrittlich und erstaunlich modern. Die Philanthropen werden auch in der pädagogischen Geschichtsschreibung als maßgebliche Förderer des pädagogischen Denkens in Deutschland angeführt. Grundsätzlich wird differenzierend festgehalten, dass die Philanthropen an »einer Erziehung der Menschen zum guten und nu¨ tzlichen Bu¨ rger [arbeiteten, S.E.], wohingegen Rousseau den ›natürlichen‹ Menschen außerhalb der Gesellschaft als Ideal vorstellte«.42 Die philanthropischen Bemühungen werden zudem dahingehend eingeteilt, dass sie »die Schulerziehung in Richtung Arbeits- und Berufspädagogik veränderten«.43 Die pragmatisch erscheinende Grundkonstante wird darin gesehen, dass sie den Kindern und Jugendlichen eine erfahrungsbasierte und altersgerechte Erziehung angedeihen lassen wollten, die es ihnen später ermöglichen sollte, ein nützlicher Teil der Gesellschaft zu werden. Niethammer entwickelt in seiner Schrift Der Streit des Philantropismus und Humanismus eine sowohl kritische als auch versöhnliche Position. Der philanthropischen Kritik an den lediglich auf Sprachen orientierten höheren Schulen wird zugestanden, dass sie dringende Probleme des menschlichen Lebens sichtbar mache. Allerdings dürfe der Druck der gesellschaftlichen Umstände nicht die Idee einer allgemeinen Menschenbildung für nichtig erklären. Niethammer weist darauf hin, dass die den Philanthropismus bestimmende Anthropologie »den Menschen lediglich nach dem Verständnis eines naiven Materialismus und Sensualismus als ein Sinnwesen [bestimmt, S.E.], dessen Aufgabe sich letztlich darin erschöpft, sich nach Maßgabe des Utilitarismus und Eudämonismus ans Brauchbare und Nützliche zu hal-
41 Böhm/Seichter, Wörterbuch, 373. 42 Koerrenz/Kauhaus/Kenklies/Schwarzkopf, Geschichte der Pädagogik, 134. 43 A. a. O., 154.
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ten«.44 Diese Reduktion kann Niethammer nicht gelten lassen, denn die Frage nach dem Sinn des Lebens würde so auf das Wissen von Dingen beschränkt. Niethammer geht es um eine dynamische Beziehung der unterschiedlichen Bereiche des Lebens, deren Berechtigung er in der vergleichenden Diskussion von humanistischer und philanthropischer Pädagogik – die freilich in sich selbst heterogener waren, als ich hier abbilden kann – herausstellt. Für Niethammer ist die Individualität des Zöglings das höchste Ziel allgemeiner Menschenbildung. Erziehung habe dementsprechend die Aufgabe – angeleitet durch die Richtschnur des Individuums – die Entfaltung des individuellen Menschen zu ermöglichen: »So bedeutet Erziehung zur Freiheit bei Niethammer nicht die leere Freiheit vom gesellschaftlichen Dasein, sondern sie meint Freiheit in diesem Dasein.«45 Überspitzt könnte hier auch davon gesprochen werden, dass die Erziehung soziale Freiheit zu realisieren habe – und dies hat unweigerlich Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Institutionen.46 Statt nämlich nur die theoretische Ebene des Erziehungsdenkens zu kritisieren, entwickelt Niethammer in seinem Allgemeinen Normativ – ebenfalls von 1808 – einen Plan zur Organisation des öffentlichen Schulwesens. Dieses Normativ ist auf seiner Bildungstheorie aufgebaut, es ist in der unhintergehbaren Individualität der Subjekte begründet.47 Interessant ist nun, welche inhaltlichen Schwerpunkte gewählt werden, denn beispielsweise die deutsche Sprache und die Ganzschriftlektüre deutscher Klassiker rücken bei Niethammer in den Fokus; er begründet einen Klassikerkanon für die Lektüre deutschsprachiger Werke, welcher heute noch unsere Vorstellung von deutscher Literatur bestimmt. Und auch die Realien finden ihren Platz; sie werden sowohl in Bildungstheorie als auch Lehrplan integriert, denn auch sie können ein Weg sein, Individualität zu entfalten. Niethammer spricht sich für eine funktionale Differenzierung in der Schulorganisation aus; er trennt »im Gegensatz zum Wismayrschen Lehrplan die Volksschule als allgemeine Bildungsschule von der Studienschule zunächst grundsätzlich«48 ab. In dieser ausdifferenzierenden Geste wird deutlich, dass Niethammer keine einzelne Bewegung privilegiert, sondern den Versuch unternimmt, seine bildungstheoretischen Überlegungen in verschiedenen Schulformen umzusetzen. Dennoch haben beide Schultypen unterschiedliche Aufträge und Niethammer schätzt selbst den sprachlichen Unterricht höher: »Während die Volksschule eine allgemeine Bildung für jene Volksschichten erstrebt, die in relativ kurzer Zeit ins Berufsleben treten, ist die gesamte Studien44 Hojer, Niethammer, 125. 45 A. a. O., 126f. 46 Vgl. v. Vf., Pädagogik der Sozialen Freiheit. Eine Einführung in das Denken Minna Spechts, Paderborn 2018. 47 Vgl. E. Hojer, Die Bildungslehre F.I. Niethammers, Frankfurt a.M./Berlin/Bonn 1965. 48 Hojer, Bildungslehre, 134.
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schule im Grunde auf Gelehrtenbildung ausgerichtet, die sie in propädeutischer Form betreibt.«49 Die sprachliche Bildung, d. h. die bei Niethammer gymnasiale Bildung ist altsprachlich dominiert. Latein und Griechisch nehmen einen ungleich höheren Teil der Unterrichtsstunden ein. Dennoch sind auch deutsche Klassiker – für die Niethammer die oben bereits erwähnte Auswahl getroffen hat – vertreten. Niethammer – dessen Überlegungen zur Restrukturierung des Bildungswesens hier nur kurz angerissen wurden, um die Abgrenzung der Position von Thiersch zu verdeutlichen – muss »als der große Anreger, Vorbereiter, Experimentator angesehen werden«.50 Dennoch konnte sich die Niethammer’sche Bildungsorganisation nicht halten. Zu problematisch waren insbesondere die Kämpfe um die Volksbildung zu seiner Zeit. Bemerkenswert ist, dass Niethammer seiner vermittelnden Position entsprechend den Versuch unternahm, »dem Anspruch der realen Bildung neben der sprachlichen Bildung Geltung zu verschaffen«.51 Dementsprechend deutlich fallen dann auch die Bewertungen der Position Niethammers aus. Sein Werk darf als »Versuch gelten, traditionelle und aktuelle pädagogische Bedürfnisse zu einem spannungsreichen Ganzen zu verbinden und bei aller Notwendigkeit der Differenzierung und Spezialisierung einen einheitlichen Grundbezug festzuhalten, in dem individualistische Verstiegenheit wie Anpassung an vordergründige gesellschaftliche Bedürfnisse in gleicher Weise vermieden werden«.52
In diesem »Versuchscharakter liegt allerdings zugleich einer der wesentlichen Gründe für das Scheitern des Niethammerschen Reformwerks«.53 Denn die politischen Gegebenheiten standen gegen das Reformprojekt. Aus Dokumenten, die von Hojer bereits in seinem Werk zu Niethammer von 1965 aufbereitet wurden, geht »deutlich hervor, daß das Normativ von der bayerischen Regierung von vornherein als ein Experiment geplant war, auf das sie sich nicht festlegen wollte, ohne die Reaktion der Öffentlichkeit abgewartet zu haben«.54
Auch im weiterhin schwelenden Konflikt der Konfessionen – in Bayern traf der protestantische Niethammer auf ein katholisches Milieu – wurde das Normativ Niethammers zusehends kritisiert, angegriffen und die Differenzierung der höheren Bildung aufgehoben. Die Angriffe auf das Normativ richteten sich hauptsächlich gegen die Realschulen und Realinstitute, Formen höherer Bildung, die nicht dem Ideal der etablierten höheren Bildung entsprachen. Fakt ist also, 49 50 51 52 53 54
A. a. O., 137f. Schwinger, Literarische Erziehung, 348. Hojer, Bildungslehre, 142. Hojer, Niethammer, 129. Hojer, Bildungslehre, 142. A. a. O., 147.
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dass Niethammer mit seinem gescheiterten Versuch einer Reform der höheren Bildung erst die Voraussetzungen dafür schuf, dass sich eine vollkommen andere als im Normativ angedachte Lehrplanstruktur Bahn brechen konnte, die nun Thema sein wird. Denn Friedrich Wilhelm Thiersch schließt auf eine durchaus kreative Art an Niethammer an. Die Verbindung von Thiersch und Niethammer liegt nun sowohl in ihrem geteilten Wirkungsfeld – der Diskussion um die Bildungsreform im Bayern des beginnenden 19. Jahrhunderts – und einem Missverständnis beziehungsweise einer bewussten Umschreibung. Statt der oben dargestellten, bildungstheoretisch begründeten und stets abwägenden Position, »betrachtet Thiersch Niethammers Schrift ganz selbstverständlich als einen Vorläufer seiner eigenen Schulreformen, mit denen 1829/30 der Schulkampf in Bayern zugunsten des Humanismus entschieden und zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wurde«.55 Thiersch wurde im Dezember 1825 mit der Neugestaltung des bayerischen Schulwesens betraut. Aus der angespannten bildungspolitischen Situation der Zeit sollte die neuhumanistische Position von Thiersch als Siegerin hervorgehen, und den altsprachlichen Unterricht als dominantes Merkmal, die Antike als privilegiertes Bildungsgut, der höheren Bildung ausweisen – der Name Thiersch stehe noch heute »für eine kompromisslose Gangart in den Lehrplandiskussionen«.56 Thiersch, – so schreibt Heinz-Elmar Tenorth polemisierend – »das war jener seltsame Philologe, der den bayerischen Gymnasiasten im frühen 19. Jahrhundert einen Lehrplan verschrieb, in dem sie außer alten Sprachen fast nichts zu lernen hatten«.57 Thiersch war nicht nur aufgrund seines Wirkens im Bereich der Schulreform bekannt, sondern auch als Gründer der Vorläuferorganisation des deutschen Philologenverbandes und als Rektor der Universität München. Der belesene und studierte Thiersch, unter anderem hörte er wie bereits oben erwähnt bei Herbart und verfasste schon während seines Studiums »eine vielbeachtete Tabelle zum Lernen der griechischen Grammatik«58, war wie Niethammer Protestant. Und wie auch Niethammer ging Thiersch nach Bayern und wurde dort mit den regionalen Spezifika der traditionell und katholisch geprägten Region konfrontiert. Eingebunden in die mit Ludwig I. anbrechenden 55 Lischewski, Niethammer, 318. 56 K.H. Scharf, Der Streit um die Etablierung naturwissenschaftlicher, insbesondere chemischer Unterrichtsinhalte in den Höheren Schulen. Dargestellt am Beispiel der bayerischen und sächsischen Schulen des 19. Jahrhunderts und an zentralen Positionen der zeitgenössischen Diskussion um den Bildungswert der Naturwissenschaften allgemein, Erlangen-Nürnberg 2018, 25. 57 H.-E. Tenorth, Friedrich Thiersch (1784–1860), in: Große bayerische Pädagogen, hrsg. v. W. Böhm/W. Eykmann, Bad Heilbrunn 1991, 158–169, hier: 158. 58 Tenorth, Thiersch, 160.
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Umgestaltungsprozesse in Bayern wird die große Zuneigung Thierschs für Griechenland auch außerhalb des bildungspolitischen Engagements deutlich: »In mehreren Reisen nach Griechenland befriedigt er nicht etwa nur die Bildungsinteressen des Neuhumanisten, kontemplativ von Anmut und Würde der klassischen Stätten fasziniert, sondern nimmt ein fremdes Land mit der kosmopolitischen Aufmerksamkeit wahr, die auch seine anderen Bildungsreisen kennzeichnet.«59
Und seine Zuneigung für Griechenland äußert sich auch in dem Dokument, für das Thiersch in der Pädagogik – zumindest in älteren Publikationen – angeführt wird. Es handelt sich dabei um den Lehrplan von 1829. Genauer noch ist es ein großangelegter Versuch mit dem Titel Ueber gelehrte Schulen mit besonderer Rücksicht auf Bayern, dessen drei Teile Thiersch von 1826 bis 1829 veröffentlichen sollte und aus denen schließlich der Lehrplan emergierte. Tenorth spricht von diesen drei Teilen als pädagogische Begründung in »glänzender Manier«.60 Andere Quellen weisen darauf hin, dass es Thierschs Entwurf auszeichne »daß er zwar die unterrichtspraktische Seite der Methode der Formalbildung expliziert behandelt, deren Begründung und Zielsetzung aber nur unvollständig ausgearbeitet hat«.61 Eine differenziertere Beurteilung dieser Urteile kann nur die eigene Auseinandersetzung mit den drei Bänden Thierschs befördern; hier soll nun die Deutung und pädagogische Funktion der Antike bei Thiersch im Mittelpunkt stehen. Der erste Band von 1826 legte ein Programm für die Reform der Gymnasien vor, der zweite Band von 1827 befasste sich mit der Universitätsreform und der dritte Band in 1829 publizierte den bereits erwähnten Schulplan. Eingehend auf eine Karikatur, auf der Thiersch kriegerisch mit Kanone dargestellt wurde, schreibt Ruth Hohendorf über den ebenfalls abgebildeten Plan: »Deutlich kann man lesen, daß der Stundenplan täglich Unterricht in Latein und Griechisch und mehrmals in der Woche in Hebräisch vorsieht; Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern sucht man dort vergebens.«62 In der bayerischen Schulordnung von 1830 waren bis zu 55 % der Unterrichtsstunden für Latein und Griechisch festgeschrieben. Tenorth führt drei Begründungen dafür an, wieso Thiersch seinen Lehrplan genau so und nicht anders gestaltet hat: eine biographische, eine bildungstheoretische sowie eine lerntheoretischdidaktische Begründung. Die biografische Begründung hängt mit Thierschs eigener Schulzeit in der Landesschule Pforta, früher auch Schulpforta, zusammen. Die bis heute internatsförmig organisierte Landesschule war schon in der Schulzeit von Thiersch durch einen von Latein und Griechisch dominierten 59 60 61 62
A. a. O., 161. A. a. O., 163. Schwinger, Literarische Erziehung, 219. R. Hohendorf, Diesterweg unter seinen Gegnern. Eine Karikatur aus dem Vormärz, in: Zeitschrift fu¨r Pädagogik 36 (1990), 639–650, hier: 647.
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Lehrplan ausgezeichnet; die eigenen Lehrerfahrungen werden unweigerlich auch die spätere Lehrplanentwicklung mitbedingt haben. Bildungspolitisch ist Thierschs Vorgehen in der sich etablierenden Vormachtstellung des Neuhumanismus in Bayern einzuordnen. Letztlich ist es aber das lerntheoretischdidaktische Begründungsmoment, dass für Tenorth am überzeugendsten ist: »Thiersch hat jedenfalls unterstellt, daß der Unterricht in den klassischen Sprachen, vornehmlich im Lateinischen, die hier gemeinten allgemeinen Kompetenzen vermitteln könne.«63 Thiersch setzt also ein Allgemeines, einen »Kontrapunkt gegen die gesellschaftlich bestimmte Verfassung und Planung der Schule. Und sein Kontrapunkt ist bildungstheoretischer Natur, von der Rücksicht auf gesellschaftliche Erwartungen noch nicht geschwächt«.64 Was genau ist aber dieses Allgemeine? Es ist die unbedingte Wertschätzung des Altphilologen Thiersch für die Antike, die dieses Allgemeine darstellt – deutlich wird dies bereits bei einem kursorischen Blick in den ersten Band von Ueber gelehrte Schulen von 1826. Die Stoßrichtung der Kritik ist schnell ausgemacht: Basedow, Campe und Salzmann – alles Philanthropen – haben die »Schulen mit einer unförmlichen Menge von Sachgegenständen angefüllt, welche der neue Plan in wilder Unordnung durcheinander war«.65 Unordnung musste also wieder in Ordnung überführt werden. Statt der Menge an Gegenständen, Realien, musste ein einendes Prinzip ausgemacht werden, dass Wirksamkeit entfalten könnte. Klar war, dass der Philologe Thiersch eben die Philologie als ordnendes Prinzip einsetzen würde: »Die Philologie in ihrer wahren Gestalt und Bedeutung, als die den jugendlichen Geist durchdringende, hebende und bildende Kunde und Nachahmung der Werke des klassischen Alterthums war ihnen (gemeint sind Salzmann, Campe usw., S.E.) weder als Besitz achtungswürdiger Personen, noch in ihrem Einfluss auf die Schulen begegnet.«66
Und die Fixierung auf Sprachlichkeit und Texte wurde noch spezifischer festgeschrieben; denn in der Logik Thierschs sind es nicht irgendwelche Sprachen, sondern die klassischen Sprachen des Altertums, die das Allgemeine beispielhaft repräsentieren: »Wie aber die neuen Sprachen sich zur lateinischen verhalten, so diese wieder zu der griechischen, welche von jedem, der sie kennt, als das vollkommenste Muster, das der menschliche Geist von sich selbst in Wort und Ton abgebildet hat, von jeher ist bewundert worden.«67
63 Tenorth, Thiersch, 166f. 64 A. a. O., 167. 65 F. Thiersch, Ueber gelehrte Schulen mit besonderer Rücksicht auf Bayern, Stuttgart/Tübingen 1826, 45. 66 Thiersch, Ueber gelehrte Schulen, 45. 67 A. a. O., 132.
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Jegliche Sprache und jede Auseinandersetzung mit Sprache könne nur fruchtbar werden, wenn die Grundlagen und Muster der klassischen Sprachen gelernt und verinnerlicht würden. Thiersch nimmt an, dass nur über die Auseinandersetzung mit den klassischen Sprachen bildende Erfahrungen gemacht werden können. Die klassischen Sprachen sind nicht nur der für Thiersch ausgewiesenermaßen beste Unterrichtsstoff, sondern sie dienen auch in privilegierter Art und Weise der Bildung des Urteils und des Geschmacks ergo der Moralisierung: »Doch außerdem, daß die beiden alten Sprachen durch ihre großen Vorzüge für unsere Zwecke den besten Stoff bieten, indem sie die geistige Kraft des Knaben auf eine der Natur gemäße und den Bedürfnissen einer wissenschaftlichen Erziehung entsprechende Art üben, entwickeln und stärken, dienen sie auch dem in ihren Uebungen heranwachsenden Jünglings zur Bildung des Urtheils und Geschmacks dadurch, daß er durch ihre Studien zur Betrachtung, zum Verständniß und zur Nachahmung der edelsten Geisteswerke des klassischen Alterthums geführt wird.«68
Einwände, das Griechische und Lateinische seien nicht zugängig, entkräftet Thiersch über die Methode: Die Güte des Bildungsgegenstands stehe außer Frage, an der Methode könne jedoch noch einiges verbessert werden. Dass es aber nicht am Gegenstand selbst, sondern nur an der methodischen Einbindung in den Unterricht liegen kann, macht er deutlich: »Wie zugänglich und bei gehöriger Behandlung auch verständlich Werke des klassischen Alterthums sind, zeigen am meisten die Gesänge des ältesten und fernsten griechischen Dichters, die Iliade und die Odyssee, welche trotz des Fremdartigen in der Form, das ihnen die deutsche Nachbildung gelassen hat, doch einen solchen Eingang bei uns auch unter den des Griechischen Unkundigen gefunden hat, daß sie unter uns weit mehr verbreitet, gekannt und bewundert sind, als irgend ein episches Werk der römischen, oder der neueren Literatur, die unsrige nicht ausgenommen.«69
Die Fremdartigkeit und die Komplexität des Stoffes – der im Idealfall natürlich im Original zu bearbeiten sei – wird von Thiersch als eigentliche Möglichkeit verstanden, Bildung zu realisieren. Die anstrengende und oft kräftezehrende Lektüre ist es, die den Bildungsprozess selbst noch zu befördern vermag: »Werden aber die Fremdartigkeit und Schwierigkeit der klassischen Literatur und die unsern Begriffen und Gefühlen näherstehende Art und Faßlichkeit der neuen gemeinsam auf die Erfordernisse des Jugendunterrichts und seiner Bildungsfähigkeit bezogen, so liegt gerade in den Schwierigkeiten, mit denen das Studium und die Kunde des klassischen Alterthums umgeben ist, in der den Geist wach und thätig erhaltenden Arbeit und Anstrengung, welche es kostet, denselben zu überwinden, ein Hauptgrund,
68 A. a. O., 133. 69 A. a. O., 135.
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welcher ihre Studien in den gelehrten Schulen empfehlen muß, und ein Quell des Segens für Bildung, der von ihnen ausgeht.«70
Diese Argumentationsform zieht sich durch die gesamten Überlegungen von Thiersch zur Restrukturierung des Lehrplans. Praktisch wurde der Unterricht an die Vorstellung der anstrengenden Lektürepraxis angepasst: »Der Lateinunterricht erhielt mit neuhumanistischer Begründung eine neue Gestalt. Grammatikstudien sollten möglichst früh von der Lektüre der Klassiker begleitet werden.«71 Ein strikter Lektüreplan, der in den höheren Klassen die Lektüre von Originalen anmahnte, zeugte von einem hohen Anspruch an die Schüler – geleitet von einer Vorstellung der Antike als moralischem Grund, beispielhaftem Lehrstoff und fremdartiger Irritation, an der Bildung erworben werden könnte. Diese Argumentation zieht sich durch die Überlegungen Thierschs und begründet seine Reformpläne. Nun überzeugt die Position von Thiersch aber nicht völlig, auch wenn man der Aussage Tenorths zustimmen mag, dass Thiersch durch seine Betonung einer nicht direkt verwertbaren Bildung am klassischen Altertum einen Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Interessen liefert. Dennoch: Thiersch leistet keine umfängliche pädagogische Begründung seiner methodischen Überlegungen und seiner Umstrukturierungsmaßnahmen. Abseits der Betonung der Antike als normativen Ankerpunkt bleibt seine Argumentation seltsam farblos und eher alltagsempirisch. Thierschs Überlegungen weisen »die Betonung des überzeitlichen Bildungswerts der altklassischen Werke«72 auf, denen er einen normativen Charakter zuspricht. Seine Umsetzung mündet aber in keiner umfassenden Bildungstheorie. Stattdessen ist als »zentrales Anliegen von Thierschs Gymnasialpädagogik […] die Methodenfrage zu sehen […]. Neben der Methode im weitesten Sinn, die sich mit dem Schulaufbau, der Stoffverteilung usw. befaßte, widmete Thiersch auch der Unterrichtsmethode umfangreiche Ausführungen«.73 Statt aber wie Humboldt die vibrierende Vitalität der Antike zu betonen, formalisiert Thiersch den Umgang mit der Antike. Er stellt Grammatik, anspruchsvolle Übersetzungsarbeit und wiederholende Lektüre in den Mittelpunkt. Dies führt von der oben dargestellten unbedingten Wertschätzung der Antike zu einer Verabsolutierung der eigenen Methode und einer intellektualistischen Vereinseitigung: »Die aus dieser Verabsolutierung folgende didaktische Verhärtung ist signifikant für den späten Neuhumanismus.«74
70 A. a. O., 137. 71 H.-M. Kirchner, Friedrich Thiersch. Ein liberaler Kulturpolitiker und Philhellene in Bayern, Ruhpolding 2010, 60. 72 Schwinger, Literarische Erziehung, 219. 73 Ebd. 74 A. a. O., 222.
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Ein Fazit – Nur ein einziger Gedanke
Elmar Schwinger hält für das Konzept der klassischen Studien wie es von Friedrich Thiersch ausgearbeitet wurde fest: »Kennzeichnend für Thierschs Programm ist die späthumanistisch-orthodoxe Verabsolutierung der klassischen Studien, die in der Geschichte des Neuhumanismus wohl ihren äußersten Punkt erreichte.«75 In diesem Text habe ich den Kontext nachgezeichnet, in dem das pädagogische Konzept von Friedrich Thiersch sich bis zu diesem Punkt entwickeln konnte. Die These – die im Verlauf dieses Textes plausibilisiert wurde – war, dass Thiersch sein gesamtes pädagogisches Denken auf der Verabsolutierung der griechischen und lateinischen Sprachen als privilegierte Bildungsgegenstände aufbaut und so andere mögliche Bildungsgegenstände ausschließt. Intensive Formalbildung steht auf dem wohl einseitigsten Stundenplan des 19. Jahrhunderts, nicht begründet durch eine allgemeine Bildungslehre, sondern durch spekulative lerntheoretische Annahmen, biografische Erfahrungen, eigene Interessen und die politische Situation in Bayern dieser Zeit. Friedrich Thiersch – der umfassend gebildete Philologe – nimmt den Weg seiner eigenen Bildungsbiografie als allgemeinen Weg einer jeden guten Bildung an. Aus seinem idealisierenden Bild der Antike entwickelt er einen exkludierenden Lehrplan. Diese abschließende Bewertung lässt Leser möglicherweise enttäuscht zurück – einige letzte Hinweise können dieses Problem vielleicht lösen. Deutlich wurde in diesem Beitrag, dass Thiersch eine radikalisierte Vorstellung der bildenden Kraft des Altertums annimmt: Nur dieses, nichts anderes, sollte als Stoff in höheren Schulen vermittelt werden. Er stellt sich damit gegen die zu seiner Zeit dominante Auffassung, ist ein wenig ein Rebell. Zugleich versteht er sowohl Schelling als auch Niethammer möglicherweise bewusst nur fragmentarisch, denn beide haben sich für ein kluges Abwägen entschieden, dass schlussendlich die Möglichkeit einer Allgemeinen Bildung in verschiedenen Zugängen zur Welt sieht. Eine genauere Diskussion in vergleichender Perspektive müsste mindestens Schelling, Niethammer und Thiersch in Verbindung setzen, um hier theoretische Fluchtlinien nachzeichnen zu können. Diese Aufgabe liegt noch vor der Forschung, denn das genaue Verhältnis von Schellings und Thierschs Überlegungen ist weiterhin ungeklärt. Kirchner weist eine Aussage von Wilhelm Ludwig Schaefer zurück, dass der Lehrplan eigentlich nach Schelling benannt werden müsste. Kirchner – rekurrierend auf zahlreiche Briefe – geht nicht davon aus, »daß der Plan von 1829 ein besonders intimes Verhältnis zur Schelling’schen Philosophie benötigt«.76 Aus systematischer – weniger aus realgeschichtlicher Perspektive – können dennoch Gemeinsamkeiten von Schelling und Thiersch 75 A. a. O., 227. 76 Kirchner, Friedrich Thiersch, 73.
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ausgemacht werden, die sich in den Texten ausweisen lassen. Hierbei ist es insbesondere die Universitätsschrift Schellings, die von Interesse sein könnte. Zudem ist die Reform der Universität München, während der sich Thiersch für Bildung und Freiheit einsetzt, auch durch Schelling beeinflusst worden. Letztlich ist es aber ein anderer, viel einfacherer Gedanke, der Schelling und Thiersch verbindet. In den Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums – die eine nachhaltige Tiefenwirkung auf die folgenden Reformen deutscher Universitäten entfalten sollten – liefert auch Schelling ein Verständnis von nicht zweckorientierter Bildung, die selbst aus einem einzigen Prinzip systematisch entwickelt werden kann. Dieser Versuch »die Bedingungen, unter denen das an sich selbst unbedingte, absolute Wissen zugänglich wird«77 zu bestimmen, entfaltet freilich ein höheres Reflexionsniveau als die Schriften Thierschs. Nichtsdestotrotz sind sowohl Schelling als auch Thiersch daran interessiert, aus Einem Alles zu entwickeln und der »semantischen Entwertung, Trivialisierung und Ökonomisierung des Bildungstopos«78 etwas entgegenzusetzen. Thierschs formalistische und enggeführte Vorstellung der Bildung am klassischen Beispiel der Antike ist eine – wenn auch gescheiterte – Möglichkeit, durch Engführung und Ausschluss ein solches Vorhaben zumindest autoritär zu begründen. Möglicherweise liefert aber Schelling, der von der jüngeren Erziehungswissenschaft vernachlässigt wird, eine andere Begründung, die überzeugt und Bildung anders zu denken vermag.
77 J. Brachmann, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, in: Hauptwerke der Pädagogik, hrsg. v. W. Böhm/B. Fuchs/S. Seichte, Paderborn 2011, 406–408, hier: 406. 78 Brachmann, Schelling, 408.
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Schellings Sicht auf die deutsche und französische Philosophie um 1813 – die Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche als facettenreiches Projekt
Schellings Zeitschriftengründung aus dem Jahr 1813 war eine aus politischer wie akademischer Sicht bewegte Zeit an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vorangegangen. Den allgemeinen Rahmen von Schellings Wirken in München, wie auch seiner Zeitschrift im Besonderen bilden die Umbrüche der Napoleonischen Zeit. Die Erhebung Bayerns zum Königtum im Jahr 1806 hatte u. a. eine Umgestaltung der Bildungsinstitutionen zur Folge. Die daraus resultierenden akademischen Neubesetzungen und wissenschaftlichen Richtungsstreitigkeiten in München entwickelten sich zu einer Konfliktgeschichte, die sich bis in das Jahr 1813 fortsetzen sollte.1 Vor diesem Hintergrund soll in einem kurzen ersten Abschnitt dieses Beitrags auf den persönlichen akademischen Werdegang Schellings und dessen Wahrnehmung an der Bayerischen Akademie eingegangen werden, ohne den das Zustandekommen und die Umstände des Zeitschriftenprojekts nicht anschaulich zu machen sind. Das trifft gleichermaßen auf Schellings Verständnis der deutschen und französischen Philosophie zu, ja dasjenige was Schelling unter dem Begriff des ›Deutschen‹ im Kontext der Wissenschaftlichkeit oder aber der Frage des Staates als ›deutsch‹ bezeichnete. Daher werden in einem längeren zweiten Abschnitt zunächst die werkgeschichtlichen Entwicklungen Schellings beleuchtet, und zwar mit Blick auf seine allgemeinen philosophischen Positionen und Ambitionen zur deutschen Philosophie, die in das Zeitschriftenprojekt Eingang gefunden haben. Die Frage der Sicht auf die französische Philosophie ergibt sich neben den wissenschaftsgeschichtlichen Kontroversen der Napoleonischen Zeit auch aus der Gestaltung des Zeitschriftenprojekts selbst: im 2. Heft sind die Memoiren des französischen Philosophen Denis Diderot abgedruckt. Der Schluss berichtet vom Ende des Zeitschriftenprojektes und zieht ein kurzes Resümee.
1 Vgl. den Beitrag von Michael Hackl in diesem Band.
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Schellings Wirken an der Bayerischen Akademie ab 1806
Schelling war im Frühjahr 1806 – u. a. durch die Bemühungen des bayerischen Staatsmannes Friedrich Graf von Thürheim von Würzburg an die Akademie der Wissenschaften in München berufen worden. Die Gründe dafür waren in erster Linie politischer Natur. Ende 1805 war infolge des 3. Koalitionskrieges zwischen Österreich und Frankreich das bayerische Würzburg an den Habsburger Landesherren Ferdinand III. gefallen, während Bayern unter Maximilian I. zum Königreich avancierte.2 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen war die berufliche Zukunft Schellings und anderer Kollegen in Würzburg nicht mehr gesichert. Nach anfänglichem Zögern3 beschloss er hinsichtlich einer Anstellung in der Landeshauptstadt selbst initiativ zu werden, Schelling wandte sich am 15. 3. 1806 erfolgreich direkt an den bayerischen Minister Mongelas (1759– 1838).4 Präsident der Akademie war seit einem Jahr freilich der Düsseldorfer Kaufmann und Philosoph Jacobi. Die Ernennung eines Philosophen stellte den Auftakt einer Reform und Neuausrichtung der bayerischen Universitäten überhaupt dar.5 Die politische Führung des Landes beabsichtigte eine Modernisierung und Aufwertung der Bildungseinrichtungen, die insbesondere durch die Berufung protestantischer Gelehrter die konfessionelle und regionale Prägung derselben überwinden sollte. Erklärtes Ziel war es dabei, auch die Akademie in München mit Hilfe renommierter Professoren aus dem Norden als ein Zentrum wissenschaftlichen Fortschritts und aufgeklärter Gelehrsamkeit zu etablieren.6 Schelling selbst sollte sich in den darauffolgenden Jahren an bildungspolitischen Erneuerungen aktiv beteiligen. So beförderte er die Berufung des Tübinger Theologen Friedrich Immanuel Niethammer nach München, und unterstützte diesen als Zentralschulrat beratend bei der Umsetzung einer gesamtbayerischen Schulreform im Frühjahr 1807. Diese trat am 3. 11. 1808 als Allgemeine[r] Normativ der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreiche Bayern in Kraft, und betraf die strukturelle und lehrplanmäßige Ausrichtung aller Schulen für Kinder und Jugendliche. Niethammer hatte dieses Normativ zuvor literarisch in seiner Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Hu2 Vgl. den editorischen Bericht zu Schellings erster Akademierede Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur in AA I/16 (erscheint 2022). 3 Vgl. F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 16. 1. 1806 (F.W.J. Schelling, Aus Schellings Leben. In Briefen, hrsg. v. G.L. Plitt, Bd. 2, Leipzig 1870, 78). 4 Vgl. den editorischen Bericht zu Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen in AA I/18, 71. 5 Vgl. E. Weis, Montgelas. Zweiter Band. Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799– 1838, München 2005, 614–619. 6 Vgl. AA I/18, 68–70.
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manismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit pädagogisch und bildungsphilosophisch reflektiert. Schelling rezensierte diese Abhandlung zwischen September 1808 und Jänner 1809 zweimal.7 Seinen ersten offiziellen Auftritt an der Akademie hatte Schelling mit der bekannten Rede Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur am Abend nach dem Namenstag des bayerischen Königs, also am 13. 10. 1807.8 Folgenreicher für die Entwicklungen an der Akademie war freilich das öffentliche Auftreten Jacobis. In seiner Rede zur Akademiefeier9 argumentierte Jacobi einerseits gegen aufklärerische Wissenschaftsideale, welche das Nützlichkeitsdenken der Forschung und Bildung für Staat und Gesellschaft in den Vordergrund stellen. Andererseits plädierte Jacobi für eine notwendige völlige Unabhängigkeit von der Kirche, und polemisierte so indirekt gegen das bildungspolitische Erbe des Katholizismus südlich des Mains. Im Kern attestierte Jacobi der bayerischen Gelehrten- und Universitätslandschaft, im Unterschied zum protestantischen Norden in wissenschaftlichen wie künstlerischen Belangen rückständig und unterentwickelt zu sein, da sie nicht von den geschichtlichen Fortschritten und Idealen der Reformationszeit geprägt sei – ein Zustand, den Jacobi als neuer Präsident und ›Nordlicht‹ nun freilich in bessere Zeiten zu führen intendierte. Diese Positionen des Akademiepräsidenten zu Bildung, Kunst und Wissenschaft hat stark zur Intensivierung des nachfolgenden sogenannten Gelehrtenstreits zwischen katholischen und evangelischen Gelehrten beigetragen.10 Dies ist auch für Schellings spätere Gründung der Allgemeine[n] Zeitschrift11 von Belang. Besonders bemerkenswert war der öffentliche und vielschichtige Charakter dieses Konflikts, er trat auf mehrere Weise zu Tage. Der Bogen reichte von internen Disputen innerhalb der Akademie bis hin zu anonymen Schmähungen sowie persönlichen Intrigen und Anfeindungen.12 Auch auf literarischer wie politischer Ebene mit Hinblick auf den 5. Koalitionskrieg wurden die bayerischpreußischen Animositäten weit über München hinaus ausgefochten, wie u. a. die
7 Vgl. den editorischen Bericht zu Schellings Rezensionen von Niethammers Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit: a. a. O., 3f. 8 Vgl. a. a. O., 79. 9 Sie trug den Titel Ueber gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck. Vgl. R. Heydenreuter, Die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Dokumente und Erläuterungen zur Verfassungsgeschichte. Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Kommission für Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1, Regensburg 2011, 176. 10 Vgl. AA I/18, 74–78. 11 Im Folgenden wird diese mit A.Z. abgekürzt. 12 Vgl. AA I/18, 86–98.
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zeitgenössische Neue[] Oberdeutsche[] allgemeine[] Literatur-Zeitung sowie die 1809 in Passau begründete Zeitschrift Morgenbote belegen.13 Gleichwohl sich Schelling über weite Teile des Konflikts von akademischer Seite heraushielt, erreichte dieser bekanntlich zu Beginn des Jahres 1811 mit dem Theismusstreit einen explosiven Höhepunkt. Jacobis Anklage gegen das Schelling’sche Denken, dass sein philosophisches System spinozistisch sei und als Vergötterung der Natur in den Fatalismus und Atheismus führe, beantwortete Schelling in bemerkenswert kurzem Zeitraum, sowie mit heftiger Polemik. Die ursprünglich geplante kurze Réplique wuchs innerhalb von zwei Monaten zu einem philosophischen Gegenschlag im Umfang von 14 Bögen an, den Johann Friedrich Cotta Mitte Januar als Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen publizierte.14 Schelling vertrat zwar sogleich nach außen hin die Sicht, dass er den Streit mit Jacobi in München zweifellos und endgültig für sich entschieden habe.15 Dass die Situation an der Akademie sich für Schelling jedoch zu einer schwierigen entwickelte hatte, zeigt sein Wunsch um eine Abberufung an seinen alten Studienort an der Universität Tübingen. Diese war jedoch auch nach Intervention Karl August von Wangenheims16 Ende 1811 gescheitert. Dass Schellings Motivation zur A.Z. in einem direkten Zusammenhang mit der gesamtpolitischen Situation sowie der Gelehrtenstreitigkeiten der vorangegangenen Jahre steht, wird vor allem aus drei Gründen deutlich: – Erstens fällt Schellings Idee ein neues Medium wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu gründen gegen Ende und Höhepunkt des Streits. Er erwähnt diesen Plan erstmalig bereits im Juni 1811, und nicht erst im Erscheinungsjahr 1813.17 – Zweitens war Schelling nach den Turbulenzen im Theismusstreit bzw. der daraus resultierenden Rufschädigung daran gelegen mit der Zeitschrift zu reüssieren. In seinem Briefwechsel mit Cotta machte er keinen Hehl daraus, dass – wie schon gegen Jacobi – mit seinem Denken die Philosophie von Irrwegen und falschen Prämissen geläutert werden müsse.18 – Aus diesem Grund war es drittens kein Zufall, dass Schelling gerade bei Eschenmayer anfragte, ob er dessen öffentlichen Brief zur ›Freiheitsschrift‹ mit einem entsprechenden Antwortschreiben in der A.Z. publizieren dürfe. Schellings Bemühungen zielten darauf, sein philosophisches System erneut von 13 Vgl. a. a. O., 91–93. 14 Vgl. a. a. O., 101–103. 15 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 31. 1. 1812 (F.W.J. Schelling, Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, hrsg. v. H. Fuhrmann/L. Lohrer, Stuttgart 1965, 65). 16 Vgl. X. Tilliette (Hrsg.), Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen, Bd. 1, Turin 1974, 210–212. 17 Vgl. F.W.J. Schelling an J.L. Schrag im Juni 1811 (Schelling, Schelling und Cotta, 304). 18 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 73).
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Kritik zu befreien und als ein gegenwärtig wie zukünftig tragfähiges Wissenschaftsideal auszuzeichnen. So schrieb er im Februar 1812 an Eschenmayer: »Ich zweifle nicht, mir durch diese Bekanntmachung – [nämlich die Debatte über die ›Freiheitsschrift‹, C.A.] – den Dank des ganzen wissenschaftlich denkenden Publicums zu verdienen.«19 Mit der Zeitschriftengründung knüpfte Schelling an mehrfach praktizierte Vorgehensweisen an,20 seit Beginn seiner akademischen Karriere vertraute er auf die Vorteile und den Einfluss dieser Publikationsart. Schon als Jenaer Professor hatte er ja – neben anderen – zusammen mit Hegel 1802 das Kritische Journal der Philosophie ins Leben gerufen. Es beinhaltete den von Hegel verfassten Beitrag Glauben und Wissen, der zugleich eine erste Auseinandersetzung mit der Jacobi’schen Philosophie darstellte.21
2.
Die Allgemeine Zeitschrift als Projekt und geplantes Vorbild deutscher Wissenschaftlichkeit
2.1
Die Konzipierung der Zeitschrift im werkgeschichtlichen Kontext
Wichtiger als die persönlichen und geschichtlichen Umstände der Gründung der A.Z. waren freilich die schon angedeuteten philosophischen Ambitionen Schellings. Es stellt sich insbesondere die Frage nach den werkgeschichtlichen Vorläufern und Einflüssen, welche Schellings Ideal deutscher Wissenschaftlichkeit formten, die er nicht nur, aber auch in Abgrenzung zur französischen philosophischen Tradition formulierte. Dazu ist zunächst ein Blick in die ›Vorrede‹ der A.Z. zu werfen, aber auch in die Ankündigung der Zeitschrift, welche vermutlich vor dem Jahreswechsel 1811/1812 entstand,22 aber erst 1813 im Literarische[n] Monats-Blatt gedruckt wurde. Denn auch wenn letztere, die ›Ankündigung‹, von dem Nürnberger Verleger Johann Leonhard Schrag unterzeichnet ist, stammt sie nach gängiger Praxis höchstwahrscheinlich vom Herausgeber, also Schelling
19 F.W.J. Schelling an C.A. Eschenmayer am 24. 2. 1812 (Schelling, Aus Schellings Leben, Bd. 2, 288). 20 Vgl. auch Schellings Versuche in Würzburg 1805, auf die von dem Historiker und Bibliothekar Johann Christoph Aretin in München geleitete Zeitschrift Aurora Einfluss zu nehmen, bzw. diese nach deren Einstellung weiterzuführen. Vgl. den editorischen Bericht zu der Rezension mit dem Titel Ueber Göthe’s Eugenia in AA I/14 (erscheint 2021). 21 Vgl. AA I/18, 64f. 22 Vgl. unten in Abschnitt 2.1.2 den Brief Friedrich Schlegels vom 4. 1. 1812 an seinen Bruder August Wilhelm.
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selbst.23 Der Inhalt der ›Ankündigung‹ wie auch der ›Vorrede‹ ist sehr knapp gehalten. Er lässt sich in drei Hauptanliegen einteilen, die nicht als getrennt zu betrachten sind, sondern vielmehr ineinander übergehen. Schelling erläutert erstens formale Vorgaben zur Aufnahme von Beiträgen, zweitens das Ziel der Publikationsreihe in gegenwärtiger Lage, und drittens den Weg oder die Methode hinsichtlich eines bestimmten Wissenschaftsprogramms, das er mit der Zeitschrift verfolgen will. Wie sind die drei genannten Punkte nun hinsichtlich Schellings Werkgeschichte und akademischer Vergangenheit zu verstehen? 2.1.1 Die formalen Vorgaben Zunächst äußert sich Schelling zur Zeitlichkeit bzw. dem Gegenwartsbezug, in der diese neue Publikationsreihe erscheint. Das geplante Periodikum solle einerseits nicht bloße Bestandsaufnahmen aktueller akademischer Theorien und Debatten wiedergeben, im Sinne einer bloß statischen Gegenwartsanalyse. Andererseits sei es auch unseriös, bloß um hoher Aufmerksamkeit willen noch nicht anerkannte Thesen einzelner Disziplinen ungeprüft zu veröffentlichen. Man werde weder einseitig auf die Vergangenheit oder Zukunft des wissenschaftlichen Diskurses rekurrieren, die Zeitschrift soll stattdessen eine Brückenfunktion von gegenwärtigem Erkenntnisstand und sich ankündigendem Fortschritt und Wahrheitsgewinn einnehmen: »[…] die wahre Zeitschrift [muss] über ihrer Zeit und vor ihr voraus seyn, aber ohne je die Beziehung zur Gegenwart ganz aufgeben zu dürfen. […] Sie soll für das, was noch außer und vor der Zeit liegt, und was im Entstehen sich von ihr losgesagt hat, die geschichtlichen Vermittlungsglieder finden, durch welche es an die Zeit herangebracht oder in diese aufgenommen werden kann.« (SW VIII, 139f.) Soll sie diese Aufgabe auf universitärer Ebene mit universalem Anspruch erfüllen können, darf es für Schelling kaum thematische bzw. inhaltliche Einschränkungen geben, er nennt als mögliche Inhalte der Zeitschrift weite Teile des damals etablierten universitären Fächerkanons.24 Auch zur äußeren Form der Beiträge will er als Herausgeber keine genauen Vorgaben diktieren, eigene Abhandlungen sollen ebenso vertreten sein wie kurze Mitteilungen, Rezensionen u. ä.25 Gleichzeitig betont Schelling, dass nur qualitativ hochwertige Aufsätze aufgenommen werden sollen, insofern sie »das wahrhaft und wesentlich Allgemeine der Zeit und der gegenwärtigen menschlichen Bildung« (SW VIII, 142) verhandeln. Auf diese Weise ist auch der Titel zu verstehen, das ›Allgemeine‹ in Allgemeine Zeitschrift sei also gerade nicht als beliebig zu verstehen. Vielmehr sollen 23 Vgl. L. Pareyson, Schellingiana Rariora, Turin 1977, 396. 24 Vgl. a. a. O., 400f. Vgl. außerdem SW VIII, 142f. 25 Vgl. ebd.
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die für grundlegende Forschungsfragen fundiertesten und vielversprechendsten Studien publiziert werden. Zusätzlich nennt Schelling noch ein weiteres Kriterium, nämlich ein wissenschaftspolitisches. Neben der fachlichen Qualität geht es ihm – wie freilich schon der Zeitschriftentitel anzeigt – auch explizit um eine Beförderung und Belebung deutscher Wissenschaft.26 Die Verknüpfung von Wissenschaftlichkeit und politischer bzw. nationaler Identität nahm Schelling als Mitglied der Bayerischen Akademie nicht zum ersten Mal vor. Programmatisch verhandelte er die Frage nach dem Proprium deutscher Wissenschaft, deren Entwicklung und Zukunftsperspektive im politischen und ländervergleichenden Kontext beispielsweise in dem Traktat Über das Wesen deutscher Wissenschaft. Schellings Sohn Karl Friedrich August hatte dieses in Band 8 der Sämmtliche[n] Werke veröffentlicht, da er es aus diesen inhaltlichen Gründen für wahrscheinlich hielt, dass es sich um einen geplanten Beitrag für die A.Z. gehandelt habe.27 Jedoch datiert der Aufsatz, wie ein Brief Schellings an Jacobi vom 16. 6. 1807 belegt, in eben dieses Jahr.28 Den Hintergrund bildete eine Debatte mit dem Historiker Johannes von Müller (1752–1809) zum Selbstverständnis und zur Geltung der akademischen Institutionen. Schelling positionierte sich dabei gegen eine von Müller vertretene politisch-nationalistische Vereinnahmung deutscher Gelehrsamkeit, die einer generellen Kritik an (spekulativer) Wissenschaft gleichkam. Gleichzeitig hoffte Schelling schon zu dieser Zeit 1807, dass die deutsche Philosophie von französischen Einflüssen – hier vor allem von einem falschen Naturverständnis – bereinigt werde.29 Nur so könne die deutsche Wissenschaft ihre freie und einigende Kraft im Verhältnis zum Staat in einer Situation vielfacher Parteiungen und Spaltungen ausüben. Gleich zu Beginn der Abhandlung erörtert Schelling in diesem Sinn sein Verständnis des besonderen Charakters deutscher Wissenschaft. Es handle sich bei dieser nicht um ein gleichsam in bloßer Selbstreferenz stehendes System der Erkenntnisse in der methodisch geleiteten Erforschung ihrer Gegenstände, also von Natur, Kunst, Sprache, Religion, Geschichtlichkeit etc. Schon hier im Jahr 1807 war für Schelling vielmehr klar, dass sie ebenso das Fundament für das Selbstverständnis und die Gestaltung des Staats- und Gemeinwesens bereitstellt: »Denn sie [die deutsche Wissenschaft, C.A.] ist nicht etwas in Bezug auf die Nation selbst Aeußerliches, ein zu anderem Hinzukommendes oder als Mittel Betriebenes: sie 26 27 28 29
Vgl. SW VIII, 142. Vgl. SW VIII, 6. Vgl. Pareyson, Rariora, 292. Vgl. den editorischen Bericht zu Über das Wesen deutscher Wissenschaft in AA II/7, 1–2 (erscheint 2022). Vgl. K.J.H Windischmann an F.W.J. Schelling am 24. 12. 1806 (F.W.J. Schelling, F.W.J. Schelling. Briefe und Dokumente, hrsg. v. H. Fuhrmans, Bd. 3, Bonn 1975, 387–390). Vgl. F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 7. 1. 1807 (Schelling, Aus Schellings Leben, Bd. 2, 110).
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ist das wahre Innere, das Wesen, das Herz der Nation, sie ist mit ihrem Daseyn selbst verflochten, und wer möchte nicht sagen, daß sie nur in dieser ein wahres Daseyn hat.« (SW VIII, 3)30
Solche Positionen dienten Schelling auch der Legitimation der Gründung eines Zeitschriftenprojekts dieses Formats ab dem Jahr 1811. Denn sie stand in Konkurrenz mit anderen Periodika, insbesondere zu dem von Friedrich Schlegel ein Jahr zuvor in Wien neu gegründeten Deutsche[n] Museum. 2.1.2 Das Ziel der Allgemeine[n] Zeitschrift Aus der eben genannten Verbindung von deutscher Wissenschaft und Staat bzw. Gemeinwesen ergibt sich ein wesentliches Ziel für das Zeitschriftenprojekt. Den überaus hohen Gewinn, den Schelling sich in diesem Zusammenhang zur Verbesserung der allgemeinen Lage verspricht, formuliert er eindringlich in der Abschlusswidmung der ›Vorrede‹: »Ich widme diese Zeitschrift dem gesammten deutschen gelehrten Publikum; sie ist nicht meine Unternehmung, noch behalte ich mir ein besonderes Recht an dieselbe vor. Sie gehört gleicherweise allen, die etwas Tüchtiges, Kräftiges, in die Zeit Eingreifendes zu sagen, mitzutheilen oder aufzustellen haben. Sie soll einen langgewünschten Vereinigungspunkt der jetzt vielfach getrennten Geister und Bestrebungen abgeben, und gleichsam die Verhandlungen einer unsichtbaren, durch ganz Deutschland verbreiteten Akademie enthalten, zu der alle Männer gehören, in denen sich Geist, Wissen und edleres Wollen vereinigen. Es muß sich zeigen, ob denn wirklich die wissenschaftliche Welt so in Parteiungen zerfallen ist, daß sich auch hier an nichts Gemeinsames mehr denken läßt, oder ob die Besten in jeder Art des Wissens, Forschens und Könnens den Werth einer Vereinigung einsehen, die sie allein in den Stand setzt, dem Andrang des Schlechten zu widerstehen, das nur durch Uneinigkeit emporkommt, und den Adel, die Würde und hohe Bestimmung der deutschen Wissenschaft, Literatur und Kunst im Großen und Ganzen zu behaupten.« (SW VIII, 143f.)
Die Herausgabe der A.Z. im Jahr 1813 fällt nicht nur in eine Zeit weiter anhaltender komplexer politischer Turbulenzen und Instabilität, sondern steht – wie das eben genannte Zitat nochmals verdeutlicht – auch am Ende des seit Jahren tobenden Gelehrtenstreits an der Bayerischen Akademie. Schellings eigene Verstrickungen sowie sein hoher, ja wohl überzogener Anspruch an die A.Z. blieb unter Kollegen und Konkurrenten nicht unbemerkt. So versuchte etwa Friedrich Schlegel – nach Lektüre der ›Ankündigung‹ – Schellings Bemühen um Ein-
30 Vgl. auch Schellings Äußerungen zu Metaphysik und Nation in Über das Wesen deutscher Wissenschaft: SW VIII, 9.
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heitsstiftung31 in der deutschen Gelehrtenwelt von vornherein zu disqualifizieren. Am 4. 1. 1812 mokierte er sich gegenüber seinem Bruder August Wilhelm: »Von Schelling habe ich eine Ankündigung einer Allgemeine Zeitschrift von Teutschen für Teutsche erschienen [sic!], die eine Art von Parodie der meinigen ist, indem er mehrere Stellen wörtlich daraus kopirt hat. Da es indessen in zwanglosen Heften erscheinen soll, so wird es mir wohl nicht viel schaden.«32
Am 28. 1. ergänzte er in einem weiteren Brief: »Ich habe nur zuviel Bestätigung erfahren, dass seine Gesinnungen in der Hauptsache so schlecht und undeutsch als möglich sind. Es wird doch eine ganz rheinbundische und französische Tendenz haben.«33 Schelling hatte drei Tage zuvor in einem Schreiben an A.W. Schlegel versichert, dass es nie seine Absicht gewesen sei, eine Konkurrenzzeitschrift zu Friedrich Schlegels neu erscheinendem Deutsche[n] Museum zu etablieren. Er habe schlichtweg nichts davon gewusst.34 In der Tat hatte Schelling wie erwähnt das Projekt schon seit spätestens Juni 1811 in Absicht. Der allgemeine Plan, ein Journal in Zusammenhang »mit dem Leben« sowie einem »allgemeinfaßlichen […] Styl« zu veröffentlichen, reicht sogar bis in die späte Würzburger Zeit 1805 zurück (auch wenn dieses nur philosophische Themen beinhalten sollte).35 Trotzdem ist anzunehmen, dass Schelling sich hier ab 1811 in der konkreten Durchführung stark an Friedrich Schlegels Konzeption orientiert hatte, wie detailreiche Gemeinsamkeiten im Vergleich beider Ankündigungen der Zeitschriften erkennen lassen.36
31 Bereits 1807 beklagte Schelling in Über das Wesen deutscher Wissenschaft einen »innere[n] Zerfall« in der deutschen Nation (SW VIII, 14). 32 Tilliette (Hrsg.), Schelling im Spiegel, 212. 33 X. Tilliette (Hrsg.), Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Ergänzungsband, Turin 1981, 86. 34 Vgl. J. Körner, Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 2, Bern/ München 1969, 240f. Vgl. die entsprechenden Ausführungen in der ›Vorrede‹: SW VIII, 141. 35 F.W.J. Schelling an P. Krüll am 6. 10. 1805 (F.W.J. Schelling, F.W.J. Schelling. Briefe und Dokumente, hrsg. v. H. Fuhrmans, Bd. 1, Bonn 1962, 336–338). 36 Beispielsweise hatte Friedrich Schlegel in der ›Ankündigung‹ des ersten Bandes des Deutsche[n] Museums am 22. 11. 1811 ebenso die Darstellung der Philosophie als »Philosophie des Lebens« eingefordert. Dazu gibt es weitere inhaltliche Übereinstimmungen zu Schellings ›Ankündigung‹ der A.Z., wie die Betonung des nationalen und allgemeinen Charakters der Zeitschrift oder die Möglichkeit humoristischer Beiträge. Vgl. F. Schlegel, Ankündigungen. Deutsches Museum für 1812, in: Österreichischer Beobachter 319 (1811), 1308. Vgl. den genannten Brief Schlegels an seinen Bruder August Wilhelm vom 4. 1. 1812.
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2.1.3 Die wissenschaftliche Struktur und Methode der Allgemeine[n] Zeitschrift Schellings hatte bereits 1802/1803 in den Vorlesungen Über die Methode des akademischen Studiums eine spezielle Gestaltung der vorherrschenden Fächerstrukturen der Universitäten in Angriff genommen.37 Philosophie und Theologie, aber auch die Rechtswissenschaften und Medizin sollten sowohl in ihrer Stellung zueinander, als auch in ihren methodischen Prämissen eine Neuausrichtung erhalten. Diese Bemühungen aus der Jenaer und Würzburger Zeit zur Umstrukturierung der Akademien waren dabei keineswegs eine Einzelleistung, sondern standen im Kontext zahlreicher Debatten und Entwürfe einer Verbesserung der Lehre und Forschung. Unter anderem war der Gedanke eines absoluten, d. h. sich selbst begründenden Wissens, das der Gesamtheit aller Wissenschaften als Prinzip zugrunde liegt, durch die Rezeption Fichtes gefördert worden.38 Mit eigenen Mitteln knüpfte Schelling in seinen Vorlesungen an dieses Ideal an. Er fordert im Ausgang einer Kritik an der zunehmenden Vereinzelung und bloß historischen Betrachtung der Forschungsgegenstände ein einziges Prinzip, welches die Einheit und Zielrichtung allen Wissens gewährleistet, und primär von der Philosophie entfaltet wird.39 Mit diesem Prinzip ist freilich das Prinzip der Identitätsphilosophie gemeint, dieses sollte zur methodischen Leitdisziplin aller Wissenschaften avancieren.40 Bei der Lektüre der ›Ankündigung‹ und ›Vorrede‹ der A.Z. lässt sich erkennen, dass sich an diesen Grundanliegen Schellings zehn Jahre später nichts Wesentliches geändert hat. Freilich stehen die knappen Anmerkungen Schellings zur A.Z. nicht auf gleicher Ebene wie das ausführliche Wissenschaftsprogramm der ›Methodenvorlesungen‹. Sie lassen sich aber sehr wohl vergleichend in Beziehung setzen. Eine bestimmte Stellung der Fächer in der Universitätsstruktur, deren innerer Zusammenhang und Wahrheitsverständnis stellt für Schelling eine idealtypische wissenschaftstheoretische Ausrichtung der Akademien in den ›Methodenvorlesungen‹ dar. In analoger Weise ist die Anlage der A.Z. nach Schellings Verständnis – so könnte man sagen – die gelungene praktische Anwendung. Sie beschreibt die intendierte Forschungsweise hinsichtlich eines Wissenschaftsprogramms, das demjenigen Schellings nahe steht. Dies deutet er insbesondere an zwei Stellen an. 37 Vgl. SW V, 207–352. 38 Vgl. P. Ziche, »Die Welt der Wissenschaft im Innersten erschüttern.« Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« als philosophisches Programm zur Wissenschaftsorganisation, in: »Die bessere Richtung der Wissenschaften«. Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« als Wissenschafts- und Universitätsprogramm, hrsg. v. dems./G.F. Frigo, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 3–24, bes. 10f. Vgl. H. M. Baumgartner/H. Korten, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, München 1996, 90–93. 39 Vgl. SW V, 227. 230. 40 Vgl. a. a. O., 213f. Vgl. Ziche, »Die Welt der Wissenschaft«, 13f.
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Erstens ist der besondere Vorzug der Philosophie zu nennen, sie wird wie schon in den ›Methodenvorlesungen‹ im Fächerkanon als erste genannt,41 und mit dem Lebensbegriff als primäre Bezugsdisziplin zu anderen ins Spiel gebracht: »[…] der weiteste Umfang der Gegenstände, worüber sich diese periodische Schrift zu verbreiten gedenkt, [wird] ohngefähr also zu bezeichnen seyn: Philosophie an sich – besonders aber in ihrer Beziehung auf das Leben und auf die höchste Angelegenheit desselben, Religion, Naturwissenschaften, in sofern ihre Forschungen auf den großen und allgemeinen Zusammenhang gehen oder wenigstens Ahndungen von dieser Harmonie des Ganzen erlauben;« (SW VIII, 142)
Auf diese ›Harmonie des Ganzen‹ kommt Schelling zweitens auch in der ›Ankündigung‹ zu sprechen, und nennt dazu ein Hauptmerkmal seines philosophischen Denkens, nämlich das des ›organischen‹ bzw. des ›Organismus‹. In den Stuttgarter Privatvorlesungen im Jahr 1810 legte Schelling vor Laienpublikum die Prämissen seines philosophischen Denkens dar. Als erstes Prinzip seines Systems bezeichnete er dabei die Darstellung von Natur und Geist als lebendige Einheit eines Organismus, oder die Identität als organische Einheit aller Dinge.42 Auch in der A.Z. soll das Verhältnis der Wissenschaften zueinander nicht als isoliert oder hierarchisch, sondern als dynamisch-wechselwirkend in diesem Sinn vermittelt sein: »Indem sie [die Zeitschrift, C.A.] vorzüglich auf das wesentlich Allgemeine der Zeit und der gegenwärtigen menschlichen Bildung sich beschränkt, wird sie ihre Benennung allgemein zu rechtfertigen streben, und es wird ihr Augenmerk seyn, der Zeit […] zum Urtheil zu verhelfen, als wodurch allein ein lebendiger Fortschritt, eine organische Entwicklung des Ganzen möglich wird.«43
Noch expliziter beschrieb Schelling die Hoffnung auf eine künftige Vorreiterrolle seines philosophischen Denkens in einem inoffiziellen Schreiben, und zwar in einer Mitteilung an seinen Verleger Cotta vom 10. 4. 1812: »In diesem Fach (der Philosophie) halte ich übrigens auch Polemik und zwar in dem Styl, wie ich gegen Jacobi den Anfang gemacht, für höchst nothwendig, um der Welt die Augen zu öffnen über diejenigen, die unfähig selbst etwas zur Besserung beyzutragen […]. Im Übrigen hoffe ich einen Mittelpunkt für viele der ausgezeichnetesten Gelehrten in jedem Fach zu bilden […].«44
Schellings Überzeugung, dass sein System das zukunftsweisendste ist, zeigte sich schon in der bereits erwähnten Abhandlung Über das Wesen deutscher Wissenschaft von 1807. Sie beginnt mit philosophiegeschichtlichen Erörterungen seit 41 42 43 44
Vgl. SW V, 213f. Vgl. SW VII, 421f. Pareyson, Rariora, 401. A. a. O., 398.
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der Reformation bis zu den Leistungen prinzipiengeleiteter Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien Kants und Fichtes. Ab diesem Zeitpunkt ist nun für Schelling eine entscheidenden Wende gefordert, welche die deutsche Forschung zu beschreiten habe. Sie besteht in der philosophischen Wiederbelebung der Natur. Seit der Neuentdeckung der Philosophie Spinozas durch die Vermittlung Jacobis und Lessings sei besonders die Wissenschaft und Metaphysik in diesem Sinn wieder in richtige Bahnen zu lenken:45 »Dahin, nach diesem Ziel hat alle deutsche Wissenschaft getrachtet von Anbeginn, nämlich die Lebendigkeit der Natur und ihre innere Einigkeit mit geistigem und göttlichen Wesen zu sehen. […] Alle Metaphysik, sie äußere sich nun speculativ oder praktisch, beruht auf dem Talent, ein Vieles unmittelbar in Einem und hinwiederum Eines in Vielem begreifen zu können, mit Einem Wort auf dem Sinn für Totalität.« (SW VIII, 7–9)
2.2
Schellings Bewertung der französischen Philosophie
Schellings Überzeugung der Eigenheit und Sonderstellung deutscher Wissenschaftlichkeit inhäriert eine Abgrenzung zu derjenigen anderer Nationen. Erläuterungen zur französischen Philosophie finden sich seit der Jenaer Zeit regelmäßiger in Vorlesungen und Schriften. Auffallend ist, dass sie im historischen Rückblick zunächst häufig mit der Person René Descartes, und inhaltlich pauschal mit dem Urteil des philosophischen Empirismus verbunden wird. So veröffentlichte Schelling im Jahr 1802 zusammen mit Hegel im genannten Kritischen Journal der Philosophie eine Notiz zu Herrn Villers Versuchen, die Kantische Philosophie in Frankreich einzuführen. Der französische Gelehrte Charles de Villers (1765–1815) hatte zur Jahrhundertwende, also mitten in der Zeit der napoleonischen Kriege, Grundlagen Kantischer Erkenntnislehre bzw. Transzendentalphilosophie im Kontext der deutschen und französischen Wissenschaftshistorie publiziert.46 Im selben Jahr erging an ihn der Auftrag von Napoleon höchstselbst, eine bloß vier Seiten lange Skizze der Philosophie Kants zu verfassen. Diese wurde schließlich als 12-bögige Broschüre mit dem Titel Philosophie de Kant. Aperçu rapide gedruckt.47 Beide Schriften von Charles Villers werden von Schelling und Hegel im Kritischen Journal angeführt und besprochen. Die Kritik fällt sehr vernichtend aus: Villers nimmt bei seinen Erläuterungen für die Zeit bis Kant zwei philosophische 45 Vgl. SW VIII, 4–9. 46 Vgl. C. Villers, Philosophie de Kant ou principes fondamentaux de la philosophie transcendentale, 2 Bde., Metz 1801. 47 Vgl. M. Isler, Briefe an Charles de Villers. Auswahl aus dem handschriftlichen Nachlasse des Charles de Villers, Hamburg 1879, XIII.
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Hauptströmungen an, nämlich die des Empirismus bzw. Materialismus und die des Dogmatismus bzw. Rationalismus. Den Empirismus verhandelt Villers hauptsächlich anhand der auch in Frankreich breit rezipierten Philosophien John Lockes und David Humes.48 Den sogenannten Rationalismus als Ensemble vernunftgeleiteter Erkenntnislehren beleuchtet Villers in seinem Hauptwerk allerdings in breiter und undifferenzierter Weise. Schelling kritisiert, dass er darunter u. a. den Naturalismus, Dualismus, Idealismus und Realismus, Theosophie, Platonismus, u. a. subsummiert.49 Zudem sei Villers laut Rezension der Vorwurf zu machen, dass er sogar beim Versuch die Kant’sche Erkenntniskritik zu verstehen, selbst nicht über empiristische Positionen hinaus komme.50 Dieser elementare philosophische Fauxpas eines französischen Kant-Interpreten kommt für Schelling freilich nicht überraschend, gelte doch für den Empirismus, dass er »in Frankreich in aller Menschen Mund und durch die Bemühungen der französischen Philosophen für die Welt zum allgemeinen Denksystem der Nation geworden ist«. (SW V, 191) In derselben Ausgabe des Kritischen Journals ist noch eine weitere Rezension51 abgedruckt, nämlich über eine naturphilosophische Schrift des Weltalls, sie stammt von einem Gelehrten namens Claude-Francois Le Joyand (geb. 1759). Die Besprechung ist allgemein gehalten und von tiefer Polemik durchdrungen. Einerseits bemerkt Schelling anhand des besprochenen Werks eine Renaissance von Descartes in der französischen Philosophie. Diese gehe allerdings unsachgemäß und durch falsches, mechanistisches Verständnis der Naturkräfte von Statten. Andererseits attestiert Schelling den meisten gegenwärtigen französischen Philosophen, ohne weitere konkrete Namen zu nennen, relative Geistlosigkeit oder aber in ihrer Denkart einen »trüben und prosaischen Mysticismus«. (SW V, 202) Schellings Bemerkungen bleiben an genannten Stellen vage und oberflächlich, es geht ihm hier nicht um eine ernstliche philosophische Auseinandersetzung. Es stellt sich die Frage, was er unter vergangenen und gegenwärtigen Formen des Empirismus versteht. Hier wird man in der Würzburger Propädeutik der Philosophie von 1804 fündig.52 Bereits auf den ersten Seiten legt Schelling dar, dass mit Hilfe des Empirismus – egal welcher Ausformung – keinerlei tragfähige Erkenntnis- und Wissenschaftsprämissen zu gewinnen seien. Die verbreitetste und zugleich unzulänglichste Art des Empirismus bestimmt Schelling als einen reinen Bezug auf Gegenständlich-Endliches und deren Wechselwirkungen nach dem Urteil der Erfahrung. Dieser Empirismus hat seinen Erkenntnisstandpunkt 48 49 50 51 52
Vgl. SW V, 184–202. Vgl. Villers, Philosophie de Kant, Bd. 1, 43f. Vgl. SW V, 192f. Vgl. Villers, Philosophie de Kant, Bd. 1, 69–107. Vgl. SW V, 192. Vgl. a. a. O., 202–206. Vgl. SW VI, 71–130.
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im Zusammenhang des Verhältnisses von Ursachen und Wirkung beobachteter Phänomene, und argumentiert aus der Mitte dieser Kausalkette. Epistemologisch vermag dieses Wissenschaftskonzept sich nicht auf die Bedingung der Möglichkeit dieser ›Kette‹ zu erheben, auch nicht zu deren möglichem Zweck oder Folgen. Denn erstens lasse sich nichts Allgemeines, und zweitens nichts im strengen Sinn Notwendiges bestimmen, wenn Urteile aber auch deren Prämissen lediglich aus den raum-zeitlichen Bedingungen der Erfahrungszusammenhänge generiert werden. Auch denjenigen empiristischen Positionen, die sich ausdrücklich um erkenntnistheoretische Reflexion bemühen, gibt Schelling keine Anerkennung. Es fehle diesen schlichtweg an den Mitteln, ein grundlegendes Prinzip, die Endlichkeit, sowie ihre Erfahrungsmöglichkeiten und -grenzen angemessen darzustellen.53 Resümierend notiert er dazu: »So viel möchte hinreichen, zu beweisen, daß Empirismus nie auf den Werth oder auch nur den Namen eines philosophischen Wissens Anspruch machen kann und daß es geradezu ein Widerspruch ist, die Erfahrung selbst […] zum Princip, und zwar zum obersten in der Philosophie zu machen, wie Baco und Locke und wie die späteren französischen Philosophen gethan haben.« (SW VI, 78)
Schelling sollte seine relative Geringschätzung der zeitgenössischen französischen Philosophie in den kommenden beiden Jahrzehnten beibehalten. Dies zeigen beispielsweise die Abschlussbemerkungen in einem Nachruf auf Immanuel Kant, den Schelling in der Fränkischen Staats- und Gelehrte[n] Zeitung im März 1804 veröffentlichte.54 Das auf die Münchner Vorlesungen von 1827 zurückgehende55 Traktat Ueber den nationellen Gegensatz in der Philosophie endet mit Parallelisierungen der deutschen, französischen und englischen Philosophie. Schelling betont darin – erneut in nur sehr allgemein gehaltenen Erklärungen – dass im Gegensatz zur deutschen Gelehrsamkeit die französische und englische nicht als Vernunft-, sondern als bloße Erfahrungswissenschaft praktiziert wird.56 Lediglich die Rezeption der praktischen Philosophie bzw. Moralphilosophie Kants habe die Achtung und Größe besessen, vereinzelt für philosophische Begeisterung in Frankreich zu sorgen. Dies jedoch hauptsächlich nur, da man glaubte, mit der »Moral Kants der leichtsinnigen Frivolität ihrer Nation« entgegenzutreten, sowie damit »die Mittel einer vorerst moralischen Regeneration ihres Volkes gefunden zu haben«. (SW X, 199) Angesichts aller genannten Gründe – der politischen, werkgeschichtlichen und persönlichen Situation an der Bayerischen Akademie – verwundert es nicht, dass Schelling die A.Z. mit Nachdruck in den Dienst deutscher Wissenschaft 53 54 55 56
Vgl. a. a. O., 71–83. Vgl. a. a. O., 10. Vgl. SW X, VI. Vgl. a. a. O., 194–200.
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stellen wollte. Allerdings blieb der besonders exklusivistische und plakativ klingende Titel ›von Deutschen für Deutsche‹ nicht ohne Widerspruch. Darauf kommt Schelling selbst in einem Brief mit seinem Verleger Cotta zu sprechen, und zwar schon in einem Brief vom 10. 4. 1812. Hier stellt Schelling ein nationalistisch-politische Motivation in Abrede bzw. relativiert diese. Das neue Journal soll lediglich in die Tradition anderer bedeutender Zeitschriften gestellt werden, wie beispielsweise das Deutsche Museum oder das Journal von und für Deutschland, von dem der Titel inspiriert ist.57 In den erwähnten Münchner Vorlesungen von 1827 legte Schelling darüber hinaus bei aller Polemik gegen Frankreich und England wert auf die Feststellung, dass die wahre, allgemeine Philosophie nicht an eine bestimmte Nation gebunden sein könne.58 Im zweiten Heft der A.Z. sind als erster Beitrag Darstellungen zum Leben und Werk des französischen Philosophen Denis Diderot abgedruckt.59 Der im Jahr 1784 in Paris verstorbene Diderot hatte sich Zeit seines Lebens vor allem einen Namen als bedeutender Autor und Herausgeber der französischen Encyklopédie gemacht, war jedoch aufgrund seiner philosophischen Schriften immer wieder Problemen durch Kirche und Zensur ausgesetzt. Konkret wurden dem ehemaligen Jesuitenschüler60 u. a. Kirchenkritik und Atheismus vorgeworfen, was 1749 zu einer mehrmonatigen Inhaftierung führte.61 Der früheste bekannte Entwurf der Memoires Diderots reicht in sein Todesjahr 1784 zurück, sie stammen von dessen Tochter. Eine erste Veröffentlichung einer handschriftlichen Version fand 1787 statt, und zwar in der französischen Correspondance littéraire, philosophique et critique.62 Es handelte sich dabei um ein Publikationsprojekt, das ab 1753 bis in das Jahr 1790 von dem deutschen Gelehrten Friedrich Melchior Grimm (1723–1807) und dem reformierten Theologen Jacques-Henri Meister (1744–1826) in Paris herausgegeben wurde. Das Spektrum der Inhalte war wie in der A.Z. sehr weit angelegt, es umfasste Abhandlungen zu französischem Theater, zu Literatur, Philosophie, bis hin zu geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Themen. Die Correspondance erfreute sich einer internationalen Rezeption, sie richtete sich an alle, die sich für Kunst und Kultur, aber auch für politische Vorgänge in Frankreich interessierten. Zu den Lesern zählte entsprechend Gelehrtenpublikum aus ganz Europa, Ausgaben wurden zeitweise auch an die Herrscherhäuser Deutschlands, 57 Vgl. Pareyson, Rariora, 398. 58 Vgl. SW VIII, 199. 59 Vgl. F.W.J. Schelling (Hrsg.), Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, Nürnberg 1813, 145–195. 60 Vgl. a. a. O., 143. 61 Vgl. a. a. O., 166–168. 62 Vgl. A.M. Wilson/B.T. Hanna, Mémoires de Mme Vandeul. Introduction, in: D. Diderot, Œuvres complètes. Bd. 1: Le modèle anglais, hrsg. v. dens. u. a., Paris 1975, 3–8, bes. 3–5.
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Schweden, Polens und anderer Länder geschickt.63 Zu den berühmtesten Autoren, die regelmäßig Beiträge für Neuerscheinungen lieferten, zählte neben Diderot auch Voltaire.64 Bis in das Jahr 1812 verbreitete die Correspondance jedoch ausschließlich handschriftliche Dokumente und Duplikate, erst ab dann erschien eine unautorisierte fünfbändige Druckversion in Paris.65 So verwundert es nicht, dass ab 1786 mindestens drei verschiedene Varianten der Memoires sowie unterschiedliche Kopien davon im Umlauf waren, die in Umfang, Inhalt sowie sprachlicher Gestaltung vom Erstentwurf 1784 teilweise erheblich abwichen. Keine dieser Manuskripte wurde in den späteren Druckversionen der Correspondance ab 1812 aufgenommen,66 was auch in der A.Z. festgestellt wird.67 Einer der langjährigen Abonnenten der Correspondance in Deutschland war Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha. In dessen Nachlass befindet sich bis heute ein großer Bestand der Ausgaben,68 darunter auch eine seltene Abschrift der Memoires.69 Es liegt die Vermutung nahe, dass dem Verleger Schrag bzw. Schelling, der am 11. 6. 1812 seine zweite Frau Pauline Gotter ebendort in Gotha geheiratet hatte,70 diese Variante als Vorlage zur Veröffentlichung in der A.Z. diente. Ein genauer Vergleich des Manuskripts in Gotha mit anderen, sowie mit dem Text in der A.Z. muss darüber Aufschluss bringen. Angesichts der Vorgaben Schellings in der ›Vorrede‹ verwundert es jedenfalls zunächst, warum gerade die biographischen Erzählungen Diderots breiten Raum in der A.Z. einnehmen sollten. Immerhin handelt es sich um den drittlängsten Beitrag aller vier erschienenen Hefte. Diese Frage versucht die Zeitschrift selbst zu beantworten. Den Memoires ist ein gut dreiseitiger Brief vorangestellt, der an den Herausgeber der Zeitschrift, also Schelling, gerichtet ist. Jedoch ist der – offiziell – anonyme Verfasser vermutlich niemand anderes, als Schelling selbst.71 63 Vgl. R. Reichardt/E. Schmitt (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, H. 1/2, München 1985, 79. Vgl. M. Mitscherling, »Correspondance littéraire, philosophique et critique.« Eine Brücke zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Via Regia – Blätter für internationale kulturelle Kommunikation 36/37 (1996), o.S. 64 Vgl. M. Moog-Grünewald, Jakob Heinrich Meister und die »Correspondance littéraire.« Ein Beitrag zur Aufklärung in Europa, Berlin/New York 1989, 41f. 65 Vgl. a. a. O., 43f. Sie beinhaltete Publikationen aus den Jahren 1770–1782. Meister veröffentlichte daraufhin eine eigene Edition mit Beiträgen der Correspondance aus den Jahren 1782 bis 1790. Vgl. ebd. 66 Vgl. Wilson/Hanna, Introduction, 4f. 67 Vgl. Schelling, Allgemeine Zeitschrift, 141f. 68 Vgl. Mitscherling, »Correspondance littéraire«, o.S. 69 Vgl. Forschungsbibliothek Gotha. Nachlass Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg. Sign.: Chart. B 1101 a. 70 Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Existenz denken: Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk, München 2015, 226. 71 Vgl. Pareyson, Rariora, 418.
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Er bemüht sich in diesem Brief mit Argumenten zu plausibilisieren, warum die Memoires, noch dazu in französischer Sprache, vom deutschen Publikum gelesen werden sollten. Zwar sieht der Verfasser des Briefes die Zeit Diderots mit einer Epoche philosophischen Niedergangs bzw. einfältigem Naturalismus und sittlich-politischem Verfall verknüpft – gerade deshalb sei es jedoch notwendig, künftige Generationen darüber zu informieren, im Sinne eines warnenden Beispiels.72 Zudem werde in den Erinnerungen Diderots ja nicht primär sein Denken, sondern sein Leben und Charakter dargelegt, welches sich durch besondere Kraft und Wahrheitsliebe ausgezeichnet habe, die dem deutschen Geist nahe stehe.73 Betrachtet man die konkrete Entstehungsgeschichte der A.Z., wird die Aufnahme von Diderots Memoires sowie der vorangestellte ›Brief an den Herausgeber‹ auch aus anderen Gründen verständlicher. Das Vorhaben zur Gründung der Zeitschrift hatte Schelling wie erwähnt erstmals gegenüber seinem Verleger Cotta im Juni 1811 angekündigt. Das druckfertige erste Heft übermittelte er aber erst am 5. 3. 1813 an Cotta,74 auch wenn es nicht von ihm, sondern von Johann Leonhard Schrag in Nürnberg herausgegeben wurde.75 Als Gründe für die ständigen Verzögerungen gab Schelling am 6. 12. 1812 in einem unveröffentlichten Brief gegenüber dem Verleger Friedrich Christoph Perthes mehrere »Unfälle« an.76 Schelling meint damit persönliche Probleme, wie beispielsweise den Tod seines Vaters im Oktober 1812.77 Vor allem aber hatte Schelling offensichtlich große Mühe engagierte Autoren für sein Periodikum zu gewinnen. Wie aus den Briefwechseln hervorgeht, kontaktierte Schelling zwischen dem 24. 1. 1812 und dem 1. 2. 1813 mindestens 20 Personen, welche er direkt oder über Dritte zur Mitautorenschaft bewegen wollte. Darüber hinaus erhielten acht Gelehrte am 1. 2. 1813 schriftliche Aufforderungen bzw. Verträge zur Mitarbeit mittels ›Blankoformularen‹. Mit diesen konnten sie sich zu einem beliebigen Thema aus ihrem Fachgebiet für die Zeitschrift anmelden und verpflichten.78 Für diese Startschwierigkeiten waren mit Sicherheit auch die vergangenen Gelehrtenstreitigkeiten sowie Parteiungen an der Bayerischen Akademie mitverantwortlich. So fällt auf einen Blick auf, dass Schelling innerhalb eines Jahres nur drei Gelehrte direkt aus München oder dem Umfeld der Akademie für sich 72 73 74 75
Vgl. Schelling, Allgemeine Zeitschrift, 142. Vgl. a. a. O., 143f. Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 3. 1813 (Schelling, Schelling und Cotta, 80). Vgl. a. a. O., 304. Schelling hatte bereits in einem Brief vom Juni 1811 Schrag gegenüber Cotta den Vorzug gegeben, da Cotta mit anderen Aufträgen und Projekten ohnehin zu beschäftigt sei. Vgl. ebd. 76 Unveröffentlichter Brief aus dem Archiv der Schelling-Edition an der Bayerischen Akademie in München. 77 Vgl. F.W.J. Schelling an K.E. Schelling nach dem 5. 10. 1812 (Schelling, Aus Schellings Leben, Bd. 2, 325–328). 78 Vgl. Pareyson, Rariora, 415f.
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gewinnen konnte: Franz von Baader, Friedrich Thiersch und Bernhard Joseph Docen (1782–1828). Von den verbliebenen vier auswärtigen deutschen Autoren stammen mit Ausnahme von Friedrich de la Motte Fouqué alle aus dem persönlichen Umfeld Schellings: Neben den ehemaligen Tübinger Studienkollegen Eschenmayer und Johann Christian Pfister (1772–1835) war dies der norwegische Historiker und Theologe Nicolaus Möller (1777–1862). Möller war um die Jahrhundertwende Schüler Schellings in Jena gewesen, im Jahr 1803 allerdings zum Katholizismus konvertiert.79 Letztendlich konnte Schelling innerhalb des einjährigen Bestehens des Journals insgesamt 15 Studien von 10 Autoren sammeln, die nicht von ihm stammen. Vier davon verfasste der genannte Bibliothekar der Staatsbibliothek in München, Bernhard Joseph Docen. Es ist daher plausibel anzunehmen, dass Schelling die Memoires von Diderot u. a. auch deshalb publizierte, da er nur begrenzt Beiträge zur Verfügung hatte, vor allem wenig Herausragendes oder Originelles.80 Tatsächlich handelte es sich nämlich um eine Erstveröffentlichung der biographischen Erinnerungen Diderots, ausgerechnet in Schellings Zeitschrift für Deutsche. Sie wurde in allen zukünftigen DiderotWerkausgaben erneut abgedruckt.81
3.
Resümee
Mit Ende des Jahres 1813 verfolgte Schelling das Bestehen der A.Z. nicht weiter. Im vierten und letzten Heft ist am Ende des Aufsatzes von Nicolaus Möller Über den Einfluß der Gebirge auf die Geschichte noch der Vermerk abgedruckt »Die Fortsetzung folgt«,82 was offensichtlich nicht mehr passierte. Schelling selbst äußerte sich nochmals 1815 zum Ende des Journals. Am 15. 10. schrieb er an den deutschen Lyriker Karl Ludwig von Knebel (1744–1834) lapidar, dass die Herausgabe im Jahr 1813 nach vier Ausgaben »leider bald darauf in Stillstand gerieth«.83 Schellings Zeitschriftenprojekt zeigt sich resümierend als der Versuch, in einer Zeit akademischer, bildungs- wie gesellschaftspolitischer Konflikte einen Ort interdisziplinärer Debatten für einen gemeinschaftlichen Fortschritt in der deutschen Gelehrtenwelt bereitzustellen. Die dafür notwendigen einheitsstif79 Vgl. D.A. Rosenthal, Convertitenbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Schaffhausen 1866, 40f. 80 Vgl. den Streit Schellings mit Cotta, da dieser nahezu zeitgleich einen Teil der Memoires in deutscher Übersetzung veröffentlicht hatte: F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 21. 4. 1813 (Schelling, Schelling und Cotta, 83f.). 81 Vgl. Pareyson, Rariora, 418. 82 Schelling, Allgemeine Zeitschrift, 503. 83 F.W.J. Schelling an K.L. Knebel am 15. 10. 1813 (Schelling, Aus Schellings Leben, Bd. 2, 360).
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tenden Mittel sieht Schelling nicht zuletzt in seinem eigenen wissenschaftstheoretischen Programm, in Abgrenzung zum Zustand der damals gegenwärtigen französischen Philosophie bzw. Formen des ›Empirismus‹. Schellings Einheitsbestrebungen betrafen in diesem Sinn nicht nur die grundlegende philosophische Methodik, sondern auch die äußerlichen Strukturen wissenschaftlichen Arbeitens und Kommunizierens. Er schreibt in der ›Vorrede‹: »Denn gleichwie es für den einzelnen Menschen nichts Unglücklicheres geben kann, als über die wesentlichsten Dinge kein Urtheil zu haben, so auch für eine ganze Zeit; und wie der einzelne Mensch sich durch nichts mehr gefördert fühlt, als wenn ihm ein Urtheil über Gegenstände zu Theil wird, denen er zuvor nicht beizukommen vermochte, so ebenfalls ein ganzes Geschlecht. Wenn also eine Zeit auch, anarchisch verwirrt, eine Weile jedem, der Frechheit genug hat, verstattet, sich zum Richter und Urtheiler aufzuwerfen; so wird sie doch bald der unberufenen Wortführer satt und schmachtet nach der Erquickung eines reinen, scharfen und gesunden Urtheils, wodurch sie erst sich selbst wiedergegeben wird.« (SW VIII, 140)
In diesem Sinn gibt es hier in der A.Z. einen Aspekt, der zwar schon im Jahr 1805 brieflich erwähnt ist,84 jedoch sowohl in den ›Methodenvorlesungen‹ als auch in Über das Wesen deutscher Wissenschaft nicht so entschieden zu Tage trat. Schelling betont sowohl in der ›Ankündigung‹ als auch in der ›Vorrede‹, dass das Wissenschaftsprogramm der A.Z. eine »Beziehung auf das Leben«85 haben solle, im konkreten Sinn, für alle Aspekte des öffentlichen Bildungs- und Gemeinwesens. Schelling war offensichtlich – wie auch bei anderen Zeitschriftenprojekten dieser Zeit – außerordentlich daran gelegen, nicht nur ein spezifisches Fachpublikum zu erreichen, sondern eine über das interdisziplinäre Feld hinausreichende Breitenwirkung zu erzielen.
84 Vgl. oben in Abschnitt 2.1.2 Schellings nie verwirklichtes Vorhaben zur Gründung eines rein philosophischen Journals im Oktober 1805, das in seinen inhaltlichen Vorgaben Parallelen zur A.Z. hat. 85 Pareyson, Rariora, 401. SW VIII, 142.
Ryan Scheerlinck
Vorreden zu den Weltaltern. Schelling, Jacobi, Eschenmayer und die Natürliche Theologie
»In meiner Abgeschiedenheit zu Jena wurde ich weniger an das Leben und nur stets lebhaft an die Natur erinnert, auf die sich fast mein ganzes Sinnen einschränkte. Seitdem habe ich einsehen lernen, daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Leben im Staat der Punct sind, um welchen sich Alles bewegt und an den der Hebel angesetzt werden muß, der diese todte Menschenmasse erschüttern soll.«1
So schreibt Schelling am 16. 1. 1806 aus Würzburg an Karl Joseph Hieronymus Windischmann. In dieser förmlichen Erklärung artikuliert sich die sokratische Wendung, die sich zu eben dieser Zeit an Schelling vollzog. Sie erinnert nämlich unweigerlich an den aristophanischen Sokrates, dessen ›Sinnen‹ sich in der ›Abgeschiedenheit‹ seines Phrontisterions ebenfalls fast ganz auf die Natur ›einschränkte‹, bis zwei ungebetene Anhänger ihm die politischen Auswirkungen und Implikationen seiner naturphilosophischen Forschungen auf eine Weise zum Bewusstsein brachten, die sich kaum je vergisst.2 Diese Auswirkungen und Implikationen wurden Schelling vor Augen geführt, als er seine ›Abgeschiedenheit zu Jena‹ aufgab, um nach Würzburg umzusiedeln, und er sich unablässigen Angriffen ausgesetzt sah, von welchen die durch Jacob Salat und Kajetan Weiller wohl zu den öffentlichkeitswirksamsten gehörten. Mögen deren Angriffe sich auch vorwiegend in der Form von Diffamierungen gegen die Person Schellings gerichtet haben, so lässt sich in denselben doch insofern ein ›sachlicher‹ Grund ausmachen, als sie sich auf die Beschuldigung des Atheismus und die Korrumpierung der Jugend reduzieren. Dabei ist es völlig unerheblich, dass man die Genannten keines sonderlichen Verständnisses von Schellings Denken bezichtigen kann, da ihre Aktion sich vorwiegend gegen die Auswirkungen desselben richtete, gegen die Schule, die sich allmählich um Schelling herum auszubilden begann. Sie sahen sich zu ihrer konzentrierten Aktion, die beim Publikum wie bei der Regierung Misstrauen – wenn nicht sogar Feindseligkeit – 1 F.W.J. Schelling, Aus Schellings Leben. In Briefen, hrsg. v. G.L. Plitt, 3 Bde., Leipzig 1869–1870, hier: Bd. 2, 78 (Siglum Plitt mit Angabe des Bandes und der Seite). 2 Zu Aristophanes’ Sokrates, vgl. AA II/6, 388.
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erwecken sollte, durch ihre Sorge um das gemeinsame Gute berechtigt. Hierzu ist zu bemerken, dass eine solche Schulbildung von Schelling auch ausdrücklich angestrebt wurde, wie bereits aus der Konzeption der von ihm herausgegebenen Zeitschriften hervorgeht: Diese hatte er ja in der Absicht gegründet, Forscher dazu zu bewegen, sein Unternehmen einer spekulativen Physik und einer auf dieser gegründeten Medizin zu entfalten und weiterzuentwickeln, ohne dass sie zu diesem Zweck seine leitende Intention zu verstehen bräuchten.3 In diesem Streit konnten Salat und Weiller einen beachtenswerten Erfolg verbuchen, indem es ihnen gelang, einen Schulplan durchzusetzen, der die Schelling’sche Philosophie offiziell vom Unterricht an den bayerischen Lyzeen ausschloss.4 Die Einsicht, »daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Leben im Staat der Punct sind, um welchen sich Alles bewegt und an den der Hebel angesetzt werden muß«, führte unmittelbar zu dem Plan, ein Philosophisches Journal herauszugeben, dessen Absicht darin zu bestehen hatte, »diejenigen Seiten der Philosophie durch welche sie mit dem Leben zusammenhängt, zu bearbeiten und ihre Resultate für dasselbe in einem mehr allgemeinfaßlichen als streng wissenschaftlichen Styl darzustellen«.5 Der Plan zu diesem Philosophischen Journal wurde zu jener Zeit nicht realisiert; Schelling greift die Idee einer Zeitschrift, die in ihrer Konzeption ziemlich genau der des Journals entspricht, jedoch im Juni 1811 wieder auf und wird sie dieses Mal etwa zwei Jahre später in der Gestalt der Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche auch verwirklichen.6 Die Konzeption dieser Zeitschrift unterscheidet sich grundlegend von den bis dahin von Schelling 3 So ausdrücklich in Schellings Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie. (Vgl. AA I/10, 88. 92f.) 4 Dazu bemerkt Kuno Fischer: »Alle gegen Schelling geläufigen Gemeinplätze von dem Gegensatze der Schulphilosophie und Lebensweisheit, von der Verstandesgrübelei und Erkenntnißsucht u.s.f. hatten hier Eingang gefunden in ein officielles Schriftstück und trugen den Stempel der öffentlichen Autorität.« (K. Fischer, Schellings Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 1902, 113) Zu diesem Schulplan, vgl. AA I/15, 141. 488; I,18, 6–8. 11f. Zur Auseinandersetzung mit Salat und Weiller, siehe P. Funk, Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchener Romantik, München 1925 und W.E. Gerabek, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik. Studien zu Schellings Würzburger Periode, Frankfurt a.M. u. a. 1995, 163–167. 205–219. Zu Salat, siehe A. Seigfried, Vernunft und Offenbarung bei dem Spätaufklärer Jakob Salat. Eine historisch-systematische Untersuchung, Innsbruck/Wien 1983. Zu Weiller, siehe H. Vierling-Ihrig, Schule der Vernunft. Leben und Werk des Aufklärungspädagogen Cajetan von Weiller (1762–1826), München 2001, bes. 177–184. 203–226. Zu Schellings Beiträgen zur Auseinandersetzung, vgl. AA I/15, 323–378 und v. Vf. (Rez.), F.W.J. Schelling, Werke I,15, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 75 (erscheint 2021). 5 F.W.J. Schelling an den Verleger P. Krüll am 6. 10. 1805 (H. Fuhrmans [Hrsg.], Briefe und Dokumente, Bonn 1962–1975, Bd. 1, 337). Vgl. auch die Briefe an K.J.H. Windischmann vom 25. 9. 1805 und 8. 10. 1805, sowie vom 16. 1. 1806 (Plitt II, 74. 75. 77). 6 Vgl. F.W.J. Schelling an J.L. Schrag am 2. 6. 1811 (F.W.J. Schelling, Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, hrsg. v. H. Fuhrmans/L. Lohrer, Stuttgart 1965, 304).
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herausgegebenen Zeitschriften, die in erster Linie »für die innere Kultur« der Wissenschaft bzw. Philosophie bestimmt waren, während jene vielmehr die Außenbeziehungen der Philosophie oder ihr »Verhältniß zum Leben« reflektieren soll. (AA I/10, 88) 7 Um die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Schriften, allem voran das Schreiben Eschenmayers und Schellings Antwort auf dasselbe, angemessen zu beurteilen, ist es unabdingbar, die allgemeine Absicht der Zeitschrift zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Zeitschrift selbst als ein Parallelunternehmen zu den Weltaltern konzipiert wurde: In der Tat hat Schelling den früheren Plan in eben dem Augenblick wieder aufgegriffen, als das Erste Buch der Weltalter ihm bereits gedruckt vorlag und er mit deren baldiger Veröffentlichung rechnete.8 Der Unterschied zwischen den beiden parallel geführten Unternehmen wird übrigens in der Vorrede der Allgemeinen Zeitschrift ausdrücklich zum Thema erhoben: Während ein Buch idealiter seiner Zeit voraus sein soll, d. h. die Grundlage einer neuen, künftigen Zeit legen soll (eine Aussage, die sich durchaus auf Die Weltalter beziehen ließe), gehört es zu einer Zeitschrift, »zeitgemäß, wenn auch nicht in jedem Verstande zeitgerecht« zu sein.9 Um auf die eigene Zeit erfolgreich einwirken zu können, muss sie an die herrschenden Meinungen anknüpfen und versuchen, diese in eine erwünschte Richtung zu lenken: »Sie soll für das, was noch außer und vor der Zeit liegt, und was im Entstehen sich von ihr losgesagt hat, die geschichtlichen Vermittlungsglieder finden, durch welche es an die Zeit herangebracht oder in diese aufge-
7 Vgl. F.W.J. Schelling an A.C.A. Eschenmayer am 5. 4. 1812: »Da die entworfene Zeitschrift nicht so sehr der reinen und strengen Wissenschaft, als ihrem Bezug und Verhältniß zum Leben gewidmet sein soll«. (Plitt II, 303) Ferner: F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 72). In der Vorrede zur Zeitschrift wird Schelling noch präziser: »Philosophie an sich – besonders aber in ihrer Beziehung auf das Leben und auf die höchste Angelegenheit desselben, Religion«. (F.W.J. Schelling, Vorrede, in: Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, hrsg. v. dems., Nürnberg 1813, Xf.) In diesem Zusammenhang ist es übrigens bemerkenswert, dass Schelling bereits in dem Brief vom 16. 1. 1806 zwischen ›Natur‹ und ›Leben‹ unterscheidet und dass er ›Leben‹ als Leben in einem von »Religion, öffentlichem Glauben und dem Leben im Staat«, d. h. durch Konvention abgesteckten geschlossenen Horizont bestimmt. Jene Unterscheidung entspricht also jener zwischen physis und nomos. 8 Zudem plante Schelling seit längerem, eine überarbeitete Auflage der Methodologie erscheinen zu lassen, deren achte und neunte Vorlesung als der Keim der Gedanken der Weltalter bzw. der sich aus denselben ergebenden Philosophie der Mythologie und der Offenbarung angesehen werden können. Im März 1813, zu der Zeit also, als Die Weltalter hätten erscheinen sollen, erschien dann eine – allerdings unveränderte – zweite Auflage der Methodologie, da Schelling durch äußere Umstände (die Akademie-Rede, die Verfassung der Akademie der bildenden Künste, die Arbeit an der ›Freiheitsschrift‹ und der Tod Carolines) daran gehindert wurde, die »bis zur Hälfte fortgeführt[e]« Umarbeitung ganz fertigzustellen. (F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 20. 5. 1807 [Schelling, Schelling und Cotta, 18; vgl. a. a. O., 21. 27. 37. 71. 77. 82f.]) 9 Schelling, Vorrede, III.
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nommen werden kann.«10 Insbesondere soll sie »einen langgewünschten Vereinigungspunkt der jetzt vielfach getrennten Geister und Bestrebungen abgeben, und gleichsam die Verhandlungen einer unsichtbaren, durch ganz Deutschland verbreiteten Akademie enthalten«.11 Dass Schelling es als erforderlich erachtete, die Veröffentlichung der Weltalter durch das zeitgleiche12 Erscheinen der Allgemeinen Zeitschrift zu begleiten, erklärt sich aus seiner Einsicht, »daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Leben im Staat der Punct sind, um welchen sich Alles bewegt«.
I. Um das Motiv dieses parallelen Unternehmens zu verstehen, mag es hilfreich sein, von dem Wandel auszugehen, der sich um 1806 in Schellings Verständnis der Kunst des Schreibens vollzieht. Durch dieselbe hatte er schon immer der Tatsache Rechnung getragen, dass nur wenige sich zur Philosophie eignen. Aus dieser natürlichen Ungleichheit hatte er die Schlussfolgerung gezogen, dass die Philosophie nicht »zu besonderer Rücksicht auf das Unvermögen verpflichtet sey«, sondern es sich vielmehr »ziemt […], den Zugang zu ihr scharf abzuschneiden, und nach allen Seiten hin von dem gemeinen Wissen so zu isoliren, daß kein Weg oder Fußsteig von ihm aus zu ihr führen könne«. (AA I/12, 103)13 Noch 1804 erklärt er, dass die Darstellung der Philosophie idealiter der Absicht gehorcht, »das, was seiner Natur nach der Gemeinheit unzugänglich seyn soll, ihr auch durch die Form äußerlich-sichtbar zu entziehen«. (SW VI, 14) Jetzt aber, angesichts der Feindschaft, die seine Naturphilosophie ihm eingebracht hat und die nicht nur ihm als Person, sondern der Philosophie überhaupt gilt, erklärt er »Volksmäßigkeit« zum »Hauptabsehen« der Allgemeinen Zeitschrift.14 Die scharfe Abschneidung des Zugangs genügt nicht, um die Philosophie zu schützen. Dies heißt indes nicht, dass Schelling hinter der Einsicht in die Unterscheidung zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen zurückfällt, weil sich diese, da sie ihren Grund in der Natur hat, durch keine menschliche oder göttliche Kunst beheben lässt, sondern nur, dass er sich dazu genötigt sieht, sie tiefer zu fassen. Gesetzt, dass das Glück des Philosophen sich im Zusammenspiel von 10 A. a. O., IVf. 11 A. a. O., XIII. 12 Vgl. F.W.J Schelling an K.J.H. Windischmann am 27. 2. 1812 (Plitt II, 296); F.W.J. Schelling an J.C. Pfister am 23. 8. 1812 (Plitt II, 325); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 3. 1813 (Schelling, Schelling und Cotta, 80). 13 Diese Erklärung bezieht sich in erster Linie auf die Darstellung meines Systems der Philosophie. 14 F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 27. 2. 1812 (Plitt II, 295).
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Dialektik und Anschauung findet, so erhebt sich die Frage, ob sich ein Glück konzipieren läßt, das ohne diese beiden Aktivitäten auskommt, und was der Philosoph dazu beizutragen vermag, dieses zu befördern. Damit sieht Schelling sich vor eine Aufgabe gestellt, die zuallererst eine praktische Zielsetzung hat. Die Wendung zur ›Volksmäßigkeit‹ ist jedoch nicht nur auf eine äußere Nötigung zurückzuführen: Indem er sich auf die Nicht-Philosophen und die Bedingungen ihres Glücks einlässt, vermag er zu einer vertieften Einsicht in die Besonderheit des Philosophen zu gelangen. Die ›Volksmäßigkeit‹ ist jedoch nicht nur das ›Hauptabsehen‹ der Allgemeinen Zeitschrift; sie ist ebenso nachdrücklich das Bestreben Schellings mit den Weltaltern. Nichts stellt er in Briefen so oft heraus, als dass es sich dabei um »das allgemeinverständlichste [Buch, R.S.] dem Vortrag nach« handelt, »das ich geschrieben«.15 Um für die ›volksmäßige‹ Lehre der Weltalter überhaupt erst Gehör finden zu können, ist Schelling jedoch dazu genötigt, zunächst solche allgemein verbreiteten Vormeinungen zu destruieren, die dem Verständnis jener Lehre vorbauen könnten. Das Denkmal und das Antwortschreiben verfolgen vorwiegend diesen negativen Zweck. Die Attacke Jacobis zu eben diesem Zeitpunkt stellt sich insofern dann auch als ein Glücksfall heraus, da dieser als das Zentrum des Zeitalters angesehen werden kann und er die für das Zeitalter charakteristischen Vormeinungen auf exemplarische Weise artikuliert und verkörpert. Nachdem Schelling während seines Aufenthalts in Stuttgart erneut Gelegenheit gehabt hatte, zu erfahren, wie durchaus mächtig der Ruf seines Atheismus weiterhin war, kam die Einsicht von 1806 erst wirklich zum Tragen.16 Noch in Stuttgart fasste er den Plan zu den Weltaltern, deren Niederschrift er wohl gleich nach der Rückkehr in München begann.17 Jedenfalls meldet er seinem Verleger Johann Friedrich Cotta am 30. 1. 1811, »daß ich seit 2 Monaten unaufhörlich in 15 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 3. 8. 1811 (Schelling, Schelling und Cotta, 53). Vgl. a. a. O., 72f. 87 und auch F.W.J. Schelling, Die Weltalter. Fragmente, hrsg. v. M. Schröter, München 1946, 121. 16 So gewährte der König von Württemberg Schelling nicht die verlangte Audienz. Allerdings gelang es ihm, mittels den in Stuttgart abgehaltenen Privatvorträgen u. a. Eberhard Friedrich von Georgii und Karl August von Wangenheim, die hohe Stellungen im württembergischen Staat innehatten, für seine Philosophie zu gewinnen. Von Wangenheims Bemühungen, Schelling auf eine Professur an der Tübinger Universität berufen zu lassen, scheiterten jedoch wenig später an einem von den Tübinger Theologen inspirierten Veto des Königs, der die Stelle stattdessen »mit einem minder in die Augen fallenden Subjekt zu besetzen« wünschte. Der Bericht von Wangenheims und die Resolution des Königs sind abgedruckt in: M. Miller, Um die Berufung von F.W.J. Schelling an die Universität Tübingen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 13 (1954), 323–325. Siehe auch: AA II/8, 15–17. 22–27 (Ed. Bericht). 17 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter, hrsg. v. L. Knatz/H. J. Sandkühler/M. Schraven, Hamburg 1994, 52 (15. 9. 1810). 58 (27. 12. 1810). 63 (2. 2. 1811).
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der Arbeit bin« und dass ein »Werk, woran ich seit vielen Jahren innerlich entworfen, […] nun endlich bis Ostern äußerlich werden [soll]«.18 Am 7. 4. 1811 heißt es dann bereits, dass »[v]on den Weltaltern […] 13. Bogen fertig gedruckt [sind]«.19 Die endgültige Fertigstellung des Werkes wird dann zunächst durch die Attacke Jacobis gestört. Am 16. 11. 1811 erhält Schelling Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, die »Beschuldigungen« enthält, »zu denen ich nicht schweigen kann, schweigen darf«, die er zunächst mittels einer Vorläufigen Erklärung hinlänglich zurückweisen zu können meint, um sich eine »ausführliche, radikale und totale, Auseinandersetzung«, wie »nothwendig«, wie »unendlich vortheilhaft« und »längst erwünscht« diese auch sein mag, bis nach der Fertigstellung der Weltalter vorzubehalten.20 Nur wenige Wochen später meldet Schelling seinem Verleger, dass die Vorläufige Erklärung doch »zu einer vollkommnen Auseinandersetzung geworden ist«.21 Während der Arbeit an der Vorläufigen Erklärung, die nur Jacobis Attacke abschlagen soll, kommt Schelling auf den Gedanken, wie sich »das, was böslich gemeynt war, zugleich in ein Gutes für mich und Andere zu verwandeln« sei, wie dieser äußere Anlass sich dazu verwenden ließ, das Publikum auf das bevorstehende Erscheinen der Weltalter vorzubereiten, indem er das Denkmal als »eine sehr paßliche Vorrede zu den Weltaltern« konzipierte. (AA I/18, 143)22 Vielleicht hat Jacobis Attacke ihm erst zum Bewusstsein gebracht, wie sehr Die Weltalter einer Vorrede bedürften. Schelling vermag somit Herr der äußeren Umständen zu bleiben, indem er sich diesen so zu bedienen vermag, dass sie seiner eigenen Absicht gehorchen. Da Die Weltalter weitgehend fertig vorlagen, dürfte es Schelling auch nicht sonderlich schwer gefallen sein, gerade jene Punkte aus Jacobis Schrift aufzugreifen, deren Zurückweisung sich dazu eigneten, auf jenes Werk vorzubereiten. Nach dem Erscheinen des Jacobi-Denkmals kehrt Schelling unverzüglich zu der Arbeit an den Weltaltern zurück, bis er, als ihm Anfang April 1812 klar wurde, dass das selbst gesteckte Ziel, das Werk zur Ostermesse 1812 erscheinen zu lassen, sich nicht mehr erreichen ließ, die Arbeit erneut unterbricht, diesmal um die 18 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 30. 1. 1811 (Schelling, Schelling und Cotta, 50). In einem weiteren Brief erklärt er Die Weltalter sogar zur »Frucht alles meines Fleißes seit bald 20. Jahren« (F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 19. 8. 1814 [Schelling, Schelling und Cotta, 87]); er versteht seine gesamte schriftstellerische Tätigkeit somit als Vorbereitung auf dieses Werk als einen großangelegten Versuch der Selbstverständigung oder der ›Krisis‹; die Einsicht von 1806 nötigt ihn dazu, seinen ganzen bisherigen Weg neu zu durchdenken und seine denkerischen Bemühungen einer höheren Absicht unterzuordnen. 19 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 7. 4. 1811 (Schelling, Schelling und Cotta, 51). 20 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 16. 11. 1811 (Schelling, Schelling und Cotta, 57f.). Vgl. Schelling, Tagebücher, 66 und auch AA I/18, 129. 143. 21 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 3. 1. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 61). 22 Ebd. In diesem Brief kommt Schelling übrigens auch auf die Allgemeine Zeitschrift zu sprechen.
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Herausgabe der Allgemeinen Zeitschrift voranzutreiben.23 Erst im Zusammenhang mit dem Zeitschriftenplan entscheidet er sich jetzt dazu, den auf den 18. 10. 1810 datierten Brief Eschenmayers, der ihm zunächst »nicht wichtig genug war, ihm privatim zu antworten«, in eben jene Zeitschrift aufzunehmen und mit einer ausführlichen Entgegnung zu versehen.24 Der entscheidende Grund, zunächst nicht auf Eschenmayers Schreiben zu antworten, mag wohl darin zu suchen sein, dass Schelling inzwischen den Entschluss zu den Weltaltern gefasst hatte und in der Arbeit an denselben begriffen war. Mit seinem 40 Druckseiten umfassenden Brief knüpfte Eschenmayer an den Briefwechsel an, den er mit Schelling bis in den Sommer 1805 geführt hatte, um Schelling diesmal die Bedenken und Einwände mitzuteilen, die ihm bei der Lektüre der ›Freiheitsschrift‹ eingefallen waren.25 Es sind dies teils dieselben wie die, die er in Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nicht-Philosophie entwickelt und auf welche Schelling mit Philosophie und Religion zu antworten gesucht hatte.26 Dass der die öffentliche Auseinandersetzung privatim weiterführende Briefwechsel im Sommer 1805 zum Erliegen kam, hatte seinen Grund wohl darin, dass das nach Schelling »Bedauerlichste« an Eschenmayers »Meynung« war, ihn »wirklich verstanden zu haben«, und dass er »die Versicherung des Gegentheils« ihm »vielleicht als Anmaßung auslegen« würde.27 An dieser Einschätzung hat sich weder 1810 noch 1812 etwas geändert. Erst als ihm klar wurde, dass sich aus jenem Schreiben durchaus ein Gewinn ziehen ließe, entschließt er sich zu einer zwar nicht privaten, aber wenigstens öffentlichen Antwort. Anders als im Falle der Attacke Jacobis, auf welche zu antworten sich kaum vermeiden ließ, entscheidet Schelling sich diesmal aus freien Stücken für eine Replik. Das Antwortschreiben wurde zudem von Anfang an in der Absicht konzipiert, es zusammen mit Eschenmayers 23 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 31. 1. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 66). Vgl. auch F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 4. 1812 (a. a. O., 71). 24 F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann am 5. 4. 1812 (Plitt II, 302). Vielleicht war das Antwortschreiben an Eschenmayer als erster einer »Reihe von Briefen über die deutsche Philosophie« konzipiert (F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 10. 4. 1812 [Schelling, Schelling und Cotta, 72]); vgl. auch F.W.J. Schelling an P. Krüll am 6. 10. 1805 (Fuhrmans [Hrsg.], Briefe und Dokumente, Bd. 1, 337). 25 Eschenmayer spielt auf eine persönliche Begegnung mit Schelling an, indem er zu Beginn seines Briefes erwähnt, dass er Schelling »schon mündlich mein Verlangen aus[drückte], auch die freye Sphäre des Menschen von Ihnen umschrieben zu sehen«. (A.C.A. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, über dessen Abhandlung: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit, in: Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, hrsg. v. F.W.J. Schelling. Nürnberg 1813, Bd. 1, 38) Bislang sind keine Dokumente bekannt geworden, die eine solche Begegnung belegen. In Schellings Kalender, der allerdings nur spärliche Informationen zu seinem Stuttgarter Aufenthalt enthält, wird eine solche nicht erwähnt. 26 Zu dieser Auseinandersetzung vgl. meine Schrift ›Philosophie und Religion‹ – Schellings Politische Philosophie, Freiburg i. Br./München 2017. 27 Schelling, Antwort, 127.
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Brief in die Allgemeine Zeitschrift aufzunehmen. Die Publikation von Eschenmayers Brief ist dadurch motiviert, dass in demselben das »Allgemeine« der Zeit zum Ausdruck kommt.28 Mag auch kaum Aussicht darauf bestehen, Eschenmayer das Ungenügende seiner Position derart zum Bewusstsein zu bringen, dass dadurch bei diesem ein wirklicher Denkprozess eingeleitet wird, so ist er Schelling dennoch als Typus wertvoll, als Repräsentant einer allgemein verbreiteten Meinung.29 Sofern dieser Typus auch heute noch instantiiert sein mag, kann die Auseinandersetzung weiterhin als ›aktuell‹ gelten. Die Antwort bot ihm ferner die Gelegenheit, einige Punkte, die er im Denkmal vielleicht nicht hinreichend klar herausgestellt hatte, näher zu erläutern und zugleich die Gespanntheit des Publikums auf das Erscheinen des angekündigten Hauptwerks lebendig zu halten. Das Antwortschreiben an Eschenmayer ist somit als eine zweite Vorrede zu den Weltaltern zu lesen.30 Überhaupt sind die zu dieser Zeit geplanten und nicht alle zur Vollendung gelangten Schriften nur angemessen zu verstehen, wenn sie als zum Umkreis des Weltalter-Unternehmens gehörig verstanden werden oder als Bruchstücke eines Ganzen, von dem es, feine Bemerkungsgabe und guter Wille vorausgesetzt, nicht ganz unmöglich ist, es aus jenen zu erschließen.31 Auch
28 Schelling, Vorrede, VII; vgl. Schelling, Antwort, 127. 29 Auch von Jacobi bemerkt Schelling, dass er ihn in erster Linie als »Repräsentanten« behandelt habe. (F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 3. 1. 1812 [Schelling, Schelling und Cotta, 63]) Daraus ergibt sich auch eine von mehreren Bedeutungen der Überschrift des dritten Abschnitts des Denkmals (›Das Allgemeine‹). Damit bringt Schelling übrigens ein Verfahren zur Anwendung, das er in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst als dasjenige Aristophanes’ beschrieben hatte: Dort heißt es, dass Aristophanes nicht die »einzelne Person«, nicht den »wirkliche[n] Sokrates« hat darstellen wollen, sondern »die ins Allgemeine erhöhte, also von sich selbst ganz verschiedene Person«. (AA II/6, 388) Dies gilt auch von dem etwa gleichzeitig mit den Vorlesungen verfassten Reinhold-Gespräch. Es versteht sich, dass Schelling die Genannten dadurch nicht dem Sokrates gleichstellen möchte. Wichtig ist, dass er dieses Verfahren ausdrücklich von der Pasquille unterscheidet, der die Erhöhung ins Allgemeine fehlt und die sich gegen die wirkliche Person richtet. Die beiläufige Bemerkung: »Wenn etwa einmal unsere lieben deutschen Nachahmer auf den Einfall kämen, den Aristophanes nachzuahmen, so würden daraus freilich nichts wie Pasquillen entstehen«, (ebd.) hat eine unmittelbare Anwendung, da Schelling selbst gerade zu dieser Zeit zu einem beliebten Gegenstand solcher Pasquillen zu werden begann. 30 Am 9. 5. 1812, wohl nach Abschluss des Antwortschreibens, schreibt er an J.F. Cotta, dass er jetzt »mit Muße und Ruhe auch wieder an meine literarischen Arbeiten denken« kann, und d. h. in erster Linie an Die Weltalter. (Schelling, Schelling und Cotta, 77) 31 Dies gilt nicht nur für den als Beilage zu den Weltaltern veröffentlichten Vortrag Ueber die Gottheiten von Samothrake, sondern auch für die Herausgabe von Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, den Schelling mit ausführlichen kunstgeschichtlichen Anmerkungen versah. Obwohl er es seinem Verleger so darstellt, als hätte der Kronprinz Ludwig ihn damit beauftragt (wohl nicht nur, um Cotta dazu zu bewegen, den Bericht zu verlegen, sondern auch um die abermalige Unterbrechung der Arbeit an den Weltaltern zu entschuldigen), so war es doch Schelling selbst, der sich sogleich nach einer ersten flüchtigen Lektüre von Wagners Bericht zur Herausgabe anbot und diesem zugleich vorschlug »einige
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und insbesondere das Antwortschreiben an Eschenmayer, das einem oberflächlichen Blick als bloß ein Erläuterungsschreiben zur ›Freiheitsschrift‹ erscheinen mag, dürfte dann seine philosophische Brisanz zurückerhalten.32 Es scheint somit kaum Zweifel darüber bestehen zu können, dass sowohl das Jacobi-Denkmal als auch das Antwortschreiben an Eschenmayer als Vorreden zu den Weltaltern konzipiert wurden. Aber was heißt hier ›Vorrede‹? In welchem Sinne sind jene Schriften als solche Vorreden zu lesen? Welche Aufgabe hat Schelling ihnen zugewiesen?33 Im Verhältnis zu den damaligen Lesern sind wir insofern in einer vorteilhafteren Position als wir wenigstens über vorläufige Fassungen des Werkes verfügen, zu welchen jene Schriften Vorreden sein sollen. Und in der Tat muss man sagen, dass Die Weltalter durchaus eine Vorrede brauchen (und vielleicht sogar mehr als eine). Das Werk ist durchaus geeignet, den Leser, auch wenn dieser der Faszination der Sprache und der Diktion nicht gänzlich erliegt, zu verwirren: So wird das methodische Prinzip eines radikalen Anthropomorphismus nirgends thematisiert, geschweige denn gerechtfertigt, während nicht nur bei einer ersten Lektüre unklar bleibt, welches das zentrale Thema, welche die leitende Fragestellung, welche die eigentliche Absicht dieses sich dann über Jahrzehnte hinziehende Unternehmens ist, eines Unternehmens, das Schelling derart in seinen Bann geschlagen zu haben scheint, dass er sich nie dazu bringen konnte, sich endgültig von ihm zu trennen.34 Obwohl diese Entwürfe von einer derartigen Gedankenfülle sind, dass man in ihnen genügend Anmerkungen und Nutzanwendungen beizufügen«. (F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 4. 4. 1816 [Plitt II, 370]; vgl. Schelling, Schelling und Cotta, 126) 32 Schellings eigenem Urteil in einem Brief an J.C. Pfister vom 2. 6. 1813 ist demnach, wie die Folge hoffentlich zeigen wird, nicht zuzustimmen: »Die Arbeit über Eschenmayer, die Du so gütig beurtheilst, ist an sich ganz unbedeutend. E. hat sich in seinen Aeußerungen gar sehr verfangen; ich fühlte selbst, wie die Antwort geschrieben war, daß er mir zu vielen Vortheil über sich gegeben, wo dann die Ueberlegenheit leicht ist«. (Plitt II, 337) 33 Vgl. hierzu die Bemerkung Lanfranconis: »Die Auswertung der Jacobi-Streitschrift als einer Vorrede der ›Weltalter‹ stellt ein Desiderat dar«. Dasselbe gilt von dem Antwortschreiben an Eschenmayer. (A. Lanfranconi, Krisis. Eine Lektüre der ›Weltalter‹-Texte F.W.J. Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 66 Anm. 52 u. 53) Lanfranconi macht auch darauf aufmerksam, dass den Weltaltern eine Vorrede fehlt: Die Einleitung ist nämlich eindeutig dem Ersten Buch zugeordnet, da von den vorangestellten zwei dreigliedrigen Sätzen fast ausschließlich das erste Glied erörtert wird, der Zusammenhang von Vergangenheit, Wissenschaft und Erzählung. In einigen erhaltenen Entwürfen der Einleitung zum Zweiten Buch hingegen wird das Verhältnis von Gegenwart, Darstellung und Erkenntnis erörtert. (Vgl. Schelling, Die Weltalter, 239. 249f. 262) 34 F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 21. 10. 1811: »Von dem Werk die Weltalter kann ich mich immer noch nicht trennen. Es ist ein Kind der Liebe, das ich gern Jahre pflegte«. (Schelling, Schelling und Cotta, 56; vgl. auch a. a. O., 125 und Plitt II, 429f.) Der Wille, auf die Zeit zu wirken, tritt hinter der Bemühung um Selbstverständigung zurück. Das Werk bzw. dessen Vollendung tritt hinter der Lust an der Aktivität zurück. Es scheint, als ob Schelling sich in der rotatorischen Bewegung gefällt und sich nicht zur Schöpfung, zum Aus-sich-heraus-Setzen des Werkes und zum Sich-Lossagen von demselben zu entscheiden vermag.
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Ansätze finden kann, die einzeln aufgegriffen eine selbständige Weiterentwicklung gestatten, so muss doch hier, wie immer, gesagt werden, dass das Werk nicht angemessen verstanden werden kann, wenn man sich zuvor nicht im Klaren darüber ist, welches Problem es eigentlich zu artikulieren sucht und welche Absicht Schelling mit ihm verfolgt.35 Gerade in diesem Punkt verzichtet Schelling jedoch im Werk selbst fast auf jegliche Hilfestellung. Die bisherigen Beobachtungen und Reflexionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen und auf den Begriff bringen: Im Denkmal wie im Antwortschreiben setzt Schelling sich eingehend mit zwei Denkern auseinander, die er als für das Zeitalter repräsentativ ansieht. Wenn er deren Positionen angreift, dann sucht er zugleich die herrschenden Meinungen zu destruieren. Diese Destruktion geschieht in zweierlei Absicht: Zum einen möchte er die Annahmen, auf welchen Jacobi und Eschenmayer ihre Position aufbauen, einer kritischen Prüfung unterziehen, da deren Wahrheit nichts weniger als selbstverständlich ist; zum anderen sieht er sich zu einer solchen Destruktion auch genötigt und berechtigt durch die in politischer Hinsicht abträglichen Folgen ihrer Lehre. Nach Schellings Diagnose zehrt der Jacobi’sche wie der Eschenmayer’sche Theismus nämlich den allgemeinen, öffentlichen Glauben dahingehend aus, dass dem Volk diejenige Energie abhanden kommt, die es für ein moralisches und ziviles Handeln unbedingt braucht.36 Die genannten Schriften sind deshalb ›passliche‹ Vorreden zu den Weltaltern, weil sie auf deren zweifache Absicht aufmerksam machen. Zum einen verfolgt Schelling darin das genuin wissenschaftliche oder philosophische Unternehmen einer Natürlichen Theologie, deren »Officium« darin besteht, mittels eines »Nachdenken[s] über die Attribute«, einer »Erörterung der Bestimmungen« und des »Ausweis[es] der Kriterien […], nach denen die Frage Was ist ein Gott? fragt«, zur Selbstkritik der Philosophie und zur Selbsterkenntnis des Philosophen beizutragen: Sie »denkt und artikuliert die Vollkommenheit« und »beantwortet die Frage, was ein Gott sei, anhand von Kriterien, die der Philosoph, kraft seiner Vernunft und vermöge eigener Erfahrung, aus der Betrachtung eines vollkommenen Wesens gewinnt«. Sie findet ihren Maßstab in dem Begriff des vollkommensten Wesens, den sie »bis zu einem gewissen Grade« mit dem Offenbarungsglauben gemeinsam hat und dessen Bestimmungen und Attribute sie zu artikulieren sucht. Bestimmungen sind solche Eigenschaften, die jenem Wesen für sich betrachtet zukommen, während Attribute ein Verhältnis zu anderen Wesen ausdrücken. Zum anderen jedoch und parallel dazu versucht er in den Weltaltern eine Natürliche Religion zu umreißen, sofern darunter »eine 35 Die bisherigen Untersuchungen zu den Weltaltern sind eher als solche Weiterentwicklungen denn als wirkliche Interpretationen anzusehen. Vgl. den Überblick der Rezeptiongeschichte in: Lanfranconi, Krisis, 83–114. 36 Vgl. insbes. Schelling, Antwort, 125–128.
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Antwort der Vernunft auf das Glaubensbedürfnis des soziablen Menschen« zu verstehen ist, die, »um auf den Glauben wirken oder Glauben wecken zu können, notwendig der Ausrichtung am geschichtlichen Horizont der Adressaten der Lehre« bedarf. Auch noch die Natürliche Religion verfolgt jedoch eine theoretische Absicht, indem sie die Voraussetzungen des Glücks der Nicht-Philosophen aufzudecken und die Möglichkeit eines Glücks unter Ausklammerung des Zentrums des philosophischen Lebens, der kritischen Untersuchung und der Lust an der Dialektik, zu erörtern sucht. Da die Natürliche Theologie sich für die Natürliche Religion nutzbar machen lässt, ist die Unterscheidung beider umso wichtiger.37 Die Weltalter sind nur angemessen zu verstehen, wenn diese zweifache Absicht durchgängig unterschieden wird. Das Denkmal und das Antwortschreiben bereiten insofern auf jene vor, als sie gerade auf diese zweifache Absicht die Aufmerksamkeit lenken.38
II. Die Weltalter verfolgen somit eine zweifache Absicht, die in denselben jedoch niemals ausdrücklich thematisiert wird. Das Werk scheint vielmehr darauf angelegt, dass der nächste Adressat die zweifache Absicht gänzlich übersieht, 37 Den Begriff der Natürlichen Theologie sowie die Unterscheidung derselben von der Natürlichen Religion übernehme ich von Heinrich Meier, der sie in die Diskussion eingeführt hat. (Vgl. H. Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, München 2011, 100. 302–310. 327f. 330. 334f. 341f. 348f. 362. 371) Dieser Begriff der Natürlichen Theologie ist nicht mit dem geläufigen Begriff der natürlichen Theologie zu verwechseln, die »ihr Wissen von Gott und den menschlichen Pflichten allein mit Hilfe der natürlichen Erkenntniskräfte des Menschen [gewinnt], ohne sich auf eine übernatürliche göttliche Offenbarung zu stützen«. (W. Schröder, Religion/Theologie, natürliche/vernünftige, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter/K. Gründer/G. Gabriel, Basel 1992, Bd. 8, 714) Die natürliche Theologie in diesem Sinn dient der Vorbereitung auf die Offenbarung und verlangt nach derselben als ihrem Supplement. Sie dient der Apologetik und der Polemik gegen die Lehren der Philosophen. Da es mir hier lediglich darum zu tun ist, die Leistungskraft der Unterscheidung von Natürlicher Theologie und Natürlicher Religion für die Erschließung von Schellings Intention nachzuweisen, behalte ich es mir vor, andernorts ausführlicher auf Heinrich Meiers Unterscheidung einzugehen. 38 Übrigens hat Schelling zeitweilig erwogen, die zweifache Absicht der Weltalter auf zwei Werke zu verteilen, indem er seinem Verleger in einem Brief vom 19. 8. 1814 vorschlägt, parallel zu den Weltaltern ein Werk mit »Predigten über die ganze christliche Lehre, die ich einem wirklichen Prediger in den Mund lege«, und zwar »Predigten in der gewöhnlichen Form obgleich von höchst abweichendenm Inhalt«, herauszugeben, in der Absicht, die »erkannte Wahrheit auch an’s Herz meiner Zeitgenossen zu legen«. (Schelling, Schelling und Cotta, 88) Vielleicht lässt sich aus diesem Vorhaben auch die Differenz der dritten Fassung zu den ersten Fassungen erklären. Nur in der dritten Fassung nämlich fängt die eigentliche Untersuchung sogleich mit dem Begriff der Gottheit an: »Das älteste der Wesen sey Gott, soll schon der milesische Thales geurtheilt haben. Aber der Begriff Gottes […]«. (SW VIII, 209)
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während der vorzügliche Adressat keiner besonderen Hilfestellung bedarf, um auf dieselbe aufmerksam zu werden. Der Erfolg des Unternehmens scheint vielmehr gerade davon abzuhängen, dass die zweifache Absicht unausgesprochen bleibt. Das Jacobi-Denkmal stellt nun in der Tat eine »sehr paßliche Vorrede zu den Weltaltern« dar, als es die Zweispurigkeit derselben bereits in seinem Aufbau anzeigt, der dasjenige auseinanderlegt und getrennt thematisiert, was in den Weltaltern selbst gleichzeitig durchgeführt wird. (AA I/18, 143) Während das Denkmal genau wie Die Weltalter sich in drei Teile gliedert, ist der philosophisch gehaltvolle Teil in den letzten beiden Abschnitte zu suchen, die überschrieben sind mit ›Das Wissenschaftliche‹ und ›Das Allgemeine‹.39 Über den ersten Abschnitt (›Das Geschichtliche‹) sei an dieser Stelle nur folgendes gesagt: Die Folge des ersten und zweiten Abschnitts kehrt die methodische Ordnung um. Im Grunde macht erst der Nachweis der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit von Jacobis Argumenten es unumgänglich, zu untersuchen, ob sich nicht doch rational einsichtig machen ließe, wie dieser trotz der Inkonsistenz seiner Position sie doch behaupten zu können glaubt. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, ob sich in ihr nicht ein nicht-wissenschaftliches Zentrum aufdecken lässt, das dem Ganzen eine gewisse Kohärenz verleiht. Diese Frage markiert den Übergang von der Kritik zur Charakteristik: Wenn sich darin auch kein wissenschaftlicher Zusammenhang entdecken lässt, so doch eine persönliche Kohärenz, nämlich insofern das Denken Jacobis von vornherein unter der Botmäßigkeit eines Willens steht.40 Deshalb heißt es zu Anfang des ersten Abschnitts: »Wissenschaftlich zu erklären ist es [Jacobis Verhältnis zu Wissenschaft und Theismus, R.S.] nicht, indem sich kein wissenschaftlicher Mittelpunkt darinn findet, und alles bloß persönlich zusammenhängt, hier bleibt nichts übrig, als Erzählung, rein geschichtliche Darstellung.« (AA I/18, 145) Die Notwendigkeit einer Charakteristik zeigt sich erst, nachdem die Kritik die Inkonsistenz der Position nachgewiesen hat. Die Umkehrung der methodischen Ordnung hat jedoch insofern einen guten Sinn, als dadurch der Abschnitt zum Wissenschaftlichen im Zentrum zu stehen kommt und dieser mit dem Abschnitt zum Allgemeinen zusammen den eigentlich philosophisch gehaltvollen Teil der Schrift bildet. Die Abschnitte zwei und drei nehmen Jacobi aus zwei unter39 Nur diesen beiden Abschnitten ist eine Art Präambel vorangestellt, die von weiter reichender Bedeutung ist als die Auseinandersetzung mit Jacobi. Vgl. auch AA I/18, 144: »Indem ich nun diese [die von Jacobi in seiner Schrift eingestreuten wissenschaftlichen Gründe, R.S.] nach der Reihe der Prüfung unterwarf, mußte mir zugleich Gelegenheit werden, mich über einige der wichtigsten wissenschaftlichen Punkte mittelbar zu äußern, die bald, noch ernstlicher, unmittelbar zur Sprache kommen werden.« Das ›bald‹ bezieht sich auf das in der Vorrede angekündigte Werk. (Vgl. AA I/18, 129) 40 Die Unterscheidung von Kritik und Charakteristik hat Schelling im Reinhold-Gespräch eingeführt und dort durchgängig zur Anwendung gebracht. (Vgl. AA I/11, 95f.) Auch dieses Gespräch zeichnet ein durchgängig aristophanischer Charakter aus.
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schiedlichen Perspektiven ins Visier. Im zweiten Abschnitt geht Schelling auf Jacobi ein, sofern dieser die ernst zu nehmende wissenschaftliche oder philosophische Herausforderung darstellt, während er zugleich nicht weniger wegen seiner Stellung in der Gegenwart und seines Einflusses auf das Publikum Beachtung verdient, die im dritten und bei weitem längsten Abschnitt, der berühmtberüchtigten ›allegorischen Vision‹, zentral stehen. Das Denkmal ist insofern eine Vorrede zu den Weltaltern, als die Punkte, die Schelling in der Auseinandersetzung mit Jacobi herausstellt, weitgehend durch die Rücksicht auf jenes Werk motiviert sind. Jacobi wird hier als die Herausforderung stilisiert, auf welche Die Weltalter antworten sollen. Übrigens bietet dies Schelling darüber hinaus den strategischen Vorteil, den Schluss auf die eigene Orthodoxie nahezulegen, indem er die Heterodoxie seines Gegners scharf herausstellt.41 Anders gesagt: Indem er zeigt, wie der Jacobi’sche Theismus mit dem christlichen Theismus unvereinbar ist, legt er eine Gleichsetzung des von ihm angestrebten wissenschaftlichen Theismus mit dem christlichen Theismus nahe und lenkt nach Kräften von dem grundlegenden Unterschied zwischen beiden ab. Wie dem auch sei, während der zweite Abschnitt die Annahmen, Voraussetzungen und Axiome Jacobis untersucht, die den Zugang zu den Weltaltern als ein wissenschaftliches Unternehmen, dessen Zentrum die Natürliche Theologie darstellt, versperren und die ausgeräumt werden müssen, wenn überhaupt einige Aussicht bestehen soll, dass künftige Leser den Zugang zum wissenschaftlichen Argument der Weltalter finden, umreißt der dritte Abschnitt e contrario die politische Aufgabe, die Schelling sich in den Weltaltern ebenfalls zueigen macht und die als Natürliche Religion bezeichnet werden kann. Damit nimmt Schelling die Aufgabe an, mit welcher Rousseau zufolge der Gesetzgeber sich »im Geheimen« befasst, nämlich »die Sitten, Gewohnheiten und vor allem die Meinungen« eines Volkes zu bestimmen.42 Die besagte Zweispurigkeit kann in den Weltaltern 41 Vgl. AA I/18, 87. 91. 96. 119f. 122–125. So ebenfalls in dem Antwortschreiben an Eschenmayer, in welchem er den Schlussteil dazu verwendet, zu zeigen, dass Eschenmayers Begriff des Glaubens und seine Lehre von Gott kaum mit dem Christentum kompatibel sind. (Vgl. F.W.J. Schelling, Antwort auf das voranstehende Schreiben, in: Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, hrsg. v. F.W.J. Schelling, Nürnberg 1813, 87. 91. 96. 119f. 122–125) Friedrich Gottlieb Süskind hingegen hatte Schellings Heterodoxie scharf herausgestellt: Im Grunde besteht seine gesamte ›Prüfung‹ nur in dem Nachweis des heterodoxen Charakters von Schellings Lehre von Gott. Etwa 30 Jahre später wird Ignaz von Döllinger übrigens genau das Gleiche für die Philosophie der Offenbarung tun. (Vgl. I. von Döllinger, Die Schelling’sche Philosophie und die christliche Theologie, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 11 [1843], 585–601. 753–769) 42 J.-J. Rousseau, Du contrat social; ou, Principes du droit politique, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. v. B. Gagnebin/M. Raymond, Paris 1964, 347–470, hier: 394. Vgl. in diesem Zusammenhang den erstaunlichen Brief an E.F. Georgii vom 8. 10. 1813, in welchem Schelling die Notwendigkeit hervorhebt, als Gesetzgeber aufzutreten: »Seit dem Unglück Deutschlands habe ich erst die Propheten recht verstehen lernen« und weiter: »ja ein Gesetzgeber, der vom
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deshalb unthematisiert bleiben, weil der aufmerksame Leser des Denkmals von vornherein dazu angehalten ist, beides selbst auseinanderzulegen. Die These Jacobis, der im zweiten Abschnitt Schellings fast ausschließliche Aufmerksamkeit gilt und die er als dessen zentrale Lehre herausstellt, lautet, dass »eine wissenschaftliche Erkenntniß von Gott unmöglich sey«. (AA I/18, 160) Diese These würde, falls sie zuträfe, Schellings Unternehmen einer Natürlichen Theologie von vornherein als undurchführbar und irregeleitet erscheinen lassen. Der Einwand scheint somit denkbar prinzipiell, während er es Jacobi erspart, ins Detail zu gehen, da eine eingehende Analyse von Schellings Argument doch nie mehr ans Licht zu heben vermöchte, als die notwendigen Folgen jenes Proton Pseudos. Die Gründe für die These Jacobis, die Schelling zunächst anführt, stützen sich vor allem auf die Natur des wissenschaftlichen Verfahrens.43 Es fällt Schelling nicht schwer, zu zeigen, dass Jacobi seiner These eine Auffassung von Wissenschaft zugrunde legt, die der Prüfung nicht standhält. Man könnte somit sagen, dass auch in diesem Fall »je nachdem sie verstanden wird, die Aussage wahr oder falsch seyn kann«. (AA I/17, 111) Die Aussage wäre wahr, sofern man dem Begriff von Wissenschaft zustimmt, den Jacobi seiner Behauptung zugrunde legt. Mittels einer bloßen Begriffsanalyse, die die sich aus jenem Begriff ergebenden Ungereimtheiten ans Licht hebt, wird Schelling die Aussage jedoch als falsch erweisen. Seine Absicht besteht hier, wie sonst, darin, zu zeigen, dass Jacobis Angriff ins Leere trifft, da er seinem Gegner Begriffe unterschiebt, die dieser nicht unterschreibt. Worauf Jacobi jedoch letztlich abzielt, ist die These, dass das Vertrauen auf die Kraft des Arguments selbst nur eine Sache des Glaubens ist, so dass alle Demonstration letztlich auf einen vorausgesetzten und selbst nicht mehr demonstrativ ausweisbaren Glauben beruht, und dass jener Glaube ein bloßes Fürwahrhalten ist, ohne die den Glauben im prägnanten Sinne auszeichnende die ganze Existenz tragende Überzeugung. Insofern beinhaltet das Lob an die Adresse Kants und Fichtes, dass die Philosophie sich bei ihnen im Unterschied zu den sogenannten Gläubigen als eine solche Kraft erweist, zugleich Himmel käme, wäre zu wünschen, um den Deutschen (da das Alte einmal nicht wohl wiederkommen kann) die Verfassung zu geben, die zu ihrem dauernden Glücke nothwendig ist«. (Plitt II, 338f.) Allerdings bedürfte es nicht erst des ›Unglücks Deutschlands‹, um Schelling zu einer eingehenden Beschäftigung mit dem Problem des Propheten zu bewegen. (Vgl. v. Vf. [Rez.], F.W.J. Schelling. Nachlass II,3–4, in: Philosophisches Jahrbuch 123 [2016], 609–615 und ders. [Rez.], F.W.J. Schelling. Nachlass II,5, in: Philosophisches Jahrbuch 125 [2019], 185–188) 43 Jacobi ist gewissermaßen genötigt, Schelling den Naturalismus als die Lehre von der Einerleiheit von Gott und Natur unterzuschieben, weil er nur unter dieser Annahme die von ihm zuvor gegen Spinoza geltend gemachten Einwände ohne Modifikationen auch gegen Schelling richten kann. Dieser ist deshalb durchaus berechtigt, zu monieren, dass Jacobi die ›Freiheitsschrift‹ nicht zur Kenntnis genommen hat, weil er in derselben gezeigt hatte, dass 1. bereits die Auffassung von Spinoza, gegen welche Jacobi seine Einwände richtet, nicht zutreffend ist (vgl. AA I/17, 114–121 und AA I/18, 134), und 2. Schelling sich in mehreren Hinsichten grundlegend von Spinoza unterscheidet. (Vgl. AA I/17, 122f. 129)
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eine grundsätzliche Kritik, da ihre Philosophie insofern letztlich auf Glaube beruht.44 Ferner impliziert sie eine Behauptung über die Zugangsweise zur Wahrheit, nämlich dass diese nicht sosehr durch die Aktivität der Kritik gewonnen wird als vielmehr Gegenstand des Glaubens ist. Schelling scheint die Erörterung dieses Einwands indes lediglich dazu zu benutzen, dem Leser einige Hinweise zur Besonderheit der in den Weltaltern angewandten Methode mitzuteilen. Der entscheidende Grund von Jacobis Einspruch gegen die Schelling’sche Philosophie ist nämlich nicht auf dieser Ebene zu suchen, sondern findet sich in dem, was Schelling als Jacobis Hauptsatz herausstellt, indem er ihn gleich dreimal zitiert, nämlich, dass »[e]in Gott, der gewußt werden könnte, […] kein Gott [wäre]«. (AA I/18, 155. 171. 178)45 Die Unmöglichkeit eines wissenschaftlichen Theismus hat somit ihren Grund nicht so sehr in einem Defizit des menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern vielmehr in der Natur seines Gegenstandes: Ein Wesen kann nur insofern als Gott gelten, als es das Wissen bzw. das Gewusstwerden von sich aus ausschließt. Die Wissbarkeit würde seiner Vollkommenheit Abbruch tun. Das Zentrum von Jacobis Lehre ist somit in dem Insistieren auf der Unergründlichkeit Gottes zu suchen.46 Dem Jacobi’schen Hauptsatz stellt 44 Vgl. F.H. Jacobi, Schriften zum transzendentalen Idealismus, hrsg. v. W. Jaeschke/I.-M. Piske, Hamburg 2004, 216. 45 Jacobis Hauptsatz findet ein Korrelat in der Behauptung, dass Gott nur geglaubt werden kann. Erst an der dritten Stelle fügt Schelling dem Satz eine Quellenangabe hinzu. (Vgl. AA I/ 18, 179 und Jacobi, Idealismus, 193) Der Satz ist dem Vorbericht zu Jacobis Brief an Fichte entnommen, dem ein Satz Fénélons, der auf Augustinus zurückgeht und der die Möglichkeit der Selbsterkenntnis verneint, als Motto beigegeben wurde. 46 Beachte auch das Motto, das Schelling, der seine Schriften nicht eben oft von Motti zu versehen pflegte, dem Denkmal beigegeben hat: In einem Satz, den er dem Propheten-Kapitel des Tractatus theologico-politicus entnimmt, ersetzt er Spinozas Charakterisierung jener, die die Philosophen des Atheismus beschuldigen, als solche, »qui aperte fatentur, se Dei ideam non habere, & Deum non nisi per res creatas (quarum causas ignorant) cognoscere«, durch ein durch Sperrdruck hervorgehobenes »Deum nullo modo cognoscere«. (B. de Spinoza, Opera, hrsg. v. C. Gebhardt, Heidelberg 1925, Bd. 3, 30; vgl. AA I/18, 128) Der ursprüngliche Wortlaut des spinozischen Satzes hätte Jacobi sich durchaus zueigen machen können oder, besser gesagt, er drückt die Quintessenz seiner Schelling-Kritik aus, da die Entstellungen, die er Schelling zufolge an dessen Behauptungen vornimmt, gerade darauf abzielen, diesem die Behauptung zuzuschreiben, dass Gott »non nisi per res creatas« zu erkennen oder sogar mit diesen identisch sei. (Vgl. AA I/18, 132. 135) Tatsächlich hatte Jacobi selbst sich mehrfach jenes Satzes bedient, um die Philosophen als die wirklich Gläubigen, die jedoch einer Selbsttäuschung erliegen, indem sie den Glaubenscharakter ihrer Position nicht durchschauen, von den sogenannten Gläubigen positiv abzuheben, für welche ihr Glaube keine existentielle Bedeutung habe. (Vgl. F.H. Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, hrsg. v. K. Hammacher/W. Jaeschke Hamburg 1998, 313f.; ders., Idealismus, 216) Jacobis Angriff bot Schelling die Gelegenheit, den seit längerem bestehenden Verdacht des Pantheismus oder Atheismus wirkungsvoll zu beseitigen. Dadurch bereitete er selbst eine Deutung vor, als vollziehe sich in seinem Denken zu dieser Zeit eine ›Wende ins Christliche‹.
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Schelling als einen wahren Gegen-Satz die Behauptung entgegen: »Existirt Gott wirklich, so kann er als das allervollkommenste Wesen auch nur durch den allervollkommensten Verstand erkennbar seyn.« (AA I/18, 194) Jacobis Hauptsatz leugnet nicht nur, dass Gott durch den Menschen erkannt werden könnte, sondern verneint das Wissen überhaupt und damit auch das Erkennen Gottes durch sich selbst. Gerade weil er die Selbsterkenntnis als für das Absolute konstitutiv erachtet, sieht Schelling sich zu der Annahme einer Natur in Gott genötigt.47 Intelligenz, Bewusstsein, Selbsterkenntnis sind nämlich nicht denkbar ohne ein Negatives, das der Erkenntnis Widerstand leistet.48 Die Behauptung einer Natur in Gott setzt er der Behauptung einer »wahrhaften Endlichkeit«, eines »Negative[n]«, eines »negativen Princip[s] in Gott« gleich, d. h. sie indiziert zunächst einen Mangel. (AA I/18, 174.)49 Dieser Mangel ist indes nicht bloß negativ zu denken, sondern als ein positiver Widerstand. Die Natur ist dasjenige, was sich dem Willen wie dem Verstand widersetzt. Insofern ist in ihr selbst kein Wille oder Verstand. Hier zeigt sich eine gewisse Ambivalenz von Schellings Naturbegriff: Diese kann Schelling als Sehnsucht bestimmen, insofern sie als ein unbewusstes Verlangen nach Erkenntnis zu denken ist, da nur in dieser die Sehnsucht ihre Erfüllung zu finden vermag. Zugleich ist sie jedoch auch als ein unbewusstes Widerstreben gegen die Erkenntnis zu denken, als dasjenige, was allem Streben nach Erkenntnis gerade deshalb Auftrieb gibt, weil sie sich ihm widersetzt. Mag Schöpfung nicht ohne eine Natur in Gott denkbar sein, so folgt aus diesem Begriff dennoch, dass die Schöpfung nicht auf ein mit Weisheit wollendes und mit Intelligenz wirkendes Wesen zurückzuführen sei. Zur Weisheit und Intelligenz kommt dieses Wesen erst durch die Schöpfung. Anders gesagt: Auch das vollkommenste Wesen kann nicht gedacht werden, ohne etwas Unvollkommenes, das der Vervollkommnung fähig ist. Dieser Gedanke ist der Erfahrung entnommen, da Bewusstsein und Intelligenz notwendig intentional sind.50 Der Philosoph kann insbesondere auf seine eigene Erfahrung verweisen, indem gerade »aus dem Dunkeln des Verstandlosen […] die lichten Gedanken [erwachsen]«, nichts »den Menschen mehr antreiben könnte, aus allen Kräften nach dem Lichte zu streben, als das Bewußtseyn der tiefen Nacht« und »im Menschen in die dunkle Sehnsucht, etwas zu schaffen, dadurch Licht tritt, daß in dem chaotischen Gemenge der Gedanken, die alle zusammenhängen, jeder aber 47 In der Darstellung meines Systems bildet der 17. Satz deshalb das Scharnier, dass von der absoluten Identität zur Materie als das ›primum Existens‹ führt. (Vgl. AA I/10, 116–118. 123 u. 144 [§§ 1–4. 17. 50 Zus.]) 48 Vgl. AA I/18, 174f. 49 Vgl. a. a. O., 167. 50 Für dieses Argument hätte Schelling sich auch auf das System des transzendentalen Idealismus berufen können. Daraus geht die bloß instrumentelle Bedeutung dieses Werkes hervor, das somit zu keinem Zeitpunkt Schellings wirkliche Position wiedergab.
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den andern hindert hervorzutreten, die Gedanken sich scheiden«. (AA I/17, 131f.)51 Ferner folgt hieraus, dass Offenbarung wesentlich Selbstoffenbarung ist, dass das sich offenbarende Wesen zuerst sich selbst offenbar zu werden strebt, weil es nur durch eine solche Selbstoffenbarung zur Selbsterkenntnis zu gelangen vermag.52 Der Philosoph ist gerade deshalb fähig, Gott als ein persönliches Wesen zu denken, weil er die Vollkommenheit nicht ohne Selbsterkenntnis zu verstehen vermag. An der ersten Stelle, an welcher er den Hauptsatz nennt, führt Schelling ihn im Zusammenhang mit Jacobis These ein, wonach die Philosophie zwangsläufig nicht nur wegen ihres Unvermögens, den Begriff eines persönlichen Gottes zu konzipieren, atheistisch ist, sondern wonach sie die Gottesleugnung als die Verneinung, dass es überhaupt einen Gott gebe, impliziere. Der Glaube an die Kraft des Beweises impliziert die Opposition gegen einen Gott, der nur dem Glauben zugänglich ist. An der zweiten Stelle weigert Schelling sich, in dem im Hauptsatz implizierten Begriff von Gott mehr als ein Gespenst zu sehen, da er der Vorstellung einer Seele oder eines Geistes ohne Körper gleichkäme. Dieser Begriff beruht auf der Annahme, dass die Körperlichkeit oder die Natur notwendig eine Unvollkommenheit impliziere, die dazu nötigt, sich das vollkommenste Wesen als von jeglicher Natur frei vorzustellen. Der Jacobi’sche Gott ist somit die Vorstellung einer imaginären Vollkommenheit. An der dritten Stelle schließlich weist Schelling auf das »in einer Anmerkung versteckte Bekenntniß« Jacobis hin, wonach »von dem Uebernatürlichen, von Gott und göttlichen Dingen« entgegen seines Hauptsatzes dennoch ein Wissen erforderlich ist, dann nämlich, so können wir die zugrundeliegende Annahme formulieren, wenn dieser Gott dem Handeln Orientierung geben soll. (AA I/18, 179)53 Der Jacobi’sche Glaubensbegriff beruht nämlich auf der Annahme eines Primats des Handelns. Die letzte Stelle, an welcher er den Hauptsatz erwähnt, ist die für das Verständnis von Schellings Unternehmen am meisten aufschlussreiche und die einzige, die die Behauptung rechtfertigt, wonach das Denkmal »diejenige pu51 Vgl. AA I/18, 178f. Dies hat auch Folgen für die Deutung von Gen 1, was Schelling jedoch bloß andeutet (vgl. AA I/18, 178), wie für den Begriff der Schöpfung überhaupt, die nicht als creatio ex nihilo, sondern als Schöpfung aus dem Nicht-Seienden zu denken ist. (Vgl. AA I/17, 142) Diesen Begriff des Nicht-Seienden führt Schelling explizit auf Platon zurück. (Vgl. Schelling, Antwort, 83) 52 Vgl. auch Schelling, Antwort, 94f. – Das ganze Erste Buch der Weltalter hat sein Telos in dem Begriff der Schöpfung: Erst durch diese kann ein Ausweg aus der unerträglichen rotatorischen Bewegung gefunden werden. 53 Nur an dieser Stelle lässt Schelling das ›gewußt‹ gesperrt drucken. Damit scheint er, wie aus der Nummer 10 hervorgeht, dem Ausdruck einen Bezug zum präzisen Begriff von ›Wissenschaft‹ unterzuschieben, der in den Eröffnungssätzen der Weltalter angedeutet und in der Einleitung des Ersten Buches näher entwickelt wird, wonach Wissenschaft nur von Vergangenem oder von der Natur in Gott möglich ist, und diese von der Erkenntnis, die sich wesentlich auf Gegenwärtiges bezieht, unterscheidet.
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blizierte Schrift ist, welche die ›Grundlage‹ seiner ›Positiven Philosophie‹ bildet«. (AA I/18, 127) Da Jacobi nur den Naturalismus als die Behauptung, dass das Absolute Grund sei, bekämpft, während er selber die Behauptung unterschreibt, wonach es auch Ursache sei, sieht Schelling sich dazu berechtigt, nur ersteres zu erweisen und letzteres als etwas, worüber er mit Jacobi übereinstimmen würde, mit Schweigen zu übergehen.54 In der Tat bleibt Schellings Begriff des Theismus in der ganzen Schrift seltsam blass, so dass auch sie noch zu den Schriften zu gehören scheint, in welchen er vorwiegend »bey den allgemeinsten Principien verweilt« und seinen »Fleiß […] vorzugsweise dem naturphilosophischen Theil [s]eines Systems« zuwendet. (AA I/18, 142) Erst die letzte Nummer, die er der Erörterung des Wissenschaftlichen widmet und die eine Inkonsequenz der Jacobi’schen Position hervorkehrt, bietet ihm die Gelegenheit, über die Absicht seines eigenen Unternehmens einige zukunftsträchtige Andeutungen einzustreuen. Zunächst bemerkt er, dass er Jacobi nicht darin »beystimmen« kann, wenn dieser ein »unbedingtes«, »unmittelbar aus der Vernunft entspring[endes]« Wissen Gottes behauptet: Ein solches kann nämlich »nur ein Wissen, vermöge ihres absoluten Gesetzes seyn – ein Erkennen des Widerspruchs, oder der absoluten Identität des Unendlichen und des Endlichen als des Höchsten«. (AA I/18, 181) Von diesem mit der Vernunft gleichursprünglichen Wissen von Gott verneint Schelling ausdrücklich, dass es ein Wissen eines persönlichen Gottes sein kann. Ein solches »kann auch nur ein persönliches Wissen seyn, beruhend wie jedes der Art auf Umgang, wirklicher Erfahrung«. (AA I/18, 181) Ein solches Wissen kann nur insofern gewonnen werden, als der Wissende in ein Verhältnis zu Gott tritt. »Aber«, so fügt er sogleich hinzu, »dieses gehört nicht in die Philosophie, ist, wie gesagt, nicht Sache der Vernunft«. (AA I/18, 181) Das mit der Vernunft gleichursprüngliche Wissen von Gott bleibt somit ein rein Negatives, wie es auch nur »das Negative« in Gott erkennt. (AA I/18, 174) Der Naturalismus, als Lehre von einer Natur in Gott verstanden, vermag einen persönlichen Gott nicht zu erkennen.55 Diese ihre Unfähigkeit beruht auf der Beschaffenheit dieses Gegenstandes: Persönliches kann nie aus bloßer Vernunft erkannt werden. Um Persönliches zu erkennen, bedarf es des »Umgangs« oder der »wirkliche[n] Erfahrung«. (AA I/18, 181) Dazu bedarf es somit einer Wendung im Denken selbst, die dem später als Krisis bezeichneten Schnitt nahekommt. Damit ist Schelling zurück bei dem, was er in der Präambel des zweiten Abschnitts als den »kühnste[n] aller Gedanken« bezeichnete. (AA I/18, 158) Zugleich gibt er zu erkennen, dass diese Wendung dadurch motiviert ist, dass die Philosophie sich nur durch sie der Jacobi’schen Herausforderung als gewachsen zu erweisen vermag. Zum Schluss gibt er ja klar zu erkennen, dass die reine Vernunftwis54 Vgl. AA I/18, 172. 55 Vgl. a. a. O., 169. 171. 172.
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senschaft in der Tat der Erkenntnis eines persönlichen Gottes unfähig ist. Allerdings hat er auch nie das Gegenteil behauptet.56 Andererseits hat er bis dahin auch nirgends gezeigt, wie dieser wissenschaftliche Theismus denn in concreto durchzuführen sei. Hier wie andernorts zielt er nur darauf ab, zu zeigen, dass ohne Naturalismus oder ohne die Lehre einer Natur in Gott eine Wissenschaft von einem persönlichen Gott unmöglich ist. Dieser Nachweis ist sogar unabhängig davon, dass man zeigt, wie jener wissenschaftliche Theismus möglich sei. Der dritte Abschnitt des Denkmals, dem Schelling in Klammern den Untertitel ›Eine allegorische Vision‹ beigegeben hat, hat bislang kaum je besondere Beachtung gefunden. Man hat die »freyere, mehr heitre« Behandlung, die Schelling Jacobi in demselben zu Teil werden lässt, wohl vor allem aus der Absicht erklärt, diesen der Lächerlichkeit preiszugeben und dadurch seine Autorität beim Publikum zu untergraben. (AA I/18, 183) Die Vision wäre somit nur auf die öffentliche Wirkung berechnet; ihr käme für die Entfaltung des philosophischen Arguments kaum Bedeutung zu. Nicht nur bereits die Länge der Vision, die fast die Hälfte des gesamten Werkes ausmacht, dürfte gegen diese geläufige Einschätzung sprechen, die dem bislang fast völligen Stillschweigen über diesen Abschnitt zugrunde zu liegen scheint. Hinzu kommt Schellings ausdrückliche Erklärung, wonach er den ersten und zweiten Abschnitt »mit gutem Gewissen« nicht für ein Ganzes »gelten lassen konnte« und somit erst die Hinzufügung der Vision die Auseinandersetzung mit Jacobi zu einem wirklichen Ganzen zusammenfügt, wobei er soweit geht, den geschichtlichen und wissenschaftlichen Teil nachträglich in die Vision zu integrieren. (AA I/18, 188)57 Diese Beobachtungen machen die Frage nach dem Aufbau des Werkes und nach dem Stellenwert des dritten Abschnitts in demselben zur vorrangige Aufgabe für den Interpreten. Während der erste Abschnitt Jacobis intellektuelle Biographie nachzeichnet und der zweite die in seiner Offenbarungs-Schrift enthaltenen Argumente einer kritischen Prüfung unterzieht, stellt der dritte Abschnitt Jacobi in seiner öffentlichen Stellung dar. Der Abschnitt ist von besonderer Bedeutung, weil gerade er geeignet ist, den Leser auf die zweifache Absicht der Weltalter aufmerksam zu machen, und er ihn dazu anhält, die wissenschaftliche und politische Absicht derselben durchgängig auseinanderzuhalten. Folgende Aspekte der ›allegorischen Vision‹ seien hier, als für das Verständnis der Weltalter unmittelbar einschlägig, hervorgehoben: 1. Den vornehmsten »Zweck« des Abschnitts setzt Schelling darin, Jacobi »wo möglich noch selber zu einer richtigeren Selbsterkenntniß zu verhelfen«. (AA I/18, 144) In der Darstellung Jacobis »in Handlung« schält sich als den grundlegenden Zug seines Seins nicht nur der Mangel an Selbsterkenntnis, 56 Vgl. a. a. O., 181. 57 Vgl. a. a. O., 198.
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sondern darüber hinaus ein sich willentliches Verschließen gegen dieselbe heraus. (AA I/18, 188) Wenn die Selbsterkenntnis das distinktive Merkmal ist, das Schelling von Jacobi unterscheidet, dann ist daraus zu schließen, dass Schelling sich der Vision des Jacobi als eines Mittels der Selbsterkenntnis bedient, indem er darin sich selbst e contrario darstellt und es dem Leser überlässt, selbst daraus die Schlüsse für sein Selbstverständnis zu ziehen. Schelling reflektiert so über die Persona, die er in den Weltaltern angenommen hat. Deshalb steht in der Vision Jacobis Selbstverständnis als Zentrum des Zeitalters und als prophetische Stimme sowie sein Anspruch, eine Lehre zu formulieren, die bei allen Glauben finden kann, zentral; deshalb wird in derselben gezeigt, wie diese Lehre bei den Zeitgenossen nicht den erhofften Erfolg erzielte und wie er die Zeitgenossen, die er heranzuziehen sucht, einen nach dem anderen wieder abstößt, weil ihm die Einsicht in das sie bestimmende Bedürfnis fehlt. Das »praktische Postulat« seines öffentlichen Auftretens besteht nämlich in der »allgemeine[n] Gottesläugnung«, ohne dass er sich durch die Erfolglosigkeit seines Unternehmens darüber belehren lässt, dass das eigentliche Bedürfnis der Zeitgenossen in der Sehnsucht nach einer Wiederherstellung des »Glauben[s] unsrer Väter« besteht, nachdem dieser unglaubwürdig geworden ist. (AA I/18, 190)58 Den ersten Redner, den Schelling in seiner Vision auftreten lässt, macht er zum Sprachrohr dieser Sehnsucht. Mögen die drei ›Glaubensartikel‹ des christlichen Theismus, die Lehre eines Schöpfer-Gottes, der Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit der Seele, durch die öffentliche Wirkung der Philosophie ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, so ist dadurch doch nicht zugleich auch die Sehnsucht nach dem Glauben an deren Wahrheit zum Verschwinden gebracht.59 Obwohl 58 Vgl. Schelling, Antwort, 126f.: »Auch die Menschheit unsrer Zeit verlangt nach etwas Positivem, das ihr nur ein kräftiger, der wahren Ideen mächtiger Verstand wiedergeben kann. Dann werden auch die Weisen wieder an einen Gott glauben, wie der Gott unsrer Väter war, was aufrichtiger Weise jetzt keiner vermag.« Vgl. Rousseau, Du contrat social, 381: »Pour découvrir les meilleures regles de société qui conviennent aux Nations, il faudroit une intelligence supérieure.« 59 Vgl. AA I/18, 189–192. Schelling gibt deutlich genug zu verstehen, dass sein Unternehmen der Natürlichen Religion sich insbesondere gegen Kant, der sich mit der Religionsschrift zum prominentesten Vertreter einer Vernunftreligion gemacht hatte, richtet, oder vielmehr gegen die politischen Auswirkungen, die Kants Religionslehre entfaltet hatte: »ich erinnere indeß nur, daß diese Epoche im Allgemeinen durch Kant hinlänglich bezeichnet ist«. (SW VI, 17) In diesem Zusammenhang dürfte es durchaus bezeichnend sein, dass sowohl Jacob Salat als auch Kajetan Weiller sich nach einer kantianisierenden Phase letztlich zu Jacobi bekannten. (Vgl. Funk, Aufklärung, 36–40. 51–53) Allerdings trägt Schelling Sorge, Kant als Philosophen von den politischen Auswirkungen seiner Lehre zu unterscheiden. (Vgl. AA I/18, 146f. 153– 155. 159f. 197. 200 und Schelling, Antwort, 89f.) Die Vorherrschaft der kantischen Philosophie hindert zugleich daran, den Zugang zum Problem der Natürlichen Theologie zu finden. (Vgl. Schelling, Antwort, 92)
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der Inhalt jenes Glaubens bekannt ist und von dem Redner beredt entwickelt wird, so dass dieser sich vom Lehrer des Zeitalters kaum unerwartete Lehrstücke erhoffen darf, so fehlt doch die Autorität, die jene Lehren erneut zu begläubigen vermag. Schelling stellt Jacobi gerade deshalb in der Konfrontation sowohl mit Nicht-Philosophen als auch mit Philosophen dar, als dieser sich selbst als Propheten versteht, der das Zeitalter vor der gefährlichen Wirkung der Philosophie warnt. Nach Schellings Darstellung vermag Jacobi jedoch weder das Bedürfnis der Nicht-Philosophen nach praktischer Orientierung und nach Glauben zu befriedigen, noch dem Bedürfnis der Philosophen nach Verstehen Genüge zu tun. Sein Scheitern zeigt einen Mangel an Weisheit an, die ungenügende Einsicht in das Bedürfnis des Volkes, die ihn daran hindert, die verschiedenen Klassen zu integrieren und eine Lehre zu artikulieren, in welchen diese Klassen sich trotz ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse dennoch zu erkennen vermöchten. Dennoch ist sein Fall gerade für die Philosophen besonders instruktiv, da er deren Aufmerksamkeit auf das Bedürfnis nach Glauben lenkt und dadurch zu einem klareren Verständnis der Besonderheit der philosophischen Lebensweise führt. Zugleich führt sowohl die Absicht als auch das Scheitern des Jacobi’schen Unternehmens vor Augen, wie unausweichlich für den Philosophen die Aufgabe ist, selbst ein Zentrum und Vereinigungspunkt des Zeitalters aufzurichten. Daraus ließen sich nicht wenige der Besonderheiten der Rhetorik und der Diktion der Weltalter erklären.60 2. Dennoch kommt der Vision auch eine argumentative Bedeutung zu. Das Fehlen der Selbsterkenntnis im Jacobi’schen Gott hat nämlich seine genaue Entsprechung in demjenigen, der an einen solchen Gott glaubt. Jacobis Handeln lässt Rückschlüsse auf den Gott zu, an welchem er sich orientiert. Schelling führt eine Kritik des unergründlichen Gottes mittels einer kritischen Darstellung des Typus des Gläubigen oder des Lehrers eines solchen Gottes durch. Ein solcher Gott vermag keine Orientierung zu geben und trägt nicht zur Selbsterkenntnis des Gläubigen bei: Jacobi ist sich im Unklaren darüber, was er eigentlich ist, und sein Handeln selbst ist ohne Orientierung. Ein solcher Gott wäre dem bloßen Belieben des Gläubigen ausgesetzt und würde gänzlich von deren Leidenschaften in Dienst genommen. Deshalb stellt Schelling Jacobis Behauptung, wonach eine wissenschaftliche Erkenntnis Gottes unmöglich ist, als einen fanatischen Satz heraus, da er den Zweifel und die Untersuchung geradezu verbietet.61 60 Vgl. übrigens bereits das sog. Systemprogramm (AA II/6, 484) und Rousseau, Du contrat social, 383: »Les sages qui veulent parler au vulgaire leur langage au lieu du sien n’en sauroient être entendus. Or il y a mille sortes d’idées qu’il est impossible de traduire dans la langue du peuple«. 61 Vgl. AA I/18, 142. 149. 152. 159. 184f.
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3. Den weitaus größten Raum nimmt indes Jacobis Konfrontation mit den Philosophen ein. In der Tat lässt die Vision sich als der Versuch lesen, zu zeigen, wie und weshalb die Auseinandersetzung mit Jacobi für den Philosophen unumgänglich ist. Mag Jacobi die Selbsterkenntnis fehlen, so scheint die Erkenntnis seiner Natur für Außenstehende kaum weniger schwierig zu sein. An seiner »Vielseitigkeit« scheint jeglicher Versuch, ihn einzuordnen und einer der »verschiedne[n] Klassen« der Nachwelt zuzuweisen, zu zerschellen. (AA I/18, 188. 193) Die Konfrontation mit diesen Klassen hebt jeweils einen vordergründigen Zug Jacobis hervor, auf welchen dieser sich jedoch nicht festlegen lässt. So lässt Schelling ihn zunächst als Lehrer des Zeitalters auftreten, um ihn danach auf die Dichter und die Gläubigen treffen zu lassen. Der Fall Jacobis ist für den Philosophen gerade deshalb instruktiv, weil er sich keiner dieser fest umrissenen Klassen zuordnen lässt, so dass die Herausforderung, die er für ihn darstellt, erst nach dem Durchlaufen der verschiedenen Einordnungsmöglichkeiten hervortritt. Das Durchspielen dieser Zuordnungsversuche wirkt der Täuschung entgegen, der derjenige aufsitzt, der Jacobis Selbstverständnis Glauben schenkt. Deshalb stellt sich erst durch diesen Durchlauf die Feindschaft gegen die Philosophie als der eigentliche Grundzug Jacobis heraus. Als ein solcher Feind, der die Philosophen auf die radikale Alternative aufmerksam zu machen sucht, die Philosophie einer radikalen Kritik unterzieht und dadurch die Philosophen dazu nötigte, sich einer radikalen Selbstbesinnung zu unterziehen, wäre Jacobi allerdings unschätzbar, auch dann, wenn es ihm selber nicht gelungen ist, jene Alternative adäquat zu formulieren.62 Aus einem solchen Feind könnte der Philosoph einen erheblichen Gewinn ziehen und so »das, was böslich gemeynt war, zugleich in ein Gutes für [s]ich und Andere […] verwandeln«. (AA I/18, 143) Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die zweifache Absicht der Weltalter in den Absätzen klar kenntlich gemacht wird, die dem zweiten und dritten Abschnitt wie eine Art Präambel vorangestellt sind und die sich nicht direkt auf den Fall Jacobi beziehen. So heißt es zu Anfang des zweiten Abschnitts, dass der »Erste, dem auf dem Wege reiner Vernunftforschung als die alles versöhnende Lösung des großen Räthsels der Gedanke in die Seele sprang, daß ein persönliches Wesen Urheber und Lenker der Welt seyn möge, […] davon unstreitig wie von einem Wunder gerührt, und in das höchste Erstaunen versetzt [war]«. (AA I/18, 158) Bei diesem »kühnste[n] aller Gedanken« handelt es sich indes um eine Hypothese, da »die Wirklichkeit eines solchen Wesens, und sein Verhältniß zu der Welt« bis auf weiteres »Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung« bleiben muss, da der »wissenschaftliche Theismus« bislang »noch 62 Vgl. v. Vf. (Rez.), Nachlass II,3–4, 623f.
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nicht gefunden« ist. (AA I/18, 158) Anders steht es indes mit dem nicht-wissenschaftlichen Theismus, mit dem Theismus als allgemeinem, öffentlichem Glauben. Dieser, von welchem erst in der Präambel zum dritten Abschnitt die Rede ist, ist sehr wohl und längst ›gefunden‹, da er »[v]erbreitet über den ganzen menschlichgebildeten Theil der Erde, befestigt durch göttliche Anstalten, durch Gebräuche, Sitten und Gesetze« vielmehr »das System der Menschheit« ist, »der öffentliche Glaube aller Verfassungen, in denen Recht und Ordnung wohnt«. (AA I/18, 183) Schelling bezeichnet somit den (nicht-wissenschaftlichen) Theismus als das ›Allgemeine‹, als das allen Menschen Gemeinsame (consensus gentium), dem jedoch als Glaube, solange er nicht wissenschaftlich begründet ist, die wahre Allgemeinheit fehlt, die darin bestünde, ihn zum Zentrum und Vereinigungspunkt aller Erkenntnisse zu erheben.63 Wenn jener Glaube im anspruchsvollen Sinne allgemein werden will, dann muss er dazu auch die Mittel wollen. Da Philosophie jedoch »nur auf ganz freye Weise erzeugt werden kann«, so muss jener Glaube auch wollen, dass die Philosophie nicht durch vorgegebene Zielsetzungen eingeschränkt wird: Eine solche Vorgabe würde das gewünschte Ziel selbst aufheben. (AA I/18, 184) Während der Jacobi’sche Theismus zwangsläufig auf die Verfolgung der Philosophen hinausläuft, leitet Schelling aus dem allgemeinen Theismus die Freiheit des Philosophierens ab.64 Dies geschieht indes nur um den Preis, dass der Theismus sich zu einer bloßen Hypothese herabsetzt, die erst noch der Bestätigung oder Begründung harrt.65
63 Mit jedem Glauben verbindet sich ein solcher Wille zur wahrhaften Allgemeinheit, sofern dem Satz »Jeder Mensch, der eine Meynung hat, wünscht nothwendiger Weise sie auch durch Erfahrung bestätigt zu sehen« nicht nur in Bezug auf Jacobi, sondern allgemein gilt. (AA I/18, 149) 64 Dasselbe Argument übrigens auch in Schelling, Antwort, 122. 65 Die Bezeichnung ›allegorische Vision‹ bezieht sich zuallererst auf das von Schelling erzählte Traumgesicht. (Vgl. AA I/18, 216) Die Vision betrachtet nicht Jacobi in seiner Individualität, als ›wirkliche Person‹, sondern nur sofern er etwas Allgemeines bedeutet, man könnte sagen: als Typus. Insofern ›allegorisch‹ für Schelling die Bezeichnung eines Allgemeinen durch ein Besonderes bedeutet, trifft der Zusatz zur Überschrift mit dieser selbst zusammen. Die Überschrift zielt jedoch zugleich auf den in der Präambel thematisierten allgemeinen Theismus, während der Zusatz auf Jacobis bloß allegorische Vision oder Auffassung des Christentums zielt, wonach Jesus selbst als ein Besonderes, ein Individuum zu verstehen sei, das auf ein Allgemeines bloß hinweist. (Vgl. AA I/18, 183. 189. 196f. 208f. 211 und Schelling, Antwort, 124f.) Übrigens hat Schellings Rede von einer »Idee des Christentums« Schleiermacher dazu verführt, ihm eine solche allegorische Auffassung zuzuschreiben. (Vgl. SW V, 292–294 und F.D.E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980ff., Bd. I,4, 474) Vom Philosophen würde Schelling wohl behaupten, dass er das Allgemeine nicht nur bedeutet, sondern es ist, indem er um das Allgemeine, das er verkörpert, oder um den Typus, den er darstellt, weiß und dadurch für seine Lebensweise rationale Gründe zu geben vermag.
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III. Anders als Jacobi, dessen Polemik gegen die Naturphilosophie ein wohlwollender Beobachter vielleicht noch damit entschuldigen könnte, dass jener es nicht für nötig erachtet hatte, die ›Freiheitsschrift‹ auch nur zur Kenntnis zu nehmen, obwohl sie ihn, so wenigstens Schellings Behauptung, zu einem völligen Umdenken über dessen System hätte veranlassen müssen, widmet Eschenmayer sich in seinem Schreiben ausschließlich eben dieser Abhandlung. Dies dürfte mit dazu beigetragen haben, dass Schelling sich letztendlich doch zu einer öffentlichen Erwiderung entschloss. Allerdings haben weder Philosophie und Religion noch auch die ›Freiheitsschrift‹ Eschenmayer zu einem Umdenken über Schelling veranlasst: Seine Bedenken und Einwände sind imgrunde gleichlautend mit den 1803 in der Schrift über Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie formulierten, wie er auch expressis verbis zugibt, indem er mit einem gewissen Understatement erklärt, dass »mir theils die ehmals vorgebrachte Einwürfe noch nicht ganz entwafnet [scheinen], theils […] sich in mir neue Zweifel [regen]«.66 Wie damals, so wirft er auch jetzt Schelling vor, nicht zwischen dem Absoluten (von welchem wir uns eine adäquate Idee bilden können) und Gott (der jeden Begriff und jede Idee unendlich transzendiert) zu unterscheiden.67 Und wie damals, so heißt es auch jetzt, dass in Schellings System für die Ethik kein Raum bleibt und es auf »eine völlige Umwandlung der Ethik in Physik, eine Verschlingung des Freien durch das Nothwendige« hinausläuft.68 66 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 38. 67 Vgl. a. a. O., 39f. 43–46. 53–55 und A.C.A. Eschenmayer, Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie, Erlangen 1803, 31f. 34f. 41f. 61f. 68 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 50. Vgl. Eschenmayer, Uebergang, 89f. Für Schellings Antwort, vgl. Schelling, Antwort, 103. 105. Der Sache nach gleichlautend in Philosophie und Religion, SW VI, 54–56. Streng genommen äußert auch Eschenmayer gegen Schelling den Verdacht des Atheismus und Immoralismus. Seine stärkste Formulierung erhält der Verdacht des Immoralismus in der Vermutung, der Grund in Gott sei mit dem Teufel gleichzusetzen. (Vgl. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 57; ähnlich bei F.G. Süskind, Prüfung der Schellingschen Lehren von Gott, Weltschöpfung, Freyheit, moralischem Guten und Bösen, in: Magazin für christliche Dogmatik und Moral 17 [1812], 72–75) Man könnte fragen, ob Eschenmayer, wenn er erwägt, dass er »die Erscheinung des Teufels und seiner Handlanger aus unserer Geschichte schildern« könnte, aber »dem Teufel diese Ehre nicht anthun« möchte, nicht Napoleon meint. Wenn er auf der nächsten Seite erklärt, dass der Teufel »nicht mit Gott in Gegensaz [steht], sondern mit Christus«, dann wäre Napoleon der Antichrist. (Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 70f.; vgl. auch a. a. O., 76: »Die Intoleranz in Indolenz zu verwandeln, ist eigentlich das gelungenste Werk des Satans.«) Aus einem Brief an Eschenmayer vom 5. 4. 1812 geht hervor, dass Schelling den ursprünglichen Schluss von Eschenmayers Schreiben wegen dessen politischer Brisanz für die Veröffentlichung gestrichen hat. Dazu bemerkt er: »Freilich werde ich dadurch auch die Gelegenheit verlieren, über die Verwandtschaft zwischen der politischen Tendenz und dem vermeinten Gange der Philosophie in Deutschland, die schon Mehrere zu sehen glaubten, mich zu erklären«. (Plitt II, 304) Dem scheint Schelling gegenüberzustellen, dass ›Napoleon‹ (und alles, wofür dieser Name
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Dass auch die ›Freiheitsschrift‹ die früheren »Einwürfe noch nicht ganz entwafnet« zu haben scheint, mag der Tatsache zuzuschreiben sein, dass Eschenmayer nicht so sehr daran interessiert ist, Schelling so zu verstehen, wie dieser sich selbst versteht, als dass er diesen vielmehr mit dem Augenmerk auf solche Stellen liest, die ihn in seinen eigenen Auffassungen zu bestärken vermögen. Er weiß somit bereits im voraus, was Schelling behaupten müsste, wenn dieser seine Zustimmung finden soll. So erachtet er sich z. B. einer eingehenden Erörterung von Schellings Lehre von der Freiheit des Willens bereits deshalb für enthoben, weil er durch diese die Erbsünde und damit eo ipso auch die menschliche Freiheit verneint glaubt.69 Dies macht uns übrigens auf einen auffälligen Zug von Schellings Antwortschreiben aufmerksam: Obwohl es sich als eine Erläuterungsschrift zur ›Freiheitsschrift‹ präsentiert, geht Schelling in ihm kaum je auf deren, wenigstens dem Titel zufolge, zentrales Thema ein, eben das Wesen der menschlichen Freiheit.70 Die Tatsache, dass Eschenmayer selbst seine Einwände vorwiegend gegen Schellings Lehre von Gott richtet, erlaubt es Schelling, diese nachträglich als das zentrale Thema der ›Freiheitsschrift‹ herauszustellen, obwohl sie im Titel der Schrift nur stillschweigend unter den mit der menschlichen Freiheit »zusammenhängenden Gegenstände« mitbegriffen war. In der Tat kommt der Untersuchung des Wesens der menschlichen Freiheit ein vorwiegend instrumenteller Wert für die Untersuchung des Wesens Gottes zu.71 Obwohl steht) vielmehr die Konsequenz der Lehren der philosophes ist, wozu u. a. Denis Diderot gehört, der in der Vorrede zu einer von dessen Tochter verfassten Biographie, die im nächsten Heft der Allgemeinen Zeitschrift veröffentlicht wurde, zwar wegen seiner »Liebe der Wahrheit, rein als solcher« gepriesen wird, ohne dass in Bezug auf dessen »Grundsätze und deren Wirkung« eine »Ausnahme von dem allgemeinen Urtheil über den Charakter und Einfluß der Schriftsteller jener Zeit« zu machen wäre und »sein Name in jenem Betracht auf dem Verzeichniß derer, die durch Schrift und Lehre vorzüglich geschadet, vielleicht mit oben an [steht]«. ([F.W.J. Schelling], Aus einem Brief an den Herausgeber, die nachfolgenden Mémoires betreffend, in: Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche, hrsg. v. dems., Nürnberg 1813, 142f.) 69 Vgl. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 52f. 67f. 72. 70 Es ist bemerkenswert, dass Schelling nicht auf folgenden Satz eingeht: »Nicht im Gebiethe des Nothwendigen, sondern im Gebiethe des Allerfreyesten ist Gott zu suchen.« (Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 45) Daraus hätte man schließen können, dass Eschenmayer es wenigstens für möglich hält, die Freiheit von Gott auszusagen, und dass der von Gott prädizierte Begriff der Freiheit im Ausgang von der menschlichen Freiheit zu bestimmen sei. Allerdings wird aus der Folge klar, dass Freiheit für Eschenmayer nichts anderes besagt als absolute Transzendenz, durch welche Gott sich jeglichem Zugriff, insbesondere durch das Denken, entzieht. Vgl. Schelling, Antwort, 88. 71 Diese These habe ich näher zu begründen versucht in: v. Vf., Schellings Beitrag zur Natürlichen Theologie. Zur Intention der Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Schelling: Freiheit und Schöpfung, hrsg. v. H. Tegtmeyer/D. Vanden Auweele, Stuttgart-Bad Cannstatt (erscheint 2021). Übrigens dürfte Schelling aus genau diesem Grund zeitweise erwogen haben, auf Süskinds Prüfung zu antworten, da dieser wenigstens insofern ein richtiges Gespür
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Schelling gelegentlich den Eindruck erweckt, als ob die Missverständnisse, die er in Eschenmayers Darstellung seiner Lehre ausmacht, letztlich auf terminologische Unklarheiten und Verwirrungen zurückzuführen sind, so dass, um sie zu beheben, »bloße genaue Begriffsbestimmung« genügte, so gibt er zugleich doch deutlich genug zu erkennen, dass sie ihren eigentlichen Grund in Eschenmayers »Glaubensartikel« haben, widmet er doch den letzten Teil seines Antwortschreibens dem Nachweis, dass »diese Einwendungen, so wie überhaupt Ihre Ansichten meines Systems ziemlich folgerichtig aus Ihrer eignen Betrachtungsart der Dinge folgen«.72 Terminologische Scharfstellungen reichten also auf keiner Weise aus, um Eschenmayers Verständnis von Schellings Denken zu berichtigen, sondern jener hätte damit anzufangen, zu seinen eigenen Überzeugungen auf Distanz zu gehen und sie einer kritischen Prüfung zu unterwerfen. Die Missverständnisse haben denn auch nicht sosehr ihren Grund in Schellings Darstellung, sondern sie folgen vielmehr mit Notwendigkeit aus Eschenmayers Vormeinungen. Der zentrale Teil des Antwortschreibens hat in Bezug auf Eschenmayer denn auch eine nur vorläufige Absicht, nämlich ihn zu der Einsicht hinzuführen, dass er, wie es schonungsvoll heißt, »Sinn und Zusammenhang der in meiner Abhandlung enthaltenen Ideen noch nicht völlig erreicht« habe.73 Dass Eschenmayer bei Schelling vorwiegend die Bestätigung vorgefasster Meinungen sucht, kann man seiner Bemerkung entnehmen, dass er Schelling »[n]ur einmal in der ganzen Abhandlung […] auf dem Standpunkt [findet], wo der Uebertritt von der Speculation zum Glauben nicht mehr fehlen sollte, und diß ist in der Prädicatlosigkeit des Ungrundes«.74 Damit hebt er jene Stelle hervor, die als einzige in der ganzen ›Freiheitsschrift‹ den für ihn entscheidenden Punkt zu berühren scheint, nämlich die Unergründlichkeit Gottes. In dem Insistieren auf die Unergründlichkeit Gottes trifft Eschenmayer sich mit Jacobi. Wenn jener erklärt, dass die menschliche Vernunft unvermögend sei, »auch nur einen Gedanken von Gott zu fassen«, dann ist dies nur eine Variation von Jacobis für das zentrale Thema der ›Freiheitsschrift‹ erwiesen hatte, als er den weitaus größten Teil seiner Prüfung der Frage nach Gott widmet und er auf das Wesen der Freiheit nur ganz zum Schluss, auf nur 30 von insgesamt 164 Seiten eingeht. Eine solche Erwiderung müsste auch bereits in politischer Hinsicht als ratsam erscheinen, gehörte Süskind doch zu jenen Tübinger Theologen, die den württembergischen König dazu bewegten, Schellings Berufung nach Tübingen nicht stattzugeben. Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 5. 12. 1812 (Schelling, Schelling und Cotta, 79f.); F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 20. 12. 1812 (ebd.); F.W.J. Schelling an E.F. Georgii am 8. 12. 1812 (Plitt II, 334). 72 Schelling, Antwort, 79. 83. 108. Vgl. beispielsweise Schelling, Antwort, 82. 85. 93f. 73 Schelling, Antwort, 108. – Das Antwortschreiben gliedert sich in drei Teile: Eine Einleitung (79–81), eine Kritik der Eschenmayer’schen Darstellung von Schellings Lehre (81–108) und eine Charakteristik von Eschenmayers eigener ›Denkart‹ (108–129). Hier geht die Kritik somit sehr wohl der Charakteristik voran. 74 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 59. Vgl. auch a. a. O., 69: »Und hier ist es, wo ich mich mit Ihrer Ansicht befreunde«.
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Hauptsatz, wonach »ein Gott, der gewußt werden könnte, gar kein Gott wäre«.75 Wenn Schelling es nun dennoch als gewinnbringend ansieht, auch auf Eschenmayer zu antworten, dann aus dem Grund, dass dieser mit einer Radikalität – was Schelling nicht unterlässt lobend herauszustreichen – die notwendige Konsequenz aus der Unergründlichkeit Gottes gezogen hat. Demnach müsse man es sich in dem Fall nicht nur schlechthin verbieten, von Gott Attribute wie ›Allmacht, Allweisheit und Allgüte‹ auszusagen, sondern ebenso Bestimmungen wie Persönlichkeit, Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis oder Leben, ohne selbst vor der Existenz haltzumachen. Für diese seine zentrale These stützt Eschenmayer sich auf eine Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens, wonach alle Aussagen über Gott auf eine unstatthafte Anwendung von Verstandeskategorien oder -begriffen auf das höchste Wesen zurückzuführen sind.76 Dieses Argument glaubt er noch verstärken zu können, indem er es um die Behauptung ergänzt, die Verstandesbegriffe seien das Ergebnis eines an die Erde gebundenen geistigen Prozesses und finden auch deshalb nur auf die Erde Anwendung, während »andere Planeten- und Sonnenbewohner« sich anderer und angeblich höherer Begriffe bedienen.77 Der Begriff eines Wesens, dem wir »Allmacht, Allgüte, Allweisheit« zuschreiben, stellt zudem nur ein sich aus der Vernunft natürlich erzeugendes Ideal oder eine Vorstellung einer imaginären Vollkommenheit dar.78 In der Bestimmung der Idee Gottes fände die Philosophie somit ihre unüberschreitbare Grenze und sie verfällt notwendig der Selbsttäuschung, falls sie diese überschreiten zu können glaubt, eine Selbsttäuschung, die zudem als Schuld, als Ich-Vergottung und Götzendienst anzulasten ist.79 Eschenmayer zielt somit auf eine Selbstbescheidung der Philosophie.80 Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass die menschliche Natur die Vollkommenheit prinzipiell ausschließt, weil sie dem Bösen immer schon verfallen ist.81 Es 75 A. a. O., 54. 76 Vgl. a. a. O., 39f. 43f. 46. 53. 55. Für dieses Argument hätte Eschenmayer sich vielleicht auf Kant berufen können, wenn der Begriff des Grundes das Korrelat des Begriffs der Folge wäre und es sich somit um einen Verstandesbegriff gehandelt hätte. Vgl. a. a. O., 39f. und Schelling, Antwort, 86f. 93. 77 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 40f.; vgl. a. a. O., 55. 78 A. a. O., 43f. 79 Vgl. a. a. O., 43. 46. 47f. 80 Vgl. a. a. O., 43. 67. Ferner: »Ich suche übrigens alle diese Widersprüche, welche an der Gränze der Speculation nicht fehlen können, nicht auf, um einen besondern Werth darauf zu legen, ich ehre diese Widersprüche sogar, denn gerade ihre Unauflöslichkeit führte mich über ihr ganzes Gebiet hinaus, so daß ich jetzt scherzend und wol auch mit verächtlichem Blick auf die Eitelkeit aller philosophischen Systeme, mein Eigenes am wenigsten ausgenommen, zurükschaue«. (A. a. O., 62) Vgl. dagegen Schelling, Antwort, 91. 107. 116. 81 Vgl. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 52. 68. 72. Schelling hat klar erkannt, dass Eschenmayers Antwort auf die Frage nach Gott innigst mit dessen Beantwortung der Frage nach der menschlichen Natur zusammenhängt. – Es ist kaum zufällig, dass das von Pascal
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kann kaum überraschen, dass Eschenmayer in dem Versuch, die Frage nach dem Wesen Gottes auch nur zu stellen, eine Verletzung der ›Würde‹ Gottes erblickt.82 Eschenmayer fasst seine These dahingehend zusammen, dass alle Versuche, die Idee Gottes zu artikulieren, dem Verdikt des Anthropomorphismus anheimfallen. Damit richtet er gegen alle solche Versuche das für unumgänglich gehaltene Dilemma auf: Entweder Unergründlichkeit Gottes oder Anthropomorphismus. Tertium non datur. Die These scheint für Schellings Unternehmen durchaus fatal, da sie die Natürliche Theologie in ihrer Möglichkeit und ihrem Recht zugleich verneint. Gegen das Argument, das sich auf die Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens stützt, erklärt Schelling, dass er »dieser ganzen Art zu argumentiren überhaupt keine Gültigkeit zugesteh[t]«, weil es »überhaupt nicht die Frage seyn [kann], mit welchem Recht wir unsere Begriffe auf Gott übertragen; wir müssen vorerst wissen, was Gott ist«.83 Mag Eschenmayer Schelling auch vorwerfen, das Erkenntnisvermögen zum positiven Maß der Gottheit zu machen, indem er dieser bestimmte Eigenschaften zuschreiben zu können glaubt, so lässt sich dieses Argument genauso gegen ihn selber wenden, da er das Erkenntnisvermögen »zum negativen Maß der Gottheit« macht.84 Eschenmayer macht eine petitio principii, da die Frage, ob es erlaubt ist, unser Erkenntnisvermögen zum – positiven oder negativen – »Maß der Gottheit« anzulegen, bereits eine Antwort auf die Frage, »was Gott ist«, voraussetzt.85 Wenn die kantische »Art zu argumentiren« unzulässig ist, so a fortiori die radikalere Fassung, die Eschenmayer jener zu geben scheint, indem er die Gültigkeit unserer Begriffe auf die Erde beschränkt.86 Auf die Erbsünde geht Schelling so wenig ein, dass er sie in seiner Antwort kein einziges Mal auch nur erwähnt. Das im Antwortschreiben entfaltete Argument beinhaltet indes eine entschiedene Verneinung derselben. Eschenmayers Bedenken setzen durchgängig voraus, dass eine Natürliche Theologie unmöglich bzw. sündhaft ist. Schelling wird nun zu zeigen versuchen, dass Eschenmayer durchaus, wenn auch nur stillschweigend, positive Aussagen über Gott voraussetzt. Indem Schelling die autoritative Antwort auf die Frage nach dem, ›was Gott ist‹, die Eschenmayers Argument zugrundeliegt, aufdeckt und
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geplante Werk mit einer Argumentation zugunsten einer ursprünglichen Korruption der menschlichen Vernunft anfangen sollte, derart, dass der Mensch aus eigener Kraft gar nicht aus der Selbsttäuschung herauszufinden vermag. Vgl. B. Pascal, Œuvres de Blaise Pascal, hrsg. v. L. Brunschvicg/P. Boutroux/F. Gazier, Paris 1904–1914, Bd. 13, 196. 199. 297. 321–325. 332. 341–351. 356f. 373f. 378f. (Ed. Brunschvicg, Nos. 267, 274, 389, 425, 430, 434, 436, 440f., 463, 470). Vgl. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 46. 54. Vgl. Schelling, Antwort, 88. 117f. Schelling, Antwort, 90; vgl. a. a. O., 92. 93 und AA I/17, 111f. Schelling, Antwort, 92. A. a. O., 90f. A. a. O., 90; vgl. a. a. O., 92. 118.
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einer kritischen Prüfung unterwirft, versucht er diesen oder wenigstens den Leser, der sein Interesse in einer solchen Frage findet, für die Natürliche Theologie zu öffnen. Wenn Eschenmayer nun selbst gegen das Verbot jener Frage verstößt, so ist dies nicht aus einer bloßen Inkonsequenz zu erklären, sondern der Verstoß ergibt sich notwendig aus dem Inhalt des Gebots, wenn nicht sogar aus dessen Form. Einem Gesetzgeber, der ein solches Gebot erlässt, müsste deshalb die Weisheit abgesprochen werden. Insbesondere sucht Schelling den Grund aufzudecken, durch welchen Eschenmayer sich genötigt glaubt, Gott die Unergründlichkeit zuzusprechen. Dabei orientiert dieser sich nämlich an einem vagen Begriff der Vollkommenheit, die er mit der Erkenntnis unvereinbar glaubt. Aus diesem Grund sieht er sich dazu genötigt, sämtliche Attribute von Gott für unzulässig zu erklären. Die Frage ist dann auch nicht sosehr, ob die menschliche Vernunft fähig ist, ein göttliches Wesen zu erkennen, sondern ob die Erkenntnis und die Erkennbarkeit mit einem vollkommenen Wesen prinzipiell unvereinbar sind. Wäre dies der Fall, dann müsste man nämlich nicht nur leugnen, dass der Mensch Gott zu erkennen vermag, sondern man müsste vielmehr verneinen, dass Gott sich selbst erkennen kann, und behaupten, dass die Selbsterkenntnis von einem vollkommenen Wesen auszuschließen sei. Da Eschenmayer die berühmt-berüchtigte Stelle zur Indifferenz Gottes als den Punkt der größten Annäherung herausstellt, ergreift Schelling diese Gelegenheit, um auf jene Stelle einzugehen, deren Bedeutung er dadurch zusätzlich unterstreicht, dass er gleich dreimal mit präziser Seitenangabe auf sie verweist.87 Dadurch zeigt er, dass Eschenmayers Einwand ihn sowenig hat überraschen können, dass er vielmehr von Anfang an mitbedacht wurde. Zudem zeigt er an, wie die Behauptung der Unergründlichkeit Gottes sich so umfunktionieren lässt, dass daraus auf die Notwendigkeit, Gott bestimmte Attribute und Bestimmungen zuzuschreiben, zu schließen ist. Eschenmayer liest in jene Stelle eine Bestätigung seines Glaubens an die Unergründlichkeit Gottes hinein und nimmt einen Widerspruch mit Schellings Versuch wahr, die Attribute und Bestimmungen eines göttlichen Wesens zu erörtern. Nach dieser Lesart würde der ganze Argumentationsgang der ›Freiheitsschrift‹ auf eine Aporie hinauslaufen, da der Schluss die gesamte vorangegangene Untersuchung als irregeleitet erklärte. Nun muss die Stelle im Argumentationsgang der ›Freiheitsschrift‹ allerdings zugleich überraschen und irritieren. Schelling selbst bemerkt, dass sich dem Leser, der sein Argument verfolgt, nach und nach die Frage erheben muss, nach welchem Maßstab denn die Prüfung der Attribute, die einem vollkommenen Wesen zuzusprechen sind, überhaupt durchgeführt wird. Dieser Maßstab, an welchem 87 Vgl. A. a. O., 86. 98f. und AA I/17, 170f. Das Befremdliche dieser Stelle liegt insbesondere darin, dass Schelling erst ganz zum Schluss der ›Freiheitsschrift‹ auf die Indifferenz zu sprechen kommt, während er sonst immer von dieser ausgeht.
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Schelling sich durchgängig orientiert hatte, blieb während der gesamten Analyse unausgesprochen. An ihm entscheidet sich jedoch die Triftigkeit derselben, weshalb er von Schelling zutreffend als der »höchste[] Punkt der ganzen Untersuchung« bezeichnet wird. (AA I/17, 170) Dass er diesen Maßstab bislang nur stillschweigend vorausgesetzt habe, zugleich damit rechnet, dass dem aufmerksamen Leser dieses Stillschweigen immer auffälliger wird, gibt er durch die Bemerkung zu erkennen, dass diesem in der Tat die Frage sich erheben muss, mit welcher Berechtigung er anfangs die Unterscheidung eingeführt habe »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«, eine Unterscheidung, die erklärtermaßen für die gesamte Untersuchung grundlegend ist, bei ihrer Einführung jedoch auf keine Weise begründet, sondern lediglich ›erläutert‹ wurde. (AA I/17, 129) Wenn es nun tatsächlich dasselbe Wesen sein soll, das bald betrachtet werden kann, sofern es existiert, bald sofern es bloß Grund von Existenz ist, wenn es sich dabei somit um zwei »Wirkungsweisen« desselben handelt, dann kann von ihm, sofern man es unabhängig von diesen beiden Wirkungsweisen betrachtet, nichts anderes ausgesagt werden, als eben die reine Absolutheit. (AA I/17, 173) Dies erläutert Schelling im Antwortschreiben so: »Daraus aber, daß der Grund und das Subjekt der Existenz zu Einem Urwesen gehören, folgt nicht, daß sie beyde unter sich gar nicht unterschieden seyen; vielmehr gerade, weil zu Einem Wesen gehörig, müssen sie in andrer Hinsicht unterschieden, ja entgegengesetzt seyn.«88 Wenn jedoch beide Wirkungsweisen dieses Wesen adäquat zum Ausdruck bringen sollen, dann muss ihnen auch ihrerseits die Absolutheit zukommen. Da Schelling die besagte Unterscheidung als eine solche zweier Willen, nämlich der Sehnsucht und der Liebe näher bestimmt, erhebt sich die Frage, inwiefern diese dem Maßstab der Absolutheit genügen können, scheinen beide doch geradezu einen Mangel zu indizieren.89 Auf jeden Fall ist die Absolutheit als formelles Kriterium anzusehen, dem diese Wirkungsweisen zu genügen haben, wenn sie adäquater Ausdruck jenes Wesens sein sollen.90 Das Antwortschreiben bietet Schelling je88 Schelling, Antwort, 86, m.H. 89 Vgl. AA I/17, 144. 149. 161. 164f. 167f. 173. 90 Da Schelling genau in diesem Zusammenhang den Ausdruck ›Ur- bzw. Ungrund‹ einführt und die Verwendung desselben zu vielen Mutmaßungen Anlass gegeben hat, mag hier dazu Folgendes bemerkt sein: Wie Christian Brouwer richtig beobachtet, kommt das Wort ›Ungrund‹ nur in der ›Freiheitsschrift‹ vor. (Vgl. C. Brouwer, Schellings Freiheitsschrift. Studien zu ihrer Interpretation und ihrer Bedeutung für die theologische Diskussion, Tübingen 2011, 264–272, bes. 268) Es wäre jedoch übereilt, daraus zu schließen, wie Brouwer es allerdings tut, dass der durch das Wort bezeichnete Begriff bei Schelling ebenfalls sonst nirgends vorkommt und »Schellings Lehre vom Ungrund […] sich durch nichts an[kündigt]«. (A. a. O., 268) Auch wenn Schelling den Ausdruck unbestreitbar von Jacob Böhme übernommen hat, verwendet er ihn zur Bezeichnung dessen, was er andernorts schlichtweg als »das Absolute« oder als die »reine Absolutheit, ohne alle weitere Bestimmung« bezeichnet. (SW VI, 29) So erscheint der Begriff des Absoluten in der ›Freiheitsschrift‹ zum ersten Mal genau in dem Zusammenhang,
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denfalls die Gelegenheit, nachträglich darauf hinzuweisen, dass es ihm bei der Erörterung des Absoluten um die Gewinnung eines Maßstabs zu tun ist.91 Überdies zeigt er dadurch an, inwiefern das Absolute und Gott nicht schlechthin gleichgesetzt werden dürfen: Zwar ist die Absolutheit der Maßstab, dem Gott zu genügen hat, ohne dass damit die Idee Gottes bereits hinlänglich bestimmt wäre. Die Stelle zum Ungrund, in welcher Eschenmayer den Punkt der größten Nähe festzustellen glaubt, sagt somit genau das Gegenteil dessen aus, was er sie sagen lassen möchte. Schelling schließt an die Gewinnung des Maßstabs nämlich die These an, dass die Vollkommenheit eines Wesens dessen Erkenntnis bzw. Selbsterkenntnis sowenig ausschließt, dass diese für jene vielmehr unabdingbar ist.92 Eine Vollkommenheit, die sich selbst nicht nur nicht erkannte, sondern der durch deren Erkenntnis sogar Abbruch getan würde, höbe sich eben dadurch auf. Die eigentliche Frage ist denn auch nicht, ob das menschliche Erkenntnisvermögen derart verfasst ist, dass es Gott zu erkennen vermöchte, sondern ob die Idee Gottes dessen Selbsterkenntnis ausschließt oder fordert.93 Hinzu kommt, dass Schelling sich Eschenmayers Dilemma zueigen macht, um aus der Unhaltbarkeit des Rückzugs auf die Unergründlichkeit Gottes auf die in welchem Schelling auch den Ungrund einführt. (Vgl. AA I/17, 172f. 175) Der Rückgriff auf den Ausdruck ›Ur- oder Ungrund‹ ist dadurch motiviert, dass Schelling das durch ihn Bezeichnete in diesen Überlegungen zunächst im Verhältnis zur grundlegenden Unterscheidung des Wesens, sofern es existiert, und des Wesens, sofern es bloß Grund von Existenz ist, betrachtet. Diese Unterscheidung sollte in erster Linie darauf aufmerksam machen, dass das existierende Wesen auf einen Grund angewiesen ist, wenn es sich als existierend bemerkbar machen können soll. Das Wesen selbst aber, sofern es diese beiden »Wirkungsweisen« vorausliegt, kann zwar als deren gemeinsamer Urgrund betrachtet werden, ist jedoch angemessener als Ungrund zu bezeichnen, da ihm in Bezug auf jene nicht die Funktion eines Grundes im eigentlichen Sinne zukommt. (AA I/17, 173) Die Unmöglichkeit, vom Verhältnis auf das Wesen zurückzuschließen, entspricht präzise der Unterscheidung von deus absconditus und deus revelatus, wonach Gottes Wesen und Willen trotz seiner Offenbarung unzugänglich bleiben. In dieser Richtung scheint auch Brouwer den Böhme’schen Ungrund interpretieren zu wollen. 91 Es sind also nicht die Verstandesbegriffe, die einen »Maasstab für Gott« abgeben, wie es Eschenmayer will. (Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 39) 92 Vgl. AA I/17, 131f. 93 Die Darstellung meines Systems eröffnet mit diesem Argument, das auch am Anfang der Weltalter wiederkehrt. (Vgl. AA I/10, 123f. [§§ 17–21] und Schelling, Die Weltalter, 14–21) Dass Schelling in der ›Freiheitsschrift‹ mit diesem Argument nicht anfängt, sondern endet, scheint mir so zu verstehen zu sein, dass das ganze vorherige Argument nur schlüssig ist unter der Voraussetzung der Indifferenz, dass er diese Voraussetzung jedoch erst ganz zum Schluss auch ausdrücklich herausstellt. Zugleich hat die dialektische Untersuchung der göttlichen Attribute, insbesondere der Güte und der Liebe, ohne die Weisheit zu vergessen, eine zusätzliche Bestätigung jener Voraussetzung geliefert. (Vgl. AA I/17, 126. 138. 162f. 167. 178) Wenn Schelling zudem die (absolute) Vernunft als die »anfängliche Weisheit« bestimmt, den Verstand oder den Geist als tätige Vernunft oder Vernunft in actu, dann hat er letztere durch die Liebe zur Weisheit bestimmt. (AA I/17, 178) Beachte dort auch die Bestimmung des Begriffs ›Philosophie‹ und vgl. SW VII, 474.
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Unausweichlichkeit eines radikalen Anthropomorphismus hinzuführen.94 Dadurch gewinnt er zugleich den Vorteil, den Leser auf eine methodische Besonderheit der Weltalter vorzubereiten und sie argumentativ abzustützen, während sie, obwohl durchaus befremdlich und erläuterungsbedürftig, in diesen selbst an keiner Stelle gerechtfertigt wird, nämlich den methodischen Anthropomorphismus, wonach aus der Analyse von menschlichen Zuständen per analogiam Schlüsse auf das höchste Wesen gezogen werden. Aus dem Antwortschreiben geht jedenfalls klarer als vielleicht aus den Weltaltern selbst hervor, dass die Analyse menschlicher Zustände ganz der Bestimmung des höchsten Wesens untergeordnet ist. Besonders in den ersten beiden Drucken der Weltalter zeigt sich Schelling nämlich bemüht, den zentralen Gegenstand derselben, nämlich die Bestimmung des höchsten Wesens aus dem Blick geraten zu lassen. Während Eschenmayer mit der einen Hand den Anthropomorphismus durchstreicht, unterschreibt er mit der anderen jedoch den Anthropozentrismus. Das eigentliche Motiv für sein Insistieren auf die Unergründlichkeit Gottes ist nämlich in einem moralischen Interesse zu suchen.95 Sein Vorbehalt Schelling und der Philosophie überhaupt gegenüber wurzelt in ihrem angeblichen Unvermögen, das Handeln zu orientieren, wenn nicht sogar in der ihnen zugeschriebenen absichtlichen oder unbewussten Verneinung des fundamentalen Charakters des Gegensatzes von Gut und Böse. Übrigens liefert dieser moralisch motivierte Vorbehalt einen beachtenswerten Aufschluss über Eschenmayers Selbstverständnis wie über den Horizont, vor welchem Schellings Philosophie ihm erscheint. Nicht ein genuin philosophisches, sondern ein lediglich theoretisches Interesse bestimmt seine Aneignung wie seine Kritik der Schelling’schen Philosophie: Er schätzt sie vorwiegend wegen den theoretischen Ressourcen, die sich für die Weiterentwicklung der Physik wie der Medizin bereithalten, ohne dass seine Beschäftigung mit diesen Wissenschaften auf seine eigene Existenz zurückschluge, geschweige denn, deren Basis ausmachte. Die Beschäftigung mit der (organischen) Natur gewährt ihm nicht solche Entzückungen, dass sie zum tragenden Grund seines Daseins zu werden vermochte. Die Leidenschaft der Erkenntnis ist ihm unbekannt. Stattdessen gilt sein existentielles Interesse der Religion und der Moral. Die zentralen Themen seines Werkes, die Medizin und die Religion, stehen in demselben denn auch wie beziehungslos nebeneinander.96 In Eschenmayers Insistieren auf dem »schneidenden Gegensaz des Sittlichen mit der Natur« drückt sich jedenfalls das Bestreben aus, dem Menschen als ein wesentlich geschichtliches Wesen innerhalb des Kosmos eine Sonderstellung 94 Vgl. Schelling, Antwort, 89. 95 Vgl. z. B. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 66f. 96 Es ist bemerkenswert, dass auch Eschenmayers theoretisches Interesse mit der Medizin einer praktisch ausgerichteten Wissenschaft gilt.
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zuzuweisen, dessen Handeln für die Ursache des Alls eine unendliche Bedeutung zukommt.97 Obwohl er die Voraussetzungen seiner moralischen Position, absichtlich oder nicht, weitgehend im Unausgesprochenen belässt, so ist nicht zu sehen, wie sie dem vollkommensten Wesen nicht ein Interesse am menschlichen Handeln zuschreiben soll und wie dadurch dem Schicksal jedes Indiviuums nicht eine kosmische Bedeutung zugesprochen wird. Wie vermochte er seine moralische Position zu behaupten, ohne an die Allmacht, Allgüte und Allweisheit zu glauben und ohne Gott als ein »persönliche[s], mit Bewußtseyn und Absicht handelnde[s]« Wesen vorauszusetzen?98 Der Rekurs auf die Unergründlichkeit dient somit dem polemischen Zweck, als »verwegen« bezeichnete Fragen abzuwehren.99 Die Irrtümer, denen er entgegentritt, versteht er denn auch nicht als bloße Irrtümer, sondern als verschuldet und demnach als Sünde. In der Philosophie vermag er nur einen »sträflichen Egoismus« zu sehen, der, als »Kennziffer des Teufels«, auf die Erbsünde zurückzuführen ist.100 In dieser findet er die »Wurzel der Sinnlichkeit«: Die Sünde ist von Anfang an mit der Sinnlichkeit, mit der sinnlichen Wahrnehmung wie mit den Leidenschaften, verwachsen und reicht von daher bis in die Gedanken hinein.101 Die mit der Vernunft gleichursprüngliche Selbsttäuschung hat ihren Ursprung somit in der Erbsünde, in dem Hang, den fundamentalen Charakter des moralischen Gegensatzes zu leugnen oder zu verschleiern. Darin geht er so weit, dass er auch sein eigenes theoretisches Handeln als durch den Auftrag getragen versteht, den Kampf gegen das Böse auszutragen, das er insbesondere in der Gestalt der Leugnung erblickt, dass der Mensch unendlich über die Natur erhaben wäre.102 Es fällt Schelling nicht sonderlich schwer, die Inkonsistenz von Eschenmayers Position aufzudecken und insbesondere zu zeigen, dass gerade der unergründliche Gott mit jenem moralischen Interesse nicht kompatibel ist. Worauf es ihm 97 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 56f. 98 Schelling, Antwort, 89. 99 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 67. Wenn Eschenmayer z. B. schreibt: »Wer uns die Freiheit schenkte, der muste um des Guten willen das Böse zulassen, denn das Verdienst des Menschen, das an diese Freiheit geknüpft ist, ist ja der einzige Zwek unserer sittlichen Bestimmung«, dann macht er damit eine Aussage über die Natur des höchsten Wesens, die zugleich auf eine Notwendigkeit in demselben hinweist. Allerdings weist er auf der folgenden Seite gleich die Berechtigung der Frage, auf welche jene Aussage eine Antwort ist, zurück: »daß die Frage, warum ein Böses in der Welt seye, nicht nur widersinnig, sondern auch verwegen seye. Der Ratschluß Gottes muß uns so heilig seyn, daß wir nur vor Ihm verstummen und blinde Ergebung in ihn haben können, keineswegs aber vernünfteln sollen«. (A. a. O., 66f.) Damit führt Eschenmayer dem aufmerksamen Leser unbeabsichtigt das ganze Problem vor Augen: Wir sollten uns aufgrund des göttlichen Gesetzes alles ›Vernünfteln‹ verbieten, ohne dies jedoch zu können. 100 A. a. O., 52. 67f. 77. 101 A. a. O., 72. 102 Vgl. a. a. O., 56f. 73. 76f.
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dabei vor allem ankommt, ist zu zeigen, dass der unergründliche Gott dem moralischen Interesse nicht nur nicht zu genügen vermag, sondern dass dieses geradezu fordert, dass der Gott, statt sich in seiner Unergründlichkeit zurückzuziehen, sich auch offenbart. Ohne Offenbarung vermag Gott dem Handeln nicht die Orientierung zu geben, wonach es Eschenmayer dennoch verlangt. Es ist denn auch irreführend, wenn Eschenmayer meint, man könne die Allgüte von Gott nicht aussagen, da er dadurch vermenschlicht würde. Vielmehr müsste man von einem in seiner Unergründlichkeit verharrenden Gott die Sorge um den Menschen oder die Allgüte geradezu leugnen. Durch dieses Argument führt Schelling Eschenmayer die Notwendigkeit einer Entscheidung vor Augen: Entweder entscheidet er sich für den unergründlichen Gott, muss dann aber jegliches moralische Interesse, das er mit Gott verbinden möchte, aufgeben, oder, um in die Eschenmayer’sche Ausdrucksweise zu wechseln, die Ethik ganz durch den unergründlichen Gott verschlingen lassen; oder aber er hält an dem moralischen Interesse fest, muss dann aber die Unergründlichkeit Gottes aufgeben und auf einer Offenbarung Gottes beharren, durch welche dieser seinen Willen bekundet.103 Hieraus erklärt Schelling sich auch Eschenmayers unklares oder inkohärentes Verhältnis zum Christentum: Entscheidet dieser sich für die erste Option, dann hat er keinen Grund, Jesus als den Christus anzuerkennen. Bietet Eschenmayer auch alles auf, um die Frage nach dem Wesen Gottes mit einem Verbot zu belegen, so erlaubt die kritische Prüfung es Schelling, den Spieß umzudrehen: Gott verbietet solche Untersuchungen so wenig, dass es vielmehr »dem Menschen ewig nicht nur verstattet [bleibt], sondern geboten, daß er suche, die Absichten Gottes, auch die verborgensten, zu erkennen«.104 Dadurch erhebt er das Philosophieren zu einem göttlichen Gebot oder vielmehr zum Kriterium eines göttlichen Gesetzes: Nur ein solches Gesetz ist überhaupt als ein göttliches anzuerkennen, das diesem Kriterium genügt. Eben dies erklärt Schelling an dieser Stelle zum »große[n], von den Zweiflern und Nicht-Wissern nicht geahndete[n], Sinn des Christenthums«.105 Schelling lässt seine Untersuchung von Eschenmayers »eignen Betrachtungsart der Dinge« mittels eines Malebranche-Zitats in der Destruktion des Glaubens als dessen Zentralbegriff gipfeln.106 Nachdem er herausgestellt hat, 103 Aus diesem Grund greift Schelling auch ausdrücklich Eschenmayers Äußerungen über die Wunder auf. (Vgl. a. a. O., 74–76 und Schelling, Antwort, 124f.) 104 A. a. O., 122. 105 Ebd. Auch im Falle Jacobis hatte Schelling darauf hingewiesen, dass dessen Position das Wesentliche des Christentums verfehle, da jener den genuin christlichen Glauben sogar als Götzendienst verwirft. (Vgl. AA I/18, 209) Ähnlich übrigens auch in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher. (Vgl. SW VII, 502f. 508f.) 106 Schelling, Antwort, 108. – In Malebranche hat Schelling einen Denker gefunden, der sich auf der Höhe der Streitfrage bewegt. Zugleich entsteht dadurch der Eindruck, als ob Schelling,
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weshalb Eschenmayer meint, auf den Glauben rekurrieren zu müssen, da nur dieser nämlich »alle Eigenschaften einer kraftvollen, aus dem ganzen Menschen stammenden, und diesen hinwiederum ergreifenden Ueberzeugung« zukommen, stellt er heraus, dass dem Eschenmayer’schen Glauben eben diese Eigenschaften fehlen.107 So wie Eschenmayer ihn bestimmt, ist dieser Glaube nämlich völlig inhaltslos. Wenn dieser den Glauben als eine ›die Totalität des Menschen ergreifende und den ganzen Charakter des Menschen erfüllende Überzeugung‹ bestimmt, hebt er damit nämlich lediglich einen formalen Aspekt des Glaubens hervor, der diesem jedoch nur unter der Bedingung zukommt, dass er auch inhaltlich bestimmt ist. Der intentionale Charakter ist dem Glauben derart wesentlich, dass ohne denselben von ihm nicht jene »Energie zu erwarten [ist], die sich dem Ungestüm der Zeit entgegensetzte«, die Eschenmayer sich von ihm verspricht.108 Dieser notwendigen Folge seiner Position weicht Eschenmayer aus oder er verschleiert sie für andere oder für sich selbst, weil er in erster Linie defensiv vorgeht: Er will den Begriff Gottes endgültig jeglicher kritischer Untersuchung entziehen. Dies heißt im Umkehrschluss, dass ein Gott, so wie Eschenmayer ihn bestimmt, nämlich als absolut transzendent und radikal unergründlich, keinen Glauben zu finden vermag: »Aber ich frage Sie, wie ein Glaube, der von Gott nicht einmal einen Gedanken zu fassen vermag, dem nicht einmal verstattet ist, zu sagen, daß Er ist, geschweige, daß er persönlich, selbstbewußt, geistig, allgütig ist, – wie ein solcher Gedankenloser, Geisttödtender, stummer Glaube eine Verbindung des menschlichen Geistes mit Gott zu unterhalten vermag? Ja, nicht einmal möglich ist Glauben in dem Sinn und ein Glaube, mit dem kein Denken und kein Wissen verbunden ist, hebt sich selbst auf.«109
Was Eschenmayer somit als seinen Glauben ausgibt, ist entweder eine Täuschung oder eine Selbsttäuschung. Schelling hatte nämlich bereits gezeigt, wie Eschenmayer, trotz der Beteuerung, er verbiete sich jegliche Aussage über das Wesen Gottes, nicht umhin kann, Annahmen bezüglich dieses Wesens zu machen, eine Antwort auf die Frage, ›was Gott ist‹, wenigstens stillschweigend vorauszusetzen und sich an dieser Antwort zu orientieren. Ob diese Antwort indes ein ›Denken‹ und ›Wissen‹ im strengen Sinne ist, ein solches nämlich, das auch der strengsten Prüfung standhält, das bleibt damit noch offen. Falls es Schelling gelungen wäre, Eschenmayer zu einer Reflexion über die Voraussetzungen und Implikationen seiner »Denkart« anzuleiten, hätte dieser
da er mit einigen der Thesen des »christlichen Philosophen« übereinstimmt, auch selbst ein solcher ist. (A. a. O., 120) 107 Ebd. Vgl. Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 57. 108 Eschenmayer, Eschenmayer an Schelling, 57. 109 Schelling, Antwort, 121.
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Ryan Scheerlinck
sich eben dadurch bereits der Natürlichen Theologie geöffnet.110 Damit haben wir den Punkt erreicht, wo es möglich wird, präziser zu bestimmen, in welchem Sinne das Antwortschreiben als eine Vorrede zu den Weltaltern zu verstehen ist. Das Antwortschreiben enthält nämlich vorwiegend negative ad hominem-Argumente, d. h. solche, die die Gründe, durch welche Eschenmayer die Notwendigkeit und das Recht einer Natürlichen Theologie ausschließen zu können vermeint, zurückweist. Eschenmayer wäre in dem Sinne konsequenter noch als Kant, Fichte und Jacobi, wie Schelling hyperbolisch herausstellt, indem er die Alternative ganz klar vor Augen führt: Entweder ist auf der Unergründlichkeit Gottes zu beharren, dann muss man sich jedoch jeglicher Aussage über Gott, auch seiner bloßen Existenz enthalten, und jegliche moralische Bedeutung Gottes verneinen; selbst wenn Gott wäre, wäre es doch so gut, als ob er nicht ist.111 Oder aber man lässt sich auf die Natürliche Theologie ein, wie Eschenmayer es selbst auch tun müsste, da er, wenn auch stillschweigend, notwendig eine bestimmte Antwort auf die Frage, was ein Gott ist, voraussetzt. Damit befände man sich aber an der Schwelle der Weltalter. Um einem Missverständnis vorzubeugen, ist jedoch sogleich darauf hinzuweisen, dass hieraus nicht folgt, dass Die Weltalter keine ad hominem-Argumente enthalten. Dabei handelt es sich jedoch vorwiegend um positive ad hominem-Argumente, d. h. solche, die das Bedürfnis nach Glauben beim Adressaten voraussetzen. Nachdem die Vorreden den Adressaten darüber aufgeklärt haben, dass dessen Bedürfnis nach Glauben in einem unergründlichen Gott keine Befriedigung zu finden vermag, werden Die Weltalter einen positiven Inhalt zu entwickeln suchen. Das Werk gehorcht somit einer zweifachen Absicht, die einem zweifachen Adressaten entspricht. Hier kommt die Unterscheidung zwischen Natürlicher Religion und Natürlicher Theologie ins Spiel. In den Weltaltern versucht Schelling zum einen eine Lehre zu entwickeln, die das Bedürfnis der potentiellen Gläubigen zu befriedigen vermag, während sie zum anderen eine philosophische Untersuchung der Frage nach dem Wesen Gottes durchführt. Natürlich kann es jetzt nicht mehr darum gehen, die Schwelle zu überschreiten und uns auf Die Weltalter selbst einzulassen. Nur ganz kurz sei an dieser Schwelle verweilt, und zwar bei der Einleitung zum Ersten Buch der Weltalter, die in den drei uns überlieferten Fassungen fast gleichlautend ist. Diese müsste den Leser durchaus überraschen: Weder wird der enigmatische oder jedenfalls erläuterungsbedürftige Titel näher erklärt, noch wird ein Überblick über die zu erörternden Themen oder über die leitende Fragestellung geboten, wie man es von einer Einleitung erwarten darf, sondern stattdessen finden sich Erwägungen über die Möglichkeit von Wissenschaft und über Darstellungsprobleme. Danach wendet Schelling sich in den drei Drucken mehr oder 110 A. a. O., 81. 111 Vgl. a. a. O., 89.
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weniger unvermittelt der Bestimmung der Idee Gottes zu. Fragen muss man sich deshalb, ob und welches Verhältnis zwischen dem Thema der Einleitung und dem des Werkes selbst besteht? Könnte es nicht sein, dass nur durch die vollständige Bestimmung der Idee Gottes die Wissenschaft wirklich begründet wäre? Geht dies nicht auch daraus hervor, dass die Absicht von Jacobi wie von Eschenmayer dahin geht, die Wissenschaft abzuwerten? Kann es sein, dass nur durch die Philosophie erst die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft garantiert sei, ohne dass die Philosophie dadurch zur Wissenschaftstheorie mutiert? Enthält die Tatsache, dass Jacobi wie Eschenmayer das entscheidende Defizit von Wissenschaft und Philosophie darin sehen, dass sie keine existentielle Orientierung zu geben vermögen, einen wichtigen Hinweis? Dies sind Fragen, die uns bei einer künftigen Beschäftigung mit den Weltaltern beunruhigen müssten. Unsere Überlegungen haben nur zeigen wollen, dass Schelling keineswegs hinter dem Jacobi’schen Diktum zurückgeblieben ist, wonach »celui qui n’ose regarder fixement les deux poles de la vie humaine, la religion & le gouvernement, n’est qu’un lache«.
Patrick Leistner
Ursprung und Wissenschaft. Beobachtungen zu Schellings Methodik in dem Werk Ueber die Gottheiten von Samothrake
Das Thema der folgenden Überlegungen ist die Methodik der Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrake.1 Wie für Schellings Philosophie nicht unüblich, findet sich der Leser sogleich in die Darstellung bzw. die praktizierte Methodik selbst versetzt vor, was das Vorhaben einer Rekonstruktion nicht wenig erschwert. Hierfür erforderlich ist eine Explikation der Voraussetzungen, die in der praktizierten Methodik von Schelling in Anspruch genommen sind. Hierzu zählt in dem Werk von 1815 die Voraussetzung, dass sich Historisches und Philosophisches in dieser Gestalt aufeinander beziehen und vereinen lassen. Das Verhältnis von Historie und Philosophie bzw. in traditionellerer Terminologie: von historischer und philosophischer Erkenntnis bietet sich als Ausgangspunkt einer Rekonstruktion der Methodik an.2 Es zeigt sich, dass es bereits im frühesten Werk Schellings zu einer ersten methodischen Abstimmung von Philosophie und Historie aufeinander in einem Programm historisch-kritischer Theologie kam (= 1). Dies lässt bereits im Allgemeinen erahnen, dass es sich bei dem Verhältnis um eine Grundfrage Schellings handelt. Sowohl die Naturphilosophie als auch die Identitätsphilosophie führen die Frage in Formen des Ursprungsdenkens weiter, in denen Philosophisches und Historisches als eine Einheit konzipiert wird (= 2). Von den Rekonstruktionen zu diesen Rationalitätsformen aus lässt sich an die Schrift von 1815 herantreten. Sie präsentiert als eine Ursprungsreflexion beispielhaft ein
1 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake. Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der bayerschen Akademie der Wissenschaften am Namenstage des Königs den 12. October 1815, in: SW VIII, 347–422. 2 Die deutsche Schulphilosophie unterschied im Anschluss an Christian Wolff drei Arten der Erkenntnis. Vgl. C. Wolff, Discursus praeliminaris de philosophie in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. G. Gawlick/L. Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 19: »Denn die historische Erkenntnis begnügt sich mit der bloßen Kenntnis einer Tatsache […], in der philosophischen geben wir den Grund dessen an, was ist oder sein kann […], in der mathematischen schließlich bestimmen wir die Quantitäten, die in den Dingen sind.«
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Patrick Leistner
wissenschaftliches Verfahren, in dem philosophische Methodenreflexion und historische Konstruktion hochreflektiert aufeinander abgestimmt sind (= 3).
1.
Mythos und Ursprung
Die Überlegungen Schellings in seinem Frühwerk betreffen zunächst das Verhältnis von philosophischer und historischer Erkenntnis im Sinne von methodischen Dimensionen einer wissenschaftlichen Form von Theologie. Dieses Projekt der Tübinger Zeit wird als das Vorhaben einer historischen Methodik von Theologie betrieben, die die Historisierung von biblischer Textüberlieferung vollends in Geltung setzt und diese nicht einem Einheitsprinzip des biblischen Kanons, sondern dem eigenen mythischen Einheitsprinzip einer frühen Epoche der Geschichte zuordnet. Der Mythos steht für den gleichsam natürlichen Kanon, der mit historischen und philosophischen Mitteln zu gewinnen ist.3 Der Kanon der Interpretation soll damit möglichst nicht von außen in die Überlieferung hereingetragen werden, sondern historisch aus der Geschichte der Entstehung und der Überlieferung des Textes selbst entwickelt werden. Das über den historischen Sinn hinaus auf den reinen Vernunftgehalt und die Wahrheit des historisch überlieferten Mythos abzielende Moment von Philosophie soll die historische Interpretation offensichtlich noch einmal absichern, ist aber letztlich dann doch wieder ein externes, rationalistisches Prinzip.4 Es entstehen nicht geringe Probleme aus diesem doppelten Zugriff auf dem Mythos, so dass die Einheit der historisch-kritischen Methodik von Theologie gerade an der Konkurrenz des Historischen und Philosophischen zu zerbrechen scheint. In der Konzeptionsphase wird diese Methodik genauso an nicht-biblischen Texten erprobt. Sie soll nicht nur eine theologische, sondern eine allgemeine historische Interpretationshermeneutik liefern, die auch auf nicht-biblische mythologische Textüberlieferungen, gerade auch philosophische, anwendbar ist. Die sich um den Gesichtspunkt des Mythos bzw. der ›Vorstellungsarten der alten Welt‹5 versammelnden Studien der Tübinger Zeit stehen nichtsdestotrotz zu weiten Teilen unter dem Vorzeichen der Historisierung der Bibel. Die beson3 Vgl. F.W.J. Schelling, Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum, Tübingen 1792, in: AA I/1, 59–99; ders., Entwurf der Vorrede [zu den histor.-kritischen Abhandlungen der Jahre 1793–1794], in: AA II/5, 109–114. 4 Vgl. die Doppelung durch eine erste historische, dann erneut ansetzende philosophische Interpretation in Schelling, De malorum origine. 5 F.W.J. Schelling, Vorstellungsarten der alten Welt über Verschiedne Gegenstände, gesammelt aus Homer, Plato u. a. [1792], in: AA II/4, 15–28; ders., Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, in: AA I/1, 193–246.
Ursprung und Wissenschaft
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ders von der Göttinger Schule initiierte Bestimmung alttestamentlicher Texte als Mythos wird von Schelling aufgenommen.6 Im Zuge der Orientierung an Formbestimmungen statt an heilsgeschichtlichen Ereignissen und Verweisen rückte zuvor im 18. Jahrhundert die Erforschung des Hebräischen als Zeugnis der frühen Kulturepoche und Religionsgeschichte schlechthin in den Fokus der alttestamentlichen Exegese und wurde für aussagekräftig hinsichtlich einer natürlichen Ursprache der Menschheit befunden.7 Die Formbestimmungen zur alttestamentlichen Literatur fokussieren nicht nur auf die mündliche Vorgeschichte der Formen vor ihrer Verschriftlichung. Sie führen zu Reflexionen auf die poetische Bildhaftigkeit der sinnlichen Sprache des Alten Testaments, die ›formgeschichtlich‹, grammatisch, lexikalisch und stilistisch analysiert wird. Die Bemühungen gehen dahin, das Mythische historisch-kritisch als eine eigene ursprüngliche Reflexivitätsweise der Vergangenheit darzustellen. Hierfür sind umfassende geschichtsphilosophische Hintergrundtheorien erforderlich. Schelling etwa begeistert sich früh für Lessings Geschichtsphilosophie der Erziehung des Menschengeschlechts.8 Äußerst interessant sind sowohl bei Schelling als auch anderen Autoren die Konsequenzen, die sich aus einer entsprechenden Betrachtung der ersten Kapitel der Genesis ergeben, die nun als ›Urgeschichte‹9 bezeichnet werden. Die Erzählungen am Anfang der Bibel über Schöpfung und Fall werden nicht als geoffenbarte Zeugnisse eines objektiven historischen Geschehens verstanden, sondern als Formen mythischer Ursprungsreflexion, in denen sich diese selbst darstellt. Wichtig für Schelling ist das Modell ›monistischer‹ Ursprungsreflexion, wie es Herder, für den es im Grunde nur die historische Erkenntnisart gab,10 in der Kombination von religionsgeschichtlicher Formbestimmung und ge6 Vgl. C. Hartlich/W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, 56–58. 7 Vgl. C. Danz, Editorischer Bericht zu F.W.J. Schelling: Die Ursprache des Menschengeschlechts, in: AA II/1,1, 47–56. 8 Vgl. G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1780. Vgl. Schelling, De malorum origine, 112 Anm. Dazu C. Danz, Wir »halten mit Lessing selbst die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten für schlechterdings nothwendig«. Bemerkungen zur Lessingrezeption in Schellings Freiheitsschrift, in: Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift, hrsg. v. dems./J. Jantzen, Göttingen 2011, 127–152. 9 Vgl. W.F. Hezel, Ueber die Quellen der mosaischen Urgeschichte, Lemgo 1780; J.P. Gabler [Hrsg.], Johann Gottfried Eichhorn’s Urgeschichte, 2 Bde., Altdorf/Nürnberg 1790–1793; C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999. 10 Vgl. J.G. Herder, Ueber Christian Wolfs Schriften (1766), in: ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Berlin 1878, Bd. 32, 156–159, hier: 158: »Mich dünkt, die drei Gattungen sind nicht auf gleichem Boden neben einander geordnet. Die Philosophische steht unter der Historischen, und die Mathematische ist eine Gattung der Philosophischen Erkänntniß.«
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Patrick Leistner
schichtsphilosophischer Reflexion unter dem Paradigma des Ursprungsdenkens ausarbeitete.11 Philosophie und Historie werden hier zusammengeführt in einer ›monistischen‹ Form von Ursprungsreflexion. Diese Theorieanlage ist für die Rationalitätsform und das Theoriedesign von Schellings Philosophie von großer Bedeutung, sei es in Gestalt der ›historischen‹ Bildungsgeschichten der seit 1797 präsentierten Naturphilosophie, sei es in Gestalt der Identitätsphilosophie. Die Naturphilosophie ist geradezu als Versuch zu verstehen, in einem Ursprungsmodus Historisches und Philosophisches, Erfahrung und Idee, Freiheit und Notwendigkeit gegenüber den älteren Überlegungen zum Mythos als ursprüngliche, sich selbst organisierende und in sich differenzierende Einheit darzustellen.12 Die ältere, auf eine vergangene Epoche bezogene Geschichtsphilosophie wird so in der Naturphilosophie weitergeführt. Diese steht im Rahmen einer Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Dessen Bestimmung ist es gerade, durch Wissenschaft und Reflexivität wahre Einheit zu realisieren und darin das Zeitalter zu vollenden.13 Die Philosophie als wissenschaftliche Reflexivität schlechthin ist dabei der entscheidende Faktor. Mit Blick auf die massive Zurückweisung einseitig-kausaler, besonders mechanistischer Denkformen wie dogmatistischer Erklärungsmuster in der Naturphilosophie lässt sich sagen, dass diese von Schelling gerade als Hinderungsgrund für die Realisierung wahrer Einheit durch Wissenschaft wahrgenommen werden.14 Was an die Stelle dogmatistischer Kosmologien wie mechanistischer und substanzmetaphysischer Denkformen gesetzt wird, sind an die wissenschaftliche Darstellung gebundene, strikt einheitliche Problemexpositionen, die dann nicht zuletzt auch den Fortgang der verschiedenen Disziplinen der Naturlehre anregen 11 Vgl. M. Buntfuß, Die Erscheinungsform des Christentums: zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004, 57–66; A. Graczyk, Hieroglyphe und Prototyp. Herders vergleichende Mythologie in der ›Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts‹, in: Herder und seine Wirkung. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Jena 2008, hrsg. v. M. Maurer, Heidelberg 2014, 251–263. 12 Vgl. bereits F.W.J. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus [1795], in: AA I/3, 49–112, hier: 101: »Wer über Freiheit und Nothwendigkeit nachgedacht hat, fand von selbst, daß diese Principien im Absoluten vereinigt sein müssen – Freiheit, weil das Absolute aus unbedingter Selbstmacht, Nothwendigkeit, weil es eben deßwegen nur den Gesetzen seines Seins, der innern Nothwendigkeit seines Wesens gemäß, handelt. In ihm ist kein Wille mehr, der von einem Gesetze abweichen könnte, aber auch kein Gesetz mehr, das es sich nicht selbst erst durch seine Handlungen gäbe, kein Gesetz, das unabhängig von seinen Handlungen Realität hätte. Absolute Freiheit, und absolute Nothwendigkeit sind identisch.« Ders., Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: AA I/5, 99f.; ders., Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus, in: AA I/6, 64– 270, bes. 215–221. 13 Vgl. F.W.J. Schelling, Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur, in: AA I/ 4, 57–190. Vgl. etwa auch die Vorrede zur ›Weltseele‹ die eine entsprechende Charakteristik des Zeitalters voraussetzt (AA I/6, 67–71). 14 Vgl. Schelling, Ideen, 196. 215f. u. ö.
Ursprung und Wissenschaft
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und anleiten können. Die Philosophie klärt hier nicht über das wahre Wesen der Natur auf, sondern entwirft und reflektiert sich selbst als eine Einheitsgestalt des Zeitalters, hier in Form von wissenschaftlicher Naturphilosophie. Die wissenschaftliche Naturphilosophie ist eine Ursprungsreflexion, in der streng einheitlich verschiedenste Bereiche und Probleme der Naturlehre als Gestalten von Reflexivität exponiert werden. Philosophisches und Historisches sind hier von Grund auf eine Einheit. Die Natur wird als eine Ursprungsreflexion des gegenwärtigen Zeitalters, zunächst auch in starker Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Naturlehre in den Blick genommen,15 so dass also der Ursprung bzw. das Vorausgehende und immer schon Vergangene durchgehend als eine Konstruktion des Gegenwärtigen auftritt. In den Ursprungsreflexionen des Zeitalters, so auch der Naturphilosophie, spiegelt sich immer schon dessen unhintergehbare Bestimmung zur Reflexivität und d. h. zu einer gleichsam ›historischen‹ Bezugnahme auf sich selbst in Gestalt von expliziten und streng einheitlichen philosophischen Ursprungskonstruktionen. Es werden Strukturen des Sich-Bildens, Werdens und Ausdifferenzierens entworfen, gewissermaßen Naturgeschichten. Damit lässt sich sagen, dass sich der Einsatz bei einer umfassenden Theorie des Mythos im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts stark auf die Rationalitätsgestalt der Naturphilosophie wie Philosophie insgesamt auswirkt.16 Ursprung, Reflexivität und Einheit sind die Charakteristika, wenn nun nicht mehr der Mythos, sondern Natur in dem gegenwärtigen Zeitalter dargestellt wird. Philosophisches und Historisches werden wie Notwendigkeit und Freiheit als im Ursprung immer schon verbundene und hier gar nicht rein für sich isolierbare Dimensionen vor Augen geführt. Sie sind immer schon eine Einheit, im Wesentlichen Identität, und differenzieren sich unter der Voraussetzung ihrer unhintergehbaren Einheit aneinander aus, wie sich innerhalb der Naturphilosophie am Aufbau des Organischen nachverfolgen lässt.17
2.
Philosophie und Religion
Bisher wurde verfolgt, wie sich Schellings Einsatz bei Fragen der Historisierung der Bibel und einer in diesem Zusammenhang konzipierten geschichtsphilosophischen Theorie des Mythos auf die Rationalitätsgestalt der Naturphilosophie auswirken. In mehrfacher Hinsicht trägt die Naturphilosophie ein historisches Gepräge, insofern sie die geschichtsphilosophische Struktur einer Identität von 15 Die ist in den ›Ideen‹ von 1797 der Fall. 16 Dies zeigt sich ebenfalls in Schellings System des transzendentalen Idealismus von 1800. 17 Vgl. bes. Schelling, Von der Weltseele.
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Notwendigkeit und Freiheit voraussetzt und außerdem ideelle Gehalte stets nur als konkrete Strukturen von Bildung in einem homogenen Ganzen von Bildungsgeschichten in den Blick kommen. Ferner ist die durch die Historisierung des Alten Testaments zunächst aufgekommene Ursprungsreflexion der Naturphilosophie in grundlegender Weise durch ein historisches Bewusstsein geprägt. Denn in einer historischen Optik wird die Natur als ein immer schon Vorausgehendes bzw. Vergangenes in den Blick genommen, wobei die Darstellung einer ›werdenden‹ Vorgeschichte als eine Konstruktion der Gegenwart bewusst ist, in der sich diese wiederum in ihrer reflexiven Verfasstheit spiegelt. Wird Natur in dieser Weise als eine Vorgeschichte dargestellt, so bedeutet dies nicht, dass sie eine beliebige Projektionsfläche der Gegenwart wäre. So wie vormals der Mythos als eine eigenständige Gestalt von Vernunft gewürdigt wurde, die es möglichst in ihrer eigenen Epoche und aus sich selbst zu verstehen gilt, so besteht dieser Anspruch dann bis 1800 immer deutlicher auch für die möglichst in ihrer eigenen Epoche aus sich selbst zu verstehende Natur.18 Sie ist eben konsequent systematisch als eine immer schon vorausgehende und ›werdende‹ Vorgeschichte zu konstruieren. Dies wird geleistet, indem sie als ein ausgeglichenes, eigenständig in sich selbst zurücklaufendes homogenes Ganzes dargelegt wird. Letztlich steht diese ›historische‹ Form von Ursprungsphilosophie noch auf der Linie aufgeklärter Geschichtsphilosophien und deren Szenarien der Urzeit der Menschheitsgeschichte, wie sie zur Darstellung menschlicher Vermögen konzipiert wurden. Die Bemühungen von Schellings Naturphilosophie gehen dann zunehmend dahin, den Ursprung möglichst auch als solchen zur Geltung zu bringen. Dabei bilden sich immer deutlicher Anforderungen an eine solche von ›Späterem‹, besonders von heterogenen höheren Zwecken und Zielen unberührt gehaltene wissenschaftliche Thematisierung des Ursprungs aus sich selbst aus. Diese Anforderungen setzt dann die identitätsphilosophische Methode um. Was sich damit von der frühen Mythentheorie über die Naturphilosophie bis in die Identitätsphilosophie beschreiben lässt, ist eine immer 18 Vgl. F.W.J. Schelling, Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie, und die richtige Art ihre Probleme zu lösen (1801), in: AA I/10, 85–106, hier: 100f: »Ich betrachte in der Naturphilosophie jenes Subject-Object, das ich Natur nenne, allerdings in seiner Selbstconstruction. Man muß sich zur intellectuellen Anschauung der Natur erhoben haben, um dieß zu begreifen. – Der Empiriker erhebt sich dahin nicht; und ebendeßwegen ist er eigentlich immer das construirende, in allen seinen Erklärungen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß das Construirte und das, was construirt werden sollte, so selten übereintrifft. – Der Naturphilosoph kann eben darum, weil er die Natur zur Selbstständigkeit erhebt, und sich selbst construiren läßt, nie in die Nothwendigkeit kommen, die construirte Natur (d. h. die Erfahrung) jener entgegen zu setzen, jene nach ihr zu corrigiren; die construirende kann nicht irren; und der Naturphilosoph bedarf nur einer sichern Methode, um sie nicht durch seine Einmischung irre zu machen; eine solche Methode ist möglich, und soll nächstens ausführlich bekannt gemacht werden.«
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deutlicher und prinzipieller werdende Reflexion auf die Anforderungen einer Darstellung des Ursprungs. Eine methodisch reflektierte Darstellung des Ursprungs – und das heißt: des Reflexivitätsmediums von Wissenschaft – wird dann mit der Identitätsphilosophie seit 1801 sowohl als die Aufgabe von Philosophie als der Wissenschaft schlechthin als auch aller anderen Wissenschaften angesehen.19 Die Identitätsphilosophie setzt nach wie vor eine Theorie des Zeitalters voraus, der zufolge die Gegenwart das Zeitalter der Reflexivität und Wissenschaft – aber auch Geschichtlichkeit20 – ist und die Bestimmung hat, wahre Einheit zu realisieren. Pointiert wird diese Deutung der Gegenwart nun auf die Wissenschaft und das heißt im Wesentlichen: die (Schelling’sche) Philosophie hin als letztlich alternativlose Realisierungsgestalt von Einheit.21 Für die Identitätsphilosophie gibt es nur Wissenschaft – und diese ist in jeglicher Hinsicht wahre Einheit. Methodisch werden nun Einheits- und Ursprungsparadigma konsequent gekoppelt. ›Konstruktion‹ heißt dann stets Darstellung einer konkreten Form absoluter Einheit.22 Der universelle Raum in seiner absoluten Einheit, wie er Darstellung ermöglicht und dabei nur in den konkreten Darstellungen absoluter Einheit ist, ist nun der Ursprung und das systematische Ordnungsmodell der von der Wissenschaft konstruierten, stellenbestimmten Ideen.23 In den Ideen bzw. Darstellungen treffen absolute Einheit und Besonderheit von Grund auf zusammen.24 Der Raum und damit das ursprüngliche Reflexivitätsmedium der Philosophie bzw. der Ursprung ist dann nur durch eine wissenschaftliche Konstruktion konkreter Ideen bzw. Reflexivitätsmedien thematisierbar. Diese sind für die Philosophie je für sich die absolute Einheit. Sie zeigen an, was sie sind, nämlich eine geordnete Konstruktionstätigkeit und diese als Form absoluter Einheit. Die Identitätsphilosophie verlagert so die absolute Einheit in die Ideen selbst und verabschiedet externe Einheitshorizonte oder transzendente Fluchtpunkte, auf die die Ideen verweisen. Werden die in sich bereits vollständigen Ideen als ursprüngliche Reflexivitätsmedien konstruiert, so wird deren selbstbezüglicher Aufbau und damit wiederum Bildungsstrukturen dargestellt.
19 Vgl. F.W.J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: SW V, 207–352, bes. 255. 20 Vgl. a. a. O., 224. 21 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft, in: SW VIII, 1–18. 22 Vgl. P. Ziche, Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: System und Systemkritik um 1800, hrsg. v. C. Danz/J. Stolzenberg, Hamburg 2011, 147–168; C. Danz, Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809, in: Systembegriffe nach 1800–1809. Systeme in Bewegung: System der Vernunft, hrsg. v. V.L. Waibel/dems./J. Stolzenberg, Hamburg 2018, 97–116. 23 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber die Construktion in der Philosophie, in: SW V, 125–151. 24 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie und Religion, in: SW VI, 11–70, bes. 34f.
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Die Identitätsphilosophie ist methodisch kontrollierte Ursprungsreflexion, die den Ursprung in die wissenschaftliche Konstruktion fallen lässt. Damit gilt für die Philosophie als diese Ursprungsreflexion, dass sie nichts als sich selbst voraussetzt und beansprucht. So stellt die Philosophie in der Konstruktion ursprünglicher Reflexivitätsmedien stets ihr eigenes Verfahren dar, so dass die philosophische Darstellung immer auch eine Methodologie von Wissenschaft ist, die den kontrollierten Aufbau von Selbstbezüglichkeit beschreibt. Obgleich es sich um eine in sich durchwegs selbstbezügliche Konstruktion der Philosophie handelt, kommt auch hier wiederum, wie zuvor in der Naturphilosophie, der Vorsatz zum Tragen, Ideen ›ursprünglich‹ aus sich selbst zu verstehen und von heterogenen Zweck- und Zielbestimmungen frei zu halten.25 Die Konstruktion von Ideen ist daher unter klare, sich aus dem ›Ursprungsmodus‹ selbst ergebende Anforderungen an innere Kohärenz, Notwendigkeit und Vollständigkeit zu stellen und nur diese sind gelten zu lassen. Diese Anforderungen werden in den ersten Systemdarstellungen, die wiederum der Natur gewidmet sind, durch Formeln vergegenwärtigt, die stets den gestuften Ausgleich des Ideellen und Reellen in absoluter Einheit angeben.26 Der Ab- und Ausgleich der reellen und ideellen Darstellungsmomente soll durch »Potenzen« (AA I/10, 136) ermöglicht werden, die als die vollständigen Bestimmungen eines Einzelmoments als Form absoluter Einheit für sich auftreten und dabei zugleich auch den Übergang in das jeweils nächste plausibilisieren. So sollen hierarchische Stufungen und eindimensionale Folgeverhältnisse vermieden werden, aber auch keine externen Zwecke eingeführt werden. Jedes Einzelmoment ist für sich bereits vollständig – eben das Ganze oder die absolute Einheit –, während das Fortschreiten der konstruierenden Philosophie ein Abschreiten des immer schon präsenten Ganzen ist, durch das der anfängliche Entwurf des Ganzen durch Darstellungen ausdifferenziert wird.27 Die Rationalitätsform der Identitätsphilosophie führt auf diese Weise die frühere einheitliche philosophisch-historische Ursprungsreflexion zu einer Methodik strenger Wissenschaft weiter. Schellings Plädoyer für eine Methode von Wissenschaft und die Philosophie als Inbegriff dieser ist dann sowohl für die weiteren Auseinandersetzungen um seine Philosophie, seine erneute Beschäftigung mit den für ihn eng zusammenliegenden Themen Geschichte und Religion wie auch für die Abhandlung über die Gottheiten von Samothrake charakteristisch.
25 In der Methodologie von 1802/3 wird in dieser Hinsicht besonders das Nützlichkeitsdenken der Aufklärung zurückgewiesen. 26 Vgl. F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, in: AA I/10, 107–211, bes. 142. 27 Vgl. ebd.; F.W.J. Schelling, System der gesammten Philosophie (1804), in: SW VI, 131–576.
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Für die Natur- wie besonders die Identitätsphilosophie ist festzustellen, dass sie es als Aufgabe von Philosophie und Wissenschaft ansehen, sich in der geschilderten Form als Einheitsgestalten des Zeitalters zu erfinden. Waren es in der Naturphilosophie seit 1797 besonders die traditionelle Schöpfungslehre oder Elemente dieser in Naturlehren, daneben einseitige Mechanizismen, Substanzialismen oder heterogene Zwecksetzungen in den Naturvorstellungen der neueren Zeit, die als Hinderungsgrund für eine einheitliche Naturphilosophie wahrgenommen und kritisiert wurden, so erweist sich die Frage der Religion im identitätsphilosophischen Zusammenhang als ähnliches Problem für die konsequente und streng einheitliche Ausarbeitung der Philosophie bzw. Wissenschaft im gegenwärtigen Zeitalter.28 Soll die Philosophie nichts als sich selbst voraussetzen und lediglich den eigenen Anforderungen einer Darstellung von Ideen verpflichtet sein, so können nach Schelling von Grund auf keine der Philosophie entzogenen Dimensionen von unmittelbarer Selbsterfahrung zugelassen werden, zumal als Grundlage der Philosophie. Diese Unmittelbarkeitsdimensionen werden nicht gänzlich negiert. Sie können jedoch nur innerhalb der philosophischen Ursprungskonstruktionen vorkommen und von der durch sich selbst bereits suffizienten Philosophie aus thematisiert werden.29 Dies ist nun für die Religion und dann die Geschichte zu sehen, so dass von dort aus zu dem Werk von 1815 übergegangen werden kann.
28 Vgl. exemplarisch die Auseinandersetzung mit Carl August Eschenmayer in Schelling, Philosophie und Religion, 7: »Religion in dieser vorübergehenden Gestalt [= wie sie Eschenmayer darstellt; P.L.] ist demnach ein bloses Erscheinen Gottes in der Seele, sofern diese auch noch in der Sphäre der Reflexion und der Entzweyung ist: dagegen ist Philosophie nothwendig eine höhere und gleichsam ruhigere Vollendung des Geistes: denn sie ist immer in jenem Absoluten, ohne Gefahr, daß es ihr entflieht, weil sie sich selbst in ein Gebiet über der Reflexion geflüchtet hat.« Vgl. auch F.W.J. Schelling an J.G. Fichte am 3. 10. 1801: »Die Nothwendigkeit, vom Sehen auszugehen, bannt Sie mit Ihrer Philosophie in eine durch und durch bedingte Reihe, in der vom Absoluten nichts mehr anzutreffen ist. Das Bewußtseyn oder Gefühl, das sie selbst davon haben mußten, zwang Sie schon, in der ›Bestimmung des Menschen‹ das Speculative, weil Sie es nämlich in Ihrem Wissen wirklich nicht finden konnten, in die Sphäre des Glaubens überzutragen, von dem meines Erachtens in der Philosophie so wenig die Rede seyn kann, als in der Geometrie. Sie erklärten in derselben Schrift, fast mit so viel Worten: das eigentlich Ur-Reale, d. h. doch wohl das wahrhaft Speculative, sey im Wissen nirgends aufzuzeigen. Ist dieß nicht Beweises genug, daß Ihr Wissen nicht das absolute, sondern irgendwie noch bedingtes Wissen ist, welches die Philosophie, wenn es in ihr herrschend seyn müßte, zu einer Wissenschaft, wie jede andere herabsetzen würde.« (AA III/2,1, 374f.) 29 Vgl. etwa F.W.J. Schelling, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in: AA I/15, 91–144, hier: 94: »Die Wissenschaft ist die Erkenntniß der Gesetze des Ganzen, also des Allgemeinen. Religion aber ist Betrachtung des Besondern in seiner Gebundenheit an das All. Sie weiht den Naturforscher zum Priester der Natur durch die Andacht, womit er das Einzelne pflegt. Sie weist dem Trieb zum Allgemeinen die ihm durch Gott gesetzten Schranken an und vermittelt so als ein heiliges Band die Wissenschaft mit der Kunst, welche die Ineinsbildung des Allgemeinen und Besondern ist.«
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1802 beschäftigte sich Schelling mit der Idee der Religion im identitätsphilosophischen Zusammenhang, zunächst im Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt im Kritischen Journal der Philosophie.30 Dieser Aufsatz beschreibt den charakteristischen Zusammenhang von Naturphilosophie und Religionsphilosophie. Zwischen beiden wird ein enger Zusammenhang hinsichtlich der leitenden Denkform festgestellt.31 Hier hat seine Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte und dessen Kritik der Schelling’schen Naturphilosophie Spuren hinterlassen.32 Es wird festgestellt: In dem Maße, in dem philosophisch die Natur als ein Abstraktum außerhalb des Ich gesetzt und das Leben aus der Natur abgezogen wird, geschieht dies auch mit Gott bzw. dem Absoluten. Die Differenz von Ich und Absolutem, die in diesem Zeitalter gerade verschwinden soll, wird in das Unendliche verlängert. Im Hintergrund stehen Vorstellungen vom Absoluten, die, meist auf der Ebene von Moral- und Sittlichkeitstheorien, aus einer Vermischung religiöser und philosophischer Dimensionen resultieren. Neben der Diagnose, dass dies gerade der Ausarbeitung der Philosophie als wahrer Einheit des Zeitalters im Wege steht, wird aber auch die Möglichkeit der Philosophie besprochen, die Religion zu thematisieren. Wie Schelling im selben Jahr an anderer Stelle auch gegenüber Schleiermacher unterstreicht, ist es die ›objektive‹ wissenschaftliche Philosophie, die die Idee der Religion zu konstruieren vermag, jedenfalls nicht eine der Philosophie entzogene, an die unmittelbare religiöse Selbstdeutung angeschlossene oder diese explizierende Religionstheorie.33 Vielmehr hat die Philosophie die 30 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in: SW V, 106–124. 31 Vgl. a. a. O., 108–112. 32 Vgl. W. Schulz (Hrsg.), Fichte-Schelling. Briefwechsel, Frankfurt a.M. 1968, 103–145. 33 Nach Schleiermacher ist das Wesen der Religion »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl«. Die Philosophie – der Redner spricht in der einschlägigen zweiten Rede zumeist von der Metaphysik oder der Spekulation – habe zwar »denselben Gegenstand [wie die Religion] […], nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm«. Dennoch müsse sie »diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältniß der Menschen zu demselben ausdrüken oder bearbeiten, eine andere Verfahrensart oder ein anderes Ziel haben: denn nur dadurch kann dasjenige, was dem Stoff nach einem andern gleich ist, eine besondere Natur und ein eigenthümliches Dasein bekommen«. (F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: KGA I/2, hier: 50. 41. 42) Entsprechend wird die Religion von dem Redner und nicht vom Philosophen dargestellt. Schelling jedoch hält dagegen, dass auch die Darstellung von ›subjektiver‹ Religion in Wissenschaft und Kunst der Philosophie bedürfe: »Wenn sie [= diejenigen, die das Wesen der Religion neu verkündeten und ihre Unabhängigkeit von Moral und Philosophie behaupteten; P.L.] wollen, daß Religion nicht durch Philosophie erlangt werde, so müssen sie mit dem gleichen Grunde wollen, daß Religion nicht die Philosophie geben, oder an ihre Stelle treten könne. Was unabhängig von allem objectiven Vermögen erreicht werden kann, ist jene Harmonie mit sich selbst, die zur innern Schönheit wird; aber diese auch objectiv, es sey in Wissenschaft oder Kunst, darzustellen, ist eine von jener bloß subjectiven Genialität sehr verschiedene Aufgabe.« (Schelling, Methode des akademischen Studiums, 279)
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Idee der Religion wie jede andere Idee auch zu konstruieren, nämlich als eine reell-ideelle Form unbedingter Einheit. Die Philosophie thematisiert damit die Anforderungen an eine wissenschaftliche Darstellung der Religion. Ein Spezifikum dabei ist, dass die Philosophie die Religion als selbst geschichtliche Idee konstruiert.34 Die Geschichtlichkeit und damit die (Selbst-)Offenbarung werden als notwendig für die Idee der Religion angesetzt. Wie der Aufsatz von 1802 bereits zeigt, möchte Schelling die wissenschaftliche Religionsphilosophie engstens an die Naturphilosophie anbinden. Dies steht 1802 mit der Idee der Religion vor Augen, die als Einheit von Mythologie bzw. Heidentum und Christentum darzustellen ist.35 Das Vorhaben, Naturphilosophie – letztlich also genau das an der Natur als dem schlechthinnigen Symbol des bis dahin bereits dargelegten identitätsphilosophischen Modells von Wissenschaft – als Grundlage anzusetzen, wird man in der Abhandlung von 1815 ebenfalls durchgeführt sehen können. Um einen weiteren Eindruck von dem Umgang der Identitätsphilosophie mit dem Thema Geschichte zu erhalten und sich so dem Verhältnis von Philosophie und Historie in der Abhandlung von 1815 anzunähern, ist die Christologie seit 1802 einzubeziehen. Sie ist für die Frage einer wissenschaftlichen Darstellung der Idee der Religion äußerst aussagekräftig. Sie beschreibt mit ›Christus‹ den Übergang und so die Grenze von Alt und Neu, von Mythologie und Christentum.36 Christus wird dem Alten als Kulminations- und Abschlusspunkt der Welt der alten mythologischen Götter zugeordnet, so dass er zunächst von dort her zu verstehen ist. Zugleich ist er die Eröffnung der neueren Zeit.37 Die neuere Zeit wird durch Individualität, Handeln, Geschichtsbewusstsein und eine allegorische Darstellungs- und Reflexivitätsweise im Unterschied zur alten mythologischen Symbolik charakteri34 Vgl. Schelling, Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie, 117: »Wir bemerken […], daß es uns unmöglich ist, Religion, als solche, ohne historische Beziehung zu denken, und es wird darin nichts Befremdendes seyn, wenn man sich überhaupt gewöhnt hat, das Historische aus dem Gesichtspunkt höherer Begriffe anzusehen und sich von den Verhältnissen der empirischen Nothwendigkeit, welche das gemeine Wissen darinn erkennt, zu der unbedingten und ewigen Nothwendigkeit zu erheben, durch die alles, was überhaupt in der Geschichte, ebenso wie alles, was in dem Lauf der Natur wirklich wird, vorher bestimmt ist.« 35 Vgl. a. a. O., 120: »Es ist keine Religion ohne die eine oder die andre der beyden Anschauungen, ohne die unmittelbare Vergötterung des Endlichen, oder das Schauen Gottes im Endlichen. Dieser Gegensatz ist der einzig mögliche in der Religion, darum giebt es nur Heydenthum und Christenthum […]. Jenes sieht unmittelbar in dem Göttlichen und den geistigen Urbildern das Natürliche, und dieses sieht durch die Natur, als den unendlichen Leib Gottes, bis in das Innerste und den Geist Gottes. Für beyde ist die Natur Grund und Quell der Anschauung des Unendlichen.« 36 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Kunst, in: AA II/6, hier: AA II/6,1, 166; v. Vf., Rekonstruktionen und Überlegungen zur Theorie des Autors bei Schelling, in: Autor und Autorität. Historische, systematische und praktische Perspektiven, hrsg. v. U. Heil/A. Klein/A. Schellenberg, Göttingen 2019, 97–112. 37 Vgl. Schelling, Philosophie der Kunst, 166.
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siert.38 Es wird in einer philosophischen Konstruktion von Schelling die spezifische Qualität des Symbols bzw. performativen geschichtlichen Reflexivitätsmediums Christus dargestellt.39 Dies entspricht wiederum ganz der Bestimmung der Philosophie, ursprüngliche Reflexivitätsmedien – hier: das Reflexivitätsmedium der Religionsgeschichte – als absolute Einheit – hier: der Idee der Religion bzw. der Religionsgeschichte – in seinem selbstbezüglichen Aufbau kohärent zu beschreiben und darin wiederum das eigene wissenschaftliche Konstruktionsverfahren darzustellen. Christus wird als Medium bzw. Symbol des Übergangs zwischen Mythologie und Christentum aus der ›geschichtlichen‹ Perspektive seines Präsentwerdens in der Mythologie und seines Verschwindens in der neueren Zeit des Christentums, also gewissermaßen aus der Perspektive seiner Aneignungsformen in der Geschichte, festgehalten. Damit wird die charakteristische Bildungsstruktur der Religionsgeschichte, wenn sie wissenschaftlich konstruiert wird, angegeben. Im Anschluss an die Beobachtungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion sowie zur wissenschaftlichen Darstellung der geschichtlichen Idee der Religion ist auf die Frage einzugehen, wie sich die Identitätsphilosophie zur Geschichte im neueren Sinne einer Profanhistorie äußert. Die Geschichte wird in Schellings Methodologie bereits als eigene Wissenschaft angesehen. Deren spezifische Perspektive auf die Historie wird im Unterschied zum »Standpunct […] der Religion für die Geschichte« charakterisiert, nämlich als kunstmäßige Darstellung der »Identität der Freyheit und Nothwendigkeit […], wie sie vom Gesichtspunct der Wirklichkeit« erscheint, das heißt als »Schicksal«. (SW V, 311) Als eigener Standpunkt unterscheidet sich die Geschichtswissenschaft zwar von der Geschichtsbetrachtung der Philosophie und der Religion. Als eine spezifische Form von Darstellung spiegelt sie aber, wie die Kunst, das Verfahren der Philosophie, die Ideen darstellt, auch wenn dies hier in Form einer »Synthesis des Gegebenen und Wirklichen mit dem Idealen« (SW V, 309) geschieht. Diese wenigen Hinweise zeigen bereits, dass das Verfahren der Geschichtswissenschaft als eine wissenschaftliche Darstellungsform letztlich doch wieder ganz von Schellings darstellungstheoretischer Methodik von Philosophie aus betrieben wird. Mit der Geschichte wie Religionsgeschichte kommen im Vergleich zur Philosophie reellere und sinnlichere wissenschaftliche Darstellungsformen und Reflexivitätsmedien der immer selben absoluten Einheit in den Blick, die letztlich immer auf der Basis der (natur-)philosophischen Wissenschaftsmethodologie konstruiert werden. Für das Werk von 1815, zu dem nun überzugehen ist, gilt dann ebenso, dass die historische Darstellung des aus der Überlieferung Aus38 Vgl. a. a. O., 167–169. 39 Vgl. v. Vf., Überlegungen zum Diskurs über das Abendmahl um 1800, in: 100 Years of Evangelical Lutheran Theological Education in Slovakia, Münster 2020 (im Druck).
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gemittelten konstitutiv etwas Ideales erfordert. Inwiefern dieses Ideale 1815 Philosophie ist, ist nun vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen zu klären.
3.
Die Methodik der Abhandlung von 1815
Das Thema der Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrake ist das Verhältnis der Gottheiten der alten samothrakischen Mysterien zu bekannten mythologischen Göttern des öffentlichen Kultes: »In Dunkel gehüllt ist noch die Bedeutung der einzelnen Gottheiten. Zwar ihre griechischen Namen nennt mehr als Ein Schriftsteller. Wir wissen, daß Demeter, Dionysos, Hermes, auch Zeus als Kabiren verehrt wurden. Aber dieß sind für uns bloße Namen, die den Zweifel übrig lassen, ob die samothrakischen Götter jenen bekannten Gottheiten etwa nur ähnlich und vergleichbar, oder mit ihnen wirklich und dem Grundbegriff nach eins gewesen. Ebenso ungewiß ist, wodurch sich diese Götter als Gegenstände der Geheimlehre von denselben Göttern im öffentlichen Dienst und allgemeinen Glauben unterschieden. Und doch kann nur diese vereinte Kenntniß gründlichen Aufschluß geben über den Sinn der samothrakischen Lehre, über das eigentliche, ihr zu Grunde liegende System.« (SW VIII, 349)
Die Aufgabe besteht darin, die von Anfang an vorausgesetzte Parallelstruktur von Mysterien und Mythologie näher darzustellen, indem, wie die Abhandlung weiter zeigt, die Mysterienlehre für sich vor Augen gestellt wird, so dass die in dieser Hinsicht bereits als bekannt vorausgesetzte Mythologie damit verglichen werden kann.40 Die Aufgabe besteht zunächst darin, ein Verhältnis zu beschreiben. Die Aufgabe wird dann als gelöst angegeben, wenn deutlich geworden ist, dass in den samothrakischen Mysterien »dasselbe, was in dem öffentlichen Dienst, aber nur nach seinen verborgenen Beziehungen, dargestellt wurde«. (SW VIII, 362) Was also durch die Darstellungen sichtbar werden soll, ist eine Struktur, in der dasselbe auf zwei verschiedene Weisen ist. Darin wird man, wie auch in den anfänglich immer schon präsenten Parallelstrukturen eines Reellen und Ideellen,41 ein identitätsphilosophisches Motiv erkennen können. Hierzu lassen sich aber auf den ersten Blick noch weitere Beobachtungen zählen, darunter die vorausgesetzte kultur- und zeitübergreifenden Einheit aller Mythologie.42 Auch ent40 Vgl. SW VIII, 355. 357. 41 Vgl. bereits die Parallele Thrake und Samothrake, Pythagoras und Mysterien zu Beginn des Werks (a. a. O., 347). Der Kulturraum Griechenland ist durchgehend durch diese Parallelstruktur gekennzeichnet, auch durch entsprechende Übergangs- und Inkulturierungsszenarien. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Christoph Binkelmann in diesem Band. 42 Vgl. etwa die Einbeziehung der »Götterlehre der alten Deutschen« (a. a. O., 356). Vgl. daneben a. a. O., 362.
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spricht das Motiv einer Herstellung von Einheit durch die wissenschaftliche Darstellung von ›wahrer‹ Einheit ganz der früheren Anforderung an eine Realisierung absoluter Einheit durch Philosophie im gegenwärtigen Zeitalter. Ferner werden die Gottheiten aus sich selbst und das heißt wiederum: aus Gottheiten verstanden, etwa indem sie durch einander erklärt wie miteinander identifiziert werden, um ihre Bedeutung zu beschreiben.43 Außerdem werden die Gottheiten, genau wie die stellenbestimmten Ideen, systematisch positioniert; die Identitätsphilosophie ist eben gerade bemüht, keine abstrakten Ordnungssystematiken auf irgendwie schon bestehende Ordnungen aufzutragen, sondern möchte Ideen in ihrer Ordnung, an ihrer Stelle, ursprünglich aus sich selbst entstehen lassen. Nun ist es Schelling offenkundig darum zu tun, seine philosophische Konstruktion einer Götterordnung der Mysterien mit dem möglichst vollständig ausgemittelten Historischen von Grund auf zu synchronisieren, so dass sich Philosophisches und Historisches gar nicht isolieren oder gegeneinander ausspielen lassen.44 Viel hängt nun daran, wie die Idee der Götterordnung der samothrakischen Mysterien in Einheit mit dem historischen Befund aus sich selbst entwickelt wird. Die entscheidende Voraussetzung hierfür ist das identitätsphilosophische Modell von Ursprungsreflexion, wie es beschrieben wurde. Dieses sah es als Aufgabe der Wissenschaft an, den Ursprung zu thematisieren, indem systematisch Reflexivitätsmedien dargestellt werden, in denen wiederum die Anforderungen an eine kohärente Explikation von Ideen aufgenommen sind. In den identitätsphilosophischen Texten in der Würzburger und Münchener Zeit wird dann in den ebenso konstruierten Problemexpositionen und unter derselben Voraussetzung der unverbrüchlichen Einheit von Ursprung und Darstellung auf gerade dieses Verhältnis fokussiert. Die darstellungstheoretische Reflexion auf dieses Verhältnis, bei dem das Wesen von Darstellung in Ursprungsszenarien des Anfangs, der Schöpfung wie der Selbstoffenbarung thematisiert wird, wird mit den konstruierten Problemexpositionen mitgeliefert.45 Eine solche Form von Ursprungsreflexion ist es, die die Abhandlung von 1815 vergegenwärtigt. Dies auch als Gehalt der Ursprungsreflexion der samothrakischen Mysterien festgehalten. In ihrer eigenen Zeit freilich kann sie noch nicht in dieser eigentlichen wissenschaftlichen Weise vollzogen werden. Aus dieser Perspektive ist es die Aufgabe der Abhandlung von 1815, die Mysterienlehre philosophisch als eine Natur-Philosophie in einem Frühstadium aus sich selbst zu 43 Vgl. a. a. O., 355f. Gerade diese Identifikationen beinhaltete die Geheimlehre: »Diese Lehre, der freundliche Gott Dionysos sey der Hades, war unstreitig die beseligende Ueberzeugung, welche die Geheimlehren mittheilten.« (A. a. O., 356) 44 Vgl. hierzu auch die Nachschrift (a. a. O., 370) und daneben auch die »reinen Geschichtforscher« in: a. a. O., 416f. 45 Vgl. etwa F.W.J. Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, in: SW VII, 1–126, bes. 52–58.
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konstruieren.46 Damit nicht unreflektiert in diese ursprüngliche Form von Philosophie hineinprojiziert wird, müssen alle Voraussetzungen an eine wissenschaftliche Darstellung der Ursprungsreflexion in einem Frühstadium umfassend reflektiert und aufeinander abgestimmt sein, darunter nicht weniger als die Idee des Altertums, der Mythologie, Griechenlands, daneben auch der Religion, der Religionsgeschichte und nicht zuletzt des Menschen. Diese Dimensionen werden in der Abhandlung nicht eigens expliziert, aber in der Darstellung beansprucht. Bemerkenswert im Hinblick auf die ursprungsphilosophische Fassung der Mysterienlehre ist der Rückgriff auf »verschiedene Bruchstücke phönikischer Kosmogonien« (SW VIII, 354) bei der Erklärung des ersten Götternamens Axieros. Kosmogonien erscheinen hier als sinnliche Darstellungen der Anforderungen an eine ursprungsphilosophische Thematisierung des Anfangs. Es werden Kosmogonien als das geschichtliche Einheitsbewusstsein einer vergangenen Zeit angesehen und dieses wiederum als das spezifische Bildungsbewusstsein der Epoche genommen. Gerade dies ist auch in der Darstellung der Götterreihe der samothrakischen Mysterien der Fall, dass sie in ihrer eigenen Epoche als eine Darstellung der Anforderungen an eine ursprungsphilosophische Thematisierung des Anfangs verstanden werden. Dies ist nun im Rückgang auf die Feststellung zu sehen, dass die Mysterienlehre im Verhältnis zum öffentlichen Götterkult bzw. zur Mythologie in den Blick genommen wird. Mythologie ist ein Begriff, in dem sich ein historisches Bewusstsein ausdrückt. Die Mythologie ist immer schon vergangen. In ihrer eigenen Zeit ordnet sie sich nicht einem Begriff der Mythologie zu. Der nachfolgenden Zeit ist es vorbehalten, die Mythologie als Mythologie überhaupt zu wissen und diesen Begriff zu reflektieren. Wenn Schelling die Mysterien von der Mythologie unterscheidet wie zuordnet, dann handelt es sich bei den Mysterien nicht um ein gleichsam modernes Wissen um die Mythologie als Mythologie, wohl aber um ein solches an seine Zeit gebundenes Verständnis der Mythologie, an dem sich ein spezifisches Einheitswissen ausdrückt, das er als ein geschichtliches ›monotheistisches‹ Einheitsbewusstsein an der einheitsvergessenen ›polytheistischen‹ Mythologie 46 Vgl. SW VIII, 362: »Wenn sich schon in griechischer Götterlehre (von indischer und anderer morgenländischer nicht zu reden) Trümmer einer Erkenntniß, ja eines wissenschaftlichen Systems zeigten, das weit über den Umkreis hinausginge, den die älteste durch schriftliche Denkmäler bekannte Offenbarung gezogen hat? Wenn überhaupt diese nicht sowohl einen neuen Strom von Erkenntniß eröffnet hätte, als den durch eine frühere schon eröffneten nur in ein engeres, aber eben darum sicherer fortleitendes Beet eingeschlossen? Wenn sie, nach einmal eingetretener Verderbniß und unaufhaltsamer Entartung in Vielgötterei mit weisester Einschränkung von jenem Ursystem nur einen Theil, aber doch diejenigen Züge erhalten hätte, die wieder ins große und umfassende Ganze leiten können? Diesem jedoch sey, wie ihm wolle, so beweisen jene Vergleichungen wenigstens, daß der griechische Götterglaube auf höhere Quellen als auf ägyptische und indische Vorstellungen zurückzuführen ist.«
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beschreibt.47 Es geht dabei um ein spezifisches Verständnis von Göttern, in dem diese Symbole einer selbstbezüglichen Ursprungsreflexion auf den Ursprung als den Anfang sein können. Diese Reflexion vergegenwärtigt in diesem Geschichtsstadium Einheit. Bei der Götterfolge geht es darum, wie Götter zu diesen Reflexivitätsmedien absoluter Einheit werden. Der in die Mysterien Eingeweihte weiß Gottheiten als Reflexivitätsmedien zu gebrauchen. Dabei sind ihm die Gottheiten als Darstellungen der absoluten Einheit des Kosmos und seiner Ideen unmittelbar präsent.48 Die kultisch vergegenwärtigte Götterreihe der samothrakischen Geheimlehre ist die Form, in der sich das philosophisch-religiöse Einheitsbewusstsein dieser Zeit bzw. die ursprungsphilosophische Reflexion auf Anfang und Einheit vollzieht. Die beschriebene Form von Ursprungsreflexion, die Schelling ganz an ihre Epoche und ihren Kontext bindet, ist damit genau dasjenige, auf das die Untersuchung des Verhältnisses von Philosophie und Historie in der Abhandlung von 1815 führt. Das Historisch Ausgemittelte braucht ein Ideelles, die überlieferten Götternamen eine systematische Ordnung. Dies soll keine starre, ungeschichtliche Dimension wie etwa ein ungeschichtlicher abstrakter Monotheismus oder eine Emanationslehre sein. In dem Vorhaben, die Ursprungsreflexion einer Epoche aus sich selbst zu konstruieren, wird das frühe Anliegen einer Vergeschichtlichung der Notwendigkeit und des Ideellen unter einem Einheitsparadigma weiterverfolgt. Charakteristisch ist, dass dieses Ideelle nach Schelling beides ist: es ist sowohl geschichtlich als im Wesentlichen auch das eine, immer selbe »Ursystem der Menschheit«. (SW VIII, 370) Am Anfang stand die Beobachtung, dass Schelling eine Einheit von philosophischer und historischer Erkenntnis voraussetzt. Der Beitrag verfolgte besonders die Voraussetzungen der Abhandlung und fand in der vorangehenden Werkgeschichte Vorformen dieses Vorgehens. Die Einlagerung einer ambitionierten Methodologie von Philosophie und Wissenschaft in die Darstellung der frühen Geschichte Griechenlands, die in ihren Voraussetzungen und Anforderungen mit der historischen Darstellung präsent wird, ist für die Methodik der Abhandlung charakteristisch.
47 Vgl. a. a. O., 358–363. 48 Vgl. a. a. O., 360f. 368.
David Farrell Krell
Schelling archaeologicus. ἀρχή und τέλος in Schellings Samothrake-Vortrag
In seinem Aufsatz vom Jahre 1953 Die Sprache im Gedicht: Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht erklärt Martin Heidegger, Georg Trakl sei kein »entschiedener Christ«, ja er sei nicht einmal ein »verzweifelter Christ«.1 Warum? Deswegen, da in seinen zwei letzten Gedichten, Klage und Grodek, und d. h. in seiner äußersten Not auf dem Schlachtfeld von Grodek im Ersten Weltkrieg, Trakl weder Gott noch Christos sondern seine Schwester anfleht, vermutlich die jüngere Schwester Margarethe, genannt ›Gretl‹. 1984/5 liest Jacques Derrida in einem Seminar über ›Geschlecht‹ diesen Aufsatz von Heidegger. Er fragt die Seminarteilnehmer, ob Heidegger bei seinem Urteil Recht hat, besser, ob irgendein Mensch befähigt sei, so etwas zu entscheiden, nämlich, ob der Dichter ein ›entschiedener Christ‹ sei oder nicht. Erlauben Sie mir Derridas Erwiderung zu zitieren. Man könnte diese Erwiderung mit dem seltsamen und grammatisch höchst fraglichen Titel ›Christos … die Schwester‹ versehen. Derrida: »Wenn Sie mir ein bisschen Zeit gönnen würden, würde ich versuchen, nicht eine akademische Fragestellung der normalen Art zu entwickeln, sondern etwas sehr Ernsthaftes, etwa in Furcht und Zittern, zu unternehmen. Ich würde versuchen zu zeigen, dass man durchaus berechtigt wäre, die Figuren ›Schwester‹ und ›Christos‹ einander zu substituieren. Und gerade in dem corpus, wenn ich mich so ausdrücken darf, von Trakls Lyrik. Wie ist das Geschlecht von Christos zu bestimmen? Und wie ist dieses Geschlecht innerhalb des normal verstandenen Geschlechtsunterschiedes überhaupt zu beschreiben? Was für ein Verhältnis zum Christos hat ein Mann (vorausgesetzt Trakl sei ein Mann, entschieden ein Mann, ›one-sidedly a man‹, wie ein Kommentator über James Joyce einmal zu sagen wagte), oder aber eine Frau, wenn er oder sie eine eigentlich christliche, eine entschieden christliche Erfahrung hat? Gottessohn, Christos ist der Bruder von allen Männern und von allen Frauen. […] Aber ein Bruder dessen Männlichkeit [virilité, D.F.K.] nie manifest oder einseitig ist, ein Bruder, der sich in einer Aura von universeller Homosexualität präsentiert, oder in einem Geschlechtsunterschied, der beschwichtigt oder besänftigt ist (gerade Trakl würde sanft 1 M. Heidegger, Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 37–82, hier: 76.
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[tendre, D.F.K.] sagen), jenseits des Moments der Versuchung, in welcher das Böse in die Nähe kommen kann, also ein Bruder, der vielleicht nicht anders als eine Schwester ist. Und was diesen Sohn einer Jungfrau anlangt, einer Jungfrau, die selber erst nach einer Unbefleckten Empfängnis geboren ist, kann die Geschlechtsbestimmung nie so sicher sein, dass man ganz ruhig behaupten könnte: dort, wo der Dichter die Schwester anstatt des Christos ruft, meint er sicherlich nicht den Christos selber, mit dem Ergebnis, dass man behaupten dürfte, Trakl sei bestimmt kein Christ, und noch mehr, sein Gedicht ist nicht christlich.«2
Heidegger selber, bemerkt Derrida, visiert in seinem Trakl-Aufsatz einen zukünftigen Geschlechtsunterschied, der nicht mehr ›zwiespältig‹ oder gar ›zwieträchtig‹ sein müsste. Dürfte also das Verhältnis zwischen Mann und Frau oder zwischen Bruder und Schwester ein Verhältnis von einer verdoppelten Homosexualität sein, fragt Derrida, wobei die Begierde des anderen nicht für einen selber beansprucht werden kann? Darf man als Christ am Ende des Lebens nicht dem Christos sondern der Schwester zurufen? Zweimal beantwortet Derrida seine eigene Frage mit den Worten Oui, pourquoi pas? Warum nicht? Derrida erklärt weiter – und hiermit schließe ich mein langes Zitat ab: »Hier wäre der Bruder zu einer Schwester geworden, die Schwester zu einem Bruder, und so weiter. Wer darf so ruhig behaupten, dass dies nicht das Wesen des Verhältnisses zu Christos sei, das Wesen oder zumindest das Ziel [la destination, D.F.K.], die Richtung des Geschicks [la destinée, D.F.K.], die man sucht, wenn man unterwegs ist, das Wesen jeder christlichen Erfahrung von der heiligen Familie zu durchdenken, oder aber das Wesen einer Erfahrung von Familie überhaupt, Familie als solche, zu durchdenken?«3
Was hat ›Christos der (oder die) Schwester‹ mit Schelling oder mit Schellings Samothrake zu tun? Vermutlich nichts. Aber sollte die Schwester ein Mädchen sein, und sollte das Mädchen auch möglicherweise eine Frau werden oder eine Frau immer schon gewesen sein, dann – zumindest wenn man den SamothrakeVortrag und auch, wie wir am Ende meines Vortrags sehen werden, Schellings Philosophie der Mythologie gründlich liest – ist Derridas Erwiderung zu Heidegger mehr als relevant.4 Ursprünglich hatte ich vor, über den Kult der ›Großen Götter‹ auf Samothrake zu sprechen, d. h. über die archaeologischen Funde, die im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bis zum heutigen Tag ausgegraben 2 J. Derrida, Geschlecht III. Sexe, race, nation, humanité, Paris 2018, 114. 3 A. a. O., 114f. 4 Als Ausblick auf die meines Erachtens zentrale These in Schellings Philosophie der Mythologie darf ich vielleicht hinzufügen, dass ich das Wort χριστ- in Verbindung mit der antiken θεά βασιλέα gesehen habe, nämlich als Teil einer Inschrift aus dem ältesten und am besten erhaltenen Tempel auf Thera (Santorin, in der Nähe der Stadt Megalochori). Heute heißt der Tempel ›Agios Nikolaos Marmaritis‹, aber im 3. Jahrhundert vor Christus war er der gesalbten Göttin geweiht – nämlich der Göttin, die jede heilige Familie haben muss.
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worden sind – mit Rückblick selbstverständlich auf Schellings ›Gottheiten‹. Im Kontext dieses Workshops aber schien es mir sinnvoller Schellings erstaunlichen Text selber sich ins Zentrum rücken zu lassen, indem ich die folgenden Fragen stelle: Erweist sich Schelling durch seinen Vortrag als ein echter Archaiolog, bzw. Archäologe, d. h., als ein Denker, der immer nur an die ›hohe Vergangenheit‹ und d. h. an die arché denkt, an den Uranfang und Urquelle, oder ist und bleibt Schelling Teleologe, d. h. ein Denker, der hauptsächlich von dem Ergebnis eines historischen Prozesses – Hegels berühmtes ›Resultat‹ – ergriffen ist? Wenn überhaupt arché und telos zu einander in einem spannenden und gespannten Verhältnis stehen, und dies ist eine sehr alte und sehr problemreiche philosophische Frage für sich, tendiert Schelling mehr in Richtung Ende oder Anfang? Mit Hinblick auf Samothrake lautet die Frage vielleicht so: Ist diese Insel und ihre Kultstätte von geschichtlichem Interesse nur – oder hauptsächlich – weil sie zu einem bestimmten Ziel in der Geschichte der Philosophie und in der Entwicklung der monotheistischen Religionen führt, oder bleibt Schelling von irgendeinem ›Uranfang‹ schlicht und einfach befangen, sodass er sozusagen mit Schaufel und Bürste (wenn nur im Geiste) immer noch an der Ausgrabung tätig bleibt, ohne wissen oder bestimmen zu wollen, wohin dieses mühsame, immer tiefere Wühlen nach Unten im Staube der Vergangenheit, sei sie eine hohe oder eine tiefe Vergangenheit, führt? Inwieweit und bis zu welchem Punkt ist Schelling passionierter Archäologe? Nachdem man die heutige Kultstätte auf Samothrake mehrmals durchmarschiert hat, und nachdem man die sehr reiche und komplexe Geschichte der Ausgrabungen durchstudiert hat, bleiben vielleicht nur einige sehr starke Empfindungen in Erinnerung, die man kurz schildern kann: man erinnert sich hauptsächlich an die Nacht, da der Kult offenkundig ein nächtlicher war, wobei jeder Initiierte und jede Eingeweihte eine Olivenöllampe in der Hand hielt, eine Nacht vielleicht unter einem über dem Berggipfel von ›Fengari‹ strahlenden Vollmond – ›Fengari‹ bedeutet ja ›Mond‹ – und in der Nähe der zwei reißenden Ströme, die durch das Tal fließen. Aus der Ferne hört man noch dazu das dunkle Rauschen und Raunen des Meeres. (Die Nacht, wie wir wissen, steht im Zentrum von Schellings Vortrag.) Man erinnert sich auch an den steinigen, sehr unebenen Boden, auf dem man damals Barfuß stehen und gehen musste. Und auch im Hochsommer ist der Wind frisch gewesen, besonders wenn man, wie Odysseus, nur mit einer leichten purpurnen Schärpe bekleidet war, also fast nackt war. Vielleicht fühlte man sich in dieser langen Nacht sehr allein, sehr exponiert, bis durch gemeinsames Prozessieren, durch Gesang und Tanz unter Fackelbeleuchtung, durch Beichten, Theaterbesuch und das Zuhören von Erzählungen aus den uralten mythoi, durch gemeinsames Essen und Weintrunk, ein gewisses Gemeinde- oder Gruppengefühl sich bildete. Eben dieses Gemeinschaftsgefühl, wodurch man sich zu den consentes und socii berufen und von diesen aufge-
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nommen fühlte, faszinierte Schelling. Warum? Weil diese Gemeinschaftsgefühle die Ängste des Lebens und vor allem die Angst vor dem Tode linderten. Nicht, dass man in dieser Nacht zu hören bekam, die Ängste seien grundlos, der Tod sei nur eine Illusion oder eine bloß vorübergehende Unannehmlichkeit, sondern dass die Ängste irgendwie beruhigt und besänftigt wurden. Vielleicht war diese Linderung durch Zauber und Gesang, wie sie Sokrates im Phaidon beschrieben und gepriesen hat, der einzige Zweck von dem ganzen Kult? Warum aber noch einmal dieser Titel: ›Schelling archaeologicus‹? Meines Erachtens scheint es ein ständiges Hin und Her zwischen Anfang und Ende und von Unten bis Oben in diesem Vortrag Schellings zu geben, ein Hin und Her zwischen Tiefe und Höhe, zwischen dem Untersten und dem Obersten, zwischen Axieros-Demeter und dem Demiurg, und d. h. zwischen arché und telos. Archaisch und archaisierend fängt der Vortrag schon an, indem Schelling über die geologische Geburt von der Insel Samothrake aus ›unterirdischem Feuer‹ nachsinnt. »Dort ward in unbestimmbarer Vorzeit ein geheimnisvoller Götterdienst gestiftet«, stellt Schelling fest, und zwar der »älteste des ganzen Griechenlandes«. (SW VIII, 347) Dieser Anfang auf Samothrake hatte schon ohne Zweifel mit einer Zukunft zu tun, nämlich, mit »dem Glauben an ein zukünftiges Leben«. (SW VIII, 348) Schelling qualifiziert dieses telos aber sofort: »Besser und für das Leben wie für den Tod fröhlicher wurden nach allgemeiner Ueberzeugung die dort Eingeweihten.« (Ebd.) Nun geht Schelling auf die Suche nach den Namen der Götter dieses »ältesten Glaubens«, Namen, die, obwohl sie »in Dunkel gehüllt« sind, uns doch überliefert sind. »Demeter« ist der erste Name, der fällt, »Demeter« als »Axieros«. »Persephone« oder »Axiokersa« ist dann der zweite Name. (SW VIII, 349) Bald aber postuliert Schelling seine kontroverse These, dass diese Namen von den »Phönikiern« stammen, dass also ihre »Sprachwurzeln« althebräisch sind. Dadurch wird es klar, dass Axieros nicht »der [eigentlich: die, D.F.K.] Allmächtige« bedeutet, sondern eher »der Hunger, die Armuth, und in weiterer Folge das Schmachten, die Sucht«. (SW VIII, 350f.) Die 32. Anmerkung erläutert diese »Sucht« als »Sehnsucht«, ein Wort, das wichtig sowohl für den Freiheitaufsatz von 1809 als für Die Weltalter (1811 bis 1815) ist, und »Sehnsucht« weiter als paupertas, egestas. (SW VIII, 377) Aber die vorangehende Anmerkung, Nummer 31, informiert uns über die merkwürdige aber irgendwie doch relevante und bemerkenswerte Tatsache, dass ein mächtiger Perserkönig den Namen von einer Göttin tragen durfte. Schelling schreibt: »Aber wie? von einer weiblichen Gottheit ein männlicher Königsname! Warum nicht? Zunächst wegen der Geschlechts-Zweideutigkeit aller Gottheiten, vermöge der weibliche Gottheiten wohl auch männlich gedacht wurden. Man erinnere sich an den cyprischen Ἀφρόδιτος, […] den altitalischen Almus Venus, […] den Münzkennern nicht fremden Deus Lunus, und, was hieher vielleicht die nächste Beziehung hat, den Cerus
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manus der saliarischen Gedichte, der als männlicher Stellvertreter der weiblichen Ceres nicht zu verkennen ist.« (SW VIII, 378)
Nicht hermaphroditisch sind die archaischen Gottheiten, wohl aber geschlechtlich verdoppelt, Gott und Göttin als ebenbürtiges Paar – wenn nicht der Hinweis auf Geburt einen gewissen Vorzug des Weiblichen bedeutet. Das »erste alles anhebende Wesen« trägt genau in seiner Einsamkeit den Namen Πενία, die Mutter des Eros, d. h., laut einer »uralten Lehre«, die Mutter als »die das [Welt, D.F.K.] Ei gebärende Nacht«. (SW VIII, 352) Alsbald aber kommt ein Vorbehalt, der denn auch später wiederholt wird: die Nacht ist wohl »das Aelteste«, »obwohl es Entstellung ist, wenn man dieß erste Wesen zugleich als das oberste betrachtet«. (Ebd.) Die Wiederholung von diesem Vorbehalt wurde, einige Zeilen weiter im Text, vermutlich von Schelling selber erst später eingefügt, genau wann wissen wir nicht (sie erscheint in Karl Schellings Edition in eckigen Klammern), aber geschrieben auf jeden Fall steht, »Das Erste ist zugleich das Unterste«. (SW VIII, 353) Später noch wird von einer ›aufsteigenden Reihe‹ mehrmals gesprochen, sodass die Stellung oder Status von Axieros-Demeter-Penia – auch Hestia-Ceres-Proserpina genannt – eine sehr niedrige zu sein scheint, sogar die unterste Stelle, allerdings die Unterste als Basis und Grund. Ich zitiere: »Aber wie schon die Weiblichkeit dieses vielnamigen Wesens, wie dunkler oder deutlicher alle Namen der ersten Natur auf die Begriffe der Sehnsucht und des schmachtenden Verlangens hindeuten; so zumal gehet das Wesen der Ceres, für welche der alte Geschichtschreiber die erste samothrakische Gottheit erklärt, ganz auf in [Sehn-, D.F.K.]Sucht. Ich bin Deo, antwortet sie, zuerst sich kundgebend, den Töchtern des Celeus [Anm. 35, D.F.K.], d. h. die Sehnsuchtkranke, die Schmachtende. […] Wie Isis im Suchen des verlorenen Gottes, wird Ceres im Suchen der verlorenen Tochter ganz die Suchende. Doch liegt der erste Grund des Begriffes tiefer. [Das Erste ist zugleich das Unterste., D.F.K.] Alles Unterste [aber, D.F.K.], unter dem nichts mehr ist, kann nur Sucht seyn, Wesen, das nicht sowohl ist, als nur trachtet zu sein.« (Ebd.)
Schelling nimmt Bezug auf drei Aspekte von Demeter, die hier in Erscheinung treten. Erstens ist die Erdmutter die wütende, brennende Sucht (hier verstanden als die Suche nach ihrer vergewaltigten und gefangengehaltenen Tochter), vielleicht das älteste Bild von dem, was später als ›der Zorn Gottes‹ bezeichnet wird. ›Ceres-Erinnys‹ nennt Schelling diese wütende Göttin, mit Hinblick sowohl auf die κῆρες, d. h. die quälenden Geister, als auf die Ἐριννύς, die Rachegöttinnen. Gleichzeitig, zweitens, die Not der Demeter wird auch mit einer ganz anderen verglichen, nämlich mit der schmachtenden Einsamkeit der Isis für Osiris, oder, denken wir an die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, mit der wilden Liebe Demeters für Iasion. Demeter ist also gleichzeitig die Wut einer zutiefst verletzten Mutter und die Wildheit einer liebesbedürftigen Göttin. Wir entsinnen uns, dass das griechische Wort ὀργή beides zugleich nennt, nämlich Wut und leiden-
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schaftliche Liebe. Drittens, Demeter ist Göttin von den ›Demetrischen‹, d. h. von den Gestorbenen oder, wie Trakl sagen würde, den Abgeschiedenen. Sie ist Dis, Amenthes und (Hölderlins!) Manes. Archaisch und arcane (d. h. obskur, dunkel) ist diese Figur von der schmachtenden Sehnsucht oder, wie Schelling in seinem Handexemplar korrigiert, von dem »sehnsüchtige[n] Schmachten«. (SW VIII, 354) So ein Schmachten ist »die erste Zahl«, (ebd.) hungrig auf alle weiteren Zahlen. In der Kunst ist sie durch die Gruppe Venus (Begierde), Phaëton (Sehnsucht) und Pothos (Trauer) dargestellt. Als Axiokersa und Axiokersos, nämlich als eine von den berüchtigten κῆρες, ist sie Persephone, wenn nicht Hekate, d. h. die Zauberin, »als erster Anfang zum künftigen leiblichen Daseyn, als die, welche dieß Kleid der Sterblichkeit webt und das Blendwerk der Sinne hervorbringt, überhaupt als erstes Glied der vom Tiefsten bis ins Höchste gehenden, Anfang und Ende verbindenden Kette«. (SW VIII, 355) Mit dieser ›Kette‹ kommt mein Thema – nämlich das ›Zwischen‹ von Anfang und Ende, arché und telos, dem Untersten und dem Obersten – in eine neue Dimension. Wenn Schelling behauptet, die Reihe der Kabiren sei eine ›aufsteigende‹, wobei Kasmilos (oder Kadmilos, Camillus) der ›höchste‹ unter den vieren sein sollte, indem er, der Kasmilos, zwischen den Kabiren und dem ›obersten‹ Gott, dem Demiurg, vermittelt – ja Schelling leiht Kasmilos das Epitheton »Engel des Angesichts« (SW VIII, 358) – ist es ein vielleicht unbeabsichtigtes Resultat, dass Axieros-Demeter eine verminderte oder abgestufte Rolle im Samothrakischen System erhält. »Axieros ist zwar das erste, aber nicht das oberste Wesen, Kadmilos unter den vieren das letzte, aber das höchste.« (Ebd.) Die ganze Reihe der Kabiren ist jedoch nicht als eine Emanation des höchsten Gottes zu verstehen, sondern diese Reihe ist »vielmehr Steigerungen einer untersten, zu Grunde liegenden Kraft […], die sich endlich alle in Eine höchste Persönlichkeit verklären«. (SW VIII, 359) Sind wir aber nicht mit dieser »Eine[n] höchste[n] Persönlichkeit« bei dem endgültigen Telos von Schellings Vortrag angelangt? Ist nicht durch den jetzt erwähnten Demiourgos und obersten Gott ein Monotheismus endlich entschieden erreicht? So sieht es aus. Aber Schellings Satz ist noch nicht zu Ende, er führt weiter: »alsdann nämlich sind sie wie Glieder einer vom Tiefsten ins Höchste aufsteigenden Kette, oder wie Sprossen einer Leiter, deren tiefere nicht übergehen darf, wer die höheren erklimmen will«. (Ebd.) Immerhin wird von Kasmilos behauptet, er sei »nicht den drei andern untergeordnet, steht vielmehr über ihnen«. (Ebd.) Somit scheint die Kette bzw. die Leiter ein Bild der Hierarchie zu sein. Schelling erläutert: »Die aufsteigende Reihe verhält sich daher jetzt so: Das Tiefste Ceres [d. h. Axieros oder Demeter, D.F.K.], deren Wesen Hunger und Sucht, und die der erste entfernteste Anfang alles wirklichen, offenbaren Seyns ist. Die nächste Proserpina [d. h. Axiokersa oder Kore/Persephone, D.F.K.], Wesen oder Grundanfang der ganzen sichtbaren Natur; dann Dionysos, Herr der Geisterwelt. Ueber Natur und Geisterwelt das die beiden
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sowohl unter sich als mit dem Ueberweltlichen vermittelnde, Kadmilos oder Hermes. Ueber diesen allen der gegen die Welt freie Gott, der Demiurg. Also ein von untergeordneten Persönlichkeiten oder Naturgottheiten zu einer höchsten sie alle beherrschenden Persönlichkeit, zu einem überweltlichen Gott, aufsteigendes System war die kabirische Lehre.« (SW VIII, 361)
Man könnte meinen, Schelling sei jetzt bereit, die These vieler seiner Vorgänger anzunehmen, die These nämlich, dass das ganze Heidentum ohne Hindernisse in die alt- und neutestamentliche Offenbarung einfließt. »Wie aber«, erwidert Schelling ganz unerwartet jetzt, »wenn diese Annahme selbst nur willkürlich wäre?« (SW VIII, 362) Und er spekuliert weiter wie folgt: »Wenn sich schon in griechischer Götterlehre (von indischer und anderer morgenländischen nicht zu reden) Trümmer einer Erkenntniß, ja eines wissenschaftlichen Systems zeigten, das weit über den Umkreis hinausginge, den die älteste durch schriftliche Denkmäler bekannte Offenbarung gezogen hat? Wenn überhaupt diese nicht sowohl einen neuen Strom von Erkenntniß eröffnet hätte, als den durch eine frühere schon eröffneten nur in ein engeres, aber eben darum sicherer fortleitendes Beet eingeschlossen?« (Ebd.)
Sehr schwer zu entziffern ist die Bedeutung dieses letzten Satzes: »Wenn überhaupt diese [d. h., die bekannte Offenbarung, D.F.K.] nicht sowohl einen neuen Strom von Erkenntniß eröffnet hätte, als den durch eine frühere schon eröffneten nur in ein engeres, aber eben darum sicherer fortleitendes Beet eingeschlossen?« (Ebd.) Wie auch immer dieser Satz zu verstehen ist, vertieft sich Schelling nun mit erneuter Energie in die seltsamsten Details seines Vortrags: die kabirische Reihe als ein Schar von Hephaisten, d. h. als Zwerge oder gar Pygmäen, aber der Zwerg selber als der altdeutsche Tuwerg, d. h. Theurgos, oder »gottbildend«. (SW VIII, 364f.) Klein sind sie, aber gigantisch in ihrer Kraft, eine Kraft, die »nur in ihrer unauflöslichen Folge und Verkettung« geübt wird. (SW VIII, 366) Die Götter, die »durch sie zur Offenbarung gebracht« werden, sind »mit ihnen wieder in einer magischen Verknüpfung«. (Ebd.) »Die ganze Kabiren-Reihe bildet also eine das Tiefste mit dem Höchsten verbindende Zauberkette«. (Ebd.) Davon haben wir schon gehört, aber jetzt, als Schelling zur Peroratio seines Vortrags kommt, wird nicht so sehr unten und oben, nicht so sehr die aufsteigende Reihe einer Hierarchie, sondern die Zusammengehörigkeit oder gar das Gemeinschaftliche der Kabiren betont. Consentes und complices sind sie, diese socii, »sechs männliche und sechs weibliche Wesen«, da die »Geschlechts-Doppelheit aller alten Gottheiten« wieder konstatiert werden muss. (SW VIII, 367) »Verschiedene Götter, waren sie doch zusammen wie Einer«, notiert Schelling, »weil sie nur miteinander leben und miteinander sterben können«. (Ebd.) Diese Verbundenheit durch gemeinsames Leben und Sterben ist das tiefste Geheimnis der Geheimlehre, meint Schelling. Genau an dieser Stelle erwähnt er Sokrates’ ›Zaubergesänge‹ aus
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dem Phaidon (Stephanus Nr. 77), d. h. Gesänge, die keine Unsterblichkeit versprechen, sondern nur eine Linderung der Todesangst des Sterblichen, »bis es [das Kind, D.F.K.] von der Todesfurcht frei sey«. (SW VIII, 368) Eine solche Freiheit ist vermutlich nicht als eine Befreiung von Tod und Trauer zu verstehen. Roberto Calasso schreibt: »Wer mit den Mysterien nichts zu schaffen hat, für den sieht es so aus, als hätten die Mysterien etwas mit der Unsterblichkeit der Menschen zu tun; wer aber in die Mysterien eingeführt worden ist, für den sind die Mysterien jene Gelegenheit, bei der die Götter etwas mit dem Tod zu tun haben. […] Unsterblich sind nicht die Menschen, die die Mysterien durchschreiten, sondern die Mysterien selbst.«5
Eine Coda, wenn Sie mir dies gestatten, über Schellings 27 Jahre später gehaltene Vorlesung über die Philosophie der Mythologie. Nur in der 26. von den 29 Vorlesungsstunden kommt Schelling auf Samothrake zurück, nicht weil der Kabirenkult ihm in der Zwischenzeit unwichtig geworden ist, sondern weil die Mythologie (als Titel) und die Mythologie (als geschichtliches Ereignis) genau in den Samothrake-Vortrag und d. h. in den Mysterien einmündet. Der Kontext? Hesiods χάος γένεται und der Janus-Kopf, d. h., die ursprüngliche Zweiheit von männlichen und weiblichen Göttern. Die göttliche »Zwiefalt« sozusagen ist die Urinstanz der Gottheit, ist Quelle und Einheit »der ganzen Götterwelt«. (SW XII, 604) Diese Zwiefalt ist »die Einheit der den Proceß verursachenden, also der formellen [und d. h. formativen, im Gegensatz zu den bloß ›materiellen‹, D.F.K.] Götter«; die Zweiheit ist »Deorum Deus und principium Deorum« als Einheit der Urpotenzen. (SW XII, 605) In diesem Kontext rücken die Kabiren wieder in den Fokus, die Kabiren als Dii consentes et complices, con-sentes nicht nur als gemeinsam zusagend, als concilium, sondern eher, da sentes vom sen stammt, d. h. vom Seyn als Wesen, also die con-sentes als zusammen lebend, zusammen wohnend, zusammen an- und abwesend, »weil sie nur zusammen entstehen und nur zusammen sterben können«. (Ebd.) Janus ist »der Gott dieser Götter, wie sie selbst wieder Deorum Dii, in Bezug nämlich auf die erst aus ihnen hervorgehenden materiellen Götter […] woraus sich denn die folgende aufsteigende Reihe ergäbe«. (Ebd.) Der heutige Leser, wie damals Schellings Zuhörer, mag sehr leicht in Verwirrung kommen über eine aufsteigende Reihe, die nur aufsteigt, indem sie immer wieder nach unten zur ursprünglichen Zwiefalt zurückkehren muss, als ob von unten – von der Basis – magnetisiert, Verwirrung darüber, wie Janus (als prima) zu Jupiter (als summa) stehen soll. Auf oder ab? Sollen wir teleologisch oder archaeologisch denken? Müssen wir, können wir in diesem Fall überhaupt wählen? 5 R. Calasso, Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Frankfurt a.M. 1990, 340.
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Soweit ich sehen kann, gibt es nur Eine Antwort, nur Eine mögliche Lösung dieses archaeologisch-teleologischen Rätsels, eine Lösung, die vom Anfang bis zum Ende von Schellings Philosophie der Mythologie durchlaufen und konsequent dargestellt wird: bei jeder einzelnen Zivilisation und in jedem einzelnen Falle der Mythologie und der Mysterien, unterrichtet uns Schelling, wird die höhere Potenz der Gottheit allein durch das Weiblichwerden des Gottes erreicht. In jedem einzelnen Falle, vom Indus bis zum Kephissos, durch Arabien und Persien hindurch bis nach Delphi und Athen wird es das Seynkönnende, als das Außer-sich-seyn, nämlich als das eins-zu-zwei Gewordene, also als die δυάς, die zur Herrschaft kommt.6 Aber der Herr dieser Herrschaft ist nicht nur grammatisch ein ganz anderer: die zum Aufstieg führende Potenz wird ausschließlich als das Weiblichwerden festgestellt, in Babylon durch Mylitta und ihre Tempelpriesterinnen, die den starren Zabismus auflockern und so überwinden,7 in Persien durch Mitra, die zur Herrschaft über Mithras und Zoroaster zugleich gelangt,8 durch Zeruane Akherene, die über Ormuzd und Ahriman zusammen waltet,9 und in Griechenland, wo Nemesis, Ἀπάτη und Maja als Fortuna primigenia seit eh und je die Herrschaft gehabt haben,10 gehört die Zukunft dem zweideutigen Gott Dionysos – aber Dionysos nur als der ständig kommende Gott, und d. h. als der immer und ewig im Bauch von Urania bleibende Gott.11 So herrscht Urania über die Titanen und die Olympier Griechenlands insgesamt. Wie steht es aber mit dem Alten Testament? Auch hier, laut Schelling, stellt Melakaeth Haschamaim die höhere Potenz des Herrn Zabaoth dar.12 Und im Neuen Testament? Schelling zaudert nicht. Er zitiert Klemens von Alexandria: die höhere Potenz des Gottes, die weitere, nach oben führende Sprosse in der Leiter der Gottheit ist, wie Schelling schreibt, θηλύνεσθαι τῷ θεῷ, »das Weiblichwerden, bzw. das weibliche Betragen in Gott«, bei Klemens wortwörtlich: καὶ δι᾽ ἀγάπην ἡμῖν ἐθελύνθη, »liebend wurde der Vater weiblich«. (SW XII, 195) Wie passiert so etwas wie dieses Weiblichwerden? Dionysius Petavius gab die erstaunliche Antwort, dass, obwohl der Vater Gott wesentlich immateriell ist, musste Er sich eine Gebärmutter anschaffen, damit er, wie die Schrift sagt, »den eingeborenen Sohn« gebären konnte.13 Ich lasse beiseite die gewichtige Frage, ob mit dieser ›höheren Potenz‹ des Weiblichwerdens die volle Sterblichkeit der socii 6 7 8 9 10 11 12 13
Vgl. SW XII, 141. Vgl. a. a. O., 258–260. Vgl. a. a. O., 214–218. Vgl. a. a. O., 220–223. Vgl. a. a. O., 143–149. Vgl. a. a. O., 253–256. 275–279. 294. 306. 603. Vgl. a. a. O., 189–193. Dionysios Petavius, de trinitate, L. 5, c. 7, §4, zitiert nach O. Rank, Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Giessen 2007, 118 Anm.
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erreicht wird – d. h. ob die eigenste, unbezügliche, unüberholbare und gewisse Möglichkeit des Seins-zum-Ende bei den con-sen-tes als Mit-einander-lebenden und Mit-einander-sterbenden gedacht werden kann. Ich bleibe bei dem Thema des Gebärens. Genau dasselbe Anschaffen einer Gebärmutter, wie wir uns erinnern, ist dem Zeus passiert, als er den Sohn Dionysos nach dem Tode Semeles retten musste, den Gottessohn Dionysos, wie Nonnos uns erklärt, »der von der Gebärmutter der Mutter zu einer Gebärmutter eines Vaters übergegangen ist«.14 (Man übersetzt Gebärmutter meistens mit Oberschenkel, aber dies ist offenkundig ein durchschaubarer Euphemismus.) Und wenn der Vatergott einen Mutterleib entwickeln oder einwickeln musste, um überhaupt ein Kind gebären zu können, um dadurch für sich eine höhere Potenz der Gottheit zu gewinnen, durfte er oder sie nicht genausogut eine Tochter anstatt eines Sohnes entbinden? Χριστή, die Gesalbte, die Schwester? Warum nicht? würde Schelling vielleicht wieder – wenn auch in Furcht und Zittern – antworten. Andere, glaube ich, würden sofort zustimmen: Oui, pourquoi pas?
14 Nonnos von Panopolis, Dionysiaká, Bremen 1955, Gesang 9.
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›Wahre Namen‹ oder ›Wurzelphantasmagorien‹? Schellings Philosophie der Götternamen
Zu Beginn seiner Untersuchung Ueber die Gottheiten von Samothrake reflektiert Schelling seine Methode: »Wir betreten also jenen gefährlichen Weg der Sprachforschung, der sich mit Untersuchung der Herkunft und Abstammung von Namen oder Wörtern abgibt, nicht unwissend, was von dessen Schwierigkeit und Undankbarkeit vorsichtige Kenner zu äußern pflegen, nicht unkundig des von minder Bedächtlichen im Allgemeinen darüber ausgesprochenen Verdammungsurtheils.«1
Schelling schlägt also einen Weg ein, auf dem von jeder seiner Seiten Gefahr droht. Die kundigen Philologen und Altertumswissenschaftler auf der einen Seite halten von diesem methodischen Vorgehen Abstand, weil Aufwand und Resultat unverhältnismäßig sind, die gewonnenen Resultate also zu wenig valabel sind, als dass die geforderte Forschungsintensität gerechtfertigt werden könnte. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die sich mit diesen Sprachforschungen nicht aufhalten wollen, die ›minder Bedächtlichen‹, die diese Mühsal nicht auf sich nehmen wollen oder können und auch nicht behutsam abwägen, sondern philologische Überlegungen verwerfen und geradezu verurteilen. Der ›gefährliche Weg‹ ist also ein schmaler Grat, von dem Schelling befürchten darf, allseitig heruntergestoßen zu werden. Es wird Schelling nicht erfreut haben, wie recht er behalten sollte. Wenn Schelling in seiner Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie über seine Überlegungen von 1815 schreibt, dass »deren philosophischer Gehalt und Belang in Deutschland so wenig oder vielmehr gar nicht verstanden worden«,2 dann ist das fast eine Untertreibung für die umfassende und scharfe Kritik, die ihn nach Veröffentlichung der Schrift erwartete. Kon1 F.W.J. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake. Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der bayerschen Akademie der Wissenschaften am Namenstage des Königs den 12. October 1815, in: SW VIII, 347–422, hier: 351. 2 F.W.J. Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: SW XI, 1–252, hier: 196 Anm. 1.
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densiert findet sich diese Kritik in den Rezensionen zu Schellings Werk, in denen man etwa lesen kann, Schelling verfahre »einseitig«3 und sei »nicht kritisch«,4 seine Etymologien seien »willkürlich«5, er verfalle der »Deuteley« und schließlich gar in »Wurzelphantasmagorieen«.6 Selbst die wohlwollenderen Rezensionen schreiben, »es scheint die vom Verf. gegebene Darstellung der Samothracischen Lehre künstlicher zu seyn, als man sie im hohen Alterthum erwarten darf«.7 Im zweiten von drei Teilen werde ich diese Rezensionen exemplarisch an einer bisher nicht aufgearbeiteten Rezension von Schellings Erzfeind Heinrich Eberhard Gottlob Paulus aufgreifen, um die im ersten Teil (1.) vorgestellten Namensdeutungen und die mit ihnen verbundene Methode einzuordnen. Der zweite Teil (2.) wird dabei neben der zeitgenössischen Kritik auch anzeigen, wie Schellings Thesen in den heutigen Altertumswissenschaften aufgenommen werden. In einem dritten Teil (3.) werde ich das eigentlich Philosophische von Schelling Deutung der Kabiren herausstellen, das mit seinem philologischen Vorgehen korrespondiert. Insofern ist Schellings Schrift von 1815 nicht allein Beilage zu den Weltaltern. Vielmehr zielt sie – insbesondere mit dem, was ich das Barbarische nenne – in den Kern von Schellings systematischer Philosophie, die sie herausfordert und entscheidend transformiert.
1. Den als ›gefährlich‹ skizzierten Weg seiner Rede schreitet Schelling dann aber doch recht zuversichtlich voran, denn er weiß »jede Forschung ist löblich an sich, den Unterschied macht nur die Art und das Verfahren«. (SW VIII, 351) Eine »neue Wuth von Sprachableitungen alles aus allem zu machen« sei Schelling nach eigenem Bekunden dabei ebenso wenig eigen wie die »wahnwitzige Art auch in der alten Götterfabel alles mit allem zu vermischen« (ebd.). Offenbar von seiner Methode überzeugt, erspart Schelling seinen Zuhörern darüber zu reflektieren, was seine Art und sein Verfahren sind. Nachdem er nur versichert »kunstmäßig« (ebd.) – und nicht etwa, wie es später ja heißen sollte ›künstlich‹ – zu verfahren, führt er in einer Anmerkung sein Verständnis von Methode näher aus. 3 [G.A.F. Ast] (Rez.), Ueber die Gottheiten von Samothrace […] von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, in: Wiener Allgemeine Literaturzeitung 99 (12. 12. 1815), Sp. 1567–1573, hier: 1572. 4 [E.P.A. Mahn] (Rez.), Über die Gottheiten von Samothrace […], in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 113f. (Juni 1816), Sp. 429–438, hier: 430. 5 A. a. O., Sp. 431. 6 [F. Köppen] (Rez.), Ueber die Gottheiten von Samothrace […], in: Allgemeine Literatur-Zeitung 29 (Februar 1816), Sp. 225–232, hier: 230. 7 [T.C. Tychsen] (Rez.), Ueber die Gottheiten von Samothrace […], in: Göttingische gelehrte Anzeigen 30 (22. 2. 1817), 289–296, hier: 295.
›Wahre Namen‹ oder ›Wurzelphantasmagorien‹?
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Schelling weist zwei Grundpfeiler aus, die seine Methode kennzeichnen, um eingedenk des unendlichen Potenzials etymologischer Ableitungen nicht »nur rathen und aufs gerathewohl versuchen« (SW VIII, 376) zu müssen und dabei »irgend eine Bedeutung jedes Namens herauszubringen«. (SW VIII, 375) Die eine Verfahrensweise besteht darin, im Rückgang auf den ›Grundbegriff‹ die »Wurzel aller […] Eigenschaften« einer Gottheit in Erfahrung zu bringen; die andere Verfahrensweise zeichnet sich ergänzend dadurch aus, der Gottheit die »Stelle […] im allgemeinen Göttersystem«(SW VIII, 376) zuzuweisen. In einem Dreischritt führt Schelling auf das hin, was ein ›Grundbegriff‹ sein soll, auf den seine Untersuchung abzielt: a) In oberflächlicher Weise erschließen Wörterbücher die Namen. Die tatsächliche Aneignung des Wortursprungs sei damit aber nur oberflächlich erarbeitet. b) Tiefer gehe eine Kenntnis, die aus den »Quellen und von den ersten Wurzeln her« (ebd.) den Grundbegriff zu erschließen sucht. Man müsse sich also mit Originalquellen beschäftigen und unter diesen, so kann man den erneuten Hinweis auf die ›Wurzel‹ lesen, auf die ältesten überlieferten Quellen zurückgreifen und den sprachlichen Ursprung erarbeiten. c) Allerdings genügen diese beiden Formen der Auseinandersetzung, die der ersten Verfahrensweise entsprechen, allein noch nicht. Im Verfolg einer Etymologie müsse die proprietas verborum, die eigentümliche Bedeutung eines Wortes, berücksichtigt werden. Schelling kommt hier auf das zurück, was wir soeben als seine zweite Verfahrensweise kennzeichneten, nämlich die Berücksichtigung des Beziehungsgeflechts, in das das Wort eingebunden ist, vornehmlich innerhalb des spezifischen Sprachhorizonts der Quelle. Dabei begreift Schelling das Analogieverfahren und genauer die »Analogie der Eigennamen« (ebd.) als legitimes Werkzeug, um Götter zu erklären, sprich: die Eigennamen, ihre grammatikalischen Formen und deren Semantik lassen sich auch auf das Verständnis von den Göttern selbst übertragen. Die Erarbeitung des Grundbegriffs basiert auf diesen drei Stufen, die jeweils komplexer werden. Bei diesem hohen Selbstanspruch mag es nicht überraschen, wenn Schellings Reflexionen über die Götternamen sehr ausführlich und umfassend sind, was sich nicht zuletzt in dem umfänglichen Anmerkungsapparat niederschlägt. Ausgehend von wenigstens einem als authentisch und ursprünglich angesehenen Fragment sollte sich, so Schellings Vorannahme, die eigentliche Bedeutung und Wurzel des jeweiligen Götternamens erschließen, wenn alle möglichen Data und Erklärungsmuster des Kontextes berücksichtigt werden. Das von Schelling intendierte Dependenzverhältnis will es, dass diese Namen dann auch erschließen, was das Ganze dieser Götter zu bedeuten hat. Am Ende seiner Untersuchung kann Schelling dann sagen, dass die von ihm »erforschte
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Bedeutung des Namens urkundlich für den inneren Sinn des Kabirensystems« (SW VIII, 376) wird, wobei dieser Sinn für Schelling eben, dies sei hier nochmals betont, aufs engste mit dem Systemgedanken verwoben ist.8 Die Namen fungieren dabei gewissermaßen als Prinzipien, die dem System Leben einhauchen. Das Systemgerüst selbst ist dabei nicht schon vorhanden, sondern konstituiert sich selbst erst durch den Prozess der Erschließung. Am Probierstein der historischen Wirklichkeit gewinnt Schelling einen neuen, lebendigen Systembegriff.9 Die zentrale Stelle, die Schelling nun heranzieht, entstammt einem Scholion zur Argonautica von Apollonius von Rhodos, das Mnaseas von Patara zitiert: »In Samothrake empfängt man die Weihen der Kabiren. Mnaseas sagt, es sey’n deren drei der Zahl nach, Axieros, Axiokersa, Axiokersos. Axieros sey die Demeter, Axiokersa die Persephone, Axiokersos aber der Hades. Einige fügen auch einen vierten hinzu, Kasmilos genannt, welcher, wie Dionysodoros erzählt, Hermes ist.« (SW VIII, 349)
Bedenkt man, wie umfangreich Schellings von dieser Stelle ausgehende Untersuchungen sind, mutet sie zunächst viel zu klein an. Allerdings besitzt sie tatsächlich die Aspekte, an denen sich Schellings zwei Verfahrensweisen erproben können. Einerseits Namen, die ungewöhnlich und offenbar vorolympisch sind, an deren Wurzel er zu gelangen versuchen kann. Andererseits sind die Götter in einem Zusammenhang dargestellt, in einer Reihenfolge, die es nötig macht, die jeweilige Position der Gottheit in Erwägung zu ziehen. In Schellings ungleich poetischeren Worten wird die Stelle folgendermaßen gerechtfertigt: »Eine einzige durch besonderes Glück gerettete Nachricht scheint mit den wahren vom ersten Ursprung sich herschreibenden Namen zugleich die urkundliche Zeit- und Geburtsfolge der samothrakischen Götter erhalten zu haben. Billig schien daher, diese allen Untersuchungen zum Grunde zu legen. So lautet die Stelle des griechischen Auslegers, dem wir die Erhaltung jener Nachricht verdanken.« (ebd.)
Alle weitere Untersuchung zielt dann tatsächlich darauf ab, die Wahrheit in diesen Namen, also die gleichsam ›wahren Namen‹ als solche kenntlich zu machen. Wichtig ist dabei auch, dass Schelling den hellenischen Historiker lediglich als ›Ausleger‹ und Übermittler versteht, der nicht etwa zeitgenössische Namen der Götter wiedergibt, sondern auf eine sehr alte Überlieferungstradition zu8 Vgl. dazu noch SW VIII, 349: »Und doch kann nur diese vereinte Kenntniß gründlichen Aufschluß geben über den Sinn der samothrakischen Lehre, über das eigentliche, ihr zu Grunde liegende System.« Vgl. zum Systembegriff in den Gottheiten von Samothrake auch C. Danz, ›Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst […] war ihrem tiefsten Sinn nach die heilig geachtete Lehre der Kabiren‹. Überlegungen zum Systembegriff in Schellings Akademievortrag Ueber die Gottheiten von Samothrake, in: Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811–1821), hrsg. v. dems./J. Stolzenberg/V.L. Waibel, Hamburg 2018, 181– 198. 9 Vgl. Teil 3 dieses Aufsatzes.
›Wahre Namen‹ oder ›Wurzelphantasmagorien‹?
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rückgreift. Allein weil sowohl Apollonius als Mnaseas aus dem dritten Jahrhundert stammen, also verhältnismäßig späte Überlieferungsträger darstellen, muss eine solche Lücke angenommen werden. Schellings Versicherung, dass die Namen der Gottheiten »nicht hellenischen, daß sie, nach Griechen-Weise zu reden, barbarischen Ursprungs sind«, (SW VIII, 350) führt aber bereits auf den philosophischen Kern oder vielmehr Grund von Schellings gesamter Untersuchung. Die Wahrheit, die mit den wahren Namen der alten Götter in Verbindung zu bringen ist, ist eine Wahrheit des Grundes, daher auch keine hohe, übergeordnete Wahrheit, sondern eine geradezu barbarische Wahrheit.10 Besonders an Schellings Deutung der Namen ist, dass er sie nicht, wie es vielleicht am naheliegendsten wäre, auf das Ägyptische zurückführt, wie es sein Zeitgenosse Friedrich Creuzer unternimmt, an dem sich Schelling sonst sehr stark orientiert.11 Verständlicher ist hingegen, dass er die ebenfalls in Mode gekommene Herleitung aus dem Indischen nicht versucht. Zu stark hatte sich seine Skepsis gegenüber Friedrich Schlegels Ueber die Sprache und Weisheit der Indier schon in der Freiheitsschrift angedeutet.12 Schelling greift eine bereits von Joseph Justus Scaliger im 16. Jahrhundert angenommene These auf, dass nämlich die Kabiren phönizischen Ursprungs sind und damit sprachlich dem Hebräischen zuzuordnen sind.13 Diese philologische Grundannahme durchzieht Schellings Text. Die wichtigste Herleitung ist diejenige von Axieros, deren ganzes Wesen als unerfüllte Sehnsucht begriffen wird. Da für Schelling nicht einfach der Name und mithin der Grundbegriff als solcher, sondern auch die Stellung der Gottheit im Ganzen 10 Vgl. ebd. 11 Statt Creuzer kritisiert Schelling aber Georg Zoëga, der diese These in der Wissenschaftsgeneration vor Creuzer und Schelling vertrat. Vgl. SW VIII, 350. Creuzer hat gleichwohl umfänglich auf die Kritik Schellings reagiert und spricht gar von einer »Aengstlichkeit« Schellings gegenüber dem Ägyptischen, wobei er allerdings Schelling dazu bewegen möchte, »in seinen fernern mythologischen, als artistischen Untersuchungen doch ja jenen großen Factor in der geistigen Civilisation alterthümlicher Menschheit, nämlich das Aegyptische Element mit seiner ganzen Kraft, einer neuen anhaltenden Aufmerksamkeit [zu] würdigen«. (F. Creuzer, Ueber die Gottheiten von Samothrace […], in: Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 47 u. 48 [1817], 737–761, hier: 759 u. 761; zur Rechtfertigung des ägyptischen Ursprungs insgesamt 749–761) 12 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: AA I/17, 109–179, bes. 113. Vgl. zur eindeutig auf Schlegel bezogenen impliziten Kritik auch SW VIII, 416f. Diese Kritik sollte Schelling nicht daran hindern, Schlegel das Buch zu schicken. Vgl. F.W.J. Schelling an F. Schlegel am 10. 1. 1816 (G.L. Plitt [Hrsg.], Aus Schellings Leben. In Briefen, 3 Bde., Leipzig 1869f. [nachfolgend zitiert als ›Plitt‹ mit römischer Band- und Seitenangabe], bes. Plitt II, 364f.) 13 J.J. Scaliger, Coniectanea in M. Terentium Varronem de lingua Latina, Paris 1565, 146: »Nam Phoenicia & Syriaca lingua Cabir potem, & potentem significat.« Vgl. B. Hemberg, Die Kabiren, Uppsala 1950, 11. Vgl. zu Scaliger SW VIII, 409.
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entscheidend ist, ist die Nennung von Axieros an der ersten Stelle von entscheidender Bedeutung. Die Bestimmungen dieser Gottheit vererben sich gleichsam auf alle folgenden Gottheiten, so dass nicht nur Axieros und Axiokersa bzw. Demeter und Persephone »Zauber aber oder Zauberin […] genannt werden« (SW VIII, 355) können, sondern »Axiokersa und Axiokersos durch den gemeinschaftlichen Begriff des Zaubers vereint« (SW VIII, 356) sind.14 Dieser Zauber aber ist ein unerfüllter, nach Sein verlangender Zauber und Axieros bedeutet daher »den Hunger, die Armuth, und in weiterer Folge das Schmachten, die Sucht«. (SW VIII, 351) Diese Bedeutungen entlehnt Schelling der hebräischen Wurzel ( שריyarash) – das erben oder in Besitz nehmen bedeutet15 –, die er mit mehreren Büchern des Alten Testaments wie Genesis, Sprichwörter und Esther in Verbindung bringt. Von dieser Wurzel aus stellt er diverse Verbindungen her, die seine These untermauern, dass der Name von Axieros zuerst zu verknüpfen ist mit dem »Begriff des Mangels, des Hungers […], dem der des Ansichziehens, Festhaltens, Besitzergreifens erst folgt«. (SW VIII, 377) Besonders an Schellings Deutung ist aber auch das Weibliche der Gottheit Axieros, das Schelling geradezu jungenhaft-spitzbübisch mit einem ›Warum nicht?‹ untermauert, aber eben auch anzeigt, dass Schelling die Brisanz seines freilich sehr ernst gemeinten ›Streiches‹ nicht verkennt. Denn tatsächlich mag der unbefangene Leser bei der griechischen Endung ›-os‹ doch sicherlich zunächst eine männliche Gottheit erwarten. Aber wie Schelling in den Anmerkungen unmissverständlich klarmacht, möchte er nicht an eine männliche Endung denken: »Die Sylbe os gehört unstreitig zur Wurzel und diese kann nur ַ שׁ ָרוseyn«. (SW VIII, 378)16 Wenn David Krell fragt, »was hat ›Christos die Schwester‹ mit 14 Dass dieser Zauber als Ganzer ein täuschender Zauber ist, wird erst in den späteren Vorlesungen zur Mythologie entwickelt, wenn es darum geht, den christlichen Gott von diesem Zauber abzusetzen. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Mythologie, in: SW XII, hier: 150: »Dasselbe aber, was in seiner Hineinwendung das alles (selbst Gott) Vermögende ist, inwiefern es dem Willen sich als Potenz eines andern Seyns darstellt, insofern ist es auch eine Magie, ein durch Willen an sich lockender Zauber, aber es ist nicht die wahre, es ist die falsche, die täuschende Magie. Es liegt hier der Grund, warum in dem Alten Testament die Abgötterei mit falscher Magie zusammenhangend, ja als eins mit derselben angesehen wird.« 15 Vgl. W. Gesenius, Hebräisch-deutsches Handwörterbuch über die Schriften des Alten Testaments mit Einschluss der geographischen Nahmen und der chaldäischen Wörter beim Daniel und Esra, Bd. 1, Leipzig 1810, 413–415. 16 Die richtigen Punktierungen des Hebräischen finden sich lediglich in der sonst vor Fehlern strotzenden Originalausgabe F.W.J. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrace. Eine Abhandlung in der zur Feyer des Allerhöchsten Namensfestes Sr. Majest. des Königes von Baiern gehaltenen öffentlichen Versammlung der Akademie der Wissenschaften, am 12. Oct. 1815, Stuttgart/Tübingen 1815, 54. Ich danke Patrick Leistner für diesen Hinweis. Unter Hinzuziehung des Arabischen deutet Schelling das ( ַ שׁ ָרוwarasch) an dieser Stelle gleichsam lexikalisch, aber ohne Beleg als ›sehnen‹ oder ›wünschen‹. Schon zuvor schreibt Schelling, »die Endsylbe os […] wirklich für die ins Hebräische aufgenommene griechische Endigung zu halten, wird schwerlich jemand geneigt seyn«. (SW VIII, 377).
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Schelling oder mit Schellings Samothrake zu tun?«,17 dann mag die Gegenüberstellung dieses Derrida-Trakl-Zitats mit seinem Äquivalent in den Gottheiten von Samothrake besagen: ›Axieros die weibliche Gottheit‹ und ›Christos die Schwester‹ begeben sich auf den Weg, Tradition neu zu denken oder anders, mit Schelling selbst ausgedrückt, dass »diese ehrwürdigsten Denkmäler bald aus den Händen bloßer Theologen in die der reinen Geschichtsforscher übergehen«. (SW VIII, 417)18 So wie es bei Trakl nach Derrida darauf hinausläuft, »das Wesen einer Erfahrung von Familie überhaupt, Familie als solche zu durchdenken«,19 geht es bei Schelling darum, das Ganze dieser Gottheiten als Einheit zu durchdenken, eine Einheit, die einer Familie gleicht. Schelling entwickelt das Verhältnis von Mutter, Kind und Vater genetisch und weist dessen polyvalentes Beziehungsgeflecht aus. Darüber hinaus begreift Schelling alle entwickelten Gottheiten als ›socii‹ und ›consentes‹.20 Diese Einheit oder eben Familie ist allerdings vollkommen durch Sehnsucht geprägt. Die Einheit der Götter und jede einzelne Gottheit lassen sich als Verhältnis von System und Prinzip begreifen. Während wir mit Axieros gleichsam in gut idealistischer Manier das Prinzip im System besitzen, haben wir mit dem Begriff der Kabiren die Chiffre für das System, in dem die Gottheiten und Axieros als das erste Prinzip wirken. Innerhalb dieses Systems ›tummeln‹ sich gewissermaßen die Götter, wobei sie nicht wahllos, sondern in einer bestimmten Reihenfolge zu denken sind. Axieros als ursprüngliche Armut und »der unauflösliche Zauber«, Axiokersa als »der lebendige Zauber«, (SW VIII, 355), Axiokersos als ein weiterer »zauberischer Gott« (SW VIII, 357)21 und schließlich Kadmilos als Mittler zu weiteren drei (oder sogar vier) Gottheiten höherer Dignität oder Potenz. Kadmilos fungiert dabei den höheren Gottheiten »als ein wirklicher Diener, als ein gehorchendes Werkzeug, diesen [den unteren Gottheiten; A.B.] aber als ein wohlthätiges und über sie erhabenes Wesen«. (SW VIII, 357f.) Diese höheren Götter deutet Schelling allerdings nur in einer fünften Gestalt an, nämlich dem Demiurgen, der ein »überweltlicher Gott« (SW VIII, 360) ist, den Schelling aber nicht schon mit dem christlichen Gott verwechselt wissen möchte. (SW VIII, 361f.) Diese Gottheiten bilden »eine das Tiefste mit dem Höchsten verbindende Zauberkette«, die alle Gottheiten in »einer magischen Verknüpfung« (SW VIII, 17 Vgl. den Aufsatz von David Farrell Krell in diesem Band. 18 Für die Reaktionen der tatsächlich schockierten Theologen im Rahmen von Schellings Berufungsverfahren 1816 in Jena vgl. Danz, Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst, 181f. 19 Vgl. den Aufsatz von David Farrell Krell in diesem Band für die Übersetzung von Derrida, Geschlecht III, 115. Vgl. oben 145. 20 Vgl. SW VIII, 367. 415–418. 21 Bei der Deutung des Namens von Axiokersos hält sich Schelling auffallend zurück, er begreift ihn als einen Hades-Dionysos.
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366) hält und nicht zufällig – wie schon in der Freiheitsschrift22 – gegen jede Emanation gewendet wird, die absteigend wäre, sondern eine »von unten wie Zahlen aufsteigende Reihe« (SW VIII, 359) ist. Zusammenfassend schreibt Schelling: »Also ein von untergeordneten Persönlichkeiten oder Naturgottheiten zu einer höchsten sie alle beherrschenden Persönlichkeit, zu einem überweltlichen Gott, aufsteigendes System war die kabirische Lehre.« (SW VIII, 361) Dieser Systemcharakter lässt sich wiederum begrifflich einholen. Schelling unterzieht dabei den Begriff ›Kabiren‹ einer vor allem auch in den Anmerkungen ausführlichen Analyse. Deren Ergebnis fasst sich vielleicht in folgendem Satz am besten zusammen: »den Begriff der unauflöslich […] Vereinigten und zwar der magisch Vereinigten mußte der Name [Kabiren; A.B.] bedeuten, wenn er vollkommen ihre gemeinschaftliche Natur ausdrücken sollte.« (SW VIII, 367) Dabei betont Schelling das gleichsam familiäre Bündnis – als »[v]erschiedene Götter, waren sie doch zusammen wie Einer« (ebd.) – und findet auch diese Bedeutung im Begriff der Kabiren, denn das »Consentes und Complices«, also die Übereinstimmenden, sei »nur Erklärung, ja wörtliche Uebersetzung des Kabiren-Namens«. (ebd.)
2. Ein Blick in die Forschung der letzten Jahrzehnte zu der von Schelling ›erforschten Bedeutung des Namens‹, die ›urkundlich für den inneren Sinn des Kabirensystems‹ sein soll, sorgt natürlich für Ernüchterung. Die heutige Quellenkritik wagt sich gerade in Bezug auf die Auslegung von Namen nicht mehr so weit vor, zumal sie ein philosophisches Gerüst, wie etwa dasjenige Schellings, nicht mehr akzeptieren kann und damit, wenigstens historisch-philologisch, nicht unrecht hat. Während aber die Sprachforschung auf positivistische Einzelforschung zurückgesetzt ist, kann heute der Sinn und das Ganze eines Kultes wie der Kabiren durch archäologische Funde wenigstens ansatzweise erschlossen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass Schellings recht wagemutige Auswahl dieser kleinen Stelle aus den Scholia der Argonautica heute durchaus von Altertumswissenschaftlern bestätigt wird als ursprüngliche Darstellung der samothrakischen Kabiren. Vor nicht allzu langer Zeit wurden die Namen von Axieros, Axiokersa, Axiokersos und Kadmilos, die Schelling heranzieht, durch eine
22 Vgl. AA I/17, 120. 127. Vgl. auch ähnlich die Kritik in den Weltaltern in: SW VIII, 257.
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Fluchtafel aus Antiochia bestätigt, die diese Namen ebenfalls auflistet.23 Allerdings gilt die Deutung der Namen aus dem Phönizischen bzw. Hebräischen heutzutage als »very improbable«,24 – die Ableitung aus dem Ägyptischen oder Indischen wird allerdings nicht einmal mehr diskutiert. Da der Kult geographisch auf Anatolien zurückgeführt wird, wird auch der Kabirenname tendenziell den anatolischen Sprachen zugeordnet.25 Für die Gottheiten Axieros, Axiokersa und Axiokersos, unabhängig von ihrer Identifizierung mit den Kabiren, sind allerdings bis heute keine von der Wissenschaft als legitim anerkannte Namensdeutungen vorhanden. Zu irritieren scheint dabei vor allem die Weiblichkeit der beiden Gottheiten Axieros und Axiokersa. Man ist daher häufig dazu übergegangen, den männlich klingenden Namen Axieros als männlichen Gott zu interpretieren, so dass in der Trias der drei Götter nur noch Axiokersa als weiblich identifiziert wird.26 Allerdings hat etwa Walter Burkert daran festgehalten, Axieros und Axiokersa als weibliche Gottheiten zu interpretieren.27 Schelling spielt also in der heutigen Forschung, die sich sehr stark auf die Archäologie konzentriert, naturgemäß keine Rolle mehr. Allerdings hat sich die Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten wieder stärker gewandelt. Nachdem zunächst ein sehr positivistischer Geist vorherrschte, der sich dezidiert 23 Vgl. A. Hollmann, A Curse Tablet from the Circus at Antioch, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 145 (2003), 67–82. Vgl. auch J.N. Bremmer, Initiation into the Mysteries of the Ancient World, Berlin/Boston 2014, 35. 24 Bremmer, Initiation, 47. Radikaler ist Beekes, der – wenigstens für Kadmilos – das Semitische komplett verwirft zugunsten des Anatolischen. Vgl. R.S.P. Beekes, The Origin of the Kabeiroi, in: Mnemosyne Fourth Series 57/4 (2004), 465–477. Für eine Auslegung auf der Grundlage des Semitischen vgl. D. Musti, Aspetti della religione dei Cabiri, in: La questione delle influenze vicino-orientali sulla religione greca. Stato degli studi e prospettive della ricerca. Atti del colloquio internazionale, Roma 20–22 maggio 1999, hrsg. v. S. Ribichini/M. Rocchi/P. Xella, Rom 2001, 141–154, bes. 144. In seiner Diskussion der Namensherkunft der Kabiren wirft Robert Fowler die Option auf, dass eine von den griechischen Historiographen angenommene Abkunft aus dem Ausland, egal ob nun phönizisch oder anatolisch, eher die Fremdheit des Kultes selbst beschreibt als eine tatsächliche ausländische Herkunft, womit auch die Option im Raum steht, dass die Kabiren schon immer in Griechenland heimisch waren. Vgl. R.L. Fowler, Herodotos and the Early Mythographers. The case of the Kabeiroi, in: Writing Myth. Mythography in the Ancient World, hrsg. v. S.M. Trzaskoma/R.S. Smith, Leuven/Paris/ Walpole MA 2013, 1–19, bes. 10f. 25 Vgl. etwa Bremmer, Initiation, 47. 26 Vgl. a. a. O. 36; S.G. Cole, Theoi Megaloi. The Cult of the Great Gods at Samothrace, Leiden 1984, 2–3; R.L. Fowler, Herodotos and the Early Mythographers. in: Writing Myth, 1–19, bes. 12. Der Grund für diese Änderung ist aber ein, wie mir scheint, recht äußerlicher, nämlich dass im Zusammenhang mit diesen Gottheiten oft von einem männlichen Paar die Rede ist, also zwei männliche Gottheiten vorhanden sein müssten. 27 Vgl. W. Burkert, Greek Religion, Oxford 1985, 458 Anm. 40 und ders., Concordia Discors. The Literary and the Archaeological Evidence on the Sanctuary of Samothrace, in: Greek Sanctuaries. New Approaches, hrsg. v. N. Marinatos/R. Hägg, London/New York 1993, 178–191.
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noch von Schelling und Creuzer absetzt,28 behandelt die altertumswissenschaftliche Forschung die Thematik wieder umfassender und freier. Zuletzt ist ein größeres Interesse nicht nur für die religiöse Interpretation des Kultes wahrnehmbar, sondern die Forschung traut – bei aller beibehaltenen Vorsicht – sich auch, wie Schelling, die ältesten Ursprünge des Kultes in Betracht zu ziehen.29 Die zeitgenössische Kritik ignoriert Schelling nicht, sondern ganz im Gegenteil erfährt seine Untersuchung große Aufmerksamkeit. Diese steht im krassen Gegensatz zur heutigen Rezeption des Werkes.30 Wohl nur das System des transzendentalen Idealismus von 1800 hat mehr Rezensionen erfahren als die Gottheiten von Samothrake.31 So übertreffen diese mit acht Rezensionen,32 bei denen bloße Anzeigen der Schrift unberücksichtigt bleiben, etwa auch die Freiheitsschrift mit immerhin fünf bekannten Rezensionen.33 Zunächst allerdings scheint Schellings Darlegung offenbar lediglich dem König zu gefallen, der ihm eine durchaus ansehnliche Belohnung für seine Rede zukommen lässt.34 Die Zeitgenossen Schellings hingegen haben vor allem anfänglich nur schärfste Kritik für ihn übrig. Schelling nimmt diese Rezensionen zur Kenntnis und sieht sich offensichtlich aufgrund der in seinen Augen falschen Kritik zu einer Gegenreaktion herausgefordert.35 Da Schelling die Auslegung der 28 Vgl. etwa Hemberg, Kabiren, insbesondere zur Abgrenzung von Creuzer und Schelling, 12 Anm. 1. Vgl. wiederum zur Kritik an Hemberg: V. Reinecke, Der Wiederholungsprozess und die mythologischen Tatsachen in Schellings Spätphilosophie. Eine religionswissenschaftliche Studie unter der Voraussetzung des Verhältnisses der »Weltalter« zu den Abhandlungen »Über die Gottheiten von Samothrake«, Rheinfelden 1986, 108–110. 29 Vgl. die Arbeiten von Bonna Daix Wescoat und ihrem Umfeld an der Emory University/USA. Vgl. etwa die gewagteren und umfassenderen Überlegungen in S. Blakely, Toward an Archaeology of Secrecy. Power, Paradox, and the Great Gods of Samothrace, in: Archeological Papers of the American Anthropological Association 21 (2012), 49–71. 30 Vgl. für einen guten Überblick über die spärliche Forschungsliteratur M. Dönike, Altertumskundliches Wissen in Weimar, Berlin/Boston 2013, 187–191. 31 Das System des transzendentalen Idealismus wurde in zwölf Rezensionen besprochen, vgl. die Übersicht in AA I/9,2, 24–26. 32 Zu den fünf bereits zitierten Rezensionen von Ast, Köppen, Tychsen und Creuzer müssen noch wenigstens drei weitere gezählt werden, nämlich [G.F. Grotefend] (Rez.), Über die Gottheiten von Samothrace […], in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 113 (Juni 1816), Sp. 425–429, [anonym; mit › F.‹ unterzeichnet] (Rez.), Notice of a German Treatise, entitled […] On the Deities of Samothrace […] by F.W.J. Schelling, in: The Classical Journal 14/27 (September u. Dezember 1816), 59–64 und H.E.G. Paulus (Rez.), Homers Hymnus an Demeter […] von Dr. F.K.L. Sickler […] Verglichen mit F.W.J. Schellings Abhandl. Ueber die Gottheiten von Samothrake, in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur 35–38 (1821), 545–606. 33 Vgl. AA I/17, 73. 34 Schelling erhält 600 Gulden. Vgl. Dekret Maximilian I. Joseph an die Königliche Akademie der bildenden Künste vom 29. 10. 1815, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MF 53692, 1r. 35 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 6. 4. 1816 (H. Fuhrmans/L. Lohrer [Hrsg.], Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, Stuttgart 1965, 119f.)
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Namen in das Zentrum seiner Untersuchung rückt, muss ihn die Kritik, die vornehmlich an seinen Namensdeutungen laut wird, besonders treffen. Auch wenn sich die Bezeichnung dieser Überlegungen als Wurzelphantasmagorien, wie oben bereits geschildert, sicherlich allzu drastisch gebärdet, ist diese Kritik doch symptomatisch. Im Hintergrund steht aber ein umfassender Konflikt, der das methodische Vorgehen in den Altertumswissenschaften, aber auch in der Philosophie insgesamt betrifft und der in dem Gegensatz von Aufklärung und Romantik hier nur unzureichend angedeutet werden kann.36 Da im Rahmen der vorliegenden Ausführungen nicht alle Rezensionen zu Schellings Werk gewürdigt werden können, werde ich die letzte Rezension aus dem Frühjahr 1821 von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus heranziehen. Erstaunlicherweise findet diese Rezension in der Forschung bisher an keiner Stelle Erwähnung.37 Paulus, der langjährige Jugendfreund und -förderer sowie spätere Erzfeind Schellings,38 tritt also nicht erst mit der Veröffentlichung von Schellings erster Berliner Vorlesung 1843, sondern schon über zwei Jahrzehnte zuvor literarisch gegen Schelling hervor. Es darf also auch schon wegen dieser Vorgeschichte nicht verwundern, wenn der späte Schelling allein aufgrund der Herausgeberschaft von Paulus diese Zwangspublikation seiner Vorlesung rigoros ablehnt. Aber auch in inhaltlicher Hinsicht ist die Rezension nicht nur umfangreich, sondern äußerst ergiebig und fasst viele Aspekte der vorher geäußerten Kritik zusammen. Paulus verbindet mit der Rezension Schellings die 36 Eine Aufarbeitung der Rezensionen und des ideengeschichtlichen Hintergrunds sowie eine Einordnung der Gottheiten von Samothrake in Schellings Werk habe ich für die erste vollständige englischsprachige Übersetzung der Gottheiten von Samothrake erarbeitet, die David Krell, Jason Wirth und ich gemeinsam herausgeben werden. 37 Vgl. etwa U. Schönwitz, Er ist mein Gegner von jeher. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Warmbronn 2001, die zwar ausführlich die Biographien beider Wissenschaftler gegenüberstellt, aber die Auseinandersetzung um die Gottheiten von Samothrake nicht erwähnt. 38 So hatte Schelling einen seiner frühesten Aufsätze in Paulus’ Zeitschrift veröffentlicht, vgl. F.W.J. Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, in: Memorabilien. Eine philosophisch-theologische Zeitschrift der Geschichte und Philosophie der Religionen, dem Bibelstudium und der morgenländischen Litteratur gewidmet 5 (1793), 1–68 (AA I/1, 194–246). Später war es Paulus, der gegen Schellings Willen seine Antrittsvorlesung in Berlin vom Winter 1841/42, die sogenannte ›Paulus-Nachschrift‹, veröffentlichte, vgl. Die endlich offenbar gewordene positive Philosophie der Offenbarung. Entstehungsgeschichte, wörtlicher Text, Beurtheilung und Berichtigung der v. Schellingschen Entdeckungen über Philosophie überhaupt, Mythologie und Offenbarung des dogmatischen Christenthums im Berliner Wintercursus von 1841–1842. Der allgemeinen Prüfung vorgelegt, hrsg. v. H.E.G. Paulus, Darmstadt 1843. Schon 1810 charakterisiert Schelling Paulus als geradezu diabolischen Charakter: »Ich habe viele böse Menschen kennen gelernt und viel Böses von Andern erfahren; aber einen solchen wie P. [Paulus; A.B.] und so viel als von ihm, keinen und von Niemand.« (F.W.J. Schelling an G.H. Schubert am 31. 12. 1810, in: Plitt II, 243) Der Konflikt mit Paulus ist gut dokumentiert in H. Fuhrmans, Schellings Briefe, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 8 (1954), 414–437, bes. 427–436.
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thematisch verwandte Rezension einer Schrift des heute unbekannten Altphilologen Sickler. Paulus’ Unternehmung ist zugleich eine Reaktion auf die vorhergehenden Rezensionen zu Schellings Schrift und auf die mit andauernder Heftigkeit geführte Debatte um die richtige Methode der Forschung, die den ältesten menschlichen Glauben erschließen möchte. Schelling selbst hatte Paulus zu einer Meinungsäußerung in der Sache aufgefordert, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass sich Schelling aufgrund des Eklats in Würzburg nach 1806 jedweden brieflichen Kontakt verbat.39 Paulus’ selbsternanntes Hauptziel ist es dann auch, die »Methoden zu prüfen«.40 Die doch recht späte Abfassung, über fünf Jahre nach Erscheinen der Schrift, bestätigt dabei auch den andauernden Kampf um die richtige Methode und die Bedeutung gerade von Schellings Schrift innerhalb dieser großen Auseinandersetzung. Auch Creuzer, dessen Rezension von 1817 als Gegenstück zu derjenigen Paulus’ angesehen werden kann, sieht sich nach der Lektüre der Paulus-Rezension zu einer Reaktion veranlasst, die er unmittelbar 1821 in der Vorrede zum 4. Teil seiner Neuauflage der Symbolik und Mythologie abdrucken lässt.41 Gegenüber Schelling vermittelt Creuzer seine Einlassung geradezu als Pflichtaufgabe im Kampf um zwei unterschiedliche Ansichten, die wesentlich methodischer Natur sind.42 Creuzer, der sich zügeln muss, damit seine »Vorrede nicht ein Buch werde«,43 greift nochmals auf das Ganze der Diskussion der letzten Jahre aus, wobei er insbesondere die methodischen Unterschiede hervorhebt und sich dabei auch nicht zurückhält, andere Wissenschaftler für seinen Standpunkt zu vereinnahmen. Allgemeine Überlegungen über die Bedeutung der Methode in der Wissenschaft eröffnen demgemäß die Rezension von Paulus. Ohne ihn beim Namen zu nennen, meint er doch unmissverständlich Schelling, wenn er etwa schreibt, auf »die Methode, auf den Weg zum Ziel, kommt alles an, wenn ausserdem Kräfte
39 Paulus macht diese Aufforderung öffentlich, vgl. Paulus (Rez.), Samothrace, 568. Vgl. auch den Brief selbst, Schelling an H.E.G. Paulus am 15. 10. 1815 (Fuhrmans, Schellings Briefe, 434– 436). Schelling hatte den Brief über Cotta an Paulus schicken lassen, vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 6. 4. 1816 (Schelling und Cotta, 112). 40 Paulus (Rez.), Samothrace, 545. 41 Vgl. innerhalb der ›Vorrede‹ zu Schelling insbesondere F. Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Bd. 4, 2. völlig umgearbeitete Ausgabe, Leipzig/ Darmstadt 1821, VIf. 42 Vgl. F. Creuzer an F.W.J. Schelling am 9. 9. 1821, in: Vf./F. Wirtz, Unveröffentlichte Briefe von Creuzer an Schelling aus den Jahren 1813–1844, in: Schelling-Studien 7 (2019), 236: »Daß unser H Dr. Paulus in den täglich mehr sinkenden Heidelberg. Jahrbb. nach seiner Weise über Ihr Buch geredet, wird Ihnen eben nicht befremdlich vorgekommen, aber auch sehr gleichgültig seyn. Indessen hielt ich’s doch für meine Pflicht, gerade weil ich auch hier lebe, meine Ansichten in der Vorrede zum 4ten B. der Symbolik auszusprechen.« 43 Creuzer, Symbolik und Mythologie, Bd. 4, XIX.
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und Mittel zum Gehen da sind«.44 Schelling, so die Unterstellung, hat diese Mittel offenbar nicht, seine Methode ist »nach ihren Grundsätzen unrichtig«. (545) Paulus stellt dabei unmissverständlich und wiederholt heraus, dass jedes Ergebnis auf wackeligen Füßen stehe, welches »ausgeht von unerweislichen Voraussetzungen, was sich die willkürlichsten Anwendungen der Mittel zum Voraus ausbedingt«. (546) Schelling ist der Adressat, dem die unsachgemäßen Voraussetzungen vorgeworfen werden, insofern er seine philosophischen Annahmen nicht beweisen könne und aufgrund dieser Willkür ebenso wahllos Quellen heranziehe, auf die er sich stütze und diese ebenso wahllos deute. Kurz, Schelling kann – um das Bild Paulus’ zusammenzufassen – nicht gehen, und eigentlich nicht einmal einen Weg anzeigen, auf dem er gehen könnte. Nachdem Paulus zunächst Sickler nachweist, dass er in seiner Untersuchung unbeweisbare Voraussetzungen für seine Methode annimmt, seine Methode prinzipiell also falsch ist, er darüber hinaus aber selbst in der Anwendung dieser Methode Fehler mache,45 wendet er sich Schelling zu. Dieser wende dieselbe Methode wie Sickler an, der wiederum von Schelling plump plagiiere. (582) Schelling enthalte sich gegenüber Sickler der schlimmsten Willkürlichkeiten, ohne dass dadurch die Methode richtiger würde. Trotzdem avanciert Schelling zum »besten Vertheidiger« (568) dieser Methode. Sicherlich ist dieses Lob vergiftet, doch es zeugt auch davon, wie ernst Paulus Schellings Ansatz nimmt, den er dann auch minutiös und ausführlich bespricht. Die Kritik, die Paulus vorbringt, lässt sich in zwei Kategorien unterteilen. Einerseits diejenige, die sich der grundsätzlicheren Annahmen und Voraussetzungen Schellings entgegenstellt, andererseits diejenige, die konkrete Ergebnisse und Deutungen Schellings bestreitet. Die umfängliche Kritik an Einzelnem muss hier ignoriert werden. Es sei nur exemplarisch die Kritik an Schellings Deutung von Axieros angeführt. Diese Kritik orientiert sich an den zwei Verfahrensweisen Schellings. Paulus kann nicht erkennen, dass der Grundbegriff dieser Gottheit mit Sehnsucht und Schmachten in Verbindung gebracht werden kann. »Nichts von Sehnsucht« (471)46 heißt es lapidar, wenn Paulus ein ums andere Mal Schellings Deutungen der Sprachwurzeln anzweifelt, die Schelling mit Sehnsucht identifiziert. Aber auch die Stellung von Axieros als anfangende Göttin möchte Paulus nicht einleuchten, sie sei »nicht eine Urgöttin, vielmehr von der Erde Gaia, abhängig«. (471f.) Diese Kritik führt Paulus dann auch für die anderen Gottheiten weiter, aber seine Kritik an Axieros traf Schelling besonders, da diese Deutung zentral für seine gesamte Philosophie ist. Es überrascht nicht, wenn 44 Paulus (Rez.), Samothrace, 546. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich hierauf. 45 Vgl. a. a. O., 546–567. 46 Vgl. auch a. a. O., 472: »Einmal von der Idee Sehnsucht angezogen, lässt Schelling bald eine im Mangel ermattete, bald, wie es zu seiner philosophischen Hauptidee notwendig ist, eine nicht matte, brennende Sehnsucht nach Wesen angedeutet seyn.«
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Schelling dann gerade die Deutung aus dem Hebräischen, die Armut und Sehnsucht verbindet in einem Brief gegenüber Paulus zu verteidigen sucht.47 Die grundsätzlichen Kritikpunkte kondensieren die Kritik an Einzelnem und sind gerade deshalb erwähnenswert, weil sie den Grunddissens des Deutschen Idealismus zur zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaft veranschaulichen, zumal Paulus ganz klar die philosophische Ebene von Schellings Vorhaben erkennt. Für Paulus lässt sich das Kabirensystem nicht als spekulative Philosophie und Naturphilosophie deuten oder – wie es einmal heißt – als »naturphilosophische Mythologie« (579) verstehen. Dies sei eine moderne, künstliche Abstraktion, die sich weder psychologisch noch historisch beweisen lasse. Vielmehr können die Kabiren nur als nutzbringender Kult, als »›äußerlich wohlthätige‹ Kräfte«, (582) aufgefasst werden, da sie sonst nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten gewesen wären. Die samothrakischen Weihen haben daher auch keinen übergeordneten Zweck, sie besitzen weder eine Beziehung auf ein Weltschöpfungstheorem, noch befördern sie eine geistigere Menschwerdung oder ließen sich gar als Ethik verstehen. Die philosophische Bedeutsamkeit der Kabiren und mithin die philosophische Bedeutsamkeit der Schrift wird also bis zum Verschwinden negiert. Für Paulus läuft Schellings Unterfangen auf einen Grundwiderspruch hinaus: »Vernunfteinsichten können nicht Mysterien bleiben.« (ebd.) Die Wahrheit, die Schelling dem Kabirensystem unterstellt, verfehle die Mysterien nicht nur anachronistisch, sondern ist philosophisch grundsätzlich nicht mit den Mysterien vereinbar. Schellings philosophische Einsichten, die er an den Kabiren entwickelt, seien unabhängig davon, dass sie nicht richtig sind, nicht aus der Lehre des samothrakischen Mysterienkults zu gewinnen, da sie dort nicht vorkommen können. Diesen philosophischen Vorbehalten schließen sich die altertumswissenschaftlichen an. Schelling gehe von der falschen Voraussetzung aus, dass die Kabiren durch die Phönizier nach Samothrake gekommen seien. Vielmehr kämen sie, wie das von Schelling selbst herangezogene Pariser Scholion zur Argonautica mitteile, aus Phrygien, d. h. der heutigen Türkei.48 Obwohl Paulus in diesem Punkt recht hat, und es durchaus bemerkenswert ist, dass Schelling diese Informationen tatsächlich auslässt, wenn er sich auf den Scholiasten stützt,49 ist 47 F.W.J. Schelling an H.E.G. Paulus [ohne korr. Versanddatum], in: Fuhrmans, Schellings Briefe, 436. 48 Auch Creuzer versucht im Briefwechsel mit einem Hinweis auf das Etymologicum Gudianum weiterhin Schelling sanft in Richtung des Phrygischen zu bewegen, ohne ihm dabei aber direkt zu widersprechen. Vgl. F. Creuzer an F.W.J. Schelling am 27. 12. 1820 (Vf./Wirtz, Unveröffentlichte Briefe, 232–234). 49 Schelling weist zwar den phrygischen Ursprung nicht explizit ab, aber er diskreditiert in anderem Zusammenhang Athenion als unglaubwürdig, der diesen Ursprung für die Kabiren in dem von Schelling verwendeten Scholion behauptet, vgl. SW VIII, 411f.
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die Schlussfolgerung von Paulus nicht sehr überzeugend. Denn dieser eine Aspekt scheint Paulus zu genügen, um die gesamte sprachwissenschaftliche Forschung nicht beim Phönizischen, sondern beim Phrygischen anzusetzen.50 Gegenüber Schellings Methode, »das Uralte der Mythologie aus Semitischem Etymologisieren zu enträthseln«, (580) müsse die Forschung sich auf das Altägyptische konzentrieren, das mit den semitischen Sprachen inkompatibel sei. Schelling verfalle letztlich einem »Semitismus«. (581) Dabei ist Paulus eine defätistische Neigung nicht uneigen, wenn er meint, man könne per se nicht aus modernen oder neueren Sprachen die alten Namen erklären. Vielmehr seien die ältesten Namen unerschließbare Archaismen. Sowohl in philosophischer als auch in historischer Hinsicht ist es für Paulus schließlich unwahrscheinlich, dass die zeitgenössische Wissenschaft den schon in den antiken Quellen kaum verstandenen Mysterienkult besser verstünde als ihre Zeitgenossen.51 Schellings Reaktion auf die doch umstürzende Kritik von Paulus fällt vergleichsweise harmlos aus. Er deutet zwar an, dass ihm die Rezension im Ganzen nicht ›erwünscht‹ ist, aber ansonsten scheint Schelling einfach zu ignorieren, wie stark doch Paulus seine grundlegende Herangehensweise kritisiert.52 Vage zu vermuten ist, dass Schelling sich selbst von seinen umfänglichen philologischen Überlegungen distanziert hat.53 Dem Philosophischen, das Schelling mit den Gottheiten von Samothrake darstellen wollte, versucht Schelling nicht zuletzt mit den Erlanger Vorlesungen philosophisch-systematisch beizukommen, ein Versuch, der in Schellings groß angelegter Spätphilosophie mündet.
3. Die samothrakischen Gottheiten sind lediglich ein historisches Beispiel, aber sie avancieren zum Exemplum für Schellings Philosophie. Diese Gottheiten sind barbarisch, enthalten das Barbarische sowohl in jedem Element, in jeder Wurzel als eben auch im Ganzen. Das Barbarische macht den ›inneren Sinn des Kabirensystems‹ aus. Schelling gewinnt mit den Gottheiten von Samothrake die Gewissheit, dass das gesamte Wissenssystem anders verstanden werden muss, 50 Allerdings liegt Paulus mit seiner Vermutung durchaus nicht falsch, da heute Anatolien und mithin auch Phrygien als ursprüngliche Sprachregion für die Kabiren in Erwägung gezogen werden, vgl. Anm. 24 und 25. 51 Vgl. Paulus (Rez.), Samothrace, 582. 52 Vgl. F.W.J. Schelling an F. Creuzer am 3. 9. 1822 (Plitt III, 12f.) 53 Schelling bittet Creuzer darum, seine Namenserklärungen in dessen französischer Übersetzung der Symbolik und Mythologie nicht zu verwenden. Vgl. ebd.: »Ich erlaube mir den Wunsch zu äußern, daß in der französischen Uebersetzung die sämmtlichen Anführungen Sicklerscher Erklärungen wegfallen mögen; – geben Sie, verehrter Freund, nur immer auch den meinigen den Abschied!«
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nämlich unter Berücksichtigung dieses Barbarischen. Das Barbarische gilt es demgemäß in seiner Vielfältigkeit, Lebendigkeit und konstitutiven Kraft zu würdigen. Die Ambivalenz des Barbarischen besteht darin, dass diese Würdigung einhergeht mit einer auf Überwindung abzielenden Bewegung im Absoluten. Eine Stelle aus den Weltaltern, die den Gottesbegriff der Aufklärung kritisiert, veranschaulicht diese Ambivalenz: »Ein solcher Gott ist das natürliche Bild eines Menschen, der die Kraft der Vertiefung in sich ganz verloren hat; seine Ohnmacht ist der eines Volkes vergleichbar, das in gutmüthiger Bestrebung nach sogenannter Kultur und Aufklärung dazu gekommen ist, alles in sich in Gedanken aufzulösen; dagegen aber mit dem Dunkel zugleich alle Stärke und jenes – warum sollte das rechte Wort nicht genannt werden? – barbarische Princip verloren hat, das, überwunden, aber nicht vernichtet, die eigentliche Grundlage aller Größe ist.«54
Ich gehe hier nicht darauf ein, dass mit dem hier kritisierten Gottesbegriff auch derjenige Paulus’ getroffen wäre, ebenso wenig dass dieser Gedanke maßgeblich auch für Schellings Beschäftigung mit den Skulpturen des Aphaia-Tempels auf Ägina ist, die als barbarische Skulpturen archaischer Kunst Grundlage für die Kunst der Klassik sind.55 Auch ignoriere ich hier die offensichtlich gesellschaftspolitische Dimension eines solchen barbarischen Prinzips. Schelling schreibt und denkt gegen den Verlust des Barbarischen an. Seine Untersuchung über die samothrakischen Gottheiten versucht dieses Barbarische wiederzufinden. Die Freiheitsschrift, die Weltalter, die Erlanger Philosophie und auch die eigentliche Spätphilosophie können, trotz naturgemäß gewichtiger Abstufungen, ebenfalls in diesem Sinne gelesen werden. Niemals aber theoretisiert Schelling über dieses Barbarische um seiner selbst willen, sondern er schreibt, um es besser zu verstehen und seine systematischen Ausführungen zu plausibilisieren. Um also nur einen Text herauszugreifen, bietet sich die Erlanger Vorlesung Initia philosophiae universae von 1821 an, die die Bedeutung dieses Barbarischen philosophisch-systematisch entfaltet. Die in den Weltaltern erarbeiteten Gedanken werden hier erstmals wieder als theoretisches System dargestellt und führen insofern die Identitätsphilosophie und damit die eigentliche wissen54 F.W.J. Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. M. Schröter, München 1946, 51. Vgl. auch SW VIII, 342f. 55 Schellings Ausführungen von 1817 sekundieren diejenigen, die wir in dem zuvor genannten Zitat aus den Weltaltern finden, insofern die äginetische Kunst mit dem ›barbarischen Prinzip‹ gleichsam identifiziert wird: »Von treuer und strenger Nachahmung der Natur ging, mehr oder weniger im Gegensatz der attischen, die äginetische Kunst aus, und zog jenes Princip heran, das nachher die eigentliche Grundlage der Größe in der attischen Kunst, namentlich des Phidias, wurde.« (F.W.J. Schelling, Kunstgeschichtliche Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, in: SW IX, 111–206, hier: 161) Insgesamt sind die Ausführungen Schellings beachtenswert, die als Hauptmerkmal äginetischer Kunst die Nachahmung der Natur erblicken, vgl. a. a. O., 157–162.
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schaftliche Philosophie fort.56 Zugleich bildet die Erlanger Vorlesung kompakter aus, was die Spätphilosophie auf vier Bände dehnt. Schelling reformuliert in den Initia das in den Gottheiten von Samothrake Erarbeitete mit den Formeln der Potenzen,57 ohne jedoch nur sein früheres Büchlein von 1815 zu erwähnen: »Wir können also unsre drei Potenzen A1, A2, A3 zurückrufen – nur dabey immer im Auge behalten, daß sie nicht als wirkliche sondern selbst bloß im Potenzialzustand gesetzt sind, als bloße Potenzen. Demnach stellt sich nun +A0 als das Vierte in dieser aufsteigenden Reihe dar«.58
Die Rede von der ›aufsteigenden Reihe‹ lässt uns gleich an die Gottheiten von Samothrake erinnern.59 Mühelos lassen sich A1, A2 und A3 auf die samothrakischen Gottheiten Axiokersa, Axiokersos und Kadmilos beziehen, +A0 ist der Demiurg. Schelling hatte den Demiurgen bereits in den Gottheiten von Samothrake als Melchisedek aufgefasst.60 Die Beschreibung in Hebr. 7,16, die Melchisedeks Existenz als ›unaufgelöstes Leben‹ beschreibt, war damit bereits in den Raum gestellt. Die Rede vom ›unauflöslichen Leben‹, die in den Gottheiten von Samothrake ja zentral ist, wird nun in Erlangen – auch wenn die göttlichen Namen selbst wegfallen – einmal mehr mit dem Demiurgen bzw. Melchisedek verbunden, während das ›auflösliche Leben‹ mit der Gottheit Axieros identifiziert werden muss: »Der einfachste Ausdruck endlich für –A0 [ist] die auflösliche Einheit – oder da in dieser Einheit das Leben besteht – das auflösliche Leben. +A0 dagegen [ist] das unauflösliche Leben, ζωη ακαταλυτος. Jenes –A0 eine bloß potentielle, nämlich magische Einheit, die im bloßen Nichtwollen steht – bloß darauf, daß das seyn K[önnen] sich nicht weiß als solches und noch vielmehr schon das Seyn sich angezogen hat. – Diese aber nicht die bloß magische sondern actuelle Einheit – nicht bloß im Nichtwollen Eins – sondern auch im Wollen – im wirklichen Auseinanderhalten der Potenzen.« (AA II/10,1, 349f.)
56 Christian Danz liest die Gottheiten von Samothrake in Weiterführung der identitätsphilosophischen Methode, vgl. ders., Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst. – Es kann hier nicht der Ort sein auszuführen, inwiefern die Systemkonzeption von 1815 sich von derjenigen der Identitätsphilosophie doch wieder unterscheidet. Kern aber dieses Unterschiedes ist ein neu gefasstes Verständnis von Endlichem als Unendlichem, das in seiner Lebendigkeit begriffen wird. Es führt auf eine neue Form tragischer Ewigkeit, die in den folgenden Überlegungen zu den Initia mitbedacht wird. Die Kabiren als System sind insofern mit diesem philosophischen System kompatibel, als sie die tragische Absolutheit inkorporieren. 57 Vgl. zur Rekonstruktion der samothrakischen Gottheiten anhand der Potenzenlehre a. a. O., 194–196. 58 F.W.J. Schelling, Initia philosophiae universae, in: AA II/10, hier: AA II/10,1, 350. 59 Vgl. SW VIII, 358–361, bes. 359. 60 Vgl. a. a. O., 398f. und die Ausführungen unter 1. in diesem Aufsatz.
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Axieros als –A0 wird also dem Demiurgen als +A0 entgegengestellt. Beide sind jedoch auch verbunden, wobei im Unterschied zu den Gottheiten von Samothrake die Magie nicht unmittelbar auf die gesamte Götterreihe bezogen wird. Durch die Ineinssetzung von Magie und Potenzialität wird die Aktualität noch von diesen unterschieden. Diese Magie versiegt jedoch nicht, sondern insofern die höhere Einheit des +A0 ›nicht bloß‹ diese Magie besitzt, kann sie auch weiterhin als magisch begriffen werden. Bedeutsam ist allerdings, dass das Leben als ›auflöslich‹ und ›unauflöslich‹ verstanden wird.61 Wir sehen hier, wie Schelling seine Formeln und mithin seine Philosophie lebendig zu machen sucht und erklären möchte, wie sein System als ein Lebendiges zu verstehen ist. Bereits in den Gottheiten von Samothrake war Axieros die Gottheit, die durch ein unablässiges Sehnen gekennzeichnet war.62 Dieses zersetzende Element wird in den Initia systematisch ausgeweitet. Vorlesungsstunde um Vorlesungsstunde geht es bei Schelling in den Initia immer wieder um diesen Gedanken eines sich verändernden Lebens, eines Potenziellen, das sich in immer neuen Formen und auch Formen der Einheit gebiert. Allerdings stellt sich jede vermeintliche Aktualisierung und eben auch diejenige des +A0 als trügerisch heraus, die Unauflöslichkeit vermag doch wieder zu zerfallen. Ein Funken Magie bleibt erhalten, der gleichsam die Reihe der Potenzialität immer wieder aufs Neue entfacht. Ausdruck dieses Potenziellen ist auch schon in den Gottheiten von Samothrake die schier unendliche Fülle von Namen, die uns Schelling anbietet. Dieser Vielnamigkeit verleiht Schelling auch noch in Erlangen Ausdruck, wobei er sie nicht nur allein abstrakter, sondern tragisch begreift, als eine Vielnamigkeit, der wir nicht entrinnen können:
61 Vgl. zum unauflöslichen Leben auch a. a. O., 259: »Wir wissen von keinem als einem lebendigen Gott, jener Zusammenhang seines höchsten geistigen Lebens mit einem natürlichen ist das Urgeheimniß seiner Individualität, das Wunder des unauflöslichen Lebens, wie bedeutungsvoll einer der Apostel sich ausdrückt«. – Instruktiv nicht nur für Schellings Verwendung des Begriffes, sondern etwa vielleicht auch für die mögliche Siebenzahl samothrakischer Gottheiten (vgl. a. a. O., 367) ist F.C. Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, Teil 1, hrsg. v. G. Schäfer, Berlin/New York 1999, 331: »Unauflößlich, Akatalytos / Ist ein hoher Name GOttes und zeigt an, daß verschiedene Kräften in GOtt seyen in einem einigen Band. Es ist ein Haupt-Wort neuen Testaments, darauf man nicht achtet, wegen der Schul-Begriffe von GOtt. […] Daraus folget schlußmäßig: / 1) Daß in allem Leben ein Band verschiedener Kräften als der 7 Geister seyen. / 2) Daß diese Kräften in GOtt nicht getrennet werden können. / 3) Daß GOtt diese Unauflößlichkeit der Kräften keiner Kreatur mittheilen könne, und daß sie GOtt allein zukomme. / 4) Daß die Kräften im Geschöpf zertrennlich seyen von innen durch Mißbrauch der Freiheit, nicht aber von aussen (Matth. 10,28). / 5) Daß in dieser Zertrennlichkeit der Kräften der Grund zur Möglichkeit des Falls, daß der Philosophen Begriff von der Endlichkeit nichts tauge.« 62 Vgl. SW VIII, 349–354.
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»Wir möchten gern jenes Potentielle nicht setzen. Denn es ist das nicht Auszusprechende – es ist das vielnamige Wesen – die πολυωνυμος θεα der Alten – es ist nicht das seyn K[önnen] und ist es doch auch nicht nicht (nicht von ihm auszuschließen), wir können es also weder das seyn K[önnen] nennen noch das nicht seyn K[önnen] – es ist nicht das seyn M[üssen] und es ist auch nicht p Ebenso nicht das seyn Soll[en]. Bey keinem dieser Namen können wir es nennen – und wenn wir nun endlich glauben es die Einheit von dem allem, A0 nennen zu können, so verschwindet uns auch dieses wieder. Wir lieben aber nicht das nicht Auszusprechende, Vielnamige, sondern was wir aussprechen und mit einem bestimmten Namen nennen können. Wir möchten gern’ gleich das setzen, was nur Einen Namen hat, bey dem es genannt wird. Aber wir können nicht […] Wir lieben ebenso das Einfältige – nicht das Vielfältige. Also es ist nicht unser Wille, jenes vielfältige Wesen zu setzen, jene παναιολος ϕυσις der Alten – die bunte vielfarbige Natur – zufolge des Ueberbegriffs von αιολος aber auch die täuschende, unbeständige, unzuverlaeßige Natur, auf die man sich nicht verlassen kann, weil sie einem, eh’ man sich’s versieht, unter der Hand zu etwas andrem wird.« (AA II/10,1, 351f.)
Auf die hier beschriebene Weise geht also für Schelling diese Suche nach etwas, das nicht potenziell ist, eine Suche durch ungewollte Vielnamigkeit und Vielfältigkeit immer weiter. Jede Identitätsstiftung durch einen Namen wird permanent untergraben und dies nicht etwa durch einen bewussten Prozess, sondern ›unter der Hand‹, also gegen die vermeintlich festen Regeln, die den Prozess des Seins und des Wissens gestalten. Ganz im Gegensatz zu der Bekundung, das ›Vielnamige nicht zu lieben‹ sucht Schelling diese Vielnamigkeit in allen ihren theoretischen Formen durchzudeklinieren. Auch etwa das eben in rein theoretischer Hinsicht benannte +A0 als aktueller Einheit gegenüber einer potenziellen Einheit vermag sich letztlich nicht als aktuelle Einheit zu begreifen, obwohl Schelling es zunächst explizit als ›aktuelle Einheit‹ benennen zu können meint. Diese Aktualität verfällt selbst wieder dem Sog des Potenziellen.63 Die Ursache für diesen permanenten Rückfall in die Unsicherheit, ins Potenzielle, ins Mögliche beschreibt Schelling schließlich dann in einer späteren Vorlesungsstunde doch noch eindeutig mit den Gottheiten von Samothrake: »Der Name der ersten unter den samothrakischen Gottheiten drückt nach meiner Überzeugung nichts andres aus als eben diesen Begriff des Hungers, der Armuth, dieses Aushalten im reinen Können, diß ruhende Feuer (denn alles Können ist verzehrend, so wie es wirkend wird) – also dieser innre, nicht verzehrend hervortretende Brand, ewiges Können wo nur die reinsten Seelen selig sind«. (AA II/10,1, 377)64
Diese Potenzialität lässt sich nicht aktualisieren, sondern nur als Form von Ewigkeit in ihrer Permanenz akzeptieren. Sicherlich versucht Schelling eine tatsächlich wahre Einheit auf der Grundlage dieser Potenzialität ins Werk zu setzen. Die von ihm entwickelte Potenzialität, die sich in der Vielnamigkeit 63 Vgl. etwa AA II/10,1, 440. 518. 64 Vgl. SW VIII, 351f. und die dazugehörigen Anmerkungen a. a. O., 377–379.
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ausdrückt, erlangt aber eine Stärke, die sich den Versuchen der Selbstermächtigung wahrer Einheit letztlich entzieht. Der ›Hunger‹ von Axieros ist gleichsam unersättlich und unstillbar. Erst spätere Versuche Schellings, die nach der Erlanger Philosophie anzusetzen sind, vermögen eine weniger starke Potenzialität zu entwickeln, die tatsächlich eine ungefährdete Einheit und mithin Gott zuzulassen vermag. Für Überlegungen zur Konstitution des christlichen Gottes empfiehlt sich die spätere Philosophie daher weit eher als die Weltalter- und Erlanger Philosophie. Kommen wir abschließend auf die Gottheiten von Samothrake zurück, die wie ein Fanal die Systemkonzeption der Initia und insbesondere das glorifiziert Barbarische an diesen vorwegnehmen. Nachdem Schelling die aufsteigende Reihe von Axieros bis zum Demiurgen durchgegangen ist,65 fügt er einige allgemeinere Anmerkungen an. Interessant ist dabei eine etwas unscheinbare Anmerkung, die sich vordergründig mit der Quellenkritik des frühen phönizischen Geschichtsschreibers Sanchuniathon beschäftigt: »Doch ist vielleicht folgende Bemerkung an ihrer Stelle. Sanchuniathon erklärt sich als Feind jeder tieferen, wie er sie nennt, allegorischen, oder wie man heutzutage sagen würde, mystischen Bedeutung, als Eiferer für den rohen buchstäblichen Verstand der alten Göttergeschichten, die bei ihm völlig verwildert erscheinen. So roh und ohne alle Ahndung tieferen Verstands treiben sich in seinem wunderlichen Chaos auch die Trümmer um, von denen wir hier reden wollen.« (SW VIII, 398)
Wir finden hier schon eine inhaltliche Vorwegnahme des später von Coleridge geprägten Begriffs der ›Tautegorie‹, den Coleridge anhand der Gottheiten von Samothrake entwickelte und den Schelling dann wiederum für sich vereinnahmen sollte.66 Schelling lehnt wie Sanchuniathon die allegorischen und derartigen Auslegungen von Mythen ab. Nicht allein im Anerkennen und Erfassen des Rohen, des ›rohen buchstäblichen Verstehens‹ sieht Schelling seine Aufgabe, sondern indem er dieses begreift und einordnet; die Trümmer, das Rohe und Barbarische sind die Stacheln seiner Systemkonstruktion. Kant hatte bekanntlich »einen Thurm im Sinne […], der bis an den Himmel reichen sollte«, sich aber dann doch mit dem »Wohnhaus« beschieden, weil der »Vorrath der Materialien«67 keine größeren architektonischen Eskapaden zuließ. Schelling indes sieht überall in Natur, Kunst und Geschichte genügend brauchbares Material, das frühere ›Bauvorhaben‹ zerstört zurückließen. Er will die ›Trümmer‹, von denen er so oft spricht, rektifizieren, ein Gebäude oder eben 65 Vgl. a. a. O., 361 und die Ausführungen unter 1. 66 Zu Schellings Vereinnahmung von Coleridge vgl. SW XI, 196. Vgl. zum Verhältnis dieses Essays von Coleridge zu Schellings Gottheiten von Samothrake und seiner Philosophie der Mythologie D. Hedley, Living Forms of the Imagination, London 2008, 120–124. 67 I. Kant, KrV B, in: AA III, hier: 465.
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System aus ihnen schaffen. Dass sich aber mit Trümmern allein nicht bauen lässt, wissen wir und weiß auch Schelling. Nur geht Schelling diesen offenen Widerspruch ein, er baut und reißt ein, er baut und baut wieder. Wir wissen, dass er am Ende nicht fertig geworden ist und, so scheint es, auch nicht fertig werden konnte.
Mathias René Hofter
Schelling und die Ägineten. Sein Beitrag zur Entdeckung der archaischen griechischen Kunst
Johann Martin Wagner, der Kunstagent Kronprinz Ludwigs von Bayern, hatte sich in Griechenland nur ein Bild anhand der Abgüsse der Skulpturen von Ägina im Haus des französischen Vizekonsuls Louis-François-Sébastien Fauvel in Athen machen können,1 die jedoch ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlten. Am 9. März 1813 schrieb er an Ludwig: »Die Körper […] geben ein Muster einer schönen Natur ohne Ideal […]; ich kenne im Reiche der Sculptur kein antikes Werk, mit welchen ich diese Statuen in dieser Hinsicht vergleichen könnte; […] Die Köpfe sind beynahe ohne Ausdruk, und eine Mischung des altgriegischen, oder sogenanten Hetrurischen, mit dem egiptischen Styl, aus welchem ersterer entsprungen. […] Die Bekleidung, Waffen Helme etz. sind mit der äusersten Sorgfalt, und, wie es scheint, ganz nach der Natur gemacht, und zwar mit der grösten Gewissenhaftigkeit. […] Würde Winkelman diese Werke gesehen habe[n] er hätte wenigstens 2 Foliobände darüber geschrieben.«2
In Rom wurden die Skulpturen 1815–1817 durch Bertel Thorvaldsen unter Wagners Aufsicht ergänzt,3 wobei er die Skulpturen ausführlich studieren konnte. Seine Beobachtungen fasste er 1816 in einer ausführlichen Beschreibung und kunstgeschichtlichen Würdigung für Ludwig zusammen,4 und dieser ordnete an, sie als Monographie zu publizieren. An diesem Punkt kam nun Schelling ins Spiel, dem Ludwig Wagners Manuskript zu lesen gegeben hatte. Dieser war sogleich sehr angetan und Ludwig trug ihm auch die Redaktion auf. Damit begnügte sich der Philosoph aber nicht, sondern steuerte seinerseits einen um1 Zur Entdeckung und zum Ankauf der Skulpturen von Ägina vgl. den Beitrag von Astrid Fendt in diesem Band. 2 Vgl. M. Baumeister/H. Glaser/H. Putz, König Ludwig I. von Bayern und Johann Martin von Wagner. Der Briefwechsel I, München 2017, Dok. 165. 3 Vgl. R. Wünsche, Kampf um Troja. 200 Jahre Ägineten in München, Lindenberg 2011, 57–143; M. Baumeister/H. Glaser/H. Putz, König Ludwig I. von Bayern und Johann Martin von Wagner. Der Briefwechsel II (im Druck), ad indicem. 4 Vgl. J.M. Wagner, Beschreibung, der im Jahre 1811 auf der Insel Aegina endekten plastischen Kunstwerke, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Geheimes Hausarchiv, NL Ludwig I., I A 34 IV, o.Nr., o.D.; vgl. Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel II, Dok. 246.
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fangreichen Kommentar bei. Die Wege Schellings und Wagners hatten sich bereits 1804 gekreuzt, ohne dass sie sich selbst begegnet waren. Wagner hatte mit seinem Gemälde Rat der Helden vor Troja eine Preisaufgabe der Weimarer Kunstfreunde gewonnen, und Goethe veranlasste Schelling,5 dem jungen begabten Maler eine Professur für Höhere Zeichenkunst an der Universität Würzburg zu verschaffen. Während seines Münchener Aufenthalts 1808–1810 hatte er Schelling auch persönlich kennengelernt und zwischen beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft, die auch nach Wagners endgültiger Übersiedlung 1810 nach Rom andauerte.6 So schlug Schelling als eine seiner letzten Amtshandlungen als Generalsekretär der Bayerischen Akademie der Künste 1823 Wagner als seinen Nachfolger vor.7 ›Zwei Foliobände‹ kamen bei dem Gemeinschaftswerk nicht zustande, aber 1817 erschien dann bei Cotta ein immerhin 246 Seiten starker Oktavband,8 die erste monographische Abhandlung über die archaisch-griechische Kunst überhaupt. Zum besseren Verständnis soll jedoch zunächst kurz skizziert werden, welche Vorstellungen von der vorklassischen griechischen Kunst in der Kunstdiskussion am Beginn des 19. Jahrhunderts herrschten.9 Der antiken Kunstliteratur (Diodor, Strabon, Pausanias, Cicero, Plinius, Quintilian) waren von der griechischen Kunst des 5. und 4. Jhs v. Chr. unterschiedene Kunstformen durchaus präsent. Sie galten als altertümlicher und ›primitiver‹ und wurden entweder mit den Ägyptern, den Etruskern oder mit der eigenen Frühzeit verbunden, für die der mythische Bildhauer Daidalos stand. Die antiquarische Literatur des 18. Jahrhunderts bezog diese Textstellen dann auf die archäologische Überlieferung. Der Florentiner Jurist und Senator Filippo Buonarroti,10 ein Urgroßneffe Michelangelos, verfasste 1728 Ad monumenta etrusca 5 Vgl. J.W. v. Goethe an F.W.J. Schelling am 29. 11. 1803 (G.L. Plitt (Hrsg.), Aus Schellings Leben. In Briefen, Bd. 2, Leipzig 1870, 6–8). 6 Der Briefwechsel ist z. T. publiziert in G.L. Plitt (Hrsg.), Aus Schellings Leben. In Briefen, 3 Bde., Leipzig 1869f.; H. Fuhrmans (Hrsg.), F.W.J. Schelling. Briefe und Dokumente 1803– 1809, Bonn 1975. Weitere Briefe Schellings in Würzburg finden sich im Martin-von-WagnerMuseum, Wagnerarchiv, Fasz. IV, fol. 13–47. 7 Vgl. Aus Schellings Leben, Bd. 3, 15. 8 Vgl. J.M. Wagner/F.W.J. Schelling, Bericht über die Aeginetischen Bildwerke im Besitz des Kronprinzen von Baiern, Stuttgart/Tübingen 1817 = F.W.J. Schelling, Kunstgeschichtliche Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, in: SW IX, 111–206. 9 Vgl. G.W. Most, Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg, in: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, hrsg. v. B. Seidensticker/M. Vöhler, Stuttgart/ Weimar 2001, 20–39; A. Lange, Die Entdeckung der Archaik. Ein ungeschriebenes Kapitel Wissenschaftsgeschichte, Diss. Berlin 2017, https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/18444 (20. 1. 2020); Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel I (2017), CLIII–CLXI. 10 Vgl. http://www.treccani.it/enciclopedia/filippo-buonarroti_res-21f8b7cf-87e9-11dc-8e9d-0 016357eee51_ (Dizionario-Biografico)/ (6. 3. 2020).
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operi dempsteriano addita explicationes et conjecturae, ein archäologischer Kommentar zu De Etruria Regali, einer postum herausgegebenen Geschichte der Toskana des Schotten Thomas Dempster.11 Der Traktat war mit 93 Kupfertafeln üppig illustriert und behandelte in der Tradition des barocken Antiquarianismus die ›mores et instituta‹ der Etrusker. Für diese wurde außer den antiken Schriftstellern auch die von Dempster ignorierte monumentale Überlieferung herangezogen.12 Den durch Quintilian13 belegten altertümlichen »härteren« Stil der etruskischen Bildwerke meint er an einer reliefverzierten silbernen Amphora14 und zwei Grabstelen15 feststellen zu können, des Weiteren an der berühmten Chimaira von Arezzo,16 ›vetustissimi operis‹. Dies bezeuge die Geschicklichkeit der etruskischen Bronzebildhauer bereits zu einer Zeit, als die Griechen nur Sphyrelata, Bildwerke aus roh zusammengenieteten Bronzeblechen zustande gebracht hätten. Dies belegt den Ehrgeiz des Florentiners, die Verdienste seiner antiken Landsleute ins gehörige Licht zu rücken; so seien die etruskischen Bildhauer auch keineswegs auf der primitiven Stufe stehen geblieben, sondern manche ihrer Bildwerke, zum Beispiel der ›Arringatore‹,17 hätten »jene [nach Plinius] von Lysipp erdachten Proportionen, der kleinere Köpfe und grazilere Körper verfertigte, wodurch die Bildwerke schlanker erschienen«.18 Hiermit ist die Grundlage zu dem ›Griechenstreit‹ um die Superiorität und Anciennität der griechischen oder der etruskisch-römischen Zivilisation gelegt, der die nächste Generation von Kunstschriftstellern, Pierre-Jean Mariette und AnneClaude-Philippe Comte de Caylus auf der einen, Giovanni Battista Piranesi auf der anderen Seite aneinander geraten ließ.19 Unter Mitwirkung Buonarrotis wurde 1728 die Accademia Etrusca di Cortona gegründet, deren erster ›Lucumo‹ (Vorsitzender) er war. Nach seinem Tod 1733 wurden seine etruskologischen Forschungen von dem Florentiner Dompropst Antonio Francesco Gori fortgesetzt, der weitere etruskische Denkmäler in seinem dreibändigen Museum Etruscum20 abbildete. Er nahm eine Spekulation Dempsters von einer ägyptischen Herkunft der Etrusker wieder auf, die einmal mehr deren Anciennität 11 Vgl. T. Dempster, De Etruria regali libri VII. Nunc primum editi curante Thoma Coke 1–2, angebunden: F. Buonarroti, Ad monumenta Etrusca operi Dempsteriano addita explicationes et conjecturae, Florenz 1723f. 12 Vgl. Vf., Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Begründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäologie, Ruhpolding 2008, 93f. 13 Vgl. Quint. Inst.or. 12,10,7; Buonarroti, Monumenta Etrusca, 74. 14 Vgl. a. a. O., 75f., Taf. LXXVIIf. 15 Vgl. a. a. O., 76, Taf. LXXII, 2, 3. 16 Vgl. a. a. O., 74, Taf. XXII. 17 Vgl. a. a. O., 74, Taf. XL. 18 Vgl. a. a. O., 74; Plin., n.h. 34,8. 19 Vgl. Vf., Sinnlichkeit, 97. 162. 20 A. F. Gori, Museum Etruscum exhibens insignia veterum Etruscorum monumenta I–III, Florenz 1737–1743.
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gegenüber Griechen und Römern betonen sollte.21 Diese versucht er auch archäologisch an einem Bronzeidol zu belegen,22 dessen undifferenzierte Augendarstellung er auf eine Nachricht Diodors23 bezieht, nach der Daidalos der erste gewesen sei, der die menschliche Figur mit offenen Augen dargestellt habe; die ältesten etruskischen Bildwerke seien also noch älter als die des Begründers der griechischen Skulptur. Als weitere Argumente für die Verbindung EtrurienÄgypten dienten Gori die Siegelsteine in Form von Skarabäen24 und die Sitte, die Inschriften direkt auf den Figuren anzubringen.25 Die von Gori skizzierte Ätiologie wurde im monumentalen siebenbändigen Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines des Comte de Caylus26 weiter ausgebaut sowie mit zahlreichen Denkmälern der Kleinkunst illustriert, vor allem aus der Sammlung des Grafen selber. Er konstruierte eine Abfolge der ägyptischen, etruskischen, griechischen und römischen Stile, die wie in einem Staffellauf ineinander greifen und sich jeweils inspirieren; in der griechischen Kultur erfahren sie ihren Höhepunkt, in der römischen ihren Verfall.27 Sein Modell einer kommunikativ vermittelten kulturellen Entwicklung weist über den Horizont des 18. Jahrhunderts hinaus, anhand des zeitgenössischen Kenntnisstandes gelang es jedoch nicht, es plausibel zu machen. Caylus’ Belege eines derartigen Kulturtransfers sind gezwungen und willkürlich, abgesehen davon, dass ein solcher von Ägypten nach Etrurien und von dort nach Griechenland historisch nicht nachvollziehbar ist. Außerdem führte die Ähnlichkeit des älteren griechischen Stils mit dem etruskischen und ägyptischen zu vielen, allerdings eingestandenen Unsicherheiten in der Zuschreibung einzelner Denkmäler.28 Abhilfe schaffte hier der Theatinerpater Paolo Maria Paciaudi, Korrespondenzpartner Winckelmanns wie des Grafen Caylus; er publizierte 1761 in seinen Monumenta Peloponnesia den Kupferstich eines kleinen Bronzekouros mit der griechischen Weihinschrift eines Polykrates,29 womit der ältere Stil auch für die griechische Kunst archäologisch gesichert war. Paciaudi wiederum leitete den älteren griechischen Stil direkt aus dem ägyptischen ab.
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Vgl. Gori, Museum Etruscum II, XLVII. Vgl. a. a. O., 32, Taf. 9,2. Vgl. Diod., 4,76. Vgl. a. a. O., 431, Taf. 198, V. Vgl. a. a. O., 256. A.C.P. de Caylus, Recueil d’Antiquités Egyptiennes, Etrusques, Grecques et Romaines 1–7, Paris 1752–1767; vgl. Vf., Sinnlichkeit, 100–105. 27 Vgl. Caylus, Recueil 1, IXf. 28 Vgl. Caylus, Recueil 3, 25f., Taf. 5, 4. 5. 29 Vgl. P.M. Paciaudi, Monumenta Peloponnesia commentariis 1–2, Rom 1761, 50–52; J.J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Teil 2: Katalog der antiken Denkmäler, Mainz 2006 (Schriften und Nachlaß, Bd. 4,2), 248, Nr. 545.
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Alle diese Arbeiten waren Johann Joachim Winckelmann bestens bekannt und er setzte sich mit ihnen in seiner Geschichte der Kunst des Altertums intensiv und auch polemisch auseinander. Insbesondere verwarf er das Transfermodell von Caylus und vertrat eine streng materialistisch-mechanistische Ätiologie der bildenden Künste auf der Grundlage aufklärererischer Milieu- und Klimatheorien.30 Die physische und charakterliche Konstitution der Menschen und damit das Gedeihen und der Aufstieg der Künste sei von den äußeren Umständen des Klimas und der politischen Konstitution abhängig; wenn das Klima in der Mitte zwischen zu heiß und zu kalt sich bewege und die Verfassung des Gemeinwesens sich freiheitlich gestalte, könne sich die Kunst nur zu ihrer höchsten Blüte entwickeln, was unter dem ›wollüstigen griechischen Himmel‹ in den demokratisch verfassten Stadtrepubliken dann auch der Fall gewesen sei. Das Nichterreichen der Perfektion vergleicht er mit dem verhinderten Wachstum einer Pflanze wie zum Beispiel »durch den Wurm«:31 So habe in Ägypten das heiße Klima und die Despotie der Priesterkaste die Kunst nie über die abstrakte ikonische Chiffre hinausgelangen lassen.32 Die Etrusker hatten es besser: Das kühlere Klima und die republikanische Verfassung ließen die Kunst zumindest zur Richtigkeit in der Zeichnung und Anatomie reifen, sie neigte jedoch zu Härte und Überbetonung der Details, und die vollkommene Schönheit blieb außerhalb ihrer Reichweite.33 Diese Umstände seien außerdem schuld an dem melancholischen Charakter der Etrusker mit ihrem Hang zu grausamen Gladiatorenspielen und furchteinflößenden Jenseitsvorstellungen gewesen. Beide Aspekte, die Überbetonung der Anatomie und den Hang zur Melancholie illustrierte Winckelmann am Beispiel des spätgeborenen Tuskaners Michelangelo.34 Allein der griechischen Kunst jedoch war es durch die günstigen klimatischen und politischen Umstände vergönnt, zu den höchsten Begriffen der Schönheit vorzustoßen: dem ›hohen Stil‹ oder der ›erhabenen Grazie‹ der Bildhauergeneration des Polyklet und Phidias, und dann zum ›schönen Stil‹ oder der ›gefälligen Grazie‹ des Lysipp und des Praxiteles. Die Attribute ›hoch‹ bzw. ›erhaben‹ verweisen zugleich auf die ethische Qualität des Sujets während die ›gefällige Grazie‹ des ›schönen Stils‹ dagegen seinen sinnlichen, durchaus auch erotischen Reiz bezeichnet. Dieses Entwicklungsschema liegt auch noch – mit Retuschen und Erweiterungen – Schellings Überlegungen zugrunde. Konsequent im Sinne seines autochthon-homologen Wachstumsmodells der Kunst forderte Winckelmann für die frühgriechische Kunst eine ›ägyptische‹ und 30 Vgl. Vf., Sinnlichkeit, 162–165. 31 J.J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Teil 1, [Erste Auflage Dresden 1764, Zweite Auflage Wien 1776], Mainz 2002 (Schriften und Nachlaß, Bd. 4,1), 5. 32 Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 58–63; Vf., Sinnlichkeit, 215–217. 33 Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 136–141; Vf., Sinnlichkeit, 218–221. 34 Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 244f.; Vf., Sinnlichkeit, 220f.
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eine ›hetrurische‹ Phase, die dem früh- und hocharchaischen Stil und dem ›strengen Stil‹ der griechischen Kunst entsprächen.35 Allerdings bringt ihn diese Unterstellung der Homologie der Stilentwicklung in äußerste Schwierigkeiten: er hat nämlich kein Kriterium zur Unterscheidung zwischen archaisch-etruskischer und archaisch-griechischer Kunst.36 Dies Problem verfolgte ihn bis ans Ende seines Œuvres, so dass er mehrfach seine Meinung zu Zuschreibungen änderte, ohne einen methodischen Fortschritt zu erzielen. Feste Anhaltspunkte waren eigentlich nur mit Inschriften versehene Monumente wie der schon erwähnte Kouros des Polykrates, die sizilischen Münzen37 und diejenigen Athens des älteren Stils,38 auf der anderen Seite die etruskischen Gemmen. Dies waren zugleich die einzigen ihm bekannten originalen Überlieferungen archaischer Kunst; alle anderen von ihm angeführten Monumente sind römisch-kaiserzeitliche Imitationen archaischen Stils, für die er ebenfalls noch kein Unterscheidungskriterium hatte. Allerdings war ihm anhand des ›Kitharoidenreliefs‹ aufgrund der Darstellung eines Tempels korinthischer Säulenordnung die Möglichkeit der späteren Nachahmung eines älteren Stils präsent.39 Winckelmanns Modell einer homologen Entwicklung hatte zweifellos den Vorteil, dass es vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Kenntnisstandes problemloser funktionierte, während Caylus’ Transfermodell historische Belege voraussetzte, die zu dieser Zeit noch nicht zugänglich waren. Jedoch blieb die Gelehrtenwelt in der Nachfolge Winckelmanns angesichts dieser unterschiedlichen Optionen gespalten. Johann Heinrich Meyer, einer der Herausgeber der Dresdener Ausgabe von Winckelmanns gesammelten Werken, referierte zwar dessen Modell, erwog aber dann als Erklärung für die Ähnlichkeit von archaisch griechischer und etruskischer Kunst die Inspiration letzterer durch erstere.40 Und mit der zunehmenden Kenntnis der griechischen und ägyptischen Kunst sowie derjenigen des Alten Orient verschob sich das Gewicht zugunsten der Hypothese des Grafen Caylus. Dies war der Diskussionsstand, als Wagner in die Auseinandersetzung mit antiker Kunst eintrat, der ihm vertraut war, wie die eingangs zitierte Briefpassage belegt. Nun sind die Giebelskulpturen von Ägina nicht nur die ersten Beispiele monumentaler archaisch-griechischer Marmorskulptur, die zur Kenntnis gelangten, sondern auch von außerordentlicher bildhauerischer Qualität. Wagner wusste nicht nur die minutiöse Ausarbeitung und Bemalung zu würdigen, die auf 35 36 37 38 39 40
Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 10–13. 16–19. Vgl. Vf., Sinnlichkeit, 219–225. 233. Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 426f.; Denkmäler, Bd. 4,2, 507, Nr. 1228. Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 432f. 622f.; Denkmäler, Bd. 4,2, 493, Nr. 1181. Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 384f. 441. 466. 468; Denkmäler, Bd. 4,2, 365, Nr. 846. Vgl. J.J. Winckelmann, Werke, hrsg. v. C.L. Fernow/H. Meyer/J. Schulze, Dresden 1809, 423– 425. (Meyer).
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allen Seiten gleichermaßen sorgfältig ausgeführt ist, egal ob sie in der Höhe des Giebels sichtbar waren oder nicht. Kolossal beeindruckt zeigte er sich auch von der subtilen Statik und der ausgewogenen Balance der Figuren, die zum Teil mit den schweren Schilden aus einem Stück gearbeitet waren und dennoch weder durch zusätzliche Marmorstützen gesichert noch mit der Giebelrückwand verklammert waren.41 Die verbreitete Gleichsetzung des »altgriechischen« mit dem »hetrurischen« (SW IX, 119) sowie dessen Ableitung aus dem ägyptischen Stil42 übernahm er, ohne sie weiter zu problematisieren. Bei der Interpretation ›Ueber den Styl der Figuren‹ tun sich für den an den akademischen Kategorien von Perfektionsideal und Naturnachahmung geschulten Künstler jedoch bezeichnende Schwierigkeiten auf. Einerseits stellt er fest dass »in allen Theilen des Körpers, die Köpfe ausgenommen, […] die treueste Nachahmung der Natur […] ohne die geringste Spur vom Idealen, oder einem Bestreben, die Natur […] idealisieren zu wollen« herrsche. Sie sei »nicht mager, holzig oder wissenschaftslos, wie man zu manch anderen frühern Werken der alten und neuen Kunst zu finden gewohnt ist, sondern es ist eine wohlverstandene Nachahmung der schönen Natur, vereinigt mit der vollkommensten Kenntnis der Knochen und Muskeln.« (SW IX, 148) Andererseits könne er »sie nicht ganz frey von einem gewissen Anschein von Steifheit sprechen«; darin glichen sie der Auffassung des italienischen Tre- und Quattrocento.43 Hingegen seien die Gewänder »ganz conventionell […] Die Falten fallen nicht natürlich, sondern sind künstlich gelegt und gepreßt; und endigen sich […] mit im Zickzack laufenden Enden«. So seien sie »hinlänglich aus den altgriechischen und den sogenannten hetrurischen Kunstwerken« bekannt. Trotz aller Konventionalität seien sie »mit einem außerordentlichen Geschmack« und »unglaublichem Fleiße« (SW IX, 149) ausgeführt. Noch deutlicher empfindet er die Diskrepanz hinsichtlich der Gestaltung der Köpfe: »sie scheinen in Hinsicht […] des Styles um ein gutes Stück älter zu sey, als die übrigen Theile des Körpers«; man bemerkt an ihnen »jene früher eingeführte Form, von der man annehmen kann, dass die Griechen sie den Aegyptiern abgeborgt haben«. Die Augen seien »hervorliegend, […] in die Länge gezogen, mitunter etwas chinesisch gestellet«. Der Mund mit den hochgezogegen Mundwinkeln erwecke den »Anschein von lächelnder oder grinzender Miene«. »Von der Minerva an bis zum letzten der Krieger sehen sich alle ähnlich und scheinen insgesammt leibliche Brüder und Schwestern zu seyn, ohne den geringsten Ausdruck von Leidenschaft; zwischen Siegern und Besiegten, zwischen Gottheit und Menschheit ist nicht der geringste Unterschied zu bemerken.« (SW 41 Vgl. SW IX, 168f.; Vf., Technische Überlegungen zu den Giebelskulpturen des Aphaiatempels zu Aigina, in: From Hippias to Kallias. Greek art in Athens and beyond 527–449 bc., hrsg. v. O. Palagia/E. Sioumpara, Athen 2019, 206–217. 42 Vgl. SW IX, 118. 43 Vgl. a. a. O., 149.
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IX, 149f.) »Die Haupthaare sind […] ebenso conventionell […] und von dem natürlichen und ungekünstelten Schlag der Haare eben so weit entfernt, als etwa eine steife gepuderte Abaten-Perücke.« (SW IX, 150) Unnatürlich erscheint ihm auch der Fall der Haare in gleichlaufenden Linien, »in der Form dicker Bindfäden oder Maccaroni« und ihre Enden in kleinen schneckenförmigen Löckchen. Ebenso gekünstelt sei das Schamhaar behandelt: »nach einer gewissen Form geschnitten, und sehr sorgfältig gekräuselt und in regelmäßige Löckchen gelegt«. Eine Erklärung fällt ihm schwer, er versucht es mit einer realistischen: »daß es wirklich die Sitte der damaligen mit sich brachte, die Haare auf solche Weise zurecht zu machen«. Und die derart frisierten Schamhaare führt er darauf zurück, dass »die Jugend bey öffentlichen Feverlichkeiten, Spielen oder KampfUebungen nackt zu erscheinen hatte«. (ebd.) Diese realistische Erklärung versagt jedoch für die Diskrepanz der stilisiertkonventionellen Wiedergabe der Köpfe und der naturalistischen Auffassung der Körper, der er einen eigenen Abschnitt in dem Traktat widmet. Hier schlägt er eine entwicklungsgeschichtliche Erklärung vor: der Grund des Widerspruch sei »in der Zeit zu suchen […] als die Kunst […] anfing, sich von der ursprünglichen altväterlichen Form loszumachen, welche sich meiner Meinung nach noch von den Aegyptern herschrieb«. Er wendet sich jedoch gegen die Vorstellung – wohl orientiert an Platons restriktiven Regularien in der Politeia und den Nomoi – es habe eine Art Gesetz gegeben, das die Künstler auf die Befolgung fester Regeln bei der Gesichtswiedergabe festlegte. Er denkt eher an eine ungeschriebene Konvention: »Es war vielleicht […] ein noch zu großes Wagstück, diese von den Voreltern angeerbte, und durch Gewohnheit und Religion geheiligte Form abändern zu wollen«. »Wie sehr […] solche altväterlich und gothische Gesichter bey dem gemeinen Volk in Gnaden stehen, davon haben wir ja selbst bis auf die neueren Zeiten Beyspiele genug.« (SW IX, 165) Da die antike Kunstliteratur über die Kunst vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. wenig zu sagen weiß, hatte Wagner auch bei der Bestimmung der Entstehungszeit die allergrößten Probleme. Der Tempel des Zeus Panhellenios, als der der Aphaiatempel bis zur Auffindung einer Inschrift galt, war nach Pausanias44 von Aiakos, dem mythischen Urkönig Äginas erbaut worden; dieser sei ein Zeitgenosse des Minos von Kreta gewesen, mithin noch vor dem Troianischen Krieg anzusetzen. Eine solch frühe Datierung bezweifelt Wagner, denn vor Daidalos habe man nur rohe hölzerne Bildwerke mit geschlossener Schrittstellung und an den Körper gepressten Armen verfertigt. Technische Indizien für eine deutliche spätere Entstehung seien der Gebrauch des Bohrers, der (irrig) von dem Bildhauer Kallimachos zuerst in der Skulptur eingesetzt worden sei.45 Ferner die 44 Vgl. Paus. 2,30,3f. 45 Vgl. Paus. 1,26,7; SW IX, 170.
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Erfindung, den Marmor zu sägen und zu Dachziegeln zu verarbeiten, die auch bei dem Tempel gefunden wurden. Diese gehe auf die Zeiten des Alyattes von Sardeis (erste Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr.) zurück.46 Der antiquarische Befund der Waffen widerspreche außerdem den Beschreibungen bei Homer. Wegen der bemerkten Archaismen seien die Skulpturen noch vor Epoche der Vollkommenheit unter Perikles anzusetzen und somit noch vor den Perserkriegen.47 Dass es zwischen dem Ost- und Westgiebel auch stilistische Differenzen gibt, die heute allgemein einem Zeitabstand von circa zehn Jahren zugeschrieben werden,48 stellte Wagner erst später in einem Brief an Ludwig fest.49 Auch für die Deutung der Giebel sieht Wagner wegen der Unbestimmtheit der Attribute Probleme. Der Bogenschütze in orientalischer Tracht weise auf eine Auseinandersetzung mit Gegnern aus dem Osten, Persern oder Troianern.50 Erstere kämen aus chronologischen Gründen nicht in Betracht; dagegen habe sich Aias, der Enkel des Aiakos in den Kämpfen um Troia ausgezeichnet.51 Dem Löwenhelm des Bogenschützen im Ostgiebel misst er keine Bedeutung zu,52 jedoch ist er als einziges signifikantes Indiz auf Herakles zu beziehen, der mit Telamon, dem Sohn des Aiakos einen ersten Zug der Griechen gegen Troia unternommen hatte. Beide Bogenschützen sind außerdem technisch durch Metallappliken und Marmorintarsien sehr viel aufwändiger als die restlichen Figuren gestaltet und vor ihnen herausgehoben, sodass es sich um signifikante Protagonisten handeln muss, bei dem Orientalen im Westgiebel also um den troianischen Königssohn Paris.53 Die Abschnitte Wagners über Stil, Zeitstellung und Ikonographie der Skulpturen ergänzte Schelling mit Kommentaren, die Wagners Text an Umfang z. T. noch übertreffen. Er verfasste seine Bemerkungen allerdings ohne jede Anschauung der Skulpturen; an Abbildungen lag ihm nur eine Textvignette vor, die Quatremère de Quincy nach einer von Fauvel übersandten Zeichnung publiziert hatte,54 und deren Zuverlässigkeit Schelling selber nicht allzu hoch einschätzte.55 Leibhaftig sollte er die Skulpturen erst 1827 nach ihrem Transport nach München
46 Vgl. Paus. 5,10,3; SW IX, 170f. 47 Vgl. a. a. O., 170. 48 Vgl. Vf., Technische Überlegungen, 214f.; vgl. auch den Beitrag von Astrid Fendt in diesem Band. 49 Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel II, Dok. 298/B1. 50 Vgl. SW IX, 189. 51 Vgl. a. a. O., 189f. 52 Vgl. a. a. O., 187; Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel II, Dok. 302. 53 Vgl. Vf., Technische Überlegungen, 215f. 54 Vgl. A.C. Quatremère de Quincy, Le Jupiter olympien ou l’Art de la sculpture antique considéré sous un nouveau point de vue, Paris 1814, XXV. 55 Vgl. SW IX, 127.
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zu sehen bekommen; eine Schwäche, die er im Text auch eingesteht.56 Grundlage waren ihm allein Wagners Text und die ihm umfassend präsente antike Kunstliteratur sowie die zeitgenössische archäologische Diskussion: Winckelmann und die Kommentare der Weimarer Kunstfreunde in der Dresdener Ausgabe seiner Werke, Lessing57 und Quatremère de Quincy. Schelling bemüht sich, von der »aiginetischen Bildhauerschule«58 ein genaueres Bild aus den widersprüchlichen Angaben der antiken Schriftsteller zu gewinnen. Bei Pausanias tauchte die τέχνη oder ἐργασία Αι᾿γιναία regelmäßig als Synonym für eine besonders altertümliche Erscheinung der beschriebenen Kunstwerke auf,59 und nach Quintilian seien die »signa« des äginetischen Bildhauers Kallon »duriora et Tuscanicis proxima«.60 Winckelmann hatte daraus und aus einer Nachricht des Pausanias, dass der Äginete Smilis ein Zeitgenosse des Daidalos gewesen sei, geschlossen, dass die äginetische Schule eine der ältesten Werkstätten Griechenlands sei, die sich bis in das mythische Zeitalter des ersten Bildhauers zurückschreibe.61 Der ungewohnte, altertümliche Charakter der Skulpturen von Ägina bediente natürlich perfekt die durch die antike Literatur geweckten Erwartungen. Zunächst problematisiert Schelling die von Wagner unkritisch reproduzierte Ableitung der archaisch-griechischen von der ägyptischen Kunst;62 die Feststellung einer Ähnlichkeit sei vordergründig und banal,63 sie verstelle eher den Zugang zur jeweiligen Besonderheit der spezifischen Kunstform. Dieser eröffne sich aber schon durch eine kritische Lesung der antiken Schriftquellen, die durchaus zwischen ägyptischen, äginetischen und altattischen Werke zu unterscheiden wussten.64 Deswegen plädiert Schelling nachdrücklich, sich der »allgemeinen Benennung: altgriechischer Styl« zu enthalten, dagegen »ägyptischen, tyrrhenischen (hetrurischen) altattischen und äginetischen Styl nur immer bestimmt zu 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. G.E. Lessing, Vermischte Schriften 10, Berlin 1792. 58 E. Walter-Karydi, Die äginetische Bildhauerschule. Werke und schriftliche Quellen, Mainz 1987. 59 Vgl. a. a. O., 9. 60 Quint. Inst.or. 12,10,7; Walter-Karydi, Bildhauerschule, 13–18; Der Neue Overbeck. Die antiken Schriftquellen zu den bildenden Künsten der Griechen, hrsg. v. S. Kansteiner, Bd. 1, Berlin 2014, 205–210, Nr. 298–303. 61 Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 610f.; Paus. 7,4,4; Walter-Karydi, Bildhauerschule, 12f.; Der Neue Overbeck, 161f., Nr. 241–250. 62 Vgl. SW IX, 120–122. 63 »Unleugbar, ja nothwendig ist, daß das gegenseitig Unabhängigste und in der Folge Verschiedenartigste in den ersten Anfängen sich ähnlich ist; wie den Herr Quatremè-de-Quinzy ganz anmuthig bemerkt, daß die Samen einer Pflanze einander weit ähnlicher aussehen als die nachher aus ihnen erwachsenen Pflanzen.« (SW IX, 121) 64 Vgl. a. a. O., 122f.; Paus. 7,7,5; 1,41,5; Der neue Overbeck, 205–210, Nr. 241–250. 405–454, Nr. 489–533.
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unterscheiden«. (SW IX, 123) Zu dem angeblichen Zeitgenossen des Daidalos, Smilis von Aegina, meint Schelling feststellen zu müssen, dass Pausanias mit diesem »der äginetischen Kunst einen [von Daidalos] unabhängigen Stifter zuschreibt […] daß es also wohl überhaupt eine angenommen und geltende Meinung war, die äginetische Kunst sey nicht von der attischen abgeleitet […], sondern von derselben unabhängig und in ihren ersten Anfängen gleich selbständig mit ihr«. (SW IX, 124) Um die Eigenart der altäginetischen Bildhauerei genauer zu bestimmen versucht Schelling zunächst festzuhalten, welche Züge sie mit dem älteren Stil teilt: Härte des Stils, affektierte Mimik65 und eine ornamentale, unnatürliche Anlage der Gewandfalten und Haargestaltung.66 Demgegenüber problematisiert Schelling die von Wagner festgestellte Diskrepanz der naturalistischen Darstellungen der Körper und konventionellen Behandlung der Köpfe und Gewänder: »Entweder daß die äginetische Sculptur von dem trockenen, harten, einförmigen Styl der sogenannten hetrurischen Kunst sich erst später zum Naturgemäßen gewendet, oder daß sie schon von Anfang mehr als jene die Natur nachzuahmen gestrebt.« (SW IX, 153) Er sieht in der Charakteristik Quintilians67 keinen Widerspruch zur Naturwiedergabe, sondern Kallon habe möglicherweise »Härte und Steifheit mit treuer, aber ängstlicher, noch unsicherer, oder unlebendiger, Nachahmung der Natur […] verbunden«. (ebd.) Diese vordergründige Spitzfindigkeit löst sich auf, wenn man sich daran erinnert, dass Winckelmann den zweiten hetrurischen und zweiten älteren griechischen Stil genau so charakterisiert hatte: anatomische Genauigkeit ohne jede Idealität, dafür aber im Detail häufig überbetont. Aus der analogen Entwicklung der älteren Stile der ägyptischen, hetrurischen und griechischen Kunst zieht Schelling aber nun den Schluss, dass die altertümlichen ›primitiven‹ Züge allen älteren Werken der griechischen Kunst, also auch der altattischen, gemeinsam gewesen seien und fragt nach dem, was »diesen Werken [der äginetische Schule; M.H.] eine bestimmte ausgezeichnete und unverkennbare Physiognomie ertheilte, und die zugleich bey aller Veränderung immer dieselbe bleiben konnte«. (SW IX, 156) Aus Wagners Beschreibung ergebe sich nun, »daß jenes Charakteristische […] von Anfang an in nichts Anderm, als eben in dieser treuen und genauen Nachahmung der Natur bestanden habe«. (SW IX, 157) Dieses ›Alleinstellungsmerkmal‹ unterscheide sich aber grundsätzlich von einer »künstliche[n] Eigenthümlichkeit«, einer bloßen Manier, die, »je öfter oder länger gebraucht, desto stumpfer« (ebd.) würde während ein Streben zur Naturwahrheit immer mehr an Tiefe gewänne. Von den älteren attischen und 65 Vgl. SW IX, 155. 66 Vgl. a. a. O., 155f. 67 Vgl. Quint. Inst.or. 12,10,7.
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ägyptischen Werken, die nach einem bloß idealen Typus, einem »Systema von Regeln«68 verfertigt seien, seien die äginetischen Bildwerke durch eben diesen Naturalismus auf den ersten Blick zu unterscheiden gewesen, und exakt das habe Pausanias mit der τέχνη Αι᾿γιναία gemeint. Und darüber hinaus bezeichne diese Eigenart weder »die bloße Ausführung«, noch »ein bloß geistiges Prinzip«, sondern »Arbeit, die zugleich geistiger Art« sei. (ebd.) Schelling meint nun feststellen zu können, dass in der antiken Kunstliteratur von einem solchen Naturalismus bei der altattischen Kunst nie die Rede sei69 und dass diese auch schon vor Phidias allein das Idealische angestrebt habe. Als moderne Analogie führt er die unterschiedliche Entwicklung der Kunst des italienischen Quattrocento und der gleichzeitigen altflämischen Kunst an. Schelling geht sogar so weit, dass er den den Bewohnern Äginas von der antiken Literatur attestierten Gewerbefleiß mit dem der Niederländer in Analogie setzt.70 Wagners Beobachtung, die Naturnachahmung sei »nicht trocken, mager, wissenschaftlos, sondern wohlverstanden, gefühlt und mit großer Kenntnis verbunden« ist ihm ein zusätzliches Indiz dafür, dass die Künstler Äginas schon lange in diesem realistischen Stil geübt seien.71 Die Argumentation ist natürlich spitzfindig, denn der Naturalismus geht allein auf Wagners Beobachtungen, mitnichten aber auf die antike Kunstliteratur zurück; diese attestierte der äginetischen Skulptur die gleichen Defizite wie anderer ›vorklassischer‹ Plastik. Nach Schelling erkenne Wagner in den Skulpturen von Ägina bereits eine Tendenz zu der Größe,72 die die griechische Kunst dann endlich in der Skulptur des Phidias gewonnen habe; davon hatte man sich inzwischen anhand der ElginMarbles in London ein Bild machen können. Allerdings ist diese unterstellte Tendenz tatsächlich Schellings eigene Teleologie der in der Kunst realisierten Teleologie der Natura naturans, wie aus seiner Formulierung des Ideals deutlich hervorgeht. Er wendet sich gegen die verbreitete Auffassung eines Gegensatzes von Natur und Ideal: »Wir bekennen dagegen, daß wir uns diese vollendete Freyheit und Macht der Kunst nicht durch ein Ueberspringen oder Uebertreffen (welches blos auf Leerheit hinauslaufen würde), sondern nur durch eine Ueberwindung, Unterwerfung, und gänzliche Durchdringung der Natur denken können. […] [S]o ist es […] mehr als wahrscheinlich, daß eben die der Natur nacheifernde […] äginetische Kunst der altattischen den Weg zeigte, vom Abstracten zum Lebendigen, vom Systematischen zum Natürlichen; dass also die äginetische Kunst eigentlich jenes bisher vermißte Mittelglied ist zwischen dem ältern und […] dem […] mit Phidias entschiedenen, Style der Kunst.« (SW IX, 159f.) 68 69 70 71 72
Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 321–323. Vgl. SW IX, 157f. Vgl. a. a. O., 158. Vgl. a. a. O., 159. Vgl. ebd.
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Die Vereinigung des naturalistischen und des idealen Prinzips durch Phidias gipfelt in einer genuin Schelling’schen Formulierung, »dass die Nachahmung der Natur nur solange als solche erscheint, als sie nicht selbst zur Natur d. h. zum selbstständigen Können, mithin zur Kunst im höchsten Sinne geworden ist, da man beyde nicht mehr unterscheidet, und das Hervorgebrachte grade so viel der Natur als der Kunst angehört, weil Kunst Urkunst d. h. Natur, Natur Kunst geworden ist«. (SW IX, 161)
431 v. Chr. wurde Ägina von Athen erobert, der langjährigen Konkurrentin im Saronischen Golf und Widersacherin im Peloponnesischen Krieg. Seine Bewohner wurden vertrieben, und von äginetischen Künstlern, die nach diesem Zeitpunkt gearbeitet hätten, ist in der antiken Kunstliteratur nicht mehr die Rede. Diese Koinzidenz wird von Schelling für das Verschwinden der äginetischen Kunst verantwortlich gemacht, was natürlich naheliegt; er schließt jedoch noch eine weitere Hypothese an: »Allein, den Auswanderern folgte doch ihre Kunst überall hin, und gerade dieses Schicksal […] konnte […] das Mittel zur mächtigsten und allgemeinsten Verbreitung ihrer Eigenthümlichkeit werden. Dieses ist jedoch nicht geschehen«. (SW IX, 161f.) Den Grund dafür sieht Schelling darin, »daß die äginetische Kunst in der höheren, die durch Phidias erschaffen wurde, wirklich untergegangen, oder vielmehr zu einem geistigeren Leben erhoben wurde? Fortan gab es weder eine attische Kunst im alten Sinn, noch eine äginetische, sondern nur die Eine vollkommene, die sich mit unwiderstehlicher Gewalt bald über ganz Griechenland verbreitete.« (SW IX, 162)
Wagner vorsichtig tastenden und in ihren Schlussfolgerungen sehr allgemein gehaltenen Versuchen einer chronologischen Fixierung der Bildwerke lässt Schelling eine umständliche Digression zur Chronologie der Bildhauer aus Ägina folgen, in der er die antike Kunstliteratur kritisch diskutiert, da ihre Angaben nicht ohne Widersprüche sind. Diese Diskussion muss hier nicht interessieren; es sei nur en passant bemerkt, dass es bis heute nicht gelungen ist, einen der dort erwähnten Bildhauer mit der monumentalen Überlieferung zu verbinden. Als auch chronologisch letzten Bildhauer diskutiert Schelling einen gewissen Onatas,73 der noch nach 466 v. Chr. tätig war und den Pausanias besonders hervorgehoben hatte: einen Apollon in Pergamon nennt er ein »Wunder unter den besten«;74 bei anderer Gelegenheit spricht er von ihm als einem Ägineten, der keinem der Nachfolger des Daidalos oder der attischen Kunst nachzusetzen sei.75 Auch habe er die Statue einer Demeter in Phigalia »durch eine Art göttlicher 73 Vgl. SW IX, 58–60; Walter-Karydi, Bildhauerschule, 19–23; Der neue Overbeck, 417–437, Nr. 505–513. 74 Paus. 8,42,7; Der neue Overbeck, 425, Nr. 504. 75 Vgl. Paus. 5,25,13; Der neue Overbeck, 434f., Nr. 511.
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Eingebung, nach Traumgesichten vollendet«. (SW IX, 180) 76 Dies beweise aber nicht zuletzt, dass er sich von dem, was Wagner als »conventionell« beschrieben hatte, emanzipiert und »ein Werk völlig freyer Schöpfung aufgestellt« (SW IX, 204) habe. Damit sei nicht nur ein Hinweis für die Chronologie der Giebelskulpturen gewonnen, die noch vor der Schaffenszeit des Onatas anzusetzen seien. Vielmehr noch ist dies für Schelling ein Beweis, dass die äginetische Bildhauerei Phidias beim Erreichen der Vollkommenheit vorausgegangen wäre.77 Bereits in seinem Kommentar zur Einleitung verweist Schelling auf die dorische Herkunft der Bewohner Äginas,78 und in seinem Nachwort kommt er noch einmal vertiefend darauf zurück, in dem er die äginetische Kunst als prototypisch für den dorischen Charakter zusammen mit Architektur, Poesie und Tonkunst dem Ionisch-Attischen gegenüberstellt.79 Seine Betonung des Unterschiedes zwischen altäginetischer und altattischer Skulptur als Ausdruck eines grundverschiedenen ›Wesens‹ verweist auf eine neue Fragestellung in der Altertumswissenschaft. Er bescheidet sich in den abschließenden Bemerkungen mit einem Zitat der Herausgeber der Dresdner Ausgabe der Winckelmann’schen Werke, nämlich dass die Unterschiede der einzelnen griechischen Kunstschulen augenfällig waren und »vermöge der strengen Sonderung in Sitten, Gebräuchen, Sprache und Lebensart zwischen dem jonischen und dem dorischen Stamme keinem Zweifel unterworfen« seien. (SW IX, 200)80 Die Erforschung der verschiedenen griechischen ›Volksgeister‹ und in der Kunst der ›Landschaftsstile‹ galt ein vorrangiges Interesse der romantischen Altertumswissenschaften des 19. und auch noch des frühen 20. Jahrhunderts Vorreiter war hier der 1840 mit 42 Jahren verstorbene Karl Otfried Müller, der 1820 eine mehrbändige Geschichte Hellenischer Stämme und Städte begann, darunter zwei Bände über die Dorier.81 Allerdings bestimmte sich für Müller die Eigenart einer ›Nation‹ nicht mehr durch ihre Kultur und ihre Lebensumstände, sondern die Kultur erhält umgekehrt ihr Gepräge durch den Charakter des jeweiligen ›Volkstums‹. Schelling liegt jedoch diese ethnizistische Versuchung völlig fern, wie seine Hypothese der weiteren Entwicklung erweist, die eine Verschmelzung der äginetischen und attischen Kunst und ihre Diffusion über ganz Griechenland unterstellt. Die Ausbildung der Vollkommenheit in der Kunst nivelliert nach ihm die landschaftlichen Unterschiede, die im Umkehrschluss dann auch als Defizite zu werten wären. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Vorgang, den Schelling für die ›Vollkommenheit‹ der Kunst durch und nach Phidias spekulativ er76 77 78 79 80 81
Vgl. Paus. 8,42,7; Der neue Overbeck, 417–422, Nr. 501. Vgl. SW IX, 180. 205f. Vgl. a. a. O., 125. Vgl. a. a. O., 200–202. Vgl. Winckelmann, Werke, Bd. 6,2 (1815), 26f. Anm. 77 (Meyer). K.O. Müller, Geschichte hellenischer Stämme und Städte, 4 Bde., Breslau 1820–1825.
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schließt, sich tatsächlich im kunsthistorischen Befund wiederfindet. Die Unterschiede der einzelnen Kunstlandschaften waren bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. durchaus ausgeprägt, während spätestens seit der Fertigstellung des Parthenon sich diese Unterschiede verschliffen und sich im ganzen griechischen Kulturraum ein einheitlicher Stil durchsetzte, wobei die Initiative bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. von Athen ausging. Schelling betätigte sich in seinem Kommentar zu Wagners Text nicht vorrangig als Philosoph, sondern als antiquarischer Philologe; seine Argumentation zeugt von solider Vertrautheit mit den behandelten Quellen. Allerdings setzt sein Text die kunsttheoretischen Überlegungen seiner Vorlesung zur Philosophie der Kunst 1802–1805 sowie der publizierten Akademierede von 1807 voraus und dient ihm noch einmal zur Demonstration seiner eigenen Vorstellungen von der Genese der Vollkommenheit in der Kunst, was im Folgenden nur ansatzweise diskutiert werden kann. Besonders entgegen kamen ihm Wagners Feststellungen der perfekten Nachahmung der schönen Natur in den Skulpturen von Ägina, und entsprechend interessiert interpretierte er die antike Literatur zur äginetischen Plastik. Winckelmann war für Schelling wie für seine gesamte Generation die unhintergehbare Autorität in Sachen Kunstschönheit, und seine Kunsturteile, insbesondere seine berühmten Beschreibungen der Antiken im Belvedere und anderweitig dienen immer wieder als Referenz für seine eigene Argumentation. Auch für seine Skizze der Entwicklung der griechischen Kunst ist diejenige Winckelmanns das Muster. In der Akademierede von 180782 äußert er jedoch erste Kritik: Zwar habe er sowohl die höchste Schönheit im Begriff erkannt als auch jene der äußerlichen körperlichen Formen, aber jene Teleologie, das ›tätig wirksame Band‹ sei ihm entgangen, das die Formen vom Begriff geschaffen sein lassen und von daher mit der Seele verbinde. Schelling konzediert ihm allerdings, dass er dieses Defizit zumindest empfunden habe, da er in seinen letzten Lebensjahren die Absicht geäußert hatte, sein Interesse auf die Natur zu richten.83 Ohne Winckelmann direkt anzugehen, bricht Schelling jedoch mit einem zentralen Paradigma des Begründers des Neoklassizismus: dem Nachahmungspostulat der Antike. Winckelmann hatte, wohl in der Einsicht, dass sein Kunstideal das antike polytheistisch-anthropomorphe Götterbild voraussetze und dass die zugrundeliegende Religiosität nicht repristinierbar sei, jene paradox erscheinende Forderung formuliert, dass man, um groß, ja unnachahmlich zu werden, die Antike nachahmen müsse.84 Schelling erklärt dies zum epigonalen 82 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur, in: SW VII, 291–329, bes. 296f. 83 Vgl. a. a. O., 292. 84 Vgl. J.J. Winckelmann, Dresdner Schriften, Text und Kommentar hrsg. von A.H. Borbein, Mainz 2016, 32.
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Missverständnis: »So konnten denn auch jene idealischen Formen durch keine positive Erkenntnis ihres Wesens belebt sein […]. Der Gegenstand der Nachahmung wurde verändert, die Nachahmung blieb. An die Stelle der Natur traten die hohen Werke des Altertums, von denen die Schüler die äußere Form abzunehmen sich befleißigten, doch ohne den Geist, der sie erfüllet.« (SW VII, 295) Die erneute Blüte der Kunst in der Renaissance sei, anders als bei Winckelmann, nicht etwa durch den Rückgang auf den Geist der Antike, sondern durch ein originäres Bemühen um ein Verständnis der Natur durch die Kunst, wie es sich erstmals bei Giotto und dem Quattrocento manifestiert hätte, die dann Raffael und seine Zeitgenossen erst ermöglicht hätten.85 Und so wenig, wie jene Generation mit der Antike verbunden sei, so wenig sei die heutige mit der Renaissance verbunden. Schelling war zwar ebenso wenig wie Winckelmann zufrieden mit der bildenden Kunst seiner Zeit, im Gegensatz zu Hegel, der dem romantischen Kunstwerk den genuinen Wahrheitsanspruch des klassischen Kunstwerks abspricht, sieht er jedoch in der Entwicklung der deutschen Philosophie des Idealismus und der klassischen Literatur Zeichen für eine neue große Zukunft: »Aus der Asche des Dahingesunkenen Funken ziehen […] wollen, ist eitle Bemühung. […] Sollte nicht jener Sinn, dem sich Natur und Geschichte wieder aufgeschlossen, auch der Kunst ihre großen Gegenstände zurückgeben?« (SW VII, 327f.) Schelling richtet seine hoffnungsvollen Blicke auf das eigene Vaterland86 und nicht zuletzt auf die »milde Herrschaft eines väterlichen Regenten«. (SW VII, 326f.) Ein beliebter Topos bei Schelling ist die Parallele von bildender Kunst und Tragödie, insbesondere in dem Zeitalter, wo jene ihre Höhe in Phidias und Polyklet, bzw. diese in Aischylos und Sophokles erreicht hätten, ein Vergleich, der sich ähnlich bereits bei Aristoteles87 findet. Diese Parallelität hatte er sowohl in der Vorlesung 1802–180588 wie in der Akademierede89 entwickelt, wo er Aischylos eine »hohe Sittlichkeit […] in eine herbe Hülle verschlossen« (SW VII, 315) attestiert, während diese Sittlichkeit in der sophokleischen Anmut zu vollkommener Einheit mit der äußeren Schönheit verschmolzen sei. Dies vergleicht er mit dem Unterschied zwischen strengem und hohem Stil. Die Eigenheiten des von Winckelmann dem Parrhasios, Apelles und Praxiteles zugeschriebenen schönen Stils hatte er referiert, auch mit dem Verweis auf seinen Vergleich des hohen Stils mit der himmlischen, des schönen Stils mit der irdischen Aphrodite.90 Allerdings mit dem Vorbehalt, dass dieser äußere Reiz bereits 85 86 87 88 89 90
Vgl. SW VII, 324f. Vgl. a. a. O., 328f. Vgl. Aristot. poet. 1448a 2. 1449 b. 1450a 8. 1481b 18. Aristot. pol. 1340a. Vgl. AA II/6,1, 305. 384. Vgl. SW VII, 315. Vgl. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 452–455; Plat. Symp. 180D.
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auf Kosten der hohen, sittlich gegründeten Schönheit ginge und den Abstieg der Kunst eingeläutet habe.91 Dies verdeutlicht einen bezeichnenden Unterschied zu Winckelmann, für den die gefälligen Grazie des schönen Stils den unbezweifelten End- und Gipfelpunkt der antiken Kunst und einen Ergänzung des ethischen Gehalts bildete.92 Die gefällige Grazie umkleidet den sittlichen Ernst der Götterund Heroenbilder, der in der erhabenen Grazie vergegenständlicht ist, mit dem äußeren sinnlichen Reiz, den Winckelmann durchaus auch als erotischen auffasst: dies geht eindeutig aus der Beschreibung des Apollon vom Belvedere hervor, »in welchem sich die Stärke vollkommener Jahre mit den sanften Formen des schönsten Frühlings der Jugend vereinigt findet«.93 Den Apollon vom Belvedere erwähnt Schelling durchaus,94 ohne jedoch seine Vorbehalte gegen den schönen Stil an der Statue zu konkretisieren. Sittlichkeit und Sinnlichkeit bildeten für Winckelmann keine Widersprüche; im Gegenteil, die Entfaltung der Erotik war integraler Teil seiner libertinen Griechenutopie,95 wohin ihm Schelling nicht folgen wollte. Dafür spricht auch, dass der für Winckelmann zentrale Topos der Nacktheit bei Schelling keine Rolle spielt. Im Ägineten-Essay dagegen hat sich die Gewichtung der Tragödie des Aischylos und des Sophokles verschoben, mit der Schelling seine Vorstellung von der weiteren Entwicklung illustriert. Auf die Höhe der bildenden Kunst und Tragödie erfolge alsbald der Abstieg. Wie bei Phidias die bildende Kunst, so erscheine bei Aischylos die Poesie in ihrer »lautern Großheit«; dagegen »in Sophokles, wie in den Nachfolgern des Phidias ist dasselbe schon wieder gekränkt und in dem liebevollen Streit, der, der sich zwischen ihm und dem angezogenen höhern entzündet, mehr und mehr überwältigt, und zur Unmerklichkeit gebracht. Natürlich, daß sich in diesem Untergang erst das Lieblichste, Schönste und Zarteste entfaltet, gleichwie in der Natur das rein Schöne und Anmuthige nur entsteht, während das ursprünglich Große und Mächtige untergeht.« (SW IX, 161)
In der Vorlesung hatte er allerdings den Abstieg erst mit Euripides einsetzen lassen.96 Der Sinn dieser Verschiebung erschließt sich nicht so ohne weiteres; zu vermuten ist, dass er mit der Aufwertung des Aischylos in ›der herben Hülle‹ diesen näher zu den noch ebenfalls herben Skulpturen von Ägina heranrücken und diese dadurch aufwerten wollte, was ja schon durch seine Argumentation zu Onatas insinuiert war.
91 92 93 94 95 96
Vgl. AA II/6,1, 307f. Vgl. Vf., Sinnlichkeit, 168. Winckelmann, Geschichte, Bd. 4,1, 760f. Vgl. AA II/6,1, 310f. Vgl. Vf., Sinnlichkeit, 131–151. Vgl. AA II/6,1, 384.
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Zusammenfassend kann man feststellen, dass Wagner wie Schelling bei aller Faszination, die diese neue und exotisch anmutende Kunstform auf sie ausübte, doch aufgrund ihres akademisch-klassizistischen Hintergrundes mit ihrem Verständnis überfordert waren; auch wenn besonders Schelling sich redlich bemühte, sie mit dem Begriffsrepertoire seiner Kunstphilosophie soweit als möglich aufzuwerten. Es sollte jedoch noch fast ein Jahrhundert dauern, bis man die eigentümlichen Formen der archaischen Kunst auch ästhetisch zu goutieren wusste; bezeichnender Weise waren es Archäologen wie Reinhard Kekulé von Stradonitz,97 die sich vom klassizistischen Vorurteil emanzipierten und die auch die zeitgenössische moderne Kunst zu schätzen wussten. Es dauerte noch länger, bis man auch die spezifisch archaische Formensprache und Erzählweise verstand, die sich komplementär und keineswegs defizitär zu ›realistischer‹ Naturbeobachtung verhielt. Ich führe zwei Beispiele an. Die Wiedergabe von Frisuren und anatomischen Details als Ornament ist keineswegs einer Konvention geschuldet, sondern eine Auszeichnung: die Frisur der jugendlichen Helferfigur im Ostgiebel98 oder des Sterbenden im Westgiebel99 sollen auf diese Weise als besonders kunstvoll und ihre Träger als besonders schön hervorgehoben werden. Dies gilt auch für das Ohr des Riesenkouros aus Sounion,100 das als Schmuckform, als Volute, wiedergegeben ist. Die ornamentale Ranke kann sogar im erzählerischen Zusammenhang als Chiffre für die Blume stehen, wie der Vergleich zweier Staffagefiguren auf Amphoren des Andokides-Malers lehrt.101 Ähnliches gilt für das ›archaische Lächeln‹; interpretiert man es als Gemütsbewegung, dann scheint sich der Sterbende im Westgiebel trotz seiner hoffnungslosen Situation noch seines Lebens zu freuen. Es ist hingegen die situationsunabhängige Charakterisierung des Dargestellten als sprachfähig. Das andere Beispiel betrifft die Figur der Athena im Westgiebel des Aphaiatempels;102 hier waren Wagner103 wie Schelling104 gleichermaßen verblüfft über die Kombination der En-face-Darstellung des Oberkörpers mit der gleitenden Profildarstellung der Beine. Nun sah sich der Bildhauer mit dem Problem kon97 Vgl. R. Kekulé von Stradonitz, Die Vorstellungen von griechischer Kunst und ihre Wandlung im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1908. 98 Vgl. D. Ohly, Die Aegineten I. Die Ostgiebelgruppe, München 1976, 33–40, Nr. IV, Abb. 30–34 Taf. 12–18. 73. 74. 76; Wünsche, Kampf um Troja, 102, D. Ohly, Die Aegineten II. Die Westgiebelgruppe. III Altarplatzgruppen, Akrotere etc., München 2001, Taf. 77–89 Abb. 120. 99 Vgl. a. a. O., Nr. VII, Taf. 158. 159; Wünsche, Kampf um Troja (2011), 136, Abb. 162. 100 Vgl. http://arachne.uni-koeln.de/item/objekt/3456 (17. 3. 2020). 101 Vgl. Blume, Amphora des Andokides-Malers, Paris, Louvre: http://arachne.uni-koeln.de/it em/objekt/205209 (17. 3. 2020); Ranke, Amphora des Andokides-Malers. Berlin Antikensammlung: Die Meisterwerke aus dem Antikenmuseum Berlin, hrsg. v. W.-D. Heilmeyer/U. Gehrig, Stuttgart 1980, Taf. 16. 102 Vgl. Ohly, Westgiebelgruppe, Nr. I, Taf. 77–89. 103 Vgl. SW IX, 148. 104 Vgl. SW IX, 155.
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frontiert, Athena als dominante Figur in der Giebelmitte frontal darzustellen, was man normalerweise in der Flächenkunst vermied; gleichzeitig musste er aber auch die Schrittstellung als Chiffre für ›Beweglichkeit‹ ins Bild bringen, die wahrscheinlich nicht wahrgenommen worden wäre, hätte er sie wie bei den freiplastischen Koren durch das reine Vor- und Zurücksetzen der Beine dargestellt. Also kombinierte er die Frontaldarstellung des Oberkörpers mit der Drehung des Unterkörpers, um die Agilität der aktiv in den Kampf eingreifenden Kriegsgöttin deutlich ins Bild zu setzen. Diese Bildchiffre lässt sich bis an den Beginn der figürlichen Darstellung des Menschen im späten 8. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen: die geometrische Normalfigur105 gibt Kopf und Unterkörper im Profil wieder, den Oberkörper – als Sitz des Thymos – dagegen in Vorderansicht. Aber auch auf spätarchaischen Vasenbildern ist diese Kombination beliebt, wenn es um die Darstellung von Bewegung geht.106 Es bleibt am Schluss die Frage, inwiefern Schellings Beobachtungen und Thesen weiterführend waren für ein besseres Verständnis der archaischen Kunst. Immerhin hatte er hellsichtige Hypothesen zur weiteren Entwicklung der griechischen Kunst geäußert und war mit seiner Kritik am Nachahmungspostulat sowohl der Natur wie der Antike tendenziell aus dem Schatten Winckelmanns und des Akademismus herausgetreten. Stattdessen situierte er die Kunst und die Möglichkeit ihrer ›Vollkommenheit‹ nach ihren jeweils spezifischen historischen Voraussetzungen, was ihn auch für die zeitgenössische Kunst hoffnungsvoll in die Zukunft blicken ließ. Leider blieben diese Ansätze alle unausgeführt, nicht zuletzt deswegen, weil Schelling nach seinem Beitrag zu den Skulpturen von Ägina seine Bemühungen um eine Philosophie der Kunst einstellte107 – die Vorlesung von 1802–1805 wurde erst postum publiziert. Aber bereits dort spielte sich alles ausschließlich im Reich des Gedankens, der Spekulation ab, die Kunsturteile sind konventionell und folgen im Bereich der antiken Plastik dem von Winckelmann etablierten klassizistischen Kanon, im Bereich der neuzeitlichen Malerei dem von der französischen Diskussion etablierten akademischen Kanon, sie sind fast gänzlich aus zweiter Hand und kaum auf eigene Anschauung gegründet. Auch fühlte Schelling sich nicht bemüßigt, nach der Ankunft der Ägineten in München 1827 noch einmal auf das Thema zurückzukommen und seine weitreichenden Ausführungen zu den Skulpturen von Ägina, die durchgängig ›im Blindflug‹ verfasst worden waren, durch eigene Anschauung zu korrigieren – im Nachhinein ein grotesker Befund. 105 Vgl. Dipylon-Amphora: http://arachne.uni-koeln.de/item/objekt/17815 (17. 3. 2020). 106 Vgl. Amphora des Exekias: http://www.beazley.ox.ac.uk/record/B3AA5394-4FB9-4D7E-8C8 8-6B38D0C62742 (17. 3. 2020). 107 Schellings Akademievortrag Über die Bedeutung eines der neu entdeckten Wandgemälde von Pompeji von 1833 (SW XII, 675–685) handelt ausschließlich von dem mythologischen Gehalt der Darstellung.
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Die Ägineten in archäologisch-kunstgeschichtlicher Sicht und im Kontext der Kunstsammlungen von König Ludwig I.
Die Giebelskulpturen des zweiten Aphaia-Tempels von Ägina sind seit 1830 Highlights der Münchener Glyptothek. Bereits bei der Auffindung der Skulpturen im Jahr 1811 erkannten die beteiligten Altertumskundler und Architekten, dass es sich um einzigartige Kunstwerke handelte, die eine neue, bis dato nur unscharf bekannte Epoche der griechischen Kunst verkörperten. Die Figuren stellen aus kunsthistorischer Sicht die Wende von der spätarchaischen zur frühklassischen Kunst dar. Das Besondere an den zwischen 500 und 480 v. Chr. geschaffenen Skulpturen des Ost- und Westgiebels ist, dass dieser ›turn‹ innerhalb eines einzigen Monuments anhand benennbarer Stilelemente nachvollzogen werden kann. Bereits in der 1817 erschienenen Erstpublikation der Ägineten von Johann Martin Wagner (1777–1858) mit dem ausführlichen Kommentar Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775–1854)1 wurden wichtige Beobachtungen zum Stil und zur Datierung der Figuren formuliert, die von den nachfolgenden Gelehrten und Wissenschaftlern aufgegriffen und weitergedacht wurden. Nachfolgend werden die Stellung der Ägineten im Kontext der Kunstsammlungen König Ludwigs I. sowie die historisch-politische Bedeutung des Tempels der Aphaia auf der Insel Ägina beschrieben und die Giebelskulpturen in einem größeren archäologisch-kunsthistorischen Kontext verortet.
1 J.M. Wagner, Bericht über die Aeginetischen Bildwerke im Besitz Seiner Königl. Hoheit des Kronprinzen von Baiern. Mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen von F.W.J. Schelling, Stuttgart/Tübingen 1817, 1–248 = SW IX, 111–206.
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Ankauf der Ägineten, ihre Präsentation in der Glyptothek und ihre Stellung im Kontext der Kunstsammlungen König Ludwigs I.
Durch Zufall entdeckten Charles Robert Cockerell (1788–1863), Carl Haller von Hallerstein (1774–1817), Jacob Linckh (1787–1841) und John Forster (1787– 1846) die Marmorskulpturen, als sie von 23. April bis 5. Mai 1811 mit Bauaufnahmen am Tempel der Aphaia auf der Insel Ägina zugange waren. Die vier deutschen und englischen Architekten, Maler und Archäologen erkannten den Wert der zerbrochenen und größtenteils nur fragmentarisch erhaltenen Figuren. Sie kauften sie den Grundeigentümern im damals osmanisch verwalteten Griechenland für 800 türkische Piaster ab, verbrachten sie zunächst auf die britisch besetzte Insel Zakynthos, dann aufgrund der zeitpolitischen Umstände im Januar 1812 auf die Insel Malta, und versteigerten sie öffentlich am 1. November 1812 auf Zakynthos. Als Startpreis waren 10.000 venezianische Zecchini vereinbart. Es erfolgte ein Wettrennen der Nationen um die Kunstwerke, das der bayerische Kronprinz und spätere König Ludwig I. (1786–1868) gewann. Sein Kunsteinkäufer Johann Martin Wagner war nach einer beschwerlichen Reise rechtzeitig vor Ort. Am 30. Januar 1813 konnte er den Kaufvertrag abschließen.2 Die Einzelteile wurden nach Rom verschifft, unter der Leitung von Wagner geordnet und unter derjenigen von Bertel Thorvaldsen (1770–1844) zwischen 1815 und Oktober 1818 im Depot von Ludwigs Antiken in der Via della Fontanella 63 in Marmor ergänzt. Nach der damals vorherrschenden Restaurierungsauffassung bedeutete das eine Vervollständigung der größtenteils fragmentarisch erhaltenen Figuren.4 Die neu zusammengestellten Ensemble des West- und Ostgiebel kamen 1827 in München an und wurden 1828 im ›Aegineten-Saal‹ der Glyptothek aufgestellt. Am 13. Oktober 1830 wurde das Museum eröffnet. Nach einem Rekonstruktionsvorschlag von Cockerell hatten die Restauratoren zehn von ursprünglich 13 Figuren des Westgiebels in Dreiecksform angeordnet. Von den ehemals elf Figuren des Ostgiebels hatten sie aufgrund der Erhaltungsbedingungen nur fünf ausgewählt. Sie wurden losgelöst voneinander auf einzelnen Postamenten präsentiert. Als Ergebnis aktueller Erkenntnisse der Farbforschung an der antiken Skulptur und Architektur des Aphaiatempels ließ Leo von Klenze (1784–1864) eine farbige Rekonstruktion der westlichen Tempelfront an der 2 Abgedruckt in: M. Baumeister/H. Glaser/H. Putz, König Ludwig I. von Bayern und Johann Martin von Wagner. Der Briefwechsel, München 2017, 263–267 Dok. 166/Beilage. 3 Zum Beginn der Restaurierungskampagne vgl. Ludwig an J.M. Wagner am 8. 11. 1815 (a. a. O., 546 Dok. 233 m. Anm. 11); J.M. Wagner an Ludwig am 20. 12. 1815 (a. a. O., 573 Dok. 240). 4 Zum Restaurierungsdiskurs um 1800 vgl. Vf.in, Archäologie und Restaurierung. Die Skulpturenergänzungen in der Berliner Antikensammlung des 19. Jahrhunderts, Berlin 2012, 424– 453.
Die Ägineten in archäologisch-kunstgeschichtlicher Sicht
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inneren Saalwand anbringen. Zudem präsentierte er auf langen Konsolen Skulpturenfragmente, die sich nicht zuordnen oder anbringen ließen. Die Deckenreliefs spiegelten das Thema der Giebelgruppen, die Kämpfe um Troja, wider. Der ›Aegineten-Saal‹ in München kann somit als einer der ersten Versuche angesehen werden, einen antiken Aufstellungskontext in einem Museumsraum zu rekonstruieren.5 Seit der Wiedereröffnung der Glyptothek nach dem 2. Weltkrieg am 28. April 1972 sind die Ägineten in den beiden langgestreckten Sälen auf der Nordseite des Gebäudes prominent aufgestellt (Saal VII und IX). Sie bilden in raumgreifender Weise den Höhepunkt des Ausstellungsrundgangs. 1830 präsentierte man beide Giebelgruppen in Saal III, im Anschluß an den ›Aegyptischen-Saal‹ und den ›Incunabeln-Saal‹ sowie vor dem ›Apollo-, Bacchus- und Niobidensaal‹. Im letztgenannten wurde die Skulptur der griechischen Klassik und des Hellenismus in römischen Kopien gezeigt. Das Besondere am Rundgang in der Glyptothek war die chronologische Anordnung der Objekte, eine im frühen 19. Jahrhundert grundlegende, von Klenze – in ständiger Auseinandersetzung mit Ludwig und Wagner – eingeführte Neuerung. Im ebenfalls 1830 in Berlin eröffneten Alten Museum hatten Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) und Aloys Hirt (1759–1837) noch in damals üblicher Manier eine thematische Aufstellung der Antiken bevorzugt.6 Die beiden Säle, in denen die Ägineten heute untergebracht sind, nahmen 1830 zwei Festsäle ein. Sie waren als einzige Räume mit erzählenden Fresken von Peter Cornelius (1783–1867) ausgemalt und dienten der höfischen Repräsentation König Ludwigs I. Das Thema der Fresken waren der Trojanische Krieg und die griechischen Götter.7 Die Ägineten bildeten (und bilden) – zusammen mit dem Barberinischen Faun – den Höhepunkt der Skulpturensammlug Ludwigs I., die dieser während seiner Kronprinzenzeit innerhalb weniger Jahre im Zuge der Planungen und des Baus der Glyptothek neu angelegt hatte. Ludwig hatte kaum Objekte aus der älteren, schon bestehenden Sammlung der Wittelsbacher übernommen. Initi5 Vgl. Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel, 180–182 Dok. 148 Anm. 18. 20 mit weiterführender Literatur; Report on the Aeginetan Sculptures. With Historical Supplements. Johann Martin Wagner with F.W.J. Schelling. Translated, edited, and with an introduction by Louis A. Ruprecht Jr., New York 2017, XXIII–XXV. 10–33. 163–169. 247–250 mit weiterführender Literatur; R. Wünsche, Kampf um Troja. 200 Jahre Ägineten in München, Ausstellungskatalog Glyptothek München, Lindenberg 2011, 7–55. 73–144. 223–226. 6 Vgl. Vf.in, Antikeverständnis und Präsentationskonzepte im Berliner Alten Museum des 19. Jahrhunderts, in: Gipsabgüsse und antike Skulpturen. Präsentation und Kontext, hrsg. v. C. Schreiter, Berlin 2012, 73–82. 7 Vgl. R. Wünsche, Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur, München 2005, 186–200; E. Gropperlo di Troppenburg, Die Innenausstattung der Glyptothek durch Leo von Klenze, in: Glyptothek München 1830–1980, Ausstellungskatalog Glyptothek München, hrsg. v. K. Vierneisel/G. Leinz, München 1980, 195–208.
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alzündung für sein Interesse an der antiken Skulptur war eine Italienreise als 18jähriger in den Jahren 1804/5. Im Anschluss daran beauftragte Ludwig – eher glücklos – den bayerischen Gesandten in Rom, Kardinal Johann Casimir von Häffelin (1737–1827), den pfälzischen Maler und Dichter Johannes Friedrich Müller (1749–1825) und den bayerischen Bildhauer Konrad Eberhard (1768– 1859) damit Ankäufe für ihn zu tätigen. Erst durch Hinzuziehen des Würzburger Malers und Bildhauers Johann Martin Wagner, der 1810 als bayerischer Pensionär nach Rom geschickt wurde, gelangten die grundlegenden Erwerbungen für die Glyptothek. Dem über 1.500 Schreiben umfassenden Briefwechsel zwischen Ludwig und Wagner lässt sich entnehmen, dass Ludwig nur beste Qualität zu erwerben wünschte: »Das schönste Kaufbare zu erwerben, ist mein Wille […] Statuen will ich vorzüglich, und dass durch die Güte meine Sammlung glänze«,8 so Ludwig. Wagner verhandelte zeitgleich mit mehreren Verkäufern um diverse Objekte. Einige der prominentesten seien hier aufgeführt: Seit 1810 bemühte sich Wagner zehn Jahre lang um den Erwerb des Barberinischen Fauns (Inv. GL 218). Ludwig spornte ihn an: »Eifrigst, eifrigst, lieber Wagner […], B. Faun muß wenn nicht Unmöglichkeit absolut da ist, mein werden. […] Lassen Sie mir nur Faun nicht entgehen, nur recht schnelle, wäre sonst untröstlich darüber.«9 Er kaufte ihn schließlich 1813 für 8.000 Scudi. Nach langwierigen Ausfuhrstreitigkeiten kam die umworbene Statue 1820 in München an.10 Bei den Kunsthändlern Gebrüder Camuccini erwarb Wagner im selben Jahr den öleingießenden Athleten (Inv. GL 302) und einen kolossalen Porträtkopf des Kaisers Trajan (Inv. GL 336), beim Händler Vitali die Porträtbildnisse des sogenannten Sulla (Inv. GL 309), des Nero (Inv. GL 321) und des Antoninus Pius (Inv. GL 337). 1811 erwarb Wagner für Ludwig das berühmte Relief der Medusa (Inv. GL 252) aus dem Palazzo Rondanini. Ein weiterer Glücksfall war im selben Jahr der Kauf von Skulpturen aus der Sammlung Braschi, darunter die Statuen der Artemis (Inv. GL 214) und des Dionysos (Inv. GL 180). Ebenfalls 1811 erwarb der Maler und Münchener Akademieprofessor sowie spätere königliche Galeriedirektor Johann Georg von Dillis (1759–1841) für Ludwig Skulpturen aus der Sammlung Bevilacqua in Verona, darunter einen der Söhne der Niobe (Inv. GL 269) und das Porträt des Kaisers Augustus mit der Bürgerkrone (Inv. GL 317). Am 7. September 181211 8 Ludwig an J.M. Wagner am 8. 10. 1813 (R. Wünsche, »Göttliche, paßliche, wünschenswerthe und erforderliche Antiken«. Leo von Klenze und die Antikenerwerbungen Ludwigs I., in: Ein griechischer Traum. Leo von Klenze – Der Archäologe, hrsg. v. K. Vierneisel, München 1985, 10). 9 Ludwig an J.M. Wagner am 10. 10. 1811 (R. Wünsche, Ludwigs Skulpturenerwerbungen für die Glyptothek, in: Glyptothek München 1830–1980, 23–83, hier: 49). 10 Vgl. a. a. O., 175–179. 11 Wagner kündigte seine Abreise Ludwig brieflich am 6. 9. 1812 an, vgl. Baumeister/Glaser/ Putz, Briefwechsel, 237 Dok. 162.
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machte sich Wagner auf die beschwerliche Reise nach Griechenland um die Ägineten zu ersteigern, »diese so merkwürdigen, für die Altertumskunde so unendlich wichtigen Skulpturen«,12 so die Ausgräber Haller von Hallerstein und Linkh. Ludwig unterstrich in seiner Auftragserteilung an Wagner vom 28. Juli 1812 die Wichtigkeit des Unterfangens: »Mir liegt der Erwerb sehr am Herzen, und sollte er auch den ganzen Kreditbrief betragen, u. mehr noch, sehr theuer sein, ersteigern sie mir die Sammlung dennoch, selbst übertrieben darf der Preis nur nicht lächerlich übertrieben lauten. […] Solche Gelegenheit erleben wir wohl nicht mehr; wie würde mich reuen sie unbenutzt gelassen zu haben. Dieser Erwerb macht meine Sammlung zum ansehnlichen Museum«.13 Verstreichen lassen hat Wagner bei der Gelegenheit den Ankauf des um 420 v. Chr. entstandenen Bassai-Frieses, der schließlich für 18.000 Pfund ins British Museum nach London gelangte. Er riet Ludwig brieflich am 6. Februar 1813 davon ab, als er die Bruchstücke in einem Magazin in Athen sah, obwohl der Kronprinz durchaus Interesse daran hatte, da die Reliefs »aus der Kunst blühenster Zeit«14 waren: »Es ist ein Fries eines Tempels des Apollo in Phigalia in Arkadien, dem ehm. Pelopones. Er besteht aus 23 Stuken, wovon die Hälfte den Streit der Centauren und Lapithen, die andere Hälfte ein Gefecht der Amazonen vorstellt. Arbeit und Styl sind sehr schön daran, doch ist nicht alles von gleicher Hand, sehr zerbrochen, mangelhaft, und viel beschädigt, und leztlich der Preiß, den die Herren dafür angesetzt haben, bis zum lächerlichen übertrieben nemlich 60.000 spanische Thaler.«15 Ludwig beugte sich schließlich dem Urteil Wagners, nicht ohne nachzufragen: »Sagen Sie mir Ihre Meinung, ob das Fries Phygalischen Apollotempels schöner und um vieles schöner, als die Aeginetischen Werke sind.«16 Wagner verneinte: »Der Stil, in welchem dieses Bassreliev gearbeitet ist, ist schön, doch bey weitem nicht mit jenem am Parthenon oder dem Theseus Tempel in Athen zu vergleichen, […]. Dieser Fries ist mit den Aeginetischen Figuren keineswegs zu vergleichen indem diese fast einzig in ihrer Art sind, keineswegs aber dieses der Fall bey dem Frieß ist.«17 Die Ägineten erreichten am 29. August 1815 Rom18 und waren sogleich Gegenstand allgemeiner Bewunderung, so Wagner: »Diese Kunstwerk erregen hier allgemein das gröste Aufsehen, und werden von allen Kennern als Einzig in Ihrer Art betrachet.«19 Wagner selbst war schon am 4. August 1813 aus Griechenland nach Rom zurückgekehrt und konnte über den 12 13 14 15 16 17 18 19
Zitiert in: Wünsche, Skulpturenerwerbungen, 59. Ludwig an J.M. Wagner am 28. 7. 1812 (Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel, 224 Dok. 160). Ludwig an J.M. Wagner am 14. 3. 1813 (a. a. O., 268 Dok. 167). J.M. Wagner an Ludwig am 6. 2. 1813 (a. a. O., 250 Dok. 164 mit Anm. 19. 20). Ludwig an J.M. Wagner am 12. 6. 1813 (a. a. O., 288 Dok. 170). J.M. Wagner an Ludwig am 27. 8. 1813 (a. a. O., 331, 333 Dok. 180). Vgl. J.M. Wagner an Ludwig am 6. 9. 1815 (a. a. O., 508 Dok. 227). J.M. Wagner an Ludwig am 25. 11. 1815 (a. a. O., 554 Dok. 235).
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Händler Camuccini die kolossale Statue des Apoll (Inv. GL 211) aus dem Haus Barberini erwerben. Ludwig wiederum trat in Wien als Antikenkäufer auf und erwarb für die enorme Summe von 30.000 Gulden – viel mehr als er für den Barberinischen Faun bezahlt hatte – die von ihm gerühmte »Perle der Glyptothek«,20 den sogenannten Illioneus, Sohn der Niobe (Inv. GL 270). Im Zuge des Wiener Kongresses gelang Ludwig im Dezember 1815 in Paris mit Hilfe von Klenze der Ankauf von 49 Antiken aus der von Napoleon nach Paris verbrachten Sammlung des römischen Kardinals Alessandro Albani (1692–1779), darunter die Statue der Eirene mit dem Plutosknaben (Inv. GL 219), der Diomedes (Inv. GL 304) und der sogenannte Münchener König (Inv. GL 295). Auch den Hochzeitsfries der sogenannten Domitius-Ara (Inv. GL 239) konnte Klenze aus dem Besitz des Kardinals Joseph Fesch (1763–1839) in Paris erwerben. Mit diesen großen Ankäufen in Paris hatte Ludwig den Aufbau seiner Skulpturensammlung vorerst abgeschlossen. Im April 1816 begannen die Bauarbeiten an der Glyptothek. In der Folgezeit wurden bis 1830 vorrangig römische Porträts für den noch aufzufüllenden Römersaal gekauft und letztendlich auch aus dem Antiquarium der Residenz herbeigeschafft.21 Insgesamt waren drei Jahre nach der Eröffnung 312 antike und 17 nachantike Werke in der Glyptothek ausgestellt.22 Die Ägineten nahmen – und nehmen – innerhalb der Skulpturensammlung Ludwigs I. eine herausragende Position ein. Sie sind »die kühnste Erwerbung des Kronprinzen« (R. Wünsche),23 direkt in Griechenland gekaufte, altgriechische Kunstwerke. Abgesehen vom Barberinischen Faun und dem Hochzeitsrelief der sogenannten Domitius-Ara waren um 1830 fast alle anderen Skulpturen in der Glyptothek in römischer Zeit angefertigte Figuren entweder genuin aus dem römischen Kunstkreis oder solche, die ältere griechische Kunstwerke reflektierten. Die beiden sich heute in der Glyptothek befindlichen archaischen Kouroi (Inv. GL 168 und GL 169) sowie die griechischen Grab- und Weihereliefs (beispielsweise Grabrelief der Mnesarete, Inv. GL 491, und der Plangon, Inv. GL 199, Münchener Weiherelief, Inv. GL 206) wurden in der Regel erst in der Zeit nach Ludwig, also ab der Mitte des 19. Jhs., erworben.24 Zudem handelt es sich bei den 20 Zitiert in: Wünsche, Skulpturenerwerbungen, 73. 21 Vgl. a. a. O., 23–77; Wünsche, Meisterwerke, 167–182; ders., Göttliche, 9–155; F.S. Knauß, Anton Prokesch von Osten und Ludwig I. von Bayern, in: Anton Prokesch von Osten. Sammler, Gelehrter und Vermittler zwischen den Kulturen, hrsg. v. K. Peitler/E. Trinkl, Graz 2019, 31; zum Antiquarium vgl. E. Weski/H. Frosien-Leinz, Das Antiquarium der Münchner Residenz. Katalog der Skulpturen, München 1987. 22 L. von Klenze/L. Schorn, Beschreibung der Glyptothek Sr. Majestät des Königs Ludwig I. von Bayern, München 1833. 23 Wünsche, Skulpturenerwerbungen, 49. 24 1833 befanden sich beispielsweise folgende, original griechische Skulptur- und Architekturfragmente aus dem Nachlass Haller von Hallersteins in der Glyptothek: Im ›Bacchus-Saal‹ ein Weihrelief mit drei tanzenden Frauen gefunden auf der Insel Delos (Inv. GL 241, um 560
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Ägineten nicht um eine einzelne Skulptur, sondern um ein vielfiguriges Ensemble aus einem sakralen, klar benennbaren Kontext. Nördlich der Alpen gibt es nur ein weiteres solches Ensemble von einem griechischen Tempel. Das sind die sogenannten Elgin Marbles im British Museum in London, der zwischen 447 und 433 v. Chr. entstandene Giebelschmuck sowie Fries und Teile der Metopen des Parthenon auf der Athener Akropolis. Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin (1766– 1841), hatte die Tempelzier 1801 im Rahmen seiner Zuständigkeit als britischer Botschafter im Osmanischen Reich dem Bau entnommen und 1802–1812 auf nicht unumstrittene Weise nach Großbritannen verbracht sowie 1816 nach langen Verhandlungen an das British Museum verkauft. Im Gegensatz zu den Ägineten blieben die Elgin Marbles unergänzt. Ein Vorgang, der zu einer Initialzündung im Restaurierungs- und Denkmalpflegediskurs des 19. Jhs. führte und die Höherwertigkeit des Fragments gegenüber ergänzten Antiken einläutete. Elgin selbst wollte die Skulpturen und Reliefs der damals noch vorherrschenden Restaurierungsauffassung entsprechend vervollständigen lassen. Die angefragten Künstler, darunter Antonio Canova (1757–1822) und John Flaxman (1755– 1826), sprachen sich jedoch in qualitativer Hinsicht dagegen aus. Sie hätten es als Sakrileg empfunden, Hand an diese einmaligen Skulpturen aus der Zeit der griechischen Hochklassik anzulegen.25 Dies zeichnete den Unterschied in der Bewertung der beiden Tempelgiebel-Ensembles aus. Den Parthenon konnte man damals bereits als Bauwerk eindeutig (kunst-)historisch verorten, den damals weitgehend unbekannten Aphaia-Tempel hingegen nicht. Auch Ludwig erkannte die seinerzeit allgemein formulierte Höherwertigkeit der Parthenon-Skulpturen an, die er 1814 in London besichtigte: »Edlere Umrisse sah ich noch an keinen solchen Werken, in einiger Entfernung müssen sie gesehen werden; leider sind sie durch die Verwitterung sehr angegriffen […]. Schönere Reliefs sind wohl in Marmor nicht gebildet worden, wenigstens nicht auf uns gekommen, als die des Parthenons«.26 Da sich das British Museum zu der Zeit noch nicht endgültig für den Ankauf der Elgin Marbles entschieden hatte, hinterlegte Ludwig eine entsprechende Summe auf einer englischen Bank, um im Fall der Ablehnung selbst als Käufer auftreten zu können.27
v. Chr.), ein Wandblock des Erechtheions in Athen (Inv. GL 242, um 410 v. Chr.), ein Marmorfragment vom Giebelrand des Bassai-Tempels in Arkadien (Inv. GL 243, um 420 v. Chr.), vgl. Klenze/Schorn, Glyptothek, 106f. Nr. 118–120. Desweiteren beispielsweise etruskische Bronzewerke im ›Incunabeln-Saal‹ wie die archaischen Flachreliefs u. a. von einem etruskischen Wagen (Inv. NI 720p, r, s, t, u, v, w), vgl. a. a. O., 29–33 Nr. 32–38. Dazu F.S. Knauß/J. Gebauer, Die Etrusker. Von Villanova bis Rom, Ausstellungskatalog München, Lindenberg 2015, 362f. Kat. 246f. 249. 255f. 258f. 25 Vgl. Vf.in, Restaurierung, 449–451. 26 Ludwig an J.M. Wagner am 17. 6. 1814 (zitiert in: Wünsche, Skulpturenerwerbungen, 72). 27 Vgl. ebd.
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Im Verlauf des späteren 19. und frühen 20. Jhs. waren die Direktoren der Glyptothek nicht mehr zufrieden mit der Form der Erstpräsentation und der Rekonstruktion der Ägineten, allen voran Adolf Furtwängler (1853–1907). Er unternahm 1901 eine Ausgrabung am Aphaia-Tempel auf Ägina und machte einen neuen Rekonstruktionsvorschlag für die Skulpturen beider Giebel. Da er einen solchen nicht an den Skulpturen durchführen konnte, brachte er verkleinerte Rekonstruktionen der Tempelfronten in den inneren Saalecken an. Erst nach dem 2. Weltkrieg, in dem das Museumsgebäude partiell zerstört worden war, hatte Dieter Ohly (1911–1979) die Chance ein vollständig neues Arrangement der beiden Giebel zu realisieren. Auch er unternahm Ausgrabungen auf Ägina, vermaß alle horizontalen Giebelblöcke und bestimmte so die Position der Figuren im Giebelfeld neu. Er ließ alle Figuren entrestaurieren und z. T. neu mit den Gipsabgüssen von später gefundenen, heute in Ägina im Magazin und Athen im Nationalmuseum aufbewahrten Fragmenten ergänzen. Wie bereits Klenze so wollte auch Ohly in den Museumsräumen den antiken Aufstellungskontext rekonstruieren. Dafür verwendete er Architekturmodelle und präsentierte ebenfalls Fragmente, die nicht direkt an die Figuren anpassten.28
2.
Die historisch-politische Bedeutung des Tempels der Aphaia auf der Insel Ägina29
Die Giebelskulpturen und der Tempel der Aphaia sind eng mit der politischen Geschichte der Insel Ägina verwoben. Die Insel war seit dem späten 4. Jahrtausend v. Chr. besiedelt. Sie wurde zwischenzeitlich verlassen und um 950 v. Chr. wiederbesiedelt. Seit dem 6. Jahrhundert entwickelte sich eine immer größer werdende Rivalität zwischen Ägina und Athen, die damals beide starke Gemeinwesen waren.30 Der erste, besser bekannte Konflikt war derjenige zwischen 508 und 490 v. Chr. als Ägina Theben gegen Athen unterstützte. 490 v. Chr. war der persische Angriff auf Athen, der in der Schlacht von Marathon endete. Darin waren die Ägineten nicht involviert. Als die Perser Griechenland 480 v. Chr. angriffen, kämpften die Ägineten zusammen mit allen griechischen Stadtstaaten gegen sie. Ihnen wurde nachgesagt, dass sie in der Schlacht von Salamis (480 v. Chr.) die tapfersten Kämpfer von allen waren. Danach attakierte Athen Ägina 28 Vgl. Wünsche, Kampf, 153–178; D. Ohly, Ägina. Tempel und Heiligtum erläutert an den Holzmodellen in der Glyptothek in München, München 51996, 7–9. 29 Ausschnitte aus diesem und dem nachfolgenden Kapitel wurden bereits veröffentlicht in: Vf.in, The Sculptures of the Temple of Aphaia on Aigina in Their Contemporary Context, in: From Hippias to Kallias. Greek Art in Athens and Beyond 527–449 bc, hrsg. v. O. Palagia/E. Sioumpara, Athens 2019, 192–205. 30 Vgl. Herodot 5. 82–89.
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und zwang den Inselstaat 458 v. Chr. dazu, Mitglied des Delischen Seebundes zu werden. Sie sollten den höchsten Tribut von allen bezahlen. Im Verlaufe des Peloponnesischen Krieges griff Athen Ägina um 430 v. Chr. erneut erfolgreich an und vertrieb die Bewohner nach Thyrea. Das bedeutete das Ende des einst wohlhabenden Stadtstaats Ägina.31 Der Kultplatz der Göttin Aphaia befindet sich im Nordosten der Insel auf einem Hügel über der Bucht von Agia Marina. In der Mitte der Insel ist der Berg Oros, auf dem sich das Zeusheiligtum befindet. Im Nordwesten der Insel ist die Hauptsiedlung, die Stadt Ägina.32 Das Heiligtum der Aphaia war seit der späten Bronzezeit ein Freiluftheiligtum auf der Hügelspitze.33 Die dort gefundenen Kourotrophos-Figuren, Askoi, Miniaturgefäße und Rhytha in Gestalt eines Igels spielen auf die Natur der Göttin Aphaia an. Ihr wohnen die Aspekte Fruchtbarkeit, Kinder und das Sichkümmern um Kinder inne.34 Die literarische Überlieferung der späteren Zeiten beinhaltet den Ursprung und den Charakter der Göttin. Furtwängler war der erste, der sie korrekt als Aphaia identifizierte, und zwar mit Hilfe der Inschrift35 auf einem Stein, der um 550 v. Chr. zu datieren ist und zum ersten Tempel gehörte.36 Die Entdecker gingen 1811 noch davon aus, dass es sich um einen Tempel des »Jupiter Panhellenius«37 handelte. Nicht viele antike Autoren berichten von Aphaia.38 Die ausführlichste Beschreibung stammt von Antoninus Liberalis aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.39 Er erzählt, dass Britomartis, Tochter des Zeus und der Orientalischen Karme, versuchte den Männern zu entkommen. Sie wollte für immer Jungfrau bleiben. Die Zeustochter floh von Phönizien nach Argos, Kephallenia und schließlich Kreta. Dort verliebte sich Minos in sie und raubte sie. Britomartis aber entfloh und suchte Zuflucht bei Fischern. Ab diesem Zeitpunkt nannten die Kreter sie 31 Vgl. H.-J. Gehrke, Ägineten und Athener. Eine exemplarische Geschichte, in: Zurück zur Klassik. Ein neuer Blick auf das alte Griechenland, Ausstellungskatalog Liebieghaus Frankfurt a.M., hrsg. v. V. Brinkmann, München 2013, 145; Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Altertum, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 1996, 320–323, s. v. Aigina (H. Kalcyk). 32 Vgl. H. Walter, Ägina. Die archäologische Geschichte einer griechischen Insel, München 1993, 40. 43–56. 84–87. 33 Vgl. K. Pilafidis-Williams, The Sanctuary of Aphaia on Aigina in the Bronze Age, München 1998, 125–128. 34 Vgl. a. a. O., 127. 134. 138f. 35 IG IV 1580. A. Furtwängler/E.R. Fiechter/H. Thiersch, Aegina. Das Heiligtum der Aphaia. München 1906, VI, 2f. (A. Furtwängler). 36 D. Williams, Aegina, Aphaia-Temple IV. The Inscription Commemorating the Construction of the First Limestone Temple and Other Features of the Sixth Century Temenos, in: Archäologischer Anzeiger 97 (1982), 55–64. 67f. 37 Ruprecht, Report, XXIII. 38 Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae I, Zürich/München 1981, 876f., s. v. Aphaia (D. Williams): Kallimachos, Hymn 3, 189–200; Pausanias 2. 30. 3; Antoninus Liberalis, Metamorphosis 40; Ciris 294–305. 39 Vgl. Antoninus Liberalis, Metamorphosis 40. 1.
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Diktynna und opferten ihr. Die Fischer brachten sie nach Ägina. Dort warf der Fischer Andromedes ein Auge auf die Göttin. Sie floh vom Boot in die bewaldeten Berge, dorthin, wo heute ihr Heiligtum liegt. Sie entschwand und wurde daraufhin Aphaia genannt. Das ist eine Allegorie für das Leben, das wird und vergeht, also den Jahreszyklus der Vegetation, der zum Beispiel durch den Igel repräsentiert wird. Aphaia wurde von Artemis zur Göttin erhoben.40 Artemis wiederum ist in der griechischen Mythologie die jungfräuliche Göttin par excellence. Und Jungfräulichkeit ist eines der Hauptattribute einer Kourotrophos.41 Wahrscheinlich existierte das Heiligtum der Aphaia schon in Minoischer Zeit. Im 14. Jahrhundert v. Chr. muss es geblüht haben. Danach gehen die Funde zurück. Bis heute hat man keine submykenische oder frühe protogeometrische Keramik gefunden. Betreffend die Kultkontinuität gibt es eine Lücke in den Votivgaben. Aber, wie man aus späteren Weihungen rückschließen kann, scheint der Aspekt der Göttin derselbe geblieben zu sein. Vom 8. bis zum 5. Jahrhundert v. Chr. treten weibliche Terrakotten, die ihre Brust enthüllen, Dickbauchdämonen und Bes-Figurinen in großer Zahl auf.42 Aufgrund der vielen einfachen Keramik, die im Heiligtum gefunden wurde, müssen auch in dem Zeitraum Festivitäten rund um den Kult der Kourotrophos, der Kindernährerin, stattgefunden haben. Votivgaben wie Waffen, Schilde und männliche Figuren bezeugen, dass auch Männer involviert waren. Wahrscheinlich lag der Fokus der Aktivitäten nicht nur auf der persönlichen Fruchtbarkeit, sondern auch auf der des Clans. Bronzene Haarringe deuten darauf hin, dass in dem Heiligtum Initiationsriten stattfanden. Das Heiligtum der Aphaia war kein Ort der politischen Repräsentation in der archaischen und frühklassischen Zeit. Man hat keine Dokumente, keine Verordnungen oder repräsentative Weihungen gefunden. Es war nicht so prominent wie andere Heiligtümer auf der Insel.43 Nach 570 v. Chr. errichteten die Ägineten den ersten Tempel an der Stelle. Es war ein Prostylos mit vier dorischen Säulen.44 Die bereits genannte AphaiaInschrift gehörte zum ersten Tempel und benannte u. a. eine elefas, eine Kultstatue aus Elfenbein. Diese ist nicht erhalten geblieben.45 Man hat jedoch im zweiten Tempel ein kolossales Elfenbeinauge gefunden.46 Schon Wagner und
40 41 42 43
Vgl. Pausanias 2. 30. 1 u. 3. Vgl. Pilafidis-Williams, Sancturary, 142–146. Vgl. a. a. O., 157–160. Vgl. U. Sinn, Aphaia und die ›Aegineten‹. Zur Rolle des Aphaiaheiligtums im religiösen und gesellschaftlichen Leben der Insel Aigina, in: Athener Mitteilungen 102 (1987), 137–141. 44 Vgl. Furtwängler, Aegina, 116–151; E.-L. Schwandner, Der ältere Porostempel der Aphaia auf Ägina, Berlin 1985, 86f. Abb. 55. 93. 98f. 102–107. 113. 130. 45 Vgl. Williams, Aegina, 55–65. 46 Vgl. Glyptothek München, Inv. 1760, Länge: 12 cm. D. Ohly, Glyptothek München. Griechische und römische Skulpturen, München 92001, 53: 7. Jahrhundert v. Chr.; ders., Die Ägineten. Die
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Schelling diskutierten 1817 darüber, ob es als ex voto (Wagner) fungierte oder zu einer kolossalen, nicht mehr vorhandenen Goldelfenbeinstatue gehörte (Schelling).47 Der erste Tempel wurde wahrscheinlich durch Feuer zerstört. Der Brandschutt diente als Füllmasse für die Terrasse des zweiten Tempels. Seine Fundamente liegen vollständig über dem ersten Tempel. Das gesamte Heiligtum wurde damals neu angelegt und vergrößert.48 Der zweite Tempel ist ein kleiner dorischer Peripteros auch aus lokalem Kalkstein. Nur der Marmor für die skulpturale Dekoration wurde importiert, wahrscheinlich von der Insel Paros. Teile der Architektur und die Skulpturen waren farbig gefasst. In der Mitte der Tempelcella befand sich eine ebenfalls nicht erhalten gebliebene Kultstatue. Ein kleiner Porosblock an der rechten Seite der rückwärtigen Tür war wohl die Basis für die nicht mehr vorhandene, altertümliche Elfenbeinstatue, die aus dem Feuer gerettet worden war.49 Mit der nicht erhaltenen Kultstatue aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. hat man den rechten Arm mit Hand einer akrolithen Statue in Verbindung gebracht.50 Sie impliziert eine Statue mit erhobenen, eine Lanze schwingenden Arm. Eine solch kriegerische Haltung kennen wir nur von Athena. Da es unwahrscheinlich ist, dass eine Athena als Kultstatue aufgestellt war, handelte es sich bei dieser Statue vielleicht um eine Aphaia, die in ihrer Natur die Wesenszüge der beiden ebenfalls jungfräulichen Göttinnen Athena und Artemis vereinigte.51 Aufgrund seiner Architektur und der Terrakotta-Funde auf der Tempel-Terrasse wird der zweite Aphaia-Tempel seit Furtwängler zeitlich zwischen dem alten Athena-Tempel auf der Akropolis von Athen (um 510 v. Chr.), dem Schatzhaus der Athener in Delphi (510–480 v. Chr.) und dem
47 48 49 50 51
Marmorskulpturen des Tempels der Aphaia auf Aegina, Tafelbd. II–III, München 2001, Taf. 238. Vgl. Ruprecht, Report, 112–114. Vgl. Ohly, Glyptothek, 49f. Vgl. a. a. O., 53. Vgl. Athen, Nationalmuseum, Inv. 4500; Ohly, Ägineten II–III, Taf. 235f. Vgl. Ohly, Glyptothek, 53; Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae I, 876f., s. v. Aphaia (D. Williams); E. Walter-Karydi, Die Äginetische Bildhauerschule. Werke und schriftliche Quellen, Mainz 1987, 76, datiert den Arm mit Hand um 530 v. Chr. Er sei nicht zugehörig zur Kultstatue. N. Kaltsas/A. Shapiro, Worshipping Women. Ritual and Reality in Classical Athens, New York 2008, 40–43 mit Beispielen von Promachos-Statuetten, die von 510 bis 480 v. Chr. datieren. M. Meyer, Athena, Göttin von Athen. Kult und Mythos auf der Akropolis bis in klassische Zeit, Wien 2017, 345–349 zu den Darstellungen des Palladions der Athena seit Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. und der Athena Promachos seit 535 v. Chr. auf der Athener Akropolis; K. Schoch, Die doppelte Aphrodite – alt und neu bei griechischen Kultbildern, Göttingen 2009, 253 Anm. 805, folgt dieser Argumentation. G. P. Viscardi, Artemide Munichia: aspetti e funzioni mitico-rituali della dea del Pireo, in: Dialogues d’histoire ancienne 36,2 (2010), 50, zur Beziehung zwischen Artemis und Diktynna/Britomartis.
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Zeustempel von Olympia (476–456 v. Chr.) verortet, also zwischen 500 und 480 v. Chr.52
3.
Die Giebelskulpturen in ihrem archäologischkunsthistorischen Kontext
Demselbem Zeitraum, dem Übergang von der späten Archaik zur frühen Klassik, wurden auch die Skulpturen aufgrund ihrer stilistischen Merkmale von der Forschung seit Beginn des 20. Jhs. (u. a. Furtwängler, Ohly, Raimund Wünsche and Elena Walter-Karydi) zugewiesen.53 Schon vor dem Ankauf war Ludwig bewusst, dass es sich um Skulpturen aus einer frühen Epoche handelte. Das formulierte er im Rahmen des Erwerbsauftrags an Wagner: »Daß die zu Aegina gefundenen Plastischen Werke früher als Phigalias [Fries und Metopen-Reliefs des um 420 v. Chr. entstandenen Apollon-Tempels von Bassai Phiga52 Vgl. Furtwängler, Aegina, 54–68 (E.R. Fiechter); H. Bankel, Der spätarchaische Tempel der Aphaia auf Ägina, Berlin 1993, 150–155 Tab. 9; R. von den Hoff, Herakles, Theseus and the Athenian Treasury at Delphi, in: Structure, Image, Ornament: Architectural Sculputre of the Greek World, hrsg v. dems./P. Schultz, Oxford 2009, 96 (Schatzhaus der Athener 510–490/80 v. Chr.); V. Brinkmann, Die Ausläufer der archaischen Skulptur und die archaischen Formelemente in der Zeit der frühen Klassik, in: Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst I. Frühgriechische Plastik, hrsg. v. P.C. Bol, Mainz 2002, 272 (Schatzhaus der Athener 490–480 v. Chr.); H. Knell, Mythos und Polis. Bildprogramme griechischer Bauskulptur, Darmstadt 1990, 52–63 (Schatzhaus der Athener 510–490 v. Chr.); A. Hennemeyer, Der Zeustempel von Olympia, in: Mythos Olympia. Kult und Spiele in der Antike, hrsg. v. W.-D. Heilmeyer/H.-J. Gehrke, München 2012, 121 (Olympia); Meyer, Athena, 87–90 (Alter Athena Tempel). Einen neuen Vorschlag machte Andrew Stewart, der den Zeitraum für die Errichtung des AphaiaTempels zwischen 480 und 470 v. Chr. ansetzt aufgrund einer neuen Sichtung und Datierung des Füllmaterials in der Tempelterrasse: A. Stewart, Die Invasionen der Perser und Karthager und der Beginn des Klassischen Stils, in: Zurück zur Klassik, 136–139. 53 Vgl. Furtwängler, Aegina, 21–53 (510–490/80 v. Chr.); D. Ohly, Die Ägineten. Die Marmorskulpturen des Tempels der Aphaia auf Aegina, Bd. I, München 1976, VI (500 v. Chr.); Wünsche, Kampf, 220; ders., Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur, München 2005, 33–60 (500–490/80 v. Chr.) u. ders., Neues zu den Ägineten, in: Innovations and Inventions in Athens c. 530 to 470 BCE – Two Crucial Generations, hrsg. v. M. Meyer/G. Adornato, Wien (im Druck). Aktuell haben u. a. Andrew Stewart, Vinzenz Brinkmann und Norbert Eschbach eine spätere Datierung des Tempels und ihrer Skulpturen vorgeschlagen in einer historischen Argumentation in Zusammenhang mit dem Sieg der Griechen über die Perser 480/479 v. Chr. in der Schlacht von Salamis. In ihrer Argumentation verweisen sie einerseits auf die Verschiedenheiten, aber auch auf die Gleichheiten von Westund Ostgiebelfiguren und setzen insgesamt den Beginn des Klassischen Stils später an: Stewart, Invasionen, 133–139 (480–470 v. Chr.); Mythos Troja, Ausstellungskatalog Antikensammlungen München, hrsg. v. R. Wünsche, München 2006, 413 Anm. 16 (V. Brinkmann) (nach 480/479 v. Chr.); Brinkmann, Ausläufer, 278; N. Eschbach, Ungewöhnliche Helden – eigenartige Formen. Die Giebelskulpturen des Aphaia-Tempels auf Ägina, in: Zurück zur Klassik, 153–165 (480–450 v. Chr.).
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leia; A. F.] geworden, allso von Härte und Steife nicht frei sind, solches besonders an den Köpfen, so daß sie aufgesetzt scheinen, u. wenn sie es selbst wären, dennoch erwerben sie mir Aeginas gefundene Werke, wenn nur unter jenen ihrer Epoche ausgezeichneter Schöne sie sind; vermuthe es, allso kein Ideale brauchen sie zu sein.«54
1813 schlug Wagner Ludwig brieflich vor die Skulpturen aufgrund stilistischer Kriterien vor den Beginn der klassischen Zeit zu datieren, da sie eine Mischung aus »Ägyptischem und Hetrurischem Stil« aufweisen, also einen »wirklich altgriechischen Stil«.55 Er differenzierte hier bereits zwischen den unbekleideten Körpern, die »ein Muster einer schönen Natur ohne Ideal« geben, der »Gewänder der weiblichen Figuren«, die »ganz in dem sogenannten hetrurischen Styl« sind und den Köpfen, die »beynahe ohne Ausdruck [sind], und eine Mischung des altgriechischen, oder sogenannten Hetrurischen, mit dem egiptischen Styl«.56 Wagner resümierte: »Mit einem Wort, im Reiche der Kunst und des Alterthums sind diese Stüke eine neue Erscheinung.«57 Im 1817 erschienenen Bericht über die Aeginetischen Bildwerke ging Wagner in Kapitel III ausführlich auf die Stilfrage ein.58 Für ihn waren es die »Eigenthümlichkeiten« der Skulpturen, »welche eigentlich diesen Styl charakterisieren«.59 Das spezifisch äginetische an den Figuren sei »die treueste Nachahmung der Natur«. Diese sei »eine wohlverstandene Nachahmung der schönen Natur, vereinigt mit der vollkommensten Kenntniß der Knochen und Muskeln«.60 Danach kam Wagner auf das Problem der ›Steifheit‹ zu sprechen, die er in manchen Figuren entdeckte. Er interpretierte sie als »das Gepräge der Unschuld und Kindheit«, das sich »in den frühen Kunstwerken der Griechen« zeige.61 Hier wirkten Winckelmanns Vorstellungen nach, dass der ältere Stil als eine stufenweise Vorbereitung auf den nachfolgenden Höhepunkt der Klassik anzusehen sei.62 Schließlich beschrieb Wagner die Kleidung: »Die Gewänder sind durchgängig ganz conventionell, […]. Die Falten fallen nicht natürlich, sondern sind künstlich und gepreßt; […]. Eine genaue Beschreibung der Falten halte ich um so weniger nöthig, als sie hinlänglich aus den altgriechischen und sogenannten
54 Ludwig an J.M. Wagner am 28. 7. 1812 (Baumeister/Glaser/Putz, Briefwechsel, 224 Dok. 160). Ludwig referierte die Meinung des Bildhauers Christian Daniel Rauch (1777–1857) und des Archäologen Louis Fauvel (1753–1838). 55 J.M. Wagner an Ludwig am 11. 8. 1813 (a. a. O., 307 Dok. 176). 56 J.M. Wagner an Ludwig am 9. 3. 1813 (a. a. O., 254f. Dok. 165). 57 J.M. Wagner an Ludwig am 11. 8. 1813 (a. a. O., 307f. Dok. 176). 58 Vgl. dazu auch den Beitrag von Mathias Hofter in diesem Band. 59 Wagner, Bericht, 87. 60 A. a. O., 88f. 61 A. a. O., 91. 62 Vgl. G.W. Most, Zur Archäologie der Archaik, in: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens XXXV (1989), 3.
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hetrurischen Kunstwerken bekannt und alle einander völlig ähnlich sind.«63 Auch: »Die Köpfe oder die Gesichter, scheinen in ihrer Bildung oder des Styls um ein gutes älter zu seyn, als die übrigen Theile des Körpers, oder auf eine weit frühere Kunst-Epoche zu deuten. An ihnen bemerkt man durchgängig jene früher eingeführte Form, von der man annehmen kann, daß die Griechen sie den Aegyptiern abgeborgt haben.«64 Wagner benannte Phänomene, die wir heute als (spät)archaische und (früh)klassische Stilmerkmale beschreiben. Die inzwischen übliche zeitliche Differenzierung zwischen der Ausbildung der Figuren des West- und Ostgiebels, die zu der circa zehnjährigen Differenz in ihrer Datierung führte,65 machte Wagner nicht. Er sprach lediglich von unterschiedlichen Händen: »woraus zu schließen und deutlich zu erkennen ist, daß diese Figuren zwar alle zu einer Zeit, doch nicht alle von einer Hand, sondern von verschiedenen, mehr oder weniger geschickten, Künstlern sind verfertigt worden«.66 Aloys Hirt war der erste, der auf Wagners und Schellings Bericht publizistisch reagierte. Er hatte seit 1810 eine ordentliche Professur für Archäologie an der neu gegründeten Berliner Universität inne und war Deutschlands erster offizieller Kunstarchäologe.67 Hirt hatte – im Gegensatz zu Schelling – die Ägineten selbst in Rom gesehen. Zurück in Berlin schrieb er am 15. November 1817 seine Bemerkungen nieder und adressierte sie an Schelling. Veröffentlicht wurden sie 1818 in den Litterarischen Analekten.68 Grundsätzlich unterstrich Hirt Wagners Beobachtungen: Gesichter, Haare, Falten »stammen aus einer Zeit, wo die Kunst in ihrer Kindheit unbehülfliche Holzbilder mit Farben bemalte, und mit natürlichen, schön gefalteten, gestärkten und geplätteten Kleidungsstücken und mit gekrausten Flachshaaren und Bärten behing. Von dergleichen Werken, […], entnahm die spätere Kunst solche steife Kleidung und anderen gothischen Zierath.« (174) Auch seien »die Haare nicht bloß conventionell gearbeitet, sondern anstatt natürlicher Haare [sind] wirkliche Perüken nachgemacht«. (173) Hirt verwendete wie Wagner den Begriff ›conventionell‹ für ›künstlich‹/›nicht natürlich‹. Er formulierte explizit den Unterschied zwischen den Figuren des West- und Ostgiebels: »In Hinsicht der Körper ist das Schmalhüftige richtig bemerkt, wo wie auch die große Natürlichkeit der nackten Theile. Doch ist dies nicht in allen Statuen gleich. So scheinen mir die 63 Wagner, Bericht, 91f. 64 A. a. O., 92f. 65 Vgl. etwa Wünsche, Glyptothek, 38 (Westgiebel: 500/490 v. Chr.). 46 (Ostgiebel: 490/480 v. Chr.). 66 Wagner, Bericht, 102. 67 A.H. Borbein, Aloys Hirt, der Archäologe, in: Aloys Hirt. Archäologe, Historiker, Kunstkenner, hrsg. v. C. Sedlarz, Berlin 2004, 175f. 68 Vgl. A. Hirt, Die neu aufgefundenen Aeginetischen Bildwerke. An Hrn. Director Schelling. Mit einer Zeichnung, Berlin den 15ten November 1817, in: Litterarische Analekten, hrsg. v. F.A. Wolf, H. 3, Berlin 1818, 172. Die folgenden Seitezahlen im Text beziehen sich hierauf.
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größeren, zum östlichen Giebelfelde gehörig, etwas besser, als die um ein Geringes kleinern in dem westlichen Giebel.«(ebd.) Dezidiert äußerte sich Hirt zur Stilfrage: »Was ist das Eigenthümliche, woran man den Aeginetischen Stil erkennt? Und tragen die in Aegina entdeckten Bildwerke diesen Stil an sich?« (174) In dieser für ihn zentralen Frage kommt er trotz derselben Beobachtungen wie Wagner zu einer umgekehrten Schlussfolgerung betreffend den äginetischen und attischen Stil. Die neu entdeckten Figuren seien maßgeblich dafür, dass der äginetische Stil identifiziert und beschrieben werden könne. Bislang habe man nur eine textliche, keine monumentale Überlieferung gehabt: »Pausanias ist der einzige der alten Schriftsteller, welcher eines Aeginetischen Stils in der Bildnerei gedenket. Aber er deutet ihn bloß an, und macht ihn durch keine nähern Umstände kenntlich.« (175) Mit Blick auf den römischen Schriftsteller, für den die äginetischen Werke durch das hohe Alter ihres Stil auffallend waren, schlussfolgerte Hirt, dass »gerade das Alterthümliche in der Bearbeitung der Köpfe, der Haare und der Gewänder an denselben dasjenige [ist], was dem Auge des Betrachters zuerst und am meisten auffällt, und ihre Eigenthümlichkeit bestimmt«. (177) Die Ägineten seien »Ausdrucke des altgriechischen oder heiligen Stils«. (178) Aber auch Monumente aus anderen Kunstlandschaften könnten diesen altertümlichen Stil aufweisen. Deshalb sei dies wieder nichts spezifisch Äginetisches.69 Mit Blick auf die Elgin Marbles postulierte Hirt: Das »Eigene des Attischen Stils« sei, dass dieser »der Stil der freien Naturnachahmung und des Charakteristischen« sei, »im Gegensatz von dem Conventionellen des Aeginetischen Stils«. (184) Das attische war anfänglich noch »roh«, aber es trug den »Keim zum Weitergehen und zur allmähligen Vervollkommnung in sich«. Das hingegen schloss »durch seinen gegebenen und festen Typus von Unnatur dies Fortschreiten aus. Ohne jene Attische Tendenz und mit dem Beibehalten des Aeginetischen Typus würde die Kunst bei den Griechen nie weiter gekommen sein, als bei den Aegyptern«. (184f.) Hirt stellte eine Hierarchie der Stile auf, der attische sei der fort-, der äginetische der rückschrittlichere. Stil sei aber nicht komplett an eine Landschaft gebunden gewesen, auch äginetische Bildhauer hätten in manchen Bereichen im attischen Stil arbeiten können.70 Hier klingt bereits die heutige Denkfigur des Stilpluralismus an, die Hirt aber nicht weiter verfolgte. Den Tempel mit den Giebelfiguren datierte Hirt nicht stilistisch, sondern historisch. Er sei nach der Schlacht von Plataiai (479 v. Chr.) entstanden, aus der die Ägineten mit reicher Beute hervorgingen.71
69 Vgl. a. a. O., 181f. 70 Vgl. a. a. O., 185. 71 Vgl. a. a. O., 192.
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Hirts Argumentation ging von Winckelmanns Entwicklungsgedanken und von Pausanias Landschaftszuweisungen aus. Was Wagner, Schelling und Hirt neu in die ästhetische Diskussion der Zeit einbrachten war die Kategorie des ›Charakteristischen‹. Im späten 18. Jahrhundert war diese für die verschiedensten Diskurse attraktiv, wurde jedoch aufgrund ihrer Unbestimmtheit nie zu einem zentralen Begriff.72 Das ›Charakteristische‹ war notwendiges Mittel zur Erreichung des Schönen und Idealen. Die idealische Schönheit wiederum war nicht die Schönheit, wie die Natur sie bildet, denn diese könne nie vollkommen sein, sondern sie war das ›Kunstschöne‹, also die ideale Schönheit, die der Künstler schuf.73 Die Ägineten stellten »ihre ersten Deuter vor eine große Schwierigkeit: denn seit Winckelmann hatte man erwartet, dass der ältere Stil duch Konventionalität und Naturferne gekennzeichnet sein würde; nun entdeckte man Figuren, deren nackte Körper von einer erstaunlich genauen Beobachtung der Einzelheiten der menschlichen Anatomie zeugten, und deren Köpfe allein unrealistische Züge trugen,«74 so Glen Most.
Während Wagner diesen Widerspruch als Zeichen der Übergangsphase deutete, sprachen Forscher mit und nach ihm von Zeichen mangelnder Vollkommenheit und gliederten die Ägineten in die Stufe Winckelmannscher Unreife ein.75 Hirt und Schelling deuteten es als Weg hin zur vollkommenen attischen Kunst. Mit Hilfe der Schriftquellen arbeitete Schelling eine äginetische Bildhauerschule heraus, die zeitlich vor der attischen existierte.76 Damit begann die lange nachwirkende Debatte um den äginetischen Landschaftsstil und die dortige Bildhauerschule.77 Die Geringschätzung der arachischen Kunst als einer unreifen blieb bis in die 1870er Jahre hinein bestehen. Erst mit Beginn der deutschen Großgrabungen in Olympia und Pergamon erfolgte ein rapider Denkmälerzuwachs und es begann 72 Vgl. H. Tausch, Das vermessene Charakteristische. Zu Aloys Hirts römischer Ästhetik, in: Aloys Hirt, 69–104, bes. 79. 73 Vgl. A. Costazza, Das ›Charakteristische‹ ist das ›Idealische‹. Über die Quellen einer umstrittenen Kategorie der italienischen und deutschen Ästhetik zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik, in: Chloe. Beihefte zu Daphnis, Bd. 26: Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Festschrift für Alberto Martino, hrsg. von N. Bachleitner/A. Noe/ H.G. Roloff, Amsterdam 1997, 463–490, zitiert aus: Goethezeitportal. (http://www.goethezeit portal.de/db/wiss/epoche/costazza_charakteristische.pdf; 8. 2. 2019, 6f.) Vgl. dazu auch C.A. van Eck, Par le style on attaint au sublime: the meaning of the term ›style‹ in French architectural theory of the late eighteenth century, in: The question of style in philosophy and the arts, hrsg. v. dems./J. McAllister/R. van de Vall, Cambridge 1995, 101. Zu Hirts Aufsatz Versuch über das Kunstschöne in Schillers Horen von 1797 vgl. auch Tausch, Charakteristische, 70f. 89. 74 Most, Archäologie, 4. 75 Vgl. a. a. O., 5. 76 Vgl. den Beitrag von Mathias Hofter in diesem Band. 77 Walter-Karydi, Bildhauerschule, 9–47.
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eine sukzessive Neubewertung der archaischen Plastik. Die erste wirklich archaische Skulptur, die im deutschsprachigen Raum bekannt wurde, war der um 560 v. Chr. zu datierende Kouros von Tenea (Inv. GL 168) in der Glyptothek. Gefunden 1845 bei Korinth gelang er in den Besitz des archäologisch interessierten österreichischen Diplomaten Anton Prokesch von Osten. Dieser verkaufte den damals so genannnten Apoll 1854 zu einem Freundschaftspreis für nur 2.000 Scudi an Ludwig. Prokesch selbst hatte ihn mit Blick auf die Ägineten bereits zeitlich korrekt verortet: »Es ist der ägyptische Styl griechisch aufgefaßt u. behandelt. Ich sah keine archaische Statue ähnlicher Vollendung in keinem europäischen Museum. […] Die Ägineten erscheinen mir als der Anlauf zur höchsten Kunst. Der ihnen vorausgehende archaische Styl, aus dem sie organisch herausgewachsen […], ist in seiner Klarheit und Majestät durch nichts späteres erreicht […]. Ich sah das recht deutlich an einer Statue [dem Kouros von Tenea], an die Ägineten erinnernd und wahrscheinlich von einem alten Meister dieser Insel.«78
Auch Klenze, der den Erwerb massiv vorangetrieben hatte, war sich der Einzigartigkeit und der zeitlichen Einordnung der Skulptur bewußt und begründete ein Aufstellung zwischen dem ›Aegytischen-Saal‹ und dem ›Aegineten-Saal‹ im ›Incunabeln-Saal‹, was so viel wie Saal der ›Ursprünglichen‹ oder ›Neugeborenen‹ bedeutete. Erst vor 1918 wurde der Raum in ›Archaischer Saal‹ umbenannt. Allerdings ging vom Kouros von Tenea zu diesem Zeitpunkt noch keine grundlegende neue Erkenntnis für die archäologische Forschung aus.79 Ein halbes Jahrhundert nach Wagner beschäfigte sich Heinrich Brunn (1822– 1894), der damalige Direktor der Glyptothek, mit den Ägineten. Er war zugleich ab 1865 Professor für Klassische Archäologie an dem damals neu geschaffenen Lehrstuhl für Klassische Archäologie an der Universität in München.80 Brunn etablierte die archäologische Stilforschung. Durch den Vergleich von Kunstwerken begründete er Verallgemeinerungen über Stilmerkmale und die Stilentwicklung. Er war der erste, der in einer nicht abwertenden Weise über die archaische Kunst sprach und versuchte diese Epoche nicht nur als vorbereitende, sondern als eigenständige zu erkennen. Brunn benutzte die Bezeichnung ›archaisch‹ nicht nur um einen Stil zu benennen, sondern auch als Periondenbegriff. Er machte die Archaik salonfähig. Sein Nachfolger in München, Adolf Furtwängler, sprach ihn schließlich eine eigene Wirkmacht, »Kraft und Grösse«81 zu.82
78 79 80 81 82
A. Prokesch an Ludwig am 16. 10. 1849 (ziitiert aus: Knauß, Prokesch, 33). Vgl. Most, Archäologie, 5. 10; Knauß, Prokesch, 32–34. Vgl. G. v. Lücken, Heinrich von Brunn, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), 679f. Furtwängler, Aegina, 54. Vgl. Most, Archäologie, 2. 7. 8–10.
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In Brunns 1867 gedruckten Vortrag Über das Alter der aeginetischen Bildwerke beschäftigte er sich mit deren Figurenstil, und formulierte dezidierter als Hirt und Wagner, dass den Figuren des West- und Ostgiebels unterschiedliche stilistische Züge innewohnten, die »auf einer Verschiedenheit im Princip der ganzen Auffassung der Form«83 beruhten. Beide Giebel seien gleichzeitig unmittelbar nach den Perserkriegen entstanden,84 der Ostgiebel verzeichne jedoch »principielle Fortschritte«.85 Er sei von einem jüngeren Künstler gefertigt worden. Der Westgiebel hingegen von einem älteren Bildhauer, dessen Kunst »in sich zu einem festen Abschluss gelangt ist«.86 Im Anschluss an Brunn sieht die Mehrzahl der heutigen Forscher*innen in den Skulpturen des Westgiebels und in ihrem Arrangement stilistisch frühere Züge und in denen des Ostgiebels spätere.87 Gut nachvollziehbar ist das an zwei Gefallenen in den Giebelecken (Inv. Nr. W VII und Nr. O XI). Beide sind tödlich verwundet. Beide weisen typisch spätarchaische Züge auf wie das sogenannte archaische Lächeln. Dennoch unterscheiden sie sich in ihren Körperpositionen und in der Art ihre Emotionen auszudrücken. Der Krieger des Westgiebels versucht mit aufgerichtetem Oberkörper und mit voller Kraft den Pfeil aus seinem Körper zu ziehen.88 Derjenige des Ostgiebels hat ebenfalls einen gegnerischen Pfeil in der Brust stecken. Er ist jedoch im Begriff vom Giebelrand zu fallen und macht über die zusammengesunkene Haltung seine tödliche Verwundung offensichtlich.89 Diese veränderte Stilauffassung drückt sich auch im Arrangement der Figuren innerhalb des Giebels aus. In beiden Giebeln steht Athena in der Mitte flankiert von zwei Kämpferpaaren. Im älteren Westgiebel folgt ihnen jeweils eine in sich kämpfende Vierergruppe. Die beiden äußeren Gefallenen weisen in die Giebelecken. Beim jüngeren Ostgiebel hingegen schauen die äußern Gefallenen nach innen zum Geschehen. Die rechte Bogenschütze agiert über eine lange Distanz und erschießt den Gefallenen links außen. Zusammenfassend gesehen sind die Ägineten in einer Zeit des Übergangs von der späten Archaik zur frühen Klassik90 entstanden. Ihr Ursprung mit all seinen 83 84 85 86 87
H. Brunn, Über das Alter der aeginetischen Bildwerke, München 1867, 17. H. Brunn, Beschreibung der Glyptothek König Ludwig’s I. zu München, München 51887, 82. Brunn, Alter, 18. A. a. O., 19f. Vgl. E. Walter-Karydi, How the Aiginetans Formed their identity, Athens 2006, 66f., zur Beschreibung der Unterschiede. 88 Vgl. Mediaguide Glyptothek 2014, s. v. Ägina 2, Westgiebel (C. Gliwitzky); D. Ohly, Die Neuaufstellung der Ägineten, in: Archäologischer Anzeiger 81 (1966), 526f. 89 Vgl. Mediaguide Glyptothek 2014, s. v. Ägina 3, Ostgiebel (C. Gliwitzky); Ohly, Ägineten I, 106f. 90 Zum Beginn der Frühklassik mit dem Strengen Stil und seinem Hauptkriterium, dem Kontrapost, um 480 v. Chr.: M. Meyer, Wann und Warum? Zur Diskussion um den Beginn der Klassik, in: Gephyra 9 (2015), 15–21 und Meyer, Athena, 73–87, zur Diskussion um die Datierung der spätarchaischen Epoche (um 525–480 v. Chr.) und des frühklassischen Stils.
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Unterschieden und Gleichheiten in Stil, Arrangement und Ausdruck von Emotionen ist das Ergebnis eines größeren kulturellen und poltischen Prozesses in Athen und Ägina beginnend um 510 v. Chr.91 Stilistisch gut nachvollziehbar ist das an fest datierten Skulpturen wie der Nike des Kallimachos (um 490 v. Chr.)92 und den Tyrannentötern (477/76 v. Chr.)93. Auch die Identifizierung und Benennung der Figuren hat eine lange Forschungsdikussion hervorgerufen. Auf diese sei hier nur kurz eingegangen. Bereits Wagner erkannte das Darstellungsthema des Trojanischen Krieges. Er reflektierte, ob auch der zeitgenössische Kampf der Griechen gegen die Perser dargestellt gewesen sein könnte, schied diese These aber aufgrund des altertümlichen Figurenstils wieder aus. Er identifizierte die Statue der Athena/Minerva aus dem Westgiebel sowie kämpfende Krieger, einer davon ein phrygischer Bogenschütze: »Diese beiden Kämpfe sind der trojanische Krieg, […]. In dem trojanischen Kriege wurden die rühmlichen Thaten von den Aeaciden, dem Achilles, dem telamonischen Ajax, und dem Neoptolemus verrichtet.«94 Inzwischen gibt es komplexe Interpretationen der beiden Giebelgruppen bis hin zu der Frage, ob die Figuren überhaupt in Gänze mythischen Figuren zugewiesen werden können. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass die beiden Giebel dem ersten und dem zweiten Trojanischen Krieg gewidmet sind. Der erste Krieg ist im Ostgiebel dargestellt. Er zeigt den an seiner Löwenfellkappe erkennbaren Herakles mit seinem Freund Telamon und seinem Bruder Peleus, wie sie den ersten Trojanischen König Laomedon töten. Der zweite Trojanische Krieg ist im Westgiebel dargestellt. Hier kämpfen Achill, Ajax und Teukros gegen Trojanische
91 Vgl. A.H. Borbein, Die Skulpturen des Parthenon. Wie vollzieht sich Stilentwicklung?, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 131 (2016), 110f., zur Koexistenz von stilistischen Differenzen innerhalb der Parthenon-Skulpturen. Die Skulpturen des AphaiaTempels können nicht mit einem einzelnen politischen Ereignis verbunden werden, so Borbein, Parthenon, 142–145. Es gebe auch keinen Hinweis darauf, dass die Perser den Apahia-Tempel zerstört hätten, so Wünsche, Kampf, 220. Stewart, Invasionen, 135f., hingegen schlägt eine Zerstörung des ersten Aphaia-Tempels durch die Perser vor. 92 Nike des Kallimachos, Athen, Akropolismuseum, Inv. 690. Eine Inschrift besagt, dass die Figur von dem athenischen Feldherren und Politiker Kallimachos um 490 v. Chr. geweiht wurde. Die Figur trägt Kennzeichen des frühen Strengen Stils, vgl. V. Brinkmann, Archaische Formelemente in der Zeit der frühen Klassik, in: Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst I. Frühgriechische Plastik, hrsg. v. P.C. Bol, Mainz 2002, 271–280, bes. 274f. 93 Monument der beiden Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton von der Athener Agora, das dem strengen Stil zugerechnet wird. Die beiden Männer haben 514 v. Chr. Hipparch, den Bruder des Tyrannen Hippias, getötet. Überliefert ist das in einer römischen Kopie des ursprünglichen Monumentes, das aus Bronze war und in der Werkstatt der Bildhauer Kritios und Nesiotes 477/76 v. Chr. entstanden ist (Neapel, Nationalmuseum, Inv. 6009, 6010), vgl. P.C. Bol, Der Strenge Stil: Rundplastik, in: Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst II. Klassische Plastik, hrsg. v. dems., Mainz 2004, 13–15. 94 Wagner, Bericht, 201–204.
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Krieger.95 Es handelt sich insgesamt um die Darstellung eines Gründungsmythos. Pindar berichtete, dass Herakles und Telamon, der Sohn des Aiakos, Troja eroberten. Aiakos ist als Sohn des Zeus und der Nymphe Aigina der Vorvater der Inselbewohner.96 Sein Schrein, das Aiakeion, befand sich in der Nähe des dem Apoll geweihten Stadtheiligtums von Ägina.97 Besonders im späten 6. Jahrhundert v. Chr., also kurz vor Baubeginn des zweiten Aphaia-Tempels, wurden Aiakos und die Aiakiden mit großer Energie auf Ägina wiedereingeführt.98 Im Westgiebel ist Ajax, Sohn des Telamon, die Schlüsselfigur für die Interpretation der Szene. Er ist wohl derjenige an Athenas rechter Seite mit dem Adler als Schildzier.99 Insgesamt repräsentieren die beiden Giebelensemble die Überlegenheit der griechischen Krieger gegenüber den trojanischen. Sie verherrlichten den Ruhm der Aiakiden als Gründerväter von Ägina und unterstrichen somit am Vorabend der Perserkriege die Bedeutung der Ägineten für die griechische Welt.100 Auch Wagner und Schelling verorteten die Ägineten aufgrund stilistischer Kriterien in die Zeit vor den Perserkriegen. Die Mehrheit der heutigen Forschung hat sich darauf verständigt, den Tempel baulich zwischen 500 und 480 v. Chr. anzusiedeln. Inzwischen gibt es aber auch Meinungen, die die Datierung unmittelbar nach den Perserkriegen ansiedeln – eine These, die im frühen 19. Jahrhundert Hirt aufgrund historischer Kriterien vertrat.
95 Vgl. Wünsche, Kampf, 205–221; T. Hölscher, Architectural Sculpture: Messages? Programs? Towards Rehabilitating the Notion of ›Decoration‹, in: Structure, Image, Ornament: Architectural Sculpture of the Greek World, hrsg. v. R. von den Hoff/P. Schulz, Oxford 2009, 54–58. 61–63, spricht von ›semantischer Architekturdekoration‹. 96 Vgl. Sinn, Aphaia, 142–147. 97 Vgl. Walter-Karydi, identity, 3–5. 98 Vgl. a. a. O., 43. 99 Vgl. Wünsche, Kampf, 215: Nach Pindar hat Zeus einen Adler gesandt um anzuzeigen, dass Telamon einen Sohn bekommen wird. Diesen solle er aufgrund dessen Ajax nennen. 100 Vgl. a. a. O., 213–221; Knell, Mythos, 190–192. Die Kriegsgöttin Athena steht prominent in der Mitte beider Giebel. Die Bewohner Äginas wollten um 500 v. Chr. das Thema des Krieges darstellen. Athena war die passende Verkörperung dafür, denn sie war eine Parthenos wie Aphaia, sie war eine für alle Griechen zuständige Göttin, und sie konnte direkt mit den mythischen Geschichten des Trojanischen Krieges in Verbindung gebracht werden, die für die lokale Bevölkerung von Ägina wichtig waren. Vgl. dazu auch Walter-Karydi, identity, 73– 81.
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Nachahmung der Natur? Die Rolle der Kunst bei Schelling in seiner ersten Münchener Zeit
In den Vorlesungen über Philosophie der Kunst von 1804/05 liefert Schelling ein zumindest auf den ersten Blick recht grobes Schema zur Unterscheidung von griechisch-heidnischer und christlicher Kunst, das er zugleich auf Mythologie und Religion anwendet: Während es der Antike in Kunst, Mythologie und Religion um eine Anschauung des Universums als Natur ging und die Zugangsweise damit grob als Realismus, die Religion als Naturreligion zu bezeichnen ist, kam mit dem Christentum die Idee auf, das Universum als Geschichte anzuschauen, damit einher gingen Idealismus und eine geoffenbarte Religion.1 Mit dieser Einteilung befindet sich Schelling im Einklang mit ›herkömmlichen‹ Deutungen, welche eine Zeit der Naturnähe vor eine Zeit des Geistes setzen. Doch bereits ein genauerer Blick in denselben Text fördert einige Schwierigkeiten zutage – diese verschärfen sich, sobald man andere Schriften wie Schellings Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die äginetischen Bildwerke (1817) hinzuzieht. Denn hier wie dort bezeichnet Schelling den altgriechischen Kunststil als idealistisch, wonach die Griechen eben nicht auf eine realistische Naturnachahmung abzielten. Einen Beleg dafür liefert Platons Kritik der nachahmenden Kunst in der Politeia. Doch an anderer Stelle macht Schelling klar, dass Platons Idealismus selbst nur eine »exotische Pflanze im griechischen Boden« (AA II 6,1, 99) ist, während der Boden selbst, der aus den Elementen des Mythos, der Religion und Kunst besteht, der Realismus ist. Dagegen treten Platons Idealismus ebenso wie die Mystik als ein orientalischer Gast und Fremder, ein xenos, auf. Schelling geht sogar so weit zu behaupten, dass Platons in anderen Werken durchaus vorhandene Kunstliebe eine Vorahnung der christlichen Kunst enthält, welche rein intellektuell und damit nicht naturnachahmend ist. Wendet sich Platon dann nicht gerade gegen das Wesen der griechischen Kunst, ihren Realismus, und fordert deren Ausschluss in einem logisch-ideell konstituierten Staat?
1 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Kunst, in: AA II/6, bes. AA II/6,1, 161. 185.
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Gelegentlich wirkt es hingegen, als ziele Platon eher auf die dekadente Kunst seiner Zeit, die von der hohen Sittlichkeit etwa des Aischylos und Sophokles abgerückt ist und nunmehr einem ›poetischen Realismus‹ fröne, der Schönheit nur noch sinnlich-frivol aufzufassen weiß: »Auch verdammt Platon nicht alle Dichter ohne Unterschied, nur diejenigen, die das Epos und Drama, und auch dies nur in jener zu seiner Zeit üblichen Gestalt bearbeiteten. […] [M]an merkt überhaupt, daß er den auf die Erregung der Leidenschaften stürmenden Euripides im Sinne hat.« (AA II 6,2, 561) Euripides wie auch dessen Theoretiker Aristoteles in seiner Poetik, der die Bestimmung der Kunst nicht nur mittels der Katharsis auf die Leidenschaften konzentrierte, sondern auch die Mimesis der Natur hervorhob, scheinen damit nicht nur Platons Idealismus im Weg zu stehen, sondern auch die griechische Kunst zu verderben. War die griechische Kunst also doch schon einmal intellektueller und idealistischer als zu Platons Zeiten? Um die Frage, die mich im Folgenden bewegt, kurz zu fassen: War die griechische Kunst nun für Schelling idealistisch oder war sie realistisch, war sie Überwindung oder Nachahmung der Natur? Ich werde versuchen, in meinem Beitrag Schellings Ideenknäuel ein wenig zu entwirren. Ob es mir gelingt, kann ich nicht sagen. Man könnte natürlich dieses Entwirrungsunternehmen von Vornherein der Sinnlosigkeit überführen, indem man behauptet, dass mit diesem Begriffsschematismus (ideal-real, Geschichte-Natur bzw. Geist-Natur) nichts zu gewinnen sei, vielmehr alles bei Schelling Mischverhältnisse seien; also alles Reale auch ideal et vice versa. So unsinnig es sei, angesichts einer Whiskycola zu entscheiden, ob sie Whisky oder Cola ist, da sie beides ist und es in meiner Perspektive liegt, ob ich sie als Whisky oder Cola thematisiere (oder trinke), so gilt dies auch für Schellings Idealrealismus. Auch wenn in dieser Whiskycola (und nicht nur im Wein) Wahrheit liegt, so möchte ich mich dennoch dem Unternehmen stellen, da es schließlich Schellings eigener Anspruch ist, mittels dieser Begrifflichkeit sein System darzustellen und gerade in seiner Kunstphilosophie diese das tragende Gerüst ausmacht. Einen Schlüssel zu einem besseren Verständnis liefert m. E. Schellings Auseinandersetzung mit Winckelmann, um die es im Folgenden gehen wird.
1.
Schelling und Winckelmann: Oder die Frage nach dem Band
Schon in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst setzt sich Schelling intensiv mit den kunstgeschichtlichen Deutungen von Johann Joachim Winckelmann auseinander und übernimmt insbesondere dessen vierfache Einteilung der antiken Kunst in einen älteren, einen hohen und einen schönen Stil, auf welchem der Stil der Nachahmer folgte. Was sich rein äußerlich als ein Übergang von harten, gewaltsamen zu flüssigen, weichen oder auch ruhigen Formen und
Nachahmung der Natur?
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Umrissen der Kunstwerke kundtut, bis schließlich in der vierten Stufe die Dekadenz in Gestalt eines Eklektizismus einsetzt, gründet in geistiger Hinsicht auf einem Übergang von einem starren System zur Freiheit, die sich auch oder vor allem in der politischen Demokratisierung Athens wiederfindet. So heißt es in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums vom Übergang des älteren in den hohen Stil: »Endlich, da die Zeiten der völligen Erleuchtung und Freiheit in Griechenland erschienen, wurde auch die Kunst freier und erhabner. Der ältere Stil war auf ein Systema gebaut, welches aus Regeln bestand, die von der Natur genommen waren und sich nachher von derselben entfernt hatten und idealisch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der Vorschrift dieser Regeln als nach der Natur, die nachzuahmen war: denn die Kunst hatte sich eine eigene Natur gebildet. Über dieses angenommene Systema erhoben sich die Verbesserer der Kunst [im hohen Stil; C.B.] und näherten sich der Wahrheit der Natur.«2
Vor allem in der Plastik, welche nach Winckelmann gewissermaßen die ursprünglichste Kunstrichtung (im Vergleich zu Malerei und Architektur) darstellte, zeigt sich für Schelling der Übergang vom Realen oder Notwendigen zum Idealen oder der Anmut (der Grazie bei Winckelmann), die erst im schönen Stil vollkommen zum Ausdruck gelangen: »Das Reale oder Nothwendige beruht […] auf der Wahrheit und Richtigkeit der Formen. Unter dieser Wahrheit wird hier keineswegs jene empirische, sondern jene höhere verstanden, die auf abstrakten, von der Natur und der Besonderheit abgesonderten, mit dem reinen Verstand aufgefaßten Begriffen beruht […] wie die Wahrheit in den Werken des ältesten Styls. Die Wahrheit in dem höchsten Sinne ist das Wesen der Dinge selbst, das aber in der Natur in die Form gebildet und durch die Besonderheit mehr oder weniger verworren und unerkennbar gemacht ist. Deßwegen kann diese höhere Art der Wahrheit nicht unmittelbar aus Nachahmung der Natur entspringen, sondern nur aus einem System von Begriffen, das anfangs einen härteren und eckigen Styl bildet, bis auch dieses System von Regeln selbst wieder zur Natur wird und die Anmuth eintritt, denn das Zeichen der Anmuth ist die Leichtigkeit«. (AA II 6,1, 308)
Dem älteren oder ältesten Stil ging es demnach nicht um Nachahmung der empirischen, d. h. sinnenfälligen Natur – dies gilt gleichermaßen für die ägyptische wie griechische Kunst. Erst dadurch konnten sie sich als Kunst im strengen Sinne etablieren, nämlich durch Erhebung über die Natur, die nicht mehr deren sinnlichem Vorbild folgte (durch bloße Nachahmung), sondern einen (wie Schelling schreibt) »Typus der Gesetzmäßigkeit« (AA II 6,1, 305) in der Natur erkannte und diesen versuchte nachzubilden. Es ist kein Zufall, dass Schelling an dieser Stelle einen Vergleich mit der Wissenschaft nahelegt: Wie diese zu ihrer Erkenntnis gelangt, indem sie aus dem empirischen Fluss sinnlicher Bildfülle 2 J.J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1993, 216f.
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eine Gesetzmäßigkeit abstrahiert und sich damit selbst dem Fluss entzieht, um denkend das Sein zu erkennen, überwindet die Kunst die Natur durch Darstellung abstrakter Naturformen, welche nicht auf der Oberfläche der sinnenfälligen Natur liegen, sondern durch die Leistung der Abstraktion zu erringen sind. Dies lässt sich einerseits als eine Idealisierung der Natur beschreiben: von der Anschauung hin zur Abstraktion; andererseits können sowohl Wissenschaft als auch Kunst damit erst zum wahrhaft Realen oder Notwendigen vordringen: Naturgesetze in den Wissenschaften kennzeichnen die wahre Realität hinter dem ständigen Wandel der empirischen Natur – die Notwendigkeit im Naturgeschehen. Mehr noch ereignet sich die Zuwendung zur Realität in der Kunst dadurch, dass sie im Unterschied zur Wissenschaft diese Realität wiederum anschaulich in einem Kunstwerk darstellt – und nicht im abstrakten Medium des Begriffs. Dennoch gilt es zu beachten, dass Schelling (wie Winckelmann) dem älteren Stil eine Naturferne nachsagt, die erst mit dem hohen Stil und dessen Zurückwendung zur Natur überwunden wird. Das bedeutet, dass die abstrakten Formen des älteren Stils gerade nicht eine Naturgesetzmäßigkeit wie die Wissenschaften erlangen, vielmehr ist das ›Systema von Regeln‹ eine Fiktion der Kunst im wahrsten Sinne des Wortes: »Weil es aber doch nur ein gemachtes System ist, so entfernt sich die Kunst dadurch von der Art der Wahrheit, welche die Natur ihren Produktionen gibt.« (ebd.) Um die Gemachtheit der Formen sowie ihren Übergang zu wahren, lebendigen Formen in den folgenden Stilen und Zeiten der griechischen Kunst nachvollziehen zu können, bedarf es einer genaueren Schilderung ihrer Eigenart. Für Winckelmann sind die Formen im älteren Stil vor allem die Proportionen des dargestellten, vorrangig menschlichen Körpers, d. h. Verhältnisse der Körperteile, die klar bestimmt und in einem geometrisch verfahrenden Regelwerk festgehalten werden. Ein Schüler der Kunst lernt für gewöhnlich dieses Regelwerk und führt es in seiner Arbeit aus, ohne einen Blick auf die Natur werfen zu müssen. Diese mathematische Fixiertheit drückt sich folgerichtig in der Härte der Umrisse und Formen der Kunstwerke aus. Die diskrete und statische Quantifizierbarkeit von Zahlen-Verhältnissen unterbindet von Vornhinein jegliche Vorstellung von Lebendigkeit und Dynamik, wie sie erst im schönen Stil zur vollen Geltung kommen wird. Zudem werden die Proportionen nicht einfach der äußeren Natur ent- und im Kunstwerk übernommen; vielmehr werden sie selbst als Ausdruck eines Höheren, des Göttlichen oder Geistigen, idealisiert, so dass sie letztlich nicht mehr naturgetreu aussehen. Um ein »Übergewicht des Geistes auch körperlich auszudrücken«, wurden zum Beipiel die Augen in der griechischen Kunst »tiefer« gebildet; dagegen wurden eher für Sinnlichkeit stehende Körperteile – Schelling nennt an dieser Stelle die »weiblichen Brüste«, gemäßigt dargestellt. (AA II 6,1, 309)
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Eine interessante Erklärung dieser Idealisierung, die zugleich den Übergang vom älteren zum hohen Stil betrifft, liefert eine weitere Stelle aus Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, auf welche Schelling möglicherweise rekurrierte, um den philosophischen Gehalt von Winckelmanns Aussagen zu steigern und letztlich zu überbieten. Der menschliche Körper sei in seiner proportionalen Konstitution von der Zahl ›drei‹ beherrscht, die nicht nur in der Arithmetik die erste ›Verhältniszahl‹ und das Verbindende des ersten Ungeraden (Zahl ›1‹) und des ersten Geraden (Zahl ›2‹), sondern allgemein, d. h. ontologisch betrachtet, für jegliches Seiende konstitutiv ist. Winckelmann beruft sich hierfür auf Platon: »Zwei Dinge können, wie Plato sagt, ohne ein drittes nicht bestehen: das beste Band ist dasjenige, welches sich selbst und das verbundene auf das beste zu eins macht, so daß sich das erste zu dem zweiten verhält, wie dieses zu dem mittlern. Daher ist in dieser Zahl Anfang, Mittel und Ende, und durch die Zahl drei sind, wie die Pythagoräer lehren, alle Dinge bestimmt.«3
In Platons Timaios dient die von Winckelmann zitierte Stelle zur Erklärung der göttlichen Weltschöpfung, worin Feuer und Erde, das Sichtbare und das Betastbare, durch ein Band (desmos) zu einem Körper verbunden werden. Platon nennt dieses Band auch das ›Mittelglied‹ (mesotes) und wird es kurz darauf in die Elemente Luft und Wasser verlegen.4 Schelling hat diese Stelle in seinem Kommentar zum »Timaios« von 1794 noch ausgelassen; ihre erste Thematisierung findet sich in der Zweitauflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1803.5 Und obwohl der Kontext ein anderer ist (nämlich Natur- und nicht Kunstphilosophie) macht es Schellings zeitgleiche Auseinandersetzung mit der Kunst zumindest plausibel, dass er durch seine Winckelmann-Lektüre erneut auf diese Stelle verwiesen wurde, die er natürlich schon zuvor kannte und die sein Jenaer Kollege Hegel kurz davor in der Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie von 1801 zitiert hatte. Interessanterweise benutzt Hegel diese Stelle, um zu zeigen, wie die reelle Entgegensetzung von Subjekt und Objekt allein durch deren absolute Identität, die Subjekt-Objektivität möglich ist.6 Nimmt man alle diese Einflüsse zusammen, so scheint Schelling durch diese Platon-Stelle darauf gestoßen zu sein, wie erstens die Idealisierung der Natur im älteren Stil durch pythagoreische Zahlenmystik zustande kam; und wie zwei3 A. a. O., 168. 4 Vgl. Platon, Timaios, 31b–c. 5 Vgl. F.W.J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur. Als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft. Erster Theil (Zweite Auflage 1803), in: AA I/13, bes. 217. 6 Vgl. G.W.F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold’s Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, in: GW 4, 1–92, bes. 65 Anm.
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tens die abstrakten Formen im älteren Kunststil, die – obzwar bereits mystischideell – noch lediglich geometrische Proportionen sind, mithin räumliche Verhältnisse und Verbindungen von Teilen, einen Übergang zu lebendigen, naturnahen Formen erfahren. Dieser Übergang geschieht dadurch, dass sich Verhältnis und Verbindung schließlich als (lebendiges) Verhalten und Band ausdrücken werden. Auf diese Weise wird der hohe Stil seinen Gegenständen erst gerecht, die ja im Menschen ebenso wie in Tieren und Pflanzen Organismen sind, dass er sie nicht als statische Verhältnisse, sondern in ihrem dynamischen Verhalten und Handeln nachbildet. Als Ausdruck der Lebendigkeit ist das Verhalten im Organismus und mehr noch im Menschen das Band zwischen Licht und Materie, Seele und Körper, Ideellem und Reellem, da es Geistiges körperlich ausdrückt, wodurch in der Kunst erst Geistiges darstellbar wird. Ebenso wie Winckelmann und möglicherweise unter dem Einfluss von demselben hat Schelling ab 1805 das Band, das er auch für prädikationslogische Überlegungen ›copula‹ nennt, explizit in den Mittelpunkt seiner allgemeinphilosophischen Betrachtungen gerückt und dieses Band – erneut wie Winckelmann – idea genannt.7 In dem Rezensionsfragment Ein Wort über Naturschönheit, das wohl von 1807 stammt,8 heißt es explizit, dass »das Band des Göttlichen und Irdischen, die Idea [ist,] wie sie Winkelmann nennt«.9 Diese Stelle ist umso interessanter, wenn man der Kuriosität gewahr wird, dass Schelling hier einen der zentralsten Begriffe seiner eigenen Philosophie in dieser Zeit auf einen Kunsthistoriker zurückführt. Nimmt man diese Gleichsetzung des Mittelglieds (mesotes) oder Bandes (desmos) mit der idea bei Winckelmann (und dessen Rekurs auf Platon) ernst und sieht Schellings Anknüpfung daran durch die Belegstellen als erwiesen an, wirkt es reichlich ungerecht und in meinen Augen unerklärlich, dass sich Schelling in seiner (wohl zeitgleichen) Akademierede Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur von 1807 zu folgender Aussage verleiten lässt: »Wer kann sagen, daß Winkelmann die höchste Schönheit nicht erkannt? Aber sie erschien bey ihm nur in ihren getrennten Elementen, auf der einen Seite als Schönheit, die im Begriff ist und aus der Seele fließt, auf der andern als die Schönheit der Formen. Welches thätig wirksame Band bindet nun aber beyde zusammen oder durch welche Kraft wird die Seele sammt dem Leib, zumal und wie mit Einem Hauche, geschaffen? Liegt dieses nicht im Vermögen der Kunst, wie der Natur, so vermag sie überhaupt
7 Vgl. F.W.J. Schelling, Aphorismen über die Naturphilosophie, in: AA I/15, 214–258, bes. 220f. 229. 8 Vgl. zur Datierung C. Danz, Editorischer Bericht zu F.W.J. Schelling: Nachträge im Studienheft NL 28, in: AA II/5, 201–223, bes. 204–206. 9 F.W.J. Schelling, Ein Wort über Naturschönheit, in: AA II/5, 226–230, hier: 229.
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nichts zu schaffen. Dieses lebendige Mittelglied bestimmte Winkelmann nicht; er lehrte nicht, wie die Formen von dem Begriff aus erzeugt werden können.«10
Kurz darauf erklärt Schelling, was Winckelmann unterließ, nämlich geistigseelische auf der einen, körperliche Schönheit auf der anderen Seite, in Schellings Terminologie: Wesen und Form in ihrer Einheit, d. h. durch ihr Band zu begreifen. Wäre ihm dies gelungen, hätte er eingesehen, dass man eine Seite nicht ohne die andere thematisieren und erkennen kann. Bei jedem Objekt, sei es natürlich oder künstlich, lässt sich diese Dreiheit von Wesen, Form und Band aufzeigen: Den geistig-seelischen Aspekt erklärt Schelling als eine unerschöpfliche Fülle an Wesensmöglichkeiten gegenüber der äußeren körperlichen Form, die der aktuellen Wirklichkeit, den tatsächlichen Eigenschaften (Prädikaten) eines Dinges entspricht. Ein wahres Verständnis tut sich nur dann auf, wenn man beide Seiten nicht getrennt voneinander, sondern stattdessen den (schöpferischen) Übergang aus der inneren Möglichkeit in die äußerliche Wirklichkeit und wieder zurück betrachtet. Allein so gerät das lebendige Verhalten eines Objekts in den Blick. Bekanntlich nennt Schelling diesen Aspekt der Natur, den die Kunst nachzuahmen hat, die natura naturans, die schöpferische Natur, welche den Aspekt der Lebendigkeit der Dinge beleuchtet – im Gegensatz zum statischen Bild der natura naturata. Es ist müßig zu fragen, ob Winckelmann nicht schon viel weiter war, als Schelling hier behauptet und wie dieser an anderen Stellen auch selbst nahelegt. Doch für Schelling findet vom älteren zum hohen Stil der griechischen Kunst eine Vergeistigung oder Idealisierung der Formen (und damit des Naturverständnisses) statt, wodurch die griechische Kunst von räumlicher Proportion zur (wahren) idea vordringt und dadurch zugleich eine Realisierung der Formen betreibt – von ihrer Gemachtheit im menschlichen Verstande zu ihrer natürlichen Daseinsweise, die aus dem Wesen der Dinge selbst hervorgeht. Fragt man sich, wie dieses Band in der griechischen Kunst des Genaueren dargestellt wird, finden sich mit hohem und schönem Stil zwei interessante Alternativen: nämlich diejenigen der Indifferenz und der Anmut (Grazie). Im hohen Stil erfolgt eine Rückkehr zur Natur, indem der abstrakte Idealismus des älteren Stils überwunden und zwischen Geist und Natur, innerem Wesen und äußerer Form, ein Gleichgewicht oder eine gemäßigte Harmonie im Sinne einer (nahezu) paritätischen Ausgeglichenheit gefunden wird. Man kann darin sehen, wie die ehemals rein räumliche Proportion – das Band – nun eine mehr ideelle Bedeutung erhält. Doch erst mit dem schönen Stil wird das Band vollständig ideal 10 F.W.J. Schelling, Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur, in: SW VII, 289– 329, hier: 296. Der Ausdruck ›mit Einem Hauche‹ zitiert dabei ironischerweise noch Winckelmann und dessen eigenen Anspruch; vgl. das Winckelmann-Zitat bei Schelling: AA II/6,1, 306.
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(zur idea), indem sich die Indifferenz nunmehr als absolute Identität des Verbundenen zeigt – d. h. als Anmut oder deutlicher: als Liebe. Daniel Unger hat gezeigt, wie Schelling in der Philosophie der Kunst den hohen Stil der Indifferenz vom schönen Stil der Identität unterscheidet11 und dabei auf eine terminologische Differenzierung zurückgreift, die er in seiner Philosophie erst während seiner Professorenzeit in Würzburg (1803–1806) entwickelt. Letzteres haben Unger und ich im editorischen Bericht zur historisch-kritischen Ausgabe der Philosophie der Kunst herausgearbeitet.12 Bildhauerisch macht Unger dies an der Niobe-Statue und der Laokoon-Gruppe deutlich, die Schelling jeweils den beiden Stilen zuordnet. Ohne diese Unterscheidung in der Philosophie der Kunst und ihre zentrale Bedeutung für Schellings Denkentwicklung (und für seine Einschätzung der Kunst) hier weiter verfolgen zu können,13 sei bloß auf die jeweilige Darstellung des Bandes in Indifferenz und Identität hingewiesen, die Schelling in seinem System der gesammten Philosophie von 1805 vertritt. Dort schreibt er: »Die absolute Identität ist die Gleichheit des Wesens, oder sie ist wesentliche, qualitative Einheit. Indifferenz ist bloß quantitative Einheit, quantitatives Gleichgewicht.«14 In der Hoffnung, dass dieses Zitat für sich spricht, wende ich mich jetzt Schellings Kunstgeschichtlichen Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die äginetischen Bildwerke zu, die m. E. ein (noch) tieferes Verständnis des Bandes in der Kunst erlauben.
2.
Äginetische und attische Kunst: Oder vom Anziehen des Grundes
Einen Anlass zu weiteren Überlegungen über die griechische Kunst findet Schelling im Bericht des Künstlers und Kunstberaters Johann Martin Wagner über die äginetischen Bildwerke, der 1817 zusammen mit Schellings Anmerkungen erscheint. Wagner beschreibt darin die Giebelfiguren des Aphaia-Tempels auf Ägina, die er im Auftrag des Kronprinzen und späteren Königs von Bayern, Ludwig I., 1812 erworben hatte und die sich um 1816/17 noch in Rom befanden. Einige Jahre später gelangten diese in die von Leo von Klenze errichtete 11 Vgl. D. Unger, Klassizität im Übergang. Zur besonderen Stellung der Niobe in Schellings Erörterung der Skulptur, in: Schelling-Studien 6 (2018), 163–173. 12 Vgl. Vf./D. Unger, Editorischer Bericht zu F.W.J. Schelling: Philosophie der Kunst, in: AA II/ 6,1, 3–91, bes. 50–53. 13 Vgl. zu dieser Unterscheidung in Bezug auf Tragödie Vf., ›Es ist also der Charakter, der entscheidet.‹ Die moderne Tragödie der Freiheit in Schellings ›Philosophie der Kunst‹, in: Schelling in Würzburg, hrsg. v. C. Danz, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 181–209. 14 F.W.J. Schelling, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in: SW VI, 131–576, hier: 209.
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Glyptothek in München mit Rekonstruktionen von Bertel Thorvaldsen.15 Schelling benutzt diese Beschreibungen, ohne das Kunstwerk selbst gesehen zu haben,16 um seine früheren Auffassungen über griechische Kunst zu bestätigen und teilweise zu vertiefen. Vom Anfang bis zum Ende von Schellings Anmerkungen steht der Bezug der Kunst zur Natur, vor allem deren Verhältnis zur Nachahmung der Natur, im Mittelpunkt. Zu Beginn geschieht dies allerdings auf eine merkwürdig gebrochene Weise, indem Schelling die Kunst selbst im metaphorischen Sinne als ein Naturgewächs betrachtet. Anlässlich der Frage nach dem Verhältnis von ägyptischem zu (alt-)griechischem »Styl«, den Schelling mit Winckelmann den älteren Stil genannt hatte, kritisiert Schelling Wagners vorschnelle Antwort, wonach die Ägypter als Lehrmeister, die Griechen als deren Schüler fungierten. Stattdessen bringt Schelling zwei bis drei unterschiedliche Metaphern aus der Pflanzenwelt: Nach der ersten kann die ägyptische Kunst als »Boden und Erde« des »lebendigsten Gewächs[es]«, (SW IX, 121) d. h. der griechischen Kunst, betrachtet werden. Danach stellt jene zwar gewisse Voraussetzungen oder Möglichkeitsbedingungen bereit, doch liegt das eigentliche Potenzial, das Wesen, sowie die Entfaltungsaktivität (die Formen) im Griechentum selbst. Vergleicht man die Nutzung der Boden-Metapher an dieser Stelle mit anderen, zum Beispiel der in der Einleitung zitierten, liegt die Vermutung nahe, dass sich Ägypter zu Griechen wie naturnaher Realismus zu sich erhebendem Idealismus verhalte. Eine zweite Metapher scheint dem zu widersprechen, indem sie in ägyptischer und griechischer Kunst denselben (pflanzlichen) Trieb vermutet, der einmal einer ›gewaltsamen Hemmung‹, im anderen Fall der freien Entwicklung ausgesetzt ist. Hier scheinen äußere Bedingungen, die schon seit Winckelmann, spätestens aber seit Herder hervorgehobenen klimatisch-geographischen und soziopolitischen, ein im Grunde identisches Wesen zu unterschiedlichen Ausformungen geführt zu haben. Drittens – ähnlich zum vorherigen, aber doch nicht ganz dasselbe – gleichen beide Phänomene in ihren Anfängen einander wie Samen einer Pflanze, die sich äußerlich, d. h. in ihrer Form noch ähnlich sehen, aber schon zu Beginn voneinander unabhängig sind und in ihrer Entwicklung gänzliche andere Formen annehmen. Die beiden letztgenannten Metaphern legen die Vermutung nahe, dass griechische und ägyptische Kunst wesensgleich
15 Vgl. zu den historischen und kunstgeschichtlichen Hintergründen die Beiträge von Astrid Fendt und Matthias Hofter in diesem Band. 16 Schelling hat nur die Zeichnungen zweier Giebelfiguren in Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincys Schrift über den olympischen Jupiter (1814) gesehen, die laut Schelling aber so gar nicht den Beschreibungen Wagners entsprechen (F.W.J. Schelling, Kunstgeschichtliche Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, in: SW IX, 111–206, bes. 127).
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oder zumindest -ähnlich sind und damit möglicherweise eine ähnliche idealistische Tendenz auf realistischem Boden aufweisen. Eigentliches Thema von Schellings Anmerkungen ist indes nicht die Unterscheidung ägyptischer und griechischer, sondern die Gegenüberstellung von äginetischer und attischer Kunst, die Schelling auch durch deren Verhältnis zur Natur verdeutlicht. Zunächst einmal schlägt er an dieser Stelle anders als in der Philosophie der Kunst vor, die gesamtgriechische Kunst in diese beiden Kunstrichtungen zu trennen, da sie keineswegs identisch sind. Während die attische Kunst den von Winckelmann vorgeschlagenen Weg von älterem zu hohem und schließlich schönem Stil zurücklegt, habe die auf der Insel Ägina anzusiedelnde Kunst einen anderen Anfang und eine andere Entwicklung genommen. Hebe die attische Kunst von einem »Systema von Regeln«, (SW IX, 157) also von abstrakten Ideen, an, so stehe die äginetische Kunst von Anfang an im Dienste der »treuen und genauen Nachahmung der Natur«, die bis zur Täuschung voranschreitet, also täuschend echt oder natürlich wirken möchte »ohne alles Streben nach dem Idealen«. (SW IX, 158) Diesen äginetischen Realismus in der Kunst erklärt Schelling daraus, dass diese »in sehr nahem Bezug mit dem Gewerb und dem Handwerk stand«. (ebd.) Während der attische Idealismus von Vornherein dafür Sorge trug, dass die Kunst in Abhebung (Abstraktion) von der Natur als gesonderter Bereich sich hervortat, war die äginetische Kunst eine Spielart der techne. Mithin stand sie noch mehr im Dienste des natürlichen Lebens und menschlichen Alltags; ihre Darstellung vergleicht Schelling mit der niederländischen Malerei, die im Gegensatz zur italienischen Spielart ebenso naturnah agierte – man denke ebenso an die Alltagsdarstellungen wie die Landschaftsmalerei. Nebenbei sei bemerkt, dass die äginetische Kunst, wäre sie zu Platons Zeiten nicht schon längst untergegangen, diesem einen eindeutigen Referenzpunkt seiner Kritik geboten hätte; denn hier scheint sich die Nachahmung der Natur nicht direkt an der idea, sondern an deren Bild zu orientieren, mithin ein Abbild des Abbilds zu sein. Interessant ist nun für Schelling, derjenige Punkt der Geschichte, an welchem sich attische und äginetische Kunst vermischen, wie er es am attischen Bildhauer Phidias vorzüglich repräsentiert sieht. Phidias, dessen Verdient die Kunstkenner zu Schellings Zeiten einhellig in der Erschaffung eines bisher nicht dagewesenen Ideals sehen, biete nach Schelling selbst mehr als ein bloßes »Ueberspringen oder Uebertreffen« der Natur, wie es ja bereits im älteren Stil der Fall war, der durch Abstraktion seinen Sprung ins Ideale nahm. Vielmehr beginnt mit Phidias der hohe Stil und damit eine Rückkehr zur Natur in der Absicht der »Ueberwindung, Unterwerfung und gänzliche[n] Durchdringung der Natur«, (SW IX, 159) die zu ihrer Realisierung den Aspekt der Naturnachahmung wieder aufnehmen musste. Folglich war Phidias angewiesen auf den mehr oder weniger glücklichen Zusammenstoß mit der äginetischen Kunst, welche der abstrakten attischen Kunst
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wieder die Natur nahebrachte: sie gelangte so »vom Abstrakten zum Lebendigen, vom Systematischen zum Natürlichen«. (SW IX, 160) Hat man bislang den Grund des Übergangs von älterem zu hohem Stil nicht finden können und somit den Übergang gleichsam als ein »Wunder« aufgefasst, so bietet die äginetische Kunst als »Mittelglied« einen triftigen Erklärungsgrund, um »jene Lauterkeit, Freiheit und Lebendigkeit der Kunst« (ebd.) bei Phidias und seiner Schule zu verstehen. Dazu hat es nach Schellings Vermutungen nur kommen können, indem sich einerseits die äginetische Kunst das Ideale aneignete (er spricht von einer Anziehung des Idealen), andererseits die attische Kunst das Natürliche bezog (Anziehung des Natürlichen).17 Diese ideal-realistische Wechseldurchdringung kulminiert allerdings erst in der attischen Variante in (der eben genannten) »Lauterkeit, Freiheit und Lebendigkeit« der Bildwerke des Phidias. ›Lauterkeit und Freiheit‹ gelten in Schellings zeitgleicher Weltalterphilosophie als Attribute der höchsten anfänglichen Einheit, der Indifferenz, die noch nicht die Gegensätze in sich zu einer Identität geführt oder aufgehoben hat, sondern sich gleichsam zwischen den Differenzen befindet (im Sinne von In-der-Differenz). Schon in der Philosophie der Kunst galt der hohe Stil als Verfechter der Indifferenz, worin die Differenzen – Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit – in einem ausgewogenen Gleichgewicht, einer gewissen Harmonie liegen. In Übereinstimmung damit heißt es nun: »Phidias erhob es [das Naturprinzip; C.B.] bis zur völligen Gleichgewichtigkeit mit dem höheren oder idealen.« (SW IX, 161) Naturnachahmung und Idealismus in der Kunst haben sich zunächst separat gebildet, um letztlich zu einer Synthese zu gelangen: »Ein solcher Gang der Dinge ist ganz dem gewöhnlichen Verfahren der Natur gemäß, die, wenn sie das Vollkommene hervorzubringen beabsichtet, die entgegengesetzten Eigenschaften, aus deren Zusammenfluß es entsteht, erst jede für sich ausbildet, bis sie sich gegenseitig erkennen als zusammengehörig, und eine die andere in sich aufnimmt.« (SW IX, 160)
Hieraus ersieht man auch, was der ägyptischen Kunst nach Schelling gefehlt, was sie (ihren Trieb) durch das Fehlen gehemmt hat: das Andere ihrer selbst. Das ›eine‹, das das andere aufnimmt, wird für Schelling das Attische, also Ideale sein – die idea als das Verbindende –, doch ist diese Aufnahme bei Phidias noch keine vollständige, vielmehr der sich im Gleichgewicht der Seiten befindliche Übergang, der damit von beiden Seiten noch gleich unberührt ist. Anhand der attischen Tragödie verdeutlicht Schelling nun den Übergang von hohem zu schönem Stil: Aischylos’ Tragödien im hohen Stil hätten niemals ohne
17 Vgl. SW IX, 182.
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die »Anziehung eines fremden Elements« (ebd.)18 entstehen können. Schellings Wortwahl ist bedacht: Die Anziehung erinnert an das »Anziehen des Grundes« aus den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit, womit sich die Natur gegen das Aufkommen oder besser: die Erhebung des Idealen durch Aufbietung aller Kräfte wehrt.19 Mit Sophokles ist dieses »aber schon wieder mehr verschmolzen und dem andern [also dem Idealen; C.B.] unterworfen«. (ebd.) Die bloße Nachahmung der Natur bei den Ägineten konnte deshalb nicht das volle Potenzial, alle Kräfte der Natur realisieren, da ihnen das entgegengesetzte Element, das Ideale, abging. Erst den Griechen des Festlandes zeigt sich somit die Natur in ihrem ganzen Ausmaß: »das rein Nothwendige: jenes Princip, um dessen Erhebung es in der Kunst und Poesie eigentlich zu thun ist, erscheint [… im hohen Stil erst; C.B.] in seiner lautern Großheit«: (SW IX, 161) Der Prometheus des Aischylos handelt gerade im mythologischen Sinne von dieser Großheit, die noch nicht gezähmt ist, nämlich von einem Titanen, der auch am Ende kraft seiner Empörung gegen die olympischen Götter noch die Größe des naturwüchsigen Prinzips vertritt. Titanen und Giganten sind in Schellings Mythologie-Deutung die naturwüchsigen Götter, die schließlich von den olympischen Göttern bezwungen und dadurch einer idealen Ordnung unterworfen werden.20 Erst mit der vollständigen Unterwerfung der Titanen durch die olympischen Götter ist das Naturprinzip »gekränkt, und in dem liebevollen Streit, der sich zwischen ihm und dem angezogenen höheren entzündet, mehr und mehr überwältigt und zur Unmerklichkeit gebracht«. (ebd.) – Dies ist für Schelling die Entwicklung, welche sich in der Tragödie bei Sophokles zeigt (und ganz nebenbei offenbart dies auch, wie sich Schelling die Entwicklungen einer Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau vorstellt). Der schöne Stil befriedet die ehemals wilde, zügellose Natur und unterwirft sie der geistigen Liebe. Die Einheit, welche sich zuvor noch in der Indifferenz, dem antagonalen Gleichgewicht zwischen Natur und Geist, im hohen Stil ausdrückte, gerät nun zur absoluten Identität, worin das Ideale als Band die Natur »liebevoll«, d. h. eben nicht gewaltsam, sondern mit einer Art von Einverständnis – denn auch die Natur liebt den Geist –, unterwirft. Damit wird die Gewalt gleich in zweifacher Hinsicht obsolet: Sowohl die Gewalt der zügellosen Natur als auch die Gewalt des Idealen in der Abstraktion des älteren Stils weichen einer Unterwerfung durch Liebe. Schelling denkt hier vor allem an Sophokles’ Spätwerk, den Ödipus auf Kolonos, worin der gealterte, gereifte, nicht 18 Woher für Schelling dieses Element im Falle der Tragödie kommt, bleibt allerdings unklar. Dass die äginetische bildende Kunst auch die redende Kunst beeinflusste, ist eher unwahrscheinlich. 19 F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit, in: AA I/17, 109–179, bes. 148. 168. 20 Vgl. AA II/6,1, 136.
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mehr wütende Ödipus seine Versöhnung mit den Göttern und damit ein nahezu christliches Ende findet.21 Nicht nur das Liebesmotiv führte Schelling zu der Annahme, dass Sophokles hier das attische Tragische im hohen Stil, das auch noch im König Ödipus erscheint, überwindet und das christliche Drama präfiguriert. Terminologisch betrachtet merkt man, wie Schelling in seinen Kunstgeschichtlichen Anmerkungen zu J.M. Wagners Bericht über die äginetischen Bildwerke die griechische Kunst nach seinem Schema von Grund und Existierendem deutet; er zeigt auf, wie der Grund als Natur vermittelt durch die Ägineten in der attischen Kunst des hohen Stils seine volle Kraft entfaltet, um schließlich im schönen Stil mit dem idealen Prinzip zu einer neuen Identität geführt zu werden. Das Verhältnis von Natur und Geist, oder besser: von Notwendigkeit und Freiheit, und dessen Entwicklung sieht Schelling wie schon in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst am deutlichsten nicht in der Plastik, sondern in der redenden Kunst, genauer: der Tragödie ausgedrückt. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Anschauung der Bildwerke bzw. die Bildwerke selbst Schelling nicht zur Verfügung standen und er daher auf Aussagen älterer Schriftsteller, vor allem auf Winckelmann und Pausanias, oder im Fall der Ägineten auf Wagner rekurrieren musste. Doch letztlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Schelling wie viele seiner Philosophenkollegen (zum Beispiel Hegel) zur redenden Kunst einfach mehr zu sagen hatten.
3.
Ausgang: Idealismus oder Realismus?
Ist nun für Schelling die griechische Kunst realistisch oder ist sie idealistisch? Rückblickend lässt sich feststellen, dass Schelling ein viel komplexeres Verhältnis zwischen Kunstrichtungen und -herkünften intendierte, als in einer groben Einteilung in idealistisch hier, realistisch dort zu fassen ist. Nichtsdestoweniger bietet die Verwendung dieser Begriffe eine wichtige Strukturierung in seinem Kunstverständnis. Auf der einen Seite lässt sich die griechische Kunst als eine Entwicklung darstellen, die von einem abstrakten Idealismus im älteren Stil zu einem indifferenten Idealrealismus im hohen Stil (bei Phidias, Aischylos und dem frühen Sophokles), bis zu einem auf idealer Identität gründenden Idealrealismus des schönen Stils (Praxiteles, später Sophokles) fortschreitet. Trotz überwiegender idealistischer Ausrichtung kann diese Entwicklung ebenso als Anschauung der Natur beschrieben werden: Denn erst im griechischen Idealismus gelangt die Natur zu ihrer eigentlichen Entfaltung und Kraft. Die bloße Nachahmung von 21 Vgl. a. a. O., 378f.
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äußeren Naturformen dringt niemals zum wahren Wesen der Natur vor, sie bleibt an deren Oberfläche. Von daher besteht die Hervorhebung der Natur (und des Realismus) – kraft Anziehung der Natur – bei den Griechen zu Recht. Dies gilt noch mehr vom hohen Stil – der Indifferenz zwischen Natur und Geist – als vom schönen Stil, worin die Natur vollständig idealisiert, im Geist aufgehoben erscheint (damit aber auch für Schelling in ihrer wahren Bedeutung erkannt wird). Der Siegeszug des Idealismus bei den Griechen ist allerdings nur von kurzer Dauer. Und gerade dies kann als Hinweis dafür gelten, dass die ursprüngliche Naturverbundenheit (Naturreligion) eben weiterhin vorherrschte und von Anfang an den Boden der griechischen Kunst darstellte. Denn auch der abstrakte Idealismus des älteren Stils entnahm sein Systema der Natur und erhob sich auf noch wackeligen Beinen von ihr. Die in den Kunstwerken weiterhin dargestellte polytheistische Mythologie, die auf Naturgottheiten zurückgeht, demonstriert ebenso diese Naturverbundenheit. Das ›Band‹ führt Schelling zuletzt auf den lateinischen Ausdruck religare und damit auf Religion zurück. Die eigentliche Verbundenheit mit dem Idealen – die geistige religio – fehlte aber den Griechen. Der Höhepunkt bezeichnet daher auch den Punkt des Niedergangs – im Stil der Nachahmer –, den Schelling wohl vor allem in Euripides (und in dessen Theoretiker Aristoteles) präfiguriert sah. Die ideale Schönheit und Liebe verkommen dort zu einer realistischen Deutung: in Oberflächlichkeit, E- und Affekthascherei und Liebespossen – ausgedrückt ebenso in der Bildhauerei wie im Drama. Die lange Zeit des Hellenismus und der Großmacht Roms dient als Anschauungsmaterial für diesen Niedergang und damit aber wiederum als Grund und Boden eines höheren, des christlichen Idealismus. Doch auch zu Schellings eigener Zeit scheint sich die Lage nicht großartig geändert zu haben: Die hohen und schönen Zeiten der italienischen Malerei und auch noch die der Literatur eines Shakespeare und Calderon sind vorbei; nach der schönen Einheit von Idealem und Realem tritt deren ›Entzweiung‹ ein – im französischen Formalismus des Theaters ebenso sichtbar wie im englischen Empirismus, dem der französische Materialismus zumindest in der Philosophie folgt: »Die einen, welche das Leere der Form ohne den Inhalt bemerken, predigen die Rückkehr zur Materialität durch Nachahmung der Natur, die andern, die sich über jenen leeren und hohlen äußerlichen Abhub der Form nicht schwingen, predigen das Idealische, die Nachahmung des schon Gebildeten; keiner aber kehrt zu den wahren Urquellen der Kunst zurück, aus denen Form und Stoff ungetrennt strömt.« (AA II 6,1, 107f.)
Vom idealen Mischverhältnis scheint die Kunst noch weit entfernt zu sein.
Christian Danz
»Über Bedeutung ‹und Ursprung› der Mythologie zusammen, weil nicht voneinander zu trennen«. Schellings Gottheiten von Samothrake im Kontext der werkgeschichtlichen Entstehung seiner Philosophie der Mythologie
Am 11. Oktober 1815 hielt Schelling in der öffentlichen Versammlung der königlichen Akademie der Wissenschaften in München die Rede anlässlich des auf den nachfolgenden Tag fallenden Namensfestes des Königs von Bayern, Maximilian I. Seinen Zuhörern enthüllte der Redner, Generalsekretär der dortigen Akademie der Künste, die Mysterien der samothrakischen Gottheiten. Der ehrwürdigen Versammlung, die sich zu Ehren des Königs zusammengefunden hatte, sollten die Ausführungen des Philosophen in gedruckter Form vorliegen. So jedenfalls hatte es der Redner geplant. Allein, durch diverse Turbulenzen während der Drucklegung der Abhandlung musste sich das Auditorium mit dem gesprochenen Wort begnügen.1 Seit Anfang des Jahres hatte Schelling vermutlich an seiner Rede gearbeitet.2 Erstmals erwähnt er sie bereits ein Jahr zuvor in einem Brief an seinen Verleger Johann Friedrich Cotta vom 19. April 1814.3 Eine erste Nennung der Kabiren findet sich indes schon in einem Tagebucheintrag vom Vorjahr. Unter dem Datum 4. bis 7. April 1813 notierte er die Namen der Kabiren sowie die Quelle, in der er auf sie gestoßen ist: »nach dem alten Ausleger zu Apoll|
1 Am 10. Oktober 1815 berichtet Schelling seinem Verlegen Johann Friedrich Cotta in Tübingen, dass der Druck unvollständig sei, da ein Bogen fehle. Am 12. Oktober lag der vollständige Druck der Abhandlung über die samothrakischen Götter noch nicht vor. Erst zwei Tage später schickte die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung den fehlenden Bogen, der indes am 17. des Monats immer noch nicht in München eingetroffen waren. Vgl. H. Fuhrmans/L. Lohrer (Hrsg.), Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, Stuttgart 1965, 109f. 110f. 113. 2 In seinem Tagebuch aus dem Jahre 1815 findet sich der erste Eintrag zu den Gottheiten von Samothrake im Januar 1815. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814–1816. Die Weltalter II – Über die Gottheiten von Samothrake, hrsg. v. L. Knatz/H.J. Sandkühler/M. Schraven, Hamburg 2002, 61–96. Ob Schelling die ersten Notate zu den Gottheiten wirklich bereits im Januar und dann ab dem 9. April in sein Tagebuch eingetragen hat oder später, muss allerdings offen bleiben. 3 Vgl. F.W.J. Schelling an J.F. Cotta am 14. 8. 1814 (Schelling und Cotta, 87f.). Hier ist von einem Termin vor Ostern 1815 die Rede.
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onii| Argon|auticon| angef|ührt| bei Vossius, De orig|ine| et progr|essu| idololat| triae| L. II. C. LVII. |p. 228|«.4 Mit den samothrakischen Mysterien nimmt der Philosoph jedenfalls ein Thema auf, welches ihn schon während seiner Tübinger Studienzeit beschäftigte und das im Kontext der Ausarbeitung der Identitätsphilosophie erneut in den Fokus seines Interesses rückt. Das betrifft vor allem den Ceres-Mythos, der ebenfalls ein zentrales Motiv der Rede über die Gottheiten von Samothrake ist, sowie – eng damit zusammenhängend – die antiken Mysterien. Beides sind prominente Themen der Identitätsphilosophie. Seinem 1802 erschienenen Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt beendete Schelling mit einer Adaption des Ceres-Mythos zur Versinnbildlichung des Grundgedankens der identitätsphilosophischen Naturphilosophie.5 Zudem arbeitete er in dieser Zeit, wie er an August Wilhelm Schlegel schreibt, an einem der mythologischen Ceres-Gestalt gewidmeten Projekt.6 Ebenso finden sich durchgängig in den frühen identitätsphilosophischen Schriften Hinweise und Ausführungen zu den antiken Mysterien und ihrem Verhältnis zur Mythologie.7 Schellings Akademierede Ueber die Gottheiten von Samothrake greift nicht nur identitätsphilosophische Motive auf, zugleich kommt, worauf auch in der Forschung immer wieder hingewiesen wurde, ihr eine Schlüsselstellung für die weitere werkgeschichtliche Entwicklung seines Denkens, insbesondere der späteren Philosophie der Mythologie zu.8 In der Tat präsentiert bereits die Akademierede von 1815 den Grundgedanken von Schellings später Philosophie der Mythologie, wie sie in den Münchener und Berliner Vorlesungen ausgeführt ist. 4 F.W.J. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter, hrsg. v. L. Knatz/H.J. Sandkühler/M. Schraven, Hamburg 1994, 111. 5 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in: SW V, 106–124, hier: 124. Schelling folgt in seiner Darstellung des Ceres-Mythos K.P. Moritz, Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten, Berlin 1795, 106–108; ders., Anthousa oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit. Die heiligen Gebräuche der Römer, Wien/ Prag 1801, 84–87. Zu Schellings Journal-Aufsatz von 1802 vgl. P. Ziche, Die »eine Wissenschaft der Philosophie« und die »verschiednen philosophischen Wissenschaften«. Wissenschaftssystematik und die Darstellung des Absoluten in »Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt«, in: Gegen das »unphilosophische Unwesen«. Das »Kritische Journal der Philosophie« von Schelling und Hegel, hrsg. v. K. Vieweg, Würzburg 2002, 211–222. 6 Vgl. F.W.J. Schelling an A.W. Schlegel am 29. 11. 1802 (AA III/2,1, 510). Vgl. hierzu H. Kunz, Schellings Gedichte und dichterische Pläne, Zürich 1955, 68. 7 Vgl. nur den Anhang zu der 1804 erschienenen Abhandlung Philosophie und Religion, der den Mysterien gewidmet ist und auch das Ceres-Thema aufnimmt. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie und Religion, SW VI, 13–70, bes. 65–70. Die Mysterien sind bereits ein Gegenstand, mit dem sich Schelling im Tübinger Stift beschäftigte. Vgl. F.W.J. Schelling, De malorum origine, AA I/1, 72f.; ders., Geschichte des Gnosticismus, AA II/5, 87–100. Vgl. hierzu T. Gloyna, Kosmos und System. Schellings Weg in die Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 8 Vgl. S. Peetz, Die Philosophie der Mythologie, in: F.W.J. Schelling, hrsg. v. H.J. Sandkühler, Stuttgart/Weimar 1998, 150–168, bes. 154f.
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Sichtbar wird das jedoch nur dann, so die im Folgenden zu erläuternde These, wenn man in die argumentative Rekonstruktion der Abhandlung ihre identitätsphilosophischen Grundlagen einbezieht, die in den frühen Texten sowohl in der Aufnahme des Ceres-Mythos als auch der Mysterien versinnbildlicht wird. Es geht nämlich auch in der Kabiren-Abhandlung nicht lediglich um Mythologie, wie in der Literatur zumeist angenommen, sondern um die Mysterien und ihr Verhältnis zur exoterischen Mythologie. Erst daraus ergibt sich der Grundgedanke von Schellings Philosophie der Mythologie, dass die Mythologie dann angemessen verstanden werde, wenn man von einer Gleichursprünglichkeit von Bedeutung und Ursprung der mythologischen Götter ausgeht. Diese Auffassung arbeitet nicht allein die Akademierede von 1815 aus, sie findet sich auch explizit ausgesprochen als Zusammenfassung seiner Vorüberlegungen zu dem Vortrag, die er sich in seinem Tagebuch von 1815 notiert hat. Hier heißt es: »Über Bed| eutung| ‹und Urspr|ung|› der Mythol|ogie| zusammen|,| weil nicht voneinander zu trennen. (Entscheidend) |,| nicht zwei get|rennte| Untersuchungen|,| sondern Eine und das|selbe.|«9 Auch dieser Gedanke ist nicht neu. Er verdankt sich der identitätsphilosophischen Systemkonstruktion. Damit ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen benannt. Zu rekonstruieren ist, wie aus der Beilage zu den Weltaltern, die die Abhandlung über die samothrakische Götterlehre zunächst sein sollte, sich das späte Hauptwerk werkgeschichtlich entwickelt. Das wird in drei Schritten dargestellt. Zunächst ist der Grundgedanke der Rede zum Namensfest des Königs selbst in seinem Argumentationsgang und in seinen systematischen Voraussetzungen darzustellen. Im zweiten Abschnitt wird Schellings erste Vorlesung über Philosophie der Mythologie in den Blick genommen, die er im Sommer 1821 in Erlangen gehalten hat.10 Sie nimmt, wie zu zeigen ist, den aus der Identitätsphilosophie stammenden Grundgedanken der Rede Ueber die Gottheiten von Samothrake auf. Vor diesem Hintergrund wendet sich der abschließende dritte Abschnitt Schellings Münchener Vorlesung Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie zu, die vor dem skizzierten werkgeschichtlichen Hintergrund als ausführliche Ausarbeitung des Grundgedankens der Abhandlung von 1815 verständlich wird.
9 F.W.J. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814–1816, 95. 10 F.W.J. Schelling, [Erlanger Vorlesung über »Bedeutung und Ursprung der Mythologie«; ab dem 31. August 1821], Universitätsbibliothek Breslau, Signatur: Hs. Aks. 1949/188. Ich danke Christoph Binkelmann (München), dass er mir eine Rohtranskription dieses für die Schellingforschung wichtigen Textes zur Verfügung gestellt hat.
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»Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst«, oder: Mythos und Mysterien in Schellings Gottheiten von Samothrake
Schellings sukzessiv entworfenes Bild der samothrakischen Götter, das er seinen Hörern in der Münchener Akademie der Wissenschaften im Oktober 1815 vor Augen malt, gipfelt in der Beschreibung jener Göttergestalten als einem unauflöslichen Leben. »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst, wie es in einer Folge von Steigerungen vom Tiefsten ins Höchste fortschreitet, Darstellung der allgemeinen Magie und der im ganzen Weltall immer dauernden Theurgie, durch welche das Unsichtbare ja Ueberwirkliche unablässig zur Offenbarung und Wirklichkeit gebracht wird, das war ihrem tiefsten Sinn nach die heilig geachtete Lehre der Kabiren.« (SW VIII, 368)
In diesem Bild kommen die Ausführungen des Redners über jenen »geheimnisvolle[n] Götterdienst« (SW VIII, 347) auf der Ägäis-Insel, von dem eine Nachricht von Mnaseas die Namen der Götter überliefert, zum Abschluss. Dem antiken Autor zufolge seien »deren drei der Zahl nach, Axieros, Axiokersa, Axiokersos«, wobei einige noch einen vierten, »Kasmilos genannt« (SW VIII, 349), hinzufügen. Dieses Resultat, in den samothrakischen Göttergestalten in ihrer Folge komme das Leben selbst als ein unauflöslicher Zusammenhang zur Darstellung, reformuliert nichts anderes als den Grundgedanken seiner Identitätsphilosophie. Er steht nicht nur im Hintergrund seines Weltalter-Projekts,11 sondern auch der vorgezogenen Beilage zu diesem Werk, wie es in der Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrake vorliegt. Dass noch diese als Weiterführung der identitätsphilosophischen Systemkonzeption verstanden werden kann, wird deutlich, wenn man darauf achtet, wie Schelling in seinen Ausführungen zu der von ihm herausgehobenen Beschreibung der samothrakischen Gottheiten als Darstellung des ›unauflöslichen Lebens‹ gelangt. Im Folgenden ist deshalb zunächst der Bestimmung dieser Göttergestalten sowie den systematischen Grundlagen ihrer Konstruktion nachzugehen. Dabei wird schnell deutlich, dass es die von ihm um 1800 ausgearbeitete Potenzenlehre ist, die neben den sprachgeschichtlichen Untersuchungen zu den Wurzeln der Götternamen, die der umfangreiche Anmerkungsteil der Abhandlung präsentiert,12 sowohl zur Bestimmung der einzelnen Götter als auch von ihrem Zusammenhang benutzt wird. 11 Zu den identitätsphilosophischen Motiven in den ›Weltaltern‹ vgl. A. Lanfranconi, Krisis. Eine Lektüre der »Weltalter«-Texte F.W.J. Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992. 12 Vgl. hierzu Vf., »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst […] war ihrem tiefsten Sinn nach die heilig geachtete Lehre der Kabiren«. Überlegungen zum Systembegriff in Schellings Akademievortrag ›Ueber die Gottheiten von Samothrake‹, in: Systemkonzeptionen im Hori-
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In seiner Entschlüsselung des samothrakischen Kultus erörtert Schelling zunächst die drei von dem antiken Schriftsteller genannten Gottheiten Axieros, Axiokersa und Axiokersos sowie die in dem sogenannten Pariser Scholion zum Argonautica ergänzte vierte Gestalt Kasmilos. Bei diesen vier Göttern, die in der antiken und zeitgenössischen Literatur mit den samothrakischen Mysterien sowie den Kabiren verbunden wurden, bleibt es jedoch nicht. Im Zuge seiner Erörterungen fügt der Redner eine fünfte Göttergestalt ein, die er Demiurg bzw. den überweltlichen freien Gott nennt.13 Auch das erfolgt mit Berufung auf antike Quellen, die von sieben oder acht kabirischen Göttern berichten. Während Schelling die ersten drei Göttergestalten zusammenrückt, erscheinen die vierte und fünfte in relativer Unabhängigkeit. »Ueber Natur und Geisterwelt [repräsentiert durch Axieros, Axiokersa und Axiokersos bzw. Ceres, Proserpina und Dionysos; C.D.] das die beiden [Natur und Geisterwelt; C.D.] sowohl unter sich als mit dem Ueberweltlichen vermittelnde, Kadmilos oder Hermes. Ueber diesen allen der gegen die Welt freie Gott, der Demiurg.« (SW VIII, 361)
Verständlich werden die Ausführungen Schellings, die auf die Bedeutung der Göttergestalten, die selbst wiederum durch ihre »Stelle« bestimmt ist, »welche jede Gottheit im allgemeinen Göttersystem einnimmt« (SW VIII, 376), erst, wenn man seine Potenzenlehre einbezieht, die auch das tragende Gerüst des WeltalterProjekts darstellt, an dem er seit 1810 arbeitete.14 Was ist also unter den Potenzen zu verstehen, welche systematische Funktion haben sie und wie sind sie den Göttergestalten zugeordnet? Das um 1800 ausgearbeitete Identitätssystem hat seine Eigenart darin, dass das Besondere und Einzelne als Darstellung des Absoluten verstanden wird.15 Dabei ist das Absolute, von Schelling als absolute Identität bzw. Vernunft bestimmt, selbst nicht darstellbar. Es kommt ausschließlich in den besonderen zont des Theismusstreites (1811–1821). System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus, Bd. 5, hrsg. v. Vf./J. Stolzenberg/V.L. Waibel, Hamburg 2018, 181–198. Die der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten zugrunde liegende methodische Verzahnung von kritischer Philologie und philosophischer Konstruktion ist für Schellings gesamtes Werk konstitutiv und begegnet bereits in den Tübinger Frühschriften, zum Beispiel in seiner Magisterdissertation über Genesis 3. Vgl. hierzu C. Arnold, Schellings frühe Paulus-Deutung. Die Entwicklung von F.W.J. Schellings Schriftinterpretation und Christentumstheorie im Zusammenhang der Tübinger Theologie seiner Studienzeit und der hermeneutischen Theoriebildung in der Aufklärungszeit, Stuttgart-Bad Cannstatt 2019. 13 Vgl. F.W.J. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, in: SW VIII, 347–422, hier: 381. 14 Vgl. F.W.J. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch, SW VIII, 195–344; vgl. auch ders., WeltalterFragmente, hrsg. v. K. Grotsch, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 167–266. 15 Vgl. hierzu Vf., »Endlich die Philosophie ist unter diesen Wissenschaften die symbolische.« Anmerkungen zu Schellings Würzburger Symbolbegriff, in: Schelling in Würzburg, hrsg. v. dems., Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 55–77; ders., Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809, in: Systeme in Bewegung: Systembegriffe nach 1800–1809, hrsg. v. V. Waibel/dems./J. Stolzenberg, Hamburg 2018, 97–116.
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Formen zur Darstellung, die mit dem Wesen bzw. dem Absoluten gleichursprünglich sind.16 Im System wird somit das Besondere nicht als solches konstruiert, sondern als Repräsentation oder Bild des Absoluten. Diese Struktur bezeichnet Schelling als Form bzw. als Idee. Um den Darstellungscharakter der Form explizieren zu können, bedient er sich der Potenzenlehre. Sie entfaltet Identität als symbolische Verweisstruktur. Form als Darstellung meint ein Einheitsmodell, welches weder als Schematismus noch als Allegorie verstanden wird. Das Besondere ist also kein Fall einer allgemeinen Regel, noch bedeutet es das Allgemeine. Beides, Besonderes und Allgemeines, werden in der Form in einen selbstbezüglichen Zusammenhang gebracht.17 Darstellung des Absoluten ist die Form allein in ihrer triadischen Gesamtstruktur. Diese wird durch ein dreimaliges Setzen der Einheit von Besonderem und Allgemeinem als Darstellung der absoluten Identität entfaltet. In der ersten Potenz ist das Allgemeine das Besondere, d. h. Identität (A=A) wird als besondere gesetzt (A=B). Eine solche »relative Identität« (AA I/10, 142) ist die erste Potenz aber nur, weil sie zugleich »relative Duplicität« und »relative Totalität« (ebd.), also zweite und dritte Potenz ist. In der ersten Position ist das Allgemeine als Besonderes und in der zweiten das Besondere als Allgemeines gesetzt. Durch diese Gleichsetzung, welche die dritte Potenz repräsentiert, sind beide Seiten unterschieden und dadurch aufeinander bezogen. Die triadische Struktur expliziert die Form als symbolischen Verweiszusammenhang. In diesem Einheitsmodell ist die Identität selbst nicht darstellbar. Sie erscheint lediglich als selbstbezügliches Symbol, indem das Besondere das Allgemeine ist. Auf diese Weise kommt die absolute Identität oder das Wesen allein in der Form zur Darstellung. Das Universum in der Unendlichkeit seiner Formen versteht das Identitätssystem als Bild des Wesens. Wesen und Form entstehen zugleich, wobei die durch die triadische Potenzenstruktur explizierte Form oder Idee strikt selbstbezüglich ist, so dass Sein und Bedeutung in ihr eins oder, wie der spätere terminus lautet, tautegorisch sind.18 Bereits in seinem 1802 publi16 Vgl. F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, in: AA I/10, 109–211, hier: 121f. (§ 15). Zur medialen Konzeption des Absoluten in Schellings Identitätsphilosophie vgl. P. Ziche, Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: System und Systemkritik um 1800, hrsg. v. Vf./J. Stolzenberg, Hamburg 2011, 147–168; D. Whistler, Schelling’s Theory of Symbolic Language. Forming the System of Identity, Oxford 2013. 17 Vgl. F. Moiso, Geometrische Notwendigkeit, Naturgesetz und Wirklichkeit. Ein Weg zur Freiheitsschrift, in: Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992, hrsg. v. H.M. Baumgarten/W.G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 132–186, bes. 166. 18 Vgl. F.W.J. Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, SW XI, 3–252, hier 195f. Schelling übernahm den Begriff tautegorisch von Samuel Taylor Coleridge, der wiederum zu seiner Begriffsprägung durch Schellings Gottheiten von Samothrake angeregt wurde. Vgl. a. a. O., 196 Anm. 1. Vgl. S.T. Coleridge, On the Prometheus of Æschylos, in:
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zierten Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt hat Schelling den Ceres-Mythos herangezogen und zur Versinnbildlichung der symbolischen Struktur seiner identitätsphilosophischen Systemkonzeption benutzt. In der Herausbildung der Seele im Naturprozess, die der Mythos symbolisiert, stellen die drei ihn strukturierenden Potenzen in ihrem unauflöslichen Zusammenhang das Wesen dar.19 Was der Ceres-Mythos veranschaulicht, ist, dass die Gestaltungen der Natur Darstellungen desselben sind, nämlich der absoluten Identität. Schelling verbindet das schon in seinen identitätsphilosophischen Schriften mit den Mysterien. Ihr Gehalt im Unterschied zum öffentlichen Kultus ist die Lehre, dass die Götter Bilder und Gestalten des Einen seien, der exoterische Polytheismus also als Monotheismus repräsentiert werde.20 Blickt man von Schellings Potenzenlehre, wie er sie in seiner Identitätsphilosophie ausgearbeitet und mit einer Deutung der antiken Mysterien verbunden hat, auf den Akademievortrag über die samothrakischen Gottheiten von 1815, so wird schnell deutlich, dass seine Ausführung ebenso wie die grundlegende These des unauflöslichen Lebens, welches die Kabiren darstellen, auf jener triadischen Struktur aufbaut. In den samothrakischen Göttern, die der Form entsprechen, kommt das Wesen zur Sichtbarkeit. Möglich ist das nur, wenn die Götter in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Bewusstsein die Bildstruktur konstituieren. Ganz in diesem Sinne erörtert Schellings Rede zunächst die Form und ihre Struktur, um sodann mit Rekurs auf die Mysterienlehre die Götter als Erscheinungsgestalten des Wesens zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund wendet er Transactions of the Royal Society of Literature of the United Kingdom, Vol. II, Part II, London 1834, 384–404. Die selbstbezügliche Symbolstruktur der Form in Differenz zur Allegorie und zum Schema stellt nichts anderes als den Grundgedanken der Identitätsphilosophie dar. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Kunst, in: AA II/6, bes. AA II/6,1, 145–151. Vgl. hierzu Vf., »Endlich die Philosophie ist unter diesen Wissenschaften die symbolische.« 19 Vgl. Schelling, Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie, SW V, 124: »Die Seele, welcher diese Offenbarung widerfährt, geht zur letzten Erkenntniß über, sich zum ewigen Vater zu wenden: die unauflösliche Verkettung zu lösen, vermag auch der König der Götter nicht, aber er verstattet der Seele, sich des verlorenen Guts in den Bildungen zu freuen, welche der Strahl des ewigen Lichts durch ihre Vermittlung dem finstern Schooß der Tiefe entreißt.« Schon hier wir die erste Potenz der Seele, also die Natur, als »Sehnsucht« (ebd.) bestimmt und die zweite in ihrem Bezug auf die erste mit Bezug auf die Hades-Vorstellung beschrieben. »Dieses ist die zweite Stufe; allein nur die allsehende Sonne offenbart den Hades als den Ort, der das ewige Gut vorenthält.« (ebd.) 20 Vgl. F.W.J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, in: SW IV, 213–332, bes. 232–236; ders., Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: SW V, 207–352, bes. 289; ders., Philosophie und Religion, SW VI, 67: »Die esoterische Religion ist ebenso nothwendig Monotheismus, als die exoterische unter irgend einer Form notwendig in Polytheismus verfällt. Erst mit der Idee des schlechthin Einen und absolut-Idealen sind alle andern Ideen gesetzt.« Vgl. D. v. Petersdorff, Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller, Tübingen 1996, 201–255.
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sich schließlich der Bedeutung der Göttergestalten zu. Wie bereits in den identitätsphilosophischen Schriften expliziert die triadische Potenzenstruktur die Form als Darstellung. Aber welchen Potenzen entsprechen die Kabiren? Schellings Text macht die Zuordnungen nicht explizit deutlich. Lediglich in den Anmerkungen finden sich Hinweise zur Strukturierung der Abfolge der Göttergestalten durch die Potenzen. In den Ausführungen zur Anmerkung 112 führt er die Kabiren sowohl auf die Zahlen als auch auf die Potenzenstruktur zurück. Hier heißt es: »So ist jene Dreiheit das […] de quo, das a quo und das secundum quod aliquid fiat, offenbar eben die Reihe, welche die drei ersten samothrakischen Gottheiten wirklich bilden. Demeter-Persephone (in der wahren Zählung gelten beide nur für Eins) ist das de quo, Dionysos das a quo, Kadmilos das secundum quod aliquid fit« (SW VIII, 415).
Während die beiden ersten von dem antiken Schriftsteller überlieferten Götter Axieros und Axiokersa die erste Potenz repräsentieren, verkörpert Axiokersos die zweite und Kadmilos die dritte Potenz.21 Mit den zwei ersten Gestalten strukturiert Schelling den Prozess der sukzessiven Umwandlung der gleichsam objektiv oder für sich gesetzten ersten Potenz in ihr Potenzsein durch die zweite Potenz.22 Erst indem die erste Potenz durch die zweite zur Grundlage von ihr wird, ist die selbstbezügliche Verweisstruktur des Darstellungsverhältnisses hergestellt, also die dritte Potenz gesetzt. Der in sich strukturierte Naturprozess, den Axieros, Axiokersa und Axiokersos im Zusammenspiel mit Kasmilos und dem Demiurgen auf der Ebene des Bewusstseins repräsentieren, beschreibt Natur als einen Zeichenprozess, in dem diese als Medium entsteht. Deshalb ist der Prozess als Steigerung bzw. als ein aufsteigender zu verstehen und nicht im Sinne eines neuplatonischen Modells (wie bei Friedrich Creuzer und anderen) als Emanation.23 Die Bildstruktur, die die Kabiren in ihrer Abfolge repräsentieren, entsteht zugleich und nicht durch Zusammensetzung. Dieses Wissen verbindet Schelling noch nicht mit der Mythologie. Es hat seinen Ort in den samothrakischen Mysterien. 21 Vgl. auch Schelling, Die Weltalter, SW VIII, 243–254; ders., Weltalter-Fragmente (NL 81), 248f. 22 Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 360: »Zunächst also ist klar, daß jene ersten Gottheiten [Axieros, Axiokersa und Axiokersos; C.D.] diejenigen Kräfte sind, durch deren Wirken und Walten vorzugsweise das Weltganze besteht, klar also, daß sie weltliche, kosmische Gottheiten sind. Denn sie heißen allesamt Hephäste«. Zur Darstellung des Prozesses der sukzessiven Umwandlung der als Sein gesetzten ersten Potenz in den gleichzeitigen Weltalter-Fragmenten vgl. Schelling, Weltalter-Fragmente (NL 81), 194–197. 23 Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 358. Verständlich wird Schellings These, die Kabiren bezeichnen eine aufsteigende Götterfolge und kein Emanationssystem, allein vor dem Hintergrund der zur Strukturierung des Prozesses benutzen identitätsphilosophischen Potenzenlehre: Das Absolute kommt allein in der Potenzenstruktur zur Darstellung. Vgl. auch Schelling, Weltalter-Fragmente (NL 81), 219–222.
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Sowohl in der Form als auch in den Göttergestalten kommt das Wesen indirekt zur Erscheinung. Wie in seinen frühen Schriften wendet Schelling diesen identitätsphilosophischen Grundgedanken auch in seinem Akademievortrag von 1815 auf die samothrakischen Mysterien in Absetzung von zeitgenössischen Deutungen wie der von William Warburton an.24 Zwar ist der Redner wie der englische Theologe der Auffassung, dass den Eingeweihten der Monotheismus mitgeteilt wurde, aber im Unterschied zu diesem fungiert die Lehre von dem einen Gott bei Schelling nicht als Kritik am öffentlichen Polytheismus. Vielmehr seien in den Mysterien die Göttergestalten als Erscheinungen des Wesens gelehrt worden.25 Mysterien und Mythologie stehen also nicht in einem Gegensatz.26 Jene bezeichnen vielmehr ein reflexiv gewordenes mythologisches Bewusstsein, welches die Göttergestalten als Bilder bzw. Darstellungen des einen Gottes erfasst. Ähnlich wie in Philosophie und Religion sind exoterische und esoterische Religion aufeinander bezogen. Schon hier benutzt Schelling die »eigentliche Religion« (SW VI, 65), die nicht öffentlich ist, zur Strukturierung der Religionsgeschichte. Neu in dem Kabiren-Vortrag ist, das deutet sich in den WeltalterEntwürfen bereits an, die Einbeziehung des Judentums in die religionsge24 Vgl. W. Warburton, The Divine Legation of Moses Demonstrated. […] A new Edition in two Volumes, London 1837, 206–329. Warburton war der Auffassung, dass den in die Mysterien Eingeweihten der Monotheismus als geheime Lehre im Gegensatz zum Polytheismus der Volksreligion mitgeteilt und dieser als Fiktion entlarvt wurde. Aufgenommen ist diese Deutung der Mysterien u. a. auch bei Friedrich Schiller. Vgl. F. Schiller, Die Sendung Moses, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. IV: Historische Schriften, hrsg. v. G. Fricke/H.G. Göpfert, München 61980, 783f., bes. 789–795, hier: 792: »Es scheint außer Zweifel gesetzt, daß der Inhalt der allerältesten Mysterien in Heliopolis und Memphis, während ihres unverdorbenen Zustands, Einheit Gottes und Widerlegung des Paganismus war, und daß die Unsterblichkeit der Seele darin vorgetragen wurde.« Schillers Text macht Gebrauch von einer Schrift Karl Leonhard Reinholds, der sich explizit auf Warburton bezieht, dessen antideistische Kritik jedoch umkehrt. Vgl. Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey. In zwei Vorlesungen, gehalten in der □ zu **** von Br. Decius [K.L. Reinhold], Leipzig 1788. Vgl. hierzu W.-D. Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, München 1997, 21–49; Y. Wübben, Moses als Staatsgründer. Schiller und Reinhold über die Arkanpolitik der Spätaufklärung, in: Aufklärung 15 (2003), 125–158. Zum romantischen Mysterien-Diskurs vgl. v. Petersdorff, Mysterienrede. 25 Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 362: »Es ist vielmehr alle Wahrscheinlichkeit, daß in den Geheimnissen eben dasselbe, was in dem öffentlichen Dienst, aber nur nach seinen verborgenen Beziehungen, dargestellt wurde, und daß jene von diesem sich nicht mehr unterschieden als etwa die esoterischen oder akroamatischen Vorträge der Philosophen von den exoterischen.« Nichts anderes ist der systematische Gehalt der Mysterienlehre, den Schelling bereits in seinen identitätsphilosophischen Schriften darlegt. Vgl. nur die bereits genannten Ausführungen in Philosophie und Religion (SW VI, 1 65–70). 26 Von einem Gegensatz von Mysterien und Mythologie geht auch Friedrich Creuzer aus. Vgl. F. Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen, 4 Bde., Leipzig/ Darmstadt 1810–1812; ders., Philologie und Mythologie, in ihrem Stufengang und gegenseitigen Verhalten, in: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur für Philologie, Historie, Literatur und Kunst 1 (1808), 3–24, bes. 7.
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schichtliche Konstruktion. Die alte Vorstellung, im Christentum werden die Mysterien öffentlich,27 wird nun um die jüdische Religion erweitert. Während im Heidentum die Mysterien auf Menschen aus einem Volk beschränkt waren, sind sie es im Judentum auf ein Volk im Unterschied zu anderen Völkern. Aufgehoben werden die »Schranken« (SW VIII, 408) auch hier erst im Christentum.28 Ein Reflexiv-Werden der Religion in der Geschichte der Religionen bezeichnen die Mysterien.29 Deshalb verbindet Schelling mit ihnen eine Darstellung des Zeitlichkeitsbewusstseins,30 so dass der mit den Mysterien verknüpfte Monotheismus ein zukünftiger ist. Von hier aus wird nun aber auch noch ein weiterer Aspekt des Resultats seiner Rede sichtbar, die er in dem Bild des unauflöslichen Lebens zusammenfasste, das die Kabiren in ihrer Reihenfolge repräsentieren. Sie verweisen, wie die Anspielung des zusammenfassenden Bildes auf den Hebräerbrief unterstreicht, auf das Christentum.31 Im Unterscheid zur exoterischen Religion erfasst das Bewusstsein in den Mysterien die Göttergestalten in ihrem unauflöslichen Zusammenhang als Darstellung des Einen, als, wie der naturphilosophische terminus technicus Schellings lautet, Kohäsion oder Verkettung.32 Genau das ist die Bedeutung der 27 Vgl. Schelling, Philosophie und Religion, SW VI, 66: »Hätte man den Begriff des Heidenthums nicht immer und allein von der öffentlichen Religion abstrahirt, so würde man längst eingesehen haben, wie Heidenthum und Christenthum von jeher beisammen waren, und dieses aus jenem nur dadurch entstand, daß es die Mysterien öffentlich machte«. Vgl. auch ders., Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, SW V, 289. 28 Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 408 Anm. 107. 29 Schelling spricht in der Abhandlung über die Kabiren von einer »allgemeinen MysterienForm« (SW VIII, 408). Vgl. hierzu v. Petersdorff, Mysterienrede, 241. 30 Zum Zusammenhang von Zeitbewusstsein und Potenzenlehre vgl. Schelling, WeltalterFragmente, Bd. 1, 123. Vgl. hierzu v. Petersdorff, Mysterienrede, 241. Zur Zeitstruktur von Schellings Philosophie der Mythologie vgl. auch F. Wirtz, Die Schichten der Zeit. Schellings Periodisierung der Geschichte und seine Kritik der homogenen Zeit im Rahmen seiner Philosophie der Mythologie, in: Schelling-Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 6 (2018), 43–62. 31 Vgl. Hebr. 7,15f.: »15 Und noch klarer ist es, wenn, in gleicher Weise wie Melchisedek, ein anderer Priester eingesetzt wird, 16 der es nicht geworden ist nach dem Gesetz äußerlicher Gebote, sondern nach der Kraft unzerstörbaren Lebens [!].« Schelling selbst verweist auf diese Stelle des Hebräerbriefes explizit in seinen Weltalter-Fragmenten. Vgl. ders., Die Weltalter, SW VIII, 259. 32 Vgl. hierzu Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I/10, 109–211, bes. 153– 173. Aufgenommen und beibehalten hat Schelling diese Überlegungen, die die Entstehung der Körper im Raum beschreiben und die im Hintergrund der Konstruktion der samothrakischen Götterfolge als mag(net)ischer stehen, auch noch in seinem Spätwerk. Vgl. ders., Die Weltalter, SW VIII, 247; ders., Darstellung des Naturprozesses. Bruchstück einer Vorlesung über die Principien der Philosophie, gehalten in Berlin im Winter 1843–44 (Aus dem handschriftlichen Nachlaß), in: SW X, 303–390, bes. 308–332. Schon um 1800 verbindet Schelling diese Überlegungen nicht nur mit dem antiken Ceres-Mythos, sondern auch mit dem Planetensystem und dem 1801 entdeckten Planeten Ceres. Vgl. ders., Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, in: AA I/12,1, 83–232, bes. 181–232.
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samothrakischen Götter, dass sie als strukturierter selbstbezüglicher Verweiszusammenhang Erscheinungen der absoluten Identität sind, die nur in ihnen zur Gestalt kommen kann.33 Als ein solcher entstehen sie aber lediglich zusammen.34 Daher – und das ist der Grundgedanke den Schelling seinen Hörern als Interpretation der Mitteilung von Mnaseas vorführt – fallen Ursprung und Bedeutung der Götter zusammen. »Und welch’ herrlicheres Sinnbild des Grundgedankens ließe sich erfinden als die unauflöslich verbundene Bewegung der Himmelslichter, in deren Chor kein Glied fehlen kann ohne Zusammensturz des Ganzen, von denen aufs eigentlichste zu sagen ist, daß sie nur zusammen [!] geboren werden und nur zugleich miteinander sterben können!« (SW VIII, 386)
Es ist der für das Identitätssystem grundlegende Gedanke, dass Wesen und Form gleichursprünglich sind, aus dem nicht nur Schellings Vortrag über die samothrakischen Gottheiten, sondern, da er den Grundgedanken seiner Philosophie der Mythologie darstellt, auch diese erst verständlich wird. Wie sie sich aus dem Akademievortrag von 1815 ergibt bzw. auf ihn aufbaut, ist nun in den Blick zu nehmen.
2.
Bedeutung und Ursprung der Mythologie in Schellings Mythologie-Vorlesung von 1821
Erstmals hat Schelling eine Vorlesung über Philosophie der Mythologie im Sommer 1821 an der Universität Erlangen gehalten.35 Er erwähnt diese bereits in einem Brief an Friedrich Creuzer am 3. Mai 1821. »In diesem Sommersemester gedenke ich ein kleines Publicum über die Bedeutung der alten Mythologie im Allgemeinen (ohne in besondere Deutungen mich einzulassen), mit Berücksichtigung älterer und neuerer (z. B. der Hermannschen), Theorien zu lesen und diese Vorlesungen auch etwa drucken zu lassen, als Vorläufer der zwar vollendeten,
33 Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 367: »Also der Begriff der unauflöslich (wie Dioskuren) Vereinigten und zwar der magisch Vereinigten mußte der Name bedeuten, wenn er vollkommen ihre gemeinschaftliche Natur ausdrücken sollte.« 34 Vgl. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I/10, 136 (§ 44): »Alle Potenzen sind absolut gleichzeitig. (§ 43.) Denn die absolute Identität ist nur unter der Form aller Potenzen. Sie ist aber ewig, und ohne alle Beziehung auf die Zeit. (§ 8. Zus. 2.) Also sind auch alle Potenzen ohne alle Beziehung auf Zeit, schlechthin ewig, also auch unter sich gleichzeitig.« 35 Öffentlich angekündigt ist die Vorlesung u. a. in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 75 (März 1821), Sp. 594, unter den Altertumswissenschaften der Universität Erlangen: »3) Ueber die Bedeutung der alten Mythologie, Hr. Director von Schelling öffentlich.«
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aber meinem letzten Beschluß zur Emission noch immer nicht hinlänglich gereiften Weltalter.«36
Auch jetzt noch wird die Mythologie-Vorlesung ähnlich wie der Akademievortrag sechs Jahre zuvor als Vorläufer zu den Weltaltern proklamiert. Die Vorlesung selbst, die Schelling am 31. August 1821 begann und nach sechs Vorträgen abschloss, nimmt den in der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten dargelegten Grundgedanken auf, Ursprung und Bedeutung der Mythologie entstehen zusammen, und führt ihn, wie er an Creuzer schreibt, in Auseinandersetzung mit älteren und neueren Theorien der Mythologie, insbesondere von Gottfried Hermanns 1819 erschienener Schrift Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie, weiter aus.37 Am Ende der sechsten Vorlesung knüpft er explizit an das Resultat des Vortrags von 1815 an, dass in den Mysterien die Götter als Erscheinungen des Monotheismus gelehrt worden seien.38 Eine wichtige Stufe der werkgeschichtlichen Entwicklung zwischen dem Münchener Akademievortrag und der ersten Mythologie-Vorlesung bilden Schellings Anmerkungen zu Johann Martin Wagners Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, die 1817 im Tübinger Verlag Cottas erschienen.39 In seinen Anmerkungen, die Schelling dem Bericht Wagners beifügte, setzt er sich nicht 36 F.W.J. Schelling an F. Creuzer am 3. Mai 1821 (G.L. Plitt [Hrsg.], Aus Schellings Leben. In Briefen, Bd. 3: 1821–1854, Leipzig 1870, 4f., hier: 5). In einem weiteren Brief an Creuzer vom 3. September 1821 kommt er noch einmal auf seine Mythologie-Vorlesung zu sprechen. »Noch im Laufe dieses Jahres hoffe ich Ihnen meine Vorlesungen über Mythologie gedruckt übersenden zu können, durch welche sich manches Andre, aber besonders auch unsre Einstimmung und Nichteinstimmung über manche Puncte, wie ich denke, deutlicher erklären soll.« (a. a. O., 13) Vgl. hierzu auch den Briefwechsel von Schelling und Creuzer: A. Bilda/F. Wirtz, Unveröffentlichte Briefe von Creuzer an Schelling aus den Jahren 1813–1844, in: Schelling-Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 7 (2019), 217–249, bes. 229–240. Zu Schelling und Creuzer vgl. J. Rohls, Schelling und die Heidelberger Romantik. Das Verhältnis von Schelling und Creuzer seit 1804, in: Schelling in Würzburg, 293– 337; F. Wirtz, Die Mythologie bei F.W.J. Schelling und F. Creuzer, Diss. Tübingen 2020. 37 Vgl. G. Hermann, Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer, Leipzig 1819. 38 Vgl. Schelling, [Erlanger Vorlesung über »Bedeutung und Ursprung der Mythologie«], 80r. Vgl. hierzu auch die Erinnerungen von Arnold Ruge an Schellings Erlanger Vorlesungen über Mythologie: »Dieses Thema lag ihm [Schelling; C.D.] also schon 1821 schwer im Magen, und er hat es nie verdaut. Damals aber war die Wendung neu, und von Vorlesung zu Vorlesung steigerte er das Erstaunen seiner Zuhörer, indem er die Weisheit immer weiter in die Urzeit und zu dem Urvolke zurückrückte. Die Pätaken, die Eröffner, und die Kabiren, die Wächter der Mysterien, unter ihnen aber besonders der Kabire Kadmilos, der Ordner, spielten eine bedeutende Rolle, und waren Augengläser, durch die man in das weit nach Asien sich hinziehende Panorama der Urweisheit des Urvolks zurückschaute.« 39 J.M. Wagner, Bericht über die Aeginetischen Bildwerke im Besitz Seiner Königl. Hoheit des Kronprinzen von Baiern. Mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen von Fr.W.J. Schelling, Stuttgart/Tübingen 1817 = SW IX, 115–206. Zu den äginetischen Bildwerken vgl. die Beiträge von Mathias Hofter und Astrid Fendt in diesem Band.
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nur mit dessen Interpretation der Ägineten auseinander. Zugleich reagiert der Philosoph mit ihnen auch auf Friedrich Thierschs Vortrag Ueber die Epochen der bildenden Kunst der Griechen, den dieser am 28. März 1816 in der Akademie in München gehalten hatte.40 Thiersch hatte ebenso wie Wagner in seinem Bericht über die äginetischen Skulpturen die in der zeitgenössischen Forschung verbreitete Auffassung vertreten, dass die griechische Kunst zusammen mit dem religiösen Kultus ihren Ursprung in Ägypten hätten.41 Das war auch die Auffassung von Friedrich Creuzer,42 die Schelling bereits in seiner Abhandlung über die Kabiren kritisiert hatte. In seiner insgesamt wohlwollenden Besprechung der Abhandlung über die Gottheiten von Samothrake, die 1817 in den Heidelbergische[n] Jahrbücher[n] für Litteratur erschien, weist jener Schellings Kritik an einer Ableitung der Kabiren aus dem ägyptischen Religionssystem zurück.43 Im Fokus steht hierbei Herodots Nachricht, die Götternamen der Griechen seien aus Ägypten.44 Schelling deutete diese Stelle, der ein großes Gewicht für seine – aber auch für Creuzers – Argumentation zukommt, sowohl in seinen Tagebuchnotaten von 1815 als auch in der Abhandlung über die Kabiren als eigene Meinung des Geschichtsforschers.45 In seinen dem Bericht Wagners beigefügten Anmerkungen widerspricht Schelling der zeitgenössischen Überzeugung eines ägyptischen Ursprungs von griechischer Kunst und Kult,46 nimmt den systematischen Gehalt seiner Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrake auf und positioniert diesen im 40 F. Thiersch, Ueber die Epochen der bildenden Kunst der Griechen. Erste Abhandlung, Einleitung und älteste Epoche enthaltend, München o. J. Vgl. F.W.J. Schelling an J.M. Wagner am 4. 4. 1816 (G.L. Plitt [Hrsg.], Aus Schellings Leben in Briefen, Bd. 2: 1803–1820, Leipzig 1870, 375). Zu Thiersch vgl. den Beitrag von Sebastian Engelmann in diesem Band. 41 Vgl. Thiersch, Ueber die Epochen der bildenden Kunst der Griechen, 7: »Aus Ägypten erhielt Athen den Dienst der Reitha-Athene, nebst Bildern, Symbolen und Gebräuchen desselben.« 42 Vgl. Creuzer, Philologie und Mythologie, 3: »Der neue Weg zum Mutterland alter Religion durch die Literatur Indiens wird so eben erst gebahnt.« Creuzer geht, wie viele seiner Zeitgenossen, von Symbol- und Bildwanderungen aus, die ihren Ursprung in Indien haben, von dort nach Ägypten und schließlich nach Griechenland gelangten. Vgl. hierzu G.S. Williamson, The Longing for Myth in Germany. Religion and Aesthetic Culture from Romanticism to Nietzsche, Chicago/London 2004, 121–135. 43 Vgl. Creuzer (Rez.), Mythologische Schriften von Schelling etc., in: Heidelbergische Jahrbücher für Litteratur, 10. Jahrgang, 2. Hälfte, Nr. 47–52, Heidelberg 1817, 737–823, bes. 750–761. 44 Vgl. Herodot, Historien. 2. Buch. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2005, II, 50. 53. Das zweite Buch von Herodots Historien ist für Creuzers Bild der Antike von grundlegender Bedeutung. Vgl. Wirtz, Die Mythologie bei F.W.J. Schelling und F. Creuzer. 45 Vgl. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814–1816, 77–79; ders., Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 363f. u. Anm. 92–94 = SW VIII, 402–404. 46 Vgl. F.W.J. Schelling, Kunstgeschichtliche Anmerkungen, SW IX, 120: »Gesetzt aber auch, jenes allgemein angenommene Verhältniß zwischen Aegyptiern und Griechen, wonach man jene als die Lehrmeister, diese als die Schüler anzusehen hätte, wäre mehr als zweifelhaft, und der Ausdruck: entlehnen, und die Vorstellung einer materiellen Ueberlieferung oder Mittheilung überhaupt erschien in keinem Fall als die angemessenste«.
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Debattenkontext über Mythologie und die Epochen der griechischen Kunst.47 Schelling deutet die äginetische Kunst als eine selbständige, als eine solche also, die nicht durch Ableitung oder Mitteilung entsteht, sondern die von der attischen Kunst »unabhängig und in ihren ersten Anfängen gleich selbstständig« (SW IX, 124) mit dieser ist. Auch das liegt noch – ebenso wie die Kabiren-Abhandlung – ganz auf der Linie der Identitätsphilosophie. Weder Kunststile noch Götter lassen sich durch Ableitungen oder Mitteilungen verständlich machen.48 Beide sind vielmehr als Individuen und aus sich selbst zu verstehen.49 Schellings Ablehnung eines Symboltransfers, sei es aus Ägypten oder von woher auch immer, in dem Akademievortrag von 1815 und in seinen Anmerkungen zu Wagner zwei Jahre später, fußen auf dem identitätsphilosophischen Gedanken, dass das Besondere als eine individuelle Totalität zu verstehen ist. Entsprechend hat die äginetische Kunst einen Charakter, und den gilt es zu bestimmen, was nur durch Konstruktion möglich ist.50 Im Hintergrund von Schellings Erlanger Mythologie-Vorlesung stehen auch Kontroversen über das Verständnis der Mythologie aus dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, also die Selbstverständigungsdebatten der entstehenden Altertumswissenschaften, die sich an Creuzers Symbolik entzündeten.51 In einem Brief vom September 1817 fragte dieser Schelling, was er von Hermanns Herodot-Interpretation halte.52 Gemeint ist Gottfried Hermanns 1817 erschienene
47 Auch das Werk über die Ägineten hatte Schelling an Creuzer geschickt. Vgl. F. Creuzer an Schelling am 9./10. 9. 1817, in: Unveröffentlichte Briefe von Creuzer an Schelling aus den Jahren 1813–1844, 227f., hier: 228: »Die Notiz über ihre neuste Schrift, betreffend die Aeginetischen Sculpturwerke, macht, wie sie sehen, keinen Anspruch, auch nur für eine Anzeige zu gelten.« Creuzer hatte die Schrift in seiner Besprechung der Gottheiten von Samothrake erwähnt. Vgl. Creuzer (Rez.), Mythologische Schriften von Schelling etc., 751. 759–761. 48 Es gehört zu den Grundmerkmalen von Schellings Naturphilosophie, dass magnetische, chemische und elektrische Prozesse nicht auf einer Mitteilung, sondern auf einer Verteilung von Kräften beruhen. Vgl. Schelling, Allgemeine Deduction des dynamischen Proceßes, in: AA I/8, 297–366, bes. 314. Dieses naturphilosophische Konzept überträgt Schelling auf den Geistesprozess und damit auch auf die Religions- und Kunstgeschichte. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: AA I/17, 109– 179, hier: 148: »Wie das Gewitter mittelbar durch die Sonne, unmittelbar aber durch eine gegenwirkende Kraft der Erde erregt wird, so der Geist des Bösen […] durch die Annäherung des Guten, nicht vermöge einer Mittheilung, sondern durch Vertheilung der Kräfte.« 49 Zur Bedeutung des Individualitätskonzepts für Schellings Identitätsphilosophie vgl. Vf., Subjekt – Individuum – Persönlichkeit. Zur werkgeschichtlichen Entwicklung von Schellings Verständnis der Person zwischen 1800 und 1810 (im Druck). 50 Vgl. Schelling, Kunstgeschichtliche Anmerkungen, SW IX, 126. Vgl. hierzu auch ders., Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, in: SW VII, 289–329, bes. 309f. Schelling folgt damit auch 1816 noch seiner identitätsphilosophischen Konstruktionsmethode. 51 Vgl. Williamson, The Longing for Myth in Germany, 135–150. 52 Vgl. F. Creuzer an F.W.J. Schelling am 9./10. 9. 1817 (Unveröffentlichte Briefe von Creuzer an Schelling aus den Jahren 1813–1844, 228).
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Schrift De mythologia Graecorum antiquissima dissertatio,53 in der er sich mit Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker54 und der hier vorgelegten religiösen Deutung der Mythologie auseinandersetzte. Gegenstand der Kontroverse ist die Frage, ob die Altertumswissenschaft als Bild- oder als Textwissenschaft zu verstehen sei.55 Creuzer und Hermann haben in ihren 1818 publizierten Briefen über Homer und Hesiodus diese Debatte weitergeführt.56 Ein Jahr später nahm Hermann in seiner Schrift Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie noch einmal Stellung zu der Debatte und unterzog die religiöse Deutung der Mythologie von Creuzer sowie die von Schelling der Kritik.57 Schelling entwickelt seine eigene Interpretation der Mythologie in den Erlanger Vorlesungen im Kontext der zeitgenössischen Mythen-Debatte und d. h. auch des Streits über Creuzers Symbolik. Die in den Kontroversen vorgebrachten Deutungen der Mythologie strukturiert er in eigentliche und uneigentliche Auffassungen. Während es sich bei jenen um poetische Auffassungen handelt, die Göttergeschichte als Dichtung verstanden wird, verstehen letztere sie als Allegorie. Zwei Unterformen der allegorischen Mythenauffassung unterscheidet der Philosoph, einerseits diejenige, die auf den Epikureer Euhemeros zu53 Vgl. G. Hermann, De mythologia Graecorum antiquissima dissertatio, Leipzig 1817. 54 Vgl. F. Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen, 4 Bde., Leipzig/Darmstadt 1810–1812. 55 Vgl. Williamson, The Longing for Myth in Germany, 136–138; G.W. Most, Hermann gegen Creuzer über die Mythologie, in: Gottfried Hermann (1772–1848). Internationales Symposium in Leipzig 11.–13. Oktober 2007, hrsg. v. K. Stier/E. Wöckener-Gade, Tübingen 2010, 165–179. Liest man Schellings Kabiren-Vortrag vor dem Hintergrund der Kontroversen um Creuzers Symbolik, dann beinhaltet bereits der philologische Zugriff auf die Quellen eine Distanzierung von dem Heidelberger Mythenforscher. Wenn Schelling mit Blick auf das methodische Verfahren der Sprachforschung eine »neue Wuth von Sprachableitungen« diagnostiziert, die »alles aus allem zu machen« glaubt und »auf wahnwitzige Art auch in der alten Götterfabel alles mit allem zu vermischen bemüht« (SW VIII, 351) sei, greift er auch diejenige Kritik auf, die Creuzers Symbolik in der philologisch ausgerichteten Altertumswissenschaft gefunden hat. 56 G. Hermann/F. Creuzer, Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie, Heidelberg 1818. Creuzer hatte Schelling dieses Buch am 9./10. September 1817 zugeschickt. Vgl. F. Creuzer an F.W.J. Schelling am 9./10. 9. 1817 (Unveröffentlichte Briefe von Creuzer an Schelling aus den Jahren 1813–1844, 228). 57 Hermann, Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer, Leipzig 1819. Dass ein Mythos »die bildliche Darstellung einer Idee sey«, räumt Hermann Creuzer zwar ein, aber im Unterscheid zu diesem sei Mythologie als Wissenschaft zu verstehen, »welche uns lehrt, was für Ideen und Begriffe gewissen Sinnbildern bey einem gegebenen Volke zum Grunde liegen« (a. a. O., 5). Hermann weist Creuzers religiöse Deutung der Mythologie sowie der diese fundierenden Annahme eines Urmonotheismus als Fiktion zurück. »Ich meine den Monotheismus, von welchem Sie die Mythologie ableiten zu müssen glauben. Hierin muß ich mich nun geradezu als Ihren Gegner erklären.« (a. a. O., 56) Zu Hermanns Kritik an Creuzers neuplantonischem Monotheismusverständnis vgl. a. a. O., 56– 58. Schellings Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten erwähnt Hermann lediglich an einer Stelle und ordnet sie in den romantischen Mythendiskurs ein. Vgl. a. a. O., 91.
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rückgeht und andererseits neuere Deutungen, die in der Mythologie eine allegorische Darstellung von Philosophemen bzw. von Naturwissenschaft erblicken. Als Hauptvertreter einer solchen als »doktrinelle wissenschaftliche Ansicht«58 bezeichneten Deutung setzt sich Schelling sehr ausführlich von der ersten bis zur dritten Vorlesung mit Gottfried Hermann und seiner Schrift Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie auseinander. Der Leipziger Philologe bietet eine historisch-philologische Deutung des Mythos und versteht diesen als bildliche Darstellungen von Philosophemen.59 Beide Deutungen, die poetisch-eigentliche und die wissenschaftlich-uneigentliche, gehen indes, so der Einwand, von geschichtlichen Voraussetzungen aus, die unerweislich sind.60 Im Kern betrifft dies die These, die Mythologie sei von Einzelnen erfunden. Diese historisch unplausible Voraussetzung überführt Schelling in die organologische These, Mythologie sei unabsichtlich entstanden, so dass Form und Inhalt zusammen entspringen.61 Damit lässt sich diese auch nicht mehr auf einzelne Dichter oder Philosophen zurückführen. Vielmehr entsteht sie in einem Volk, aber wiederum so, dass beide – Mythologie und Volk – zugleich sich konstituieren. Auf der Grundlage dieser naturphilosophisch-organologischen Auffassung der Mythologie, in der ihr Ursprung mit ihrer Bedeutung zusammenfällt, diskutiert Schelling die Frage, wie sich die Übereinstimmungen der verschiedenen geschichtlichen Mythologien erklären lassen. Auch hier rekurriert er wieder auf das 50. Kapitel des zweiten Buches aus Herodots Historien, wo es heißt, die Namen der Götter seien aus »Aegypten nach Hellas gewandert«.62 Wie sechs Jahre zuvor weist Schelling das zurück, nun aber mit einer anderen oder deutlicheren Begründung. Eine Erklärung der Mythologie müsse neben den Übereinstimmungen auch den Differenzen zwischen den verschiedenen Mythologien Rechnung tragen. Beides kann durch die Annahme einer historischen Übertragung der Mythen in Form von Symbolwanderungen nicht verständlich gemacht werden.63 Diese These (wenn sie überhaupt den Gottheiten von Samothrake zu-
58 Schelling, [Erlanger Vorlesung über »Bedeutung und Ursprung der Mythologie«], 68r. 59 Vgl. Hermann, Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie, 13: »Aber schon bey der Frage nach dem Stoffe der Mythologie trennen sich unsre Ansichten. Mir ist sie ein Inbegriff von Philosophemen, […] Ihnen [F. Creuzer; C.D.] ist sie Lehre einer Religion, Theologie, und zwar Monotheismus.« 60 Soweit stimmt Schelling mit Creuzers religiöser Deutung der Mythologie überein. 61 Vgl. Schelling, [Erlanger Vorlesung über »Bedeutung und Ursprung der Mythologie«], 72v. 62 A. a. O., 73r. 63 Vgl. a. a. O., 74v–75r: »Allein [au]s dem was wir wißen | läßt s[ich] kaum Mittheil[un]g glauben vielmehr größte Differenz. Bei alle dem fehlt die Uebereinstimmung nicht nur diese untergeordnete Art z[u] erklären findet sie [ni]cht – denn die allgemeine Identität neben der großen Differenz weist uns auf einen höhern Ursprung hin denn nur in einem allgemeinen höchsten Ursprunge finden wir Aufschluß.«
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grunde lag64) lässt Schelling in der Erlanger Vorlesung ebenso fallen wie den im Akademievortrag von 1815 unternommenen Versuch, die Namen und Bedeutung der Götter durch sprachgeschichtliche Untersuchungen herzuleiten. An ihre Stelle tritt nun die Behauptung, die einzelnen Mythologien seien Individualisierungen des Urbewusstseins der Menschheit.65 Hinter den verschiedenen Mythologien und den Völkern, die beide zugleich entspringen, steht ein von Schelling so genanntes Urbewusstsein der Menschheit. Es stiftet sowohl Einheit als auch Differenz der Mythologie, da die geschichtlichen Mythologien individuelle Darstellungen dieses sich gleichsam entziehenden Urbewusstseins sind. Auch dieses ist kein neuer Gedanke, sondern eine Grundbestimmung des Identitätssystems. Mit dem Urbewusstsein der Menschheit als Grundlage und Voraussetzung der Mythologie sowie ihrer Erklärung nimmt Schelling den identitätsphilosophischen Gedanken vom Menschen als Ende des Naturprozesses auf. Indem in ihm die Identität der Potenzen wiederhergestellt ist, ist er Darstellung und Bild des Absoluten.66 Das Ursystem, um das es in der Abhandlung über die samothrakischen Mysterien geht, greift diesen Gedanken gleichermaßen auf wie die Anmerkungen zu den äginetischen Bildwerken, die die äginetische Kunst als eine Individualisierung der Kunst verstehen. Das Besondere als Darstellung des Wesens – das ist der Grundgedanke der Identitätsphilosophie, der bereits der Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrake zugrunde lag und aus dem Schellings späte Deutung der Mythologie resultiert. In den geschichtlichen Mythologien individualisiert sich das Urbewusstsein der Menschheit. Es, als entschwindendes und sich entziehendes, kommt als Reflex in den Mythologien der Völker zur Darstellung. Wie in der Identitätsphilosophie ist das Urbewusstsein hinter den Mythologien selbst gar 64 Auch im Kabiren-Vortrag ist das Alte Testament lediglich ein Bruchstück des Ursystems. Vgl. Schelling, Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 362: »Wenn sich schon in griechischer Götterlehre (von indischer und anderer morgenländischer nicht zu reden) Trümmer einer Erkenntniß, ja eines wissenschaftlichen Systems zeigten, das weit über den Umkreis hinausginge, den die älteste durch schriftliche Denkmäler bekannte Offenbarung gezogen hat?« Vgl. auch a. a. O., 350. Die Frage, »welcher Zunge, welchem Volk« die von Mnaseas genannten Götternamen »ursprünglich angehört, dieß ist eine von jeder geschichtlichen Voraussetzung unabhängige [!], einer rein sprachlichen Entscheidung fähige Frage«. Vgl. auch ders., Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814–1816, 87: »NB. Es wird nicht beh| auptet,| daß |dies| aus dem Alten Test|ament| genommen, sondern |daß| Ein Ursystem in beiden |existiert|.« 65 Vgl. Schelling, [Erlanger Vorlesung über »Bedeutung und Ursprung der Mythologie«], 75r: »Denn jedes einzelne Volk ist nur als eine s[ich] darstellende Seite jenes Urbewußtseyns anzusehen welches sich individualisirt hat – so hat jedes Volk ursprünglich eine Mythologie.« 66 Vgl. F.W.J. Schelling, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in: SW VI, 133–576, bes. 487–494 (§ 259). »Das Besondere, in welchem das Wesen eines Weltkörpers, d. h. die unendliche Substanz, sich als absolute, potenzlose Identität ausprägt, ist nur der menschliche Organismus.« (SW VI, 487)
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nicht zugänglich. Lediglich indirekt bzw., wie Schelling schreibt, als Reflex stellt sich jene Einheit dar.67 Vor dem skizzierten systematischen Hintergrund verwundert es nicht, wenn auch die Erlanger Vorlesung das identitätsphilosophische Mysterienverständnis aufgreift. Es lag, wie oben ausgeführt, bereits dem Vortrag über die samothrakischen Gottheiten zugrunde. In der abschließenden Vorlesung von 1821 bezieht sich Schelling explizit auf seine Akademierede über die Kabiren und interpretiert wie dort die Mysterien als Darstellung des Monotheismus, der in der Göttervielheit, also im Polytheismus, Gestalt gewinnt.68 Schellings erste Vorlesung über Mythologie, die er im Spätsommer 1821 in Erlangen hielt, führt den Grundgedanken der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten, dass sich in der Göttervielheit Monotheismus darstellt, weiter aus. Indem die geschichtlichen Mythologien als Individualisierungen des Urbewusstseins verstanden werden, weist er wie in dem Vortrag von 1815 die Behauptung eines geschichtlichen Göttertransfers und einer Symbolwanderung zurück. Ursprung und Bedeutung der Mythologie fallen zusammen. Damit distanziert sich die Erlanger Vorlesung ebenso wie der Kabiren-Vortrag von Creuzers Symbolik und der für diese konstitutiven neuplantonischen Behauptung eines der Religionsgeschichte zugrunde liegenden ursprünglichen Monotheismus.69
3.
Von der Beylage zum Hauptwerk, oder: Schellings Münchener Vorlesungen über Philosophie der Mythologie
Zum Wintersemester 1827/28 nahm Schelling an der neugegründeten Münchener Universität seine Vorlesungstätigkeit wieder auf. In seinem ersten Semester las er über das ›System der Weltalter‹.70 Hervorgegangen ist die Vorlesung aus
67 Vgl. Schelling, [Erlanger Vorlesung über »Bedeutung und Ursprung der Mythologie«], 78v: »Mythologie ist nur Reflex nur unwillkürliches Bild jener ersten Scheidung es ist di[e] wahre Geschichte des Universums aber [ni]icht an s[ich], nur für uns – es ist nicht Reflex d[e]r Philosophie sond[ern] Wertsetz[un]g derselben.« 68 Vgl. a. a. O., 80v: Die Lehre der Mysterien »schloß die Vielheit [ni]cht aus aber […] lehrte daß alle Götter Eins seyn[.] Dah[e]r nannte man die Samothrazischen Geheimnisse d[ie] Capyren weil sie eng verbunden sind […] – Eins existirt in Vielen als Eines«. 69 Schellings Argumente gegen die neuplatonische Konstruktion von Creuzers Ur-Monotheismus liegen durchaus auf der Linie, die bereits Hermann gegen den Heidelberger Philologen vorbrachte. Vgl. Hermann, Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie, 57f. 70 Vgl. F.W.J. Schelling, System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hrsg. v. S. Peetz, Frankfurt a.M. 1990. Zu Schellings Münchener Vorlesung vgl. S. Peetz, Einleitung, in: a. a. O., VII–XXXI; H. Fuhrmans, Einleitung, in: F.W.J. Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hrsg. v. dems., Turin 1972, 11–63.
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dem Weltalter-Projekt, an dem er seit 1810 arbeitete.71 In der Zwischenzeit hat sich jedoch nicht nur der Titel des Projekts geändert. Aus diesem ist nun ein System der positiven oder geschichtlichen Philosophie geworden.72 Diese tritt in München an die Stelle von, wie es heißt, bloß logischen Systemen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie lediglich einen logischen Zusammenhang kennen, aber keinen solchen, der auf einer freien Tat, die Faktum ist, beruht.73 Gegenstand dieses geschichtlichen Systems ist zunächst die Philosophie der Mythologie. Über sie las Schelling erstmals in einem dreisemestrigen Zyklus, der im Sommersemester 1828 begann. Strukturiert ist die Vorlesung in drei Teile. Einsetzend mit einer historischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie, die durch eine kritische Evaluierung diverser Theorien des Mythos auf einen mit dem Urbewusstsein verbundenen Monotheismus als Faktum führt, welches der Mythologie zugrunde liegt, widmet sich eine Monotheismus genannte Vorlesung diesem Faktum.74 Ihre Aufgabe ist zweifach. Sie entwickelt die Prinzipien, die in der Darstellung der Mythologie zum Zuge kommen, und sie leistet den Übergang zur von Schelling sogenannten positiven oder geschichtlichen Philosophie. Auf dieser systematischen Grundlage, die durch eine Klärung des Begriffs Monotheismus erreicht ist, stellt der abschließende Teil der Vorlesung die Philosophie der Mythologie dar. Schellings erste Münchener Vorlesung über Mythologie ist bislang lediglich in Auszügen zugänglich, die Gerbrand Dekker mitgeteilt hat.75 Ab dem zweiten Vortrag des gesamten Zyklus im Wintersemester 1830/31 scheint, wie die Mitteilungen von Dekker sowie andere bekannte Nachschriften aus der Münchener Zeit erkennen lassen, die Mythologie-Vorlesung die Gestalt gewonnen zu haben, die dann Eingang in die Sämmtlichen Werke gefunden hat.76 Schellings Erlanger Mythologie-Vorlesung, die eine Weiterführung des Grundgedankens seines Akademievortrags über die samothrakischen Mysterien darstellt, liefert das Grundgerüst der Münchener historischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Diese stellt, wie schnell deutlich wird, nichts anderes 71 Darauf weist Schelling in der Vorlesung ›System der Weltalter‹ auch explizit hin. Vgl. Schelling, System der Weltalter, 21. 72 Vgl. F.W.J. Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/ 33 und SS 1833, hrsg. v. H. Fuhrmans, Turin 1972, 91: »Setzt man an die Stelle des Wortes Zeit ›Weltalter‹, so weiss man sogleich, was System der Weltalter bedeutet, unter welchem Titel ich früher dieses Kolleg gelesen = System der positiven und geschichtlichen Philosophie.« 73 Vgl. Schelling, System der Weltalter, 10–13. 74 Motiviert ist dieser Vorlesungsteil auch dadurch, dass der Begriff ›Monotheismus‹ relativ jung ist und von Henry More in die Debatte eingeführt wurde. Vgl. R. Hülsewiesche, Art.: Monotheismus II., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, hrsg. v. J. Ritter/ K. Gründer, Basel/Stuttgart 1984, 142–146. 75 Vgl. G. Dekker, Die Rückwendung zum Mythos. Schellings letzte Wandlung, München 1930. 76 Dem entspricht, dass sich Schelling seit 1821 mit dem Gedanken getragen hat, die Mythologie-Vorlesung zu publizieren. Vgl. auch H. Fuhrmans, Schellings Verfügung über seinen literarischen Nachlaß, in: Kant-Studien 51 (1959/60), 14–26. 15.
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als eine ausführliche Darstellung der Skizze dar, die Schelling im Sommer 1821 seinen Hörern vorgetragen, in Erlangen weitgehend ausgearbeitet und bereits in den Druck gegeben hatte.77 Damit ist aus der ›Beylage‹ zu den Weltaltern das späte Hauptwerk geworden. Ähnlich wie bereits in Erlangen weist Schelling in der Münchener historischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie dieser die Aufgabe zu, die Mythologie als Ganzes, in ihrem Ursprung und als allgemeine Erscheinung zu erklären.78 Kritisch evaluiert werden auch hier diverse ältere und neuere Theorien der Mythologie, indem nachgewiesen wird, dass diese von Voraussetzungen ausgehen, die historisch unplausibel und mithin nicht zutreffend sind.79 Das betrifft zunächst ihre Erklärung als Erfindung, mit der sich Deutungen der Mythologie verbinden, die in ihr keine Wahrheit finden und solche, die in ihr eine Wahrheit ausmachen. Während die erstgenannten die Mythologie als Dichtung auffassen, heben letztere ihren allegorischen Charakter hervor. Beide Auffassungen sind geschichtlich nicht zu halten und werden in ein organisches Verständnis überführt, demzufolge die Mythologie instinktmäßig entsteht, Freiheit und Notwendigkeit in ihrem Entspringen also verbunden sind.80 Auf diese Weise löst Schelling im kritischen Durchgang durch ältere und zeitgenössische Erklärungsversuche der Mythologie Voraussetzungen auf, die sich geschichtlich nicht plausibilisieren lassen, da sie von Annahmen ausgehen, die historisch unwahrscheinlich sind. Im Resultat scheiden ähnlich wie in Erlangen alle postulierten historischen Voraussetzungen aus, die die Entstehung der Mythologie erklären. Übrig bleibt die These eines Urbewusstseins und eines mit diesem verbundenen wesentlichen Monotheismus, die jedoch – in Absetzung von Creuzer – keine geschichtliche Voraussetzung mehr benennt.81 Vor diesem Hintergrund kommen, wie bereits in der Erlanger Vorlesung, die geschichtlichen Mythologien der Völker als Individualisierungen des sich entziehenden Urbewusstseins in den Blick. Völker und ihre Mythologien entstehen zusammen.82 77 Schelling hatte, wie aus seiner Korrespondenz mit seinem Verleger Cotta hervorgeht, in den 1820er Jahren intensiv an einem Buch über die Bedeutung der Mythologie gearbeitet und dieses auch in den Druck gegeben, jedoch wieder zurückgezogen. Vgl. die Korrespondenz F.W.J. Schellings mit J.F. Cotta zwischen dem 10. September 1821 und dem 8. April 1824, in: Schelling und Cotta, 144–149. Vgl. hierzu A. Gulyga, Schelling. Leben und Werk, Stuttgart 1989, 297f. Noch 1827 kündigt er in einem Brief an Söderholm sein demnächst erscheinendes Buch über Mythologie an. Vgl. a. a. O., 305. 78 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Mythologie in drei Vorlesungsnachschriften 1837/1842, hrsg. v. K. Vieweg/Vf., München 1996, 37–116, bes. 37f. 79 Vgl. a. a. O., 48. 80 Vgl. a. a. O., 49–51. 81 Vgl. a. a. O., 85: »Das Urbewusstsein also, so wollen wir es nennen, mußte das seiner Natur nach an sich Gott Setzende nicht mit Wissen oder Wollen seyn, und zwar das Setzende des wahren Gottes.« 82 Vgl. a. a. O., 55–59. 57: »Die Mythologie ist das erste, was das Volk zum gewissen Volk bestimmt.«
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Funktion der historischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie ist es, auf eine Voraussetzung zu führen, welche die Mythologie als einen Prozess zu erklären vermag, in dem Ursprung und Bedeutung der Mythologie zusammenfallen. Das sind nicht nur die Eingangsfragen, mit denen Schelling seine Vorlesung eröffnete, es ist auch – wie oben ausgeführt – der Grundgedanke der Abhandlung über die samothrakischen Mysterien, der hier aufgenommen ist. Am Ende der Münchener historischen Einleitung ist die These eines theogonischen Prozesses jedoch nur ein Faktum, das sich als Resultat der historischen Kritik der Erklärungsversuche der Mythologie ergab. Von der Monotheismus-Vorlesung, die an die historische Einleitung anschließt, wird das Faktum des Monotheismus aufgenommen und durch die Einführung der Potenzenlehre geklärt und erläutert.83 Diesem Teil des Vorlesungszyklus kommt somit die Funktion einer philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie zu, auf die deren Darstellung dann aufbaut.84 Im Hintergrund von Schellings später Systemkonzeption, nämlich einer geschichtlichen oder positiven Philosophie, wie er sie seit 1827 in München in seinen Vorlesungen über Philosophie der Mythologie ausgeführt hat, steht auch jetzt noch der identitätsphilosophische Grundgedanke, dass das Wesen allein in der Form zur Darstellung kommt. Erst vor diesem Hintergrund wird die Grundthese der Mythologie-Vorlesung verständlich, dass im mythologischen Prozess Ursprung und Bedeutung der Göttergestalten zusammen entstehen, Form und Inhalt also nicht zu trennen sind. Es ist der identitätsphilosophische Symbolgedanke, auf den die Philosophie der Mythologie aufbaut. Sein und Bedeutung der Götter sind im mythologischen Bewusstsein identisch.85 Und genau
83 Vgl. a. a. O., 112: »Gesetzt es fänden sich in dem richtig bestimmten Begriff des Monotheismus die Elemente, die uns in den Stand setzten, einen theogonischen Prozeß überhaupt zu begreifen, so werden uns 2) mit dem wesentlichen Monotheismus die Mittel gegeben seyn einen theogonischen Prozeß des Bewußtseyns unter einer gewißen Voraussetzung zu begreifen«. 84 Aus der Monotheismus-Vorlesung und ihrer Funktion, sowohl die Prinzipien der Darstellung der Mythologie als auch die Überleitung in die positive Philosophie auszuführen, hat sich in Berlin die Darstellung der reinrationalen Philosophie entwickelt. Sie trägt auch dann noch signifikanter Weise den Titel Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: SW XI, 253–572. Zur komplexen Editionsgeschichte vgl. A.-L. Müller-Bergen unter Mitwirkung von S.E. Satori, Karl Friedrich August Schelling und die »Feder des seligen Vaters«. Editionsgeschichte und Systemarchitektur der zweiten Abteilung von F.W.J. Schellings ›Sämmtlichen Werken‹, in: editio 21 (2007), 110–132. In Schellings Nachlassbestimmung von 1853 wird die Darstellung der reinrationalen Philosophie nach der historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie und vor der Monotheismus-Darstellung platziert. Vgl. H. Fuhrmans, Dokumente zur Schellingforschung IV. Schellings Verfügung über seinen literarischen Nachlaß, in: Kant-Studien 51 (1959/60), 14–26, bes. 16. 85 Vgl. Schelling, Philosophie der Mythologie in drei Vorlesungsnachschriften 1837/1842, 98: »Das Eigenthümliche der mythologischen Gestalten ist, daß sie allgemeine Begriffe nicht
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so wie in der Identitätsphilosophie bleibt es auch in der späten Mythologie dabei, dass das Absolute nur indirekt, eben in den Gestalten des mythologischen Prozesses zur Darstellung kommt, deren Abfolge die triadische Potenzenlehre strukturiert. Was sich gegenüber der frühen Konzeption ändert, ist, dass die Relation von Wesen und Form als eine freie verstanden wird.86 Die systematischen Schwierigkeiten, mit denen sich dieses Unterfangen konfrontiert sieht, basieren auf dem indirekten Charakter des Wesens. Es selbst ist zwar unabhängig von der Form, aber es kann nur in dieser dargestellt werden.87 Schelling hat sich wohl seit 1801, spätestens jedoch seit 1810 daran abgearbeitet. Seine Entwürfe zu den Weltaltern geben ein beredtes Zeugnis davon. Und noch die weitere Entwicklung des Spätwerks, die in Berlin eingeführte Darstellung einer negativen Philosophie, die der positiven nun an die Seite gestellt werden soll, dokumentiert die Probleme. Blickt man indes auf die diskutierte werkgeschichtliche Genese von Schellings Philosophie der Mythologie noch einmal zurück, so wird man um das Urteil nicht herumkommen, dass die Akademierede über die samothrakischen Mysterien eine Scharnierfunktion innehat. Sie verzahnt gleichsam die frühe identitätsphilosophische Konzeption mit dem Spätwerk.
bedeuten, sondern vielmehr sind. Ebendeswegen sind sie nicht allegorisch sondern symbolisch zu nennen; denn Allegorie bedeutet den Begriff, Symbol ist der Begriff.« 86 Vgl. F.W.J. Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus, in: SW X, 225–286, bes. 232. Vgl. hierzu v. Vf., »Die Philosophie ist daher wesentlich System«. System und Geschichte in Schellings Philosophie der Offenbarung, in: Metaphysik des Konkreten und der Geschichte. System der Vernunft 1821–1854, hrsg. v. V.L. Waibel/Vf./J. Stolzenberg, Hamburg (im Druck). 87 Vgl. F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I/10, 121f. (§ 15).
Autoren
Dr. Christopher Arnold, Universität Wien, Evangelisch-Theologische Fakultät. Dr. Alexander Bilda, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Philosophisches Seminar. Dr. Christoph Binkelmann, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Schelling – Edition und Archiv. Dr. Christian Danz, Universität Wien, Evangelisch-Theologische Fakultät. Dr. Sebastian Engelmann, Eberhard Karls Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft. Dr. Astrid Fendt, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München. Dr. Michael Hackl, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Neuedition, Revision und Abschluss der Werke Immanuel Kants. Dr. Matthias Hofter, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Bayerische Geschichte. Dr. David Farrell Krell, DePaul University Chicago, Philosophie; Brown University, Providence, Germanistik. Patrick Leistner, Universität Wien, Evangelisch-Theologische Fakultät. Dr. Ryan Scheerlinck, Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft.
Personenregister
Achilles 215 Aiakos (von Ägina) 184f., 216 Aischylos 192f., 218, 227–229 Ajax 215f. Albani, Alessandro 202 Alyattes II. (von Sardeis) 185 Andromedes 206 Antoninus Liberalis 205 Antoninus Pius 200 Apelles 192 Aphaia 205–207, 216 Apollo 189, 193, 201 Apollon (Bildhauer in Pergamon) 189, 193 Apollonios von Rhodos 158f. Aretin, Johann Christoph 29, 75 Aristogeiton 215 Aristophanes 91, 98 Aristoteles 192, 218, 230 Artemis 200, 206f. Athena 194f., 207f., 214–216 Athena Promachos 207 Athenion 168 Atterbom, Per Daniel Amadeus 22, 43, 46 Augustus 200 Axieros 143, 148–150, 158–163, 167, 171f., 174, 234f., 238 Axiokersa 148, 150, 158, 160–163, 171, 234f., 238 Axiokersos 150, 158, 160–163, 171, 234f., 238 Baader, Franz von 42, 88 Bacon, Francis 84 Basedow, Johann Bernhard
65
Beekes, Robert Stephen Paul 163 Blankertz, Herwig 53, 55f. Brinkmann, Vinzenz 205, 208, 215 Britomartis 205, 207 Bruce, Thomas, 7. Earl of Elgin 203 Burkert, Walter 163 Brunn, Heinrich 213f. Buonarotti, Filippo 178 Calderón de la Barca, Pedro 230 Campe, Joachim Heinrich 65 Canova, Antonio 203 Ceres 17, 149f., 232f., 235, 237, 240 Cicero (Marcus Tullius) 178 Cockerell, Charles Robert 198 Coleridge, Samuel Taylor 174, 236 Comte de Caylus, Anne-Claude-Philippe 179f. Cornelius, Peter von 32–34, 36–38, 199 Cotta, Johann Friedrich 9–11, 13, 15f., 27, 39–42, 44f., 74, 81, 85, 87f., 95, 98, 166, 178, 231, 242, 250 Creuzer, Friedrich 14f., 46, 159, 164, 166, 168f., 238f., 241–246, 248, 250 Daidalos 178, 180, 184, 186f., 189 Danz, Christian 7, 9, 13f., 158, 171, 231 Dekker, Gerbrand 249 Demeter 141, 148–150, 158, 160, 164, 189, 238 Dempster, Thomas 179 Derrida, Jacques 145f., 161 Descartes, René 82f. Diderot, Denis 11f., 42, 71, 85–88, 115
256
Personenregister
Dillis, Johann Georg von 33, 35, 200 Diodor/Diodoros (von Sizilien) 178, 180 Diomedes 202 Dionysodoros 158 Dionysos 141f., 150, 153f., 161, 200, 235, 238 Docen, Bernhard Joseph 42, 88 Döllinger, Ignaz von 103 Eberhard, Konrad 200 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 25 Eirene 202 Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha 86 Eschbach, Norbert 208 Eschenmayer, Carl August 12, 41f., 74f., 88, 91–93, 97–100, 103, 114–119, 121– 127, 134, 137 Esterházy, Paul 20 Euhemeros 245 Euripides 193, 218, 230 Fauvel, Louis-François-Sébastien 177, 185, 209 Ferdinand III., Erzherzog von Österreich 72 Fesch, Joseph 202 Fichte, Johann Gottlieb 39, 59, 80, 82, 104f., 126, 138, 221 Fischer, Carl von 30f., 38 Flaxman, John 203 Forster, John 198 Fowler, Robert 163 Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué 42, 88 Furtwängler, Adolf 204f., 207f., 213 Gaia 167 Gärtner, Friedrich von 30, 32–36, 38 Gau, Franz Christian 34 Giotto/Giotto di Bondone 192 Goethe, Johann Wolfgang von 59, 178 Gori, Antonio Francesco 179f. Grimm, Friedrich Melchior 85 Hades 142, 158, 161, 237 Häffelin, Johann Casimir von
200
Haller von Hallerstein, Carl 198, 201f. Harmodios 215 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 39f., 48, 59, 75, 82, 147, 192, 221, 229, 232 Herakles 185, 208, 215f. Herbart, Johann Friedrich 49, 57f., 63 Herder, Johann Gottfried 131f., 225 Hermann, Gottfried 15, 242, 244–246, 248 Hermes 141, 151, 158, 235 Herodot 243f., 246 Hipparch 215 Hippias 215 Hirt, Aloys 15, 199, 210–212, 214, 216 Hohendorf, Ruth 64 Hojer, Ernst 59, 62 Hölderlin, Friedrich 59, 150 Homer 130, 164, 185, 245 Hume, David 83, 131 Ickstatt, Johann Adam von
59
Jacobi, Friedrich Heinrich 10f., 20, 26–30, 38f., 41, 45, 48, 72–75, 77, 81f., 91, 95– 100, 102–114, 116, 124, 126f. Jacobs, Friedrich 21 Kallimachos (Bildhauer) 184, 205, 215 Kant, Immanuel 12, 57, 82–84, 104, 110, 117, 126, 174, 251, 253 Karme 205 Kasmilos/Kadmilos/Camillus 150f., 158, 161–163, 171, 234f., 238, 242 Kekulé von Stradonitz, Reinhard 194 Kellerhoven, Moritz 30 Kirchner, Hans-Martin 51, 68 Klenze, Leo von 32–38, 44, 198–200, 202, 204, 213, 224 Knebel, Karl Ludwig von 88 Koch, Joseph Anton 34 Krell, David 13, 145, 160f., 165 Kritios 215 Langer, Johann Peter 30f., 34, 37f. Langer, Joseph Robert 30f., 34, 37f. Laomedon 215 Le Joyand, Claude-Francois 83
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Personenregister
Lessing, Gotthold Ephraim 82, 131, 186 Linckh, Jacob 198 Locke, John 83f. Ludwig I. von Bayern 20, 31f., 35, 43, 47, 177, 198, 202 Ludwig IX. (Bayern) 25 Ludwig XIV. 34 Luther, Martin 11 Lysipp/Lysippos 179, 181 Mannlich, Johann Christian von 30 Mariette, Pierre-Jean 179 Maximilian I. Joseph von Bayern 20, 22f., 24–26, 29f., 37, 42, 46, 72, 164, 231 Medusa 200 Meister, Jacques-Henri 85f. Meyer, Johann Heinrich 182 Michelangelo – Michelangelo Buonarroti 178, 181 Mnaseas von Patara 13, 158, 234, 241, 247 Möller, Nicolaus 42, 88 Montgelas, Maximilian von 19–25, 27f., 30f., 37, 40, 46 Moritz, Karl Philipp 232 Most, Glen 212 Müller, Johannes Friedrich 200 Müller, Johannes von 77 Müller, Karl Otfried 190 Napoleon Bonaparte 19, 21f., 31, 82, 114, 202 Neoptolemos 215 Nero 200 Nesiotes 215 Niemeyer, August Herrmann 52, 56, 58 Niethammer, Friedrich Immanuel 23–25, 50, 58–63, 68, 72 Ödipus 228f. Oelkers, Jürgen 51 Ohly, Dieter 194, 204, 208 Onatas 189f., 193 Paciaudi, Paolo Maria Paris 185 Parrhasios 192
180
Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 156, 165–170 Pausanias 178, 184, 186–189, 211f., 229 Peleus 215 Perikles 185 Persephone 148, 150, 158, 160, 238 Perthes, Friedrich Christoph 11, 87 Pfister, Johann Christian 42, 88, 94, 99 Phidias 170, 181, 188–190, 192f., 226f., 229 Pindar 216 Piranesi, Giovanni Battista 179 Platon 107, 184, 217f., 221f., 226 Plinius der Ältere/Gaius Plinius Secundus Maior 178f. Plitt, Gustav Leopold 44 Polyklet 181, 192 Polykrates 180, 182 Praxiteles 181, 192, 229 Prokesch von Osten, Anton 202, 213 Proserpina 149f., 235 Quatremère de Quincy, Antoine Chrysostôme 185f., 225 Quintilian 178f., 186f. Raffael/Raffaello Sanzio da Urbino 192 Rauch, Christian Daniel 209 Reble, Albert 58 Reinhold, Karl Leonhard 239 Ringseis, Johann Nepomuk von 33, 36 Rosenkranz, Karl 41 Rousseau, Jean-Jacques 60, 101, 103 Ruge, Arnold 242 Sailer, Johann Michael 21 Salat, Jacob 47, 91f., 110 Salzmann, Christian Gotthilf 65 Sanchuniathon 174 Scaliger, Joseph Justus 159 Schaefer, Wilhelm Ludwig 68 Schelling, Karl Eberhard 43 Schelling, Karl Friedrich August 77, 149, 251 Schelling, Pauline (geb. Gotter) 37, 86 Schinkel, Karl Friedrich 199
258 Schlegel, August Wilhelm 12, 21, 41, 79, 232 Schlegel, Friedrich 11f., 21, 41–43, 75, 78f., 159 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 57, 113, 124, 138 Schlichtegroll, Friedrich von 21 Schrag, Johann Leonhard 10, 40, 75, 86f. Schubert, Gotthilf Heinrich 45 Schwinger, Elmar 51, 58, 68 Shakespeare, William 230 Sickler, Friedrich Carl Ludwig 166f. Smilis 186f. Sokrates 91, 98, 148, 151 Sophokles 192f., 218, 228f. Stadion, Friedrich Lothar von 20, 27f. Stewart, Andrew 208, 215 Strabon 178 Sulla 200 Süskind, Friedrich Gottlieb 103, 115f. Telamon 185, 215f. Tenorth, Heinz-Elmar 63–65, 67 Teukros 215 Thales von Milet 101 Thiersch, Friedrich 15f., 24, 29, 42, 49–52, 58, 62–69, 88, 243 Thorvaldsen, Bertel 16, 177, 198, 225 Thürheim, Friedrich Graf von 72 Tieck, Christian Friedrich 35
Personenregister
Trajan 200 Trakl, Georg Unger, Daniel
145f., 150, 161 224
Villers, Charles de 82f. Voltaire/François-Marie Arouet Voss, Gerhard Johannes 232
86
Wagner, Johann Martin 9, 15–17, 31–37, 43f., 98, 177f., 182, 184–191, 194, 197– 201, 206–217, 224f., 229, 242–244 Walter-Karydi, Elena 208 Wangenheim, Karl August von 74, 95 Warburton, William 239 Weiller, Kajetan 23, 47, 91f., 110 Wescoat, Bonna Daix 164 Westenrieder, Lorenz von 26 Winckelmann, Johann Joachim 180–182, 187f., 190–193, 195, 209, 212, 218–223, 225f., 229 Windischmann, Karl Joseph Hieronymus 21, 25, 92 Wismayr, Joseph 23, 59 Wünsche, Raimund 194, 202, 208, 215 Zentner, Georg Friedrich von Zeus 141, 154, 184, 205, 216 Zoëga, Johann Georg 159
19, 23–25
Sachregister
Absolutes 106, 108, 114, 120f., 132, 137f., 170, 232, 235f., 238, 247, 252 Ägina/äginetisch 16f., 170, 177f., 182, 184, 186–191, 193, 195, 197f., 204–206, 209, 211f., 215–217, 224, 226–229, 242–244, 247 Ägineten/Gibelfiguren von Ägina 15f., 43f., 177, 189, 193, 195, 197–199, 201– 204, 206, 210–214, 216, 228f., 243f. Ägypten/Ägypter/ägyptisch 15f., 143, 159, 163, 169, 178–183, 186–188, 209, 213, 219, 225–227, 243f. Allegorie/allegorisch 103, 109, 113, 139, 174, 206, 236f., 245f., 250, 252 Allgemeines 51, 65, 84, 113, 236 Altbayern 20, 26f., 29, 38 Altertum 65–68, 143, 156, 181, 192, 209 Altertumswissenschaft(en) 14f., 156, 165, 190, 241, 244f. Altes Testament 15, 131, 134, 153, 160, 247 Analogie 157, 188 Anatolien/anatolisch 163, 169 Anmut/anmutig 26, 64, 186, 192f., 219, 223f. Anthropomorphismus 99, 118, 122 Anziehung 227f., 230 Archäologie/archäologisch 31, 162f., 146, 152f., 162f., 178–180, 186, 197, 208, 210, 213 Architektur 30–33, 35, 190, 198, 207, 219 Atheismus 74, 85, 91, 95, 105, 114 Athen 32, 153, 177, 182, 189, 191, 201, 203– 205, 207, 215, 219, 243
Attika/attisch 170, 186–190, 211f., 224, 226f., 229, 244 Band 137, 172, 191, 218–224, 228, 230 Barbarbisches/barbarisch 156, 159, 169f., 174 Bedeutung 65, 141f., 157f., 231–252 Besonderes 17, 113, 137, 235f. Bewusstsein; vgl. auch Urbewusstsein (der Menschheit) 91, 96, 98, 106, 134, 143, 237–240, 251 Bibel 130f., 133 Bild 16, 170, 195, 223, 226, 236–240, 245– 248 Bildung 40, 49–69, 73, 76, 81 Charakteristisches 187, 211f. Christentum 103, 113, 124, 139f., 217, 240 copula vgl. Band 222 Darstellung 14, 57, 126, 129, 132, 142–144, , 134–144, 234–241, 245–252 Demiurg 148, 150f., 161, 171f., 174, 235, 238 Deutschland/deutsch 11f., 22–24, 26–29, 31f., 35f., 39–42, 46f., 53–55, 58, 60–63, 66, 69, 71, 75, 77–79, 82, 84–88, 94, 97f., 103f., 114, 129, 155, 192, 198, 210, 212 Dichtung 245, 250 Emanation 144, 150, 162, 238 Empirismus 82–84, 89, 230 England 85
260 Erlangen 25, 40, 43, 46f., 171f., 233, 241, 248, 250 Erziehung 51–54, 55–58, 59–61, 66 Etrusker/Etrurien/etruskisch 178–182, 203 Etymologie 156f. Form/Formen 94, 131, 140, 172f., 218–220, 222, 225, 230f., 236–241, 246, 251f. Frankreich 20f., 28, 72, 82–85 Freiheit 12, 20, 48, 53, 61, 69, 110, 113, 115f., 123, 132–134, 152, 172, 219, 227, 229, 250 Geisterwelt 150, 235 Geschichte 49–51, 54, 57, 68, 114, 130, 136f., 139f., 144, 147, 174, 179, 181, 192, 204, 216–218, 221, 226, 240, 248 Glaube 91–94, 100f., 103–105, 107, 110– 113, 116, 119, 124–126, 137, 141, 148, 166 Glyptothek 31–36, 44, 197–200, 202, 204, 210, 213, 225 Gott 22, 33, 46, 100f., 103–111, 114–119, 121–127, 137–139, 142, 145, 149–153, 160–163, 170, 172, 174, 235, 239, 250 Götter 14, 139, 141, 144, 146, 148, 151f., 157–159, 161–163, 193, 199, 228f., 231, 233–235, 237f., 241f., 244, 246–248, 251 Grund 114, 117, 120f., 129, 149f., 157–159, 228–230 Grund und Existierendes 229 Hades 142, 158, 161, 237 Hebräisches/hebräisch 64, 131, 148, 159f., 163, 168 Hetrurer/Hetrurien/hetrurisch vgl. Etrusker 177, 182f., 186f., 209f. Humanismus 23, 50, 53–56, 59f., 63 Ideal 57, 60, 62, 73, 75, 80, 117, 140f., 177, 183, 188f., 209, 212, 218f., 223, 226–230 Ideales und Reales 230 Idealismus 83, 168, 192, 217f., 223, 225– 227, 229f. Idee/Ideen 132, 135–140, 142f., 226, 236f., 245
Sachregister
Identität, absolute 106, 108, 221, 224, 228, 235–237, 241 Identitätsphilosophie 14, 17, 80, 129, 132, 134–137, 139f., 142, 170f., 232–234, 236f., 244, 247, 252 Indien/Inder/indisch 143, 151, 159, 163, 243, 247 Indifferenz 119, 121, 223f., 227f., 230 Individualität 53, 61, 113, 139, 172 Ionien/ionisch 190 Judentum
239f.
Kabir/Kabiren 13f., 141, 150–152, 156, 158f., 161–163, 168f., 171, 231, 233–235, 237–240, 242–245, 247f. Katholizismus 26, 45, 73, 88 Kette 14, 84, 150 Kirche 73, 85 Klassik/klassisch 49, 55–57, 59, 61f., 64– 69, 170, 192, 199, 208–210, 213f. Kohäsion 240 Können 73 Konstruktion 130, 133–136, 140, 142, 234f., 240, 244, 248 konventionell 184, 187, 195 Krieg 19–21, 28, 40f., 82, 183f., 189, 199, 205, 214–216 Kunst 15, 17, 19, 23, 29–32, 34, 37, 40f., 47, 54, 73, 77f., 85, 94, 98, 137f., 140, 150, 170, 174, 177f., 180–184, 186–195, 197, 201, 203, 209–214, 217–230, 237, 243f., 247 Leben 11f. 14f., 25, 31, 40, 45, 49, 53, 60f., 75, 81, 85, 87, 89, 91–94, 101, 117, 138, 146, 148, 151, 158, 171f., 189, 194, 226, 234, 237, 240, 243 Lehrplan 24, 50, 59, 61, 63–65, 67f. Magie/magisch 38, 52, 151, 160–162, 171f., 234, 241 Malerei 30, 32, 195, 219, 226, 230 männlich 148f., 151f., 160, 163, 206 Materialismus 60, 83, 230 Medium 16, 52, 74, 135, 140, 220, 238
261
Sachregister
Methode/Methodik 49f., 64, 66f., 76, 80, 89, 105, 129f., 134, 136, 140f., 144, 155– 157, 166f., 169, 171 Mimesis vgl. Nachahmung 218 Mitteilung 16, 244 Mittler 161 Monotheismus 14f., 144, 150, 237, 239f., 242, 245f., 248–251 München 19f., 22–33, 36–38, 46f., 58, 63, 69, 71–75, 87, 92, 95, 185, 195, 197–200, 213, 225, 231–234, 248–251 Mysterien 13–15, 17, 42, 47, 141–144, 152f., 168, 231–235, 237–240, 242, 247– 249, 251f. Mythologie 13–15, 17, 43, 93, 139–141, 143, 152f., 160, 165, 168f., 174, 206, 217, 228, 230–233, 238–242, 244–252 Nachahmung 65f., 170, 182f., 187, 189, 191f., 209, 217–219, 225f., 228–230 Name 13, 25, 36, 41, 63, 83–85, 114f., 141, 148f., 155, 157–160, 162f., 165f., 169, 171–173, 231, 234, 241, 246f. Natur 29, 38, 60, 65f., 72–74, 77, 81f., 91, 93f., 104–109, 112, 117, 122f., 133f., 136–139, 149f., 162, 166, 170, 173f., 177, 183, 187–189, 191–193, 195, 205, 207, 209, 212, 217–223, 225–230, 235, 237f., 241, 250 – natura naturans 188, 223 – natura naturata 223 Naturphilosophie 17, 38f., 94, 114, 129, 132–134, 136–139, 168, 232, 244 Naturreligion 217, 230 Neuhumanismus 49–56, 58, 65, 67f. Notwendigkeit 32, 57, 62, 102f., 116, 119, 123f., 126, 132–134, 136, 144, 220, 227, 229, 250 Offenbarung 48, 93, 101, 103, 107, 109, 121, 124, 139, 143, 151, 234, 237, 247 Organismus/organisch 81, 122, 133, 213, 222, 250 Pädagogik Parthenon
49–51, 54, 56–58, 61, 64 191, 201, 203, 215
Persönlichkeit 55, 117, 150f., 162 Philosophie, französische 12, 71, 82–84, 89 – negative und positive 108, 251f. Phönizien/Phönizier/phönizisch 143, 148, 159, 163, 168f., 174, 205 Phrygien/phrygisch 168f., 215 Planet/Planeten 117, 240 Plastik 188, 191, 195, 213, 219, 229 Polytheismus 14, 237, 239, 248 Potenz/Potenzen 136, 153f., 160f., 171, 235–238, 241, 247 Proportion 179, 220, 222f. Prozess, theogonischer 251 Rationalismus 83 Realismus 83, 217, 225f., 229f. Reformation 11, 26, 82 Reihe 39f., 46, 97, 102, 137, 149–152, 162, 171f., 174, 238 Religion, natürliche 100f., 103, 110, 126 Religion/Religionen 11–13, 15, 39f., 77, 81, 91–94, 101, 122, 127, 133, 136–140, 143, 147, 184, 217, 230, 237, 239f., 243f., 246 Religionsgeschichte 13, 15, 131, 140, 143, 239, 248 Rom 16, 31–33, 36, 44, 163, 177f., 180, 198, 200f., 203, 210, 224, 230, 232 Romantik/romantisch 32, 165, 190, 192, 239, 245 Schema/Schematismus 217, 229, 236f. Schönes 53f., 193, 212 Schönheit 138, 181, 191–193, 212, 218, 222f., 230 Seele 107, 110, 112, 137, 173, 191, 222, 237, 239 Sehnsucht 106, 110, 120, 148–150, 159, 161, 167f., 237 Sein 109, 132, 160, 173, 220, 236, 238, 251 Selbstoffenbarung 107, 142 Sittlichkeit/sittlich 56, 87, 122f., 192f., 218 Skulptur 16, 170, 177, 180, 184–186, 188, 190f., 193, 195, 197–204, 207–209, 213– 215, 243 Sprachen 55–58, 60, 63, 65f., 68, 163, 169, 203, 212
262 Staat 20, 22–24, 40, 46, 71, 73, 77f., 91–95, 217 Stelle 135, 142, 149, 157, 235 Stil 16, 54, 179–183, 185, 187f., 191–193, 197, 201, 208f., 211–215, 218–230 Symbol 139f., 144, 236, 243, 252 System 10, 22, 47, 74, 77, 81, 108, 113f., 116f., 141, 143, 150f., 158, 161f., 164, 170–172, 175, 218–221, 224, 236, 247– 249 Tautegorie/tautegorisch 174, 236 Tempel 16, 36, 146, 170, 182, 184f., 197f., 201, 203–208, 211, 215f., 224 Theismus 100, 102f., 105, 108–110, 112f. Theologie, natürliche 91, 100f., 103f., 110, 118f., 126 Tragödie 192f., 224, 227–229 Troja 178, 199, 216 Trojanischer Krieg 199, 215f. Tübingen 10, 45, 59, 74, 116, 231 tyrrhenisch 186 Überwirkliches/überwirklich 234 Urbewusstsein (der Menschheit) 247–250 Ursprache 131 Ursprung 15, 36, 123, 129–136, 142, 144, 157–159, 168, 205, 214, 231, 233, 241– 243, 246–248, 250f. Ursystem 15, 42, 143f., 247 Vernunft 60, 84, 100f., 108, 116–119, 121, 123, 134, 235
Sachregister
Verteilung 17, 244 Vollkommenheit 100, 105, 107, 117, 119, 121, 185, 190f., 195, 212 vorklassisch 178, 188 Wahrheit 100f., 105, 110, 115, 130, 158f., 168, 218–220, 250 weiblich 148f., 151–153, 160f., 163, 206, 209, 220 Weltalter 9f., 13, 39, 42f., 45, 47, 91, 93– 103, 105, 107, 109–112, 122, 126f., 148, 156, 162, 164, 170, 174, 233–235, 238– 240, 242, 248–250, 252 Wesen 14, 78, 100f., 105f., 112, 115–126, 132, 146, 149–151, 223–226, 230, 236f., 239, 241, 247, 252 Wesen und Form 223, 236, 241, 252 Wissenschaft 9–13, 15, 19, 23–26, 28f., 37f., 41, 45, 47, 71–73, 77, 80–82, 93, 99, 102, 104, 107, 109, 122, 126f., 129, 132, 135–140, 142, 144, 166, 168f., 219f., 231f., 234, 245 – deutsche 11, 39f., 77f., 81f., 84, 89 Würzburg 19, 25f., 38, 40, 58, 72, 75, 79f., 83, 91, 142, 166, 178, 200, 224 Wurzel 13, 123, 157f., 160, 169 Zauber 148, 160f. Zeit 139, 249 Zeitschrift/Zeitschriften 7, 9–12, 40–42, 71, 73–76, 78–81, 85–88, 92–95, 97f., 165