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German Pages 256 Year 2014
André Studt, Claudia Schweneker (Hg.) SchattenOrt: Theater auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände
Theater | Band 50
André Studt, Claudia Schweneker (Hg.)
SchattenOrt: Theater auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände Ein Monument des NS-Größenwahns als Lernort und Bildungsmedium
Die Publikation wurde mit Mitteln der Dr. German Schweiger Stiftung (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und der Josef-E.-Drexel-Stiftung (Nürnberg) gefördert.
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Inhalt
Vorwort | 7
ERSTER TEIL – WISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DEN ›SCHATTEN ORT ‹ Das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Die Ästhetik der Erscheinung und die Moral der Geschichte Leopold Klepacki (Erziehungswissenschaft) | 27 SCHATTENORTE – Oder die Grenze topographischer Aufklärung Hermann Glaser (Kulturgeschichte) | 49 Theater und Gedächtnis
Peter W. Marx (Theaterwissenschaft) | 61 Das Reichsparteitagsgelände im Schulgeschichtsbuch Falk Pingel (Bildungsforschung) | 71 Monumentalität und Macht in der Moderne
Christoph Asendorf (Kunsttheorie/Architekturgeschichte) | 101
ZWEITER TEIL – Z U DEN AKTIVITÄTEN IM DES P ROJEKTWOCHENENDES
RAHMEN
Theater am ›SchattenOrt‹ – Möglichkeiten und Grenzen von ›theatre on location‹ und ›locational theatre‹ André Studt (Theaterwissenschaft) | 121 Literarische Texte über das Reichsparteitagsgelände als Gegenstand einer Lesung und Ergebnis einer Schreibwerkstatt Ingmar Reither (Museumspädagogik) | 145
Du bist so jung und sollst schon sterben... Der Ausweichspielort als Impulsgeber für ästhetische und politische Bildungsprozesse in der Theaterpädagogik des Staatstheaters Nürnberg
André Studt – Mitarbeit: Christine Haas/Anja Sparberg (Theaterpädagogik) | 159 »Sind Sie unser Führer?« Perspektiven der Kunstvermittlung in der Ausstellung Das Gelände Jana Stolzenberger (Kunstvermittlung) | 175 Das Reichsparteitagsgelände im Film Eckart Dietzfelbinger (Filmgeschichte) | 195
DRITTER TEIL – (MEDIEN)PÄDAGOGISCHE MATERIALIEN (DVD) Der ›SchattenOrt‹ als Bildungsort – Bemerkungen zu Motivation, Kontext und Genese der medienpädagogischen Materialen Claudia Schweneker/André Studt | 211 Inhaltsverzeichnis der beiliegenden DVD | 247 Kooperationspartner & Dank | 249 Autorinnen und Autoren | 251
Vorwort
Mit der nun vorliegenden Publikation SchattenOrt – Theater auf dem Reichsparteitagsgelände. Ein Monument des NS-Größenwahns als Lernort und Bildungsmedium wird ein vor etwas mehr als fünf Jahren begonnener Arbeitsprozess, der seinen Anfang durch einen Anerkennungspreis im bundesweiten Wettbewerb zum Jahr der Geisteswissenschaft 2007 – Motto: ›Geist begeistert‹ nahm, vorläufig abgeschlossen. Dass zwischen dem eigentlichen Projektbeginn und der schriftlichen Fixierung der meisten in ihm erfolgten Arbeiten und Überlegungen, die man besser als Suchbewegungen in einem komplizierten Feld der Erinnerungspolitik, Bildungsarbeit und wohl immer auch einer Selbstvergewisserung bezeichnen sollte, so viel Zeit vergangen ist, hat weniger mit einem Nachlassen der Begeisterung für das Thema zu tun, sondern ist vielmehr Ausdruck einer geisteswissenschaftlichen Praxis, die vor allem mit der Ressource Zeit aus unterschiedlichen Gründen recht eigenwillig umzugehen vermag; die direkt an diesem Projekt Beteiligten, vor allem die Autoren der vorliegenden Texte, mögen es verzeihen, wenn dieser Umstand ihre Geduld allzu sehr strapazierte. Hintergrund Der damalige Antrag zum oben erwähnten Wettbewerb wurde unter dem Titel ›SchattenOrt – die profane Nutzung der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg‹ eingereicht. Zum einen sollte so die dem Gesamtvorhaben zugrunde liegende Idee, nämlich eine interdisziplinär organisierte Bestandsaufnahme einer Einschätzung des generellen Umgangs mit diesem problematischen Ort, kommuniziert werden, zum anderen wurde die These der ›profanen Nutzung‹ dezidiert aus der Perspektive der Theater- und Medienwis-
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senschaft bzw. noch spezieller: einer angewandten Theater- und Medienwissenschaft formuliert. Sie folgt demnach nur implizit einer historischen Ausrichtung, obwohl der eigentliche Gegenstand vielmehr nach einer expliziten Strategie verlangen könnte: Während man die Theaterwissenschaft als historische Wissenschaft bezeichnen kann, die ihrem Gegenstand im Grunde immer hinterherhinkt und traditionsgemäß um dessen Rekonstruktion bemüht ist, operiert die Medienwissenschaft, allein ob ihrer Verzahnung mit dem Geltungsanspruch des Luhmannschen Weltwissens, das sich über die Massenmedien herstellt,1 scheinbar viel gegenwartsbezogener und interventionistischer. Ohne nun näher auf das Verhältnis von Theater- und Medienwissenschaft eingehen zu wollen,2 erschien die damit einhergehende produktions-, werk- und wirkungsästhetische Inkommensurabilität von Theater- und Medienpraxen in Bezug auf die Bearbeitung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Erinnerns als ein inspirierender Ausgangspunkt für dieses Projekt,3 zumal dieses seinen Anlass in der Gegenwart hatte. Angesichts des absehbaren Wegfalls unmittelbarer Zeitzeugenschaft der NS-Vergangenheit und der zunehmend mediatisierten Wahrnehmung von Geschichtsinhalten, die Aufklärung durch Nachinszenierung ersetzt, »nicht zuletzt, um das Interesse und die Vorstellungskraft der Nachgeborenen zu erreichen«4, zeigt sich Geschichte in einer medialen Aufbereitung oft als ›Story‹ bzw. als pointenreiches Material, das in unterschiedlichen Formaten, z.B. im Melodrama (DER UNTERGANG [Hirschbiegel 2004]), per Infotainment (Guido Knopp [ZDF-History]) oder in politisch korrekter –
1
Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995. Dort heißt es gleich zu Beginn: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« (Ebd., S. 9).
2
Vgl. dazu Studt, André: »Vom Versuch mit Bildern zu bilden – oder: Angewandte Theater- und Medienwissenschaft als Form ästhetischer Bildung«, in: Welt-Bild-Theater. Politik des Wissens und der Bilder, Kati Röttger (Hg.), Tübingen 2010, S. 351-364.
3
Vgl. dazu Reemtsma, Jan Philipp et al.: »Zukunft der Erinnerung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Nr. 25-26/2010.
4
Cammann, Alexander: »Veronika Ferres, bitte melden!«, in: Die Zeit, Nr.10/2019 (http://www.zeit.de/2010/10/Eva-Braun, zuletzt gesichtet am 02.03.2012).
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oder korrekt gemeinter – Satire (MEIN FÜHRER [Levy 2007]) aufbereitet wird. Demgegenüber steht das (institutionelle) Theater, als eigentlicher Impulsgeber für das Projektvorhaben, vor ganz anderen Herausforderungen. Aufgrund der Sanierung des Schauspielhauses am Staatstheater Nürnberg sah sich das Theater gezwungen, den eigenen Vorstellungsbetrieb ab Juni 2008 auszulagern und für etwa zwei Jahre, bis zum Beginn der Spielzeit 2010/11, an diversen Ausweichspielstätten aufrechtzuerhalten. Unter anderem fanden nun Aufführungen im Neuen Musiksaal der Nürnberger Symphoniker statt, der sich als Aus- und (Teil-) Neubau der ehemaligen Probebühne des Orchesters im zweiten Kopfbau der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg befindet. Der Kongresshallen-Torso gehört heute zu den größten noch erhaltenen Bauten der Nationalsozialisten und markiert ein in der Welt einzigartiges monumentales Zeichen für den nationalsozialistischen Größenwahn. Mit Nutzung dieser geschichtlich vorbelasteten Ausweichspielstätte musste das Schauspiel seinen Spielplan nicht nur auf technisch veränderte Bedingungen ausrichten, sondern vor allem auch inhaltlich auf diese ungewöhnliche Spielstätte reagieren. Die theaterinterne Frage nach einem angemessenen Umgang mit diesem Schauplatz betritt mit der Suche nach Antworten das weite ethisch-moralisch-politische Diskussionsfeld über die allgemeine Nutzung dieses Ortes. Ursprünglich gedacht für die einmal jährlich stattfindenden Reichsparteitage sollte die größte Halle der Welt, die Kongresshalle, als ›erster Riese unter den Bauten des Dritten Reiches‹ den Inszenierungen der NSDAP dienen. Tatsächlich ist dieser Bau heute – obwohl unvollendet geblieben – eines der größten Gebäude und neben der Kaiserburg die wichtigste Sehenswürdigkeit in Nürnberg. Auch wenn die Kongresshalle einstweilen pragmatisch genutzt wird und sich das seit 2001 dort integrierte Dokumentationszentrum mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzt, bleibt dessen Ideologie durch die besondere Architektur bis in die Gegenwart hinein spürbar. Der Architekt Albert Speer hatte die Bauten des Reichsparteitagsgeländes als ›Worte aus Stein‹ bezeichnet. Diese Aussage bekommt mit dem Einzug des Schauspielhauses in die Kongresshalle eine neue Bedeutung. Sie wird, nimmt man den Ort als beredtes Zeug-
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nis der Vergangenheit, auch zu einem konkreten Problem im Umgang ›vor Ort‹.5 Laut Pierre Nora, der den Begriff ›lieu de mémoire‹ durch die Herausgabe von sieben Essay-Bänden, in denen eine ›Topolatrie‹ Frankreichs gezeichnet wird, geprägt hat, modellieren sich an diesen spezifischen Orten ambivalente Verhältnisse von Geschichte und Gedächtnis, von Materialität und Individualität. Die Brisanz dieser »symbolischen Ortsbesetzung«, die bei der »Nutzung historischer Gebäude, die sich anderen musealen Funktionen verweigern, [beginnt], geht über den Denkmalpflegekult, dem sich nicht selten zahlreiche ortsgebundene Erinnerungsliturgien anhängen, bis hin zu den regionalen und nationalen Gedenkstätten, die auf die NS-Vergangenheit bezogen sind«;6 sie entsteht durch eine Verkürzung dessen, was man dort als Geschichte erinnern will, und bezieht sich allein auf das, was von der Vergangenheit materiell sichtbar übergeblieben ist. Um sicherzustellen, dass »Geschichte [...] nicht in musealisierten Trivialitäten, folklorisierten Requisiten und topolarisierten Punktierungen aufgehen soll, [...] sind Re-Konstruktions- und Re-Dimensionalisierungsleistungen, [...] sind Deutungen und Erklärungen des geschichtlichen Zusammenhangs erforderlich.«7 Es mag einleuchten, dass diese Vermittlungsleistungen, die man in Bezug auf Maurice Halbwachs als sozial geprägte Konstruktion von Kohärenz bezeichnen könnte,8 dort leichter fallen, wo sich die Vergangenheit als »klares, weitgehend geschlossenes, rundum zustimmungsfähiges Bild« darstellt 9. Hingegen zeigt sich die deutsche Geschichte deutlich heterogener: »Die späte Geburt der deutschen Nation als bewußte politische Einheit hat verhindert, daß die vielen deutschen Geschichten in eine Geschichte zusammen-
5
Vgl. dazu Dietzfelbinger, Eckart/Liedtke, Gerhardt: Nürnberg - Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände. Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004, S. 93-132.
6
Korff, Gottfried: Museumsdinge, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 133f.
7
Ebd., S. 135.
8
Vgl. dazu Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 22006 (Nachdruck) (1925) Frankfurt a. M.
9
François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, München 2005, S. 10.
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wuchsen. Und zum Unheil Deutschlands war es Adolf Hitler, der als erster und letzter deutscher Staatsmann versuchte, die vielen deutschen Traditionen und Geschichtsbilder in der politischen Wirklichkeit zusammenzuzwingen: Arminius und Barbarossa, Karl den Großen und Widukind, Friedrich den Großen und Prinz Eugen, Windischgraetz und Bismarck, all die disparaten, auseinanderstrebenden, widerspruchsvollen Mythen des deutschen Nationalbewußtseins. Nur ein einziges Mal in der deutschen Geschichte wurden die Träume und Wirklichkeit aller Deutscher zusammengebracht: Im Alptraum des ‚Großdeutschen Reichs‘.«10
So nimmt es nicht Wunder, dass sich die Auseinandersetzungen um die materiellen und sichtbaren Überbleibsel der deutschen Geschichte heftiger ausnehmen. Der Schauplatz Nürnberg nimmt hierbei eine doppelbödige und damit paradigmatische Stellung ein: »Nürnberg spiegelt seither das fragile Verhältnis zwischen einer übermächtigen Geschichte und ihren je verschiedenen Erinnerungskulturen vor und nach dem sogenannten Ende der Geschichte, von Nation, Staat und Bürgertum auf dem Weg zu Demokratie und Massenkultur in Deutschland in exemplarischer Weise. Wie kaum ein anderer Ort Deutschlands hat sich die ‚deutscheste aller Städte‘, wie sie der Nürnberger Oberbürgermeister Willy Liebel 1938 nannte, selbst so zum deutschen Erinnerungsort stilisiert wie Nürnberg. Diese Stadt suchte wie kaum eine andere gleichermaßen bürgerliche Selbständigkeit, imperiale Größe und intellektuelle Entfaltung zu verkörpern, und obgleich andere deutsche Gemeinden, besonders ehemalige Reichsstädte, ebenfalls im 19. Jahrhundert Anstrengungen unternahmen, vor allem in der Gesellschaft des Kaiserreiches ein eigenes historisches Profil massenwirksam zu vertreten, ist dies wohl keiner anderen Stadt bis 1945 so erfolgreich gelungen wie Nürnberg.«11
Zudem verweisen spezifische Inszenierungsleistungen am Ort auf dessen Qualität als Schau-Platz: Hierunter fallen die inszenatorischen Bemühungen, das NS-Regime in eine historische Kontinuität deutscher Geschichte einzuschreiben, genauso, wie die bewusste Platzierung der Kriegsverbrecherprozesse, die dann ebenfalls Einfluss auf die
10 Ebd., S. 11 (Rechtschreibung des Originals). 11 Kosfeld, Arne G.: »Lemma: Nürnberg«, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd.1, Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), München 2001, S. 68-85, hier S. 69f.
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Selbststilisierung und das Bild der Stadt Nürnberg genommen hat, so dass »Nürnberg in der Erinnerung der Deutschen – neben vielem anderen – bis heute als der Symbolort der NS-Herrschaft und -Gefolgschaft gilt.«12 Nürnberg ist und bleibt die Stadt der Reichsparteitage; dieses Bild wird, vor allem touristisch bedingt und in (fast) allen Eröffnungssentenzen fremdsprachiger Reiseführer fixiert, zu einem der dominanten Kennzeichen einer Außenwahrnehmung dieses Ortes. Für denjenigen, der in Nürnberg lebt, sind die sichtbaren Relikte der NS-Zeit jedoch oft übersehene Kulisse einer Alltagsnormalität – diese werden nur dann zum Ziel einer gerichteten Wahrnehmung, wenn man ortsfremden Besuch hat, der an ›sites of special interest‹ geführt werden möchte. Diesem Umstand war dann auch der – zugegeben – recht sperrige Projekttitel der gängigen Nutzung seit 1945 geschuldet, deren Hauptmerkmal ein tendenziell ahistorischer Pragmatismus im Sinne einer ›profanen Nutzung‹ war. Dies stand wohl auch unmittelbar im Zusammenhang mit der bis weit in die 1980er Jahre hinein wirksamen Frage eines angemessenen Umgangs mit der NS-Vergangenheit und der politischen Durchsetzbarkeit seiner Aufbereitung in nationalen Gedenk- und/oder Erinnerungsorten: »Zweifelsohne erwies sich der Umgang von Anfang an als schwierig. Sicher auch deshalb, weil es sich bei den Hinterlassenschaften nationalsozialistischen Größenwahns vorrangig um einen Ort der Täter handelt. Ein anderer Umstand spielt(e) in der öffentlichen Debatte so gut wie keine Rolle, auch wenn er entscheidend ist. Das von Albert Speer geplante Reichsparteitagsgelände mit seinen verschiedenen Bauwerken diente einem Hauptzweck: Es handelte sich um Foren zur Verherrlichung des NS-Regimes und des ‚politischen Messias‘ Adolf Hitler. Dafür gibt es in einer Demokratie keine Entsprechung. Mithin konnten die Bauten auch nie ‚profan‘ genutzt oder gar in eine menschliches Maß respektierende Stadtentwicklung integriert werden.«13
12 Ebd., S. 83. Die Bewerbung der Stadt Nürnberg bei der UNESCO als ›Stadt der Menschenrechte‹ ob der im Zuge der ›Nürnberger Prozesse‹ erstmals etablierten Weltstrafgerichtsbarkeit markiert einen interessanten Kontrapunkt. 13 So heißt es im Konzeptpapier der Arbeitsgruppe ehemaliges Reichsparteitagsgelände der Stadt Nürnberg »Das Zeppelinfeld in Nürnberg – ein deutscher Lernort zur Geschichte des Nationalsozialismus« vom 25. Juli 2011,
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Die Ambivalenz des Anspruchs auf eine profane Nutzung kommt im gewissen Sinne im Wirken des ehemaligen Nürnberger Kulturdezernenten Hermann Glaser zum Ausdruck, der zwischen 1964 und 1990 dieses Amt innehatte. Er betrieb eine Politik der bewussten Profanierung des weitläufigen Geländes und kümmerte sich gleichzeitig um eine Aufbereitung dieses Ortes der Täter zu einem ›Lernort‹. Exemplarisch wurde Letzteres durch die Einrichtung der Ausstellung Faszination und Gewalt, die nach einigen Anlaufschwierigkeiten 1985 provisorisch im Mittelbau der Zeppelin-Tribüne gezeigt wurde und als konkreter Vorläufer des schließlich 2001 eröffneten Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände gelten darf. 14 Auch wenn der Umgang mit dem Gelände spätestens seit 2004 durch die Verabschiedung von Leitlinien in einem politischen Einvernehmen organisiert ist, so entzünden sich beispielsweise an der Frage, wie man mit den baulichen Relikten des NS-Staates angesichts ihres rapiden Verfalls und den Notwendigkeiten zur Instandhaltung gemäß den Vorgaben des Denkmalschutzes umgehen soll, immer wieder Debatten, die jüngst auch Glaser zu öffentlichen Zweifeln hinsichtlich der Verwendung der veranschlagten Finanzmittel (»Fehlinvestition«) veranlassten15. Mit sei-
(http://online−service2.nuernberg.de/eris09/downloadPDF.do;jsessionid=E 365F28D12789BC0056ADAEDC65E32D0?docType=attachment&id=385 41, S. 2, zuletzt gesichtet am 02.03.2012). Zur generellen Debatte um die Erinnerungskultur vgl. Reemtsma, Jan Philipp: »Wozu Gedenkstätten?«, in: APuZ 25-26/2010, S. 3-9, hier S. 3. 14 Zur Konzeption der Ausstellung: Ogan, Bernd: »Faszination und Gewalt – Ein Überblick«, in: Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus, ebd./Wolfgang W. Weiß (Hg.), Nürnberg 1992, S. 11 ff. 15 Glaser, Hermann: »Sanierung ist keine Erinnerungskultur«, in: Nürnberger Zeitung vom 07.10.2011, (http://www.nordbayern.de/nuernberger-zeitung/ nuernberg-region/sanierung-ist-keine-erinnerungskultur-1.1562146, zuletzt gesichtet am 02.03.2012). Aufgrund der Baufälligkeit der Zeppelintribüne wären etwa 70-75 Mio. Euro für die Renovierung und Umwandlung notwendig; dieser Umstand ist Gegenstand der laufenden Debatte. Vgl. dazu exemplarisch den SZ-Artikel von Olaf Przybilla »Einstürzende Nazi-Bauten« vom 27.09.2011 (http:// www.sueddeutsche.de/bayern/2.220/reichsparteitagsgelaende-in-nuern berg-einstuerzende-nazi-bauten-1.1149956, zuletzt gesichtet am 02.03.
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nem Einwand ist die Aktualisierung (s)eines Vorschlags zur Einrichtung eines ›Mahn-Parks‹ auf dem Gelände verbunden, der – ganz im Sinne des von Jan-Phillip Reemtsma gebrauchten Begriffs des ›sakralen Ortes‹16 – zu »Trauer- und Stolzarbeit« anregen soll und damit die Absicht der Profanierung eigentlich widerlegt17 bzw. die Ambivalenz einer angemessenen Nutzung fortschreibt: Dass damit auch die Gefahr einer Aufwertung im Sinne einer affirmativen Praxis gegenüber den Texturen der vor Ort noch sichtbaren NS-Ästhetiken entsteht, gehört zu den Kennzeichen des Umgangs mit dem Ort und seiner wohl letztlich nicht abzuschließenden Verarbeitung. Format: Projektwochenende Zwanzig Jahre nach dem ersten internationalen Symposion mit dem Titel ›Das Erbe‹, das die Erhaltung der Nürnberger NS-Bauten als »didaktisches Material« befürwortet hatte18, wurde an einem dreitägigen Projektwochenende Anfang Juli 2008, welches das Schauspiel am Staatstheater Nürnberg gemeinsam mit dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg und vielen weiteren, lokal ansässigen Kooperationspartnern veranstaltete,19 der Frage nachgegangen, wie ein verantwortungsvoller
2012). Das in Anm. 13 zitierte Konzeptpapier ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen. 16 Für den Besuch von Erinnerungsorten, die an die Greueltaten und Opfer des NS-Regimes gemahmen sollen, empfiehlt Reemtsma eine besondere Haltung, die er dem von Volkhard Knigge benutzten Begriff des ›Läuterungsraumes‹ ableitet: »Das ist der Modus der Sakralität. Der sakrale Ort ist nicht unser Objekt, sondern wir sind seines; nicht er muss seine Existenz vor uns rechtfertigen, sondern wir unsere Lebensmodalitäten vor ihm.« (Reemtsma: »Wozu Gedenkstätten?« 2010, S. 5). 17 Glaser: »Sanierung ist keine Erinnerungskultur« 2011; vgl. auch den Beitrag Glasers in diesem Band. 18 Ebd., S. 113; zum ersten Symposion, das 1988 vom damaligen Kulturdezernenten der Stadt Nürnberg, Hermann Glaser, angeregt wurde, vgl. Dt. Werkbund (Hg.): Werk und Zeit, Nr. 3/1988, S. 3-35. 19 Für dieses Projektvorhaben schlossen sich die Stadt Nürnberg (Kulturreferat & Amt für internationale Beziehungen), das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, das Kunst- und Kulturpädagogische Zentrum der
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Umgang des Theaters mit diesem geschichtsträchtigen wie -mächtigen Schauplatz aussehen müsste und man dieses Agieren als eigenständige und -willige Strategie ästhetischer Bildung – etwa als zeitgemäße Modifikation des Schillerschen Anspruchs an die ›Schaubühne als moralische Anstalt‹ – definieren und operationalisieren könnte. Neben einer interdisziplinär ausgerichteten Tagung wurde an drei Tagen ein Versuch unternommen, durch die sehr unterschiedlichen Zugänge und Kompetenzen der beteiligten Kooperationspartner in unterschiedlichen Formaten, z.B. den Schauspielinszenierungen des Staatstheaters, einer internationalen Ko-Produktion des Jugendspielclubs, die mit Jugendlichen aus Nürnberger Partnerstädten realisiert und im Innenhof der Kongresshalle aufgeführt wurde, Führungen, Workshops, Lesungen, einer Schreibwerkstatt, einer Ausstellung in der Kunsthalle Nürnberg mit dem ›SchattenOrt‹ in eine Art von Dialog zu treten – nicht zuletzt, um die skizzierten Ambivalenzen sichtbar zu machen. Als gemeinsames Metathema dieser vielschichtigen Bemühungen diente die Frage nach Art, Inhalt und Gegenstand einer zeitgemäßen Bildungs- und Vermittlungsarbeit vor Ort: Einerseits ist die permanente und die Generationen übergreifende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als spezifisch deutscher Geschichtsinhalt nicht nur eine konstituierende Frage des nationalen Selbstverständnisses, sondern auch eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit; 20 andererseits scheinen jedoch die bestehenden Diskurse zum Topos NSHerrschaft und deren massenmedial erfolgte Ventilation zu einer gewissen Vulgarisierung und Immunisierung gegen damit intendierte moralisch-ethische Kernaussagen zu führen – das gilt gerade für die Jugendlichen, die eigentlich für dieses Thema sensibilisiert werden sollen. Das sukzessive Aussterben von Zeitzeugen, deren Erfahrungen bald nur noch als Text und/oder Bilderinnerung (und nicht als Körper-
Museen in Nürnberg, die Nürnberger Symphoniker, das Bildungszentrum der Stadt Nürnberg, Geschichte für Alle e.V. und die Kunsthalle zusammen – eine Auflistung der Institutionen und Personen, die dieses Projekt ermöglicht haben, findet man am Ende der vorliegenden Publikation im Rahmen der Danksagung. 20 Angesichts der jüngst bekannt gewordenen Verbrechen des Rechtsterrorismus (d.h. die Aktivitäten der so genannten »Zwickauer Terrorzelle«), zu denen auch drei Morde in Nürnberg zählen, ist diese Notwendigkeit aktueller denn je.
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bzw. Leiberinnerung) archivarisch verfügbar sein werden, steht einer Generation von Jugendlichen gegenüber, die sich entweder durch konditioniert scheinende Kommunikationsstrukturen der Erwachsenen abgeschreckt sehen oder durch die mediatisierte/virtuelle Eigenerfahrung (durch die bereits angesprochene telegene/visuell-virtuelle Aufbereitung des Topos, z.B. als TV-Ereignis, Kino-Komödie und/oder Computerspiel) bereits ein eigenes Vokabular generiert hat, das nicht unbedingt in die oben skizzierten Muster der Erwachsenen passen muss. Geht man davon aus, dass Jugendliche als Gegenstand von institutionellen Bildungsabsichten an etwas erinnert werden sollen, was sie selbst nicht erlebt haben, so müsste man die Diskrepanz zwischen Absicht und Methode bzw. Zweck und Mittel hinterfragen. Uns erschien es naheliegend, hierbei die konkreten Orte, d.h. die Kongresshalle und/oder andere bauliche Relikte auf dem Reichsparteitagsgelände, als Bildungsmedien zu verstehen; sind sie es doch, die »in einem pädagogischen Kontext eingesetzt [werden] und/oder mit denen ein Bildungsprozeß beabsichtigt ist.«21 Betrachtet man den Ort selbst als ›Quelle‹, als ›Text‹, als ›Sender‹, als ›Phänomen‹ etc., so wird die Sicht auf diesen Ort (und damit auch sein Nutzungsspektrum) nicht durch andere Formen und Formate verstellt, sondern macht einerseits eine eigenständige Betrachtung und kritische Würdigung jener Bemühungen nötig und stellt andererseits die Frage, was der Ort selbst überhaupt noch mitzuteilen hat. In diesem Sinne kann man dieses Projekt als Versuch eines temporären Gesamtüberblicks der lokalen Aktivitäten, die am und um den konkreten Ort als Lern-, Gedächtnis- und Erinnerungsort und dessen gegenwärtige Nutzung angesiedelt sind, verstehen. Die im Rahmen des Projektes entstandenen Suchbewegungen vor Ort nehmen demgegenüber den Ort als solchen ernst und arbeiten sich – als Vertiefung des aufgenommenen Dialogs – an ihm und seinen vielfältigen Erscheinungsweisen ab. So wurde sich zur Aufgabe gemacht, aus der Perspektive einer angewandten Theater- und Medienwissenschaft didaktisch ausgerichtete Materialien herzustellen – und damit nicht nur als Produzent von ›Papierwissen‹ zu fungieren, welches sich ohne weiteres in die oben angesprochenen Diskurse einbet-
21 Kübler, Hans-Dieter: »Bildungsmedien«, in: Grundbegriffe Medienpädagogik, Jürgen Hüther/Bernd Schorb/Christiane Brehm-Klotz (Hg.), München 1997, S. 41 (Rechtschreibung des Originals).
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ten ließe. Diesem Anliegen wurde durch eine intensive Einbettung in Lehre und Forschung Rechnung getragen. Im Rahmen studentischer Projektarbeit wurden Kurzfilme, Audioinstallationen und Konzepte zur sinnlichen, intellektuellen und/oder pädagogischen Erschließung des belasteten Areals entwickelt, was zum einen die Engführung von theater- und medienwissenschaftlicher Reflexion in konkreten Anwendungen bedeutet und zum anderen eine Möglichkeit aufzeigt, Bildungsadressaten selbst zum Produzent von Wissen werden zu lassen: Der ›SchattenOrt‹ wäre demnach als Bildungsmedium ein Lernort für die Schatten der Geschichte; die Bemühungen um die Ausstaffierung dieses Ortes mit Materialien, anhand derer und mit deren Hilfe man einen gegenwärtigen Zugang zu diesem Ort erhalten könnte, sind als Versuch der Zusammenführung von Diskurs und Praxis aus der Sicht des Zeitgenossen zu verstehen und stehen ganz im Sinne der Aufklärung – und, wenn man so will, auch in deren Lichtmetaphorik. Zu den Beiträgen in diesem Buch Die vorliegende Publikation bemüht sich in drei Abschnitten um eine strukturierte Zusammenfassung der Aktivitäten an jenem Wochenende – und ist dabei bewusst vielstimmig gehalten: Im ersten Teil werden die Inhalte und Diskussionen des interdisziplinären Symposions weitestgehend rekonstruiert. Da ein wichtiger Ausgangspunkt für dieses Projekt aus der Perspektive der (ästhetischen) Bildung formuliert wurde, markiert der Beitrag des Erlanger Erziehungswissenschaftlers Leopold Klepacki insofern eine wichtige Standortbestimmung, als er ganz auf die konkreten Topographien des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes zugeschnitten ist. Das Gelände wird in seinem ›Da-Sein‹ (als physikalische Präsenz) und seinem ›So-Sein‹ (der phänomenalen Erscheinungsweise) zu einem sinnlichen Ereignis von erratischer Monumentalität, die sich dem Subjekt zwar in seiner Wahrnehmung erschließt, die historischen Dimensionen des Wahrgenommenen jedoch zumeist von einer Subjektivität abgekoppelt bleiben. Klepacki befürwortet in diesem Zusammenhang die Stärkung einer ästhetischen Perspektive, die einen eigenständigen Beitrag zur pädagogischen Erschließung des Geländes leisten könne; im Diskurs der ästhetischen Bildung, der eine strukturell-deskriptive und nicht normative Begriffsauffassung von Ästhetik und Bildung enthält, wäre die
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Möglichkeit einer Zusammenführung von Bildungs-Subjekt und Bildungs-Objekt gleichermaßen gegeben. In der sinnlichen Wahrnehmung des Ortes stellt sich die Frage nach dessen historischer und aktueller Bedeutungshaftigkeit, die sowohl Momente einer subjektiven Befremdung als auch einer Selbstvergegenwärtigung zum Inhalt haben kann. Die Pädagogik sei hierbei aufgerufen, bei der kritischen Findung und Befragung kultureller Tradierungsprozesse bestimmte Standards, an denen sich die Erinnerung orientieren könne, herauszuarbeiten. Der hier bereits mehrfach erwähnte Kulturhistoriker Hermann Glaser ist, was das aisthetisch-ästhetische Potential des Geländes und dessen implizit wie explizit vorliegende pädagogische Wirksamkeit anbelangt, deutlich skeptischer und markiert in seinem Beitrag vielmehr die Grenzen einer topographisch ausgerichteten Aufklärung. Aus seiner Sicht erscheint eine Vergegenwärtigung von konkreten Geschichtsinhalten allein am Anblick des daniederliegenden Geländes als kaum machbar, da die durch ihre Nichtigkeit gekennzeichneten Gebäude und Anlagen an und für sich keinen besonderen Aufklärungswert besäßen. Es sei eher notwendig, den Nationalsozialismus als Prozess eines Kulturverfalls zu verstehen, der seine Vorgeschichte(n) im 19. Jahrhundert hat und sich – einem Epigramm Grillparzers folgend – über die Humanität in den Nationalismus hin zur Bestialität entwickelt habe; von diesen mentalen Vorprägungen sei aber in den baulichen Überresten nichts zu erkennen. Daher sei eine stärkere Fixierung auf die konkrete Topographie eher kontraproduktiv, da sich Zeitabläufe nicht dinglich fixieren ließen – das subjektive Verstehen von Geschichte müsse immer wieder geistig und seelisch prozessual, in stetem Diskurs erarbeitet werden. Ein Instrument für die Genese dieses immer neu zu fassenden Diskurses ist das Theater, wie der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx in seinem Essay formuliert, da es sich als Kunstform permanent mit Vergangenheit und ihrem ›Wiedererzählen‹ auseinandersetzt und als Denkmodell, in dem sich unsere Vorstellungen von Raum und Zeit prismatisch brechen, figuriert. Damit rückt Marx den Blick nolens volens auf die Aktivitäten des Staatstheaters Nürnberg, auch wenn er keinen direkten Bezug auf die vor Ort erfolgten Inszenierungen nimmt, sondern nur allgemein für die Praxis des Theaters folgert, dass es zwischen der Bilderflut der audiovisuellen Medien und der didaktischen Aufarbeitung der NS-Zeit einen Platz für sich und – viel wichtiger –
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sein Publikum finden müsse, ohne dabei in die Leere erstarrter Rituale von Gedächtnis und Erinnerung zu fallen. Wenn man will, kann man die (kanonische) Darstellung des Reichsparteitagsgeländes in Schulgeschichtsbüchern, mit der sich der Historiker und Bildungsforscher Falk Pingel in seinem Beitrag auseinandersetzt, als Ritual einer didaktischen Vergegenwärtigung für konkrete Unterrichtszwecke verstehen. Pingel unternimmt anhand einer exemplarischen Analyse deutscher Geschichtsbücher, die durch einen Blick in französische und englische Schulbücher zusätzlich profiliert wird, eine Reise durch verschiedene Phasen der Geschichtsdidaktik, die, was das Bildreservoir zu diesem Thema anbelangt, das sich in den 1960er und 1970er Jahren herausgebildet hat und wenig Varianz zeigt, beständig zwischen Inhalten eines Erinnerungsgebots und innovativen Re-Kontextualisierungen historiographischer Fragestellungen mäandert. Interessanterweise speist sich das Bildangebot, aus dem sich die Abbildungen in den Schulbücher zusammensetzen, zumeist aus offiziellen NS-Propagandabildern, was aber viel zu wenig Beachtung findet. Im Erschließen anderer (Bild-)Quellen und einem aktuellen Blick auf die ruinösen Hinterlassenschaften könnten vielleicht noch nicht genutzte, didaktische Möglichkeiten liegen. Dementsprechend kann man den abschließenden Beitrag des Kunsthistorikers und Architekturtheoretikers Christoph Asendorf, der sich der Monumentalität und Macht in der Moderne widmet, als Plädoyer für einen weiter gefassten Blick lesen, der Vergleiche bis in die Gegenwart zulässt und den ›SchattenOrt‹, das Reichsparteitagsgelände, zum einen in die Tradition einer Selbstrepräsentation eines jeden Regimes einordnet und zum anderen die vielschichtigen und z.T. unvereinbaren Auffassungen von Monumentalität, die sich architektonisch gefasst sehen, skizziert. Diese Widersprüche zeigen sich konkret vor Ort im Verlust einer ursprünglichen kommunikativen Qualität; demnach sind nicht die Bauten selbst das Monströse, sondern der Anspruch, durch architektonische Funktionsmaschinen beliebig viele Menschen auf ein Ziel hin auszurichten. Letztlich seien auch zeitgenössischen Bauten dem Problem der Monumentalität ausgesetzt, das in höherem Maße als üblicherweise zugestanden das gesamte 20. Jahrhundert durchzieht. Im zweiten Teil widmet sich dieses Buch den im Rahmen des Projektwochenendes stattgefundenen Aktivitäten, die keineswegs ›nur‹ als
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Rahmenprogramm figurierten, sondern sich mit sehr unterschiedlicher Motivation, mit ausdifferenzierten Kompetenzen und damit unmittelbar verbundenen Strategien des In-Szene-Setzens an einer Bestandsaufnahme des ›SchattenOrts‹ als ästhetisches Gegenüber versuchten. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive unternimmt André Studt zunächst eine Differenzierung von unterschiedlichen Strategien, wie sich Theater generell auf einen Ort als ›location‹ einlassen kann, die nicht vordringlich als Stätte von Kunst-Theater-Aufführungen konzipiert ist. Dabei wird die ›Strategie des Reenactments‹, unter der man sich eine historisch korrekte Nachstellung vergangener gesellschaftlich relevanter Ereignisse vorzustellen hat, angesichts der spezifischen Texturen des Reichsparteitagsgeländes als ›Ort der Massen‹ verworfen. Studt konzentriert sich vielmehr auf eine Unterscheidung von ›theatre on location‹ und ›locational theatre‹, weil man diesen Formen eine Betonung des kulturellen sowie des kommunikativen Gedächtnisses zuschreiben könne. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich das Schauspiel am Staatstheater Nürnberg als Mittler zwischen diesen beiden Gedächtnisformen in seinen am Ort entstandenen Aufführungen gezeigt hat. Der Historiker und Museumspädagoge Ingmar Reither schildert in seinem Statement – in Zusammenarbeit mit den Dramaturgen des Staatstheaters Nürnberg, Kathrin Mädler und Frank Behnke – eine literarische Annäherung an das Reichsparteitagsgelände; neben Textauszügen, die Gegenstand einer Lesung waren, werden die Ergebnisse einer sich daran anschließenden Schreibwerkstatt präsentiert, in denen die Teilnehmer ihre konkret erfolgten Begegnungen mit dem ›SchattenOrt‹ literarisch zu fassen versuchten. Es zeigte sich, dass die Kombination einer Textanalyse und kreativen Schreibens durchaus ungewohnte Zugänge – gerade auch für ein jugendliches Besucherpublikum – zur NS-Geschichte ergeben könnten. Im aktiven Theaterspiel wird dieses Potential konkret: Auch der Jugendspielclub des Staatstheaters Nürnberg war von dem Umzug betroffen und richtete seine Arbeit an den neuen Gegebenheiten aus. So entstand ein internationales Projekt von Jugendlichen aus Nürnberg und seinen Partnerstädten Krakau (Polen) und Brasov (Rumänien), das im Rahmen des Projektwochenendes im Innenhof der Kongresshalle uraufgeführt wurde und sich inhaltlich durch Zeitzeugenberichte bzw. einem tatsächlich geführten Dialog mit Zeitzeugen gestaltet sah. So ist der Beitrag von André Studt, der in Zusammenarbeit mit den Nürnber-
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ger Theaterpädagoginnen Anja Sparberg und Christine Haas entstanden ist, zum einen als Rekonstruktion des stattgefundenen Arbeitsprozesses zu verstehen und lenkt andererseits den Blick auf die Herausforderungen und Probleme, die mit der Strategie einer ›Oral History‹, auf deren Basis man einen Zugang zur Thematik erschlossen hatte, verbunden sind. Neben den Aktivitäten des Staatstheaters Nürnberg vor Ort sahen sich auch andere Kulturinstitutionen der Stadt Nürnberg in das Projektvorhaben integriert: Die Kunsthalle Nürnberg veranstaltete parallel eine Ausstellung, die sich unter dem Titel Das Gelände mit Perspektiven der bildenden Kunst auf das Reichsparteitagsgelände beschäftigte. In ihrem Beitrag untersucht die Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin Jana Stolzenberger die Schau hinsichtlich der dort sichtbar gewordenen künstlerischen Positionen und der damit verbundenen Maßgabe einer (vielleicht) besonderen Vermittlungsarbeit, die nicht nur vom ausgestellten Kunstwerk ausgehen kann, sondern die historischen Kontexte immer mitliefern muss. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass sich die gegenwärtige Kunstvermittlung hierbei selbstreflexiv vor dem Hintergrund der 1937 erfolgten Ausstellung Entartete Kunst abspielen sollte, die – wenn man so will – Ausdruck einer negativen Kunstpädagogik war. Der Historiker Eckart Dietzfelbinger, der am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände tätig ist, skizziert abschließend die Spuren, die das Reichsparteitagsgelände im Film hinterlassen hat. Neben dem historischen Material zu den Reichsparteitagen, Ausschnitten aus Wochenschauberichten, Werbefilmen und anderen Propagandamaterialien der NS-Zeit, die archivarisch zugänglich sind, setzte ab 1960 eine filmische Auseinandersetzung mit dem Areal ein, die bis 2005 zu mehr als 15 deutschsprachigen Dokumentarfilmen geführt hat. Dietzfelbingers Beitrag stellt die sehenswertesten Werke vor und plädiert für eine stärkere Berücksichtigung des Filmes als attraktives Medium für eine Vermittlung des Themas in der notwendigen Bildungsarbeit. So gesehen markiert der dritte Teil eine Fortsetzung dieses Gedankens; in ihm sind die Ergebnisse der medienpädagogisch angelegten Arbeiten, die im Rahmen der angewandten Theater- und Medienwissenschaft in unterschiedlichen Formaten von Studierenden erarbeitet wurden, zusammengestellt und mit einem Kommentar versehen, den man als didaktisches Angebot zur Arbeit mit den in der dieser Publika-
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tion beiliegenden Daten-DVD zusammengestellten Text-, Bild- und Tonmaterialien verstehen darf. So wurden vier Kurzfilme erarbeitet, die das Reichsparteitagsgelände mit sehr unterschiedlichen Bildsprachen visualisieren und dabei Fragen zu einem als angemessen empfundenen Umgang mit dem ›SchattenOrt‹ formulieren. In einer ›Mockumentary‹, d.h. einer vorgetäuschten Dokumentation, wird behauptet, man könne die Steintribüne Stein für Stein abtragen; in einer Gegenüberstellung von Off-Text, der Auszüge aus den Leitlinien zum Umgang mit dem Gelände wiedergibt, und kontrastiven Bildern, kann der Betrachter sich selbst ein Bild des status quo machen; ein in Anlehnung an die Imagekampagne ›Du bist Deutschland‹ entstandener Werbespot übersetzt Eigenheiten des Geländes in die Sprache von Marketing und PR – und zu Klängen eines Bach-Chorals werden die beabsichtigten Ausmaße der Bauten den abgefilmten Ruinen graphisch hinzugefügt. Diese selbst hergestellten Bilder sind als Ergebnis einer Annäherung derjenigen zu verstehen, an die sich ggf. die Vermittlungsangebote richten und zeugen somit nicht nur von einer Sensibilität im Umgang mit dem historisch kontaminierten Gegenüber, sondern sind gleichermaßen Ausdruck eines Wissens, das in sprechenden Bildern zum Ausdruck kommt, was man didaktisch in einen pädagogischen Dialog einflechten könnte. Darüberhinaus dokumentierten die Studenten das Projektwochenende und die dort sichtbar gewordenen Aktivitäten; in einem Zusammenschnitt entsteht ein audiovisueller Eindruck davon, was hier als Verschriftlichung des Gesamtvorhabens vorgelegt wird. Zudem wird die geleistete theaterpädagogische Arbeit, d.h. das Zeitzeugenprojekt des Jugendspielclubs durch eine Reihe von Statements von Beteiligten vertiefend dargestellt. Eine andere Video/Bild-Datei zeigt als Füllmaterial zur Dokumentation des Wochenendes aufgenommenes Material. Uns erschien, da die Aufnahmen aisthetisch/ästhetisch von einer Faszination des (Bild-)Mächtigen und Beeindruckenden der Architektur geprägt sind, gerade die Frage nach der Bewusstheit einer latenten Anwesenheit der NS-Propaganda diskutabel. Zum anderen erarbeitete eine studentische Arbeitsgruppe auf akustischer Ebene eine Soundcollage, in der 75 Jahre Reichsparteitagsgelände in Spuren aufzufinden sind. Die Parteitage wurden auf dem Gelände, das eigentlich ein Naherholungsgebiet und Freizeitareal der Nürnberger war (und ist), nur zwischen 1933 und 1938 dort abgehalten, so dass das Hörbare auch von dieser Nutzung durchzogen ist, was
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zu einem irritierenden Eindruck führen kann. Im Gegensatz zu Text und Bild, die direkter zeigen, erzählen und schon immer eine Form einer (überindividuellen) Interpretation mitliefern, besteht bei der eher auf einen (individuellen/subjektiven) Höreindruck setzenden Arbeit mit Tönen die Möglichkeit, assoziativ, offen und relativ ungeprägt auf den Gegenstand zu reagieren. Auch dies könnte man sich didaktisch zu Nutze machen. Abgerundet werden die zusammengestellten Materialien durch eine schematische Darstellung und Dokumentation des Projektwochenendes, dem Pressespiegel zu dieser Veranstaltung sowie Materialien der Stadt Nürnberg zum Umgang mit dem Gelände. Da viele Personen an diesem Projekt beteiligt waren, haben wir uns um eine Zusammenstellung der Namen bemüht, die am Ende dieses Buches – quasi als Abspann – aufzufinden ist. Ohne die begeisterte (An-)Teilnahme der genannten (und der versehentlich ungenannten) Menschen wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Ausblick Zeitgleich zum Projektwochenende Anfang Juli 2008 wurde – wie man einer intensiven Presseberichtserstattung entnehmen konnte – in Berlin dem damals frisch im Führerbunkerambiente aufgestellten Wachs-Hitler in Madame Tussauds Kabinett der Kopf abgeschlagen. Ob es schicklich sei, eine Hitler-Wachsfigur in unmittelbarer Nähe des Holocaustmahnmals aufzustellen, wurde in diesem Zusammenhang gefragt; ob man ihr den Kopf abschlagen dürfe (was übrigens zur Folge hatte, dass der geflickte Wachs-Hitler seitdem streng bewacht wird), fragte man nicht. Dass diese Aktion damals weitaus mehr Aufsehen erregte als eine Veranstaltung mit einem sperrigen Titel, spricht für sich und nicht gegen unser Projekt, beabsichtigte dieses doch mehr als einen kurzzeitigen Effekt: Die Zusammenstellung der ortsspezifischen Aktivitäten im Rahmen einer Publikation, die sich an einer umfassenden Bestandsaufnahme der an diesem Wochenende sichtbar gewordenen und diskutierten Perspektiven versucht, wird von einem pädagogischen Impuls des ›Denkmalschutzes‹ als ›Denk-mal-Pflege‹ motiviert. In diesem Sinne begreifen wir die Darstellung des Projekts – bzw. die von uns ausgewählten und erarbeiteten Bestandteile – als Anregung für ein aktualisiertes Nachdenken über Bildungsabsichten und deren didaktische Umsetzung, die sich dem Thema Nationalsozialis-
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mus und seinem Erbe widmen. Zwar beschließt diese Publikation unsere Arbeit, generell ist die Arbeit an diesem Thema jedoch nicht abschließbar; so muss jedes Ende ein vorläufiges bleiben. So ist zu hoffen, dass sich mit diesem Buch weiterarbeiten lässt.
Nürnberg im August 2012
André Studt + Claudia Schweneker
Erster Teil – Wissenschaftliche Perspektiven auf den ›SchattenOrt‹
Das ehemalige Reichsparteitagsgelände: Die Ästhetik der Erscheinung und die Moral der Geschichte Über die bildungstheoretische Relevanz subjektiver sinnlicher Wahrnehmungen und kollektiver Gedächtnisformen
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1.
Ästhetik und Moral – Gegenwart und Vergangenheit
Dass Nürnberg in einer herausgehobenen Art und Weise damit beschäftigt ist, seine Rolle zu Zeiten des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, bedarf mutmaßlich keiner ausführlichen Erläuterung. Die Tatsache, dass Nürnberg aufgrund seiner historisch untrennbaren Verbindung zum Nationalsozialismus heute als ›Stadt des Friedens und der Menschenrechte‹ positive Zeichen setzt, ist ein bedeutsamer Ausdruck dieses Bewusstseins. Nürnberg sieht sich in einem besonderen Maße moralisch verpflichtet. Das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände sowie das neue Memorium Nürnberger Prozesse sind dabei nur die bekanntesten institutionellen Ergebnisse. Betrachtet man das Verhältnis der Stadt und seiner Bürger zu den sicht- und erfahrbaren Relikten des Nationalsozialismus jedoch näher, dann eröffnet sich zugleich auch eine tief verwurzelte Unsicherheit in Bezug darauf, wie man mit diesen Orten und Bauten umgehen kann bzw. umgehen soll. Einerseits ist es heute offensichtlich, dass das problematische historische Erbe allzu mächtig ist, um es einfach beiseite zu schieben, andererseits gab es dennoch in vielerlei Hinsicht
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immer wieder Versuche bzw. Pläne, sich der Bauten zu entledigen (beispielsweise sie zu sprengen) oder sie zu pragmatisieren: So findet rund um die sogenannte »Steintribüne« des Reichsparteitagsgeländes traditionell jedes Jahr ein Tourenwagenrennen statt, in der Kongresshalle sind u.a. die Nürnberger Symphoniker beheimatet und der große Platz vor der Kongresshalle beherbergt zweimal jährlich das Nürnberger Volksfest.1 Natürlich ist aus heutiger Perspektive die historische und gesellschaftliche Relevanz der Gebäude und Plätze nicht zu bestreiten. Doch sind die Objekte im Alltagsleben der Stadt eben nicht nur als historische Mahnmale präsent, sondern sie sind vielmehr ganz grundsätzlich als Gebäude und Orte im Stadtbild anwesend. Sie treten den Menschen jeden Tag in Erscheinung – ob man möchte oder nicht. Ihrer visuellen Präsenz kann man sich nur schwer entziehen und zwar selbst dann nicht, wenn man sie nicht bewusst wahrnehmen möchte und v.a. auch dann nicht, wenn man kein Wissen bzw. kein kritisches Bewusstsein über sie besitzt. Zum völligen Ignorieren sind die Reste und Ruinen, insbesondere die Kongresshalle, die sogenannte »Große Straße« und das Zeppelinfeld schlicht zu groß – auch wenn dies längere Zeit versucht wurde. »Über siebzig Jahre nach dem Baubeginn des Reichsparteitagsgeländes ist das Gebiet rund um den Dutzendteich noch immer von den Planungen aus nationalsozialistischer Zeit geprägt. Obwohl Neubauten, Verkehrsplanungen und eine intensive Freizeitnutzung das nie vollendete Aufmarschareal stark verändert haben, findet man kaum an einem anderen Ort in Deutschland so große und historisch bedeutende Zeugnisse nationalsozialistischer Architektur.«2
Genau das scheint aber auch der Kern einer ganz besonderen doppelten Umgangsweise mit diesen Orten zu sein. Ihr ›Da-Sein‹, also ihre physikalische Existenz, und ihr ›So-Sein‹, d.h. ihre phänomenale Erscheinungsweise, machen sie einerseits zu sinnlichen Ereignissen und andererseits in ihrer erratischen Monumentalität zu Narrativen der Geschichte. Es scheint also so zu sein, dass den nationalsozialistischen
1
Vgl. Schmidt, Alexander: Geländebegehung. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Mit Beiträgen von Bernd Windsheimer, Clemens Wachter und Thomas Heyden, Nürnberg 42005.
2
Ebd., S. 7.
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Relikten in dieser Betrachtungsweise zwei Wirkungs- bzw. zwei Sinnebenen zu eigen sind: eine visuell-sinnliche, die sich vor dem Hintergrund der physikalischen Realität der Objekte und Plätze generiert und eine immateriell-geistige, die aus der Historizität der Orte und Bauten resultiert. Die erste Sinn- und Wirkungsebene bezieht sich dabei strukturell auf die Gegenwart der Gebäude und Räume, die zweite auf deren Vergangenheit. Dabei ist das, was in rein sinnenbezogener Hinsicht in Erscheinung tritt, etwas prinzipiell wertneutrales, das erst in der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters eine individuelle Bedeutung erlangt. Die historische Dimension ist dagegen tendenziell vom einzelnen Subjekt abgekoppelt. Sie bezieht sich auf gesellschaftlich tradierte und damit kollektivierte Wissens- und Bewusstseinsinhalte und zwar in der Art, dass die Relikte als je präsente Stellvertreter des Größenwahns sowie der Greueltaten des Nationalsozialismus fungieren. Die Gegenwärtigkeit der Bauten und Orte als eine konkret erscheinungshafte wäre somit eine im Kern ästhetisch zu erfassende, die historischen Zuschreibungen an sie sind dagegen jedoch grundsätzlich moralisch konstituiert. Diese doppelte Daseinsform der Objekte führt nun aus einer pädagogischen Perspektive dazu, dass es strukturell zwei bildungstheoretische Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Reichsparteitagsgelände gibt: eine auf die gegenwärtige konkrete Erscheinung fokussierte ästhetische und eine auf die geistig-immaterielle historische 3 Implikation des Erscheinenden gerichtete moralische. Die pädagogische Behandlung des geistig-immateriellen Erbes des Reichsparteitagsgeländes, also das Bewahren von moralischer Erinnerung und die historische Mahnung, dürfte dabei zunächst einmal diejenige sein, die
3
Nicht explizit behandelt wird hier die dritte mögliche Form einer Auseinandersetzung mit dem Reichsparteitagsgelände, nämlich die auf reine (wissenschaftliche) Erkenntnis ausgerichtete theoretische Perspektive. Sie bezieht sich auf die Generierung objektiven historischen, geographischen, städtebaulichen, architektonischen usw. Wissens über das Reichsparteitagsgelände. Da dieses Wissen jedoch die grundsätzliche Basis einer reflektierten moralischen Auseinandersetzung darstellt, wird das existierende gesicherte Wissen über das Reichsparteitagsgelände vorausgesetzt und mitgedacht, d.h., eine moralische Auseinandersetzung ist ohne eine fundierte (individuelle und kollektive) Wissensbasis nicht sinnvoll zu denken.
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weiter verbreitet und wohl naheliegender ist und die im Vergleich zur ästhetischen Perspektive die auf den ersten Blick vielleicht sogar auch angemessenere zu sein scheint. Ich möchte im weiteren Verlauf der Betrachtungen jedoch darauf hinweisen, dass die ästhetische Perspektive einen eigenständigen Beitrag zur pädagogischen Aufarbeitung des Reichsparteitagsgeländes und damit des nationalsozialistischen Erbes leisten kann, insofern als die sinnliche Auseinandersetzung mit dem konkret Erscheinenden einen Schlüssel zur historischen Behandlung darstellen kann, als die Bauten und Anlagen immer auch über ihre spezifische Erscheinungshaftigkeit zu verstehen sind und damit darüber, wie sie sinnenbezogen wirksam werden. Im Folgenden sollen deshalb die beiden hier angeführten Foki strukturell zueinander in Bezug gesetzt werden, mit dem Ziel, die bildungstheoretischen Potentiale der ästhetischen Perspektive herauszuarbeiten. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich ästhetische Bildungsprozesse ausschließlich als subjektive sinnliche Ereignisse in einer je gegenwärtigen Wahrnehmungssituation einstellen können und dass moralische Bildungsprozesse tendenziell auf einem kollektiven und individuellen historischen Wissen über die Vergangenheit aufbauen und damit Gedächtnis und Erinnerungsformen benötigen. Das Verhältnis von ästhetischer und moralischer Bildung im Hinblick auf das Reichsparteitagsgelände bzw. genauer gesagt anhand des Reichsparteitagsgeländes lässt sich also nur beschreiben, wenn man folgende Strukturdimensionen beleuchtet: 1. Das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit des Reichspar-
teitagsgeländes. 2. Das Verhältnis von aktueller Erscheinung und kollektiviertem Ge-
dächtnis. 3. Das Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung und kollektivierter Erinnerung. Exkurs I: Ein Begriff von ästhetischer Bildung Wird vor diesem Hintergrund nun im weiteren Verlauf von ästhetischer Bildung gesprochen, dann grundsätzlich derart, dass hier ein strukturell-deskriptiver, kein normativer Begriff – weder von Ästhetik noch von Bildung – verwendet wird. Es soll also nicht darum gehen, darzustellen, wie ästhetische Bildungsprozesse in einem pädagogisch wünschenswerten Sinn ablaufen sollten, noch sollen Konzepte aufge-
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zeigt werden, wie solche Prozesse methodisch initiiert oder angeleitet werden könnten, vielmehr ist es das ausschließliche Ziel, theoretische Möglichkeiten ästhetischer Bildung aufzufinden. Somit wäre ästhetische Bildung in einem offenen Sinn zunächst einmal ganz grundsätzlich zu verstehen als eine spezifische Form der Bildung neben anderen. Im Hinblick auf die europäisch-abendländische, oder noch eingegrenzter auf die deutschsprachige Vorstellung von Bildung, wäre sodann von theoretischer, praktischer und ästhetischer Bildung zu sprechen.4 Theoretische Bildung bezieht sich vor diesem Hintergrund im Kern auf Erkenntnis, also auf Wissen im engeren Sinn, praktische Bildung auf Dimensionen des Handelns, also des Könnens, und ästhetische Bildung auf Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung und Gestaltung von Selbst und Welt in einer entpragmatisierten Art und Weise. »Während die theoretische Bildung auf die wissenschaftliche Betrachtung, definitorische Gliederung bzw. Klassifizierung und gesetzmäßige Erfassung der Dinge und ihrer Zusammenhänge abzielt, richtet sich die praktisch-moralische Bildung auf die Zwecke und Mittel menschlichen Handelns, auf die moralische Betrachtung von Regeln, Institutionen und Werken.«5
Die Idee praktischer Bildung weist aufgrund der konstitutiven Verbindung von individueller Durchführung und sozialer Erwartung bzw. Anerkennung einer konkreten menschlichen Handlung in actu zwei Implikationen auf, die für die hier anzustellenden Überlegungen jedoch näher auszudifferenzieren sind: Praktische Bildung meint eben nicht nur das Handeln-Können, sondern zielt auch auf normative Aspekte des Handeln-Sollens ab. Aus diesem Grund würde ich an dieser Stelle auch dafür plädieren, das Prinzip praktischer Bildung in diese beiden Dimensionen aufzuteilen, nämlich in praktische Bildung im engeren Sinne des Beherrschens von Handlungsweisen, also des Erwerbs eines praktischen, tendenziell körperlichen Handlungswissens
4
Vgl. Koch, Lutz/Marotzki, Winfried/Peukert, Helmut (Hg.): Pädagogik
5
Bilstein, Johannes/Zirfas, Jörg: »Bildung und Ästhetik«, in: Geschichte der
und Ästhetik, Weinheim 1994. Ästhetischen Bildung, Bd. 1, Antike und Mittelalter, Jörg Zirfas/Leopold Klepacki/Johannes Bilstein/Eckart Liebau (Hg.), Paderborn 2009, S. 7-26, hier S. 14f.
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und in moralische Bildung als Prinzip der subjektiven, tendenziell geistigen Verinnerlichung objektiv-kollektiver Normen, Einstellungen, Konventionen, Prinzipien und Werte. Ästhetische Bildung wiederum könnte vor dem Hintergrund des oben eröffneten Bedeutungshorizontes dreifach bestimmt werden: •
•
•
Erstens kann ästhetische Bildung in einem weiten Sinn als besondere Form der tätigen Verbindung von Wahrnehmung, Erfahrung, Reflexion, Imagination und Begriffsbildung aufgefasst werden, also als Resultat eines spezifischen Weltzugangs des Menschen, bei dem es um das sinnliche Erfassen der Erscheinungen der Welt sowie um die gestaltende Tätigkeit an der Welt jenseits von ZweckMittel-Relationen geht. Zweitens als Prozess des Erlernens kultureller symbolischer Zeichensysteme. Dies meint einerseits erstens eine ästhetische Alphabetisierung im Sinne des Erwerbs einer ästhetischen Lesefähigkeit sowie zweitens die Übung der subjektiven ästhetischen Urteilsfähigkeit und andererseits eine Ausdifferenzierung kreativer Denkund Handlungsprozesse. Drittens schließlich in einem weiten Sinn als Geschmacksbildung. Hier geht es um das Erlernen des Umgangs mit sozial-ästhetischen Distinktionsformen der Wahrnehmung, des Urteilens und des Handelns. Kurz: Es geht um die ästhetischen Komponenten der Lebensgestaltung, wie Kleidung, Sprache, Essen, Wohnen usw.
In allen Fällen bezieht sich dabei der Begriff der Bildung auf die Erfahrung und die Thematisierung des Menschen in seinen Selbst- und Weltverhältnissen.6 Bildung konstituiert sich sodann in den Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen des Menschen, der sich an den Dingen außerhalb seiner Selbst bildet, indem er sich zu ihnen wahrnehmend und handelnd in Bezug setzt. Bildung ist deshalb ein fortwährender, aktiver Prozess, der an keinem bestimmten Punkt endet. Bildungsresultate sind daher immer nur vorläufig und nie komplett. Zu verstehen ist Bildung offenbar immer nur dann, wenn man sowohl die Menschen, die sich bilden, als auch die Dinge anhand derer sich Menschen
6
Vgl. Benner, Dietrich/Brüggen, Friedhelm: »Bildsamkeit/Bildung«, in: Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hg.), Weinheim/Basel 2004, S. 174-215, hier S. 174ff.
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bilden als auch die Resultate, die diese Prozesse bewirken, in den Blick nimmt. Somit lassen sich also mit dem Blick auf die breite Tradition der deutschen Bildungstheorie sechs Bedeutungsgruppen von Bildung identifizieren: •
• •
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•
•
Erstens werden unter dem Begriff der formalen Bildung spezifische Qualifikationen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Eigenschaften zusammengefasst. Zweitens bezieht sich die Dimension der materialen Bildung auf i.d.R. kanonisierte Wissensbestände, also spezifische Inhalte. Drittens äußert sich die konstitutive Dialektik von Ich und Welt, von Subjekt und Inhalt im Begriff der ›Kategorialen Bildung‹,7 der darauf hinweist, dass Bildung ein Ereignis ist, das sich einstellt, wenn der Mensch mit der Welt in einer bestimmten tätigen und wahrnehmenden Art und Weise zusammentrifft. Viertens bezieht sich Bildung in einem biographischen Sinn auf einen lebenslangen, lebensgeschichtlichen und unabschließbaren Prozess. Bildung ist damit auch kein Besitz in einem engen Sinn, sondern etwas sich permanent Veränderndes, was einem Menschen zu eigen ist. Fünftens verweist Bildung immer auch auf eine gesellschaftliche Dimension. Die Gemeinschaft der sich bildenden Subjekte soll nicht nur an der eigenen Vervollkommnung arbeiten, sondern durch die Selbstvervollkommnung auch das humane Zusammenleben kultivieren. Sechstens schließlich steht das Prinzip der Bildung darüber hinaus immer auch für ein gesellschaftlich gewachsenes Distinktionsprinzip, das die Inhaber legitimierter hochkultureller Bildung sozial exponiert.
Insgesamt kann also gesagt werden, dass sich das, was man in einer allgemeinen Art und Weise Bildung nennen kann, als Prozess der Wahrnehmung, Handlung und Reflexion vor dem Hintergrund der subjektiven Verknüpfung von Individuum und Welt ereignet.
7
Vgl. Klafki, Wolfgang: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 1959.
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Nimmt man an dieser Stelle nun wieder Bezug auf die situativen Möglichkeiten und die strukturellen Eigenheiten ästhetischer Bildung anhand des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes, dann scheint sich auf Basis der oben angestellten Ausdifferenzierung des Bildungsbegriffes folgende, zu den drei bereits ausformulierten quer liegende Fragestellung aufzuwerfen: Welche Bildungsprozesse ereignen sich, wenn individuelle ästhetische Wahrnehmungsformen des Reichsparteitagsgeländes und kollektive moralische Wissensformen über das Reichsparteitagsgelände in einem Subjekt zusammenfallen? Wenn moralische und ästhetische Dimensionen menschlicher Existenz tatsächlich unterschiedliche Weltzugangsweisen darstellen, dann werden sich mutmaßlich vor dem Hintergrund individuell-gegenwartsbezogener sinnlicher Wahrnehmungen und kollektiv-tradierter moralischer Wissensbestände spannungsgeladene Selbst- und Weltwahrnehmungen ergeben, die mutmaßlich dazu führen, dass sich der einzelne Mensch in qualitativ besonderen Selbst- und Weltbezügen erfährt, die ihn befremden und ihn in einer differenzerzeugenden Art und Weise sich selbst und der Welt gegenüber erfahrbar machen. Welches bildungstheoretische Potential sich aus derartigen, hier als nicht deckungsgleich angenommenen Weltzugängen ergibt, soll nun im Folgenden gegenstandbezogen erörtert werden. 2. Das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit des Reichsparteitagsgeländes Es ist hier nicht der Platz, um ausführlich die Entstehungsgeschichte, die Hintergründe und die Intention des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg sowie die Bauten im einzelnen darzustellen und zu analysieren. Dies ist für die anzustellenden Betrachtungen auch nicht nötig. Vielmehr ist es wichtig, die Historie des öffentlichen Umgangs mit dem Ort der Reichsparteitage der NSDAP zu umreißen, da sich in der historischen Entwicklung der Wahrnehmung und Behandlung dieses Areals viel über historische Kollektivierungsprozesse erkennen lässt. Ein wichtiger Einflussfaktor ist hierbei die Darstellung des Geländes in wissenschaftlichen Texten: »Im Rahmen des NS-Bauprogramms stellte das Reichsparteitagsgelände das Renommierprojekt der Parteiarchitektur schlechthin dar, das in seinen Dimensionen auch für andere zukünftige Staatsbauten richtungsweisend sein sollte.
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[…] Entgegen allen beteuerten Absichten zielte die Botschaft dieser Architektur also primär auf Überhöhung und Verklärung des Nationalsozialismus und auf Ästhetisierung seiner Macht und Herrschaft in megalomanen Dimensionen, und das möglichst für die Ewigkeit. […] Die so großmächtig erscheinenden Parteitagsbauten in Nürnberg sind Blendwerke in jeder Hinsicht: im ideologischen, im architektonischen und im bautechnischen Sinne. In ihrer baulichen Substanz bestehen sie nämlich aus Millionen von Backsteinen. Der Eindruck der Unverwüstlichkeit wurde nur durch die Verkleidung erzielt.«8
Darstellungen wie die hier zitierte repräsentieren einen zentralen Fokus der historisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, wie sie z.B. auch in Schulbüchern zu finden ist. Weniger Verbreitung hingegen findet die Behandlung der Historie seit dem Ende des nationalsozialistischen Regimes. Dementsprechend, so die These an dieser Stelle, geht die Geschichte des Reichsparteitagsgeländes seit 1945 auch weniger in kollektive Wissensbestände über. Dennoch, und das ist das ausschlaggebende Moment, endete der Umgang mit dem Areal ja nicht 1945. Vieles ist seitdem mit dem Gelände geschehen. Seine heutige ästhetische Erscheinungsform ist dementsprechend das Resultat seiner gesamten Geschichte, nicht nur seiner ideologischen Begründungs- und Entstehungszeit. Was sich seit 1945 mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ereignet hat, umschreiben Dietzfelbinger und Liedtke im Inhaltsverzeichnis ihres Werkes Nürnberg – Ort der Massen mit den Begriffen »Pragmatische Nutzungen«, »Verdrängungen«, »Visionen«, »Wege 9 und Lösungen«. Bereits diese Begriffe zeigen sehr deutlich, dass der Umgang mit dem Gelände als einem schwierigen Erbe nicht von Anfang an und v.a. nicht ausschließlich durch Aufarbeitung und mahnende Erinnerung geprägt war. Vielmehr war es so, dass in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg große Flächen des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes für den Wohnungsbau erschlossen wurden (z.B. das ehemalige Märzfeld), andere Bereiche (z.B. rund um den Dutzendteich) wurden wieder für Freizeitzwecke nutzbar gemacht, andere Teile wurden ganz oder teilweise gesprengt usw.. Das größte erhaltene
8
Dietzfelbinger, Eckart/Liedtke, Gerhard: Nürnberg – Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände. Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004, S. 35f.
9
Vgl. ebd.
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Bauwerk, die Kongresshalle, wurde direkt nach dem Krieg zu einem ›Ausstellungsrundbau‹ deklariert und auch so genutzt, später gab es diverse Pläne, das Gebäude in ein Fußballstadion, ein Autokino oder ein Erlebnis- und Einkaufszentrum umzubauen. Letztlich wurde die Halle lange Zeit als Lagerraum an diverse Firmen vermietet und einer großen Vielfalt an alltäglichen Zweckbestimmungen zugeführt: »Garten- und Tiefbauamt der Stadt Nürnberg haben hier ebenso ihre Bleibe gefunden, wie das Theaterbetriebsamt und das Amt für Katastrophenschutz. Neben einer Reihe kleinerer Firmen haben hier außerdem noch der Polizei- und der Feuerwehr-Sender ihr Domizil.«10
Dass ein Innenhof als Freilichtbühne genutzt wird und die Nürnberger Symphoniker ihren Standort in der Kongresshalle haben, wurde eingangs bereits erwähnt; ebenso der Umstand, dass der große Platz vor der Kongresshalle jedes Jahr das Nürnberger Volksfest beherbergt und dass rund um die sogenannte »Steintribüne« alljährlich ein großes Autorennen stattfindet. Die pragmatische Nutzung des Geländes ist jedoch nur ein Aspekt, der in den letzten 60 Jahren seine Spuren auf dem Areal hinterlassen hat. Der zweite prägende Faktor ist das Bemühen um Dokumentation, Gedenken und Mahnung. Dass das gesamte Gelände einerseits einem stetigen Nutzungs- und gleichzeitig auch einem substanziellen Zerfallsprozess unterworfen ist, wird deutlich dadurch gebrochen, dass das Dokumentationszentrum oder auch die frühere Ausstellung Faszination und Gewalt im Mittelbau der Steintribüne die Geschichte des Geländes dokumentieren, kritisch aufarbeiten, problematisieren, der Nachwelt präsentieren und somit den historischen Zeichencharakter des Reichsparteitagsgeländes in den Vordergrund stellen. Beide Prozesse, sowohl die Pragmatisierung als auch die (Selbst-) Thematisierung des Ortes, führen zu jeweils eigenständigen semantischen Umcodierungen und damit zu historisch gewachsenen Sekundärsemantiken. Im ersten Fall wird das Gelände samt seiner Restbauten zu einem Ort, dessen Geschichte nicht von Interesse ist und der in seiner konkreten Gegenwart auch ohne ein historisches Wissen bzw. ein historisches Bewusstsein von Menschen in vielfältiger Art und Weise belebt und erfahren wird. Im zweiten Fall wird die historische
10 Ebd., S. 105.
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Primärsemantik des Areals und der Gebäude als ein erfahrbares ›Hintergrundrauschen‹ wieder aufgenommen. Bei dieser Form der Begegnung werden ein historisches Wissen und ein kritisches Bewusstsein in einem besonderen Maß bedeutsam. Die Dokumentations- und Ausstellungsinstitutionen wollen dezidiert ein historisch-kritisches Wissen transportieren und als Orte der Aufklärung fungieren. Die heutige phänomenale Existenz des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes speist sich aus beiden Dimensionen des Umgangs mit ihm. Sowohl die tendenziell ahistorische als auch die historischkritische Umgangsform hinterlassen gleichermaßen ihre Spuren und führen zu einer spezifischen Erscheinungsweise des Geländes. 3. Das Verhältnis von aktueller Erscheinung und kollektiviertem Gedächtnis Wie erscheint also heute das Gelände? Attestiert man den beiden Ebenen der Erscheinung eine phänomenale Gleichwertigkeit, dann wäre dem Areal zunächst einmal ein grundsätzlich disparates Wesen zu eigen, das eine Vielzahl von Fragen aufwirft, die historisch behandelt werden müssten. Aus einer alltäglichen Perspektive heraus scheint diese Gleichwertigkeit jedoch nicht unbedingt haltbar zu sein. Ist es doch vielmehr die schlichte Existenz des Geländes und der Bauten, die den Menschen in Erscheinung tritt, gleich, ob diese Menschen ein historisches Wissen bzw. ein historisch-kritisches Bewusstsein gegenüber dem Areal besitzen oder nicht. Also: Was erscheint den Menschen? Jenseits der Tatsache, dass man auf dem Gelände etwas machen kann (Spaziergänge unternehmen, Grillen, Radfahren, das Volksfest oder Konzerte besuchen usw.), erfährt man ein Areal, das nicht so ganz in das normale Stadtbild zu passen scheint. Der Ort fordert zur sinnlichen Auseinandersetzung auf, da er ein erratisches Moment aufweist. Die je gegenwärtige baulicharchitektonisch-geographische Tatsächlichkeit des Geländes tritt als eine bestimmte Wirklichkeit in Erscheinung, die das Produkt der Geschichte des Geländes ist. Diese Erscheinung ist subjektiv wahrnehmbar und erfahrbar – im Vorbeifahren, im Darüberlaufen usw.. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände besitzt somit ein sinnliches Wirkungspotential, das Spuren in den wahrnehmenden Subjekten hinterlässt und zwar mutmaßlich deshalb, weil es in seiner Erscheinungsgestalt einerseits Teil der Lebenswelt ist und andererseits jedoch nie den
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Charakter des Fremdartigen abgelegt hat. Das gegenwärtige Gelände kann topographisch vertraut sein, der historische Ort, so scheint es, bleibt trotzdem grundsätzlich fremd. In Anlehnung an die Studien zur Phänomenologie des Fremden von Bernhard Waldenfels könnte man an dieser Stelle sagen, dass das ehemalige Reichsparteitagsgelände ein Ort ist, der in einer besonderen Art und Weise die Lebenswelt von Menschen als ein Gemenge aus »Heimwelt und Fremdwelt« erscheinen lässt11. Die individuelle Folge davon ist ein fortschreitender Prozess der (Selbst-)Differenzierung des wahrnehmenden und erfahrenden Subjekts, in dem Eigenheit und Fremdheit relational zu einander wirksam werden. Man setzt sich zu dem in Erscheinung tretenden Phänomen in differenzierenden Bezug und zwar auch dann, wenn man kein Wissen über die Semantik des Ortes besitzt. Sowohl der gegenwärtige Raum als auch der historische Ort sind also in der Erscheinung des Reichsparteitagsgeländes untrennbar präsent, jedoch in unterschiedlicher Art und Weise bzw. in graduell differenter Wirksamkeit. Die ästhetisch-sinnliche Wirklichkeit erscheint als eine unmittelbare, die historisch-semantische als eine mittelbare bzw. als eine erst zu vermittelnde. Somit ist das Areal zugleich immer Teil individuell-biographischer und kollektiver, d.h. kommunikativer und kultureller Gedächtnisformen.12 Letztere überdauern individuelle Lebensspannen und konstituieren sich in Traditionen, Kanonisierungen, gesellschaftlichen Institutionalisierungen und insbesondere auch in kulturellen Objektiviationen. In dem Maße, wie die letzten Zeitzeugen des Dritten Reichs aus dem Leben scheiden, wird diese Form des Gedächtnisses bedeutsamer. Der Raum und die Bauten des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes fungieren heute als ein solcher, kulturelle Gedächtnisräume konstruierender, Ort. Dass die Rede vom Gedächtnis eines Ortes eine schwierige und unpräzise ist, ist hinlänglich bekannt,13
11 Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 66. 12 Vgl. Assmann, Jan: »Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung«, in: Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Frankfurt a. M./New York 1999, S. 13-32. 13 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 32006, S. 298ff.
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da es hier nicht um eine Analogiebildung zu individuellen Gedächtnisleistungen des menschlichen Gehirns gehen kann, sondern darum, dass derartige Orte die prinzipielle Möglichkeit bieten, dem Abwesenden, dem Fernen, dem Fremden Aufmerksamkeit zu schenken und es bewusst zu machen. Diese Möglichkeit ist jedoch an die Bedingung der intergenerationalen Tradierung von Wissen über diese Orte gebunden. Die je aktuelle Erscheinung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes ist demnach also voraussetzungslos sinnlich wahrnehmbar, sein historischer Sinn ist jedoch nicht decodierbar ohne ein spezifisches Wissen. Die Notwendigkeit pädagogischer Vermittlungsarbeit wird hier besonders augenfällig. Durch Objekte erzeugte Bedeutungen sind nicht voraussetzungslos zu denken. Sinnhaltig wird ein Objekt erst dann, wenn seine Bedeutung bekannt ist. Dadurch, dass diese Bedeutungen jedoch kontextabhängig sind und damit als historisch und kulturell wandelbar erscheinen, ist es unter Gesichtspunkten der Konstitution kultureller Gedächtnisformen weniger ein Problem, dass ein Objekt selbst verloren gehen könnte, sondern vielmehr, dass kulturelle Bedeutungssysteme einem permanenten Schwund unterliegen. Ohne pädagogische Tradierungs- und Vermittlungsarbeit würde das sowohl für Gesellschaften als auch für Individuen nötige Wissen über vergangene kulturelle Muster der Bedeutungserzeugung verloren gehen und damit kulturhistorische Selbstverortungen von individuellen und kollektiven Wahrnehmungs-, Denk-, Kommunikations- und Handlungsmustern unmöglich werden. Damit einhergehend wäre auch der moralischen Auseinandersetzung der Boden entzogen, da diese auf der kritischen Auseinandersetzung mit der historisch vergangenen Bedeutung des Ortes aufbaut. Demnach könnte die gegenwartsbezogene sinnlich-ästhetische Ebene nicht nur eine eigenständige Dimension der subjektiven Erfahrung der Erscheinungsgestalt des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes darstellen, sondern sie könnte auch eine besondere Möglichkeit der Anbahnung einer historisch-moralischen Auseinandersetzung mit ihm bedeuten, die Gegenwärtiges und Vergangenes, Individuelles und Kollektives, Subjektives und Objektives konstitutiv miteinander verbindet. Exkurs II: Ästhetische Wahrnehmungen Versteht man nun das Ästhetische als einen eigenständigen Welt- und Selbsterschließungsmodus des Menschen im Sinne einer anthropologischen Grundkonstante, dann wäre dieser Modus ganz allgemein der
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sinnenbezogene. Die Ableitung des Ästhetik-Begriffes vom griechischen Wort Aisthesis, das sinnliche Wahrnehmung meint, wird hier offensichtlich. Ästhetische Wahrnehmung wäre sodann nicht an bestimmte Situationen der Kunstrezeption gebunden, sondern kann sich überall im Alltag ereignen. Das Ästhetische in einem weiten Sinn meint keinen abgegrenzten Bereich neben anderen Lebensbereichen. Nach Martin Seel kommt das Ästhetische immer dann zum Tragen, wenn ein Mensch in einer Situation aus funktionalen Zusammenhängen heraustritt.14 Man ist in einer ästhetischen Situation nicht bzw. nicht zentral an dem interessiert, was man tun, wissen oder erreichen kann. Vielmehr geht es darum, in einer besonderen situativen Gegenwärtigkeit sich selbst seiner Sinnlichkeit angesichts einer aisthetisch wahrnehmbaren Erscheinung gewahr zu werden. Prinzipiell kann also alles, was mit den Sinnen erfassbar ist, auch ästhetisch wahrgenommen werden. Die Differenz zwischen einer beliebigen Wahrnehmung und einer ästhetischen Wahrnehmung ergibt sich folglich daraus, wie man etwas wahrnimmt. Eine ästhetische Wahrnehmung ist ein besonderes Sehen, ein besonderes Hören, ein besonderes Riechen usw.. Ästhetische Wahrnehmungen äußern sich in einer selbstzweckhaften Form von gleichschwebender Aufmerksamkeit auf Etwas. Dieses Etwas wird in seiner Erscheinungshaftigkeit, seiner sinnlichen Besonderheit wahrgenommen. Genau bei dieser Erscheinungshaftigkeit verweilt nun die ästhetische Wahrnehmung. Daraus resultiert eine Situation doppelter Gegenwärtigkeit: Die besondere erscheinungshafte Gegenwärtigkeit des Gegenstandes der Wahrnehmung ist gekoppelt an eine besondere Gegenwärtigkeit dieser besonderen Wahrnehmung und umgekehrt. Ästhetische Wahrnehmungen thematisieren deshalb zum einen die Wahrnehmungsweisen von Selbst und Welt und bewirken zum anderen einen bestimmten Fokus auf Situationen, Gegenstände, Ereignisse usw.. Natürlich – und das ist für die hier anzustellenden Überlegungen von entscheidender Bedeutung – können mit derartigen Wahrnehmungsprozessen, oder besser gesagt Wahrnehmungsereignissen, auch Erkenntnisprozesse, Deutungsprozesse und Bewertungsprozesse verbunden sein. Ästhetisches Wissen, ästhetische Reflexionen und ästhetische Urteile gründen sozusagen in ästhetischen Wahrnehmungsereignissen.
14 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a. M. 2003.
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4. Das Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung und kollektivierter Erinnerung Welch elementare Bedeutung derartige Wahrnehmungsereignisse für kritische Reflexionsprozesse sowie für Bewusstwerdungs- und Vergegenwärtigungsprozesse haben, zeigt sich bezogen auf den Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände beispielsweise darin, dass Gerhard Liedtke seinen, das Buch Nürnberg – Ort der Massen moralisch anspruchsvoll abschließenden, Essay mit dem Titel »Bewältigen wäre schön« unter einer aisthetisch-ästhetischen Perspektive einleitet15: »Das Bild ist bekannt: links das Halbrund der Kongreßhalle, hinten rechts das ganz runde Riesenrad und davor bunt und umtriebig Bierzelte, Bratwurst-, Losund Bonbonbuden und Dutzende von Fahrgeschäften. Zweimal jährlich findet so – in fast schon trautem Nebeneinander – das Volksfest statt. Ausgerechnet der trübsinnigste Bau der Stadt ist zum Wahrzeichen ihrer Fröhlichkeit geworden. Das ist nicht zynisch gemeint. Aber es irritiert, daß sich niemand an der bizarren Mischung stört, daß es niemandem die Stimmung verhagelt. Das Geheimnis ist: Die Kongreßhalle können nur die Fremden sehen. Für die Nürnberger ist sie unsichtbar. Sie steht auf einem blinden Fleck. Niemand wird abstreiten, daß es sie gibt. Aber wirklich wahrnehmen kann sie auch keiner. Denn von frühesten Kindesbeinen an wurde er eingeübt, zweimal jährlich beim Besuch des Volksfestes, der blinde Fleck. Jahrzehntelang funktionierte er so perfekt, daß alle NS-Bauten vollkommen bewusstlos existierten. Erst in letzter Zeit scheint der blinde Fleck seine magische Wirkung zu verlieren.«16
Die Bewusstmachung der Welt durch Wahrnehmung des Erscheinenden und durch Reflexion dieser Wahrnehmungen wäre hier also eine zentrale pädagogische Aufgabe. Ästhetische Bildung als Prinzip des Wahrnehmen-Lernens und des bewussten Reflektierens dieser außenweltlichen Wahrnehmung in Bezug auf die eigene Existenz könnte hier also durchaus einen produktiven Beitrag leisten, da ästhetische Bildungsprozesse aus ästhetischen Wahrnehmungen und Handlungen zu resultieren scheinen, die im wahrnehmenden und handelnden Subjekt eine spezifische, qualitativ eigenständige Erfahrung bewirken.
15 Dietzfelbinger/Liedtke: Nürnberg 2004, S. 133ff. 16 Ebd., S. 133.
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Der Erziehungswissenschaftler Klaus Mollenhauer bezeichnet derartige bewusste ästhetische Wahrnehmungen als Differenz-Erfahrungen. Ästhetische Differenzerfahrungen würden sich in Anlehnung an die Ausführungen über das Ästhetische folglich immer dann einstellen, wenn sich Menschen in einem sinnlichen Prozess gleichschwebender Aufmerksamkeit relational zu etwas erfahren, dass ihnen in besonderer Art und Weise in Erscheinung tritt. Von ästhetischer Bildung kann man nach Mollenhauer jedoch immer erst dann sprechen, wenn zu diesem ästhetischen Ich-Welt-Verhältnis die Ebene einer bewussten Reflexion hinzukommt. Erst dann, wenn man sich seiner eigenen ästhetischen Erfahrung gegenüber exzentrisch verhält, sich also selbst zum Gegenstand der Betrachtung macht, erst dann, wenn man eine konkrete ästhetische Erfahrung in Bezug setzt zu anderen ästhetischen Erfahrungen, erst dann, wenn die sinnliche und leibliche Dimension der ästhetischen Erfahrung ergänzt wird durch eine hermeneutische Ebene, dann kann man von ästhetischer Bildung sprechen.17 Die hermeneutische Komponente ist hierbei von ausschlaggebender Bedeutung, da ästhetische Erfahrungen immer eine Bedeutungsebene eröffnen. Ästhetische Bildung vollzieht sich in nichts anderem als im reflexiven Selbstthematischwerden unserer Sinnlichkeit angesichts von etwas, das für uns erscheinungshaft besonders ist und aus diesem Grund in uns die Frage aufwirft: Was bedeutet es mir? Dieses erscheinungshaft Besondere interessiert uns in diesem Moment also nur deshalb, weil es eine Bedeutung für uns besitzt. Diese sinnliche Bedeutung wiederum ist dafür verantwortlich, dass wir in einer ästhetischen Situation Dinge oder Ereignisse hinsichtlich ihrer Zeichenhaftigkeit und nicht hinsichtlich ihrer Funktionalität, ihrer Nützlichkeit oder ihres strukturellen Aufbaus lesen. Die Zeichenhaftigkeit kann sich dabei in ganz elementaren Urteilen niederschlagen. Bereits das Urteil, etwas sei schön oder hässlich, resultiert aus dieser subjektiven Bedeutungsdimension einer ästhetischen Wahrnehmungssituation. Derartige Urteile sind also nicht wertfrei – ganz im Gegenteil: sie sind gemäß den Ausführungen Immanuel Kants in der Kritik der Urteilskraft normativ und zwar derart, dass sie aus einer subjektiven Perspektive heraus gefällt werden, die jedoch zugleich einen allgemeingülti-
17 Vgl. Mollenhauer, Klaus: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern, Weinheim/München 1996.
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gen Anspruch erhebt.18 Diese eigentümliche logische Unbeweisbarkeit ästhetischer Urteile bereitet nun aber in einem besonderen Maße die pädagogische Möglichkeit, in Diskurse über Standpunkte, Sichtweisen, Werte, Normen, Ideale usw. zu treten. Ästhetische Wahrnehmungen und ästhetische Urteile können auf diese Weise nicht nur zur Bildung einer ästhetisch-hermeneutischen Lesefähigkeit beitragen, sondern auch Auseinandersetzungen mit Selbst- und Weltverhältnissen initiieren, die die individuellen Grundfigurationen des Beziehungsgefüges von Eigenheit, Andersheit und Fremdheit verändern. Anders ausgedrückt kommt hier deutlich dasjenige Potential von Bildungsprozessen zum Tragen, das Rainer Kokemohr als Aufbrechen bestehender Subjekt-Welt-Konfigurationen im Sinne einer »Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen […], die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen« bezeichnet.19 Die Frage: Was bedeutet mir das ehemalige Reichsparteitagsgelände in seiner phänomenalen Erscheinungshaftigkeit?, ist daher eine zunächst ästhetische, jedoch zugleich und untrennbar auch eine über das Ästhetische hinausweisende, da ein intersubjektiver, diskursiver Austausch über die je individuellen Antworten auf diese Frage notwendigerweise dazu führt, dass bestehende Meinungen, Perspektiven usw. gebrochen, kontrastiert oder differenziert werden. Unter den Vorzeichen von Lebensformen, die sich durch Individualisierung, Pluralisierung und Traditionserosion auszeichnen, erscheint das diskursive Be- und Verhandeln von Welt- und Selbstsichten als grundlegender Baustein moralischer Bildung. In dem Maße, wie gesellschaftlich anerkannte Werte nicht mehr selbstverständlich individuell übernommen werden, da die einzelnen Lebensformen zu heterogen sind, können Tugend- und Wertsysteme nicht mehr einfach als absolut gesetzt werden.20 Die ästhetische Frage Was bedeutet mir das ehemalige Reichs-
18 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, Wilhelm Weischedel (Hg.), Frankfurt a. M. 1974, §32ff. 19 Vgl. Kokemohr, Rainer: »Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie«, in: Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie
transformatorischer
Bildungsprozesse,
Hans-Christoph
Koller/
Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.), Bielefeld 2007, S. 13-68, hier S. 16, 21. 20 Vgl. Edelstein, Wolfgang: »Gesellschaftliche Anomie und moralpädagogische Intervention. Moral im Zeitalter individueller Wirksamkeitserwartun-
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parteitagsgelände in seiner phänomenalen Erscheinungshaftigkeit?, kann daher erstens als Grundlage des Diskurses über inter-individuelle Hetero- und Homogenitäten bezüglich ästhetischer Urteile über die phänomenale Gestalt des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes herangezogen werden und deshalb zweitens überführt werden in die moralisch bedeutsame Frage: Was bedeutet mir und uns das ehemalige Reichsparteitagsgelände in seiner historischen Narrativität? Diese Frage berührt nun im Kern die moralische Zeichenhaftigkeit des Ortes. Die Entschlüsselung der historischen Narrativität des Geländes und seiner Bauten ist in pädagogischen wie in musealen oder dokumentarischen Kontexten mit dem Ziel verbunden, in den Menschen ein aufgeklärtes, kritisches Wissen zu verankern. Jenseits fachwissenschaftlicher Untersuchungen ist es nicht das alleinige Ziel, Fakten zu produzieren, sondern über diese Fakten ein moralisches Bewusststein zu tradieren. Dieses kollektive historische Bewusstsein erscheint dabei als ein äußerst vielschichtiger, weitreichender und anspruchsvoller Komplex, der mit zunehmender historischer Distanz zu den Geschehnissen auch immer wieder neu für Vermittlungsprozesse aufgearbeitet werden muss. Pädagogisch gesehen muss die Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus natürlich sowohl die Entstehungszusammenhänge als auch die Konsequenzen umfassend behandeln, damit ein Bewusstsein über die Auswirkungen des NS-Regimes überhaupt entstehen kann. »Dass auch im 21. Jahrhundert jede Darstellung der NS-Geschichte ein überzeugendes »Nie wieder!« enthalten muss, ist selbstverständlich. Selbstverständlich ist aber zudem, dass dieses »Nie wieder!« allein nicht ausreicht, denn Geschichte wiederholt sich nach allen Erfahrungen ohnehin nicht in derselben Form.«21
gen«, in: Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, ebd./Fritz Oser/Peter Schuster (Hg.), Weinheim/ Basel 2001, S. 13-34, hier S. 13ff. 21 Asmuss, Burkhard: »Zur Präsentation der NS-Geschichte im Deutschen Historischen Museum. Überlegungen zum Rezeptionsverhalten der Besucher im 21. Jahrhundert«, in: Die Zukunft der Vergangenheit. Wie soll die Geschichte des Nationalsozialismus in Museen und Gedenkstätten im 21. Jahrhundert vermittelt werden?, Franz Sonnenberger (Hg.), Nürnberg 2000, S. 29-42, hier S. 29.
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Die pädagogische Arbeit in Form historischer Aufklärung muss also zugleich immer den Bezug zu den heutigen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen herstellen, damit es bei der Aufarbeitung und konstruktiven Bewältigung der NS-Geschichte stets auch »um die Vermittlung eines umfassenden Wertesystems« geht22. Vor dem Hintergrund der weiter oben angestellten Betrachtungen zu den Eigenheiten kollektiver Gedächtnisformen muss an dieser Stelle jedoch die Frage aufgeworfen werden, wie derartige Bezüge zu heutigen pluralen Lebenswelten überhaupt hergestellt werden können. Oder anders ausgedrückt: Was heißt ›Erinnerung an die NS-Zeit‹ beispielsweise für heutige Kinder und Jugendliche? Diese Frage kann nur behandelt werden, wenn man sowohl das ›Was‹ als auch das ›Wie‹ von in diesem Fall individueller Erinnerung in den Blick nimmt. Der Prozess des Erinnerns ist zunächst als ein je gegenwärtiger zu verstehen, der nichts anderes ist, als eine Aktivierung spezifischer neuronaler Erregungsmuster, die erst im Bewusstsein des Menschen zu einer geistigen Einheit werden. Erinnern ist damit ein unbewusster Prozess der (Re-)Konstruktion von etwas,23 das bereits konstruktiv im Gedächtnis gespeichert wurde. Dieses Etwas ist bei heutigen Menschen jedoch in aller Regel nicht (mehr) das Dritte Reich als historische Erscheinung, sondern es besteht in Aufarbeitungen, Dokumentationen und Präsentationen dessen, was kollektiv über das Dritte Reich transportiert wird. Somit hat man es mit je gegenwärtigen Formen der historischen Rekonstruktion des Nationalsozialismus zu tun. Diese (Re-)Konstruktionen erscheinen den heutigen Menschen sodann in aufgearbeiteter Form in Museen, Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Ausstellungen usw.. Diese Aufarbeitungen sind nun ihrerseits wiederum auch durch ein ästhetisches Moment gekennzeichnet. Was in Ausstellungen erscheint, ist eben nicht davon zu trennen, wie es erscheint. Der Inhalt beispielsweise des Dokumentationszentrums hat demnach nicht ›an sich‹ einen bedeutungshaften Seinsgehalt. Dieser kommt erst im Kontext einer bestimmten Art und Weise der Ermöglichung seiner Zugänglichkeit zum Vorschein. Dieses Wie des In-
22 Ebd. 23 Vgl. z.B. Miller-Kipp, Gisela: »Konstruktionen überall. Biologische Forschung nebst erkenntnistheoretischen Diskursen über das Gedächtnis und was Pädagogen und Pädagogik damit anfangen können«, in: Gedächtnis und Bildung. Pädagogisch-anthropologische Zusammenhänge, Jörg Zirfas/Bernd Dieckmann/Stephan Sting (Hg.), Weinheim/Basel 1998, S. 92-116.
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Erscheinung-Tretens von Dingen, Dokumenten, Bildern, Filmen usw. ist dabei als inszenatorisches und somit als ein immer auch ästhetisches Prinzip aufzufassen: Die Exponate erscheinen vor dem Hintergrund intentionaler Ordnungsprozesse in einer spezifischen spatialen Anordnung, akustischen oder lichttechnischen Präsentation usw., die immer auch anders hätten ausfallen können.24 Somit wäre auch hier das Moment der subjektiven aisthetisch-ästhetischen Wahrnehmung von Welt als eine zentrale Kategorie der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus anzusehen. Das historische Narrativ existiert eben nicht ›an sich‹, sondern es wird in bestimmten Formen tradiert. Erst die Resultate dieser kollektiven Tradierungsprozesse sind schließlich jeweils individuell erfahrbar. 5. Eine pädagogische Perspektive auf die doppelte Daseinsform des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes Anerkennt man den ästhetischen Modus als eine grundsätzliche und unhintergehbare Art und Weise des subjektiven Selbst- und Weltzugangs, dann können vor dem Hintergrund des bis jetzt Gesagten ästhetische Bildungsprozesse in ihrer allgemeinsten Form aufgefasst werden als differenzerzeugende Momente »der Auseinandersetzung des Subjekts mit sinnlich zugänglichen Figurationen« 25 . Ästhetische Bildung bedeutet sodann in Anlehnung an Klaus Mollenhauer ein Thematischwerden der eigenen Sinnlichkeit in Bezug auf bestimmte phänomenale Erscheinungen der Welt.26 In diesem situativen Prozess des Thematischwerdens erfährt das wahrnehmende und tätige Subjekt Resonanzen in sich selbst, die es wiederum in ein exzentrisches Verhältnis zu sich selbst versetzen. Ästhetische Wahrnehmungen als Form subjektiver sinnlicher Selbstvergegenwärtigung und ästhetische Urteile als Resultat einer subjektivnormativen Bewertung innerer sinnlicher Reaktionen auf außenweltliche Erscheinungen sind demnach stets reflexiver Natur. In dieser Eigenheit weisen ästhetische Urteile auch eine soziale Dimension auf, nämlich dann, wenn es darum geht, diese inneren Selbstverhältnisse als subjekti-
24 Vgl. Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Ästhetik der Inszenierung, Joseph Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Frankfurt a. M. 2001, S. 48-62, hier S. 50. 25 Mollenhauer 1996, S. 16. 26 Vgl. ebd., S. 253ff.
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ve Erfahrungen zu kommunizieren. In diesen intersubjektiven Kommunikationsprozessen wird, phänomenologisch gesprochen, sowohl das ›Da-Sein‹ als auch das ›So-Sein‹, also sowohl die Tatsache, dass etwas sinnlich in Erscheinung tritt als auch die Art und Weise dieses InErscheinung-Tretens, diskursiv gefasst. Erst in derartigen kollektiven Austauschprozessen erscheint es möglich, individuelle und mögliche kollektive Bedeutungshaftigkeiten hermeneutisch zu verstehen und miteinander in Verbindung zu bringen. Rekurriert man nun noch einmal auf die eingangs angestellte strukturelle Differenzierung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in eine doppelte Daseinsform, nämlich in die je gegenwärtige ästhetische Erscheinung und in die geistig-immaterielle historisch-moralische Implikation des Erscheinenden, dann wird deutlich, dass letztlich auch die historische Dimension des Geländes und seiner erhaltenen Bauwerke, wie sie z.B. in Ausstellungen zum Tragen kommt, nur im Kontext einer je gegenwärtigen sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung subjektiv erfahrbar wird. Der pädagogische Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem historischen Narrativ »ehemaliges Reichsparteitagsgelände« anhand von präsentierten Artefakten, Dokumenten usw. findet sich also auch hier in der auf eine je konkrete subjektive Gegenwärtigkeit bezogenen Dimension des Was und des Wie einer Erscheinung. Die Zusammenführung von individuellen Bedeutungshaftigkeiten mit über-individuellen Normen und Werten des humanen Zusammenlebens kann dann ihrerseits in die individuelle Konstitution von kritischen und reflektierten Erinnerungsinhalten und Erinnerungsformen münden. Für die Pädagogik heißt dies schließlich, dass sie in einer jeweiligen Gegenwart sowohl an kultureller als auch an biographischer Erinnerung arbeiten muss und dass sie mittels dieser Erinnerungsermöglichung gleichzeitig begründbare und anschlussfähige zukunftsfähige Prinzipen für das menschliche Zusammenleben aufsuchen muss. Die Aufgabe der Pädagogik besteht im Hinblick auf kulturelle Tradierungsprozesse deshalb nicht zuletzt auch immer darin, »die Prinzipien, Gesichtspunkte und Standards, an denen sich die Erinnerung orientieren kann«, herauszuarbeiten27.
27 Mollenhauer, Klaus: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, Weinheim/München 62003, S. 10.
SCHATTENORTE Oder die Grenzen topographischer Aufklärung 1
H ERMANN G LASER
I.
Zur Notwendigkeit eines prozessualen Verständnisses des Nationalsozialismus
Aus meiner Sicht kann man die für den Nationalsozialismus charakteristische Verbindung von Gewalt und Faszination, von Ästhetik und Barbarei (Ästhetisierung der Barbarei) und die Tatsache, dass diese Verbindungen von weiten Teilen der Deutschen begeistert angenommen wurden, nur begreifen, wenn man die Zerstörung des deutschen Geistes und seine Aufrechterhaltung als entleerte Fassade bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt.2 Nicht der deutsche Geist – die Aufklärung, Klassik, Romantik oder eine andere Epoche – kann für das Jahr 1933 verantwortlich gemacht werden. Weder war die Romantik noch die Klassik oder eine andere Epoche für die deutsche Geschichte ein ›Verhängnis‹ – echte Kultur kann nie ein Verhängnis sein! Auch boten Klassik und Romantik keineswegs mehr Ansätze zur Fehlinterpretation als andere Epochen. Man griff auf sie zurück, weil sie am naheliegendsten waren – die Spätromantik lief zeitlich sogar mit der epigonalen Romantik parallel – und 1
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die leicht bearbeitete Fas-
2
Vgl. Glaser, Hermann: Spießer-Ideologie, Freiburg i. Br. 1964. Zuletzt als:
sung eines mündlich gehaltenen Vortrags. Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, mit einem neuen Vorwort, Frankfurt a. M. 1986. Ferner: Ebd.: Wie Hitler den deutschen Geist zerstörte. Kulturpolitik im Dritten Reich, Hamburg 2005.
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weil es sich um Zeitabschnitte der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte handelte, die sich auf Grund ihres vielfältigen geistigen Reichtums besonders eindrucksvoll als Kulturfassade missbrauchen ließen. – Das nationale Unglück beruhte auf der Tatsache, dass die Elemente der deutschen Kultur (im Besonderen eben Klassik und Romantik) pervertiert, ver-kehrt, ins Gegenteil gekehrt und dabei nominal beibehalten wurden. Es blieben Wortkadaver, die ihres Wahrheitsgehalts beraubt waren und nun mit Ressentiments ausgestopft wurden. Kultur wurde zur Fassade, der Logos (das Wort, die sinnvolle Rede und die Vernunft überhaupt) zerstört und durch einen wirren Mythos ersetzt, der selbst bereits eine Fehlinterpretation des Wortes Mythos darstellte. Dieser Vorgang der Verdrängung von Geist, Vernunft und Wahrheit schuf seelische Haltungen, die einer psychopathologischen Deutung bedürfen; wir treffen auf eine Ansammlung von Komplexen, die zu Wahnideen der verschiedensten Art führten. Die zentrale Frage ist und bleibt: Wie konnte es dazu kommen, dass eine überwältigende Mehrheit der Deutschen den Weg der Menschlichkeit verließ und Staatsverbrechern zujubelte, sich mit ihnen identifizierte und in Adolf Hitler einen politischen Messias begrüßte? Waren doch schon vor 1933 seine von der ›Banalität des Bösen‹ bestimmten Absichten klar erkennbar und sofort nach der Machtübernahme wurde die furchtbare, schließlich bis zur Massenvernichtung der Juden und anderer Minderheiten wie Oppositioneller führende Realität des Rassenwahns offenbar. Warum rief die Zerstörung des deutschen Geistes – von Philosophie, Moral, Kunst und Kultur – nicht nur keine wesentlichen abwehrenden Reaktionen hervor, sondern wurde, im Gegenteil, mit Hilfe unzähliger Lehrer, Professoren, Künstler und Intellektueller aller Bereiche so umfassend vollzogen? Was Hitler und seine Funktionäre den Deutschen suggerierten und, soweit sich noch Widerstand regte, oktroyierten, war in diesen bereits lange angelegt; von einem gewissen Zeitpunkt an war es fatal-folgerichtig, dass Führer und Geführte sich fanden: in einem gemeinsamen Verlust humaner Identität, der als Durchbruch zu einer neuen völkischen Gemeinschaft gepriesen wurde. Es war das Ende eines Weges, der vom Bildungsbürger über den Untertan zum ›Volksgenossen‹ führte. Ich sehe hauptsächlich als Grund für eine solche Entwicklung das Überhandnehmen der ›Spießer-Ideologie‹. Der Begriff ›Spießer‹ darf in diesem Zusammenhang nicht soziologisch (Beruf, Lebensstandard oder Einkommensverhältnisse betreffend) verstanden werden; er soll
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eine psychologische und anthropologische Situation umreißen. ›Kleinbürger‹ bedeutet einen ganz bestimmten Habitus geistig-seelischen Verhaltens. Insgesamt ist der Kleinbürger medioker und provinziell, fanatisch und brutal, engstirnig und ressentimentgeladen, aber auch ›feinsinnig‹ und ›innerlich‹. Der Kleinbürger hat kein Kulturbewusstsein – fühlt sich aber als der eigentliche ›Kulturträger‹ der Nation. Kultur ist Fassade – und dennoch nicht Vortäuschung; hinter der Fassade ist nichts; die Fassade ist er selbst. Die Barbarei ist in die Kunstsinnigkeit eingesprenkelt; Krieg und Kunst, Gemeinheit und Schönheit werden zu auswechselbaren Begriffen; die Schizophrenie wird nicht als solche empfunden; das gespaltene Wesen ist das Wesen des Kleinbürgers schlechthin. Man verehrt Goethe, aber er ähnelt dem Soldatenkönig; man bewundert das Schöne, aber es ist nur die muskulöse Nacktheit; man ist für Sauberkeit, aber sie ist steril; man spricht hohe Worte, aber es sind hohle Worte; man strebt nach Idealen, aber es sind Idole; man pflegt Innerlichkeit – in der Gartenlaube; die Lieder, die man singt, sind Kitsch; das Gemüt im Heim liegt auf Plüsch. Auf dem Parteitag am 13. September 1936 in Nürnberg erklärte Adolf Hitler unter großem Beifall: »Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt. Daß ihr mich gefunden habt unter so viel Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!«3 In pathetischer, pseudosakraler Sprache sprach er etwas an und aus, was zu den gleichermaßen ungeheuren wie ungeheuerlichen Erfahrungen deutscher Geschichte gehört: die Identifikation der überwältigenden Mehrheit des Volkes mit dem Nationalsozialismus und seinem ›Führer‹. Dementsprechend war auch Mein Kampf ein ›Spießer-Spiegel‹ par excellence. Die Mehrheit der Deutschen erkannte sich in ihm. Der Inhalt des Buches, zudem in Tausenden von Broschüren, in vielen Zeitungen, Zeitschriften und jeglichen Propagandamaterialien, vor allem auch durch die Reden Hitlers und seiner Gefolgsleute unters Volk gebracht, enthielt all das, was des ›Spießers Wunderhorn‹, die Pandorabüchse kleinbürgerlicher Taktätchenverfasser, seit Jahrzehnten bereithielt: abgründige Gemeinheiten, in schiefe Metaphern gekleidete Ressentiments, endlose Tiraden, rhetorisch aufgeschminkte Plattitüden. Hitler besaß die Genialität des Mittelmäßigen; seine
3
Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Bd. 1, Würzburg 1962, S. 643 (Rechtschreibung des Originals).
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Durchschnittlichkeit war überdurchschnittlich; so wurde seine Mediokrität zum Schicksal eines Volkes, das sich im 19. Jahrhundert Schritt um Schritt von Humanität und Kultur abbringen ließ. Für Hitlers Aufstieg bedurfte es (und das machte die große Stunde des Kleinbürgertums aus) keiner geschickten Verführung, keiner raffinierten Dämonie oder Verlogenheit. Hitler musste nur er selbst sein: das war sein Erfolg: er musste nur Spießer sein mittelmäßig, primitiv, ohne Vorzüge und Meriten: das war sein Verdienst. Das ›Wunder‹ des Dritten Reiches, die fatale Vereinigung von Führer und Geführten, fand also auf einem geistig längst verwüsteten Terrain statt. Der deutsche Geist und die ihm immanente Sittlichkeit waren in der Bevölkerung und ihren sogenannten Eliten bereits vor 1933 nicht mehr substantiell verankert. Stattdessen wurde nur der Anschein von Kultur – der Mythos, einem Volk der Dichter und Denker, vor allem auch großer Tonschöpfer und Maler anzugehören – aufrechterhalten und mit allen Mitteln bedient. Das neunzehnte und beginnende zwanzigste Jahrhundert haben die Rieselfelder geschaffen, auf denen die Giftblüten der nationalsozialistischen Kulturverfälschung erblühen konnten. Seit den Befreiungskriegen 1813/14 hatten die für die ›offizielle‹ Kultur Verantwortlichen in steigendem Maße dafür gesorgt, dass die westeuropäischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in demokratischer Ausformung in Deutschland nicht Fuß fassen konnten; die liberalen Bestrebungen scheiterten vor allem in der missglückten Revolution von 1848. Als die deutsche Kulturnation die Kleinstaaterei überwunden hatte, wurde sie unter preußischer Hegemonie nach dem Sieg über Frankreich 1870/71 zu einer Staatsnation zusammengeschweißt, die nicht mehr die Kraft, den Mut und die Fähigkeit aufbrachte, den ›deutschen Sonderweg‹ zu verlassen. Die These vom ›deutschen Sonderweg‹ besagt, dass in Deutschland die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung auseinander liefen. Der Kapitalismus hatte sich durchgesetzt und das Bürgertum die ökonomisch entscheidende Stellung errungen. Der säkularisierte Glaube des Bürgertums an die Bedeutung der Kunst und der ästhetischen Erziehung des Menschen hatte den Künstlern Autonomie verschafft, sie zum Beispiel aus feudalen, höfischen Banden befreit. Es erfolgte die Verbürgerlichung der Künste im neunzehnten Jahrhundert; Musik, Theater, Malerei, Literatur erhielten gesellschaftliche Funktionen mit der Vorgabe ethischer Orientierung. Im Gegensatz zu England
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gelang es dem Bürgertum jedoch nicht, auch die politische Macht zu erringen. Vor allem die Demokratisierung wurde nicht vorangetrieben. Stattdessen konnten sich die traditionellen Eliten behaupten. Der deutsche Liberalismus hatte mit seinem konstitutionell-monarchistischen und später national-liberalen Flügel den demokratisch-parlamentarischen Gedanken zugunsten eines ständisch orientierten Konservativismus verwässert.4 Nach Georg Lucácz hat es im Zweiten Reich überhaupt nur noch »absterbende letzte Mohikaner der deutschen Demokratie« gegeben5. Zunächst, so Herbert Marcuse, hatten die aufsteigenden bürgerlichen Gruppen ihre Forderung nach einer neuen gesellschaftlichen Freiheit durch die allgemeine Menschenvernunft begründet und dem Glauben an die gottgesetzte Ewigkeit einer hemmenden Ordnung ihren Glauben an den Fortschritt, an eine bessere Zukunft, entgegengehalten. Da die Bürger jedoch die Vernunft und die Freiheit klassenspezifisch auf sich selbst bezogen, setzten sie sich zur Gesamtgesellschaft, die im zunehmenden Maße durch die Arbeiterschaft bestimmt war, in Gegensatz. Auf das klassenkämpferische Konzept eines Karl Marx und Friedrich Engels reagierten sie mit sozialdarwinistischer Repression, die mit der Fassade einer nur noch ›geglaubten‹, aber nicht mehr ›tätigen‹ Kultur abgedeckt wurde. Diese ›affirmative Kultur‹ diente nicht nur kollektiver Heuchelei, sondern war auch Suggestion, mit deren Hilfe man die Selbstzweifel (angesichts des Abfalls von den einst hoch geschätzten Idealen) zu beruhigen versuchte. Die affirmative Kultur ist in ihren Grundzügen idealistisch, wird aber idolisiert. »Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die erreichte
4
Vgl. Brüggemeier, Fanz Josef.: »Der deutsche Sonderweg«, in: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Lutz Niethammer et al. (Hg.), Frankfurt a. M. 1990. Ferner: Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation, Stuttgart 1959.
5
Lucácz, Georg: »Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus«, in: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin 1953, S. 102.
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Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und der bloßen rechtfertigenden Selbsterhebung: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums.«6
Die Reflexion über Bildungsgüter war tabuisiert; stattdessen waren sie expansivem Feiern preisgegeben; die kulturellen Gedenktage wurden meist nationalpolitisch missbraucht. Ob Albrecht Dürer, Martin Luther, Friedrich Schiller oder Ludwig van Beethoven – man sah in ihnen weniger die bedeutenden Künstler, als vielmehr die großen Deutschen, die ›Deutschesten der Deutschen‹, die Führer auf dem Weg zu einer einheitlichen Nation. »Das gleiche gilt für die weitverzweigte Feiertätigkeit, die sich an germanischmittelalterlichen Monumenten oder Gedenktagen entzündete und in Proklamationen nationaler Größe kulminierte. Als diese Feiertätigkeit in der Reichsgründung von 1871 endlich ihr Ziel erreichte, wurde sie nicht etwa schwächer, sondern nahm im Zuge der Legitimierung der Hohenzollerndynastie und des Zweiten Reiches, der Vorbereitung und Verteidigung deutscher Weltgeltung und Weltmission eher noch zu, ja erlebte im sogenannten ‚Dritten Reich‘, das als Selbstbeweihräucherung deutschen Wesens und deutscher Größe über die Bühne ging, erst ihre groteske Bekrönung.«7
Die im neunzehnten Jahrhundert, vor allem in seiner zweiten Hälfte, entstandenen Denkmäler beziehungsweise nationalen Monumente – etwa die Walhalla, die Befreiungshalle, die Bavaria, das Hermannsdenkmal, das Niederwalddenkmal, das Deutsche Eck, das Völkerschlachtdenkmal, die Bismarckdenkmäler – oder die für die Stabilisierung der nationalen Identität herangezogenen historischen Orte (wie etwa die Wartburg) wurden zu Wallfahrtsstätten der Nation, in denen staatlich verordnete Vaterlandsliebe zu praktizieren war; ihre Symbo-
6
Marcuse, Herbert: »Über den affirmativen Charakter der Kultur«, in: Kul-
7
Grimm, Reinhold/Hermand, Jost (Hg.): Deutsche Feiern, Wiesbaden 1977,
tur und Gesellschaft I, Frankfurt a. M. 1965, S. 63, 66. S. 7.
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lik und Emblematik bedienten sich mit Pathos aus dem Fundus einer vermeintlich gemeinsamen Geschichte und Mythologie.8 Mit hochmütigem »Sedanlächeln« (Benedetto Croce in Anspielung auf den deutschen Sieg über Frankreich bei Sedan am 2. September 1870) demonstrierte man ein dem Westen überlegenes Kulturbewusstsein. »Wir haben ja unsere Kultur, heißt es dann, denn wir haben ja unsere ,Klassiker‘; das Fundament ist nicht nur da, nein, auch der Bau steht schon auf ihm gegründet – wir selbst sind dieser Bau. Dabei greift der Philister an die eigene Stirn.« Der Philister – so nannten schon die Romantiker engstirnige Verächter avantgardistischer Kunst und Literatur – hause »in den Werken unserer großen Dichter und Musiker wie ein Gewürm, welches lebe, indem es zerstört, bewundert, indem es frißt, anbetet, indem es verdaut.«9 In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen geißelte Friedrich Nietzsche den Rückzug auf die Position des »Es ist erreicht«; »es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung«. Man fühlte sich in der Hierarchie der Kulturen ganz oben stehend und verachtete die westliche Zivilisation (auch wenn man diese insgeheim als Rivalin fürchtete). Den Irrtum, dass die »deutsche Kultur nämlich in diesem Kampfe [1871] gesiegt habe«, bezeichnete Nietzsche als einen höchst verderblichen Wahn, weil er imstande sei, »unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches«. Insgesamt kann ein prophetisches Epigramm von Franz Grillparzer aus dem Jahr 1849 das Scheitern bürgerlich-demokratischer und liberaler Hoffnungen in den Epochen der Restauration, des Wilhelminismus, der Weimarer Republik und schließlich des Nationalsozialismus zusammenfassen: »Der Weg der neuern Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.« (Der Leopoldsritter)
8
Vgl. Koch, Hans-Jürgen (Hg.): Wallfahrtsstätten der Nation. Zwischen Brandenburg und Bayern, Frankfurt a. M. 1986. Vgl. auch Krenzlin, Ulrike: Johann Gottfried Schadow. Die Quadriga. Vom preußischen Symbol zum Denkmal der Nation, Frankfurt a. M. 1991, S. 64.
9
Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen«, in: Werke I, Karl Schlechta (Hg.), Frankfurt a. M. u.a. 1979, S. 144. Nachfolgend S. 162, 145, 137.
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II. Können ›Steine‹ die Weltanschauung und Praxis des Nationalsozialismus entlarven helfen? Was der Angeklagte 1 am Ende des »Oratoriums in 11 Gesängen« Die Ermittlung von Peter Weiss, der sein Material dem Auschwitz-Prozess entnahm, sagt, dürfte – wobei sich die demokratische Besorgtheit dies nicht gerne eingesteht – weit verbreitet sein, auch bei den oft mehr zufälligen Besuchern des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes: »Heute/ da unsere Nation sich wieder/zu einer führenden Stellung/emporgearbeitet hat/sollten wir uns mit anderen Dingen befassen/als mit Vorwürfen/die längst als verjährt/angesehen werden müssten.«10 Dem gegenzusteuern, ist Geschichtspädagogik, die Erinnerungsarbeit ernst nimmt, aufgerufen. Sie glaubt dabei, dass ›Orte‹ zu Topoi werden, also obwohl ihres realen Geschehens entleert ein wirkungsvolles Ambiente für Aufklärung über Vergangenes, hier das verbrecherische NS-System, darstellen. Es gilt also, beim Anblick gigantomanischer Architektur, eines steinernen Monumentalismus, den deutschen Weg zur Bestialität aufzuzeigen. Geht das? Und wenn ja, wie geht das? Dass Steine sprechen, ist selbst archäologisch fragwürdig. Immerhin kann das steinerne bzw. versteinerte Relikt Deutungswissen, also hermeneutische Kompetenz, in Gang setzen. Dies geschieht mit dem Dokumentationszentrum meiner Meinung nach auf nahezu optimale Weise. Bedarf es dazu der Steine, bedarf es dazu des Geländes? Sicherlich dient es der Erkenntnis, wenn man mit Hilfe der zu weiten Teilen erhaltenen Anlage eine reale Kulisse für die Evokation des damaligen Geschehens, etwa der Riesenaufmärsche, vor sich hat; wenn man imaginiert, welches Ambiente eine solche Faszination ausübte, dass Unrecht und Gewalt nicht wahrgenommen oder gar verdrängt oder bejaht wurden. Die Ästhetisierung der Barbarei ist auf einem Gelände wie diesem sinnlich nachvollziehbar – allerdings nur, wenn die entsprechende Vorstellungskraft vorhanden ist. Bei den meisten Enpassant-Besuchern und solchen, die im Rahmen von Sightseeing-Tours das Gelände streifen, dürfte die Vergegenwärtigungs-Phantasie fehlen, es sei denn sie wird, was freilich eines gewissen Zeitaufwandes bedarf,
10 Weiss, Peter: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen (1965), Reinbek b. Hamburg 1969, S. 185 f.
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durch Filmaufnahmen, etwa Leni Riefenstahls Propagandafilmen, generiert. Andernfalls bleibt Ratlosigkeit. Kann man sich jedoch durch den Anblick des darniederliegenden Geländes tatsächlich die ekstatischen NS-Rituale vergegenwärtigen – z. B. in die Hauptaktion des gesamten Parteitages (fünfter Tag), die nächtliche Weihestunde auf dem Zeppelinfeld? Einen »glanzvoll inszenierten Lichtdom als Höhepunkt pseudo-sakraler Massensinnlichkeit. Fahnen, Feuer und Licht vereinigten sich zum Bild einer Kirche, schlossen die versammelte Gemeinschaft vom Dunkel der Außen- und Feindeswelt ab. Beim Eintreffen Hitlers auf der Haupttribüne des Zeppelinfeldes schossen schlagartig die Strahlen der 150 Riesenscheinwerfer in den schwarz-grau verhüllten Nachthimmel und bauten über den 250.000 Zuschauern eine gigantische, schimmernde Strahlenkuppel [...].« Man hatte den Eindruck – feierlich und schön zugleich, »daß man sich im Innern einer Kathedrale aus Eis befände [...]. Auf der magisch angeordneten und angestrahlten AltarBühne erschien Hitler als charismatische Heilsfigur, als Hoher Priester eines neuen Kultes.« 11
Wenn es heute auf dem Gelände noch zu ekstatischen Ausbrüchen kommt, dann wegen des dort veranstalteten Norisring-Rennens über 200 Meilen und gelegentlicher auf dem Areal angesiedelter Open-airKonzerte. Für die wenigsten Besucher dürfte dabei die NS-Architektur eine Rolle spielen. Die Synthesizer und das Flackerlicht der Rockbands übertrumpfen problemlos die faschistische Monumentalästhetik. Und das ist gut so. Ekstasen sind zudem in der modernen Medien- und Massengesellschaft sowieso Teil des Emotionsdepots, das auch FanMeilen bei Fußballspielen speist. Aber selbst wer sich das Reichsparteitagsgelände ›aufgeladen‹ vorzustellen vermag – wie gesagt, die wenigsten –, hat kaum etwas vom NS-Terror begriffen: nämlich von der Gewalt und Brutalität dieses Regimes, vor allem aber davon, wie es geschehen konnte, dass die Deutschen in ihrer Mehrzahl diesen Terror nicht wahrnahmen. Das Gelände als solches ist also zwar Anlass, aber nicht Grund für die Lokalisation des Doku-Zentrums und daher ziemlich unwichtig; Doku-
11 Thamer, Hans-Ulrich: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986, S. 422. Vgl. dazu auch: Schmeer, Karl-Heinz: Die Regie des öffentlichen Lebens im Dritten Reich, München 1956, S. 110ff.
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mentationszentren wären vielfach notwendig; Anlässe gäbe es genug, wenn man den Grund für ihre Notwendigkeit erkennen würde. Die denkmalspflegerische Konservierung und Fixierung ist zudem nicht unproblematisch, da sie wie jedes bauliche Denkmal im Raum steht, aber Zeitabläufe nicht dinglich zu fixieren sind. Für das Verstehen des Nationalsozialismus ist aber besonders, wie im ersten Teil angedeutet, seine über Jahrzehnte sich erstreckende mentale Entwicklungsvorgeschichte von größter Bedeutung. Diese aber lässt sich nicht topographisch ablesen; sie muss immer wieder geistig und seelisch prozessual, in stetem Diskurs, erarbeitet werden. Angesichts der Tatsache, dass Steine und Gelände, also die gigantomanische Architektur, kaum etwas oder nur verhältnismäßig wenig über das Wesen des Nationalsozialismus auszusagen vermögen – es gibt zudem gleichermaßen eine kapitalistisch-architektonische Gigantomanie – und der Tatsache, dass das Reichsparteitagsgelände ein Topos des wenn auch perversen Jubels war (und nicht eine Hinrichtungsstätte, wie etwa das römische Kolosseum, was zurückhaltende Pietät gegenüber Opfern abfordert), braucht man eine Misch-Nutzung nicht zu scheuen. Der ›SchattenOrt‹ ist ein Ort, an und in dem man die glorifizierte Hybris eines tausendjährig gedachten Reiches durch gegenläufige Praxis aufzuzeigen, aufzuheben vermag. Die Banalität des Bösen wird durch moderne Banalität destruiert; so ist etwa die teilweise Nutzung des Kongress-Torsos als Lagerhalle eine de facto geschichtliche Abrechnung: sic transit gloria mundi! Dass man in den Räumen vorrangig geschichtliche Aufklärungsarbeit leistet (Doku-Zentrum), hebt deren intendierte Nutzung – die Verhetzung der Menschen – auf: Aufheben im Sinne von Überwinden. Dass in den Räumen nun statt Unkultur (ästhetisierte Barbarei) musikalische und theatralische Kultur waltet, ist ebenfalls ein Aufheben: ein Servare im Sinne von Negare und Elevare. Und all die weiteren Nutzungen, im Besonderen Vergnügungen, zeigen lediglich: Die dem Staatsverbrechen dienende Architektur ist, ohne dass sie weiter abgerissen werden sollte, durch neue humane Lebendigkeit aus ihrer Erstarrung befreit. In einem Schreiben des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege vor vielen Jahren zu Fragen der Nutzung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg hieß es, dass die Bauten und Anlagen nicht nur ob ihrer Zugehörigkeit zum Stadtbild erhalten werden müssten, sondern auch in ihrem Originalzustand belassen werden
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sollten, welcher durch das Schicksal unzähliger Menschen symbolisch überhöht sei. Eine gewisse Nutzung sei möglich, soweit sie sich dieser Forderung unterordne, das heißt, ohne dass durch die Nutzung Zwänge entstünden, die dem Erhaltungsgedanken widersprächen, und solange keine Regelung für das Parteitagsgebäude gefunden werde. Obwohl ich persönlich dem Erhalt sinnloser, nur durch ihre Nichtigkeit gekennzeichneter Gebäude und Anlagen keinen besonderen Aufklärungswert beimesse, sehe ich auch keinen Nachteil, wenn man sie, die Orte geistiger Verödung und Verblödung, erhält und umnutzt und umgestaltet. Was nun die Gestaltung des gesamten Reichsparteitagsgeländes betrifft, so habe ich für die noch für Gestaltung offenen Bereiche einen einfachen Vorschlag, der entgegengesetzt zu dem wäre, was die Steinwüste bewirken sollte – nämlich ›tote Seelen‹ exerzieren zu lassen. Wo kreativ-kulturelles Leben unter Steinquadern erdrückt und begraben werden sollte, würde ich als Gegenorte zu den ›Schattenorten‹ Inseln mit mächtigen Baumgruppen anlegen; Wurzeln sprengen steinernen Monumentalismus; das Grauen weicht dem Grünen. Und dazwischen, der Struktur des Englischen Gartens angemutet, Erinnerungsorte einbauen (z.B. Pavillons und Säulen, vgl. Straße der Menschenrechte), insgesamt Erinnerungsorte und -male, die von Frauen und Männern berichten, die dem Bösen wann, wo und wie auch immer entgegentraten und es bekämpften. In einer architektonischen Wüstenei und Tristesse entstünden Gegen-Orte, die Topoi des humanen Widerstandes gegen Gewalt und Terror darstellten – die Trauer-, Erinnerungs-, aber auch Stolzarbeit der Besucherinnen und Besucher anregend. Es ist nicht so, wie Friedrich Schiller hoffte, dass das Gemeine klanglos in den Orkus hinabgehe; man sollte es aber auch nicht zu laut, zu einseitig tönen lassen. Topographisch gesprochen: Die ›Schattenorte‹ bedürfen der Gegenorte, die von der ›Mythologie‹ humaner Vernunft bewegt sind.
Theater und Gedächtnis P ETER W. M ARX
›Präsenz‹ – und selbst noch in der zurzeit so viel diskutierten Figur der ›Absenz‹ – ist das Zentrum unseres westlichen Denkens vom Theater. Die Zuspitzung der Gegenwärtigkeit im Begriff der ›Iterabilität‹, der Wiederholung, die eine uneinholbare Differenz markiert, führt zu einer Betonung der Einmaligkeit des Augenblicks, der zufolge Erinnerung kaum anders denn als Paradox zu denken ist. Folgerichtig kann man für das Wechselverhältnis von Theater und Gedächtnis/Erinnerung auf eine Reihe einschlägiger und prägender Arbeiten verweisen, die mit unterschiedlichen Akzenten, Methoden und Beispielen dieses weite Feld vermessen haben.1 Ich möchte im Folgenden – auch um dem Stand und Fokus der im Kontext des Projektwochenendes geführten Diskussion in Nürnberg treu zu bleiben – weder die verschiedenen Stränge dieser Diskussion nachzeichnen, noch diese mit Blick auf die Frage des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes als lieu de mémoire ›anwenden‹. Ich möchte vielmehr, in vier Schritten eine eingestandenermaßen kursorische Umschreitung des Themenfeldes versuchen – dabei immer den Blick auf den ›SchattenOrt‹ gerichtet und geprägt vom Unbehagen seines monumentalen Hineinragens in unsere Gegenwart. Das Theater dient mir dabei als Brennglas im doppelten Sinne: Zum einen als Kunstform, die sich mit Vergangenheit und ihrem ›Wiedererzählen‹ auseinandersetzt, zum anderen als Denkmodell, in dem sich unsere Vorstellungen von Raum und Zeit prismatisch brechen.
1
Siegmund 1996/ Rokem 2000/ Carlson 2001/ Kreuder 2002/ Marx 2003/ Bachmann 2010 (siehe weiterführende Literatur am Beitragsende).
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1.
Theater als Raum-Zeit-Kunst
Spätestens im 18. Jahrhundert etabliert sich mit Lessing eine Definition der Künste und des Theaters, die für das europäische Theater bis heute von zentraler Bedeutung ist: Lessing konstatiert nämlich, dass es sich beim Theater um eine Kunstform handle, die gleichzeitig in Raum und Zeit stattfindet. Mithin also um eine Kunstform die auf radikale Weise einen Zeit-Raum aufspannt, den ich im Folgenden als theatralen Raum bezeichnen möchte. Es ist das hic et nunc, das Hier und Jetzt der Bühne, das als zentrale Idee zunächst über jeder Reflexion von Theater und Erinnerung zu stehen hat. Für Lessing ist das Theater damit ein Amalgam aus der Dichtkunst, die sich in der Zeit, und der bildenden Kunst, die sich im Raum ausbreitet. Sein berühmtes Wort vom Theater als ›transitorischer Malerei‹ versucht diesen Widerspruch zusammenzudenken. Damit verbunden ist die Feststellung, dass Theater durch die Simultanität von Produktion und Rezeption geprägt ist, d.h., dass das Publikum anwesend ist, während die Schauspieler auf der Bühne agieren. Diese vermeintliche Banalität aber hat weitreichende kulturelle Folgen, denn dadurch ist gleichzeitig festgelegt, dass Theater jene Kunstform ist, die immer auch eine spezifische Form von Öffentlichkeit herstellt. Wenn Erika Fischer-Lichte festhält, dass Theater ein Ort gesellschaftlicher Selbstreflexion sei, dann hat das zunächst einmal mit dieser semiotischen Tatsache zu tun: der Simultanität von Produktion und Rezeption. Insofern erscheint es hochgradig angemessen, Theater als Medium oder als potentielles Medium kultureller Erinnerung zu verstehen. Denn seine ästhetische Struktur verweist immer auf Raum und Zeit und seine kulturelle Daseinsweise lässt es immer bereits zu einem Ort kultureller Reflexion und Imagination werden. Diese Prädestination des Theaters als Ort gesellschaftlicher Reflexion kann auf unterschiedliche Weisen akzentuiert werden: So zielt die Praxis der site-specific-performances nicht nur darauf, sich in abstrakter Weise in die Gegenwart des Publikums einzuschreiben, sondern nimmt die besondere Bedeutung des spezifischen Ortes, an dem die Aufführung stattfindet, in den Blick. Der Ort wird nicht nur als zu vernachlässigende materielle Bedingtheit verstanden, sondern wird zum Motor, zur Inspirationsquelle oder gar zum Mitspieler der Szene. Ist aber denn auch das Gegenteil möglich? Ein Ausblenden des physischen Ortes und seiner historischen Dimension? Oder gar eine
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Praxis, die so wirkmächtig sein könnte, dass sie den Ort und seine Schatten vertreibt und ihn von diesen so reinigt, dass er auf die Ebene des ›Banalen der Steine‹ sinken kann?2 Die Initiatoren dieser Tagung haben eine bewusst vieldeutige Spur gelegt, wenn sie im Untertitel nach der »profanen Nutzung der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände« fragen. Das Wort von der »profanen Nutzung« verweist dabei in negativer Dialektik auf eine vorhergehende ›sakrale‹ Nutzung. Auch wenn die religiösen Vokabeln sicherlich nur metaphorisch zu verstehen sind, so artikuliert sich hier doch ein Bewusstsein für die unheimliche und unbeherrschbare Präsenz der historischen Dimension. – So scheint es ein kaum lösbares Dilemma, ob sich denn eine Unbefangenheit einstellen könne, in der das hic et nunc des theatralen Raums tatsächlich das Hier des physischen Raumes und seiner historischen Dimension ausblenden könnte. Und ob eine solche Unbefangenheit nicht selbst unheimlich sein müsste, weil sie letztlich auf blinder Verdrängung beruhen müsste, um wirksam werden zu können. 2.
Gespenster der Bühne
»Has this thing appeared again tonight?« So fragen die Wächter im ersten Akt von Shakespeares Hamlet einander und beziehen sich damit auf die wiederholte Erscheinung des Geists von Hamlets Vater. Bekanntermaßen ist die Erscheinung des Geistes eine hoch komplexe Gestalt, die zu unterschiedlichsten Reflexionen in verschiedensten Perspektiven Anlass gibt. Sie scheint aber für unsere Frage insofern von besonderer Prägnanz zu sein, als man sie auch als eine Stellungnahme zu einer ganz virulenten zentralen Frage lesen kann. Wenn Theater geprägt ist durch die theatralen Ordnungen des hic et nunc, dann muss zwangsläufig gefragt werden: Was passiert denn, wenn die Geschichte auf die Bühne kommt? Und was macht die Geschichte auf der Bühne mit dem Theater? Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi hat in seiner Theorie des modernen Dramas (1956) versucht, diese Frage als ein Krisenmoment des dramatischen Theaters zu begreifen. Szondi argumentiert, dass es überhaupt keine Geschichte auf der Bühne geben könne, weil der Luther auf der Bühne das Publikum in jeder Sekunde daran erinnert, dass
2
Vgl. dazu den Text von Hermann Glaser in diesem Buch.
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es nicht der echte Luther ist. Und damit sei die zentrale Voraussetzung des dramatischen Theaters, nämlich die Fiktion des Hier und Jetzt, bereits im Kern zerstört. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die jüngere Theatergeschichte der letzten 30 Jahre, dass die Beschäftigung von Theater mit dem Verhältnis von Erinnerung und Geschichte immer dort am produktivsten war, wo sie genau diese Fiktion des hic et nunc aufzugeben versucht hat und wo es sich nicht darum bemüht hat, einen geschlossenen narrativen Rahmen zu bilden, sondern die zeitliche Differenz geradezu heraufbeschworen hat, sozusagen das Gespenst aus der Kiste geholt hat, und die zeitliche Differenz so zum ästhetischen Reflexionsobjekt des Publikums wurde. Ich erinnere hier etwa an die Theaterarbeiten von George Tabori, der vielleicht wie kein anderer Dramatiker und Regisseur um eine Form gerungen hat, die Ereignisse des Nationalsozialismus auf die Bühne zu bringen und immer wieder zurückgekehrt ist zu Formen, die das Theater als Spiel im Spiel oder als therapeutisches Spiel selbst mit fokussieren. Was sicherlich auch ein Teil einer Erkenntnis ist oder Teil einer Erkenntnis war, dass das ungeförderte Spiel eigentlich dem Theater als Erinnerungsmedium nicht zugänglich ist. So wird der Prozess des Erinnerns sowie die Konstruiertheit der Erinnerung zum dramaturgisch-theatralen Movens und der Zuschauer ist nicht nur Voyeur des historischen Augenblicks, sondern wird zum Zeitgenossen seiner Gegenwart, die sich auf die beschwerliche Suche nach der Vergangenheit macht. Im Kontext der Erinnerung der NS-Geschichte müssen wir hinsichtlich der Erinnerungskapazität des Theaters aber auch eine radikale Krise konstatieren. Denn das traditionelle psychologische Theater und die von ihm hervorgebrachten Schauspielkategorien, in denen Schauspieler und Rolle untrennbar verschmelzen sollen, müssen bei der Darstellung historischer Figuren in eine Krise geraten. Die vielfältigen, mitunter sehr unterhaltsamen Satiren über Bruno Ganz als Hitler in dem Film DER UNTERGANG (Hirschbiegel 2004) manifestieren ganz klar diese Krise. Wonach beurteilen wir eine solche Darstellung? Ist es eine grandiose Hitlerdarstellung? Besser als der Führer selbst? Oder so nah, wie uns der Führer niemals gekommen ist? Hier gerät die ästhetische Darstellung in einen ethischen und politischen Konflikt. Und insofern ist die erste Schlussfolgerung zum Abschluss meines zweiten Punktes: Der Umgang mit Gespenstern ist schwieriger als wir ihn uns gedacht haben und es bedarf einer radikalen Neuerfindung unserer äs-
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thetischen und künstlerischen Vorstellungen von dem, was Theater leisten kann. 3.
Erinnerung im Umbruch
Diese Krise ist aber keineswegs nur eine künstlerische Krise, die auf das Theater beschränkt ist, sondern steht, wenn auch nicht in einem unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Verhältnis, so doch in einem Verweisungszusammenhang zu einem sehr viel weitreichenderen Phänomen: Wir leben in einem historischen Moment, in dem die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus notwendigerweise und vollkommen unabhängig von jeder Programmatik und Vorstellung in ein neues Stadium treten muss. Durch das Altern und Sterben der Zeitzeugen verändert sich auch die Frage von Überlieferung und Erfahrbarkeit von Geschichte. Jan Assmann beschreibt dies als den Übergang vom kommunikativen Gedächtnis, d.h. von der unmittelbaren Überlieferung der Zeitzeugen, zum kulturellen Gedächtnis. Das ist ein Transformationsprozess, der auch mit technischen Mitteln nicht aufzuhalten ist. Das große von Steven Spielberg im Nachgang zu seinem Erfolg mit SCHINDLER’S LIST (Spielberg 1993) initiierte Projekt der Survivors of the Shoah Visual History Foundation, möglichst viele Zeitzeugen ihre Erlebnisse auf Videofilmen zu dokumentieren, ist aus historiographischer Perspektive sicherlich wichtig und verdienstvoll, wir dürfen uns aber durch die mediale Präsenz nicht von der Erkenntnis ablenken lassen, dass wir uns einem Zeitpunkt nähern, an dem wir keine Zeitzeugen mehr fragen können. Eine wachsame und lebendige Überlieferung wird sich dabei nicht auf die technische Archivierung verlassen können, sondern muss andere Wege suchen, um im Bewusstsein zu bleiben. Der Zusammenhang dieses Projekts mit SCHINDLER’S LIST ist alles andere als zufällig, denn dieser Film markiert einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, weil hier ein geschlossenes Narrativ über den Holocaust, das in den USA produziert worden ist, mit seltener Wirkungsmacht auf die deutsche Diskussion traf. In der langfristigen Perspektive wird vermutlich deutlich werden, dass SCHINDLER’S LIST als Epochalereignis sogar einflussreicher war als die Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust Ende der 1970er Jahre, die eine erste Welle der Auseinandersetzung eingeleitet hat. Nicht zuletzt die positive Reaktion etwa der Kultusministerkonferenz, die
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den Film als geeignet für den Unterricht empfahlen, zeigt, dass mit SCHINDLER’S LIST der Übergang des kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis einen weiteren Schritt vollzogen hat. Der Vergleich mit SCHINDLER’S LIST lässt auch eine entscheidende Mediendifferenz deutlicher hervortreten, die für die Position von Theater als Medium kultureller Erinnerung von besonderer Bedeutung sein muss. Betrachtet man nämlich die Möglichkeiten geschlossener Narrative (bspw. durch Rückblenden oder Zeitsprünge) sowie komplexer Bildwelten, in denen sich Narrative und kollektive Bilder mischen, so wird schnell deutlich, dass der Film hier der Bühne in seinen technischen Möglichkeiten überlegen ist. Man kann dies sicherlich in unterschiedlichen Spielarten entwickeln, man denke nur an so unterschiedliche Filme wie LA VITA È BELLA (Benigni 1997), TRAIN DE VIE (Mihaileanu 1998) oder THE PIANIST (Polanski 2002), aber es wird deutlich, dass das Erzählen historischer Stoffe sich doch sehr nachdrücklich von den Formen und Möglichkeiten des Theaters unterscheidet. So tut das Theater gut daran, überhaupt nicht zu versuchen, als kurzfüßiger Hase mit diesem Igel in ein Wettrennen zu treten. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass die vermeintliche ›Schwäche‹ (obwohl solche Maßstäbe an sich schon unangemessen sind) doch in eine Stärke wandelt, denn das Theater ist wie kaum ein/e andere/s Kunstform/Medium in der Lage, diesen Umbruch der Erinnerung auch ästhetisch zu reflektieren: Wenn ich vorhin George Tabori erwähnt habe, so könnte man Tadeusz Kantor als zweiten großen Protagonisten eines modernen Erinnerungstheaters erwähnen. Stärker noch als bei Tabori kreist Kantors Theater des Todes um das Ringen einer persönlichen Erinnerung, die (mindestens) gleichberechtigt neben den grand récit der Geschichte tritt. So wird Familiengeschichte zum Vergrößerungsglas historischer Erfahrung, die sich allzu leicht in der Abstraktion ›großer historischer Zusammenhänge‹ verflüchtigt. In dieser Zuspitzung auf das individuelle Erleben – bei Kantor durch seine Anwesenheit auf der Bühne auch für das Publikum immer sichtbar – wird das szenische Geschehen vollends zum Erinnerungsprozess. Allerdings hat diese enge Verwindung zwischen dem erinnernden Subjekt und der Bühne dazu geführt, dass auch die Zeit dieser Theaterform mit der Lebenszeit der Künstler zusammenfiel: So scheint es fast nur folgerichtig, dass das Kantor-Theater fast gänzlich verschwunden ist und dass auch George Tabori als Dramatiker nicht mehr die Position innehat,
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die er in den 1980er und 1990er Jahren noch hatte. Diese biographischen Theaterformen waren durch die Biographie ihrer Urheber autorisiert: Taboris Witze, von ihm selbst erzählt, sind eine Provokation. Taboris Witze, nicht von ihm selbst erzählt, sondern von einem Schauspieler, könnten latent schwierig sein. Wobei diese Ambivalenz, diese Doppelbödigkeit, wegfällt. Dramaturgisch und ästhetisch blieb hier der Bruch von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis noch in der Schwebe. 4.
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So folgt aus dem generationellen Wechsel auch eine verstärkte Suche nach neuen Formen der künstlerischen Überformung und Abstraktion von Geschichte: Neue Ästhetiken im Kontext von Erinnerung und Geschichte fokussieren sich weniger auf die sprachliche Vermittlung. Das Theater als moralische Anstalt tritt hier in den Hintergrund zugunsten von Theaterformen, die mehr auf die sinnliche Erfahrung von Raum und Zeit setzen und versuchen gewissermaßen als ästhetischer Resonanzraum zu fungieren. Erlauben Sie mir das, was ich versuche hier anzudeuten, mit einem Beispiel jenseits des Theaters zu illustrieren. Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Tagung nochmals auf den Weg gemacht zu dem Stelenfeld in Berlin, neben dem Brandenburger Tor, zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas (2005). Das ist ja ein lange diskutierter, abstrakter Mahnmalsentwurf, der in seinem Kern genau darauf hin konzipiert war, eine ästhetische Erfahrung freizusetzen, die gerade nicht sprachlich-didaktisch überformt wird, sondern den Einzelnen in einer konkreten leiblichen Raum-Zeit-Erfahrung auf einer allgemeineren Ebene zu einer Auseinandersetzung mit der Shoa verleiten will. Ironischerweise konnte der Deutsche Bundestag dem Konzept erst zustimmen, als sichergestellt war, dass es auch ein Informationszentrum gibt – nicht dass irgendjemand denkt, es sei ein Mahnmal für deutsche Betonlust. Tatsächlich aber ist das Stelenfeld ein eigentümlicher, ja eindrücklicher Ort, denn er ist und bleibt – Informationszentrum hin oder her – ein Ort individueller Erfahrung: Man beobachtet hindurchlaufende Kinder ebenso wie ganz bewusst trauernde oder nachdenkliche Menschen, die wie Suchende durch dieses Feld laufen. Mir scheint das ein durchaus gelungenes und typisches Beispiel dafür zu sein, wie dieser Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis nicht al-
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lein durch sprachliche Vermittlung und durch eine Sicherstellung des Informationsflusses geleistet werden kann, sondern tatsächlich auch mit Hilfe künstlerischer Erfahrung ermöglicht wird. Das eigentliche Ziel meines Ausflugs aber war nicht das Stelenfeld, sondern das 2008 eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, welches sich ein paar Meter weiter im Tiergarten befindet. Dabei handelt es sich um einen Betonquader, der aus demselben Material ist wie die Stelen im Stelenfeld. Es gibt eine kleine Öffnung, durch die man auf einen Monitor schaut, auf dem man zwei sich küssende Männer sieht. Dieser Moment wird in einer Endlosschleife präsentiert, d.h. man kann ihnen stundenlang zuschauen, ohne dass die Schleife sichtbar wird. Meine persönliche Erfahrung des Mahnmals unterscheidet sich deutlich von der des Stelenfelds: Dort, wo das Stelenfeld Offenheit und ästhetische Provokation erzeugt, versetzt das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen den Betrachter in eine voyeuristische Position: Zunächst einmal ist die Konkretheit des Films störend, nicht zuletzt weil – mit guten historischen Gründen, die auf der Tafel erklärt werden – lediglich männliche Homosexualität thematisiert wird. Auch wenn es historisch richtig ist, dass vornehmlich Schwule Opfer der NS-Politik wurden, so irritiert die so überdeutliche Unsichtbarkeit weiblicher Homosexueller. Und auch die Konkretion des Bildes ist eine Verstörung, die eben gerade keine Reflexionshorizonte öffnet, sondern diese vielmehr bebildert. Hinzu kommt die voyeuristische Konstruktion der Anlage, weil man durch ein kleines Fenster in einen dunklen Raum schaut, so als sei es gar nicht vorgesehen, dass man das Video sieht. So wird der Betrachter wieder zum Zuschauer, dem eine feste und passive Position zugewiesen wird. Die Irritation über dieses Mahnmal, seine Konkretheit und seine Symbolsprache ist – und auch dies wäre in einem weiteren Schritt historisierend und kritisch zu reflektieren – geprägt von jenem legendären Verdikt Adornos, dass es nach Auschwitz keine Gedichte mehr geben könne. Die Bedeutung dieses Diktums als Stimulus für eine Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen kann kaum überschätzt werden. Gerade auf der Bühne finden sich eine Fülle von Versuchen, neue Wege zu beschreiten, weil die gewohnte Logik psychologischrealistischer Darstellung auf so vielen Ebenen verdächtig geworden war.
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehen sich die Künste dieser Aufgabe aufs Neue gegenüber: Dabei spielen sowohl der erwähnte Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis eine Rolle als auch die Verschiebung des Mediengefüges. Zwischen Bilderflut der audiovisuellen Medien und einer umfassenden didaktischen Aufarbeitung der NS-Zeit entspannt sich der Raum, in dem das Theater seinen Platz und auch sein Publikum finden muss. Damit es dabei aber nicht in die Leere erstarrter Rituale fällt, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Platz des Theaters immer der gegenüber seinem Publikum ist: Auf dessen Gegenwart, im körperlichen wie historischen Sinne, muss die Suche zielen, wenn das Theater die Darstellung von Geschichte als Movens nicht verlieren will. Literatur zur weiteren Lektüre Bachmann, Michael: Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah, Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Nr. 42, Tübingen 2010. Carlson, Marvin: The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, 2001, Ann Arbor: The University of Michigan Press 2003. Kreuder, Friedemann: Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers, Berlin 2002. Marx, Peter W.: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi, Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Nr. 27, Tübingen 2003. Rokem, Freddie: Performing History. Theatrical Representations of the Past in Contemporary Theatre. Studies in Theatre History and Culture, Iowa City 2000. Siegmund, Gerald: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Forum Modernes Theater, Nr. 20, Tübingen 1996.
Das Reichsparteitagsgelände im Schulgeschichtsbuch F ALK P INGEL
Abbildungen von den Aufmärschen der Parteiformationen in Nürnberg finden sich vermehrt seit Mitte der 1960er Jahre in bundesdeutschen Schulgeschichtsbüchern. Vor diesem Datum nutzten die Verlage Bildquellen aus finanziellen Gründen selten, entsprechend war auch die Didaktik des Geschichtsunterrichts auf den schriftlichen Text abgestellt. Bildsammlungen, Plakate und Filme wurden damals über die hierfür eingerichteten ›Landesbildstellen‹ entliehen, was aber selten vorkam; das wichtigste Unterrichtsmedium, insbesondere für das Memorieren und die Hausaufgaben, stellte das Schulbuch dar, auf dessen Analyse ich mich hier beschränke. Abbildungen des Parteitagsgeländes konnte ich in Schulbüchern der 1950er Jahre nicht finden, doch gibt es Illustrationen, die in ihrer Aussage der Quintessenz der Parteitagsdarstellungen in späteren Lehrwerken nahekommen. So zeigt ein innovatives, für diese Zeit relativ reichhaltig bebildertes Lehrwerk für die Sekundarstufe I zwei Fotos von Sportveranstaltungen, und zwar einen Boxwettkampf (ohne Datum und Ort zu spezifizieren) und das olympische Schwimmstadion 1936; bei beiden Abbildungen steht die Architektur (der Boxring bzw. das Stadion) im Mittelpunkt und die Massen der Zuschauer gruppieren sich wie geordnet um diesen Mittelpunkt herum. Die Disziplinierung der Massen ist hier als Motiv einer Großveranstaltung schon ablesbar, wenn auch der Rahmen völlig zivil bleibt und der militärische Charakter, der die Aufmärsche uniformierter Verbände auf den Parteitagen prägte, noch nicht hervortritt.1 1
Vgl. Tenbrock, R. H. (Hg.): Geschichtliches Unterrichtswerk. Ausgabe B. Europa weitet sich zur Welt. Europa in der Krise, Paderborn 1952, S. 109.
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Zwar machen die Autoren den Verlagen bzw. den Redaktionen Vorschläge zum Bildeinsatz, doch entscheiden in der Regel letztere über Anzahl und Auswahl der Abbildungen, da diese Kosten verursachen und eine intensive Nutzung von Bildmedien leicht den angestrebten Umfang eines Lehrwerkes sprengen könnte. Das Reservoir an Bildern, die sich zu den Reichsparteitagen in den Schulgeschichtsbüchern finden, hat sich im Wesentlichen bereits in den 1960er und 1970er Jahren herausgebildet und zeigt wenig Varianz. Es erweist sich weder als umfang- noch als abwechslungsreich, lässt aber dennoch unterschiedliche Interpretationen zu, die jedoch im Wesentlichen vom Kontext abhängen, in den die Bilder eingefügt werden. Ich beginne mit einem Rückblick auf Geschichtsbücher aus den 1970er Jahren, die von didaktischen Innovationen geprägt waren und weitgehend schon das Bildmaterial vorstellen, das mit wenigen Variationen auch in den Folgejahren von Schulbuchautoren und Verlagen benutzt werden sollte, wie dann eine Reihe von Beispielen aus Schulbüchern zeigen wird, die seit 2006 erschienen sind und damit gegenwärtige didaktische Trends widerspiegeln. Bei der Auswahl der Beispiele konnte ich mit wenigen Ausnahmen auf Lehrwerke zurückgreifen, die aus wichtigen Schulbuchverlagen stammen und Verbreitung in mehreren Bundesländern unterschiedlicher Regionen und politischer Ausrichtung gefunden haben. Um die Aktualität und Verbreitung dieses Reservoirs an Parteitagsabbildungen systematischer zu prüfen, habe ich noch wichtige gegenwärtig (ab 2006) zugelassene Schulbuchreihen mit Relevanz für die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Sachsen untersucht. Eine Durchsicht der Schulgeschichtsbuchreihen der DDR verlief negativ: Nur der zuletzt im Jahr der Grenzöffnung veröffentlichte Band für die Klasse 9 zeigt ein auch in westdeutschen Büchern mehrfach verwende-
In einem Buch von 1956 fand ich das erste Foto mit Bezug auf den Reichsparteitag, das sich von heute aus gesehen nur noch ironisch lesen lässt, aber sicherlich nicht so gemeint war. Es zeigt – im Kapitel »Hitlers Außenpolitik« – eine Reihe »ausländischer Militärattachés beim Nürnberger Parteitag«, angetreten anlässlich einer Zeremonie in der Nürnberger Innenstadt; vgl. dazu: Pinnow, Hermann et al. (Hg.): Kletts Geschichtliches Unterrichtswerk für die Mittelklassen. Ausgabe B. Um Volksstaat und Völkergemeinschaft, Stuttgart 1956, S. 168; wieder abgedruckt in der Ausg. 1959.
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tes Foto vom Reichsparteitag 1936, hier allerdings im Kleinstformat, ansonsten finden weder die Monumentalarchitektur noch die Massenaufmärsche der Parteitage einen Niederschlag.2 Momentan in deutschen Schulen benutzte Geschichtsbücher für die Sekundarstufe I stellen den Nationalsozialismus in eigenen Kapiteln ausführlich dar. Je nach Bundesland behandeln sie das Thema in den Ausgaben für die Klassen acht bis zehn. Sie gehen auf die NSDAP als eines der zentralen Instrumente der Machtausübung und der Beeinflussung der Massen ein. In diesem Zusammenhang erwähnen sie häufig die Parteitage. Dabei stehen weniger die politischen Ziele einzelner Parteitage (etwa die ›Rassengesetzgebung‹ am Nürnberger Parteitag 1935), als vielmehr deren zeremonielle Aufmachung im Vordergrund.3 Parteitagsgelände und die Veranstaltung selbst werden in unterschiedlichen inhaltlichen Zusammenhängen thematisiert, doch häufig sind die Bilder in Abschnitte eingeordnet, die der Propagandapolitik gewidmet sind. Didaktisches Ziel ist überwiegend, den Schülern die Bedeutung der Veranstaltungen und die Gestaltungsprinzipien des Geländes, auf dem sie stattfanden, für die Propagierung nationalsozialistischer Politik und die Einbindung der Massen bewusst zu machen. Neben der Beschreibung wesentlicher Elemente der Parteitage im Text nutzen die Autoren Fotografien, um die Ikonographie nationalsozialistischer Massenaufmärsche zu verdeutlichen und zu erklären. Diese Befunde, obwohl aus deutschen Schulbüchern gewonnen, treffen auch auf Geschichtsbücher anderer europäischer Länder zu, auch wenn diese seltener als deutsche Bücher mittels Abbildungen auf die Parteitage eingehen. Ich werde später einige Beispiele aus englischen und französischen Geschichtsbüchern präsentieren, ohne den Gesamtbestand von Geschichtswerken dieser Länder jedoch systematisch untersucht zu haben. Die Abschnitte, die auf die Parteitage eingehen, bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Kapitel, in dem der Nationalsozialismus behandelt wird. In der Regel nehmen sie in den Büchern für die Sekundarstufe I allenfalls ein bis zwei Seiten ein, während die dazugehö-
2
Vgl. Bleyer, Wolfgang: Geschichte. Lehrbuch für die Klasse 9, Berlin (Ost) 1989, S. 109.
3
Einen Einblick in Funktion, Ablauf und Organisation der Parteitage bietet Siegfried Zelnhefer, in: Die Reichsparteitage der NSDAP, Museen der Stadt Nürnberg (Hg.), Nürnberg 1991.
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rigen Kapitel ca. 30 bis 50 Seiten lang sein können. Die Länderlehrpläne für die Sekundarstufe I sehen – je nach Schulart und Klassenstufe – für die Behandlung des Nationalsozialismus ca. 20 Geschichtsstunden vor. Wegen des in den meisten Bundesländern thematisch angelegten Kurssystems in der Oberstufe ist hier die Behandlung des Nationalsozialismus nicht immer obligatorisch, doch berücksichtigen alle chronologisch angelegten Geschichtslehrwerke für die Oberstufe den Nationalsozialismus in umfangreichen Abschnitten. Ob und in wie weit die Lehrer den Intentionen der Autoren folgen und in ihrem Unterricht an Hand der Schulbücher tatsächlich auf die Parteitage eingehen, lässt sich allerdings nicht sagen, da hierzu keine Beobachtungen vorliegen.4 I. ›Geometrisch angeordnete Menschenmassen‹ und die Macht der Architektur Springen wir also zurück in die 1970er Jahre. Ich beginne mit einer typischen Abbildung, die sich in einem weit verbreiteten und über Jahrzehnte immer wieder aufgelegten und aktualisierten Geschichtsbuch für die Hauptschule findet:
4
Zu empirischen Untersuchungen über den Unterricht zum Nationalsozialismus siehe Meseth, Wolfgang (Hg.): Schule und Nationalsozialismus: Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt a. M. 2004; Hollstein, Oliver: Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation, Frankfurt a. M. 2002.
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Abbildung 1: Aufmarsch Luitpoldarena
Quelle: Heumann, Hans (Hg.): Geschichte für morgen, Bd. 4: Zeitgeschichte, Frankfurt a. M. 1980, S. 68.
Die militärisch ausgerichteten und meist auch uniformierten Massen machen das Bild aus, das allerdings weitere Zentren hat, die den Blick auf sich ziehen. Im Vordergrund sind dies NS-Führer, die zur Totenehrung angetreten sind; die zentrale Blickachse führt von ihnen aus auf die Tribüne der Luitpoldarena mit drei überdimensionalen, vertikal ausgerichteten Hakenkreuzfahnen im Hintergrund. Der militärische Charakter der Zeremonie, die auf die Massen ausgeübte disziplinarische Gewalt, die sich in der Ästhetik der Fotografie widerspiegelt, werden dadurch unterstrichen, dass die untere Hälfte dieser Schulbuchseite ein weiteres Foto einnimmt, das die Legende trägt »Hitler nimmt 1939 vor der Reichskanzlei die Parade seiner Leibstandarte ab«. Der Text stellt die Aufgaben der SS als einer der wichtigsten Machtapparate im NS-Staat dar. Die Eindeutigkeit der bildlichen und textlichen Darstellung lässt kaum Freiraum für Interpretationen, was typisch für Hauptschulbücher dieser Zeit ist, während Gymnasialbücher schon größere Offenheit zeigen können, doch dies durchaus nicht immer tun. Ein Oberstufenbuch aus dem Jahre 2003, das auch mit einem Bild von der Totenehrung arbeitet, gibt ebenfalls eine Interpreta-
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tion vor, die keinen Raum für individuelle Reaktionen – weder der damaligen Zeitgenossen des Ereignisses noch der heutigen Schüler, die darüber reflektieren – offen lässt: »Das Bild von der Totenehrung auf dem Nürnberger Reichsparteitag (1934) vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der Inszenierung der Macht: Menschenmassen, zu monolithischen Blöcken gegossen, geometrisch angeordnet, bilden ein Spalier für den Führer. Das Volk erscheint – im doppelten 5
Wortsinn – uniformiert.«
Die damaligen Autoren sprechen offener, als dies heute in der Regel geschieht, Bewertungen aus, und zeigen aber zugleich, selbst wenn sie die propagandistische Massenbeeinflussung ablehnen, die aus der Abbildung spricht, auch weniger Distanz, als unterlägen sie selbst der Faszination des Bildes, das doch der Aufklärung dienen soll. So lautet die Bildunterschrift eines Fotos vom »Reichsparteitag 1935« in einem Schulbuch für die Oberstufe: »Schon beherrscht die uniformierte Masse das Bild und die Exaktheit der grandiosen Aufmärsche symbolisiert 6 erschreckend die Willenlosigkeit des einzelnen.« Der Text schaut nicht hinter die Kulissen, sondern bestärkt den Eindruck, den die Kulisse hervorruft. Er berichtet nicht vom Drill, mit dem die Exaktheit eingeübt wurde, nicht von undisziplinierten Saufereien in der Nürnberger Innenstadt, die dem Aufmarsch folgten oder vorausgingen. Nach Reaktionsmöglichkeiten des Einzelnen wird nicht gefragt, son-
5
Bahr, Frank et al. (Bearb.): Horizonte. Von der Amerikanischen Revolution bis zum Nationalsozialismus, Braunschweig 2003, S. 262-263; die hessische Landesausgabe des gleichen Bandes aus dem Jahre 2010 druckt das Bild mit derselben Aussage wieder ab (Ebd.: Horizonte. Von der Französischen Revolution bis zum Nationalsozialismus, Braunschweig 2010, S. 310-311).
6
Hilgenberg, Heribert et al. (Hg.): Unsere Geschichte Unsere Welt, Bd. 3: Von Napoleon III. bis zur Gegenwart, München 1964, S. 149 (ebenso noch in der Aufl. von 1969). Ähnlich z.B. wieder in: Geschichte und Geschehen, Sachsen, Sekundarstufe I, Bd. 5, Daniela Bender/Ludwig Bernlochner/Jörg Echterkamp (Hg.), Stuttgart 2007, S. 109.
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dern konstatiert, dass man nicht anders hat reagieren können, als der 7 Faszination der Gemeinsamkeit zu unterliegen. Dieser Befund steht im Einklang mit der für deutsche Geschichtsschulbücher der 1950er und 1960er Jahre noch vorherrschenden Gesamtinterpretation des Nationalsozialismus. Aus Zuschauern werden noch nicht Mittäter, sie sind Verführte, denen der eigene Wille – und damit auch das eigene Verantwortungsbewusstsein – abhanden gekommen ist. Dabei wird die Propagandazeremonie ihres speziellen Inhaltes beraubt. Der Text geht nicht auf die antijüdische Gesetzgebung des gezeigten Parteitages ein, sondern berichtet vom »Sinken der Arbeitslosigkeit« im NS-Staat und einer von Propaganda begleiteten erfolgreichen »Arbeitsschlacht«. Ein anderes, lange weit verbreitetes Lehrwerk ordnet einem Foto, das einen Ausschnitt von der »Fahnenweihe auf dem Reichsparteitag in Nürnberg« zeigt (ohne ein Datum anzugeben, als glichen sich alle Parteitage), eine Reihe von Hitlerzitaten zu, von denen keines erkennbar auf dem abgebildeten Parteitag gesprochen wurde. In späteren Auflagen ist unter in dem Abschnitt »Die politische Schulung des Volkes« noch eine Abbildung »HJ auf dem Parteitag: ,Siegheil! Siegheil! Siegheil!‘« eingefügt (wiederum ohne einen bestimmten Parteitag zu identifizieren), die fast nur aus der Reihung der zum Hitlergruß ausgestreckten Armen der »begeisterten 8 Jugend« besteht. Diesem überzeugenden Eindruck von Einheit, Ge-
7
Vgl. Ogan, Bernd/Weiß, Wolfgang W.: Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus, Nürnberg 1992.
8
Ebeling, Hans (Hg.): Die Reise in die Vergangenheit, Bd. IV: Unser Zeitalter der Revolutionen und Weltkriege, Braunschweig 1966, S. 220 und Aufl. 1972, S. 214 und 220. Auf S. 215, die der Seite mit dem Bild der Hitlerjugend folgt, steht ein kontrastierendes Foto »Und so endete die Begeisterung [...]«, das gefangen genommene Hitlerjungen zeigt. In der wesentlich neu bearbeiteten Auflage von 1973 fehlen die Abbildungen vom Parteitag. Stattdessen werden in dem Abschnitt »Die Deutschen und ihr ‚Führer‘« vier Bilder zur Beeinflussung der Jugend gezeigt, die variationsreicher in ihrer Aussage sind: der »Aufmarsch des ‚Deutschen Jungvolkes‘ mit Trommeln und Fanfaren«, der »Aufmarsch des ‚Bundes deutscher Mädel‘«, eine »Geländeübung der Hitlerjugend« sowie – wiederum kontrastierend – das Bild mit den gefangen genommenen Hitlerjungen. Diese Zusammenstellung markiert die Wende zu einem vielfältigeren Bildeinsatz und der Ablösung einfacher Erklärungsmodelle (Ebeling, Hans/Birkenfeld,
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schlossenheit und Wirkungsmacht, den das äußere Bild vermittelt, können sich bis heute zuweilen auch Wissenschaftler nicht entziehen, selbst wenn ihre Analyse von Planung und Ablauf der Parteitage eher 9 Widersprüche, Zufälligkeiten und Konkurrenzen aufdeckt. Das Bild gewinnt gegenüber dem Text noch keine selbstständige Funktion. Es bleibt im Wesentlichen Illustration und dem Text untergeordnet. Ein Wandel deutet sich mit Neuerscheinungen seit den 1980er Jahren an. Eine illustrierte Doppelseite, auf der architektonische Gestaltung, Technisierung und Disziplinierung zu einem Symbol von Modernisierung und Aufbruch zusammenwachsen, wie sie ein 1978 neu erschienenes Buch zeigt, bildete damals noch die Ausnahme, weist aber auf zukünftige Entwicklungen hin:
Abbildung 2: Bildertafeln
Quelle: Seiler, Alois: Geschichte unserer Zeit. Berichte, Dokumente, Bilder. 1917 – Gegenwart, München 1978, Bildtafel 14 u. 15, (ohne Seitenangabe).
Wolfgang (Hg.): Die Reise in die Vergangenheit. Ein geschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 4: Geschichte und Politik in unserer Zeit, Braunschweig 1973, S. 134-135; so auch in der Auflage von 1981, die bis Ende der 1980er Jahre nachgedruckt wurde). 9
Der von Urban für seine Arbeit gewählte Titelbegriff »Konsensfabrik« entspricht kaum dem Ergebnis seiner eigenen Analyse; siehe Urban, Markus: Die Konsensfabrik: Funktion und Wahrnehmung der NS-Reichsparteitage 1933-1941, Göttingen 2007.
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Diese Doppelseite entstammt einem Buch, in dem Abbildungen gleichberechtigt neben schriftlichen »Texten« und »Dokumenten« stehen; schon damit ist das Büchlein innovativ.10 Neben die regelmäßige Reihung der Fabrikhallen des neu erbauten, noch zivilen Auto-Werkes in der ›Stadt des KdF-Wagens‹ sind Panzerreihen gestellt, die sich auf dem Parteitagsgelände formieren. Darunter sind ebenso großformatige Fotos einer Reichsautobahn zu sehen, die eine Voralpenlandschaft durchschneidet sowie das vollbesetzte Olympiastadium. Die Bildlegende stellt eine offene Frage: Handelt es sich hier um einen »friedlichen Aufstieg« oder um »Hebung der Rüstungskraft«? Ist die Autobahn »ein Werk friedlicher Gesinnung« oder »der Aufrüstung«? Leider sahen sich die Autoren nicht in der Lage (oder hatten kein Interesse daran), neben der dem Zeitgeist entsprechenden architektonischen Gestaltung des Fabrikgebäudes auch auf dessen epochenübergreifende Funktionalität hinzuweisen, denn diese Anlage bildet – äußerlich weitgehend unverändert – immer noch das Rückgrat der Volkswagenproduktion im heutigen Wolfsburg. Die Schüler können bereits vom Umschlagbild ablesen, dass dieses Buch historisch bedingter Formgebung, in der sich inhaltliche Botschaften ausdrücken, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Denn die Umschlagseite zeigt die unterschiedlichen Gestaltungen des Reichsbzw. Bundesadlers als Wappenzeichen vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Nationalsozialismus bis zur Bundesrepublik und versinnbildlicht so Konstanz in der Varianz. Schulbuchverlage scheinen ein Faible für Architektur als Ausdruck von Zeitgeist zu haben, denn auf der Titelseite vieler Geschichtsbücher prangen architektonische Meisterwerke. Ein 1973 erschienenes Geschichtsbuch wählt ein Hochhaus als Titelbild für den Band zur Zeit11 geschichte, um Modernität auszudrücken. Kein Wunder also, dass die Autoren ein Modell des Stadions auf dem Nürnberger Parteitagsgelände als Symbol nationalsozialistischer Macht wählen. Es ist hier die bloße architektonische Form, die in klar gegliederter Monumentalität Geltungswillen ausdrückt; die Massen, die dieses Stadium einmal fül-
10 Ebenso in der Aufl. von 1978, die erste Aufl. von 1960 hat noch ein anderes Titelbild und gruppiert die Bilder anders. 11 Vgl. Hoffmann, Joachim (Hg.): Spiegel der Zeiten, Bd. 4: Von der Russischen Revolution bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1973.
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len sollen, bleiben lediglich vorgestellt.12 Ob die Schüler diese Sprache je verstanden, sich durch sie angesprochen gefühlt haben und solche Abbildungen zum Unterrichtsgespräch beigetragen haben, lässt sich leider nicht sagen. Abbildung 3: »Hitler, ein deutsches Verhängnis«
Quelle: Tenbrock, R. H. et al: Zeiten und Menschen. Die geschichtlichen Grundlagen der Gegenwart: 1776 bis heute, G 2, 1, Paderborn 1970, Abb. 97 u. 100, (ohne Seitenangabe).
Diese bemerkenswert vielfältige Darstellung und vieldeutige Aussage präsentiert ein Buch für die Oberstufe Mitte der 1970er Jahre, das den Einsatz von Bildmaterial souverän handhabt und eine eigenständige Nutzung des Bildes als didaktischen Mittels nahelegt, aber in dieser 12 Vgl. ebd., S. 102.
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Hinsicht unter den Geschichtsbüchern in den 1970er Jahren noch eine Ausnahme bleibt. Die obere Hälfte der Bildseite nimmt die schon bekannte Aufsicht auf die Bühne der Luitpoldarena mit davor angetretenen Soldatenreihen ein, von denen vor allem die Stahlhelme zu sehen sind. Diese Sicht wird aber konterkariert durch eine ebenso große Wiedergabe der berühmten Karikatur von A. P. Weber »Hitler, ein deutsches Verhängnis«.13 Das fotografische Dokument wird so seiner Faszination beraubt bzw. seiner Interpretation eine nicht intendierte Richtung vorgegeben. Die 1933 entstandene Aussage von Weber, der militärische Aufmarsch werde in die Katastrophe führen, war eine bloße Vorhersage, während die Fotografie doch den wirklichen Stand militärischer Stärke von 1937 abbildet. Das kann zu der spannenden Frage führen, ob eine künstlerische Darstellung ›wahrer‹ sein kann als die Fotografie, die Wirklichkeit abbildet, zugleich aber einer Gegenwart verhaftet bleibt, während die Zeichnung in die Zukunft weist.14 Diese Seite kann man wie eine Geschichte von den Soldaten lesen, die angeblich das Land schützen sollen, denen aber vorausgesagt wird, dass sie in ihr eigenes Verderben marschieren. Der aufklärerische Impetus, der hinter dieser Bildserie steht, bestätigt sich im Umschlagbild des Buches, das ein Foto einer Friedensdemonstration auf dem Hintergrund der Erklärung der Menschenrechte zeigt. Es drückt damit am deutlichsten die Umbruchsituation aus, in der sich die Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren befand.
13 So bis zur Aufl. 1983, die ein aktualisiertes Umschlagbild einer offenbar neueren Friedensdemonstration mit dem Plakat »Give Peace a Chance« trägt; in der überarbeiteten Aufl. von 1986 fehlen die Abbildung vom Parteitag und Webers Grafik, auch das Titelbild ist nun anders gestaltet.
14 Die Karikatur von Weber wird häufig abgedruckt, aber meistens nicht so explizit eine nationalsozialistische Interpretation konterkarierend eingesetzt; siehe z.B. Oomen, Hans-Gert (Hg.): Entdecken und Verstehen. Vom napoleonischen Zeitalter bis zur Gegenwart, Berlin 2007, hier benutzt als doppelseitiger Kapitelauftakt, S. 56-57, so auch in der Ausgabe für Nordrhein-Westfalen; die Karikatur findet sich auch in ausländischen Geschichtsbüchern, siehe z.B. Brooman, Josh: Germany 1918-1945: Democracy and Dictatorship, London 1996, auch hier als Kapitelauftakt genutzt.
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II.
Die Verführten – »Propaganda und Massenpsychologie«
Wenden wir uns nun neueren Büchern zu. Ich beginne mit einem Oberstufenwerk, das den typischen Blick auf die vor der Tribüne in Blöcken angetretenen Parteiformationen zeigt; allerdings ist hier die zentrale Achse nicht frei, sondern von den Teilnehmern ausgefüllt, so dass das Bild fast nur aus den aufmarschierten Massen besteht, die durch Haupt- und Rücktribüne eingerahmt werden. Der Text erklärt: »Ein wichtiges Propagandamittel waren die aufwändig inszenierten nationalsozialistischen Kundgebungen und Feiern, die das quasi-religiöse Zusammengehörigkeitsgefühl der ‚Volksgemeinschaft‘ in emotionalisierten und ebenso einfachen wie beeindruckenden Ritualen zum Ausdruck bringen sollten [...]. Besonders herausgehoben waren die Reichsparteitage, deren Höhepunkt immer die Rede des ‚Führers‘ war.« 15
Es kommt hier also wieder auf den allgemeinen Eindruck einer politischen Inszenierung an, nicht auf eine bestimmte politische Aussage.16 Eine Zeugenaussage untermauert diese Intention der Abbildung, indem sie zeigt, wie Zeitgenossen der Suggestion der Inszenierung unterlagen. Unter der Überschrift »Die Wirkung der Reden des Führers« heißt es: »Augenblicklich waren meine kritischen Fähigkeiten ausgeschaltet. Seine Worte waren wie Peitschenhiebe. Natürlich war ich reif für dieses Erlebnis. Ich war ein Mann von 32, der Enttäuschungen müde, auf der Suche nach einem Lebensinhalt.«
15 Lendzian, Hans-Jürgen (Hg.): Zeiten und Menschen: Geschichte, Oberstufe, Bd. 1, Paderborn 2004, S. 364 (übernommen in die spätere Ausgabe für NW, Hessen und Sachsen von 2006). Fast identisch bereits in Hoffmann, Dirk/Schütze, Friedhelm: Weimarer Republik und nationalsozialistische Herrschaft. Geschichtskurse für die Sekundarstufe II, Paderborn 1999, S. 180. 16 Zur Bewertung der Parteitage als »religiöse«, innen- und außenpolitische Ereignisse mit weiterführender Literatur vgl. die Einführung von Kießling in: Bilder für die Welt. Die Reichsparteitage der NSDAP im Spiegel der ausländischen Presse, Kießling, Friedrich/Schöllgen, Gregor (Hg.), Wien 2006, S. 1-23.
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Ein Schulbuch für die Sekundarstufe I desselben Verlages zeigt nahezu das gleiche Bild, allerdings in einem kleineren Ausschnitt, in dem die angetretenen Massen fast auf die Stahlhelme der aufmarschierten Soldaten reduziert, durch diese symbolisiert und entpersonalisiert werden.17 Als Gegenstück zu dieser symbolischen Materialisierung und Militarisierung der Massen tritt ein kleines Bild, das einen einzelnen zivilen Zuschauer kurz vor der Absperrkette zeigt, der bewundernd zu einem Uniformierten aufblickt; daneben, auch in Kleinformat, ein Bild von Hitler in wehendem Mantel auf dem Weg zur Rednertribüne. Durch diese Zusammenstellung gelingt es den Autoren Individualität in der Massenzeremonie darzustellen – eine Inszenierung der Inszenierung unter der Überschrift »Größe und schöner Schein«. Dieser Ansatz wird auf der gegenüberliegenden Seite weiter verfolgt. Ein Foto zeigt den »Führer auf seiner ,Kanzel‘, der Rednertribüne auf dem Parteitagsgelände«, ein weiteres den nächtlichen »Lichtdom«, der die Feiernden unter einen künstlichen Himmel stellt. Das erste dieser beiden Fotos ist so aufgenommen, dass selbst Hitler auf der mächtigen Führerbastion mit dem Hakenkreuzsymbol in seiner Individualität klein wirkt, gleichsam materialisiert, ein Element der ›Bewegung‹ wird. Wie im ersten Beispiel unterstreichen beigegebene Zeugenberichte die suggestive Wirkung der Veranstaltung. Ein durch Rahmung hervorgehobener Text fordert die Schüler auf, sich in die Lage der Teilnehmer hineinzuversetzen und die vermutliche eigene Reaktion zu beschreiben. Dabei bleibt offen, ob heutige Schüler tatsächlich ähnlich bewundernd oder aber ablehnend reagieren würden, da sie eine solche Art der Aufmachung eher befremden als anziehen könnte. Die Anlage der Schulbuchseite bietet die Chance, Empathie und Historisierung gleichermaßen zu entwickeln, aber explizit legt sie nur nahe, die Gefühle der Parteitagsbesucher nachzuvollziehen. Diesen didaktischen Ansatz empfinden manchmal selbst Experten, wenn sie aus einem Land kommen, in dem Lehrervortrag und Frontalunterricht vorherrschen, als problematisch, weil er – jedenfalls vordergründig – nationalsozialistische Ikonographie eher widerspiegelt als offen kritisiert. Eine solche Seite soll aber die Schüler anregen miteinander zu sprechen und sich ihrer eigenen Reaktionen bewusst zu werden.
17 Ganz ähnlich, hier mit der Bildunterschrift »Das Recht der Stärkeren«, bereits in: Hampel, Johannes/Rieder, Max: Wir erleben die Geschichte. Ein Arbeitsbuch für den Geschichtsunterricht 3, München 1976, S. 99.
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Abbildung 4: »Größe und schöner Schein«
Quelle: Lendzian, Hans-Jürgen/Marx, Christoph A.: Geschichte und Gegenwart 3, Paderborn 2001, S. 162.
Abbildung 5: Führerkanzel, Lichtdom
Quelle: Lendzian/Marx: Geschichte und Gegenwart 2001, S. 163.
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Nicht alle Schulbuchdarstellungen sind so offen für (In-) Fragestellung, wie das nächste Beispiel demonstriert. Der wesentliche Bildinhalt ist fast gleich: Wieder die in Reih und Glied aufmarschierten Massen auf dem Reichsparteitagsgelände; im Vordergrund ist ein Träger mit einer Hakenkreuzfahne postiert.18 Die Authentizität der Darstellung wird dadurch unterstrichen, dass es sich bei der Abbildung um die Titelseite der Zeitschrift Wochenschau vom 10. September 1933 handelt. Weder Bild noch Text stellen Fragen, sondern die Eindeutigkeit der Botschaft, die sie vermitteln sollen, wird bereits in der AbschnittsÜberschrift ausgedrückt, die lautet: »Die Bevölkerung wird manipuliert«. Die Bevölkerung ist Objekt und scheint keine Wahl und keine Möglichkeit zu haben, der Propaganda zu widerstehen. Damit folgt dieses Buch einer älteren Interpretationslinie, die die Verführung der Massen durch Versprechen, Druck und emotionale Ansprache als unausweichlich erscheinen lässt und nicht danach fragt, in wie weit die ›Massen‹ sich selbst haben verführen lassen wollen. Ob die Schulbuchdarstellungen zum eigenen, kritischen Nachdenken oder zum bloßen Nachvollziehen der Bild- und Textaussage anregen wollen, geht weniger aus den Abbildungen der Reichsparteitage hervor, die sich weitgehend gleichen, sondern aus dem Kontext, in den diese Abbildungen gestellt werden: aus dem Autorentext, aus Fragen bzw. Arbeitsaufgaben und weiteren Bildern, die die Parteitagsaussage gleichsam rahmen.19 So stellt ein Schulbuch neben die Fotografie der Aufmarschierten einen Frage- und Aufgabentext: »Versetzen Sie sich in eine der abgebildeten Personen im Vordergrund des Bildes. Wie fühlen Sie sich? ... Was empfinden wohl die Menschen vor bzw. neben Ihnen?«.20 Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein gemaltes Bild des Parteitags. Die Schüler sind aufgefordert, die »Handschrift« des
18 Vgl. Brückner, Dieter/Focke, Harald (Hg.): Das waren Zeiten 4, Das 20. Jahrhundert, Bamberg 2005, S. 59. 19 Ein rein illustrativer Charakter des Bildes ohne besondere ›Botschaft‹ ist in neueren Unterrichtswerken selten geworden, kommt aber noch vor, so z.B. in den Oberstufenmaterialien von Hoffmann/Schütze: Weimarer Republik 1999, S. 180 (s. Anm. 15), wo ein Foto »Reichsparteitag auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg« ohne Jahresangabe und erkennbare eigene didaktische Funktion der Illustration des Abschnittes zur NSDAP dient. 20 Cornelissen, Joachim et al. (Hg.): bsv Geschichte 4 GN, Das 20. Jahrhundert, München 1997, S. 78.
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Bildproduzenten zu erkennen; sie sollen die Bildaufteilung, die Perspektive usw., die vom Maler gewählt worden sind, analysieren. Von daher lässt sich auch die Ikonographie des fotografischen »Dokuments« hinterfragen: Hat auch der Fotograf einen bestimmten Blickwinkel eingenommen, Licht und Schatten verteilt usw., um dem Bild einen bestimmten Ausdruck zu verleihen? Können wir und konnten die Menschen damals »hinter das Bild schauen«, das sich ihnen darbot? Dieser Seite geht eine Doppelseite voran, die die Perspektive wechselt; sie zeigt nicht die Aufmärsche, sondern pickt – was selten vorkommt – aus den Zuschauern einzelne heraus und zeigt deren unterschiedliche Physiognomien und Wahrnehmungsweisen. Die Überschrift des gesamten Abschnittes lautet »Propaganda und Massenpsychologie«. Bemerkenswerterweise schließt sich an diesen Teil ein Abschnitt an, der auf Rechtsradikalismus heute eingeht und die Frage nach der Gefährdung unserer Demokratie stellt. Solche Überlegungen zur Übertragbarkeit oder zum Nutzen historischen Wissens tauchen erst in neueren Geschichtsbüchern auf; selten schließen sie, wie hier, direkt an die Behandlung der NS-Propaganda an. Die Schulbücher trennen in der Regel die Darstellung der Massenbeeinflussung durch die Parteitage von den Inhalten, die hier vermittelt wurden.21 Das wird besonders deutlich, wenn der Parteitag von 1935 behandelt wird, auf dem die gegen die Juden gerichteten Gesetze verkündet wurden. Die antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes werden in eigenen Kapiteln dargestellt, in denen die Perspektive von Textund Bilddarstellung anders ausgerichtet ist. In den Abschnitten über konkrete antijüdische Maßnahmen stehen die Opfer im Vordergrund; Bilder werden häufig eingesetzt, um individuelle Schicksale darzustellen und auf diese Weise auszudrücken, wie der gegen eine ganze Bevölkerungsgruppe gerichtete Terror den Einzelnen betraf. Die Beeinflussung der Massen auf Veranstaltungen wie den Parteitagen und die Verbreitung von Terrormaßnahmen sind herrschaftstechnisch aber aufeinander bezogen. Die Aufmärsche und Reden sind nicht bloße
21 So beschreibt die Legende zu einem Foto von Hitler und Reichsbischof Müller »auf der Ehrentribüne des Reichsparteitages in Nürnberg« (ohne ein spezifisches Jahr anzugeben) zwar die Kirchenpolitik des NS, geht aber weder auf die Parteitage noch das Gelände ein, siehe Treml, Manfred (Hg.): Oldenburg Geschichte für Gymnasien 12, München 1994, S. 299.
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formale Zeremonien, die Gemeinsamkeits- und Zugehörigkeitsgefühle erzeugen sollen; durch sie wurden die Massen gleichzeitig auf eine bestimmte Politik eingeschworen. Dieser Bezug zwischen Inhalt und Form kommt in den auf die Ästhetik der Parteitage und des Parteitagsgeländes ausgerichteten, stark von Bildern geprägten Schulbuchdarstellungen nur unvollkommen zur Geltung. Um diese Verbindung auszudrücken, könnte man z.B. die Fotos von Opfern mit den Bildern der inszenierten Massenveranstaltungen kontrastieren. Ich komme jetzt, wie angekündigt, zu einigen Beispielen aus dem Ausland. Insgesamt lassen sich in englischen und französischen Geschichtsbüchern weniger Befunde ausmachen als in den deutschen, was nicht verwundert, da dort ja weniger die Beschreibung des NSSystems in Deutschland, sondern vor allem dessen Auswirkungen auf das eigene Land im Vordergrund stehen. Am aussagekräftigsten sind die französischen Schulbücher. Die französischen Verlage und Autoren arbeiten seit den 1980er Jahren im Allgemeinen mit großformatigen Illustrationen, denen nur kurze Texte beigegeben sind. Bei den meisten deutschen Schulbüchern ist dies umgekehrt – sie enthalten viel Text mit oft kleinformatigen Illustrationen. Der Zugang im französischen Geschichtsbuch ist oft pointiert kulturhistorisch und dazu noch vergleichend angelegt. Nicht die militärische Ordnung und Nutzung der Propaganda stehen im Vordergrund, sondern ›das Ritual‹ gleichsam als ein anthropologischer Faktor, der von den Diktaturen – von Nationalsozialismus und italienischem Faschismus ebenso wie vom Stalinismus – für die Einbindung des Volkes in die politischen Ziele genutzt wird. Das wird besonders deutlich in einem Lehrbuch, das auf derselben Seite drei verschiedene künstlerisch gestaltete Ausprägungen ritualisierter Zusammenkünfte in Diktaturen zeigt:
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Abbildung 6: Ritual
Quelle: Le Quintrec, Guillaume (Hg.): Histoire 1re S, Paris 2003, S. 149.
Im obersten Bild in konstruktiv-naturverbundener Weise eine Darstellung der Hitler-Jugendbewegung, der mit der Uniformierung ein militärischer Charakter nicht fehlt; die Uniformierung wird dagegen kontrastiert durch den Eindruck von ›Natürlichkeit‹, den eine Gruppe fast nackter, bauender männlicher Jugendlicher repräsentiert, sowie durch Frauen und Kinder in leichten, wehenden Kleidern, die ebenso wie die nackten Männer die uniformierte Gruppe, die im Zentrum des Bildes steht, flankieren.22 Auf dem unteren Teil der Seite ist ein Gemälde einer Kolchosefeier wiedergegeben mit einem üppigen ländlichen Festmahl und einem Stalinbild, das die Feiernden überstrahlt. In der Mitte steht eine Fotografie der Maifeier von 1936 auf dem Nürnberger Parteitagsgelände mit dem »Lichtdom«, die sich in ihrer Formensprache in die Gemäldeabbildungen widerspruchslos einfügt. Darin liegt auch ihre Funktion, denn die Autoren fragen, von welcher Kunst sich der Konstrukteur dieses Lichtspiels, Albert Speer, wohl habe beeinflussen lassen. Hier kommt es auf das ästhetische Erlebnis an, das
22 Vgl. auch in der Ausgabe L/ES, S. 237.
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politisch aufgeladen wird. Der beigegebene zeitgenössische Text ist bemerkenswert, da er von einem französischen Kollaborateur stammt, der, beeindruckt vom Ritual der Parteitagsfeier 1937, das »neue Deutschland« emporsteigen sieht. Die Darstellung wirkt festlich und fröhlich, frei vom militärischer Ausrichtung und Ordnung, die in den Abbildungen deutscher Geschichtsbücher vorherrschen. Diese einfallsreiche Nutzung der Bildsprache kann geradezu als Darstellungsprinzip französischer Schulgeschichtsbücher gelten, und Architektur spielt dabei eine wichtige Rolle. Das gleiche Buch enthält ein Bild vom »neuen Berlin«, womit früher als in deutschen Geschichtsbüchern auf die politische Rolle der NS-Architektur hingewiesen wird.23 »Kunst als Zeuge totalitärer Regime« ist in einem weiteren französischen Geschichtsbuch das Thema eines »Dossiers«, das mit der Parallelisierung der hoch aufragenden turmartigen Pavillons des nationalsozialistischen Deutschlands und der Sowjetunion auf der Pariser Weltausstellung von 1937 beginnt; beide Türme sind gekrönt von den jeweiligen Herrschaftssymbolen Hakenkreuz bzw. Hammer und Sichel – leicht lernen hier die Schüler, Architektur als Sinnbild politischen Herrschaftswillens zu verstehen.24 Seit wenigen Jahren gibt es ein deutsch-französisches Schulbuch. Es ist von einem deutsch-französischen Verlagsteam in gleicher Weise für deutsche und französische Oberstufenschüler entwickelt und auf Deutsch und Französisch veröffentlicht worden. Darin findet sich im Kapitel »Propaganda und Kulturpolitik im III. Reich« eine Seite zu unserem Thema, die stark mit kontrastiven Bildelementen arbeitet.25 Das
23 Vgl. ebd., S. 153. Ein deutscher Materialienband zum NS für die Oberstufe enthält allerdings einen Abschnitt zum Thema »Architektur und Herrschaftsanspruch«, in dem die Reichskanzlei, Wohnungsbauten und ein Modell der »Berliner Großen Halle« abgebildet werden (Hoffmann/Schütze: Weimarer Republik 1999, S. 198-200, (s. Anm. 15). 24 Vgl. Knafou, Rémy/Zanghellini, Valéry (Hg.): Histoire Géographie. Initiation économique, 33, Paris 1993, S. 92. 25 Vgl. Geiss, Peter/Henri, Daniel/Le Quintrec, Guillaume (Hg.): Histoire/Geschichte. L’Europe et le monde du congrès de Vienne à 1945. Manuel d’Histoire franco-allemand Premières L/ES/S, Paris 2008, S. 272; Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945. Stuttgart 2008, S. 272. Ganz ähnlich Collier, Martin/Pedley, Philip: Hitler and the Nazi State. Heinemann Advanced History, Oxford 2005, S. 99, unter der Überschrift »Hitler’s Propaganda State«.
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Bild der aufmarschierenden Parteiformationen ist dieses Mal dem Film von Leni Riefenstahl TRIUMPH DES WILLENS (1935) entnommen. Damit wird sofort deutlich, dass es sich hier nicht einfach um die Abbildung von Wirklichkeit, sondern zugleich auch um deren künstlerische Gestaltung zu Gunsten einer politischen Ideologie handelt. Ein beigestellter Auszug aus einer Rede von Goebbels erklärt den Zweck der Propaganda aus nationalsozialistischer Sicht. Über der Abbildung vom Parteitag steht ein in traditionell-realistischem Stil gemaltes Bild, das eine Familie, die ländlichem Leben zuzuordnen ist, gebannt einer Rede des Führers im Radio zuhört; das moderne Medium ist aber nicht zu sehen, sondern nur seine Wirkung auf die Familienidylle: durch Technik organisierte Massenbeeinflussung dringt gleichsam unsichtbar in die Lebensweisen traditioneller Bevölkerungsschichten ein. Solche kontrastierenden Abbildungen sind vielleicht besser als isolierte Aufmarschbilder geeignet, Schülern heute die Gleichschaltung der nationalsozialistischen Gesellschaft trotz innerer Differenzierungen näherzubringen. Diese Vielfalt der Bildsprache findet sich seltener in englischen Geschichtsbüchern, in denen Illustrationen zwar überzeugungsstarke, doch auch eindeutige, wenn nicht gar einseitige Botschaften vermitteln. Als Beispiel sehen wir hier wieder einen Aufmarsch von Parteigliederungen, doch aus der Perspektive des Führers, der mit dem Rücken zum Bildbetrachter steht. Weder Text noch Bild zeigen Ort und Anlass des Aufmarsches an.26 Die eigentliche Botschaft vermittelt die kurze Bildlegende: »Once in power he [Hitler] committed Germany to rearmament.« Mehr als das Bild selbst kommentiert diese Legende der das Bild umgebende Text, der der Wiederaufrüstung seit 1933 gewidmet ist.27 Bildkomposition und Perspektive wechseln in den englischen Büchern kaum.28
26 Vgl. McAleavy, Tony (Hg.): IGCSE Twentieth Century History, International Relations since 1919, Cambridge 2005, S. 49. 27 Das gleiche Bild, nur in kleinerem Format, nutzt Richard Radway: Germany 1918 – 45, London 2002, S. 37, im Abschnitt »Propaganda and Censorship« mit dem Kommentar: »A back view of Hitler addressing the Nuremberg Nazi party rally« und der anschließenden Frage: »Were Germans deprived of independent thought?« (ebenso in der Auflage von 2004). 28 Siehe Abb. 7; ähnlich auch in: Nash, E. N./Newth, A. M.: A History of Britain. Britain in the modern world: The twentieth century, Rev. ed., Harmondsworth/Middlesex 1972, S. 89, hier mit angetretenem Reichsarbeits-
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Abbildung 7: Nazi rally in Nuremberg 1935
Quelle: Harris, Nathaniel: Spotlight on The Second World War, Hove 1985, S. 6.
dienst (ebenso in der Aufl. von 1978; Madden, Finbar/McBride, Jim: History for CCEA and GSCE, London 2004, S. 39; Walsh, Ben: Essential Modern World History. GCSE, London 2002, S. 106, hier das Foto aus dem Film «Triumph des Willens« mit der lapidaren Bildunterschrift: »It was a great success, with huge queues to see it.« (Das Foto als Beispiel für die NaziPropaganda bringen auch Collier/Pedley: Hitler 2005, S. 69 – s. Anm. 25). Identische oder ähnliche Abbildungen nutzen auch französische Schulbuchautoren, siehe Genet, L. et al.: Le monde contemporaine, classes terminales, Paris 1962, S. 132; auf S. 135 befindet sich noch ein Bild, auf dem Hitler im Auto an Hitlerjugend mit ausgestrecktem Arm vorbeifährt, ähnlich dem in Anm. 8 beschriebenen Bild (beide Abbildungen wurden unverändert übernommen bis zur Aufl. 1980); sogar als Umschlagbild bei Bariety, J./Droz, J.: L’Allemagne 3. République de Weimar et Régime hitlérien 1918-1945, Paris 2003, und als Teil einer Collage für das Titelbild verwendet bei Guillaume Le Quintrec (Hg.): Histoire 2003.
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Auch hier klingt Bewunderung für die organisatorische und künstlerische Leistung der Parteitagsregie verhalten, ja bisweilen offen durch. So wird eine Abbildung mit dem Lichtdom folgendermaßen kommentiert: »A spectacular example of Nazi power and control: 100.000 men, carrying 32.000 flags, march past Hitler at the 1937 Nuremberg rally [...].«29 In einem der wenigen englischen Bücher, die das Architekturthema ansprechen, dienen als Bildbeispiele wenig aussagekräftige Parteibauten in München; der Text konstatiert etwas spannungslos: Architektur als »symbol of Nazi power [...] reflected the personel tastes of Hitler«30. Manchmal scheinen die Bilder von den Parteitagen wie Versatzstücke, die fast jedem Text beigegeben werden können. So dienen sie z.B. in einem Schulbuch zur Illustration eines Kapitels »Life under Hitler«, in dem man wohl eher Alltagsschilderungen als einmal im Jahr stattfindende Parteitagsaufmärsche vermutet hätte.31 III. Funktionale Analyse gegen die Faszination von Gewaltästhetik Hat dieser durchaus überschaubare Bildbestand die jüngsten curricularen Reformen in Deutschland überdauert, die als Bildungsziele mehr formale ›Standards‹ und Fertigkeiten als die Kenntnis bestimmter Inhalte definieren?32 Zu den Techniken historischen Arbeitens gehört neben der Interpretation von Texten auch die Deutung von Illustrationen und Fotografien. Spielen in diesem Zusammenhang die Bilddokumente von den NSDAP-Parteitagen weiterhin eine Rolle? Um diese Frage zu beantworten, habe ich die Bände, die die Zeit des Nationalsozialismus behandeln, von acht Reihen bedeutender deutscher Schul-
29 Brooman: Germany 1996, S. 72, (s. Anm. 14), (identisch auch in späteren Auflagen bis 2001). 30 Collier/Pedley: Hitler 2005, S. 73-74, (s. Anm. 25). 31 Vgl. Matheson, Ian: People and Power. Germany 1918-1939. Standard Grade History, Paisley 32004, S. 75, aus der Luft fotografiert, im Zentrum angetretene SS und SA. 32 Vgl. Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach/Ts. 2005; Verband der Geschichtslehrer Deutschland e.V.: Bildungsstandards Geschichte; aktueller Entwurf 2010 (http://www.geschichtslehrerverband.org/2.html, zuletzt gesichtet am 15.06.2012).
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buchverlage untersucht, die aktuell vor allem in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Sachsen zugelassen sind; die hierfür häufig eigens entwickelten Regionalausgaben sprechen für eine entsprechend weite Verbreitung der Serien. Für die Oberstufe habe ich außer wenigen chronologischen Reihen auch eine thematisch orientierte Unterrichtseinheit herangezogen, die den Nationalsozialismus behandelt und neu aufgelegt worden ist (siehe Aufstellung im Anhang). Von den 26 analysierten Büchern zeigen 18 Abbildungen von den Reichsparteitagen: Die bildliche Darstellung des Themas ist also aktuell geblieben. Größtenteils halten sich auch heutige Autoren dabei an den bereits bekannten Bildbestand.33 Allein die Reihen »Kursbuch Geschichte« für die Oberstufe sowie »Entdecken und Verstehen« für die Realschule bilden das Reichsparteitagsgelände nicht ab. Interessanterweise nimmt gerade die Hauptschulausgabe von »Entdecken und Verstehen« das Thema zum Anlass, einen Gegenwartsbezug herzustellen. Offenbar erscheint den Autoren die klare Sprache der Bilder von der Fahnenweihe 1936 hierzu besonders geeignet: »Schauplatz: Der Aufmarsch. Beeindruckend inszenierte Veranstaltungen« – dieses Motto untermauert ein Foto mit einem Blick auf die angetretenen Parteiformationen und die »Kathedrale aus Licht«. Die Schüler werden angeregt, Vergleiche mit heutigen Großveranstaltungen wie Sportereignissen und Open-Air-Konzerten anzustellen; dazu sollen sie Erkenntnisse anwenden, die sie sich aus dem
33 So findet sich die Kombination von Aufsicht auf den Aufmarsch in der Luitpoldarena und von einem begeisterten Zeugenbericht »Wir haben den Führer gesehen« in Landesausgaben von Geschichte und Geschehen (BW S. 75; Bayern S. 35; Hessen S. 135; Sachsen S. 109). Etwas breiter setzt die bayerische Ausgabe der Zeitreise an, die unter der Überschrift »Faszination Hitler?« zu Foto und Zeitzeugenbericht noch die Stellungnahme eines Historikers hinzufügt (S. 145). Ein doppelseitiges Auftaktfoto zum NS-Kapitel unter der Überschrift »[...] ,nur‘ zwölf Jahre«, das Soldatenreihen mit Stahlhelm vor der Tribüne des Zeppelinfeldes am Reichsparteitag 1936 zeigt, bietet die NW-Ausgabe von »Reise in die Vergangenheit«, S. 24-25. Die Ausgabe für Berlin und mehrere neue Bundesländer wählt einen völlig anderen Aspekt aus dem Parteitagsgeschehen von 1933 für die Auftaktseite zu dem Kapitel, das hier nüchtern »Die Herrschaft der Nationalsozialisten« heißt: Hitler fährt im Auto an angetretenen SA-Leuten vorbei, von denen er einen gerade mit Handschlag begrüßt, S. 102-103.
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vorangegangenen methodischen Abschnitt »Politische Propaganda analysieren« haben erwerben können.34 Einen bemerkenswerten neuen Ansatz bietet die bayerische Ausgabe der Reihe »Forum Geschichte«: Abbildung 8: Monumentalarchitektur
Quelle: Tatsch, Claudia/Regenhardt, Hans-Otto (Hg.): Forum Geschichte, Berlin 2007, S. 56/57.
Es zeigt sich hier, dass die Betonung methodischer Aspekte unserem Thema zu Gute kommt. Denn ein doppelseitiger Methodenteil ist der Aufgabe »Monumentalarchitektur analysieren« gewidmet und dies soll an Hand des Parteitagsgeländes in Nürnberg geleistet werden. Abbildungen geben den »Grundriss der geplanten Kongresshalle«, eine Skizze zur »Planung des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes von 1937« sowie ein Foto des Zeppelinfeldes mit Kolonnen des Reichsarbeitsdienstes, die an der Haupttribüne vorbeimarschieren, wieder. In mehreren Arbeitsschritten sollen die Schüler sich Klarheit über die Lage des Geländes, die Baugeschichte sowie die architektonischen Kennzeichen der Gebäude verschaffen und sich schließlich eine Meinung über »Sinn und Bedeutung des Denkmals« bilden. Der Abschnitt schließt mit der Frage nach möglichen Generalisierungen: Die Schüler sollen die These diskutieren »Bauen ist Politik!« und dabei nach »Bei34 Vgl. ebd., S. 38/39, 40/41.
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spielen aus der Gegenwart suchen«. Leider bieten diese zwei Seiten nicht Platz genug, um die Gestaltung des Geländes in einzelnen Schritten von 1933 an zu dokumentieren und so die Veränderungen durch die nationalsozialistische Bautätigkeit besser kenntlich zu machen.35 Aber auch so bleibt diese ausführliche Analyse von NS-Architektur und politischer Funktion öffentlichen Bauens in der Schulbuchlandschaft singulär. Die methodischen Kapitel in anderen Landesausgaben der gleichen Reihe sind anderen, wenn auch verwandten Themen gewidmet, die allerdings nicht an Hand von Architekturstudien erarbeitet werden (in der NW-Ausgabe z. B. »Propaganda-Medien analysieren«; in der hessischen Ausgabe »Propagandistisches Film-, Bild- und Tonmaterial analysieren« ohne dass hier Bilder des Parteitagsgeländes eine Rolle spielen). Zwar gehen diese beiden Ausgaben auch auf nationalsozialistische ›Großbautenarchitektur‹ ein, doch als Illustration dient hier die Ferienanlage Prora; da das übergeordnete Thema nun »Freizeit im NS-Staat« ist, fehlen methodische Überlegungen zum Zusammenhang von Architektur und Politik.36 In »Geschichte und Geschehen« dient die geplante Berliner Kuppelhalle als Beispiel für »Gigantomanie in der Architektur«.37 Eine methodisch angelegte Doppelseite »Umgang mit Fotografien« in »Horizonte« bringt ebenfalls doppelseitig die Parteitage ins Spiel, allerdings nicht vom architektonischen Gesichtspunkt her. Wie üblicherweise wird der Blick auf die Führerkanzel und die militärisch angetretenen Massen gelenkt. Die Schüler sollen im Vergleich zweier Fotografien vom Parteitag 1935 begründen, warum sich eine mehr für die Aufnahme in die offiziellen Parteitagsdarstellung eignete als die andere.
35 Einen kleinen, nützlichen Überblick bietet die Broschüre von Alexander Schmidt und Markus Urban: Reichsparteitagsgelände. Kurzführer, Nürnberg 2006. 36 Zeiten und Menschen präsentiert eine Farbpostkarte der »Modellanlage ‚KdF-Seebad Prora‘« (in der Ausgabe BW unter dem Thema »Verführung«, S. 83; NW unter dem Thema »Volksgemeinschaft« S. 125; im Werk für die Sekundarstufe II, S. 158). 37 Jeweils identisch in den Ausgaben für BW (S. 71), Bayern (S. 32), Hessen (S. 131) und Sachsen (S. 105).
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Die Schüler sollen überlegen, »ob und wie sich die fotografierte Wirklichkeit von dem tatsächlichen Geschehen unterscheiden kann«38. IV. Der Ruin des Monumentalen Rekapitulieren wir die Reihe der Abbildungen aus Schulbüchern, die hier vorgestellt wurden, so müssen wir uns bewusst sein, dass wir offizielle NS-Propagandabilder vor Augen haben.39 Die Schulbuchtexte zeigen dies häufig nur indirekt. Die ›Bilder‹, die sich die Teilnehmer von den Veranstaltungen selbst machten, scheinen nur in den zeitgenössischen Textauszügen auf, die den Abbildungen beigefügt sind. Heute haben Schulbuchverlage Zugriff auch auf Privatfotos, die individuelle Sichtweisen widerspiegeln könnten, bei diesem Thema aber noch nicht genutzt werden. Der Lichtdom, die aufmarschierten Massen und der Redner Hitler auf der erhöhten Tribüne waren beliebte Motive nicht nur in der inländischen, sondern auch in der ausländischen Berichterstattung; in letzterer wurde der monolithische Eindruck fester Geschlossenheit aber häu-
38 Ausgabe BW, S. 76-77; Bayern, S. 50-51; Hessen, S. 106-107; NW, S. 7879. Um den Volksfestcharakter sichtbar zu machen, zeigen die Ausgaben auch ein »Schmucktelegramm der Reichspost zum Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg 1933« mit der Burg, einem Adler im Flug und Hakenkreuz (S. 83 bzw. 57, 113, 81). 39 Zur Interpretation von Bildern aus der Zeit des NS in Schulbüchern siehe Pettigrew, Alice: »Limited Lessons from the Holocaust? Critically considering the ‚antiracist‘ and citizenship potential«, in: Teaching History, Nr. 141, Dez. 2010, S. 50-56; Dreier, Werner et al. (Hg.): Schlüsselbilder des Nationalsozialismus: fotohistorische und didaktische Überlegungen, Wien 2008; Krings, Annette: Die Macht der Bilder: zur Bedeutung der historischen Fotografien des Holocaust in der politischen Bildungsarbeit, Berlin 2006; allgemein: Heinze, Carsten/Matthes, Eva (Hg.): Das Bild im Schulbuch, Bad Heilbrunn 2010; Popp, Susanne: »Visualisierte Geschichte in den Lehrwerken Europas: zwischen polysemantischen Vermittlungsstrategien und kanonischer Engführung«, in: Europa – Europäisierung – Europäistik: neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Michael Gehler/Silvio Vietta (Hg.): Wien 2010, S. 337-352; Hartmann, Christoph: Visual History und Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Berlin 2007.
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fig durch Karikaturen oder eine Berichterstattung, die hinter die Kulissen schaute, konterkariert. Die Konzentration der Schulbuchdarstellungen auf den Eindruck von Ordnung, Disziplin und militärischem Drill, den die Abbildungen vermitteln sollen, sowie die Ausrichtung der Perspektive auf die gesichtslosen Massen und die Führer-RednerGestalt verbergen, dass die Parteitage in Nürnberg jenseits der Aufmärsche auch fröhliche Volksfeste mit durchaus undiszipliniertem und ausgelassenen Verhalten der Gäste gewesen sind. Dieser Doppelcharakter hat auch kritische ausländische Beobachter zuweilen zweifeln lassen, was denn nun das wahre Gesicht dieser Veranstaltung sei: ein Fest ritualisierter Gemeinsamkeit oder die Einübung blinden Gehorsams? Man muss wohl das alternative »oder« durch ein verbindendes »und« ersetzen, um der Realität nahe zu kommen.40 Diese Realität könnte man einfangen, wenn z.B. auch Bilder von den Zelten, den Hallen und Plätzen eingefügt würden, in denen die Teilnehmer sich aufhielten, aßen, tranken und übernachteten. Das führt zurück zur Frage nach den Sehweisen heutiger Schüler. Wie wirken das Gelände, die Bauten, die Aufmärsche auf jugendliche Besucher heute? Sind ihnen diese disziplinierten Massenzusammenkünfte mit stundenlangen Zeremonien und Reden eher fremd, stellt sich von vornherein eine historische Distanz her, die Fragen nach Wegen der Massenbeeinflussung heutzutage angesichts des Parteitagsgeländes gar nicht nahelegen? Es könnte eine Aufgabe des Nürnberger Dokumentationszentrums sein, in seinen Materialien stärker über die Verwendung dieser Architektur zu didaktischen Zwecken zu reflektieren. Welchen Sinn macht es, diese Monumente zu erhalten und zu besichtigen? Erinnerung und Erinnerungspolitik gewinnen an Bedeutung in der Geschichtsdidaktik und im Geschichtsunterricht. Ein Besuch in Nürnberg könnte Anstöße geben, konkret über Erinnerungspolitik nachzudenken. Die Bauten des Parteitagsgeländes sind ja nicht nur deswegen unvollständig, weil sie zum Teil zerstört oder verfallen, sondern weil sie unvollendet geblieben sind. Sie spiegeln das Ruinöse des Nationalsozialismus schon in der Architektur wider, die ja ein Stück Selbstdarstellung des Systems war. Die Kongresshalle ist eine Ruine, weil der Nationalsozialismus
40 Vgl. Schäfer, Claus W.: »,Vom großen Jahrmarkt der Braunhemden‘. Die Berichterstattung der französischen Printmedien über die Reichsparteitage 1923-1938«, in: Kießling/Schöllgen: Bilder 2006, S. 49-73, (s. Anm. 16).
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mit den Mitteln von Herrschaft und Wirtschaft, die er selbst hervorgebracht hat, nicht erreichen konnte, was er wollte. Der Krieg war wirtschaftliche und herrschaftstechnische Voraussetzung, um über die Ressourcen zu verfügen, die Monumente wie die Kongresshalle möglich machen und die Propagandafeiern mit Sinn füllen sollten. Der Krieg als Mittel von Herrschafts- und Wirtschaftsentwicklung machte aber gleichzeitig die Fertigstellung der Parteitagsbauten unmöglich. Dieser Widerspruch ließe sich durch die Abbildung des Ruinösen, Unvollendeten besser darstellen als mit der Aneinanderreihung der ›exakten‹ Aufmärsche und der Perfektion vorspiegelnden Entwürfe und Modelle. Das Bild der unvollendeten Kongresshalle kann als eine Mahnung vor dem Größenwahn verstanden werden, der den Nationalsozialismus nicht zum Architekten einer neuen Lebenswirklichkeit, sondern zum Zerstörer bestehenden Lebens werden ließ. Hier liegen vielleicht noch bisher nicht genutzte, didaktische Möglichkeiten. Liste der ausgewerteten, aktuellen Schulbücher 41 HS=Hauptschule R=Realschule Gy=Gymnasium ohne Nennung=Schulform-übergreifend Sek. II=Sekundarstufe II=Klasse 11-13 BW=Baden-Württemberg By=Bayern He=Hessen NW=Nordrhein-Westfalen Sa=Sachsen
Barthel, Anja: Zeitreise, Von den Revolutionen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Schulbuchverlag 2006, (BW, By, He, NRW, Sa). Baumgärtner, Ulrich (Hg.): Horizonte – Geschichte, 9, Braunschweig: Westermann 2007, (Gy; BW). Ebd. (Hg.): Horizonte – Geschichte, 9, Braunschweig: Westermann 2007, (Gy; By). Ebd. (Hg.): Horizonte – Geschichte, 9, Braunschweig: Westermann 2008, (Gy; He).
41 Literaturhinweise mit Angabe des Verlags.
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Ebd. (Hg.): Horizonte – Geschichte, Bd. 3, Braunschweig: Westermann 2009, (Gy; NW). Bender, Daniela (Bearb.): Geschichte und Geschehen, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Schulbuchverlag 2006, (BW). Ebd. (Bearb.): Geschichte und Geschehen, Bd. 4, Stuttgart: Klett 2007, (He). Ebd. (Bearb.): Geschichte und Geschehen, Bd. 5, Stuttgart: Klett 2007, (Sa). Berg, Rudolf (Bearb.): Kursbuch Geschichte, Gesamtband, Berlin: Cornelsen 2010, (Sek II; BW). Ebd. (Bearb.): Kursbuch Geschichte: von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen/Volk und Wissen 2010, (Sek II; Sa). Berger v. d. Heide, Thomas (Hg.): Entdecken und Verstehen. Von der russischen Oktoberrevolution bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2007, (R; NW). Ebd.: Entdecken und Verstehen. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin: Cornelsen 2007, (Sa). Bernlochner, Ludwig (Hg.): Geschichte und Geschehen, Bd. 4, Leipzig: Klett-Schulbuchverlag 2007, (By). Brokemper, Peter (Hg.): Entdecken und Verstehen: Arbeitsbuch für Geschichte/Politik an Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen, Berlin: Cornelsen 2007, (HS; NRW). Ebeling, Hans/Birkenfeld, Wolfgang: Die Reise in die Vergangenheit: Arbeitsbuch Geschichte und Politik, Bd. 9/10, bearb. v. Frank Gerstenberg, Braunschweig: Westermann 2009, (HS; NW). Ebd.: Die Reise in die Vergangenheit: ein geschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Nationalsozialismus, bearb. v. Harald Kontofski, Braunschweig: Westermann 2008, (Berlin, Sa-Anhalt, Brandenburg, Thüringen). Hey, Bernd/Pohl, Karl Heinrich/Radkau, Joachim (Bearb.): Historischpolitische Weltkunde. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Stuttgart/Leipzig: Klett 2010. Hofmeister, Franz/Regenhardt, Hans-Otto: Forum Geschichte, Bd. 4: Vom Ende der Weimarer Republik bis in die 1960er Jahre, Berlin: Cornelsen 2007, (Gy; By). Laschewski-Müller, Karin/Rauh, Robert (Hg.): Kursbuch Geschichte: von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2010, (Sek II; He).
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Ebd. (Hg.): Kursbuch Geschichte: von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2010, (Sek II; NW). Lendzian, Hans-Jürgen/Mattes, Wolfgang (Hg.): Zeiten und Menschen, Bd. 4, Paderborn: Schöningh 2006, (Gy; BW). Lendzian, Hans-Jürgen (Hg.): Zeiten und Menschen, Bd. 3, Paderborn: Schöningh 2009, (Gy; NW). Ebd. (Hg.): Zeiten und Menschen: Geschichte, Bd. 2, Paderborn: Schöningh 2006, (Sek II; He, NW, Sa). Oomen, Hans-Gert (Hg.): Entdecken und Verstehen. Vom napoleonischen Zeitalter bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2007, (R; BW). Regenhardt, Hans-Otto (Hg.): Forum Geschichte kompakt, Bd. 2, Teilbd. 2: Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2007, (Gy; NW). Tatsch, Claudia/Regenhardt, Hans-Otto (Hg.): Forum Geschichte, Bd. 4: Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2007, (BW). Ebd: Forum Geschichte, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis heute, Berlin: Cornelsen 2007, (Gy; He).
Monumentalität und Macht in der Moderne C HRISTOPH A SENDORF
I. Dass nach Mussolini »der Futurismus in etwa den gleichen schlechten Ruf genoß wie Wagner nach Hitler« 1, ist eine so gewitzte wie wohl zutreffende Bemerkung Kirk Varnedoes. Ähnliches ließe sich auch über monumentale Architektur sagen, die nach dem Zeitalter der Diktaturen grundsätzlich diskreditiert schien. Doch wie in Hinsicht auf den Futurismus (durch Reyner Banham) und in Hinsicht auf Wagner (etwa durch Adorno), so gab es in den Nachkriegsjahren auch, und mit durchaus offenem Ausgang, einen Prozess der Revision für das Phänomen der Monumentalität. Er wurde noch während der Kriegsjahre an einem Ort eingeleitet, wo man am allerwenigsten damit hätte rechnen können, nämlich im intellektuellen und propagandistischen Zentrum der Moderne selbst. Niemand geringerer als Sigfried Giedion startete einen entsprechenden Vorstoß. Mit José Luis Sert und Fernand Léger veröffentlichte er 1943 seine Nine Points on Monumentality. Die Kombination der Autoren ist strategisch geschickt: ein Kunsthistoriker, ein Architekt und ein Maler decken zusammen ein größeres Spektrum ab und sind gemeinsam stärker legitimiert als ein Einzelvorstoß es sein könnte. Gleich der erste Satz greift weit aus: »Monumente bilden Marksteine, in denen die Menschen Symbole schufen für ihre Ideale, ihre Ziele und
1
Varnedoe, Kirk/Gopnik, Adam: High & Low – Moderne Kunst und Trivialkultur, München 1990, S. 241.
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ihre Handlungen.«2 Die Vergangenheitsform ist nicht zufällig gewählt, sondern weist schon auf das Problem, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine »Entwertung der Monumentalität« zu beobachten sei, Monumente infolgedessen nur noch als »leere Schalen« in Erscheinung träten, die keinen Zeitgeist mehr oder eine kollektive Erfahrung repräsentierten. Die Architektur der Moderne, heißt es dann weiter und fast ein wenig entschuldigend, sei mit anderen, mit sachlichen Einzelaufgaben beschäftigt gewesen, nun aber vor einer Entwicklungsstufe, die mit einer »Neuorganisation des Gemeinschaftslebens« zu tun habe und einem hier nicht weiter begründeten »Verlangen (des Volkes) nach Monumentalität, nach Freude und innerer Steigerung«. Wie aber eine monumentale Architektur bzw. einzelne Monumente aussehen könnten, bleibt noch immer durchaus unbestimmt – erwähnt werden lediglich moderne Materialien und Konstruktionen sowie der Einsatz von Licht, Wandmalereien und Skulpturen auf großen und zentralen Plätzen. Vielleicht waren es auch diese ungelösten Fragen, die Giedion 1944 veranlassten, eine Art Kommentar zu den »neun Punkten« zu publizieren. Nicht helfen könne die Tradition, und damit meint er den Zeitraum zwischen der Akropolis und dem späten 18. Jahrhundert. Monumentalität aber sei ein »ewiges Bedürfnis« 3, das von jedem Regime befriedigt werden müsse. Nur sieht er in ihrer modernen Erscheinungsform – und hier nennt Giedion neben der »Papierarchitektur« des Klassizisten Durand aus den Jahren um 1800 auch die neoklassizistischen «Säulenvorhänge« im Münchner Haus der Kunst oder im ebenfalls 1937 errichteten Mellon Institute in Pittsburgh – nur eine hilflose Reprise (auch wenn die aktuellen Beispiele, einem einsichtigen Wort von Gropius zufolge, den wahren »internationalen Stil« darstellen). »Wirkliche Zentren« des Gemeinschaftslebens seien aber seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr hervorgebracht worden, die Menschen versammelten sich zwar, etwa bei Sportereignissen, doch bleibe der Einzelne dabei passiv. Eine Gegenstrategie jedoch wird nur angedeutet –
2
Sert, José Luis/Léger, Fernand/Giedion, Sigfried: »Neun Punkte über Monumentalität«, in: Architekturtheorie im 20. Jahrhundert, Akos Moravanszky (Hg.), Wien 2003, S. 434f., hier S. 434.
3
Giedion, Sigfried: »Über eine neue Monumentalität«, in: Wege in die Öffentlichkeit, ebd./Dorothee Huber (Hg.), Zürich 1987, S. 180ff., hier S. 183.
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es solle, etwa in neuen civic centers, »Symbole für die Gemeinschaft«4 geben. So bleibt auch dieser Text in Hinsicht auf konkrete Ausgestaltungen einer neuen Monumentalität unbefriedigend; bedeutsam aber sind beide Texte schon allein dadurch, dass das Problem überhaupt aufgeworfen wird. Auch soll offensichtlich ein Defizit der Klassischen Moderne aufgehoben werden. 5 Drei Jahre zuvor nämlich publizierte Giedion sein schnell weltweit rezipiertes Buch Space, Time and Architecture, in dem von den in Monumentalitätstexten behandelten Fragen so gut wie nicht die Rede ist. Dabei mögen aktuelle Erfahrungen mit dem Thema eine Rolle gespielt haben. Seinerzeit nämlich waren zwei Großsymbole – nun allerdings ausgesprochen totalitärer Gemeinschaftsbildung – im Bau, nämlich der Palast der Sowjets in Moskau und Speers Große Halle in Berlin, auch wenn die Arbeiten kriegsbedingt unterbrochen waren und beide Projekte schließlich aus verschiedenen Gründen nicht zur Fertigstellung gelangen sollten. Dass die Idee von monumentalen Gemeinschaftssymbolen im Licht dieser Erfahrungen aber als grundsätzlich verfehlt erscheinen könnte, ist dann offensichtlich Giedions Idee doch nicht. Es scheint eher so, dass er gegen Kriegsende an einen Neustart der Moderne denkt, bei dem die totalitären Gemeinschaftssymbole durch demokratische ersetzt werden würden, die dem perennierenden Bedürfnis nach Monumentalität produktiven Ausdruck verleihen könnten. Die neuen Orte dienen keiner ›Volksgemeinschaft‹ mehr, und auch nicht proletarischen Massen, sondern sind offenbar an den mündigen Bürger adressiert. Zumindest ist dies der Eindruck, den die zahlreichen Entwürfe für städtische Zentren machen, die von der modernen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht wurden. Giedion selbst erwähnt Le Corbusiers Entwurf von 1945 für das Gemeinschaftszentrum von St. Dié, in dem Verwaltungen, Geschäfte und ein Museum in freier und großräumiger Gruppierung angesiedelt sind.6 Und Gropius entwickelte nicht nur ähnliche Entwürfe, sondern sekundierte seinem Biographen Giedion auch mit dem Text »Der Stadtkern. Gemeinschafts-
4
Ebd., S. 188.
5
Vgl. dazu auch Hain, Simone: »Die andere ,Charta‘«, in: Kursbuch 112,
6
Vgl. Giedion, Sigfried: »Neue Monumentalität« 1987, S. 184; vgl.
S. 47ff., bes. 58ff. Boesiger, Willy: Le Corbusier, Zürich 1972, S. 182f.
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zentren«.7 Allerdings blieben dessen wiederholte Versuche, das Thema auf die Agenda der CIAM-Tagungen zu setzen, weitgehend erfolglos. Es war ein kurzer Moment der offenen Möglichkeiten. An die Realisierung aber wie auch immer erneuerter Formen von Monumentalität gingen Kräfte, an die Giedion wohl nicht gedacht hatte – nämlich unter anderem die Planer der DDR, die an einer Adaption der stalinistischen Architekturdoktrin arbeiteten. Nach einer Moskau-Reise, wo man sie darüber aufgeklärt hatte, dass die »englisch-amerikanische Theorie von der aufgelösten Stadt« falsch sei8, was sich natürlich auf die Doktrin des von Giedion und Le Corbusier geprägten CIAM bezieht, formulierte man 1950 die »Sechzehn Grundsätze des Städtebaus«, die dann von der Regierung der DDR als offizielle Programmatik übernommen wurden. Hier heißt es im Punkt 6 unter anderem: »Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.«9
Dabei wird eine vielgeschossige moderne Bauweise und zugleich eine Orientierung »an den fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit« gefordert, was dann zu manch besäultem Hausdurchgang und bei Schinkel entlehnten Motiven an den Hochhäusern eingangs der ehemaligen Stalinallee führen sollte. Während dies immerhin ein Versuch war, zuerst eher belacht und dann im Abstand der Jahrzehnte zunehmend positiv gewürdigt, blieb die westliche und insbesondere die westdeutsche Position zur Monumentalität lange die einer einfachen Negation.
7
Vgl. Gropius, Walter: Architektur, Frankfurt/Hamburg 1956, S. 113ff.
8
Kat. Ausst.: 1945 – Krieg, Zerstörung, Aufbau – Architektur und Stadtplanung von 1940-1960. Ausstellung vom 23. Juni bis 13. August 1995, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 23, Berlin 1995, S. 208.
9
»Sechzehn Grundsätze des Städtebaus«, in: Ebd., S. 210f.
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II. Auch wenn man Giedions Annahme zustimmt, dass mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, also mit dem Ende des Historismus, die Tradition des Monumentalen zunächst einmal erschöpft gewesen ist, so heißt das nicht, dass es im Anschluss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Zeit also, die Giedion überblickt, nicht doch diskutierbare Versuche einer Erneuerung der Tradition gegeben hat, die sich eben nicht in der Rekombination alter Formeln erschöpfte. Gerade die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sahen ein ganzes Spektrum solcher Arbeiten,10 von denen ich einige herausgreifen möchte. Auf der Basis der ohnehin schon Körperlichkeit stark betonenden Neoromanik entstand als erster posthistoristischer Ansatz der so genannte »Zyklopenstil«11, ein wesentlich auf Deutschland beschränktes Phänomen, das seinen Ausgangspunkt im Florentiner Palazzo Pitti hatte. Dieser Renaissancebau »verzichtete [...] auf den humanistischen Apparat der klassischen Formen«, gliedernde Ordnungen oder dergleichen, »und differenzierte die Stockwerke nur durch Größe und Form der Wandöffnungen«.12 Der Maßstabsbruch, die grobe Rustika, Erscheinung und Positionierung überhaupt erzeugen eine Machtaura, für die schon Jacob Burckhardt eindrückliche Formulierungen fand: »Vor allen Profangebäuden der Erde, auch viel größeren, hat dieser Platz den höchsten bis jetzt erreichten Eindruck des Erhabenen voraus [...]. Man fragt sich, wer denn der weltverachtende Gewaltmensch sei, der [...] allem bloß Hübschen und Gefälligen so aus dem Wege gehen mochte.«13
Im ›Zyklopenstil‹ nun geht es nicht um ein Zitieren der Gestalt dieses Baus, sondern allein um das Erzeugen entsprechender Wirkungen. Bauten wie das Dresdener Krematorium des frühen Fritz Schumacher, das Leipziger Völkerschlachtdenkmal von Schmitz oder auch Oskar
10 Vgl. Frampton, Kenneth: Die Architektur der Moderne, Stuttgart 1983, S. 181ff. 11 Pehnt, Wolfgang: Reformwille zur Macht, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000: Macht und Monument, Romana Schneider/ Wilfried Wang (Hg.), Ostfildern-Ruit 1998, S. 52ff. 12 Ebd., S. 57. 13 Burckhardt, Jacob: Der Cicerone, Stuttgart 1978, S. 169.
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Kaufmanns Berliner Bauten, Hebbeltheater und Volksbühne, wirken monumental vor allem durch ein Gestaltungsmoment, für das sich am Palazzo Pitti kein Vorbild findet: an die Stelle nämlich einer präzise umrissenen, kubisch geprägten Gesamtform treten nun plastische architektonische Körper von oft komplex gegliedertem, konventionelle Typologien und freie Erfindung verbindendem Charakter, aus denen gleichsam noch Materie herauszuquellen scheint, was diesen Gebilden auch die Erscheinung von etwas Gegossenem und zugleich Ungeschlachtem gibt. Die Irritation verstärkt sich dort, wo die Möglichkeit maßstäblicher Einordnung fehlt, wie sie etwa durch erkennbare Geschoßgrenzen geboten werden kann. Abbildung 1: Völkerschlachtdenkmal Leipzig
Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-45510-0001/CC-BY-SA.
Wesentlich geklärter scheinen da schon die Arbeiten für die AEG von Peter Behrens und der – die Rustika das Palazzo Pitti zitierende – Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz.
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Abbildung 2: Montagehalle für Großmaschinen an der Hussitenstraße, auf dem AEG-Gelände an der Brunnenstraße, Architekt Peter Behrens, erbaut 1912.
Quelle: Wikipedia/Fotograf: Georg Slickers.
Abbildung 3: Hauptbahnhof Stuttgart
Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 102-00532A/CC-BY-SA.
In beiden Fällen ging es den Architekten darum, signifikante Zweckbauten der technischen Zivilisation mit einer dementsprechenden repräsentativen Qualität aufzuladen. Die Vorgehensweisen sind ähnlich: der Architekturgeschichte sind Pathosformeln entnommen, die aber dann eben nicht mehr, wie im Historismus, zitierend eingesetzt, son-
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dern einem rigiden Prozess formaler Abstraktion unterzogen werden. Im Falle von Behrens sprach man von einem »Industrieklassizismus«14; man könnte auch sagen, es handelt sich hier um eine Architektur, welche die inhärent funktionalen Qualitäten klassischer Tektonik, etwa das nachvollziehbar artikulierte Gegenspiel von Stütze und Last, auf neue, nüchtern-abstrakte Weise zur Erscheinung bringt. In dieses Umfeld der von Hitchcock seinerzeit so genannten »Neuen Tradition« gehört als zentrales Projekt sicher auch Sir Edwin Lutyens grandioser und sukzessive umgesetzter Entwurf für Neu-Delhi15 – britische Kolonialarchitektur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, was sich auch darin ausdrückt, dass die indische Regierung nach der Unabhängigkeit die Bauten weiterhin als Regierungssitz nutzte. Lutyens arbeitete, im Ganzen deutlich konservativer als Bonatz und Behrens, mit einem geklärten klassisch-europäischen Formenapparat, den er aber hier und da mit ebenso geklärten Motiven aus der indischen Tradition anreicherte – ein früher Hinweis auf die mögliche Universalisierung der Sprache monumentaler Architektur. In Deutschland ließe sich die nächste Phase der Moderne als die utopisch-expressionistische ansprechen, eine Phase übrigens, die Giedion konsequent übergeht und deren Höhepunkt in den Jahren um 1920 liegt. Zentrale Leitvorstellung ist die Stiftung neuer Gemeinschaftlichkeit nach den Verheerungen des Krieges. Folgen wir Bruno Tauts Überlegungen in seinem 1919 publizierten Buch Die Stadtkrone, so ist diese Aufgabe nicht ohne Verwendung eines monumentalen architektonischen wie städtebaulichen Vokabulars zu lösen. Die moder16 ne Stadt, dieser »Rumpf ohne Kopf« , verlange nach einem herausgehobenen Mittelpunkt, und Taut vergewissert sich der Möglichkeiten, indem er das historische Vokabular auf Brauchbarkeit durchmustert. Moscheen so gut wie Kathedralen, Tempel verschiedener Kulturen, Schinkels Gedächtnisdom oder auch das Washingtoner Kapitol sind Vorbilder in dem Sinne, als sie gegenüber der übrigen Stadt als
14 Neumeyer, Fritz: »Aufbruch zur Moderne«, in: Berlin 1900-1933, Tilman Buddensieg (Hg.), Berlin 1987, S. 36-40. 15 Frampton: Architektur der Moderne 1983, S. 182f. 16 Taut, Bruno: Die Stadtkrone, Jena 1919, S. 56. Vgl. Prange, Regine: Das Kristalline als Kunstsymbol – Bruno Taut und die Kunsttheorie der Moderne, Hildesheim/Zürich/New York 1991, S. 87ff.
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»mächtig und unerreichbar« aufragen17. Taut destilliert seine Version einer Stadtkrone aus solchen Vorbildern und kreuzt diese zugleich mit der zeittypischen Hochhausfaszination.18 Der stärkste einzelne Impuls geht dabei wohl von der gotischen Kathedrale aus, die ja spätestens seit Schinkels Dombildern eines der großen Leitmotive einer Reaktion auf die vermeintlich entstaltenden Eigenschaften der sich entwickelnden Industriegesellschaft ist. Taut spricht von ihr einmal als der »eigentlichen Stadtkrone«19 und ist damit keineswegs allein unter all den Modernisten und Avantgardisten. Selbst der eher wenig utopisch gesonnene Behrens baut mit dem Verwaltungsgebäude für die Farbwerke Hoechst eine moderne Backsteinkathedrale; durch eingefärbte Steine liegt die große Halle in einem ähnlichen Farblicht wie ein mittelalterliches Kirchenschiff hinter dem farbigen Glas der Fenster. Behrens Bau für die Großindustrie sollte übrigens die einzig realisierte gotisierende Stadtkrone bleiben. Unter den Visionen aber ist neben der von Taut noch eine zweite und ebenso monumentale zu nennen: die geträumte Kathedrale von Feiningers Holzschnitt für das erste Bauhaus-Manifest von 1919, in dem es am Ende heißt: »Erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der [...] aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.«20 Verfasser ist Walter Gropius, und der sollte bekanntlich seine Programmatik wenig später radikal versachlichen. Sein Dessauer Bauhaus-Gebäude mit seiner dezidiert unfesten Grundrissfigur und der nahezu körperlosen Wand des Werkstatt-Flügels nämlich lässt einen anti-monumentalen Affekt erkennen, der für die Bauhausarchitektur insgesamt typisch werden sollte. Stellt man diesen Bau in Kontext der Entstehungszeit, so fällt aber auf, dass das Bauhaus mit dieser Attitüde im Grunde allein steht. Man muss nur einen Blick in den in hoher Auflage erschienenen Band Bauten der Gemeinschaft werfen, den Walter Müller-Wulckow 1929 in der Reihe der Blauen Bücher herausgab: schon das Titelbild, die Magdeburger Stadthalle von Göderitz, die auch im Innern über mehrere Seiten vorgestellt
17 Ebd., S. 64. 18 Vgl. Prange: Das Kristalline 1991, S. 88. 19 Taut: Stadtkrone 1919, S. 53. 20 Das Manifest ist wieder abgedruckt bei Magdalena Droste: Bauhaus, Köln 1991, S. 18f.
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wird,21 lässt als durchaus zeittypische Gestaltungsstrategie aufgebrochene Blöcke erkennen, eine Art kubischen Expressionismus von repräsentativ-zentrierender Gesamtwirkung. Auch wenn die architektonischen Mittel, die für die hier vorgestellten deutschen GemeinschaftsBauten der Jahre zwischen 1900-1929 eingesetzt werden, insgesamt durchaus verschieden sind, so geht es doch beinahe durchgängig um eine abstrahierende Verwendung monumentaler Formeln, um starke Körperlichkeit, aufragende Fronten und symmetrische Anlagen. Fein ausdifferenzierte Gliederungen aber und eine menschenbezogene Maßstäblichkeit und Platzierung lassen viele diese Bauten im einzelnen von oft auch origineller Formerfindung im rückblickend als Ausdruck einer alternativen, so traditionsbewussten wie zukunftsoffenen Moderne erscheinen. Das Bild ändert sich am Ende der Weimarer Republik und vor allem natürlich mit Entstehen des NS-Staates. Frank-Berthold Raith hat mit seiner Arbeit über den so genannten »Heroischen Stil« deutlich gemacht, das sich um 1930 ein, wie man vielleicht sagen könnte, neues architektonisches Ordnungsdenken ausbreitet, das sich von den pluralen Ansätzen der zwanziger Jahre unterscheidet und das dezidiert um das Problem der Monumentalität kreist. Doch auch hier ist die Bandbreite groß, reicht von der vom Expressionismus abgeleiteten »monumentalen Moderne« der Kirchenbauten eines Dominikus Böhm bis zur strengen und dem Art Deco nahestehenden Eleganz bei von Salvisberg22. Im Zentrum der Architektur des ›Heroischen Stils‹ steht allerdings die Architektur während des NS-Regimes, und nur in ihr zielt das Ordnungsdenken auf konkrete gesellschaftliche Veränderung, auf die Formierung von Massen, ihre Subordinierung unter einen leitenden Willen. Gerade die Nürnberger Anlagen zeigen, wie Muster antiker Kult-, Sport- und Versammlungsbauten auf so gewaltige Dimensionen gebracht oder besser aufgepumpt werden, dass sie jede ihrer ursprünglichen kommunikativen Qualitäten verlieren. Wenn man hier nicht eine puerile Allmachts- und Größenphantasie am Werk sehen will, wie das ja bereits 1940 mit einigem Witz von Chaplin vorgeführt wurde, dann handelt es sich vielleicht um den Versuch einer Petrifikation ei-
21 Vgl. Müller-Wulckow, Walter: Bauten der Gemeinschaft, Königstein/ Leipzig 1929, S. 51ff. 22 Raith, Fank-Bertolt: Der heroische Stil, Berlin 1997, S. 89ff.
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genen Machtanspruchs, der über menschliches Maß hinaus auf Dauer gestellt werden soll. Dafür würde ja auch die berüchtigte Ruinenwerttheorie Speers sprechen. Unabhängig von dieser Frage lässt sich aber wohl sagen, dass selbst hier in Nürnberg nicht das Monumentale an sich monströs ist, sondern der Anspruch, mit beliebig großen architektonischen Formationsmaschinen beliebig viele Menschen auf ein gesetztes Ziel hin auszurichten. III. Die Lage in jenen Jahren ist also unübersichtlich. Albert Speer und Sigfried Giedion meinen kaum das gleiche, wenn sie von Monumentalität sprechen. Es hätte nun eine Diskussion geführt werden müssen über die Frage, was in der Moderne eigentlich die Quellpunkte des Monumentalen sein können. Handelt es sich um eine historisch überlebte Gestaltungs- und Ausdrucksform? Wie sehen aktuelle Anverwandlungen aus? Oder gibt es gänzlich neuartige Formen des Monumentalen? Das, was zum vergangenen Monumentalen in der Architektur gehörte, lässt sich relativ genau eingrenzen: Gestaltprägnanz und Distanz zur Umgebung; eine gewisse Schwere bzw. Masse, aber nicht unbedingt Größe; edle Materialien; die Suggestion von Dauerhaftigkeit; ein Ordnungsversprechen entweder durch rein gestalterische oder auch ikonographische Mittel; oft auch Frontalität und Symmetrie.23 Nicht alle dieser Eigenschaften sind überholt, sie müssen aber nach dem Selbstverständnis der Moderne reinterpretiert, abstrahiert oder in überhaupt neuer Form zur Erscheinung gebracht werden. Dies gilt auch für weitere Kennzeichen monumentaler Macht- oder Herrschaftsarchitektur wie Türme, Kuppeln, große Treppenhäuser oder auch Außentreppen. Nachdem die historistischen, also zitierenden Verfahrensweisen spätestens um 1900 untauglich geworden sind, repräsentiert ein Bau des nicht ohne weiteres dem ›heroischen Stil‹ zuzurechnenden Hans Poelzig so reich artikuliert wie vielleicht kein zweiter in den Jahren um 1930 die Möglichkeit eines Neuansatzes – die Frankfurter Hauptverwaltung der I.G. Farben: monumental ohne Zitat, dabei im Detail sorgfältig durchgearbeitet, ornamentfrei modern in einer zwar symmetrischen, aber nicht sehr achsenbetonten Großform,
23 Vgl. Wang, Wilfried: »Das Monumentale als Ersatz für den Verlust kultureller Autorität der Architektur«, in: Macht und Monument 1998, S. 288.
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die den Notwendigkeiten der Arbeitsorganisation und Lichtzufuhr geschuldet ist; mit einem so luxuriösen wie zugleich hochfunktional angelegten Foyer; auf seiner leichten Anhöhe thronend wie ein Schloss oder eine Stadtkrone, dabei aber umgeben von einem modern gestalteten Garten bzw. Park, der sowohl eine Hoheitszone markiert wie den Bau in die Natur einbettet. Abbildung 4: IG Farben Bau/Ffm Hoechst
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/ b3/IG_Farben_Gebaeude_Uni_Frankfurt.jpg.
Diese Architektur, so könnte man sagen, interpretiert alte Muster auf eine eindrucksvolle und schöpferische Weise. Doch lässt sich hier kaum von einer grundsätzlich neuartigen Form des Monumentalen sprechen. Wenn es dergleichen überhaupt gibt, dann wohl nur im Bereich der Technik, bei Bauten, die in irgendeiner Form technischen Zwecken dienen oder diese zumindest kommunizieren. Dabei geht es weniger um neue Materialien wie Eisen oder Stahl, deren alleiniger Gebrauch oft körperlose Gerippe hervorbringt, die in Hinsicht auf monumentale Gestaltqualitäten in der Regel unbefriedigend sind. Eher sind es große einzelne Industrieanlagen oder die Landschaften der Technik selbst, die einen neuen Begriff des Monumentalen begründen. So wurde der gewaltige homogene Großkomplex der FIAT-Werke in Lingotto zu einer der großen Ikonen der klassischen Moderne, beschrieben etwa von Le Corbusier, Persico oder Banham,24 die hier ein Bild von Vergesellschaftung im Zeichen technischer Produktion entdeckten.
24 Vgl. dazu Asendorf, Christoph: Entgrenzung und Allgegenwart, München 2005, S. 90ff.
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Abbildung 5: Fiat-Fabrikgebäude in Lingotto
Quelle: Dgtmedia – Simone/it.wikipedia.
Weiter ist Ernst Jünger zu nennen, der 1932 im Arbeiter eine »Mobilisierung der Welt« sich vollziehen sieht, die auch die Gestalt der Landschaft verändern würde: Statt der unaufgeräumten Übergangslandschaft der Gegenwart entstünden mit der Fortentwicklung der Technik Räume einen neuen Typs, großmaßstäblich geordnet und effektiv organisiert, in denen es auch wieder möglich werde, »im Monumentalstile zu bauen« und in denen die Technik selbst »sich großen und kühnen Plänen zur Verfügung stellt«.25 In ähnliche Richtung, aber aus der Rückschau des Historikers und damit auch ohne den herostratischen Impuls Jüngers, argumentiert David Nye. Er spricht nicht vom Monumentalen, aber, semantisch korrespondierend, vom Sublimen der Technik; sein Buch von 1994 trägt den schönen Titel American Technological Sublime. Den (amerikanischen) Enthusiasmus für alles Technologische sieht er grundiert vom Sublimen, von der Faszination durch das Erhabene: So verstandene Technik bietet nicht einfach eindrucksvolle Objekte, sondern berührt die fundamentalen Hoffnungen und auch Ängste der Menschen, stiftet Gemeinschaft unter ihnen; »the sublime represents a way to reinvest the landscape and the works of men with transcendent significance«26. Um die Qualitäten des Sublimen zu vergegenwärtigen, nennt Nye u.a.
25 Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1982, S. 187ff. 26 Nye, David E.: American Technological Sublime, Cambridge/MA-London 1994, S. xiii; zur begrifflichen Nähe von monumental und sublim: Wang, Das Monumentale 1998, S. 286.
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zwei Beispiele aus den dreißiger Jahren, nämlich die Golden Gate Bridge und die New Yorker Weltausstellung von 1939, ein spektakulär raumüberspannendes Stahlkonstrukt also und den Ort einer kollektiven Erfahrung zukünftiger Entwicklungspotentiale der technischen Zivilisation. Im Unterschied zu den Monumentalinszenierungen in Nürnberg erscheint dieses transzendierende Sublime jedoch nicht in latenter Gewaltförmigkeit, sondern als Angebot an den freien Einzelnen, oder, wie in New York, an die Konsumenten einer als harmonisch imaginierten Welt der Zukunft.27 IV. Als sublimes Monument im Sinne Nyes kann man sicher den Gateway Arch in St. Louis werten, den Eero Saarinen nach einem Wettbewerb in den späten vierziger Jahren schließlich bis 1964 fertig stellte: ein 200 Meter hoher, annähernd parabolisch geformter Bogen als Denkmal für die langsame Eroberung des amerikanischen Westens.28 Das hochelegante, mit Stahlplatten verkleidete Monument scheint mir einer der wenigen überzeugenden Versuche, ohne Rückgriff auf traditionelle Ikonographien hohe ikonische Prägnanz zu erzeugen: so wie eine Parabel die Abbildung einer Wurfkurve ist, so kann sie auch für den Ausgriff, die Überwindung bis dahin gegebener Grenzen einer Nation stehen – der Gateway Arch also als Tor nach Westen, ein moderner Triumphbogen.
27 Nye: American Technological Sublime 1994, S. xi ff. u. 199ff. 28 Vgl. Lipstadt, Hélène: »Lokale contra nationale Erinnerung«, in: Denkmale und kulturelles Gedächtnis, Akademie der Künste Berlin (Hg.), Berlin 2000, S. 101ff.
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Abbildung 6: Gateway Arch St. Louis
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:STL_Skyline_2007 _edit.jpg.
Doch das Repertoire derartig sinnfälliger Formen ist begrenzt; als gleichsam abstraktes Denkmal, als durchaus monumentales Gebilde von hochtechnischer Anmutung bleibt Saarinens Bogen eine Ausnahme. In der Überschau nämlich lassen sich die Jahre zwischen 1945 und vielleicht 1975 als eine Art Latenzzeit des Monumentalen betrachten; entweder werden entsprechende Gestaltungen dezidiert vermieden oder aber camoufliert. Für die erste Strategie stehen beispielsweise die Staatsbauten der alten Bundesrepublik. Aus nachvollziehbaren historischen Gründen präsentierte sich der junge Staat mit Bauten – etwa Eiermanns Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung, dem Kanzlerpavillon von Sep Ruf und sogar noch einem Nachzügler, dem neuen Bonner Bundestag –, die leicht bis zum Schwebenden und dazu noch so transparent wie möglich erscheinen sollten. Auch international dachte man nicht grundsätzlich anders: Direkte Rückgriffe auf alte monumentale Muster wie etwa beim New Yorker Lincoln Center wurden sofort scharf kritisiert. Interessanter aber scheint mir die unterschwellige Wiederkehr des Monumentalen im Gewand der Moderne. Wenn man einmal von den Beispielen in Chandigarh, Brasilia oder Dacca, in der damaligen Dritten Welt also, absieht, wo dergleichen offensichtlich zugelassen war, dann bleiben immer noch nicht wenige Bauten durchaus monumentalen Charakters, die aber kaum als solche
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rezipiert wurden. Neben Le Corbusier ist wohl Mies van der Rohe die prägende Figur in dieser Entwicklung, ich nenne nur das Federal Center in Chicago und die Berliner Neue Nationalgalerie.29 Immerhin am Ende der Klassischen Moderne stehen also der neue Typ eines städtischen Forums und ein Museumstempel aus Stahl und Glas. V. Insgesamt aber wurde der modernen Architektur anfangs der siebziger Jahre jedwede Fähigkeit zu irgendwie bedeutsamem Ausdruck abgesprochen; für ein diesbezüglich musterhaftes Ensemble, die New Yorker Avenue of the Americas, prägte Tom Wolfe den schönen neuen Namen ›Rue de Regret‹.30 Die Defizite wurden von Theoretikern verschiedener Herkunft recht ähnlich beschrieben. In der deutschen Debatte wirkte ein Text des Sozialpsychologen Alfred Lorenzer aus dem Jahr 1975 untergründig lange nach; sein Thema ist die Rolle des Symbols in der Architektur, die er folgendermaßen definiert: »Unter Symbol sollen menschliche Gebilde verstanden werden, die sozialen Prozessen nicht nur entstammen, sondern hergestellt werden als Regulatoren sozialer Prozesse, nämlich als Verständigungsformeln oder Handlungsanweisungen«.31 Das berührt sich, obgleich in der Sprache der siebziger Jahre formuliert, in der Sache durchaus mit Giedions Annahme über Monumente als Symbole für menschliches Handeln. Wo dieser aber eine neue Monumentalität propagiert, glaubt Lorenzer offenbar nicht mehr an die Möglichkeit dazu, sondern konstatiert einen »Symbolzerfall«, bei dem in der Architektur u.a. eine »repetitive Bewußtlosigkeit an (die) Stelle einer bewußten Formbildung« getreten ist.32 Des weiteren fährt der im Zweifel eher der Linken zuzurechnende Lorenzer fast in der Tonlage von Sedlmayrs Verlust der Mitte fort: »Nicht von ungefähr verfällt die große Architektur in der europäischen Geschichte mit dem Erlöschen der feudalen Vertretung des allgemei-
29 Vgl. Sumi, Christian: »Mies’ Konstellationen«, in: Burkhalter Sumi Architekten, Beilage zu Hochpaterre Nr. 11/2003, S. 22f. 30 Vgl. Wolfe, Tom: Mit dem Bauhaus leben, Frankfurt a. M. 1984, S. 33. 31 Lorenzer, Alfred: »Architektonische Symbole und subjektive Struktur«, in: Das Prinzip Reihung in der Architektur, Dortmunder Architekturhefte Nr. 2, Dortmund 1977, S. 143. 32 Ebd., S. 144.
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nen Interesses in und über die Person des Monarchen«.33 Diese Entwicklung scheint ihm irreversibel, weil sie eng an die bestehende kapitalistische Lebensordnung geknüpft ist, in der partikulare Interessen die gemeinsamen überwiegen. Damit war das Thema einer besonders in der Prägnanz monumentaler Form realisierbaren Symbolik zu einer Zeit wieder auf der Tagesordnung, in der mit Charles Jencks auch Apologeten einer postmodernen Architektur nach semantischer Aufladung verlangten. Was hier aber oft nur ein Spiel mit Bildern blieb, wurde anderenorts tiefgreifender reflektiert. So untersuchte Gert Kähler, mit Bezug auf Lorenzer, das »Dampfermotiv in der Baukunst« vor allem der 1920er Jahre als Beispiel für den Ansatz und das Scheitern »von Versuchen zur Sinngebung durch architektonische Zeichen«.34 Weiter möchte ich an die wichtigen Untersuchungen Klaus v. Beymes über das Absterben der politischen Symbolik in der Moderne erinnern.35 In der Architektur selber aber lässt sich in den Jahren vor und um die Jahrtausendwende ein neues und nun wieder explizites Interesse an auch demokratisch legitimierter Monumentalität beobachten. Jenseits von potentiell ja ebenfalls monumentaler Konsum- oder Entertainmentarchitektur werden neue Muster einer politischen (bzw. kulturellen) Ikonographie durchgespielt. Paris zur Zeit Mitterands wäre ein Beispiel. In Deutschland sind die prominentesten Belege sicherlich die Berliner Regierungsneubauten von Schultes und Braunfels – Bauten, welche die Potentiale historischer Herrschaftsarchitektur in die Sprache der Gegenwart zu übersetzen versuchen. Als allerneueste Entwicklungsstufe sieht Horst Bredekamp das Monumentale im Gewand des Ikonischen erscheinen; 36 was mit Gehrys Bilbao-Museum begann, zeigt sich gegenwärtig etwa, und zwar jenseits demokratischer Legitimation, im Bau von Rem Koolhaas für das staatliche chinesische Fernsehen, der, in einer Art Prolog zu seiner eigentlichen Nutzung, zunächst während der Olympiade mit globaler Ausstrahlung ein neues China zu repräsentieren hatte – im
33 Ebd., S. 145. 34 Kähler, Gert: Architektur als Symbolverfall, Braunschweig 1981, S. 17. 35 Vgl. v. Beyme, Klaus: Kunst der Macht und Gegenmacht der Kunst, Frankfurt a. M. 1998, S. 325ff. 36 Vgl.
http://www.scienceblogs.de/iconic-turn/2008/01/das-monumentale-
im-gewand-des-ikonischen.php, zuletzt gesichtet am 11.06.2008.
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Prinzip ein Wolkenkratzer, den Koolhaas aber als ›loop‹ bezeichnet, und der sich auch als verdrehter Triumphbogen ansprechen ließe. Abbildung 7: CCTV Zentrale/Peking
Quelle: Wikipedia/Fotograf: Lamdavidtheking.
Dies sind nun sicher keine Symbole wie eine Kathedrale oder ein Schloss. Aber sie zeigen doch die fortdauernde Aktualität des Problems der Monumentalität, welches stärker, als üblicherweise zugestanden, das ganze 20. Jahrhundert durchzieht und das auch nach Phasen des Missbrauchs und der Verdrängung durchaus nicht obsolet geworden ist. Offen muss nur bleiben, ob die gegenwärtigen Realisierungen dem ursprünglichen Anspruch auf Verbindlichkeit genügen können. Denn was die meisten dieser Beispiele bei aller Differenz der Intention zeigen, ist eine ebenso ort- wie zeitlose und in ihren Mitteln hybride Form von Monumentalität. Anscheinend jedoch kann das ja aus ganz verschiedenen Perspektiven festgestellte Bedürfnis nach Symbolen und Monumenten heute nurmehr so befriedigt werden.
Zweiter Teil – Zu den Aktivitäten im Rahmen des Projektwochenendes
Theater am ›SchattenOrt‹ – Möglichkeiten und Grenzen von ›theatre on location‹ und ›locational theatre‹ A NDRÉ S TUDT
Die deutschsprachige Theaterlandschaft und ihre Institutionen haben sich – allem Krisengerede zum Trotz – in den letzten Jahren als sehr beweglich und innovativ erwiesen: Neben einer erfolgten Professionalisierung der Jugendarbeit durch fest an den Häusern beschäftigte Theaterpädagogen, die den Output weit über das traditionelle Weihnachtsstück hinaus zu steigern vermochten und gezielte – häufig auch interaktive – Angebote für ein ›Publikum von Morgen‹ machen, findet eine beständige Flexibilisierung des eigenen Theaterverständnisses statt, das sich nicht mehr allein an bildungsbürgerlichen Begriffen, dem dramatischen Text und damit verbundenen moralischen Erfüllungsästhetiken orientiert. In diesem Zusammenhang ist vermehrt ein Ausziehen des Theaters aus seinen Gebäuden und festen Bühnen in den Stadtraum und dessen diversen ›locations‹ feststellbar. Damit übernimmt das institutionalisierte Theater die verstärkt in den 1970er Jahren begonnene – und eigentlich aus einem vehementen Protest an den subventionierten Strukturen entstandene – Praxis des Off-Theaters, sich auf die Suche nach alternativen Spielorten zu begeben. Im Ergebnis besteht zwar die Gefahr, dass »mit der Institutionalisierung flüchtiger locations zu festen Spielorten, schließlich zu Nebenspielstätten der etablierten Theater« das subkulturell motivierte Potential der Kritik an den Institutionen und die damit verbundene ästheti-
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sche Faszination »weitgehend verloren« geht, 1 aus kulturpolitischer Perspektive jedoch ist die Sichtbarkeit des Theaters im Stadtraum eine Hilfe bei der permanent notwendigen »Überzeugungsarbeit [...], klarzumachen, daß Kultur nicht ein Anhängsel zur Verschönerung ist, das man sich leisten kann, wenn für alles andere schon gesorgt ist, sondern daß alles andere in Gefahr gerät, daß die Substanz der Gesellschaft wie des einzelnen ausgehöhlt wird, wenn die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den Künsten genommen ist.« 2
Es ist naheliegend, den fest im Stadtbild verankerten Theaterbau als prädestinierten Ort für eine Begegnung mit den darstellenden Künsten zu verstehen. In ihm laufen soziale, (kultur-)politische und habituelle Funktionen zusammen, die sich allesamt historisch ausdifferenziert haben. Werden nun andere ›locations‹ gesucht, entdeckt und bespielt, so können sich diese grundlegend von den Gegebenheiten des als architektonisch markierten Ortes ›Theater‹ unterscheiden. Diese denkbare Differenz kann dazu führen, dass die Institution Theater befürchten könnte, durch spezifische Strukturen (z.B. Abonnements mit fest zugewiesenen Sitzplätzen) an das Haus gebundene Besucher durch einen Ortswechsel zu verstören bzw. zeitweilig zu verlieren. In Nürnberg war der Umzug in die Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände nicht das Ergebnis einer Suche – man könnte vielmehr sagen, dass das Theater aus pragmatischen Gründen von diesem Ort gefunden wurde. Jener Ort, dessen spezifische Historizität als besonde-
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Vgl. Primavesi, Patrick: »Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen«, in: Text+Kritik: Theater für das 21. Jahrhundert, Bd. XI/04 2004, Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), S. 8-25, hier S. 14. Mittlerweile scheint es diese vehemente Opposition zwischen Off-Szene und Theaterinstitution so nicht mehr zu geben: Bei der Podiumsdiskussion der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft 2010 zum Thema ›Vorstellungsräume – Dramaturgien des Raums‹ war man sich einig darüber, »dass die freie Szene ein Partner sein könne bei der Entgrenzung der traditionellen Theatergebäude«. Vgl. Spuhler, Peter: »Theaterräume der Zukunft«, in: dramaturgie – Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, 01/2010, S. 48.
2
Weiss, Christina: Stadt ist Bühne. Kulturpolitik heute, Hamburg 1999, S. 8. (Rechtschreibung des Originals).
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re ›location‹ eine nähere und damit differenzierte Betrachtung verdient, zeigt – so die These dieser Überlegungen – in einem ganz besonderen Maße das Verhältnis von dem ›kommunikativen‹ und ›kulturellen Gedächtnis‹ auf, das sich jeweils aus Funktion und Nutzung des Ortes als ›location‹ ergibt. Jan Assmann hat in seiner mittlerweile klassischen Definition das kulturelle Gedächtnis definiert als »Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.«3 Begreift man nun das institutionelle Theater als spezielle Form einer kulturellen Praxis, so kann man dessen Aktivitäten hierunter verstehen, werden sie doch durch »kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wach gehalten«4. Ein Nachteil dieser Auffassung besteht für die Institution in einer von Assmann konstatierten Alltagsferne des so gepflegten kulturellen Gedächtnisses und dessen damit festgelegt scheinenden Kommunikationsstrategien. Hingegen kennt das »kommunikative Gedächtnis [...] keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden«5, so dass es in seinen auf direkte Interaktion ausgerichteten Praxen folgerichtig als ausgesprochen alltagsnah bezeichnet werden dürfte. Man kann sich vorstellen, dass diese Konstellation in Bezug auf das Thema Nationalsozialismus und den erinnernden Umgang mit ihm nicht ohne Brisanz ist. Diese zeigt sich paradigmatisch im Historikerstreit von 1986, in dem Vertreter des kulturellen Gedächtnisses für eine Kultivierung der NS-Zeit durch Historisierung eintraten, während deren Gegner als Vertreter des kommunikativen Gedächtnisses sich gegen eine »vergangenheitspolitische ‚Schadensabwicklung‘« wandten und für eine immer gegenwartsbezogene Verstetigung der Debatte über den Umgang mit dem NS-Erbe warben6. Dass in diesem Zusam-
3
Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Kultur und Gedächtnis, ebd./Tonio Hölscher (Hg.), Frankfurt a. M. 1988, S. 919, hier S. 9.
4
Ebd., S. 12.
5
Ebd., S. 11.
6
Vgl. Knäpple, Lena: »Historikerstreit«, in: Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Natio-
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menhang dem Theater als gleichermaßen kulturelle wie kommunikative Gedächtnispraxis eine besondere Funktion zufallen könnte, die sich für die Erörterung dieses Feldes eignete, liegt nicht zuletzt in der spezifischen Wirkungsästhetik des Theatralen, der Kirstin Westphal im Kontext eines ›Lernens als Ereignis‹ folgende Attribute zukommen lässt: »Erinnern ist ein Vorgang, der sich am ehesten mit einer Theateraufführung vergleichen lässt. Entscheidend ist nicht das Script, sondern die Szene.«7 Diese Aussage hat unabhängig von den tatsächlich erfolgten Bemühungen des institutionalisierten Theaters (und auch seiner Wissenschaft), sich in Aufführungen, d.h. szenisch, der NS-Vergangenheit zu erinnern, ihre Gültigkeit, stellt sie doch das lernende (oder: lernen wollende) Individuum in den Mittelpunkt. Nicht ein kanonischer Text zu einem Ort, sondern die konkrete Handlung, als Szene, an diesem ermöglicht dem Subjekt Erkenntnisse und Lehren. Will man den Ort einer Theaterproduktion zum aktiven Gegenstand seiner Produktionsstrategie und damit auch zum dominanten Kennzeichen der Produktionsästhetik werden lassen, so müsste man sich zunächst der vorliegenden Textur dieses Ortes annehmen. Zu deren Analyse kann die Verwendung zweier Begriffe aus dem Denken Michel Foucaults, die Heterotopie und das Dispositiv, einen ersten Zugang schaffen, der qualitativ auf den zu untersuchenden Ort – d.h. unser Beispiel, die Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, angewendet werden kann. Damit besteht die Chance den Ort einerseits jenseits seiner Oberflächenstruktur wahrzunehmen und ihn andererseits einer überindividuellen Aneignung zu öffnen: »Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb
nalsozialismus nach 1945, Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.), Bielefeld 2007, S. 238-240, hier S. 239. 7
Westphal, Kristin: »Bildungsprozesse durch Theater. Verortung der Theaterpädagogik auf dem Hintergrund ästhetisch-aisthesiologischer Diskurse in der Pädagogik und Philosophie«, in: Lernen als Ereignis. Zugänge zu einem theaterpädagogischen Konzept, ebd. (Hg.), Hohengehren 2004, S. 15-48, hier S. 22.
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aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.«
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Mit dieser Definition, deren Binnendifferenzen – z.B. die Scheidung von Ort und Platz – hier nicht weiter verfolgt werden soll, deutet Foucault die Vielschichtigkeit eines Ortes jenseits seiner bloßen Materialität und einer damit verbundenen Funktionalität an. Weil letztere wandelbar ist, geraten Geschichte (bei Foucault konsequent als Heterochronie ausgelegt) und diskursive Machtstrukturen in den Fokus. Werden zudem noch Handlungen – als nicht-diskursive Praxen – für die Vergegenständlichung von Kommunikation und Machtstrukturen notwendig, so lässt sich dieser Zusammenhang mit dem Begriff des Dispositivs fassen. Dieses bildet ein Netz aus heterogenen, sprachlichen und nicht-sprachlichen Einzeldiskursen und legt einen Raum fest, »in dem Kommunikation und Wahrnehmung sich entfalten und der beiden wechselseitig Sinn gibt«9. Auch wenn an dieser Stelle nicht die Diskussion über die Auslegung der Begriffe geleistet werden soll, erscheint es wichtig, diese als Impuls und Analyseansatz für die Betrachtung einer ›location‹ zu verwenden; vor allem, wenn es um die diachrone Einordnung von Vorkommnissen geht, die eine Bedeutung in Gegenwart und Zukunft haben sollen. Zudem bietet dieser Zugang eine distanzierende Betrachtung von umkämpftem Terrain: Durch den Weg in die Abstraktion kann die Möglichkeit einer entpersonalisierten und versachlichten Suche nach einem Standpunkt generiert werden, der dann für das denkende und handelnde Subjekt produktiv gemacht werden kann. Als gesichert darf gelten, dass »Heterotopie und Heterochronie in einer Gesellschaft wie der unsrigen auf ziemlich komplexe Weise« miteinander verflochten sind10. Eine Ahnung dieser Komplexität lässt sich durch die Betrachtung des Ortes als Gedächtnisort und dessen Thematisierung durch das Theater gewinnen: Wenn man Gedächtnis in
8
Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Karheinz Barck/Peter Gente/ Heidi Paris/Stefan Richter (Hg.), 1990/72002, S. 34-46, hier S. 39.
9
Brauns, Jörg: Schauplätze. Zur Architektur visueller Medien, Berlin 2007, S. 153.
10 Foucault: »Andere Räume« 1990/72002, S. 43.
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Abgrenzung zum individuellen Phänomen der Erinnerung als ›soziales Phänomen‹, das sich maßgeblich zwischen den Menschen herstellt, begreift, so kann man sich fragen, wie dieses ›Zwischen‹ strukturell und strategisch zur Geltung kommt und sich institutionell und medial darstellen lässt. Nur so kann es zu einem dynamischen Verhältnis von diachronen und synchronen Bestandteilen aus dem Gedächtnisschatz einer (sozialen) Gruppe kommen; nur so wird Geschichte (als aktualisiertes Gedächtnis) sicht- und bewertbar. Dies gilt in unserem Zusammenhang umso mehr, als sich der einstige Ort der NS-Reichsparteitage als ›SchattenOrt‹ aus dem Kontext der Geschichte herauslösen muss, um einen spezifischen Aussagewert für die wissenschaftliche und/oder künstlerische Verarbeitung zu erhalten und damit einen Zugang zum Gedächtnis zu ermöglichen. Denn dem »Gedächtnis, das ‚bewohnt‘ wird, steht die Geschichte gegenüber, die nicht bewohnt wird und keinen Bezug zur Gruppenidentität hat. Die stets parteiischen Gruppengedächtnisse existieren im Plural, die ‚objektive‘ Historie existiert dagegen im Singular.« 11 Mit anderen Worten: Der ›SchattenOrt‹ an sich ist unbewohnt; um ihn zu bevölkern, müsste er aus dem kulturellen in das kommunikative Gedächtnis geholt werden. Angesichts des – hier freilich aus pragmatischen Gründen notwendig gewordenen – Ortswechsels des Schauspiels am Staatstheater Nürnberg an einen ›SchattenOrt‹, nämlich in einen Kopfbau und dessen Räumlichkeiten in der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, ist es demzufolge sinnvoll, die Nutzung eben dieses (szenischen) Ortes aus der Perspektive des Widerstreits zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis zu untersuchen. Dabei soll der erfolgte Gebrauch des Ortes als Bühnen- oder Aufführungsraum mit den Begriffen des ›theatre on location‹ und des ›locational theatre‹ analysiert werden, denen sich – so die Annahme – signifikante Aspekte dieser Gedächtnisformen zuordnen lassen. Es wäre angesichts der architektonischen, ästhetischen und eigens in einem Dokumentationszentrum didaktisch aufbereiteten Sichtbarkeit der NS-Ideologie weiterhin danach zu fragen, inwieweit der konkrete Ort ›Kongresshal-
11 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: »Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis«, in: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/ Siegfried Weischenberg (Hg.), Opladen 1994, S. 118.
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le‹ als Szene Möglichkeiten zur aktiv kommunikativen Gestaltung – sei es durch die Theatermacher, sei es durch die Zuschauer – bietet bzw. diese sich durch kulturell erfolgte Normierungen eingeschränkt sehen oder gar völlig verbieten. Um sich den polyvalenten Texturen dieses (Erinnerungs-)Ortes, der ein Ort der Massen war – und auch als Ort der Täter bezeichnet wird,12 adäquat analytisch zu nähern, soll zunächst, unter Berücksichtigung von vorhandenen Definitionsansätzen der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, erörtert werden, was hier unter ›theatre on location‹ und ›locational theatre‹ verstanden wird, da die angelsächsische Herkunft der Begriffe und ihre dortigen Bedeutungen absolut heterogen und in ihren Wirkkonsequenzen äußerst disparat zu nennen sind.13 Der gemeinsame Nenner dieser Publikationen ist ein gewisser Pragmatismus, theatrales Handeln als Möglichkeit für die Vergegenwärtigung
12 Die Einschätzung von Nürnberg als Täter-Ort ist nicht durchgängig, was als weiteres Zeichen der Ambivalenz gelten dürfte: »In Nürnberg haben keine schlimmeren Greuel stattgefunden als sonst in Deutschland. Aber hier wurden sie salonfähig gemacht. Hier und nicht im Reichstag, noch nicht einmal in der Reichskanzlei wurden die sogenannten Rassengesetze verkündet, die den Beginn der systematischen Judenverfolgung in ganz Europa markieren. In Nürnberg, nirgendwo sonst, erhielten sie von den jubelnden Massen ihre quasi-plebiszitäre Legitimation. Deswegen ist Nürnberg kein Ort der Täter, auch kein Ort der Opfer. Nürnberg ist der Ort der Massen und Mitläufer, ohne die das System des Schreckens nicht funktioniert hätte.« Vgl. Dietzfelbinger, Eckart/Liedtke, Gerhard: Nürnberg – Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände – Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004, S. 133. Im Kontext der aktualisierten Bewerbung der Stadt Nürnberg zur Aufnahme in die UNESCO-Weltkulturerbeliste spricht der gegenwärtige Oberbürgermeister Ulrich Maly von Nürnberg als ›Ort der Täter‹ – vgl. dazu DIE ZEIT Nr. 24 vom 10.06.2010. 13 Vgl. dazu: Alderson, Wiliam T./Low, Shirley Payne: Interpretation of Historic Sites. Lanham MD 1994; Anderson, Jay: The Living History Sourcebook, Nashville 1985; Kaye, Nick: Site Specific Art: Performance, Place and Documentation, London/New York 2002; Kwon, Miwon: One Place After Another: Site Specific Art and Locational Identity, Cambridge, MA 2002; Pearson, Mike/Shanks, Michael: Theatre/Archaeology: Disciplinary Dialogues, London/New York 2001.
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von Geschichte, sozusagen als erlebte Erinnerung zu nutzen. Dies scheint auf den ersten Blick in unserem Sinne zu sein, jedoch führen uns dort vorgeschlagene Methoden schnell auf dünnes Eis, was sich am Beispiel des ›Reenactments‹, für das sich gegenwärtig auch die hiesige Theaterwissenschaft zu interessieren beginnt14, zeigen lässt: Unter ›Reenactment‹ versteht man »ganz allgemein die historisch korrekte Nachstellung vergangener gesellschaftlich relevanter Ereignisse«15. Das hieße in unserer Perspektive eine performative Aktivierung von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses im kommunikativen Gedächtnis der Gegenwart. So sind ›Reenactments‹ vor allem dadurch motiviert, »dass Welterfahrung, ob geschichtlich oder aktuell, immer weniger auf direkter Anschauung beruht, sondern heute fast ausschließlich medial, also über Bilder oder anderweitige Aufzeichnungen von (historischen) Ereignissen funktioniert«16. Angesichts einer massiven medialen Be- und Verbilderung der Gegenwart droht unsere Wahrnehmung einer ›mimikrytischen Deformierung‹ unterzogen zu werden, die letztendlich das Sehen einer Oberfläche ohne Tiefe meint.17 Dieser Umstand wird ob der zu bewahrenden und permanent zu aktualisierenden Geschichtsgehalte, die sich am Reichsparteitagsgelände symbolisch materialisiert sehen, zunehmend problematisch. Um hier Abhilfe zu schaffen, müssten adäquate Formen der Kommunikation gefunden werden. Dass Theater hier eine Schlüsselfunktion bei der Aneignung von medial geprägten Wirklichkeiten übernehmen könnte, betont Anne Kehl: »Im Vergleich mit dem Bildaufgebot der modernen Medien scheint das Theater heute als ‚Enklave‘ der Imagination mit anderen, leiblichen Mitteln: Das Theater setzt körperliche Präsenz voraus und es stellt einen unmittelbaren Kontakt zwischen dem Publikum und den Schauspielern wie auch unter den Zu-
14 Vgl. Otto, Ulf: »Krieg von Gestern. Die Verkörperung von Geschichtsbildern im Reenactment«, in: Orbis Pictus – Theatrum Mundi, Kati Röttger (Hg.), Bielefeld 2010, S. 77-88. 15 Arns, Inke/Horn, Gabriele (Hg.): History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a. M. 2007, S. 38. 16 Ebd., S. 38f. 17 Vgl. dazu Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Mimesis und Visualität. In: Aisthesis, Paragrana Bd. 4, Nr. 1/1995, Berlin 1995, S. 163-172.
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schauern her, der allerdings stark durch die bürgerlichen ästhetischen Konventionen eingeschränkt ist. Die entscheidende Frage bleibt, ob sich im öffentlichen Raum des Theaters ‚soziale Phantasie entzünden kann (etwa so, wie es Brecht mit seinem ‚Kolloquium über die gesellschaftlichen Zustände‘ andeutet) und ob dort Gemeinsinn zum Ausdruck kommt [...].« 18
In diesem Sinne wären z.B. Beiträge von Zeitzeugen, die ihr individuelles Wissen dem kommunikativen Gedächtnis zur Verfügung stellen und somit zur Modellierung der sozialen Phantasie hinsichtlich des Umgangs mit Vergangenheit, bzw. Geschichtsinhalten und deren Bezugnahme auf die Gegenwart beitragen könnten, von einiger Relevanz – zumal diese Quellen in absehbarer Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Jedoch stößt die Strategie einer performativ geprägten Rekonstruktion, bzw. Wiederaufführung von Vergangenheit dort an ihre Grenzen, wo sich dieser Vorgang aus politischen, wie moralischethischen Gründen verbietet bzw. institutionell verboten ist. Es wäre zwar praktisch mach-, ethisch aber nur schwer vorstellbar (und politisch nicht durchsetzbar), sich mit den ›Strategien des Reenactments‹ auf einer Handlungsebene die spezifischen Texturen des Reichsparteitagsgeländes zu erschließen, vor allem wenn man das ideologische Inkubationsrisiko dieser ›authentischen‹ Stätte dabei ausschließen möchte. Das liegt nicht zuletzt an der spezifisch entwickelten Erinnerungskultur zum Umgang mit diesem Topos.19 In den sich grundlegend mit dem Verhältnis von Theater und Erinnerung bzw. Theater und Gedächtnis beschäftigenden Arbeiten von
18 Kehl, Anne: Die Bildung der Vorstellung. Grundlagen für Theater und Pädagogik, Bad Heilbrunn 2002, S. 297. 19 Es wäre interessant, sich die Gegenstände von (deutschsprachigen) Reenactments genauer anzuschauen, bzw. sich die Frage zu stellen, inwieweit hier kulturelle und kommunikative Gedächtnisformen konkurrieren, bzw. koexistieren. So war beispielsweise ein Projekt am Kulturcampus der Universität Hildesheim unter dem Titel Schlacht am Tegeler Weg – ein 68er Reenactment unproblematischer als das Vorhaben der Gruppe Rimini-Protokoll im Rahmen des Festivals ›Theater der Welt 2002‹ die Live-Kopie einer Bundestagssitzung durchzuführen. Vgl. dazu http://kulturpraxis.wordpress.com/ 2010/06/21/schlacht-am-tegeler-weg-ein-68er-reenactment/, zuletzt gesichtet am 10.08.2010 und Primavesi: Orte und Strategien 2004, S. 13.
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Gerald Siegmund20 und Peter W. Marx21 wird der Ort als ›location‹ – sofern er sich überhaupt von der klassischen Form einer klar als solche bzw. als ›lieu des mémoire‹ (Pierre Nora) markierten Bühne, abhebt – nur am Rande analysiert. Oftmals stehen der Bezug zum Drama und dessen spezielle Umsetzung in Inszenierung bzw. Aufführung im Mittelpunkt. Weiterhin lässt sich eine Orientierung an Artefakten der Hochkultur erkennen, die zwar das Wechselspiel zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis in den jeweiligen Umsetzungen betont, jedoch den Blick auf (andere) Orte und Räume jenseits ihrer operativen Einbindung in den Vollzug von Inszenierungen (als Bühnenbild und Kulisse) nicht wirklich wagt. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten Friedemann Kreuders, der sich den Produktionen KlausMichael Grübers, die ›on location‹ entstanden sind, widmet. Zwar geht es Kreuder auch vordringlich um die spontan im Moment der Rezeption einsetzende und zeitlich weit über diese hinausgehende Entschlüsselungsarbeit des Zuschauers, jedoch billigt er dem Ort der Aufführung eine spezifische Qualität zu, »die für die Konstruktion eines historischen Erinnerungsraumes von großer Bedeutung ist.« Der Ort »festigt Erinnerung, in dem er sie lokal im Boden verankert, und verkörpert eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen übersteigt, so daß dem Ort beinahe selbst ein Gedächtnis zugesprochen werden kann«22. Eine genauere Ausdifferenzierung der Orte bzw. deren Nutzungsmodi erfolgt jedoch nicht, obwohl man den von Grüber in seinen Inszenierungen genutzten Orten, z.B. das Berliner Olympiastadion [Winterreise 1977], das Hotel Esplanade [Rudi 1979] oder dem Sowjetischen Soldatenfriedhof [Bleiche Mutter, zarte Schwester 1995] mit dem Analyse-Modell des ›theat-
20 Siegmund, Gerald: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Tübingen 1996. 21 Marx, Peter W.: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi, Tübingen 2003. Vgl. dazu auch seinen Beitrag in diesem Band. 22 Kreuder, Friedemann: »Inszenierung von Erinnerung in Klaus-Michael Grübers Bleiche Mutter, zarte Schwester«, in: Inszenierungen des Erinnerns (Paragrana Band 9 : 2000 : Heft 2), Erika Fischer-Lichte/Getrud Lehnert (Hg.), Berlin 2000, S. 137-153, hier S. 139. (Rechtschreibung des Originals). Oder auch: Kreuder, Friedemann: Formen des Erinnerns im Theater KlausMichael Grübers, Berlin 2002.
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re on location‹/›locational theatre‹ weitere Aussagen hätte entnehmen können. Eine Nennung des ›theatre on location‹ als spezifische Realisation und die Produktionsästhetik nachhaltig bestimmende Form des Theaters lässt sich im Kontext der Überlegungen Hans-Thies Lehmanns zum sogenannten »Postdramatischen Theater« verorten. 23 Er unterscheidet zwei Varianten dieser Form, die mit unserer Auffassung korrespondieren, ohne diese jedoch begrifflich voneinander zu scheiden: »Die besondere Spielstätte kann einerseits tel quel benutzt werden (…), ohne diesen Basischarakter der bespielten Räumlichkeit als Bühne zu verändern. Die zweite Variante ist der Einbau einer eigenen Bühne mit Dekorationen und Requisiten in den ‚Site‘.« 24
Die Motivation dieser Theaterform wird – Ersteres kam weiter oben bereits zur Sprache – in einer Mischung aus ideologischen (›politische Atmosphäre der 70er Jahre‹ ) und pragmatischen (z.B. der Notwendigkeit von Tourneen trotz fehlender Spielstätten) Argumenten behauptet. Lehmann konstatiert erst unter dem Stichwort ›site specific theatre‹ einen Eigenwert des Ortes, was bei ihm jedoch ohne weitere Abgrenzung zum ›theatre on location‹ bleibt: »Der Raum präsentiert sich. Er wird, ohne auf eine bestimmte Signifikanz festgelegt zu sein, Mitspieler. Er ist nicht verkleidet, sondern sichtbar gemacht. Mitspieler sind in einer solchen Situation auch die Zuschauer. Was nämlich durch das Site Specific Theatre in Szene gesetzt wird, ist nämlich auch eine Ebene der Gemeinsamkeit von Spielern und Zuschauern. Alle sind zugleich Gäste des Orts, sie sind alle Fremdlinge in der Welt einer Fabrik, eines Elektrowerks, einer Montagehalle. Sie erleben die gleiche, nicht alltägliche Erfahrung eines Riesenraumes, ungewöhnliche Feuchtigkeit, vielleicht Verfall oder Verkommenheit, in der man die Spuren von Produktion und Geschichte spürt. In dieser gemeinsamen Raum-Situation schlägt sich wiederum das Motiv nieder, Theater als geteilte Zeit, als gemeinsame Erfahrung zu denken.«
25
23 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 304ff. 24 Ebd., S. 315. 25 Ebd., S. 306.
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Gerade Letzteres zielt im weiteren Verlauf seiner Argumentation darauf ab, in der Darstellung von postdramatischen Phänomenen diese qualitativ mit einer Erfahrungsorientierung zu versehen und sie somit von der Mitteilungsfixierung des dramatischen, bzw. auf Repräsentation ausgerichteten Theaters abzuheben. Diese Argumentation wäre für uns dann relevant, wenn wir uns mit rezeptionsästhetischen Absichten auseinandersetzen wollten. Da dem nicht so ist (es geht uns primär um die Hervorbringung – also Produktion – von Bedeutung in Bezug zum genutzten Ort), müssen wir uns anders orientieren. Außerdem wäre die Verwendung des Begriffs ›site specific theatre‹ zu problematisieren bzw. zu präzisieren. Bei Lehmann wird dieser – durch seinen starken Bezug zur Qualität des Raumes/des Ortes – im Sinne des ›locational theatre‹ verwendet; jedoch ist er sehr häufig im Kontext der ›sitespecific-performance/-art‹ deutlich auf den Gehalt der Darstellung,26 bzw. den Darstellerkörper gerichtet und lässt so den Produzenten von theatral-performativer Bedeutung (im spielenden Vollzug bzw. als Konzept) dominant werden. In Bezug auf den ›Raum‹, ›Ort‹, die ›location‹ stehen meist dekorative Elemente und Requisiten im Fokus, die den vorher bewusst gewählten Deutungskontext forcieren und so einen (nicht unproblematischen) Authentizitätsanspruch an das rekonstruierte Material richten, was wir im Zusammenhang mit dem so genannten »Reenactment«, das ebenfalls deutlich auf den Darsteller bezogen agiert und argumentiert, an anderer Stelle bereits gezeigt haben. Im Ergebnis verschleiern diese Strategien eher die ›Eigen-Artigkeit‹ des Ortes, an dem sie sich abspielen. Anders gesagt: Während sich diese Formen einen eigenen/anderen Ort generieren, auch wenn sie sich an der Rekonstruktion historischer Orte abarbeiten und diese als Double entstehen lassen, schaffen sie durch diese Transformation eine Differenz zum Ort des Geschehens. ›Theatre on location‹/›locational theatre‹ hingegen wird den Ort selbst und seine vorliegenden Quali- und Quantitäten zu ergründen suchen. Erika Fischer-Lichte unternimmt in ihrer ›Ästhetik des Performativen‹ eine Ausdifferenzierung von Raumkategorien, da sie von ›performative[n] Räume[n]‹ und ›Atmosphären‹ spricht.27 Dies kann als Anregung für die Definition der uns interessierenden Theaterformen
26 Vgl. Kaye: Site Specific Art 2000. 27 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, S. 187ff.
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genutzt werden, wobei eine komplette Übertragung auch nur ansatzweise möglich ist, da ihr Konzept eng an den wahrnehmenden SinnesLeibern der ›embodied minds‹, d.h. allen Beteiligten aus Fleisch und Blut, gekoppelt ist, ohne sich explizit zu den spezifischen Texturen von Räumen/Orten zu äußern. Hiervon einmal abgesehen, könnte man jedoch die ›performativen Räume‹ dem ›theatre on location‹ zuordnen, da die utilitaristische Ausdifferenzierung – sie spricht von »drei Verfahren [...], die [die] Performativität des Raumes intensivier[en] [...]: 1) Verwendung eines (fast) leeren Raumes, bzw. eines Raumes mit variablem Arrangement, der beliebige Bewegungen von Akteuren und Zuschauern zulässt; 2) Schaffung spezifischer räumlicher Arrangements, welche bislang unbekannte oder nicht genutzte Möglichkeiten zur Aushandlung von Beziehungen zwischen Akteuren und Zuschauern, von Bewegung und Wahrnehmung eröffnen, und 3) Verwendung von vorgegebener und sonst anderweitig genutzter Räume, deren spezifische Möglichkeiten erforscht und erprobt werden.« 28
– mit der pragmatisch/dekorativen Auffassung des Ortes als ›location‹ korrespondiert. Hier markiert gerade der letzte Aspekt, d.h. die Nutzung vorgegebener Räume im theatral-performativen Sinn und in speziell thematischer Bezugnahme zum Topos deutscher Gedächtnisorte (so verweist auch Fischer-Lichte auf die Projekte Klaus Michael Grübers) strukturelle Analogien zur Bespielung der Kongresshalle: Das Staatstheater Nürnberg könnte sich als ›theatre on location‹ etablieren und wird dies – wie wir sehen werden – aus pragmatischen Erwägungen, z.B. der Erfüllung von tradierten Erwartungshaltungen an ein institutionelles Theater mit hoch-kulturell kodierter Funktionalität und den damit verbundenen Ansprüchen, als ein kulturelles Gedächtnis zu agieren, auch tun. Die ›Atmosphären‹ wären mit dem ›locational theatre‹ vergleichbar, denn diese nehmen unmittelbar Bezug zu den Qualitäten des Ortes und eröffnen einen semantischen Horizont, der über die spezifische Materialität des Ortes hinausgeht. Sie definiert, darin Gernot Böhme folgend, Atmosphären als »zwar ortlos, aber doch räumlich ergossen. Sie gehören weder allein den Objekten, bzw. den Menschen an, die sie auszustrahlen scheinen, noch denen, die den Raum betreten und sie
28 Ebd., S. 192.
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leiblich erspüren«29. Atmosphären schaffen »Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen ›tingiert‹ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raum.« 30 Da Böhmes Konzept als »Antithese zu einer semiotischen Ästhetik« verstanden werden kann,31 ist ein derartiges Selbstverständnis für ein strikt codiertes Theater relativ schwer zu generieren; zudem stößt dieses abstrakte Konzept in seiner Übertragbarkeit auf die kognitiven Voraussetzungen des ›locational theatre‹ an seine Grenzen. Letzteres meint eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ort selbst, ohne diesen lediglich rein pragmatisch oder affirmativ für die Realisation von theatral-performativer Kommunikation herzurichten. Hierzu ist ein Eindringen in die Texturen des Ortes, seiner Geschichte und den individuell erfahrbaren Erinnerungsstrukturen nötig, damit mehr als eine rein dekorative Nutzung möglich wird. Für unseren Ort würden – wie es im Kontext des ›Reenactments‹ bereits angedeutet wurde – diese Operationalisierungen schnell zum Problem; als weniger brisantes Anschauungsmaterial könnte ein Vergleich der Bühneneinrichtung an klassischen Open-Air-Spielorten auf Festivals wie Salzburg und Avignon dienen: Während der Hoffmannthalsche Jedermann auf der Freitreppe des Doms zu Salzburg ein ›theatre on location‹ ist (und sich in seinen Strukturen kulturell reproduziert), sind Stückauswahl und Inszenierungen im Innenhof des alten Papstpalasts oft auf die besonderen Inschriften des Ortes (Macht bzw. Vereinzelung des Individuums durch Einschüchterungsarchitektur etc.) abgestimmt und können eher als ›locational theatre‹ bezeichnet werden. 32 Ersteres denkt den Ort nur beiläufig mit, Letztere sind ohne diesen spezifischen Ort nicht denkbar und wären unvollkommen. Überträgt man nun diese Überlegungen zu ›theatre on location‹, das vor dem Hintergrund der erfolgten Definitionsbemühungen eher mit dem kulturellen Gedächtnis verknüpft scheint, und ›locational the-
29 Ebd., S. 201. 30 Ebd.; vgl. auch: Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 33ff. 31 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen 2004, S. 208. 32 Z.B. kommt dies in der Inszenierung von Dantes Inferno von Romeo Castellucci (2008) zum Ausdruck.
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atre‹, dementsprechend dem kommunikativen Gedächtnis zugehörig, und betrachtet dabei vor allem die Herangehensweisen, wie der Umgang mit dem Ort jeweils gehandhabt wurde, so kann man die spezifischen Dramaturgien des Staatstheaters Nürnberg mit dieser gezwungenermaßen genutzten ›location‹ problematisieren. Ein repräsentatives Theaterkonzept, dass den Ort lediglich als Dekorum im Sinne des ›theatre on location‹ nutzt, d.h. als Kulisse für die in das Drama eingeschriebenen Aussagen, die vom Publikum zur Kenntnis genommen werden sollen, wird andere Schwerpunkte setzen (müssen) als eine präsentistische und/oder atmosphärisch operierende Dramaturgie des ›locational theatre‹. In den sichtbar gewordenen Aufführungen im Rahmen des Projektwochenendes Anfang Juli 2008 ergibt sich dazu folgendes Bild: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui’ (Bertolt Brecht/Regie: Klaus Kusenberg) und Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm (Theresia Walser/Regie: Alexander May) wurden als klassische GuckkastenProduktionen in einem extra für die Belange des Theaters eingerichteten Saal im zweiten Kopfbau der Kongresshalle gezeigt. So gesehen kann man dem Theater eine marginale Beschäftigung mit dem Ort selbst unterstellen: Einmal abgesehen davon, dass sich gegen Ende der Inszenierung von Brechts Hitler-Parabel, bei der – als einzig signifikanter Eingriff in den Text – der Epilog des Orignaltextes gestrichen wurde, in SS-Uniformen kostümierte Darsteller schweigend in einigen Mauernischen des Zuschauerraums einfanden, beschränkten sich die Aktivitäten des Schauspiels am Staatstheater Nürnberg in seiner Produktions-, Werks- und Rezeptionspraxis auf einen eher affirmativen und rein auf das dramatische Material fixierten Zugang zu diesem besonderen Ort. Er war eher Dekorum als Mitspieler und sah sich durch seine Herrichtung als offizielle Ausweichspielstätte, die vordringlich den Ansprüchen eines bildungsbürgerlichen Abonnentenstamms gehorchend, zur Unkenntlichkeit maskiert. Der Ort ist als ›Site‹ abwesend und weitgehend domestiziert. Dieses Vorgehen kann – wie erwartet – als ›theatre on location‹ bezeichnet werden. Das Theater zog sich somit auf seine Funktion als kulturelles Gedächtnis zurück, indem es in seiner Stückauswahl auf Texte setzte, die den durch den Ort vorgegebenen und maßgeblich geprägten Kontext lediglich repräsentieren. Die im Eingangsbereich und im Foyer zu hörenden Auszüge aus Hitler-Reden und Wagner-Opern verstärkten diesen Eindruck nur noch.
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Dass ausgerechnet die Hitler-Parabel Brechts in dieser Hinsicht umgesetzt wurde, ist insofern problematisch, da sich Brecht in seinem ästhetischen Programm gegen das rein Repräsentative des Theaters gewendet hat. Theater sollte sich – wie es im Kleinen Organon paradigmatisch heißt – als Ereignis zwischen den Menschen, die nicht konsumieren sondern aktiv involviert werden sollen, abspielen.33 Dabei liegen strukturelle Analogien zum Gedächtnis auf der Hand: Der Dramengehalt lässt sich nur dann für den Zuschauer aktualisieren, wenn er seinen passiven Dokumentenstatus (= Geschichte) zugunsten einer aktiven Kommunikation (= Gedächtnis) verändern kann, die direkten Einfluss auf Individuen nimmt (= als Erinnerung). Zu diesem Problem dieser Inszenierung als ›theatre on location‹ kommt noch ein weiteres Dilemma, das Peter Sloterdijk wie folgt beschrieben hat: »Es ist kein Zufall, dass die meisten faschistischen, aber auch linkspopulistischen Regime von dem Motiv der völkischen Vollversammlung besessen waren und alles unternommen haben, die numerischen Massen, durch deren Akklamation sie sich als legitime Formen politischer Ordnung behaupten, als physisch real vereinigte Massen zu mobilisieren. Die Reichsparteitage der NSDAP haben dieses Motiv in die äußersten Konsequenzen verfolgt. [...] Hier wurde der Spuk einer bösen psychischen Klassenlosigkeit zu einer physischen Realität. Kraft ihrer Präsenz auf dem Nürnberger Gelände agierten die Versammelten die basale Fiktion nationalisierter Großgesellschaften aus: dass das Volksganze einer periodisch wiederholten Selbsterfahrung als aktuell versammelter Totalität fähig und bedürftig sei.« 34
Anders gesagt: Durch die seelenlose Architektur, die einer Masse eine Möglichkeit zur radikalen Subjektivierung geboten hat, ist der Ort doppelt unbewohnt bzw. an und für sich unbewohnbar. Individuelle Strategien einer artistisch-ästhetischen Verarbeitung müssen von daher doppelt scheitern, da die spezifische Textur dieser ›location‹ nur auf
33 Vgl. Brecht, Bertolt: »Kleines Organon für das Theater« (1948), in: Gesammelte Werke, Bd. 16, Schriften zum Theater 2, Frankfurt a. M. 1967, S. 661-700. 34 Sloterdijk, Peter: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 21.
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»Menschenschwärme« ausgelegt ist 35– und sich diese nicht mehr ohne weiteres kompensieren lässt. Im ›theatre on location‹ des Schauspiels am Staatstheater Nürnberg drückt sich die oben angedeutete individuelle Strategie dominant im Inszenierungstext der Regie aus. Hier lässt sich das doppelte Scheitern – auch und gerade im Rückgriff auf die elaboriert anti-faschistische Dramatik von Brechts Hitler Parabel – paradigmatisch ablesen. Die Frage, warum man sich dieses Dramas annahm, um es genau an diesem Ort zur Aufführung zu bringen, blieb in der Aufführung weitgehend unbeantwortet – die punktuell plakativ zur Schau gestellten Bezüge zur NS-Vergangenheit waren mehr Folklore als tatsächliches Anliegen innerhalb der szenischen Interaktionen. Auch die Umsetzung des satirischen Textes Theresia Walsers, der ein Treffen von NaziDarstellern im Rahmen einer Fernsehtalkshow thematisiert, blieb affirmativ, eng am Text und ohne klaren Bezug zum eigentlich besonderen Aufführungsort. Die eingebauten gestischen Zitate, z.B. ein erhobener rechter Arm, die Nachahmung der Intonation Hitlers oder das unvermeidliche Andeuten des signifikanten Oberlippenbarts, dienten lediglich der wechselseitigen (und humoristischen) Verständigung zwischen Theaterproduzenten und Zuschauern über den historischen Kontext – an der im Text vorgegebenen Grundkonstellation änderte das nichts. Diese Aufführung, so bemerkte es im Nachhinein ein Kritiker, hätte in der Theaterkantine einen idealeren Ort gehabt.36 So bleibt als vorläufiges Fazit: Das Dispositiv von Wahrnehmung und Kommunikation der an diesem Ort vorhandenen Texturen und damit verbundener und/oder selbst auferlegter Sanktionen dominierte und überlagerte dessen performative Potentiale. Hingegen kann die ebenfalls im Rahmen des Projektwochenendes gezeigte internationale Jugendclub-Produktion Du bist so jung und sollst schon sterben... als ›locational theatre‹ gelten, da sich hier die spezifischen Wirkmechanismen des Ortes, d.h. die performativen Potentiale des Innenhofs, d.h. dessen Größe und die sichtbare Architektur, selbst Sinn gebend in die Produktion verwoben sahen. Genau dies
35 Ebd. 36 Stoll, Dieter: Wie man böse in der Suppe löffelt. AZ Nürnberg vom 03.07. 2008; siehe: http://www.staatstheaternuernberg.de/inhalte/index.php?menu =1121&rezensionen=14748;14537;14538;14539, 10.08.2010.
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wurde dann auch in einzelnen im Nachhinein erschienenen Kritiken argumentativ gegen diese Produktion, die ob der Monstrosität des Ortes als Spielstätte nur scheitern konnte, verwendet.37 Ob und wieweit man diesen Kritiken en detail folgen möchte, ist eine andere Debatte – wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass die Texturen des Ortes mit den performativ in Gang gesetzten Handlungen vor Ort in Konkurrenz traten, so dass der Ort und seine Nutzung mehr als nur ein dekorativer Rahmen darstellte: So wurden die Zuschauer nach einer kurzen Szene vor dem Eingang in den Innenhof auf mehrere Kleingruppen geteilt, die den jugendlichen Darstellern an jeweils von ihnen gewählten Spielorten innerhalb des Innenhofes folgten. Beim Eintritt in den Innenhof waren auf einer gegenüberliegenden Balustrade hoch über dem Grund mehrere Menschen schemenhaft zu erkennen, die sich ob der großen Distanz zwischen ihnen und dem Publikum darauf beschränkten, mit Eisenstangen auf ein dort befindliches Geländer einzuschlagen. Allein dieser akustische Reiz ließ die besondere Qualität des Ortes signifikant deutlich werden; diese Handlungen wurden durch das gleichförmig körperliche Agieren der Akteure, die um einen sauberen Rhythmus bemüht waren, verstärkt und legten somit unmittelbar einen assoziativen Link an die in ihrer Simultanität vermeintlich ähnlich agierenden Massen der Reichsparteitage. Die Strategie der Vereinzelung durchzog sich über die gesamte Dauer der Aufführung, denn während man einer Szene beiwohnte, war die Anwesenheit der anderen gleichzeitig im Hof Agierenden immer als Geräuschfragment wahrnehmbar und unterstrich somit fortwährend die schiere Größe des Bauwerks bzw. die fragile Position, die man als Einzelperson darin einnahm und wahrnehmen konnte. Beendet wurde die Aufführung durch das Erscheinen eines Reisebusses, der die jugendlichen Darsteller nach Abschluss der letzten wiederum dem Gesamtpublikum dargebotenen Szene abholte: Die Jugendlichen stiegen in den Bus, winkten aus den Fenstern und fuhren davon. Die konkreten Handlungen der Spieler standen so in einem bemerkenswerten Kontrast zu denkbaren historischen Assoziationen – das Abholen konnte in der Gegenwart der Darstellung als Aufbruch
37 Vgl. den Beitrag von André Studt/Anja Sparberg/Christine Haas in diesem Band – im Anhang dieser Publikation findet sich eine DVD, in der auf die Produktion des Jugendspielclubs eingegangen wird, bzw. eine Sammlung von Presseberichten.
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einer Klassenfahrt gedeutet werden, wohingegen ein Abholen im Kontext der NS-Geschichte oftmals das Ende eines Lebens bedeutet hatte. Der Inhalt der gezeigten Szenen motivierte sich zum Großteil aus der Nutzung von durch die gezielte Befragung von Zeitzeugen gewonnenem Material. Diese hatten den Jugendlichen eine persönliche Sicht auf ihre gelebte Jugend in der NS-Zeit geboten und somit ihre individuellen Erinnerungsinhalte als spezifisches Wissen dem kommunikativen Gedächtnis zur Verfügung gestellt. Diese Form der Aktualisierung als Kopplung von Zeitzeugenberichten an die Aufmerksamkeit des anwesenden Zuschauers, der sich zudem von dem Ort als Mitspieler bedrängt sah, sorgte dafür, dass man im Gegensatz zum Diktum Sloterdijks verhalten optimistisch sein darf: Wenn man in (und an) dieser Form der Nutzung des totalitär angelegten Ortes scheitert, so delegiert sich dieses Scheitern auch an den Koproduzenten dieser Aufführung, den Zuschauer. Lernt dieser – und das eint ihn mit den Trägern dieser Produktion – im Gegensatz zum traditionellen Theaterbesucher des Guckkastens, der seine Erwartungshaltung lediglich gespiegelt haben will, so kann in diesem Scheitern eine (Bildungs-) Chance und damit ein Gewinn stecken. Anhand dieser am Projektwochenende gezeigten Aufführungen und darüber hinaus, d.h. anhand der Aktivitäten des Schauspiels am Staatstheater Nürnberg an der Ausweichspielstätte Kongresshalle in den nachfolgenden Spielzeiten (2008/09 und 2009/10) lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Das Staatstheater Nürnberg konzentrierte sich zu Beginn seines Aufenthalts an dem ›SchattenOrt‹ mit seinen Großproduktionen darauf, ganz im Einklang mit seinen repräsentativen Funktionen des kulturellen Gedächtnisses zu stehen. Die konkreten Geschichtsinhalte schienen so auf Distanz und wurden dementsprechend in der Form einer Repräsentation be- und verhandelbar gemacht. Dieser Umstand scheint nicht zuletzt dem Abonnementbetrieb, der damit zusammenhängenden Betriebsstruktur und den Erwartungshaltungen eines – vorwiegend älteren – ›Stammpublikums‹ geschuldet. Nur die Produktion der Jugendsparte wagte sich auf das Terrain des kommunikativen Gedächtnisses und versuchte die damit verbundene Alltagsnähe nicht nur als Movens für die beteiligten Jugendlichen sondern auch für die unmittelbaren Erfahrungen der anwesenden Zuschauer zu nutzen. Dementsprechend korrespondierte auch die Nutzung des Ortes mit den jeweils funktionalisierten Strategien des Erinnerns.
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Aus Sicht der Institution erscheint es folgerichtig, dass die nachfolgende Spielzeit 2008/09, an der das Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg an dieser Ausweichspielstätte verweilte, mit ›Schuld‹ überschrieben war.38 Dabei war auffällig, dass die Stückauswahl und deren Spielorte durchaus um eine Differenzierung bemüht waren: Die für das Abonnement relevanten Großproduktionen verblieben im oben dargelegten Duktus des kulturellen Gedächtnisses, ohne den Ort und seine Eigenheiten näher zu berücksichtigen. Kleinere Studioproduktionen, z.B. Speer (Ester Vilar/Regie: Alexander May) bemühten sich jedoch um eine Einbettung in das kommunikative Gedächtnis; sie fanden zum
38 »Besonders die kulturpolitisch brisante Tatsache, dass wir auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände Theater spielen, hat uns bei der Vorbereitung des Spielplans sehr beschäftigt. Wie ein unverrückbares Menetekel steht die Kongresshalle in der Stadtlandschaft, ein eindrückliches Bild dafür, dass das Dritte Reich etwas in die Welt gesetzt hat, von dem sich die Nachwelt nicht ohne weiteres befreien kann. Die direkte schuldhafte Verstrickung mag in den Hintergrund getreten sein – die Verantwortung für die Folgen, für demokratische Wachsamkeit ist nicht kleiner geworden. Deshalb durchzieht der Begriff SCHULD – eine uralte, zentrale Kategorie des europäischen Theaters – den neuen Spielplan wie ein roter Faden. Kann man in einem verbrecherischen System ohne Schuld bleiben? Welche Rechtfertigung kann es geben? Gibt es ein Ende der Schuld? Mit Carl Zuckmayers „Des Teufels General“ zeigen wir das erste Stück eines deutschsprachigen Dramatikers, das sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. In dem Doppelprojekt „Die Juden/Jubiläum“ stellen wir den aus heutiger Sicht fast rührend optimistischen Aufklärungsgeist Lessings dem schwarzen Humor, dem Wissen im das Schlimmste bei Georg Tabori gegenüber. Der österreichische Autor Franzobel schreibt im Auftrag des Staatstheaters ein Stück über „Das Zeugenhaus“ – Christiane Kohls verblüffende Recherche über eine weitgehend unbekannte Geschichte aus der Zeit der Nürnberger Prozesse. Um Schuld als moralische und politische Kategorie geht es auch in Schillers „Maria Stuart“ und in der einzig erhaltenen Triologie der Antike, der „Orestie“ des Aischylos.« Kusenberg, Klaus: »Liebe Zuschauer, liebe Schauspiel-Abonnenten«, in: Spielzeitheft 2008/2009, Staatstheater Nürnberg (Hg.), Nürnberg 2008, S. 36. Die Spielzeit 2009/10 war dann mit keinem Motto überschrieben, obwohl sich das Theater noch immer an der Ausweichspielstätte Kongresshalle aufhalten musste.
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Teil auf der Probebühne in einem intimeren und damit direkteren Austausch zwischen Publikum und Akteure statt – oder waren an diversen Orten des Kongresshallentorsos szenisch angelegt. Hierbei verdient vor allem Die Ermittlung (Peter Weiss/Regie: Kathrin Mädler) eine besondere Erwähnung, war sie doch die einzige Inszenierung des Staatstheaters Nürnberg als ›locational theatre‹ konzipiert und ließ sich als Parcours in diversen Räumen des ehemaligen Quelle-Lagers im Kongresshallenkomplex auf die Besonderheiten des Ortes direkt ein. Die Vorlage, die aus elf ästhetisch durchstrukturierten Gesängen, die ihrerseits von den stenographischen Mitschriften des Prozessbeobachters Weiss bei dem Frankfurter Auschwitz Prozess 1963-1965 und dessen Prozessakten stammen und als dokumentarisches Drama angelegt sind, wurde auf fünf Stationen gekürzt und von fünf ganz in Weiß gekleideten und Gummistiefel tragenden Schauspielern vorgetragen. In der Tradition der Uraufführung, die 1965 in Stuttgart von Peter Palitzsch realisiert wurde, sprechen auch hier alle Darsteller die Texte von Tätern und Opfern gleichermaßen; nur vereinzelt werden Einzelcharaktere angedeutet, was angesichts der Monstrosität des Textes und der in ihm verzeichneten Greuel jedoch nie dazu führt, psychorealistische Figuren darzustellen. Die Tatsache, dass das Quelle-Versandhaus, mittlerweile insolvent und nicht mehr existent, enorm von der erfolgten Arisierung im NS-Staat profitierte, verschafft dem Ort eine besondere Brisanz. Die Darsteller sorgten zwischen den Einzelstationen, die jeweils immer neue Zuschauanordnungen – mal saß man sich gegenüber, mal stand man im Kreis oder nahm nur eine Hälfte des Geschehens wahr – boten, für eine unablässige Bewegung durch das labyrinthartige – und nun aufgelassene – Lager und verstärkten durch eine exakte Bewegungs- und Sprechchoreographie die beklemmende und einschüchternde Wirkung der sie umgebenden Architektur. Der Zuschauer wird auf seinem Weg in das Innere des Kolosses für seine Wahrnehmungen sensibilisiert – seien es Hinweis- und Verbotsschilder, die plötzlich in einem lebendig assoziativen Wechselverhältnis zum Gesprochenen erscheinen, seien es kleine (wahrscheinlich von verbotenen Besuchern im Vorfeld angebrachten) Wandinschriften, zu denen bezeichnenderweise auch ein kleines, mit Kugelschreiber gekritzeltes Hakenkreuz gehörte. Diese Inszenierung setzt konsequent auf die symbolischen und atmosphärischen Signaturen des Ortes und verwebt diese geschickt mit dem Sprechtext, der am Ende, als sich die Darsteller in einem schier endlos scheinenden Wandelgang langsam
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den Blicken des Zuschauers entziehen, zunächst noch als überdimensionaler Schatten auf den nackten Wänden zu sehen sind und bevor sie im Nichts verschwinden, langsam als Echo auströpfelt. In keiner anderen Inszenierung während des Aufenthaltes an diesem – hier ganz wörtlich genommenen – ›SchattenOrt‹ wird in einer derartig direkten – gleichwohl durch die Form der Textvorlage motivierten – Ansprache eine Vergegenwärtigung von Geschichte betrieben, die vehement in das kommunikative Gedächtnis zurückgeholt scheint, auch wenn die Aufführung den Besucher zunächst einmal sprachlos machte. Diese Inszenierung zeigt beispielhaft, was möglich wäre, wenn man sich intensiv mit den Texturen eines Ortes auseinandersetzt – und ergänzt (bzw. aktualisiert) den traditionellen Anspruch des institutionalisierten Theaters, so etwas wie eine ›moralische Anstalt‹ sein zu wollen. Diese ist allzu oft Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses, die sich in der Repräsentation und -produktion von Ordnungsvorstellungen, die eine (bildungs-)bürgerliche Trägerschaft haben, beschränkt. Jedoch sieht das Bürgertum »sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend diszipliniert. [...] Die historischen Inszenierungen Keans, Dingelstedts oder der Meiniger, die mit archäologischem Gütesiegel bis zu den Kostümstoffen und -maßen eine geordnete, beständige Welt ‚wirklichkeitsgetreu‘ darboten, die Illusionsdramen der handlungsreichen, die Bewegung geradezu privilegierenden Melodramen, die gutgemachten Stücke vom Boulevard bis hin zu Ibsen mit ihrer geordneten, ‚geschlossenen‘ Dramaturgien und Zeichnungen fest gefügter ‚Charaktere‘ – sie alle sprachen, in unterschiedlicher Weise, von einer absolut regelmäßigen, vernünftigen, gleichsam ewig währenden Ordnung der Dinge.«39
Anders formuliert: Wenn sich Theater dogmatisch als ›moralische Anstalt‹ versteht, wird nur eine Seite der notwendig dynamischen Kommunikation betont – wie wir gesehen haben, ist das meist die dispositionale (Ordnungs-)Struktur des kulturellen Gedächtnisses. Dass hierbei dann meistens kein Platz für die Bevorzugung einer atmosphärischen Dramaturgie ist, die eine kognitiv-logozentrische und auf bloße Mitteilung fixierte Dramaturgie überwinden hilft und auf das Performative
39 Fiebach, Joachim: Inszenierte Wirklichkeit. Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen, Berlin 2007, S. 190.
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setzt, zeigten die klassischen Inszenierungsarbeiten des Staatstheaters Nürnberg am ›SchattenOrt‹. Wenn sich diese Ordnung jedoch herausgefordert sieht – was angesichts der immer noch unvorstellbar scheinenden deutschen Geschichtsinhalte, die sich auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände allenfalls erahnen lassen, gegeben ist – so muss institutionelles Theater, vor allem wenn es sich als sozialer (und damit auf konkrete Kommunikation ausgerichteter) Ort innerhalb der Gesellschaft versteht, reagieren. So besehen ist der Spagat des Theaters als Mittler zwischen kulturellen und kommunikativen Gedächtnis in unserem Fall von bezeichnender Ambivalenz.
Literarische Texte über das Reichsparteitagsgelände als Gegenstand einer Lesung und Ergebnis einer Schreibwerkstatt1 I NGMAR R EITHER
Der US-amerikanische Autor Don DeLillo hat es einmal so formuliert: »Ein Schriftsteller muss in der Lage sein, Lücken der Historie zu füllen.« 2 Das Verhältnis von Fakten und Fiktionen ist ein besonders spannungsreiches, sobald es um die sprachliche Darstellung von Geschichte durch Romanciers, Lyriker oder Dramatiker geht. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der poetischen Formbarkeit des historischen Stoffs. Zahlreiche literarische Texte verfügen über die Aussagekraft und das Potential einer geschichtlichen Quelle und ermöglichen für das Lesepublikum aufgrund dieser Eigenschaften oft einen ganz besonderen Weg, sich vergangenen Zeiten in einem ersten Schritt zu nähern. Dies gilt auch für den Themenkomplex des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes, dem sich seit den 1930er Jahren Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit ganz unterschiedlichen biografischen Hintergründen, Aussageabsichten und sprachlichen Mitteln widmen: Neben der pathetischen Propagandalyrik findet sich der irritierende Roman-
1
Koordination: Dr. Ingmar Reither (Kunst- und Kulturpädagogisches Zentrum der Museen in Nürnberg), Dr. Kathrin Mädler, Frank Behnke (Staatstheater Nürnberg).
2
http://www.zeit.de/1998/42/199842.delillo.xml, 20.07.2012.
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ausschnitt genauso wie das humoristische Haiku: Die entsprechenden Originaltexte sind zum vertieften Verständnis weiter unten aufgeführt. Welche Sprache also, welche Ausdrucksmittel finden sich in literarischen Texten über das Reichsparteitagsgelände? Und welche Sprache finden wir selbst, wenn wir uns in Gedichten oder Kurzgeschichten mit den gigantischen NS-Baurelikten am Nürnberger Dutzendteich auseinandersetzen wollen? Um diesen Grundfragen nachzugehen kombinierten das Kunst- und Kulturpädagogische Zentrum der Museen in Nürnberg (KPZ) und das Staatstheater Nürnberg anlässlich des ›SchattenOrt‹-Pojektwochenendes 2008 eine Lesung mit einer anschließenden Schreibwerkstatt. Der grundlegend produktionsorientierte Ansatz bestand darin, Literatur nicht nur zuhörend zu rezipieren, sondern auch schreibend zu generieren und sich dabei eigener gestalterischer Kompetenzen bewusst zu werden und diese in der Realbegegnung mit dem Kongressbautorso auszuloten. Weitere Vorgaben gab es in diesem ergebnisoffen angelegten Prozess nicht. 1.
Lesung
Die Lesung fand auf der Probebühne des Staatstheaters im ehemaligen NS-Kongressbau statt. Die einfachen Backsteinwände des vergleichsweise kleinen Raumes bildeten einen deutlichen Kontrast zur äußeren Granitstein-Schaufassade der gigantischen Bauruine am Dutzendteich. Im zeitlichen Umfeld des ›SchattenOrt‹-Projektwochenendes probte das Staatstheater Nürnberg auf der kleinen Probebühne gerade Carl Zuckmayers Des Teufels General, das von einem deutschen Luftwaffen-General handelt und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs spielt. Zum Bühnenbild der Nürnberger Inszenierung gehörte eine leicht schräg durch den Bühnenraum führende Flugzeugtragfläche, die, mit drei Stühlen und einem Tisch ausgestattet, während der Lesung als Podium diente. Im ersten Teil der Kooperationsveranstaltung lasen mit Adeline Schebesch, Rebecca Kirchmann und Michael Nowack drei Schauspielerinnen und ein Schauspieler aus dem Ensemble des Staatstheaters Nürnberg literarische Texte über das Reichsparteitagsgelände – und zwar von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren, die sich in den zurückliegenden acht Jahrzehnten mit dem NS-Aufmarschareal auseinandergesetzt haben:
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Heinrich Anacker (1901 – 1971) trat 1924 in die NSDAP ein und verklärte das NS-Regime in zahlreichen Gedichten. Im Rahmen der Entnazifizierung wurde er als »politisch minder belastet« eingestuft. Mit dem Gedicht Fahneneinmarsch beschreibt Anacker die Standartenweihe in der damaligen Luitpoldarena, dem heutigen Luitpoldhain gegenüber dem Kongressbau. Ina Seidel (1885 – 1974) diente der NSDAP nicht so vorbehaltlos wie Heinrich Anacker, passte jedoch mit einem Text wie Lichtdom ins ideologische Konzept der Nationalsozialisten. Der Lichtdom galt während der Reichsparteitage als eine der spektakulärsten Inszenierungen auf dem Zeppelinfeld: Über 100 Flakscheinwerfer wurden hinter den Tribünen aufgestellt und strahlten senkrecht in den nächtlichen Himmel. Claude Ollier (geb. 1922) befand sich von 1943 bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter in Nürnberg. In dem anlässlich der Lesung verwendeten Textausschnitt aus seinem 1988 erschienen Roman Bildstörung (franz. Original: Déconnection) schildert die Hauptfigur, der französische Fremdarbeiter Martin, das Reichsparteitagsgelände in den letzten Kriegsjahren. Wolfgang Koeppen (1906 – 1996) gelang mit der Romantrilogie Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom eine kritische Aufarbeitung der Nachkriegszeit. Der Tod in Rom vereint dabei unterschiedliche Personen, die alle mit dem Nationalsozialismus in Verbindung stehen und sich nach dem Krieg in Rom aufhalten. Unter ihnen ist Adolf Judejahn, der sich als Sohn eines ehemaligen SS-Generals an das Reichsparteitagsgelände erinnert. Günter Herburger (geb. 1932) nahm mit seinem Gedicht Ende der Nazizeit 1973 vorweg, was 1998 auf dem Nürnberger Zeppelinfeld Wirklichkeit werden sollte: ein Auftritt der Rolling Stones. Martin Droschke (geb. 1972) erhielt 1996 den Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden und veröffentlichte unter anderem das Gedicht Naherholungsgebiet Reichsparteitagsgelände . Fitzgerald Kusz (geb. 1944) gilt als der bekannteste fränkische Mundartpoet und widmete sich dem Reichsparteitagsgelände in einem seiner zahlreichen Haikus.
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Die Texte im Wortlaut: Heinrich Anacker Fahneneinmarsch Das braune Heer, gefügt aus kantigen Quadern, Liegt wie ein Riesenlaib erstarrt im Feld. Die Gruppenzwischenräume scheinen Adern, Die leer sind und von keinem Saft geschwellt. Da bricht der Fahnen vielgeteilte Reihe, Rot wie ein Lavastrom vulkanischer Glut Herein und füllt zur feierlichen Weihe Die hohen Adern mit lebendigem Blut. Aufblüht der Leib und reckt die braunen Glieder; Ins große Ganze fügt sich Teil um Teil Und hunderttausendfach dröhnt donnern wider, Der deutschen Zukunft sonnengläubig: Heil 3
Ina Seidel Lichtdom Der Lichtdom baut sich bläulich zu den Sternen und seine Pfeiler steh’n rings um das Reich. In ihren Grenzen gibt es keine Fernen, die Kuppel überwölbt uns alle gleich. Ihr sagt, es seien Vögel, die dort oben taumelnd durchkreisen das erhab’ne Rund? Mich aber dünkt’s, als täten sich von droben geheimnisvolle Zeugen schwebend kund. Hier stehn wir alle einig um den Einen, und dieser Eine ist des Volkes Herz. Das Herz, das wie die Quelle unter Steinen standhielt, dem tödlich starren Winterschmerz. Das aus der Erde schwerem Ackerschweigen sich unermüdlich pochend aufgekämpft,
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Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums (Hg.): Jahrbuch junger Dichtung, Bd. 1: Lyrik, Berlin o. J., S. 128.
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und das kein Spuk und kein Dämonenreigen im Glüh’n und Glauben für den Sieg gedämpft. In Gold und Scharlach, feierlich mit Schweigen, ziehn die Standarten vor dem Führer auf. Wer will das Haupt nicht überwältigt neigen? Wer hebt den Blick nicht voll Vertrauen auf? Ist dieser Dom, erbaut aus klarem Feuer, nicht mehr als eine Burg aus Stahl und Stein, und muss er nicht ein Heiligtum, uns teuer, ewigen Deutschtums neues Sinnbild sein? In hoher Kuppelrundung wallt die Wolke bewegt von rätselhaftem Flügelschlag. Wer ist’s, der vom vorausgegangnen Volke sich zugesellt dem großen deutschen Tag? Ach, zahllos sind sie mit uns angetreten, auf zu den Sternen staffelt sich der Chor, zu grüßen: Heil ihm – und: Hilf ihm! Zu beten – Die Unsichtbaren tragen es empor. -4
Claude Ollier Auszug aus Bildstörung (…) Während Martin auf den unebenen, schmutzigen Stufen der Luitpoldarena sitzt und den trübseligen, verlassenen Ort betrachtet, gelingt es ihm nicht, sich die damaligen Kundgebungen vorzustellen. Dabei hat er die Bilder in Erinnerung, Photos und Wochenschauen, so lange sind sie nicht her, diese Inszenierungen, dieses heidnische Zeremoniell der Parteitage, bei der jede Institution ihren Tag hatte, Partei, Armee, Sturmabteilung, Jugend. (…) Ihm ist, als läge ein Jahrhundert zwischen den sich drängenden begeisterten Massen und der Leere, der heute leergefegten Anlage, dem Kalender nach eine kurze Zeit, vier, fünf Jahre, doch die beiden Vorstellungen sind unvereinbar, schließen einander aus, dabei hängt eins mit
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Velmede, August (Hg.): Dem Führer. Worte deutscher Dichter, o. O. 1941, S. 16.
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dem anderen zusammen, die freigesetzte Kraft wurde verausgabt, an allen Enden Europas, und das Wasser, die Luft, die Vegetation haben wieder die Oberhand gewonnen. (…) Es ist nicht der erste Sonntag, an dem Martin hierher kommt, durch diese Gegend geistert, der Ort geht ihm nicht aus dem Sinn, die Umwälzung, die sich hier anbahnte, die Gewalttaten und Vertragsbrüche, der Krieg und was danach kam, der Zusammenbruch seines Landes, das Auftrumpfen der faschistischen Bünde, die sich um einen Namen rankende Mystifikation. Schiffbruch der vermittelten Werte, Verwirrung der Ideen, die Schule und seine Kindheitslektüren gingen den Bach hinunter, sah, wie alles, was er gelernt hatte, mit Füßen getreten, vertuscht und verschleiert wurde. Hier spielte sie sich ab, diese Geschichtsverdrehung, und auch anderswo in den Köpfen, dieser freche Schwindel, den man ihm verschwieg, bis er vor vollendeten Tatsachen stand. Der offenkundige Verfall dieser Hochburg der Exzesse zeigt sich ihm hier mehr als an den Trümmern in der Stadt, auch haben die Bomben nur wenig dazu beigetragen, eher ist es die Ausstrahlung der Dinge, die gespenstische Verödung der gigantischen Bauflächen: Palast und Marsfeld, großes Deutschlandstadion und Siegesallee sollten sich entlang einer monumentalen Achse reihen, so weit das Auge reicht, mit der Kaiserburg dort auf dem Hügel als Zielpunkt, antiker Ruhm als Unterpfand, mittelalterliches Alibi. Statt des Rasens nun Gestrüpp und Hecken um den Weiher, der Dutzendteich, wo einige Städter Boot fahren, ihre Paddel durch das verdreckte Wasser ziehen.5
Wolfgang Koeppen Auszug aus Der Tod in Rom Schon nahe der Peterskirche, auf die Kirche zu schreitend, schon ihrem Anblick hingegeben, (…) vor dem Prospekt der pompösen Fassade, vor dem Aufbau der stämmigen Säulen, vor der Kulisse der Kolonnaden, noch geleitet von den Pylonen der Via della Conciliazione (…) angesichts dieses berühmten, erhabenen und hochheiligen und, wie könnte es anders sein, sehr weltlichen Bildes, vor der sakralen altehrwürdigen und geschäftig begangenen Bühne, die alle Pilger mit
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Ollier, Claude: Bildstörung, Frankfurt a. M. 1991, S. 45-47.
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frommem Schauer betreten, alle Gesellschaftsreisenden als Pflichtfach geflissentlich absolvieren wurde Adolf von großer Bangigkeit befallen. Würde er vor dem Heiligtum genügen, würde er bestehen, würde es seinen Glauben stärken? (…) dummerweise nahm er die Pylonen der Straße wahr und erinnerte sich an die Wegmarken, nicht an solcherart mit eigentlich billigen Fabriklaternen gekrönte, sondern an Schmuckpfeiler mit Flammen und Rauch, an glühende Feuerhäupter, an eine Gasse brennender Säulen, durch die er als bevorrechtigtes Kind, als Sohn seines Vaters stolz gefahren war, an Nürnberg erinnerte ihn die Via della Conciliazione, an das Parteitaggelände leider, nur jenes Aufmarschfeld war dem Knaben prächtiger erschienen als dieser Weg zur Erzkirche, von dem er Pracht nicht erwartete, Pracht nicht wünschte, der aber doch wiederum prächtig sein wollte und mit der allgemein verworfenen und verachteten Nürnberger Pracht sich maß und ihr unterlag, die freilich nach Pylonenfeuer Häuserbrand, Städtebrand und Länderbrand gebracht hatte. Seine Erziehung schritt mit ihm. Diese Erziehung war nicht vollendet, sie war jäh abgebrochen worden und zudem verleugnete er sie. Aber nun war sie doch wieder bei ihm und begleitete ihn. Wenn er allein war, wenn er mit einem sprach, mit den Mitdiakonen, den gebildeten Lehrern der Priesterseminare, mit einem Beichtvater, dann war Adolf von der Vergangenheit der Ordensburg gelöst, frei von ihren Parolen, aber wenn er sich unter der Menge bewegte, wenn Massen ihn umdrängten, ihn verwirrten und ihn erbitterten, dann rührten sie die Listen der nationalsozialistischen Erzieher in ihm auf, die Lehre von der Massennützung, von der Massenverachtung, der Massenlenkung, auch die Bonzen hatten ihre Schafe geweidet, mit großem Erfolg, und die Lämmer waren ihnen gierig zugeströmt. Adolf verlangte es ehrlich, die Händel der Welt, das tobsüchtige Walten der Geschichte zu missachten, ein Kübel von Blut blieb übrig, warmes ekelerregendes Blut von Ermordeten, aber immer wieder, wenn Welt und Geschichte ihm nahe kamen, sich in sein Denken drängten, zweifelte er, ob er sich mit dem Anziehen des Priesterkleides wirklich von all diesem Mord getrennt habe, ob er nicht wieder trotz aller frommen Übungen in einer Organisation steckte, die mit allem Mordgesindel unwillentlich, aber zwangsläufig grotesk und tragisch verbunden blieb.6
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Koeppen, Wolfgang: Drei Romane. Tauben im Gras – Das Treibhaus – Tod im Rom, Frankfurt a. M. 1994, S. 496-499.
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Günter Herburger Ende der Nazizeit Wenn die Rolling Stones, die Rolling Stones Wenn die Rolling Stones in den Trümmern Des Reichsparteitagsgeländes von Nürnberg Wenn die Rolling Stones in den Trümmern Des Reichsparteitagsgeländes von Nürnberg Endlich zu spielen beginnen, und Mick Jagger Hunderttausend deutschen Lehrlingen Wenn die Rolling Stones in den Trümmern des Reichsparteitagsgeländes von Nürnberg endlich zu spielen beginnen, und Mick Jagger hunderttausend deutschen Lehrlingen, die in Blumen sitzen und Gras lutschen, seine Megaverstärker zeigt und singt und am selben Tag Rudolf Heß entlassen wird und in einem weißen Flugzeug über dem Stadion kreist, dann winken wir zum letzten Mal der Erinnerung an die zierlich schönen bösartigen Greise, die Konzerte dirigieren auf tödliche Art und wieder Geleekulturen züchten wollten, denn die Rolling Stones spielen in den Trümmern des Reichsparteitagsgeländes von Nürnberg und in den Megaverstärkern frisst singend Mick Jagger die Photos von Hitler und Heß. Denn die Rolling Stones spielen in den Trümmern des Reichsparteitagsgeländes von Nürnberg und in den Megaverstärkern frisst singend Mick Jagger die Photos von Hitler und Heß Denn die Rolling Stones spielen in den Trümmern des Reichsparteitagsgeländes von Nürnberg Denn die Rolling Stones spielen, die Rolling Stones.7 7
Radlmaier, Steffen (Hg.): Nürnberg. Das Nürnberg-Lesebuch, Cadolzburg 1994, S. 235f.
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Martin Droschke Naherholungsgebiet Reichsparteitagsgelände Durch das steife Spalier treten, wenn sie Dastehen wie eine Eins und vor uns Demütig tiefer gelegt sind, gleich abdrehen Werden in der Kolonne. Die Fahne im Bratwurstgeruch aus mobilem Feldgrill hebt sich zum Gruß: Wollt ihr das totale Erlebnis. Wollt ihr es härter als bisher. Man stellt sich am Wegweiser Märzfeld einem Disput über nötige Extraausstattung, der Frage Des effektivsten Vergasers. Im Panorama Die Führertribüne, ein Schwan auf dem Dutzendteich, Hannes, der unter der AudiClub-Fahne Bratwürste wendet und nachlegt.8
Fitzgerald Kusz ohne Titel am reichsbaddeidoochsgelände willmä annä ä religiös traktat zouschdeckn: bitte ka opium mehr!9 2.
Schreibwerkstatt
Während die Lesung von etwa 15 Personen besucht wurde, fanden sich zur anschließenden Schreibwerkstatt lediglich drei Frauen ein. Dabei berichtete eine der Teilnehmerinnen nach einer gewissen Zeit, dass sie zwar interessante Gelände-Impressionen gewonnen habe, jedoch keinen literarischen Text produzieren könne. Die zwei anderen Teilnehmerinnen setzten sich ebenfalls assoziativ mit dem baulichen NS-Erbe auseinander und verfassten insgesamt drei Texte, die am Ende dieses Beitrags im Wortlaut abgedruckt sind. Das Reichsparteitagsgelände erscheint in den beiden Gedichten und in
8
Laufschrift. Magazin für Literatur und Kunst, Nr. 1/1995, S. 19.
9
Kusz, Fitzgerald: Schdernla. 144 Haikus, Cadolzburg 1996, S. 34.
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der Kurzgeschichte gleichermaßen als Ort, dessen Vergangenheit immer noch wirkungsmächtig scheint und gegenwärtiges Empfinden ganz bewusst oder eher latent prägt – zum einen aus der Perspektive einer Frau (geb. 1929), die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche erlebte, zum anderen aus der Perspektive einer Frau (geb. 1973), die sich mit Leerstellen im Familiengedächtnis und generationellen Aspekten von Erinnerung auseinandersetzt.
Käthe Säckel (geb. 1929) Schatten – Ort (Kongresshalle) Am Ende Trümmer ungezählte Tote von Bomben zerrissen erstickt verbrannt eine Stadt gestorben im eigenen Ruinenstaub der Glaube an das Tausendjährige Reich zerschellt am Größenwahn eines Mannes und seiner Gesellen sein aus Stein gemeißeltes Zukunftsmodell ein grobes Erinnerungsstück seiner Tage stirbt mit der Zeit durch die Zeit nun stellt die Zeit ihre Fragen der Schatten-Ort schreit nach Sonnenlicht möchte tilgen was noch erinnert könnte trotz allem
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Zeugnis bleiben und Hoffnung
Käthe Säckel (geb. 1929) Kongresshalle Das schon lange Vergessene Verdrängte wirkt manchmal in einem Gedanken-Blitz Schatten-Ort für tausend Jahre entworfen erbaut altert schon im ersten Jahrhundert Staub rieselt aus der Wertlosigkeit zerbricht am Nutzlosen erinnert an den Bauherrn an den Sturz seiner Welt in den Feuerschlund der Hölle lasst Blumen blühen ringsherum wählt die Wegwarte die dem Warten noch nicht entwöhnt wurde füllt alle Räume von Wertlosem von Nutzlosem mit Leben und gebt den größten Raum der Zukunft
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Valerie Laubenheimer (geb. 1972) ohne Titel Volksfest. Die beiden Frauen auf ihrer Bank am Wasser hören das Kreischen der Vergnügungshungrigen und das Weinen der kleinen Kinder, auch das Johlen der Trunkenen. Sie sehen den Dutzendteich. Das Wasser schillert, oszilliert, fängt und beruhigt den aufgewühlten Geist. Es ist das erste Volksfest ohne Hermann, den Ehemann der älteren und Großvater der jüngeren der beiden Frauen. Zweimal im Jahr seit vielen Jahren waren Großmutter und Enkelin zu Zuckerwatte, Fröhlichkeit. Der Hermann saß derweil am See. Nun sitzen sie am See und hören, sind selbst nicht Teil, zum ersten Mal nicht Teil der großen Sause. Lautsprecher zerren die Stimmen von Fahrgeschäftsbesitzern durch die Luft. Da wird Großes, Unerhörtes, nie Geahntes versprochen. So wie früher. Die Junge atmet schwer. »Er fehlt mir auch«, tröstet die alte Frau. Die Junge weint. Der Hermann war nie mit dabei, wenn sie zum Volksfest gingen. Er saß am See, vielleicht auf dieser Bank, allein. »Ich habe das Wasser gern und auch die Bäume. Den Trubel hör ich lieber aus der Ferne. Geht ihr nur.« Sie gingen dann ohne den Hermann entlang dem kolossalen Rund aus Stein und längst vergangener Zeit hinein in diese bunte Welt, die nur Zerstreuung kennt. Jetzt werden aufgeregte Stimmen laut da drüben, Streit. Ist ja nicht alles Fröhlichkeit. Die Junge putzt die Nase und lehnt sich an die Ahne an. So innig sitzen sie und sehen auf den See. Wie Hermann. Seit sie das Album fanden, das von Hermann, mit Bildern, die das Gelände zeigen, das Rund am See, die großen Quader und uniformierte Massen ohne Volksfest – nein. Erst seit sie das Bild vom jungen Hermann fanden mit dem Teufel, eindeutig durch den handgeschriebenen Titel: Ich und der Führer, Nürnberg 1939. Seitdem ist alles anders. Aus der Welt sind sie gefallen, seit der Hermann starb und dieses Album hinterließ. Sie wissen jetzt, er war ein hoher Nazi. Gesprochen hat er davon nie. Sie haben nie gefragt. Sie liebten ihn danach. Nun sitzen sie am See und suchen seinen Blick. Das Wasser schweigt. Der Lärm kommt von den Lebenden am Volksfest. Zu denen hat der Hermann nie gehört. 3.
Schlussfolgerungen
Ein pädagogisches Angebot, das die literarische Dimension des Reichsparteitagsgeländes zur Diskussion stellt, ist auch für das Studi-
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enforum im Dokumentationszentrum denkbar – die Übertragbarkeit und Verstetigung des »Modellversuchs« vom ›SchattenOrt‹-Projektwochenende also grundsätzlich möglich und sogar anzustreben. Ganz egal wie die didaktischen und methodischen Zielsetzungen bzw. Wege dabei im Detail aussehen werden: In einer Kombination aus Textanalyse und kreativem Schreiben würden sich für ein jugendliches Besucherpublikum im Rahmen eines Studientages ungewohnte Zugänge zur NS-Geschichte ergeben.
Du bist so jung und sollst schon sterben... Der Ausweichspielort als Impulsgeber für ästhetische und politische Bildungsprozesse in der Theaterpädagogik des Staatstheaters Nürnberg
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Der temporäre Umzug des Schauspielhauses in die Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände veränderte auch die räumliche Situation des Theaterjugendclubs. Normalerweise wurden die Stücke für die Kammerspiele, einer klassischen Guckkastenbühne, und die BlueBox, einen kleinen, aus Zeltplanen bestehenden Multifunktionsraum auf dem Vorplatz des Theaters, entwickelt. Durch den Umzug ergab sich somit die Notwendigkeit, über neue räumliche, inhaltliche und ästhetische Konzepte der theaterpädagogischen Arbeit nachzudenken – ein Umstand, der zunächst von den Jugendlichen mit viel Begeisterung und Spaß am Experiment angenommen wurde. Dabei entstanden die ersten Produktionen noch im unmittelbaren Umfeld des Schauspielhauses, im leer geräumten Malersaal und auf dem Vorplatz des Theaters. Die Jugendlichen experimentierten mit Spielformen aus dem Bereich der Performance, der comedia dell’arte und des Musiktheaters. Die neuen Räume brachten neue Ideen und Mut, weiter in diese Richtung zu arbeiten.1 Im Zuge der Aktivitäten des ›SchattenOrt‹-Projekts ergab sich die Möglichkeit, eine international ausgerichtete Inszenierung zu erarbei-
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Vgl. dazu auch: »Haas, Christine: Theater(T)Räume«, in: Junge Bühne Nr. 3/September 2009, S. 12-16.
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ten, die im Kontext des Projektwochenendes im Innenhof der Kongresshalle uraufgeführt werden sollte. Dieser Ort ist nicht nur in seinen konkreten Ausmaßen und schieren Größe eine Herausforderung, sondern bietet auch als abstrakt-semantischer Raum im wörtlichen Sinne unfassbar scheinende Dimensionen, die weit über die verbliebenen und sichtbaren architektonischen Reste des einstigen NS-Prestigebauwerks hinausragen. Diese an sich schon komplizierte Ausgangssituation wurde durch eine gewisse Unlust der Jugendlichen, sich thematisch und theatral-performativ mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, erschwert: Zu Beginn der Spielzeit 2007/2008 konnten die Jugendlichen des Theaterjugendclubs zwischen drei Projekten wählen. Von ca. 30 Jugendlichen, die sich dort engagierten, entschieden sich sieben für das ›SchattenOrt‹-Projekt. Bezeichnenderweise stand dabei aber nicht die Aussicht auf die Besonderheiten und Herausforderungen des Themas im Vordergrund ihres Interesses, sondern die sich bietende Chance einer international angelegten Kooperation mit Jugendlichen aus einigen Partnerstädten Nürnbergs. Der Umgang mit dem Thema NS-Zeit wurde für die Jugendlichen erst über die geplante Begegnung mit Zeitzeugen interessant, da sie innerhalb ihrer Familien nur bedingt einen Zugang zur NS-Zeit gefunden hatten: »Ich hab zwei Omas, zwei Opas, leben alle noch, aber die erzählen einfach nichts drüber, man kann sie fragen, was sie wollen […], und deswegen find ich’s einfach mal interessant, Menschen zu treffen, die darüber reden wollen einfach.«2
Vielleicht liegt hierin auch ein Grund, dass viele Jugendliche zu diesem Thema eher distanzierte Haltungen hatten und sich dementspre-
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Die Aussagen der Jugendlichen, die aus dem Nürnberger Theaterjugendclub stammen, sind der unveröffentlichten Magisterarbeit von Christine Haas entnommen, die das Projekt, bzw. den Prozess des Theaterjugendclubs dokumentiert und Einzelinterviews mit den Beteiligten geführt hat. Die Namen der am Projekt beteiligten Jugendlichen findet man am Ende dieses Aufsatzes; hier: Raab, 14.11.2007. Zur ›Tradierung von Geschichtsbewusstsein‹ innerhalb von Familien vgl. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: ‚Opa war kein Nazi’ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M. 2002.
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chend abwartend äußerten, wie man sich aus einer Theaterperspektive dem Ganzen wohl nähern könne, bzw. wie das Vorhaben an dem vorgesehenen Spielort funktionieren würde. Jugendliche, die sich nicht für das Projekt entschieden hatten, formulierten explizit, dass sie das Thema nicht interessiere. Man könnte annehmen, dass sie damit im allgemeinen Kontext der Geschichtsvergessen-, bzw. Geschichtsverdrossenheit, die allgemein Jugendlichen ihrer Generation attestiert wird, stehen. So berichteten Beteiligte aus dem Projekt, die Gleichaltrigen von ihrer Arbeit erzählten und ablehnende Reaktionen erfuhren, »dass die Jugend momentan einfach keine Lust mehr hat, über die Nazi-Zeit zu diskutieren.«3 In der dann beginnenden Arbeit zu dem Theater-Projekt gelang es, unter Einbindung weiterer Kooperationspartner (z.B. dem Seniorentheater des Bildungszentrums der Stadt Nürnberg und des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände), Kontakte zu Zeitzeugen, die mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen wollten, herzustellen. Diese für die Jugendlichen attraktive internationale Perspektive wurde durch das Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg ermöglicht; inhaltlich und konzeptionell wurde so zudem eine Chance eröffnet, die eigene Geschichtswahrnehmung durch diejenige ausländischer Jugendlicher zu spiegeln. Da in vielen Partnerstädten Nürnbergs, die für das Projekt infrage gekommen wären, das Modell von institutionalisierten Theaterjugend-
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Raab, 02.05.2008. Dazu auch Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, S. 17. Dort heißt es: »Die Zerstörung der Vergangenheit, oder vielmehr die jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischen und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts. Die meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts wachsen in einer Art permanenten Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt.« – Dieser Befund gilt auch noch für das frühe 21. Jahrhundert, wenn er sich nicht sogar noch verschärft hat. Vgl. dazu die aktuelle Studie von Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder/Rita Quasten/Dagmar Schulze Heuling (Hg.): Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen. Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, Bd. 17, Frankfurt a. M. et al. 2012.
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clubs nicht vorhanden war, nahm man schließlich Kontakt mit Schulen auf, so dass sich letztlich eine Schultheatergruppe aus Krakau (Polen) und eine Klasse mit bilingualem Unterricht aus Brasov (Rumänien) als Spielpartner gefunden haben. Zu Beginn des Projekts einigte man sich auf folgende – für alle zunächst verbindliche – Fragestellungen: Was ist aus der Generation geworden, die zum Zeitpunkt, an dem das Reichsparteitagsgelände errichtet wurde, gelebt hat? Welche Erinnerungen verbinden die Zeitzeugen mit dieser Zeit, die ja ihre Jugend darstellt? Die Antworten zu diesen Fragen sollten das Material für die Darstellung ergeben, wobei zunächst offen bleiben sollte, welche theatral-performative Umsetzung die Partner finden würden. Infolgedessen führten 26 Jugendliche unter der Federführung Nürnbergs ein Jahr lang in drei Ländern Gespräche mit Zeitzeugen. Zusammen mit dem Schauspieler Thomas Dietz, der das Projekt unterstützte, fuhr die Theaterpädagogin des Staatstheaters Nürnberg, Anja Sparberg, in dieser Zeit jeweils für ein Probenwochenende zu den Partnern. Dort wurde mit den Schülern jeweils an den gefundenen Themen gearbeitet und das Konzept und die zu erwartenden räumlichen Dimensionen am Aufführungsort Nürnberg vermittelt. Die in diesem Prozess entstandenen Interviews und Berichte der Zeitzeugen zeigen, dass das Thema damals wie heute beide Seiten beschäftigt und gefühlsmäßig stark aufwühlt. Die involvierten Jugendlichen sahen sich hierbei herausgefordert, das von den Zeitzeugen Gehörte in konkrete Situationen zu überführen, die das disparate Material spiel- und damit handhabbar machte. Dabei boten die Aussagen der Zeitzeugen manche Widersprüchlichkeit und punktuell – aus der historischen Distanz heraus – Aufforderungen zum Widerspruch. Am Ende stand das Projekt mit dem Titel Du bist so jung und sollst schon sterben.... In einer intensiven Theaterprobenwoche wurden die Arbeitsergebnisse der drei Gruppen in ein Gesamtkonzept vor Ort, d.h. im Innenhof der Kongresshalle, zusammengeführt und im Rahmen des Projektwochenendes der Öffentlichkeit präsentiert.4 Im Gegensatz zu anderen Arbeiten des Nürnberger Theaterjugendclubs verlangte dieses Projekt formal und inhaltlich nach einer völlig anderen Herangehensweise, was nachfolgend anhand der Themen ›Arbeit mit den Zeitzeugen‹ und ›Besonderheiten des Aufführungsortes‹ grob skizziert werden soll.
4
Eine detaillierte Beschreibung der Aufführung, Fotos und kurze Ausschnitte findet man auf der dieser Publikation beiliegenden DVD.
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Die Begegnung und die Arbeit mit den Zeitzeugen, also mit Menschen, die potentiell Ungeheuerliches erlebt hatten und darüber sprechen wollten, brachte die Jugendlichen zunächst in eine eher passive Zuhörersituation. Hatten sich die vorangegangenen Eigenproduktionen thematisch fast ausschließlich an der Lebens- und Erlebniswelt der Jugendlichen orientiert und sich in der Darstellung von vermeintlich eigenen Gedanken und Gefühlen im Spiel von Anbeginn an aktiver und daher vermutlich leichter umsetzen lassen, so konnte man bei diesem Projekt zunächst eine gewisse Distanz zum Material ausmachen. In Nürnberg trafen die Jugendlichen, die alle zwischen 1989 und 1990 geboren wurden, auf ältere Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs so alt waren wie die Jugendlichen heute. Die Begegnung mit diesen Menschen, die etwas über sich erzählen wollten, wobei diese erzählten Erinnerungen zum Teil traumatisch, konfliktreich und gefühlsmäßig ungeklärt erschienen, stellte die beteiligten Jugendlichen vor große Herausforderungen. Die Erschließung der Thematik und des letztendlichen Spielmaterials mit Strategien der Oral History machte die Ambivalenz dieser Methode nur zu deutlich: Die mündliche Erzählung als Quelle ist an sich problematisch einzuschätzen, da sich in der oralen Überlieferung Charakter, Wert des Erzählers und des Erzählten spiegeln, wobei sich die gemachten Aussagen in einem tatsächlich gelebten Leben kontextualisieren lassen müssen. Dabei kann es dazu kommen, dass der so vermittelte Inhalt vom Sprecher – bewusst oder unbewusst – selektiert wird; d.h. bestimmte Dinge werden erinnert (und können erzählt werden) und andere Dinge nicht (und werden folgerichtig verschwiegen). Hierzu haben dann auch die Jugendlichen Beobachtungen gemacht: Die ersten Begegnungen mit den Zeitzeugen fanden in der Gesamtgruppe statt, bei denen unter den Jugendlichen aufgeteilt wurde, wer was zu beobachten hatte, denn es interessierte die Projektteilnehmer, wie sich die alten Menschen körperlich zu dem verhielten, was sie sagten. Insgesamt stellen die Jugendlichen fest, dass die Zeitzeugen unangenehme Fragen ignorieren: »Öfters war’s so, dass man ne Frage gestellt hat, die irgendwie um Schuldfrage oder um irgendwas, was ihnen unangenehm war, [ging] und man hat total gemerkt, der Blick ging irgendwie so weg, man hat so gemerkt, sie sind irgendwie kurz weg, und dann haben sie auf einmal was ganz anderes gesagt und sind
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einfach überhaupt nicht auf die Frage eingegangen, weil sie’s wirklich nicht wollten.«5
Dabei schien es den Jugendlichen so, als würde das oftmals nicht bewusst passieren. Die Projektteilnehmer sahen ein, dass »die, die wir anklagen könnten, schon unter der Erde [sind], weil die Leute, die wir jetzt interviewen, waren bei Kriegsende so alt wie wir heutzutage« und Schuldzuweisungen somit nicht möglich waren6. Allerdings schien es in den Erzählungen der Zeitzeugen so, als wären auch all ihre Mitmenschen damals unschuldig gewesen: »Die Familie ist immer unschuldig, so wird das immer dargestellt, und wenn es wirklich so wäre, dann wäre das Ganze ja nicht passiert, wenn niemand irgendwas gemacht hat.«7 In dieser kurzen Beschreibung wird nicht nur die thematische Komplexität des Projektes deutlich, sondern auch die Vorbehalte gegen die Oral History, denn diese könnte – und das ist in unserem Zusammenhang von einiger Relevanz – »trotz gegenteiliger Absicht – die Geschichtsbetrachtung in bestimmter Weise entpolitisieren. Denn im be- und erfragten Wahrnehmungsraster des Alltagsbewusstseins ist das Politische, oder anders gesagt, ist die Bedingtheit des Handelns durch Herrschafts- und Machtstrukturen weitgehend ausgeklammert.«8 Dieser Sachverhalt sieht sich – ohne an dieser Stelle eingehender auf die unterschiedlichen Diskurse und Debatten zur sogenannten »Vergangenheitsbewältigung« näher eingehen zu wollen 9– flankiert von dem
5
Wagner, 02.05.2008.
6
Höcht, 02.05.2008.
7
Ludwig, 02.05.2008.
8
Schaffner, Martin: »Plädoyer für Oral History«, in: Vergangenheit in mündlicher Überlieferung (= Colloquium Rauricum Band 1), Jürgen von Ungern-Sternberg/Hansjörg Reinau (Hg.), Stuttgart 1988, S. 346. Vgl. dazu auch die generelle Problematisierung der Oral History im Einleitungstext dieses Sammelbandes; ebd., S. 1-5.
9
Vgl. dazu: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007; zum ›Scheitern der Entnazifizierung‹ vgl.: Peisker, Ingrid: Vergangenheit, die nicht vergeht. Eine psychoanalytische Zeitdiagnose zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Gießen 2005, S. 27-80, hier v. a. S. 74ff.
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Vorwurf einer unzureichend gelungenen Verarbeitung der NS-Vergangenheit der Generation der Zeitzeugen, die man als Generation der Hitler-Jugend, die Flakhelfer-Generation, als betrogene oder, einem Begriff von Helmut Schelsky folgend, auch als ›skeptische Generation‹ bezeichnet.10 Der Umstand, dass sich diese Generation entscheidend durch den Zusammenbruch des NS-Staates und der damit notwendig gewordenen Neuorientierung geprägt sah, wobei in diesem Zusammenhang gerade die öffentliche Konstruktion des Mythos einer ›Stunde Null‹ dafür verantwortlich wurde, den (westdeutschen) Besiegten »die gesellschaftliche Praxis der Verleugnung und des Beschweigens« zu ermöglichen11, musste bei den Gesprächen mit den Betroffenen immer mitgedacht werden. Nach 1945 kann man konstatieren, dass sich die (West-) Deutschen »durch Flucht aus der Erinnerung und Derealisierung der eigenen Vergangenheit« einer »unangenehmen Selbstkonfrontation entzogen« hatten.12 Deutlich wurde, dass die Auseinandersetzung mit den Zeitzeugen verschiedene Schwierigkeiten beinhaltete. Die Jugendlichen brauchten einen Partner, der sich in der Geschichte des Nationalsozialismus auskannte und das Erzählte jeweils in einen historischen Kontext rücken bzw. Anregungen zur ei-
10 Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation: eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957. Zum Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme des Selbstverständnis der Generationen vgl. Reuleke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, (= Schriften des Historischen Kollegs 58), München 2003. Hier vor allem die Beiträge von Ulrich Herbert (»Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert«, ebd., S. 95-115) und Heinz Bude (»Die 50er Jahre im Spiegel der Flakhelfer- und der 68er-Generation«, ebd., S. 145-158). 11 Hobuß, Steffi: »Mythos Stunde Null«, in: Fischer/Lorenz, Vergangenheitsbewältigung 2007, S. 42f. 12 Peisker: Vergangenheit 2005, S. 44. An anderer Stelle: »Ein ganzes Volk war beteiligt, direkt oder indirekt, tätig oder zulassend, wissentlich oder unwissentlich. Weil die Linie, die Verbrecher vom normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, so effektiv verwischt worden sind, fühlten sich nach 1945 fast alle Deutsche von Schuld und Scham bedroht und versuchten auszuweichen. [...] Um Schuld zu verdrängen, muss man diese [jedoch] erst empfunden haben.« Ebd., S. 75. Dazu auch: Mitscherlich Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.
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genständigen Recherche geben konnte – nicht zuletzt, um das Gehörte mit anderen Quellen zu vergleichen, bzw. es mit Glaubwürdigkeit zu versehen. Im Spannungsfeld einer vermeintlich unbearbeiteten und/oder verdrängten Vergangenheit und dem damit zusammenhängenden Unverständnis der Erinnerungsträger auf der einen und der aus der historischen Distanz relativ ahnungslos anmutenden Fragen der Jugendlichen auf der anderen Seite, erschien es dennoch – bei aller angebrachten methodologischen Skepsis gegenüber der Oral History – angebracht, mit ihren Strategien zu arbeiten, da hierdurch »inbesondere jene Dimensionen der Zeitgeschichte erschlossen werden, die mit schriftlichen Quellen nicht erfasst werden können: • •
Wandel und Kontinuität von alltäglichen Lebensbedingungen, Deutungsmustern und Handlungsmöglichkeiten. Die Erfahrung von Subjektivität und der Lebensgeschichte auch jener sozialen Gruppen, die in schriftlichen Quellen kaum Spuren hinterlassen, beziehungsweise darin nicht durch Selbstdarstellung, sondern durch Fremdwahrnehmung geprägt sind.« 13
In diesem Sinne eröffnete die Diskrepanz zwischen Schulbuchwissen und biographischer bzw. erzählter Geschichte den Jugendlichen neue Perspektiven auf das Thema. Es waren gerade die Alltagsgeschichten, die die Jugendlichen faszinierten und stark für denkbare Schnittmengen der Erfahrungswelt ›Jugend‹ sensibilisierten. Aus den Erzählungen der Zeitzeugen wurde deutlich, dass sich ihr ganz normales Leben während des Nationalsozialismus schrittweise und durch den Krieg dann extrem veränderte. Der Bezug zu der Lebenswelt der Jugendlichen wurde durch die Erzählungen wieder hergestellt – und markierte einen Kontrast zum schulisch-kanonischen Wissen als »Geschichte zum Erleben« 14 . Die manchmal brutalen oder auch sehr subtilen Veränderungen der jugendlichen Lebenswelt der Zeitzeugen konnten gut nachvollzogen werden, die Schilderungen von der Wegnahme von Wohnungen oder der erzwungene Schulwechsel eines jüdischen Kindes waren für die Jugendlichen sehr konkret und regte sie an, sich eben mit den vielleicht nicht zur Sprache
13 Schaffner: »Plädoyer für Oral History« 1988, S. 345. 14 Raab, 06.07.2008.
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gekommenen Handlungs- und Machtstrukturen dahinter zu beschäftigen. So äußerte sich eine Jugendliche: »Die Fakten, alles, kennt man, aber ich glaube, man entwickelt einfach ein größeres Gespür dafür, wie sich die Leute in der Zeit gefühlt haben, und auch gerade junge Menschen. Und vielleicht auch ein bisschen mehr, weil man doch immer dazu neigt, denen Vorwürfe zu machen, diesen Generationen, dass man vielleicht auch versteht, ja, vielleicht hätte ich genauso gehandelt, wenn ich in der Zeit gelebt hätte, hätt’ auch nichts dagegen gemacht, wär’ auch nicht widerständig gewesen, das kann man vielleicht besser nachvollziehen.« 15
Durch die Verknüpfung der biographischen Schilderungen mit den historischen Ereignissen wurden konkrete Menschen sichtbar – aber auch der Blick auf die Stadt Nürnberg, den eigenen Wohn- und Sozialisationsort, wurde verändert: »Wenn du jetzt durch die Straße gehst und weißt, hey, da hat der und der gewohnt, und der Bunker ist nur ein Stockwerk tiefer und der saß da drinnen und hat geweint, weil die Amerikaner vorbeigelaufen sind und er hatte einfach Angst... Natürlich verändert das einen, weil man einfach mit ganz anderen Augen durch die Stadt geht.« 16
Neben inhaltlichen Aspekten war der Einsatz der Oral History auch formal motiviert: »Es handelt sich um eine auf die Erweiterung von Artikulations-, Selbstdarstellungs-, Erkenntnis- und Interpretationsmöglichkeiten abzielende, gemeinsame Anstrengung zweier oder mehrerer Gesprächspartner/innen. Dabei wird der einseitige Vorgang hermeneutischen Verstehens, wie er der Arbeit mit schriftlichen, nicht mehr veränderbaren, abgeschlossenen Quellenbeständen zugrunde liegt, zum wechselseitigen Dialog ausgeweitet.« 17
15 Raab, 02.05.2008. 16 Haas: Ludwig, 06.07.2008. Es ist interessant, dass das Weinen in dieser Geschichte offensichtlich nicht mit den Gräueln des Krieges oder der NS-Zeit zusammenhängt, sondern angesichts der Niederlage und Befreiung – aus Angst vor dem amerikanischen Besatzer – erfolgt. 17 Schaffner: »Plädoyer für Oral History« 1988, S. 345.
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Die strukturellen Affinitäten zum Theater als Paradigma der dialogischen Form liegen auf der Hand – wobei sich deutliche Unterschiede von Theater und Oral-History zeigen und neue Probleme aufwerfen: »Oral-History-Arbeit sollte deshalb darauf angelegt sein, daß Fremdbeschreibung hinter Selbstbesprechung zurücktritt, daß Bearbeitung und Interpretation von Material einem kooperativen kommunikativen Prozeß weicht. Gerade weil die Interessenlagen der Beteiligten nicht kongruent ist, handelt es sich um einen offenen Prozeß, in welchem der vielfältige Bedeutungsgehalt der unzähligen Facetten erinnerter Vergangenheit prinzipiell nicht abschließbar zur Debatte steht.«18
Mit einer Theateraufführung jedoch findet genau das Gegenteil statt, da sie eine Form der Fixierung (und damit wieder einer Fremdauslegung) darstellt. Die Jugendlichen wollten ja nicht nur mit den Zeitzeugen sprechen, sie wollten eben auch Theater spielen. Auch wenn der Zeitaufwand in Bezug auf die Recherche in diesem Projekt sehr viel größer als die Arbeit an Körper, Stimme, Ausdruck und Szene gewesen ist – und somit das, was sonst im Theaterjugendclub im Vordergrund steht, für die politische/historische Bildung zurück genommen werden musste, ergab sich für die Jugendlichen die Herausforderung, aus dem Gehörten, Recherchierten und damit verbundenen Gefühlen szenische Situationen, Erzählungen und/oder Monologe zu schaffen: »Kann ich die Geschichte so verkaufen, dass ich sie richtig darstelle aus ihrer Sicht, und will ich sie überhaupt so darstellen, wie sie sich sehen will.« 19 »Ich will ja auch nicht eins zu eins das wiedererzählen, was die Person gesagt hat, sondern ich will ja auch selber was mit einfließen lassen, aber da ist halt doch immer die Gefahr dabei, dass man vielleicht... ja... die beleidigt, was man ja nicht will.«20
Die Diskrepanz zwischen der historiographischen und der theatralischen Methode zeigte sich exemplarisch in der Frage zum Verhältnis Darsteller – und seine Fragen und Haltungen in dieser Erzählung – und
18 Ebd., S. 346 (Rechtschreibung des Originals). 19 Höcht, 02.05.2008. 20 Ludwig, 02.05.2008.
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Zeitzeuge. Oral History lässt den Zeitzeugen sprechen, das Theater braucht den Darsteller. In diesem Zusammenhang wird eine weitere, hier bereits angedeutete Diskrepanz zu den anderen Arbeiten des Jugendspielclubs deutlich: Der Theaterjugendclub ist als außerschulischer Raum eher ein Ort ästhetischer als politischer Bildung. Das Thema des Gesamtprojekts und die Ausgangskonstellation für die Annäherung des Jugendspielclubs schien aber auf den ersten Blick eher einen schulischen Charakter zu haben, was sich in ersten Diskussionen zum Gesamtprojekt in der Frage zeigte, ob nicht bestimmte theaterpädagogische Arbeitsweisen auch auf den Schulunterricht übertragbar wären. Nun sind aber solche Fragen der politischen Bildung in der Theaterjugendclubarbeit eher sekundär bzw. implizit. Bei diesem Projekt schob sich jedoch die politische Bildung immer wieder in den Vordergrund. Allein die inhaltlich-dramaturgische Auseinandersetzung mit dem Innenhof der Kongresshalle und der generellen Nutzung der Kongresshalle als Theaterraum nahm in den Debatten zum Projekt viel Raum ein. Die Aussagen der Jugendlichen, die ihre Ansichten und Gefühle im geschützten Spielraum des Theaterjugendclubs sehr direkt und in großer Offenheit formulieren können, standen dabei oft in einer bemerkenswerten Distanz zu den offiziell geltenden Sprachformeln derjenigen, die sich qua institutionalisierter Verantwortung kommunikativ im Umgang mit dem historisch belasteten Erbe äußern. Die Notwendigkeit der Transformation von subjektiv jugendlicher Weltwahrnehmung in ästhetisch geformte Aussagen, die als Standpunkt vor einem Publikum öffentlich werden, sah sich – wie oben angedeutet – durch die Ungleichzeitigkeit des Inhalts und der genutzten Quellen herausgefordert. Zu den Besonderheiten des Aufführungsortes gehören nicht nur seine bereits angesprochenen übergroß scheinenden konkreten wie diskursiven Dimensionen,21 sondern auch der besondere persönliche Zugang. Abgesehen von einem Teilnehmer, Ioachim Zarculea, sind alle deutschen Teilnehmer des Projekts in Nürnberg geboren und nahmen das Reichsparteitagsgelände in ihrer Kindheit vornehmlich als Freizeitort wahr. Sie kannten es von Volksfestbesuchen und sportlichen Aktivitäten. Bei vielen kam der historische Hintergrund erst mit dem Geschichtsunterricht, der aber nicht viel an der an sich positiven
21 Vgl. dazu den Beitrag von André Studt in diesem Band.
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Wahrnehmung des Geländes veränderte. Auf die Frage, was sie von der sogenannten »profanen Nutzung« der Kongresshalle hielten, antwortete eine Teilnehmerin: »Ich find’s lustig, dass die Frage immer wieder auftaucht, ich weiß nicht, für mich wär’s schlimm, wenn dieser Ort die ganze Zeit mit einem Mythos in gewisser Weise verstaubt und nicht genutzt wird und das ewig im Prinzip ein Ort des Schreckens, oder der einfach nur von Hitler besetzt ist, oder von den Nazis, bleiben würde. Ich find’s nicht negativ, dem Ganzen irgendwie positive Erlebnisse oder ne Emotion damit zu verbinden oder den Leuten zu geben. Also ich find das eigentlich gar nicht schlecht, dass man den Leuten - natürlich muss man schauen, in welchem Maße - aber andere Veranstaltungen da stattfinden lässt.«22
Den Innenhof der Kongresshalle kannten die meisten in erster Linie von der Aussichtsplattform des Dokumentationszentrums. Als ihnen im ersten Interviewzyklus Mitte November 2007 die Frage gestellt wurde, ob sie schon wüssten, wo sie spielen würden, war dies den meisten noch nicht bewusst, der Ort war weitgehend unbekannt. Auf eine Phase der Unkenntnis folgte eine Phase der intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kongresshalle und den darauf bezogenen Erinnerungen der Zeitzeugen. Den gemeinsamen Besuch der Gruppe am Spielort beschreibt eine Jugendliche dann wie folgt: »Überwältigend, sag ich mal. Ich hab die Kongresshalle noch nie von unten gesehen, also, ich bin da noch nie reingegangen, in den Innenhof, sondern hab immer nur vom Doku-Zentrum aus da reingeschaut, und es ist immens groß. Ich hätt’s mir nie so vorgestellt und man kommt sich so klein vor, und wenn man überlegt, wir sind vielleicht 20 Leute, die da drinnen spielen sollen, das ist eine unglaubliche Vorstellung.«23
Auch die anderen Teilnehmer finden den Ort zuerst überwältigend und sogar einschüchternd. So sagt Ioachim Zarculea, er sei anfangs »mit den Gefühlen echt Achterbahn gefahren, weil du dir dachtest, okay, 24 das hat Hitler bauen lassen, ach du Scheiße... .« Dies verändert sich
22 Höcht, 16.11.2007. 23 Raab, 02.05.2008. 24 Zarculea, 06.07.2008.
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jedoch langsam: »Dieses Gefühl ‚Ach du Scheiße, hier wirst du spielen‘, das hatte ich echt eine Woche noch vor der Premiere, und erst, als du […] dich an deinen Spielort gewöhnt hast, erst dann ist man mit der Situation einfach besser umgegangen sozusagen.«25 Nach Abschluss des Projektes beschreibt er seine Gefühle der Kongresshalle gegenüber folgendermaßen: »Das ist mein guter, alter Freund die Kongresshalle jetzt mittlerweile, weil es ist halt einfach so, du kommst nicht mehr rein hier und wirst erschlagen von dem großen Raum und dem geschichtlichen Hintergrund, sondern du kommst hier einfach rein und denkst dir: hey, das war ein Spielort, den ich genutzt habe. […] Jetzt mittlerweile ist es okay, es war mal so, jetzt ist es nicht mehr so und es ist halt einfach ein superschöner Raum mittlerweile, also, ich empfinde diesen Raum als schön.«26
Auch für die anderen Teilnehmer hatte sich die Wahrnehmung des Ortes verändert, einfach »[d]adurch, dass wir was ganz anderes reingebracht haben als das, wofür es ursprünglich war, find ich, hat es dem Ganzen ein ganz anderes Flair gegeben, eine ganz andere Atmosphäre.« 27 Eine beteiligte Jugendliche erkannte beispielsweise, »dass nicht der Raum das Wichtige ist, sondern die Person, die in dem Raum ist«28. Dass der Ort allerdings durch seinen Gebrauch als Spielstätte so normal wurde, wurde auch mit Skepsis betrachtet: »An sich ist es vielleicht ganz gut, weil ich finde, man sollte ja auch nicht ’ne Sache von den Nazis glorifiziert darstellen, vielleicht ist es dann ganz gut, wenn es Normalität bekommt, auf der anderen Seite soll’s auch nicht so werden, dass man dann vergisst, was passiert ist.«29
Somit lässt sich festhalten, dass die Jugendlichen für den Raum sensibilisiert wurden. Sie haben sich intensiv damit auseinander gesetzt und kennen seine Geschichte. Trotzdem hat er seinen Schrecken für sie
25 Ebd. 26 Ebd. 27 Wagner, 06.07.2008. 28 Sirinkaya, 06.07.2008. 29 Ludwig, 06.07.2008.
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verloren, weil sie ihn mit positiven Erlebnissen verbinden. Der Schauspieler Thomas L. Dietz, der das Projekt mit begleitet hat, fasst das Ganze zusammen: »Der Innenhof war für mich immer ein toter Raum, das war ein totes Mahnmal einer schrecklichen Zeit. Und dieses tote Mahnmal wurde für mich mit Leben gefüllt, aber nicht seiner Bestimmung gemäß gefüllt, sondern aus ’ner völlig anderen Sicht mit Leben gefüllt, aus ’ner anderen Ecke, und hat für mich diesen Innenhof auch ‚entterrorisiert‘.«30
Rückblickend kann man sagen, dass der Ort in der Wahrnehmung durch die Jugendlichen einige Bedeutungsverschiebungen erlebt hat. Aus der Kulisse bei der Freizeitgestaltung wurde ein erschreckend überdimensionierter Spielraum, der sich dann noch mit den Erzählungen der Zeitzeugen und dem historischen Wissen der Jugendlichen aufgeladen hat. Durch die Probenarbeit wurde der Raum sinnlich und intellektuell erschlossen. Die Jugendlichen haben sich mit den Kulissen der Macht auseinandergesetzt. Sie haben sich den Raum theoretisch wie praktisch angeeignet, ihn durch ihre historische wie ästhetische Auseinandersetzung geladen und durch ihre spielende Anwesenheit, die sich ihrer Fragilität in diesem Kontext bewusst gewesen ist, wieder ›entladen‹. So ist das Ergebnis weder Profanisierung noch Mystifizierung. Als ein vorläufiges Fazit lassen sich folgende vorsichtige Schlussfolgerungen ziehen: Der Versuch, mit diesem Projekt die Verletz- und Verführbarkeit des Menschen durch kleine Monologe und Spielszenen im Innenhof der Kongresshalle ansatzweise aufzuzeigen, scheint dem Projekt gelungen zu sein, auch wenn die Resonanz in der lokalen Presse zwiespältig war bzw. sich in diesen Rezensionen die allgemein gültigen Diskurse zum Umgang mit den Überresten der NS-Zeit in Nürnberg spiegelt: » « Drinnen nicht klatschen », ermahnt die Mitarbeiterin des Staatstheaters beim Eintritt in den Innenhof der Kongresshalle – und schon ist er wieder da, der nur schwer erträgliche Betroffenheitsduktus, der der guten Sache oftmals so schadet. [...] Auch die Sache mit dem Spielort funktioniert nicht. Wie von den Erschaffern gewünscht, schluckt das Baumonster die Menschlein in sei-
30 Dietz, 08.07.2008.
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nem Inneren, deren mit viel gutem Willen präsentierte Theaterhäppchen gut und gerne überall hätten aufgeführt werden können. Die Botschaft in Kombination mit dem bespielten Raum jedenfalls verpufft. Schade fürs Publikum, umso wertvoller jedoch für die jungen Menschen, die hier mit allem Herzblut ein prozessorientiertes Jahresprodukt mit internationaler Beteiligung zu einem gemeinsamen Abschluss bringen.«31 »Kinder aus Polen, Rumänien und Deutschland brachten zustande, was in den letzten Jahrzehnten auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg immer wieder geplant und versucht wurde, aber nie gelang: diese monströse NS-Architektur, die ‚Kulissen der Gewalt‘ künstlerisch zu brechen.«32
Die Frage, inwieweit solche Projekte Modellprojekte auch für den schulischen Unterricht sein können, ist schwieriger zu beantworten. Projekte dieser Art können einen Zugang zur Geschichte bilden, denn »[i]m Alltag leben wir im Zentrum unseres Universums und wir sehen Tatsachen und Leute aus einer einzigen Perspektive, unserer eigenen. Auf der Bühne fahren wir fort, die Welt so zu sehen, wie wir sie immer gesehen haben, aber wir sehen auch, wie andere sie wahrnehmen.« 33 Allerdings werden künftige Generationen nicht mehr die Möglichkeit haben, sich mit Zeitzeugen zu unterhalten und sich Geschichte über sie zu erschließen und zu personalisieren. Aber vielleicht kann dies mittels geschichtsträchtiger Orte innerhalb der eigenen Lebenswelt geschehen, auf die man eine andere Perspektive erhalten kann. Ein kreativer, spielerischer Ansatz, in dem die Jugendlichen eine Chance haben sich zu verhalten, sich als handelndes und vielleicht verwandelndes Subjekt zu begreifen, könnte ein Ansatz für Jugendliche sein, sich mit dieser Zeit, die sie im Normalfall eher traurig und verzweifelt hinterlässt, auseinanderzusetzten. P.S. In den Gesprächen mit den Jugendlichen aus Brasov und Krakau wurde deutlich, dass viel von dem, was man in Nürnberg von Zeitzeugen
31 Gnad, Stefan: Das Baumonster schluckt die Menschlein, Nürnberger Nachrichten vom 7. Juli 2008. 32 Bröder, Friedrich J.: Aus dem Schatten der Vergangenheit treten, Bayerische Staatszeitung vom 11. Juli 2008. 33 Boal, Augusto: Der Regenbogen der Wünsche, Milow 2006, S. 40.
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gehört hatte, sich auch in ihren Berichten widerspiegelt. Das Leid der Kinder und Jugendlichen, aber auch ihre Naivität und Unbekümmertheit und die nachträgliche Erzählung des Ungeheuerlichen ergaben auch dort ganz eigene Erzählweisen. Wenn die Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit den Zeitzeugen berichteten, stellte sich sofort ein direktes Verständnis für das Gesagte und eine große Übereinkunft bei allen historischen Unterschieden ein. Die Jugendlichen aus Deutschland erfuhren einiges über die Auswirkungen des Krieges in diesen Ländern. Sie erfuhren aber auch, dass das für ihre Begegnung im Heute keine negative Rolle mehr spielt, auch wenn bei den osteuropäischen Jugendlichen die Verwundungen der nachfolgenden Unterdrücker viel präsenter schienen.
...du bist so jung und sollst schon sterben – ein internationales Jugendtheaterprojekt – Premiere am 05. Juli 2008 um 17 Uhr im Innenhof der Kongresshalle/ehem. Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Beteiligte: • Aus Krakau/Polen unter Anleitung von Pawel Szulecki: Zibigniew Lecznar, Malgorzata Marcinczyk, Marta Paluch, Joanna Reczynska, Julia Trembecka. • Aus Brasov/Rumänien unter Anleitung von Alexandra Popescu: Raluca Aldea, Kinga Brendörfer, Joanna Cega, Juliana Evelina Carp, Claudia Comaneci, Simona Gligoras, Oana Gusa, Denisa Huma, Andreea Pora, Veronica Potincu, Naomi Simon, Andreea Tret, Maria Stavar, Alexandra Tabara. • Aus Nürnberg unter der Leitung von Anja Sparberg, Thomas L. Dietz und Karin Stephany: Milena Höcht, Lena Ludwig, Friederike Lück, Nicole Raab, Elif Srinkaya, Lena Wagner, Ioachim Zarculea.
»Sind Sie unser Führer?« Perspektiven der Kunstvermittlung in der Ausstellung Das Gelände J ANA S TOLZENBERGER
Als Kunstvermittler bzw. Museumspädagoge wird man im Rahmen von Führungen durch Ausstellungen immer wieder mit der Frage »Sind Sie unser Führer?« konfrontiert. Beim Befragten sorgt diese Formulierung meist für Verwunderung und Distanz, da der Begriff des ›Führers‹ durch die jüngere deutsche Geschichte hinlänglich konnotiert ist. Seine Verwendung mutet in einem personalisierten, nicht historischen Kontext merkwürdig an. Im Zusammenhang mit der Ausstellung Das Gelände, die in der Kunsthalle Nürnberg unterschiedliche künstlerische Positionen mit Bezug auf das ehemalige Reichsparteitagsgelände zeigte, scheint das seltsame Gefühl ob der ungewohnten Bezeichnung bzw. Anrede noch offensichtlicher. Meist beantwortet man als Kunstvermittler die obige Frage mit einem »Ja – äh... nein«, wodurch die Skurrilität der Situation noch gesteigert wird. Dem Besucher fällt häufig erst dann der historische Kontext und die Zweideutigkeit seiner Aussage auf. Anderen wiederum bleibt die Doppeldeutigkeit weiterhin verborgen, was für zusätzliche Verwirrung sorgt, wenn die Person, die diese Frage eben noch verneint hat, dann doch zum Gang durch die Ausstellung einlädt. Die Werke der Ausstellung Das Gelände setzen sich mit dem unliebsamen Erbe der Stadt Nürnberg, dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, auseinander. Dieser Ort bezeugt noch heute mit seinen baulichen Überbleibseln – die Reste der Zeppelintribüne, die Große Straße und die unvollendet gebliebene Kongresshalle – den Größenwahn und den Machtanspruch des NS-Regimes. In der Erinnerung ist
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er aufs engste verbunden mit den jährlich von 1933 bis 1938 abgehaltenen Reichsparteitagen, bei denen neben dem ›Führer‹ auch die Volksgemeinschaft zelebriert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Stadt das unvollendete Ensemble, das seit 1973 unter Denkmalschutz steht.1 Die zwölf Künstler der Ausstellung gehen mit dem Areal auf unterschiedlichste Weise um, alle haben sie sich dem Ort aus freien Stücken und eigener Motivation angenähert. So beeinflussen neben (auto-)biographischen Bezügen auch Inhalte des kollektiven Gedächtnisses die Beschäftigung mit den übriggebliebenen Relikten der monumentalen Architektur sowie deren Funktion gestern und heute. Die künstlerischen Arbeiten greifen sowohl historische als auch gegenwärtige Aspekte auf, wobei die verschiedenen Ebenen teils miteinander vermischt bzw. gesampelt werden, sodass im Ergebnis originale Bild-, Film- oder Tondokumente aus der Zeit des ›Dritten Reiches‹ mit aktuellen Ansichten der Bauten, aber auch mit Menschenmengen bei diversen Veranstaltungen in Beziehung gesetzt werden. Es ist auffällig, dass ein direkter Verweis auf die NS-Zeit meist ausgespart bleibt, es vielmehr generell um die Frage nach der Inszenierung von Massen, der deutschen Schuld und der deutschen Verantwortung geht, und die fragmentarischen Bauten dabei sowohl als Kulisse als auch Reflexionsfläche dienen. Ein besonderes Augenmerk wird bei Ausstellungen heutzutage auf die Vermittlungsarbeit gelegt. So gibt es fast immer didaktische Begleitmaterialien wie Saal- und Objektbeschriftungen, einen Katalog und zusätzlich werden meist Audioguides sowie Führungen durch die Präsentation angeboten. Für Kinder und Jugendliche werden ihrem Alter entsprechende kunstpädagogische Programme entwickelt. Diese umfassen neben speziellen Gesprächsrunden häufig auch einen praxisorientierten Teil, der eine bildnerische Auseinandersetzung mit der Thematik fordert und fördert.2 Zur Ausstellung Das Gelände wurde
1
Vgl. Schmidt, Alexander: Geländebegehung. Das Reichsparteitagsgelände
2
Vgl. dazu u.a.: Babias, Marius (Hg.): Im Zentrum der Peripherie. Kunst-
in Nürnberg, 4. ergänzte und aktualisierte Auflage, Nürnberg 2005, S. 248. vermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Dresden/Basel 1995; Maset, Pierangelo (Hg.): Praxis, Kunst, Pädagogik: ästhetische Operationen in der Kunstvermittlung, Lüneburg 2001; Kirschenmann, Johannes/Schulz, Frank/Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006.
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ebenfalls ein großes Vermittlungsangebot erarbeitet: Es erschien nicht nur ein Katalog, sondern auch ein bebildertes Begleitheft, das jedem Besucher beim Kauf des Tickets ausgehändigt wurde. Führungen wurden von der Kuratorin und den Mitarbeiterinnen des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg (KPZ) angeboten. Darüber hinaus sorgten mehrere Künstlergespräche, Diskussionsrunden sowie ein Kombiticket, das eine Führung durch die Ausstellung mit anschließendem Rundgang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände beinhaltete, zur vertieften Auseinandersetzung mit den Kunstwerken und ihren historischen Bezügen. Gerade diese inhaltlichen Hintergründe mussten beim Erstellen der Vermittlungsangebote im Vorfeld berücksichtigt werden, da die Arbeiten schließlich im institutionellen Rahmen der Kunsthalle fernab vom Areal und den architektonischen Überbleibseln der NS-Geschichte präsentiert wurden. Zwar ist der historische Kontext den Kunstwerken immanent, aber nicht für jeden Besucher sofort offensichtlich, was einerseits an der Altersstufe bzw. der Vorbildung liegen mag und andererseits dem Facettenreichtum der Arbeiten geschuldet sein kann, die weitere Komponenten beinhalten. Die Fragen, die sich dem Vermittelnden hierbei unter anderem stellen, sind die der Funktion und des Freiraumes der Kunst bzw., inwieweit eine ästhetische Kunstbetrachtung – im Sinne des Kantschen ›interesselosen Wohlgefallens‹ – im Hinblick auf den historischen Zusammenhang überhaupt zulässig sein kann. Denn meist lässt die Gegenwartskunst viel Platz für Interpretationen und freies Assoziieren, was hinsichtlich der historischen Vorbelastung für Ambivalenzen sorgen kann, über die sich die Mitarbeiterinnen des KPZ im Vorfeld austauschten und bewusst waren. Der geschichtliche Hintergrund musste bei der Vermittlung zur Ausstellung Das Gelände dementsprechend mit einbezogen und dem Besucher dargestellt werden. Gerade aufgrund der Faszination, die von einigen Arbeiten ausgeht, war sicherzustellen, dass sich die Kunstwerke auf einen ›Ort der Täter‹ beziehen, und sie sich dabei teilweise ähnlicher Verführungsmechanismen bedienen wie das NS-Regime, sodass der Betrachter implizit immer mit Fragen der kollektiven Erinnerung und Verantwortung konfrontiert wird, die als offener Prozess – dialogisch zwischen Werk, Vermittler und Betrachter angelegt – diskutiert werden sollten. Die Bildung und Vermittlung von ästhetischen Erfahrungen spielte auch während der NS-Zeit eine große Rolle; sei es bei den Reichsparteitagen und ihren Masseninszenierungen mit neuesten technischen
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Mitteln, sei es bei den Ausstellungen wie den von 1937 bis 1944 jährlich stattfindenden ›Großen Deutschen Kunstausstellungen‹ im Haus der Deutschen Kunst in München oder auch bei der Schau der ›Entarteten Kunst‹. Im Jahr 1937 fanden beide Präsentationen parallel in München statt. Sie zeigten vom Regime geförderte bzw. geschmähte Kunstwerke. Zu den verfemten Kunststilen gehörten die unterschiedlichen Strömungen der Moderne vom Expressionismus über Dadaismus bis hin zum Surrealismus. Bei der Propagandaausstellung Entartete Kunst wurden die Werke absichtlich schlecht gehängt und diffamierende Sprüche und Karikaturen waren zusätzlich an den Wänden angebracht, um einen neutralen und offenen Umgang mit den Arbeiten zu unterbinden. Ein Begleitheft zur Ausstellung wurde als didaktisches Material herausgegeben, in dem jedes beschlagnahmte Werk mit dem Namen des Künstlers, dem Titel, Herkunftsmuseum, Ankaufsdatum sowie Preis versehen war. Die gesamte Ausstellungsdidaktik war folglich darauf angelegt, den Besucher durch eine negative Wahrnehmungsschulung zur Ablehnung der Werke zu erziehen. Dem deutschen Volk sollte durch das Prinzip der Ausgrenzung, Agitation und Verfemung deutlich gemacht werden, welche Künstler, Werke und Stile nicht im Einklang mit dem Kunstverständnis und dem Schönheitsideal des totalitären Systems standen.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man in der Bundesrepublik Deutschland langsam wieder Anschluss an das internationale Kunstgeschehen zu finden. So kam es im Jahr 1955 zu einer ersten internationalen Kunstausstellung, der documenta in Kassel. Ziel dieser Ausstellung war es unter anderem, die im Nationalsozialismus verfemten Kunstrichtungen der Avantgarden wieder zu rehabilitieren, zumal diese im öffentlichen Bewusstsein immer noch mit den Wanderausstellungen zur ›Entarteten Kunst‹ verknüpft waren. Auf die Kunstvermittlung wurde aufgrund des ehemaligen doktrinären Vorgehens des NSStaates zunächst bewusst verzichtet. Die Werke sollten weder erklärt noch kritisch hinterfragt werden, vielmehr sollte sich dem Betrachter der Bild- und Bildungsgehalt allein durch die Zusammenschau der Arbeiten erschließen. Erst bei der documenta 4 im Jahr 1968 wurde unter
3
Vgl. hierzu u.a.: Brantl, Sabine: Haus der Kunst, München: ein Ort und seine Geschichte im Nationalsozialismus, München 2007; Fleckner, Uwe: Angriff auf die Avantgarde: Kunst und Kulturpolitik im Nationalsozialismus, Berlin 2007.
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Bazon Brock die sogenannte Besucherschule eingerichtet.4 Die dort angesiedelte Vermittlungsarbeit zielte auf Verständnis für die unterschiedlichen künstlerischen Positionen und eine offene Art der Aneignung ab.5 Somit wird seit Ende der 1960er Jahre die Kunstvermittlung wieder als essentieller Bestandteil von Ausstellungen angesehen. Auch gegenwärtig soll die Kunstvermittlung eine möglichst freie Herangehensweise an Kunst sicherstellen, für alle Beteiligten ästhetische Erfahrungen ermöglichen sowie eine Schule des Sehens sein. Diese Aspekte wurden bei Führungen durch die Ausstellung Das Gelände ebenso deutlich, wie die unterschiedlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Interpretationsansätze, die die gezeigten Arbeiten trotz der historischen Zusammenhänge offenbarten. Häufig besitzen die Werke zudem eine verführerische Aura, sodass die Verbindung zum diktatorischen System mit seinem Hang zur Gigantomanie und zerstörerischen Gewalt erst auf den zweiten Blick, durch eine gründliche Analyse und das Bereitstellen von Hintergrundinformationen ersichtlich wird. Dadurch wurde für viele Besucher aber auch für die Vermittler der Gang durch die Ausstellung zur Gratwanderung, schwankend zwischen den angebotenen Reizen der Kunstwerke und den hintergründigen Anspielungen und Bezügen auf das NS-Regime und dessen zerstörerischen Absichten. Nachfolgend soll dies anhand einiger dort gezeigter Arbeiten skizziert werden. Die in der Nürnberger Ausstellung präsentierten Werke von Jonathan Meese stehen als einzige nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zum geschichtsträchtigen Areal. Der Künstler zeigt vielmehr seinen für ihn typischen Kosmos, der sich durch die Verwendung nationaler Symbole, Gesten und Begriffe wie auch die Verbildlichung bzw. Versprachlichung deutscher Heldengeschichten oder historischer Führerfiguren auszeichnet. In seinen Werken und Performances
4
Bei der Besucherschule der documenta 4 handelte es sich um einen eigenen Raum innerhalb der Ausstellung, in dem die Besucher sozusagen visuell alphabetisiert wurden; d.h. ihnen wurden Methoden an die Hand gegeben, um sich den Werken anzunähern bzw. mit ihnen umgehen zu können. Vgl. dazu: Brock, Bazon: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln 1977, hier v.a. S. 226-334.
5
Vgl. Mörsch, Carmen (Hg.): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich/Berlin 2009, S. 22.
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tritt er häufig persönlich in Erscheinung, spielt mit Tabubrüchen und reiht sich sozusagen in eine ›deutsche Tradition‹ von Künstlern ein, die sich seit den 1960er Jahren mit der jüngeren deutschen Geschichte kritisch auseinandergesetzt haben.6 Der 1961 in Jerusalem stattfindende Eichmann-Prozess, über den in den Medien ausführlich berichtet wurde, kann unter anderem als dafür ausschlaggebend angesehen werden. Aber auch die von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main abgehaltenen Auschwitz-Prozesse führten dazu, dass ein Großteil der Bevölkerung über die Abläufe in den Todeslagern aufgeklärt wurde. Damit ging die Debatte um eine Mittäterschaft der Eltern an den NaziVerbrechen einher und das lang gehegte Vertrauen der Jugend gegenüber der älteren Generation erlitt einen Bruch. Ferner setzte sich die sozial-liberale Regierung, die seit 1969 im Amt war, mit den Geschehnissen der NS-Herrschaft auseinander. Sie drängte auf die Anerkennung der Verantwortung für den Holocaust und die damit verbundene Schuld. Einer der ersten deutschen Künstler, der sich diesem Kapitel deutscher Geschichte zuwandte, war Joseph Beuys. Seine Werke rücken die Traumata des Krieges und der deutschen Vergangenheit ins Bewusstsein und sprechen damit Themen an, die damals in der Gesellschaft als Tabu galten.7 Auch Jörg Immendorf befasste sich schon früh mit jenem Teil der deutschen Geschichte. Er stellte eindeutige politische Chiffren in seinen Werken dar, wie z.B. das Hakenkreuz, das als Symbol für Unterdrückung, Krieg und Völkermord steht und mit dem Faschismus gleichgesetzt wird. Anselm Kiefer erregte mit seiner Fotoserie Besetzung von 1969/1975 Aufsehen.8 Die Fotografien zeigen den mit einer Uniform bekleideten Künstler an unterschiedlichen Orten Europas, häufig vor einem bekannten Bauwerk, wie er die Hand zum
6
Siehe u. a. Gillen, Eckhardt (Hg.): Deutschlandbilder: Kunst aus einem geteilten Land. Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin/Köln 1997; Barron, Stephanie/Eckmann, Sabine (Hg.): Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945–89. Ausstellung im County Museum of Art Los Angeles, Germanischem Nationalmuseum Nürnberg und Deutschen Historischem Museum, Berlin/Köln 2009.
7
Vgl. Barron, Stephanie: »Unscharfe Grenzen. Deutsche Kunst und Kalter Krieg zwischen Mythos und Geschichte«, in: Kunst und Kalter Krieg 2009, S. 12-33, hier S. 22.
8
Vgl. Peters, Ursula/Prügel, Roland: »Das Erbe des kritischen Realismus in Ost und West«, in: Kunst und Kalter Krieg 2009, S. 64-83, Abb. S. 80.
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›Hitlergruß‹ erhoben hat. Mit dieser Aktion stieß Kiefer auf großes Unverständnis, zum einen war vielen Betrachtern nicht klar, ob es sich um die Tat eines Verrückten oder eines Nazis handelte, zum anderen traf er damit einen wunden Punkt der Deutschen und ihrem ungeklärten Verhältnis zur eigenen Geschichte. Auch Jonathan Meese greift diese tabuisierte Geste bei seinen unterschiedlichen Performances auf, wie z.B. bei seinem Marsch über das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Im ersten Raum der Nürnberger Kunsthalle präsentiert Meese Arbeiten mit weniger brisantem Inhalt: Zu sehen ist die Installation mit einer Adler-Skulptur, mehreren Gemälden, einem Film und einem handschriftlich verfassten Pamphlet, in dem er die ›Diktatur der Kunst‹9 fordert. Der Besucher begibt sich in einen Kosmos aus verwirrenden Andeutungen, martialischen Figuren und teils befremdender Ästhetik, ohne dass die Grenzen zwischen spielerischen und ernsthaften Aspekten eindeutig auszumachen wären. Insgesamt scheint der Künstler dem Besucher ein eher dunkles und böse anmutendes Universum vor Augen führen zu wollen, das jedoch durch die als kindlich zu bezeichnende Handschrift und ebensolche Malweise gleichfalls gebrochen wird. Auch die Werktitel führen den Anklang an Schwere und Leichtigkeit, Gewalt und Mythos fort. Den Bronzeadler mit seiner zerklüfteten Oberfläche, den drei Flügeln und erigiertem Penis als TOTALADLER, Baby Chef der Kunst (Das Ei des Columbussy) zu bezeichnen, offenbart die Paradoxie seiner Schöpfung deutlich. So kann zugleich Anstoß an der historischen Bedeutung seiner Wortwahl genommen werden, aber auch an der Verwendung und Darstellung des in vielen Kulturen als Wappentier und Staatssymbol geltenden Adlers. Bei Meese wird aus dem staatstragenden Zeichen eine Fantasiegestalt, der alles Erhabene fehlt. Die Gemälde an den Wänden können dazu als Pendants gelesen werden. Sie stellen sozusagen in schwarz und rot gehaltene Wächter dar, die eher »an eine Mischung aus Piraten, Soldaten und Heavy Metal Band erinnern«10.
9
Vgl. dazu auch: Meese, Jonathan: Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst, Berlin 2012.
10 Seifermann, Ellen: »Jonathan Meese«, in: Das Gelände. Ausstellung in der Kunsthalle Nürnberg, Nürnberg 2008, S. 36.
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Abbildung 1: Jonathan Meese TOTALADLER, Baby-CHEF der Kunst (das Ei des Columbussy) 2007/WALDFEE DON TOTAL DE DIKTATYR DE KUNST (STALLWACHT; DU) 2008
Quelle: Ausstellungsansicht Das Gelände 2008; © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.
Auf einem der Werke wird der Betrachter sogar mit »Du bist ein Nichts, Sorry!« direkt angesprochen, folglich in den Meeseschen Kosmos hineingezogen und gleichzeitig mit seiner eigenen Bedeutungslosigkeit konfrontiert. Zu seinem Welttheater gehört auch ein für die Ausstellung verfasstes Pamphlet, das mittels faschistisch anmutender poetischer Wortschöpfungen die Herrschaft der Kunst einfordert. Meese drückt darin sein Missfallen an den bestehenden Gesellschaftsordnungen aus und erklärt sie für alle Zeit als gescheitert. Nur die Diktatur der Kunst könne sich mit ihren unabhängigen Prinzipien »metabolistisch, neutral, menschenfrei, fanatischhermetisch, liebevollst und volksfrei selbst organisieren«11. So geht er mit (rhetorischer) Brachialgewalt gegen das 11 Aus dem Pamphlet von Jonathan Meese vom 05.07.2008; (dieses lag in der Ausstellung aus).
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Reale und die Tabuisierung der deutschem Mythen und ihrer Pathosgesten vor, in dem er eine radikal anarchische Gegenmacht einbringt. Vieles in Meeses Kosmos scheint erklärungsbedürftig, denn seine Werke deuten nur an, bleiben kryptisch und durchbrechen immer wieder die Grenzen von bürgerlicher Hochkultur und populärem Trash. Deutlich zeigt sich aber auch eine Freude am Spiel mit Mythen, Religion, Kult und Tabus. Der Bezug zum Thema der Ausstellung wird im Begleitheft erläutert. Die seltsame Tiergestalt wird mit dem Adler auf dem Umspannwerk des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in Zusammenhang gebracht, zeigt sich hier jedoch von jeglichem ehrwürdigem Symbolgehalt befreit. Als weiterer Anknüpfungspunkt an die deutsche Vergangenheit kann auch der präsentierte Film gewertet werden, in dem der Künstler selbst als ›erzfreundlicher Blauer Matthias‹ auftritt und sich demonstrativ die Hände in Unschuld wäscht. Im Gegensatz zu Meeses Installation zeigt sich bei den anderen Werken der Ausstellung die Verbindung zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände deutlich, sei es durch die Verwendung von Abbildungen, Materialien oder Modellen der architektonischen Überreste oder originalen Filmsequenzen. Eine generelle künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gelände erfolgte ab den 1980er Jahren als sich auch die Geschichtswissenschaften diesem Themenkomplex zuwandten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auf dem Areal noch keine erklärenden Schilder zu den einzelnen Bauwerken. Obwohl das Gelände nach dem Zweiten Weltkrieg wie bereits zuvor als Naherholungsgebiet und Ausflugsort der Nürnberger Bevölkerung sehr beliebt war, wurden erst 1989 vier Informationstürme zur ersten Orientierung für Besucher aufgestellt.12 Der Stadt wurden bei Kriegsende die baulichen Überreste des NS-Regimes übertragen und spätestens 1973, als die Bauten unter Denkmalschutz gestellt wurden, musste sie deren Erhalt gewährleisten. Nach langjährigen kontroversen Diskussionen über Umgang und Nutzung des Areals konnte 2001 das Dokumentationszentrum in einem Kopfbau der unvollendeten Kongresshalle eröffnet werden. Der Rat der Stadt Nürnberg verabschiedete 2004 außerdem Leitlinien, die eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem unliebsamen Erbe einforderten.
12 Zu den einzelnen künstlerischen Projekten auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände siehe Dietzfelbinger, Eckart: »Kunst auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände«, in: Das Gelände 2008, S. 60-79; Schmidt: Geländebegehung 2005, S. 242.
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Darin ist unter anderem festgehalten, dass die jährlich rund 200 Kultur- und Sportveranstaltungen auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ebenso akzeptiert und wünschenswert sind wie eine künstlerische Auseinandersetzung auf und mit dem Areal; jedoch existiert bis heute kein allgemein gültiger Bebauungsplan.13 Der Zugang des Bildhauers und Steinmetzen Winfried Baumann zum Gelände kann als biographisch bezeichnet werden. Baumann entstammt einem unterfränkischen Steinbruch-Familienbetrieb und befasste sich bereits 1981 mit Überresten der Naziarchitektur, den Atlantikwällen. Seit 1988 stehen vor allem die Große Straße und ihre Steinplatten immer wieder im Fokus seines Schaffens. Im April 1991 entwarf er anlässlich deren Sanierung das Konzept »Straße der Erinnerung. Überlegungen für ein künstlerisches Projekt am Reichsparteitagsgelände«. Anstatt einer Erneuerung, die damals mit 16 Mio. DM veranschlagt war, schlug Baumann eine künstlerische Bearbeitung der durch Verkehr und Salzeinlagerungen beschädigten Granitplatten vor. Zusätzlich zu einer mehrjährigen Auseinandersetzung von Künstlern sollte ein internationales Bildhauersymposium stattfinden, wobei die Große Straße zu einer Boden-Relief-Skulptur umgewandelt werden sollte. Die dokumentarische Betreuung und Archivierung der Ereignisse waren ebenfalls in seiner Planung mit inbegriffen.14 In der Ausstellung Das Gelände richtete Baumann das sogenannte »RPG-Archiv« ein, bei dem auch Teile seiner Auseinandersetzung mit der Großen Straße neben anderen Werken zu sehen sind, die sich alle auf das Gelände beziehen.
13 Vgl. Das Gelände 2008, S. 5 und Schmidt: Geländebegehung 2005, S. 248-253. 14 Das Gelände 2008, S. 18, 75.
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Abbildung 2: Winfried Baumann 2008; RPG-Archiv, 1988-2008 Rauminstallation
Quelle: Ausstellungsansicht Das Gelände 2008; © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.
Der Raum ist in der Art eines Künstlerateliers angelegt: Verteilt auf dem Boden, auf Tischen, in Regalen und an den Wänden liegen, hängen oder stehen Granitplatten, Skizzen, Fotografien, Luftaufnahmen, Pläne, Zeichnungen, Aktenordner, mit Blei ummantelte Architekturmodelle und auch sogenannte Instant Memorials. Bei Letzteren handelt es sich laut Aussage des Künstlers um »multifunktional einsetzbare Dienstleistungsmodelle für jede denkbare Form der Gedenkstättenarbeit«15. Der Aufbau gemahnt an ein mobiles Schranksystem, das auf gleichen Modulen basiert und dessen Innenleben – in einer denkbaren Analogie zum Luhmannschen Zettelkasten – 16 individuell gestaltet werden kann, ebenso wie die damit verbundene Formulierung der Erinnerung. Diese ist demnach anders als bei einem öffentlichen Denkmal nicht in sich abgeschlossen, sondern kann durch die Gestaltung und Art der Dokumentation immer wieder hinterfragt und revidiert werden, sodass von einem offenen Prozess der Auseinandersetzung und Wahrnehmung gesprochen werden kann.
15 Vgl. Baumann, Winfried: Instant Memorials. Anwendungen aus den Jahren 1997 bis 1999, Stuttgart 1999, S. 9-16, Nr. 56, 57. 16 Vgl. dazu Luhmann, Niklas: »Kommunikation mit Zettelkästen«, in: Universität als Milieu, Andreas Kieserling (Hg.), Bielefeld 1992, S. 53-61.
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Baumann greift bei den ›Instant Memorials‹ unterschiedliche Themen auf, wie Holocaust und Völkermord, Flucht und Vertreibung, Gewalt und Menschenrechte aber auch Kunst und Kultur sowie Mensch und Tier. Die ›Instant Memorials‹ werden jeweils nach Typus des verwendeten Moduls und Themenkomplex durchnummeriert und bezeichnet. In der Kunsthalle zeigte er das »Instant Memorial. Reichsparteitagsgelände Nürnberg, Große Straße, Artikel Nr. 41/260307«.17 Es handelt sich dabei um ein Schrankmodell, auf dessen linker Seite ein eiserner Klapptisch bis zu einer Länge von 8,20 Metern ausbaubar und mit dem Grundriss der Großen Straße im Maßstab 1:200 versehen ist. Ebenfalls auf dieser Schrankseite, an der gekachelten Rückwand, hängen ein Overall, zwei T-Shirts und zwei rote Gummihandschuhe. Auf der anderen Rückseite befinden sich Luftbilder und Pläne des Geländes, links darunter ein Zeitungsständer mit weiterem Informationsmaterial zu der 1,5 Kilometer langen und 60 Meter breiten Großen Straße. Auf dem Boden stehen neben dem Bruchstück einer Granitplatte ein Eisenhammer und eine mit einem Gürtel zusammengehaltene, eingerollte Zeitung. Die Zusammenstellung der Objekte gemahnt an den Bau der Großen Straße. Dabei wird sowohl deren Planung und Gestaltung thematisiert als auch das Bearbeiten der Steinplatten durch den Menschen. Das Ganze hat den Anschein, als sei der Blick in die Werkstatt bzw. das Planungsbüro eines Bauherren oder Architekten freigegeben. Somit lassen sich auch Bezüge zu den anderen Arbeiten im Raum herstellen. Das RPG-Archiv kann als eine Art Zwischenbilanz von Baumanns bisheriger Beschäftigung mit dem Gelände angesehen werden und präsentiert gleichzeitig eine neue, eigenständige Arbeit. Der Betrachter kann hier, anders als im institutionellen Rahmen üblich, im Material stöbern, Ordner und Karten durchblättern und sich so in die vielschichtigen Aspekte der Arbeiten vertiefen. Die ausgestellten Granitplatten der Großen Straße stellen einen konkreten, materiellen Bezug zum Areal außerhalb der Kunsthalle her. Durch ihre physische Präsenz und die von Baumann angefertigten Abreibungen vor Ort, werden nicht nur die gigantischen Ausmaße ersichtlich, sondern die Geschichte der Großen Straße wird geradezu haptisch erlebbar. So wird etwa die Oberflächenstruktur der Platten evident, die extra aufgeraut wurden, um einen Sturz der Marschierenden und Parierenden zu vermeiden.
17 Vgl. Baumann: Instant Memorials 1999, Nr. 56, 57.
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Infolgedessen erscheinen vor dem geistigen Auge des Betrachters unterschiedliche Bilder, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind. In Baumanns fiktiver Werkstatt können immer neue Ansatzpunkte der Auseinandersetzung mit dem Gelände entstehen, wobei diese wie die ›Instant Memorials‹ nicht in sich abgeschlossen sind, sondern einen prozesshaften Umgang mit der Erinnerung bilden. Parallel dazu ist auch die Beschäftigung mit den architektonischen Relikten nicht abgeschlossen, sondern wird – wie auch von der Stadt Nürnberg gewünscht – immer wieder aufs Neue thematisiert. Lässt sich die über 20 Jahre andauernde Beschäftigung Winfried Baumanns mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände auf biographische Wurzeln zurückführen oder als ein Blick von innen – also als deutsche Sicht auf die Geschichte – deuten, so schaut der schottische Künstler Ross Birrell von außen darauf. Der Film MEIN KAMPF, ZEPPELIN TRIBÜNE, NÜRNBERG entstand 2007 und zeigt den Künstler, wie er im Regen vor der Zeppelintribüne sitzt und aus Mein Kampf liest. Die Arbeit gehört zu einer Serie von ortsbezogenen Lesungen, den ›seated readings‹, bei denen Birrell linkspolitische Utopien an geschichtsträchtigen Plätzen rezitiert. Die Lesearbeiten sind ein eigenständiger Teil der Envoy-Reihe, für die es typisch ist, dass Bücher an unterschiedliche Institutionen verschenkt oder ins Meer geworfen werden. Im Jahr 2007 präsentierte der Künstler in der Ausstellung Romantischer Konzeptualismus in der Kunsthalle Nürnberg eine aus der Envoy-Serie stammende Buchschenkung an die Vereinten Nationen in New York sowie eine Buchversenkung im Hudson River. Der Film entstand während seines Aufenthalts in Nürnberg auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Als charakteristisch für die Lesungen kann die Positionierung des Künstlers an einem historisch relevanten Ort angesehen werden. Birrell wird dabei gefilmt, wie er ruhig dasitzt und liest. Die einzigen Bewegungen oder Aktionen im Film sind das Umblättern der Seiten oder das Vorbeigehen von Passanten bzw. der Verkehr, der sich im Hintergrund abspielt. Der Künstler sitzt regungslos vor der Tribüne und hält eine englische Ausgabe von Mein Kampf in den Händen. Adolf Hitlers Buch Mein Kampf ist bis heute in Deutschland verboten, gegen übersetzte Nachdrucke kann der Freistaat Bayern, der die Rechte innehat, allerdings meist nichts ausrichten. Ferner erlischt im Jahr 2015 das Urheberrecht, sodass der Text auch in Deutschland wieder vertrieben werden kann: Deshalb ist bereits jetzt die Diskussion um die Herausgabe einer kommentierten Ausgabe in
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Gange.18 Ross Birrell begeht mit seiner Lesung der verbotenen Lektüre einen Tabubruch, der durch den symbolträchtigen Ort noch gesteigert wird. Ihm geht es aber weniger darum, zu provozieren, sondern er mahnt eine Auseinandersetzung mit rechten Utopien an, denn nur so könne sich die Gesellschaft seiner Meinung nach vor Unkenntnis und Ignoranz schützen. Darüber hinaus betrachtet er »das Nichtlesen eines Textes als sekundäre Gewalttat« und äußert, dass das Scheitern von Utopien nicht immer bedauernswert sei.19 Noch bevor die Nationalsozialisten das Gelände am Dutzendteich in Beschlag genommen hatten und es nach ihrer Vorstellung umgestalteten, war es als Naherholungsgebiet der städtischen Bevölkerung etabliert. Auch heute noch finden hier jedes Jahr eine Vielzahl von Veranstaltungen statt wie Sportevents, Konzerte oder auch Frühlingsund Volksfeste. Auf diesen Aspekt, das heißt die Nutzung des Areals als Freizeitort, nehmen mehrere Künstler der Ausstellung Das Gelände Bezug. Beispielhaft können die Werke von Susanne Kriemann und Claus Föttinger betrachtet werden, die außerdem biographisch mit der Region verbunden sind. So listet die gebürtige Erlangerin Kriemann bei ihrer Arbeit Looping Star (Nazi Party Rally Grounds Nuremberg), die als fortlaufendes Band in goldenen Lettern die Wände eines Ausstellungsraum ziert, alle Nutzungen des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes auf. Dem umlaufenden Text ist eine Fotografie mit Blick auf das Nürnberger Volksfest gegenübergestellt. Diese zeigt die Achterbahn Olympia sowie weitere Schaustellerbuden und Zelte vor der Fassade der ehemaligen Kongresshalle.
18 Vgl. dazu http://www.sueddeutsche.de/medien/publikation-von-mein-kampf -ideologiefreie-bearbeitung-1.1340931, zuletzt gesichtet am 14.08.2012. 19 Das Gelände 2008, S. 22.
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Abbildung 3: Susanne Kriemann; Olympia (Nazi Party Rally Grounds Nuremberg), 2005/Looping Star (Nazi Party Rally Grounds Nuremberg), 2008
Quelle: Ausstellungsansicht Das Gelände 2008.
Typisch für ihre Fotoarbeiten ist der dokumentarische Charakter, wobei die historisch bedeutsamen Gebäude meist mit ungewöhnlichen Elementen konfrontiert sind. Daraus ergeben sich seltsame Realitätsüberlagerungen wie das auch bei Olympia (Nazi Party Rally Grounds Nuremberg) der Fall ist. Die Künstlerin hält das Treiben des kommerziellen Festes vor dem unvollendeten Bauwerk fotografisch fest. Dabei kontrastiert die graue Natursteinfassade in ihrer Monumentalität das filigrane und bunte Gestänge der Loopingbahn. Vordergründig kann die Fotografie als unspektakuläre Aufnahme gewertet werden, bei intensiver Betrachtung besitzt sie jedoch weitere Erzählebenen: Die Kongresshalle ist dem Kolosseum in Rom nachempfunden und sollte wie dieses die Zeit überdauern. Das Logo des Fahrgeschäfts zeigt sich hingegen den Olympischen Ringen verwandt und kann demnach in Beziehung zu den 1936 in Berlin stattfindenden sportlichen Wettkämpfen gebracht werden, bei denen »das NS-Regime seine Ziele ebenfalls hinter einer falschen ›Fassade‹ verbarg, um sich international politische Akzeptanz zu verschaffen.«20 So besitzt diese als dokumentarisch zu bezeichnende Fotografie Informationen, die weit über das Dargestellte hinausreichen und oft erst durch zusätzliche Hinweise, längeres Nachdenken oder einen Dialog zu entschlüsseln sind. Der aus Nürnberg stammende Künstler Claus Föttinger wurde durch die Gestaltung von Bar-Situationen im Kunstkontext bekannt.
20 Vgl. Das Gelände 2008, S. 32.
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Abbildung 4: Claus Föttinger; Triumph der Freizeit, 1975/2008 – 11.06.06 Iran/Mexiko, 2006 – Albert’s Burger King, 2006 – 200 Meilen etc., 1975/2008 – Bar, 1996
Quelle: Ausstellungsansicht Das Gelände 2008.
Auch in der Kunsthalle hat er eine solche erschaffen. Der Raum umfasst neben einem mit reproduzierten Bildern verkleideten Tresen und seiner dahinter angebrachten Installation Triumph der Freizeit noch weitere Leuchtobjekte. Alle Werke beziehen sich auf das Gelände und sind mit Fotoreproduktionen aus dem Familienalbum und aus geschichtlichen wie aktuellen Veranstaltungen vor Ort versehen. Bei der Installation Triumph der Freizeit kündet bereits der Titel den Bezug zu Leni Riefenstahls Film TRIUMPH DES WILLENS an. Bilder des Films werden mit solchen von aktuellen Events und aus dem Familienalbum des Künstlers per Zufallsgenerator miteinander vermischt. Auch die drei Leuchten, die den Raum in schummriges Licht tauchen, bestehen aus zusammengenähten Sechs- und Fünfeckelementen, die jeweils anhand von Abbildungen die Nutzung des Areals veranschaulichen. Dabei ist jede der Leuchten einer anderen Begebenheit gewidmet: Auf einer ist das Fußballspiel Iran gegen Mexiko während der Weltmeisterschaft 2006 zu sehen. Die nächste dokumentiert die jährlich stattfindenden Veranstaltungen wie Autorennen, Spiele des 1. FC Nürnberg oder Konzerte. Das dritte Leuchtobjekt befasst sich mit ›Albert’s Burger King‹. Das Schnellrestaurant befindet sich in dem Gebäude des ehemaligen Umspannwerks, das die Stromzufuhr für die aufwendigen Lichtinszenierungen bei den Reichsparteitagen garantierte und von Albert Speer entworfen wurde.
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Alle drei Werke zeigen durch die Kombination von historischen und aktuellen Reproduktionen vor gleichbleibender Kulisse wie bei Großveranstaltungen der Einzelne zum Teil der Masse wird und wie diese einer bestimmten Choreographie zu folgen scheint. Die Begeisterungsstürme gestern und heute ähneln sich dabei auf fast erschreckende Weise. Föttingers Installation sorgt nicht nur durch die Beleuchtung für eine verführerische und ansprechende Atmosphäre, sondern auch Marvin Gayes Lied »What’s going on« lädt den Besucher zum Verweilen in seiner Bar ein. Durch die Verbindung von Kunst und alltäglichem sozialen Leben schafft er stimmungsvolle Orte der Begegnung und des Austauschs. Aber gerade bei längerem Aufenthalt in seiner Installation zeigen sich viele Besucher ob der gezeigten Bildwelten und dem schönen Schein der Inszenierung alsbald irritiert. So lassen sich in diesem Ambiente Fragen über den Umgang mit dem Gelände und der ästhetischen Wahrnehmung ebenso erörtern wie die unterschiedlichen Methoden der Beeinflussung und Propaganda. Der polnische Künstler Artur Zmijewski verwendet bei seinem Film ZEPPELINTRIBÜNE von 2002 ebenfalls Sequenzen aus Leni Riefenstahls Film TRIUMPH DES WILLENS und vermischt sie mit heutigen Darstellungen des Geländes. Charakteristisch für seine Arbeiten ist das Wiederholen und Neuinszenieren von bestimmten historischen Ereignissen, sodass die Erinnerung durch die als ›neu‹ erachtete Begebenheit erfahrbar wird. Zmijewskis Werke siedeln sich folglich zwischen Dokumentation und Improvisation an. Auch bei dem Film ZEPPELINTRIBÜNE verfährt der Künstler so: Zuerst werden dem Betrachter historische Aufnahmen von Hitler an seinem Rednerpult bei der Abnahme der Arbeitsdienst-Brigaden gezeigt. Ein Schnitt in die Gegenwart folgt. Im Fokus steht nun ein junges Pärchen, das auf den Stufen der Tribüne Scherben zusammenkehrt und dann fröhlich mit dem Spaten über der Schulter auf und ab marschiert. Sie ziehen vom Gelände bis in die Nürnberger Innenstadt. Dabei imitieren und parodieren sie die Gesten, Posen und Rituale des militärischen Drills wie sie zu Beginn des Films gezeigt wurden und weitere im kollektiven Gedächtnis verankerte Gebaren. Das Geschehen ist mit dem sentimentalen Soldatenschlager »Lili Marleen« von Lale Andersen unterlegt, der während des Zweiten Weltkrieges international populär war. Zmijewskis semi-dokumentarischer Film wirft einen Blick aus der Gegenwart auf das deutsche Trauma. Seine Re-Inszenierung zeigt nicht nur den heutigen Umgang mit dem Un-Ort, sondern hält der gegenwärtigen Situation sozusagen
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den Spiegel vor, indem er offenbart, dass nach wie vor noch tagtäglich unzählige Touristen diesen Ort aufsuchen, um die Aura der architektonischen Überreste zu erfahren und um die teils zum Klischee geworden Gesten nachzustellen. Im Film fordern die Protagonisten Besucher sogar dazu auf, auf dem Rednerbalkon den ›Hitlergruß‹ auszuführen und somit einen Part in der kollektiven Tragödie zu spielen. Dabei geht es ihm weniger darum, die Personen seines Filmes vorzuführen, als vielmehr darum, menschliches Verhalten und Rituale zu beobachten, zu beschreiben und zu verstehen.21 Allein die Werkauswahl belegt wie vielschichtig und komplex die Arbeiten in der Ausstellung Das Gelände sind. Gerade die verführerische Aura vieler Werke und Installationen verbunden mit dem Aufgreifen der totalitären Ästhetik des Nazi-Regimes führen beim Betrachter oft zur Verwirrung. Daneben wirkt auch das Vermischen von historischen Aufnahmen mit aktuellen Ton- und Bildaufnahmen befremdend, sodass die eigene Wahrnehmung ob des Verführungsgrads der Arbeiten und der Atmosphäre hinterfragt werden musste. Vieles wird vordergründig offenbar, aber etliche Bezüge gehen über das zu Sehende hinaus, sorgen für Irritationen und bieten somit Anlass für vertiefende Erklärungen und für Diskussionen. Insbesondere diese Komponenten – die verführerischen Aspekte und das gleichzeitige Wissen um die Bezüge zum dunklen Kapitel der deutschen Vergangenheit – gestalten den Dialog in Führungen oft schwierig. Denn nicht nur das Thema selbst, sondern auch die damit verbundene kollektive Erinnerung führen bei vielen Besuchern oftmals zu einer Sprachlosigkeit: Darf man diese Kunstwerke ansprechend oder gar schön finden? Wäre es politisch korrekt von ihnen begeistert zu sein? Ist es legitim, solche Fragen zu stellen? Diese Fragen verdeutlichen, dass es bei der Kunstvermittlung der Ausstellung Das Gelände nicht nur darum ging, Hintergrundinformationen zu liefern, sondern auch Debatten zuzulassen, die unabhängig von den ausgestellten Werken waren. Dabei war es wichtig, gemeinsam über Deutungsmöglichkeiten nachzudenken und unterschiedlichen Gefühlen wie Faszination aber auch Abscheu Raum zu geben. Ein Teil dieser Diskussionen beschäftigte sich auch mit dem Freiraum der Kunst, d.h. inwieweit Kunst frei ist von Vorgaben und somit Tabus
21 Vgl. Zmijewski, Artur: Ausgewählte Arbeiten. Selected Works. Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein 2007, Kathrin Becker (Hg.), Berlin 2007, S. 7.
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brechen darf. Je nach Generation ist dieser Aspekt verschieden gewertet worden; der Kunstvermittler übernimmt als autorisierter Sprecher einer Institution zwar eine bestimmte Rolle (und hat zumeist einen Wissensvorsprung), kann sich aber einer persönlichen Stellungnahme entziehen und folglich auch kritische Punkte ansprechen. Dennoch musste mit Blick auf die Brisanz des Themas auf eine sensible, d.h. nicht (vor-)urteilende, manipulierende und/oder suggestive Sprachwahl geachtet werden; bzw. durfte der Besucher nicht durch das Wissen des Ausstellungs-›Führers‹ in seinem eigenen (Be-)Urteilen entmündigt werden. Auch wenn im Grunde ein Einverständnis über die Bewertung der NS-Vergangenheit besteht, zeigte sich – für den Bereich der zeitgenössischen Kunst typisch –, dass der Zugang zu den Werken oft schwierig blieb. Da etliche Fragen auch weiterhin offen bleiben und die Vieldeutigkeit der Werke in Kauf genommen werden muss, scheint die Bezeichnung als ›Führer‹, der auf alles eine Antwort hat, aufgrund seines potentiell doktrinären Gehalts wenig angebracht zu sein; der Vermittler, der Impulse und Angebote für einen Dialog zwischen Werk und Betrachter bereithält, wäre angemessener, auch wenn die Frage »Sind Sie unser Vermittler?« ebenfalls merkwürdig anmutet.
Das Reichsparteitagsgelände im Film E CKART D IETZFELBINGER
Das Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg wählte für das Projekt ›SchattenOrt‹ im Juli 2008 als Austragungsort für das Veranstaltungsprogramm bewusst die Kongresshalle. Ziel war es, abstrakte Vorgänge aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Geschichte und deren jeweilige Kontextualisierung als eine aktive Arbeit an dem (kulturellen) Gedächtnis zu vermitteln und den heutigen Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände kritisch zu hinterfragen. Einen zwar zeitaufwändigen, dafür aber sehr eindringlichen Zugang für diese Aufgabe bietet das Medium Film. Das historische Material zu Parteitagen und Areal ist bekannt und beim Bundesfilmarchiv ausleihbar: die beiden von der NSDAP produzierten Filme von den Reichsparteitagen 1927 und 1929, noch ohne Ton; die in ihrem Auftrag von der Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl angefertigten drei Parteitagsfilme SIEG DES GLAUBENS (1933), TRIUMPH DES WILLENS (1934) und TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT (1935); die mehrstündige Fernsehaufzeichnung vom Reichsparteitag 1936; Sequenzen aus dem Film FESTLICHES NÜRNBERG von 1936 und 1937; einige Wochenschauberichte; Aufnahmen von der Baustelle Reichsparteitagsgelände. Allesamt dienten sie der NS-Propaganda, der bekannteste ist TRIUMPH DES WILLENS. Sie transportieren insbesondere die staatstragenden Grundmythen des Dritten Reichs von »Führer« und »Volksgemeinschaft«, umrahmt von den Versammlungsorten Luitpoldarena, alte Kongresshalle, Stadion und Zeppelintribüne und der historischen Kulisse der Altstadt. Außerdem gibt es die Filme DAS WORT AUS STEIN von Kurt Rupli 1939 über das NS-Bauprogramm, in dem das Reichsparteitagsgelände
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in Nürnberg mit seiner Staats- und Parteitagsarchitektur als eines der herausragenden Projekte präsentiert wird und als »steingewordene Weltanschauung« die Utopie einer politischen Ordnung, des imperialistischen Führungsanspruchs des NS-Regimes über Europa und letztlich die ganze Welt, symbolisiert, und STEINMETZ AM WERK 1941 von Walther Hege im Auftrag von Albert Speer, ein Werbefilm für das Steinmetzhandwerk, der die Verwendung von Naturstein für die Herrschaftsarchitektur auf dem Reichsparteitagsgelände ideologisch verklärt.1 Zusätzlich befinden sich im Dokumentationszentrum und im Stadtarchiv Nürnberg wenige Privatfilme, die während der Reichsparteitage entstanden sind, z.B. von der Grundsteinlegung der Kongresshalle im September 1935. Ferner die lange Zeit unbekannten mehrstündigen historischen Aufnahmen vom Bau des Areals, die das Gartenbauamt der Stadt Nürnberg anfertigte, das für die Landschaftsgestaltung des Parteitagsareals verantwortlich zeichnete. Es sind statische Aufnahmen, die sozialhistorisch zahlreiche interessante Details der Baugeschichte dokumentieren.2 Weniger bekannt dagegen sind die mehr als 15 deutschsprachigen Dokumentarfilme, die in der Zeit zwischen 1960 und 2005 entstanden sind und sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem früheren Reichsparteitagsgelände auseinandersetzen.3 Je nach Jahrzehnt spie-
1
Institut für den wissenschaftlichen Film Göttingen, Filmdokumente zur Zeitgeschichte, Film G 117, 122, 132, 133, 134, 138, 140, 142, 143, Göttingen 1968 – 1979. Loiperdinger, Martin: Rituale der Mobilmachung. Der Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ von Leni Riefenstahl, Opladen 1987. Fuhrmeister, Christian: Beton, Klinker, Granit - Die Politische Bedeutung des Materials von Denkmälern in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Dissertation Universität Hamburg 1998, S. 133f., Fn. 553. Trimborn, Jürgen: Riefenstahl. Eine deutsche Karriere. Biographie, Berlin 2002, S. 172 ff., S. 231-237.
2
Doosry, Yasmin: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen...“ Studien zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Tübingen/Berlin 2002. Dietzfelbinger, Eckart/Liedtke, Gerhard: Nürnberg - Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände. Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004, S. 29 ff.
3
Siehe Filmliste am Ende des Artikels.
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geln sie Verständnis und Zeitgeist in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und den jeweiligen Informationsstand über die Geschichte der NS-Reichsparteitage und des Areals am Dutzendteich. Gleichzeitig sind sie filmische Zeitdokumente des Zustandes der NS-Baurelikte und ihres Verfalls. Als besonders sehenswert sind zu empfehlen: B RUTALITÄT IN S TEIN oder D IE E WIGKEIT VON GESTERN Der Kurzfilm BRUTALITÄT IN STEIN/DIE EWIGKEIT VON GESTERN von Alexander Kluge, Dieter Lemmel, Peter Schamoni und Wolf Wirth war erstmals bei den Kurzfilmfestspielen in Oberhausen im Februar 1961 zu sehen. Dem Filmteam ging es um die Parteitagsarchitektur, ihre inhumane Maßstabslosigkeit und ihre Wirkungen auch nach der Zerschlagung des Dritten Reiches bis in die Gegenwart. Zwei nacheinander eingeblendete Zitate verdeutlichen das Verständnis der Filmemacher: »Alle Bauwerke, die uns die Geschichte hinterlassen hat, zeugen vom Geiste ihrer Erbauer und ihrer Zeit auch dann noch, wenn sie längst nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienen.«/»Die verlassenen Bauten der nationalsozialistischen Partei lassen als steinerne Zeugen die Erinnerung an jene Epoche lebendig werden, die in die furchtbarste Katastrophe deutscher Geschichte mündete.« Die Herrschaftsarchitektur zielte primär auf Überhöhung und Verklärung des Nationalsozialismus und auf die Ästhetisierung seiner Macht und Herrschaft in megalomanen Dimensionen, und das möglichst für die Ewigkeit. Diesen Anspruch unterstrich Hitler in seiner »Kulturrede« zu Bauten des Dritten Reiches während des Reichsparteitages 1937: »Niemals wurden in der deutschen Geschichte größere und edlere Bauwerke geplant, begonnen und ausgeführt als in unserer Zeit. […] Deshalb sollen unsere Bauwerke nicht gedacht sein für das Jahr 1940, auch nicht für das Jahr 2000, sondern hineinragen gleich den Domen unserer Vergangenheit in die Jahrtausende der Zukunft.«4 Tatsächlich aber erdrückte die Architektur den Betrachter nicht nur wegen ihrer ungeheuren Dimensionen, sondern sehr viel mehr noch
4
Adolf Hitler, »Kulturrede« zu Bauten des Dritten Reiches auf dem »Reichsparteitag der Arbeit« am 07.09.1937 in Nürnberg, zit. nach: Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Zweiter Band 1935-1938, Leonberg 1988, S. 719.
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aufgrund der plumpen massiven Erscheinungsform, die jeglicher Inspiration entbehrt. Kurze und eng aneinandergereihte Schnitte mit Blicken auf Zeppelintribüne und -feld, Kongresshalle, Märzfeld und Große Straße vermitteln die gleichsam militärische Ausrichtung der Parteitagsarchitektur, z.B. die Pfeilergalerie der Zeppelintribüne und ihre intendierte Funktion der Einschüchterung und Formierung der dort zu versammelnden Menschenmassen. Auf die Ambivalenz von schönem Schein und der zugrunde liegenden staatskriminellen Politik verweist das Filmteam mit einer Montage von Sequenzen der Bauarbeiten vom Gelände, mit einem Bild Hitlers und von ihm gefertigter Architekturskizzen, Bauplänen und Modellen des Reichsparteitagsgeländes. Unterlegt sind diese Bilder mit Original-Tönen aus der NS-Zeit, z.B. mit Gesang bei den Reichsparteitagen, mit »Sieg Heil«-Gebrüll, Trommeln, Zitaten von Hitler, Musik, gespielt vom NS-Reichssymphonieorchester; einer Tagebuchnotiz des Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß, über Judendeportationen. In kurzen Abständen hört man Fliegeralarm, Bombenangriffe, einstürzende Bauten mit entsprechenden Bildern. Fazit des Films: Was ist von Hitlers Wahn übriggeblieben? Trümmer in der Außenwelt, Millionen Tote, deformierte und traumatisierte Menschen. F ÜR DIE E WIGKEIT . Begegnungen auf dem früheren Reichsparteitagsgelände Im Sommer 1983 drehte der Filmemacher Thomas Schadt aus Nürnberg fünf Wochen auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände und hielt fest, was um die Zeppelintribüne herum passierte. FÜR DIE EWIGKEIT ist ein Film »über den Alltag dieses deutschen Monuments, wie es heute öde dasteht mit seiner traurigen Geschichte. Und über die Leute, die sich hier aufhalten und die, die kommen, um sich das anzuschauen«, so Schadt im Exposé. Er war für diese Arbeit auch autobiografisch motiviert. Als Kind und Jugendlicher hatte ihn der NS-Bau fasziniert, wenn er am Dutzendteich war. Schadt zeigt Bilder vom Gelände, die ähnlich wie in BRUTALITÄT AUS STEIN mit O-Tönen aus der NS-Zeit unterlegt sind, z.B. aus dem Propagandafilm TRIUMPH DES WILLENS (1934) von Leni Riefenstahl; ein in Auszügen zitierter Briefwechsel über die Bestellung einer Steppdecke für den »Reichsmarschall« Hermann Göring während sei-
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nes Aufenthaltes in Nürnberg am Reichsparteitag; Aufnahmen von der Zeppelintribüne aus der Zeit des Nationalsozialismus, die zusammen mit kurzen schriftlichen Erklärungen zur Geschichte des Reichsparteitagsgeländes eingeblendet werden. Mit historischen Verweisen hält sich Schadt aber bewusst zurück. Er legt den Schwerpunkt auf die Begegnungen: mit einem Rennfahrer, der am Norisringrennen teilnimmt, einem jährlich um die Zeppelintribüne ausgetragenen Lauf für die Deutsche Tourenwagen-Meisterschaft. Schadt steigt ins Cockpit und rast mit, fängt die Rennatmosphäre ein; mit Besuchern und Touristen aus aller Welt, die die seit 1973 unter Denkmalschutz gestellten NS-Baureste besichtigten und fotografieren; mit Einheimischen am Kiosk neben dem Dutzendteich, die sich bei Bier und Bockwurst zu den NS-Bauten und ihren Erinnerungen an die Reichsparteitage äußern; mit einem ehemaligen KZ-Häftling, der einer Gruppe das Gelände erklärt; mit einer Historikerin, die zur Geschichte des Geländes forscht, Schadt begleitet sie zu einer Besichtigung in der Zeppelintribüne. FÜR DIE EWIGKEIT ist ein ruhiger Film. Er verdeutlicht, wie sehr das Areal am Dutzendteich nach 40 Jahren in den Alltag integriert ist, und wie wenig die befragten Personen darüber wissen bzw. wissen wollen. Publikationen zu den Reichsparteitagen, ob Stadtführer oder ein Standardwerk, gab es 1983 noch nicht, die Stadt Nürnberg eröffnete die provisorische Ausstellung Faszination und Gewalt zu Herrschaftsarchitektur und politischer Ästhetik des Nationalsozialismus in der Zeppelintribüne erst 1985. Beim Zusehen beschleicht einen das beklemmende Gefühl, mit dem Titel »Für die Ewigkeit« könnte auch das Fortleben brauner Ideologie in den Köpfen vieler Menschen gemeint sein. Denn Schadt bringt sie dazu, frei vor der Kamera reden. Die Attraktivität des Nationalsozialismus für die Erfahrungsgeneration ist deutlich aus ihren Äußerungen herauszuhören. Zwar schimpfen sie über den Krieg, aber von der Zeppelintribüne direkt vor Augen sind sie noch immer fasziniert. G ELÄNDEBEGEHUNG N ÜRNBERG 1992 Zwei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sah sich der in Nürnberg geborene Dokumentarfilmer Michael Mrakitsch (19342010) auf dem früheren Reichsparteitagsgelände um. Ergebnis ist der
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Film GELÄNDEBEGEHUNG, ein provozierender und zorniger Film über die Ambivalenzen der Erinnerung. Mrakitsch stellt ein Wort des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl voran, der nach dem Fall der Mauer erklärt hatte: »Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen.« GELÄNDEBEGEHUNG ist eine Art Wanderung zu den NS-Bauten und deren Besichtigung. Dazu kommentiert Mrakitsch selbst pointiert wie polemisch die »peinliche Unfähigkeit der gnädig spät Geborenen, mit dem vergifteten NS-Erbe umzugehen.« Sein Urteil: Der Teilabriß oder Bewahrung der »Nürnberger Reichsreliquien« folgte stets dem im Kern ahistorischen Grundsatz ökonomischer Opportunität. An Steinen des Anstoßes für seine harte Kritik, einer schallenden Ohrfeige an die Nürnberger Stadtverwaltung für deren meist ahistorischen und pragmatischen Umgang mit dem früheren Reichsparteitagsgelände, fehlt es nicht. Wer immer sich für die Situation des Areals Anfang der 1990er Jahre interessiert, sollte sich diesen bewusst überzeichnenden Film einmal ansehen und anhören. Als Beispiele neben anderen führt Mrakitsch an: •
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Die religiös inspirierte Ideenskizze der damaligen Kulturreferentin Karla Fohrbeck zur Umgestaltung von Zeppelintribüne und -feld in einen Friedenshain mit Bibeltexten; Mrakitsch zerfetzt sie regelrecht. Ihrem Vorschlag »Liebe, Gnade, Barmherzigkeit den Opfern des Faschismus« stellt er die Gegenfrage, warum Opfer posthum begnadigt werden sollen. Zitat: »Barmherzigkeit nach Tätergeschmack - Wenn das der Führer wüsste, ihm würde warm ums Herz« ; der verwahrloste Zustand des Entlastungsbahnhofs NürnbergMärzfeld und der Rampe, von der 2000 Juden aus Franken in die Vernichtungslager deportiert wurden. Jeder Hinweis darauf fehlt. Die Deutsche Bundesbahn 1985 hatte dort ihre Leistungsschau zum 150jährigen Jubiläum der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth veranstaltet, ohne mit einem Wort darauf einzugehen, dass ihre Vorgängerin, die Deutsche Reichsbahn, Waggons und Lokomotiven zur logistischen Umsetzung des Holocausts bereitgestellt hatte; die teils eingestürzten Latrinenanlagen der Zeppelintribüne, über die die Kamera minutenlang hinwegfährt und damit jeden Mythos von vermeintlicher Größe und Erhabenheit der Herrschaftsarchi-
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tektur mit der Banalität eines menschlichen Grundbedürfnisses konterkariert. Mrakitsch: Der NS-Bau – »eine Symbiose von Sakrament und Exkrement.« Die Zeppelintribüne war »zweifellos die größte Scheißanstalt des Reiches.« Der Film plädiert eindringlich für einen bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit den steineren NS-Bauresten, die für Mrakitsch aber nichtsdestoweniger »Monumente der Ratlosigkeit« bleiben, solange sie noch stehen. Fertige Antworten erteilt er nicht. Z EUGEN AUS S TEIN . Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg Ein weiterer Film von 1992 ist ZEUGEN AUS STEIN von Reiner Holzemer aus Nürnberg. Er lässt vor den NS-Bauten ZeitzeugInnen sprechen, die als Jugendliche die NS-Parteitage an den Originalschauplätzen Luitpoldhain, Zeppelintribüne und Hauptmarkt in Nürnberg erlebten. Sie schenkten den Versprechungen der Nationalsozialisten für ein größeres und mächtigeres Deutschland Glauben und erlagen der Massensuggestion. Zwei von ihnen mussten als Parteisoldaten vor Hitler antreten, sie empfanden dabei Anerkennung und Stolz. Einer erzählt, als Hitler ihm die Hand gab: »Das war wie wenn ein Blitz durch den ganzen Körper ging«. Ein anderer: »Es war wirklich so, dass jeder geglaubt hat, Er hat mich angeschaut. Eine Art Selbsthypnose. Er hat mich auf sich eingeschworen.« Rückblickend fragen sie sich, wie das möglich sein konnte. Sie zeigen sich getäuscht und machen deutlich, wie sehr Menschen in einer Diktatur beeinflussbar sind, insbesondere dann, wenn sie vermeintlich attraktive Seiten an ihr zu erkennen glauben. Demgegenüber kommt Arno Hamburger, der heutige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, zu Wort. Auf der Zeppelintribüne schildert er seine zwiespältigen Gefühle an diesem Ort: einerseits die Erinnerung an Ausgrenzung und Verfolgung aus der »Volksgemeinschaft«, weil er einer jüdischen Familie angehörte. Hamburger konnte Nürnberg im Sommer 1939 im letzten Moment nach Palästina verlassen, bevor sich die antisemitische Politik des NS-Staates in den Holocaust drehte. Andererseits empfindet er eine gewisse Genugtuung, dort zu sitzen und als lebendes Dokument dafür zu dienen, das Deutschland nicht »judenfrei« geworden ist.
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Holzemer verzichtet in ZEUGEN AUS STEIN auf eine kritische Sichtweise, die Alexander Kluge mit seinem Team und Michael Mrakitsch in den Vordergrund stellten. Stattdessen stellt er historischen Aufnahmen vom Gelände schlaglichtartige Bilder gegenwärtiger Nutzungen mit dem Areal gegenüber: von einem Rockkonzert im sogenannten »Serenadenhof« der Kongresshalle; vom Norisringrennen; von der letzten Feier des Unabhängigkeitstages der US-Armee auf dem Zeppelinfeld am 4. Juni 1992; von der provisorischen Ausstellung Faszination und Gewalt im Mittelbau der Zeppelintribüne, die die Stadt Nürnberg dort eingerichtet hatte, aber wegen der Unbeheizbarkeit des NS-Baus nur in den Sommermonaten geöffnet war; von Jugendlichen, die ihre Eindrücke bei einer Geländebegehung schildern. Am Anfang und am Ende des Filmes ist die leere Rednertribüne im heutigen Zustand zu sehen, an der ein Lautsprecher befestigt ist, unterlegt mit Originaltönen von Hitler, der in einer Rede von Frieden und Freundschaft zwischen dem NS-Staat und anderen Völkern schwadroniert. Der abschließende Kommentar lautet: »Ohne die Menschenmassen ist die Architektur des Reichsparteitagsgeländes nichts als brüchige Fassade, entlarvt als Lügengebäude, das nur auf Wirkung bedacht war, wie die in ihren Mauern verbreiteten Phrasen.« Sie kann als Kernaussage des Films verstanden werden. K ULISSEN DER G EWALT . D AS R EICHSPARTEITAGSGELÄNDE 1945 BIS HEUTE Der Journalist Peter Heigl kombiniert in dem Film KULISSEN DER GEWALT historische Aufnahmen von den Reichsparteitagen 1927 und 1929 und 1933 bis 1938 mit Bildern der letzten 55 Jahre des Areals. Ergebnis ist die bisher wohl vollständigste Filmdokumentation zur Geschichte des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes. Sie entstand aus Anlass der Eröffnung des Dokumentationszentrums 2001. Zu sehen sind Feiern und Paraden der US-Armee als früherer Besatzungsmacht, teils mit englischem Original-Ton. Zwei Tage nach der Eroberung Nürnbergs am 22. April 1945 hielt sie auf der Zeppelintribüne eine Siegesparade ab und sprengte anschließend das vergoldete Hakenkreuz auf dem Mittelbau, um damit aller Welt das Ende des Dritten Reiches visuell vor Augen zu führen; diese Bilder und Filmsequenzen sind bis heute weltbekannt und medienwirksam. Hinsichtlich des ehemaligen Parteitagareals beanspruchte die US-Armee sämtliche
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Gebäude und Flächen und nutzte Teile davon bis zum Ende des Kalten Krieges. Konflikte mit der Stadt Nürnberg, die ihre eigenen Interessen mit dem Gelände verfolgte, waren damit vorprogrammiert. Im September 1992 verließen die US-Einheiten endgültig die seit 1948 von ihr als Merrell-Barracks genutzte Truppenunterkunft in der früheren SS-Kaserne, die in direkter Verbindung mit dem Reichsparteitagsgelände gebaut worden war (1936-1939). Der Film spiegelt den Zeitgeist der Nachkriegszeit und der Erfahrungsgeneration, die die Amtseliten in der Stadtverwaltung weitgehend dominierte, angeführt vom langjährigen Nürnberger Oberbürgermeister Andreas Urschlechter. Unter anderem sind Bilder zu sehen von der Einweihung der ersten Neubauten der künftigen Trabantenstadt Langwasser 1958 auf der früheren Lagerzone des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes, seinerzeit das größte Stadterweiterungsprogramm in der Bundesrepublik; von der Sprengung der Märzfeldtürme 1966/1967, weil sie diesem im Wege standen; vom Norisringrennen, wo sich die Brüder Ralf und Michael Schumacher Sporen auf dem Weg ihrer Rennkarrieren verdienten; dem Rockfestival Rock im Park mit Bungeejumping und Bühnenshows bis in die Morgenstunden; dem populären Freizeitpark um den Dutzendteich; den Bauphantasien für eine Nutzung der Kongresshalle, ob Fußballstadion, Einkaufs- und Erlebniszentrum, Gewächshaus und weiterer Visionen bis zur Sprengung des NS-Relikts. Gezeigt werden ebenso die Folgen des langsamen Umdenkens der Stadt Nürnberg für einen historisch verantwortungsbewussten Umgang mit dem Areal seit den 1980er Jahren: von der provisorischen Sommerausstellung Faszination und Gewalt; vier aufgestellten Informationstürmen 1989; der Errichtung des Dokumentationszentrums, das bei Abschluss des Filmes noch nicht eröffnet, aber weitgehend fertiggestellt war, mit Erläuterungen des Architekten Günter Domenig; bis hin zu den Bemühungen des städtischen Baureferats, ein Gesamtkonzept für die Nutzung des Geländes zu finden. Das alles zeichnet KULISSEN DER GEWALT als einen besonders informativen Film aus.
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F ASZINATION UND G EWALT . Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Der Film FASZINATION UND GEWALT der Journalistin Dorit Schatz hält den Ablauf eines Arbeitstages im Dokumentationszentrum von frühmorgens bis abends fest. Das ganzjährig durchgehend geöffnete Haus verzeichnete nach seiner Eröffnung am 4. November 2001 im ersten Jahr 260.000 BesucherInnen aus aller Welt. Die gleichnamige Dauerausstellung, das Studienforum und die Veranstaltungsprogramme sind überwiegend mit positiver Resonanz bedacht worden. Vorgestellt werden Arbeitsabläufe und die verschiedenen Tätigkeiten des gesamten Hauspersonals von der Technik, dem Info- und Kassenservice, Cafeteria, dem Reinigungsdienst, Sekretariat, einer Absolventin des freiwilligen sozialen Jahres, freien Mitarbeitern bis hin zu wissenschaftlicher Arbeit und Leitung. Besonderes Gewicht legt der Film auf das Studienforum mit seinen pädagogischen Angeboten für Bundeswehrsoldaten und Schulklassen. Zu Wort kommen der Historiker Siegfried Zelnhefer und Arno Hamburger als Zeitzeuge. KULISSEN DER GEWALT ist kein spektakulärer Film, aber er bietet ein Porträt des Dokumentationszentrums in einer überzeugenden Nahaufnahme. Orte des Erinnerns. Reichsparteitagsgelände in Nürnberg Der Journalist und Autor Hermann Abmayr stellt in dem Film die Geschichte des Reichsparteitagsgeländes mit historischem Filmmaterial vor, befragt ZeitzeugInnen und verbindet sie mit einer kritischen Sicht auf den Umgang nach 1945 bis zur Eröffnung des Dokumentationszentrums. Die besondere Stärke seiner Arbeit liegt in der komprimierten Präsentation dieser drei Ebenen. Protagonisten der Stadt Nürnberg, die in den Nachkriegsjahrzehnten eine maßgebliche Rolle gespielt haben, wie der langjährige Kulturreferent Hermann Glaser bis zu Oberbürgermeister Ludwig Scholz, äußern sich dazu. Ebenso BürgerInnen ob Wolf Michael Wünsche, der Initiator für ein gigantisches Einkaufsund Freizeitzentrum 1987 in der Kongresshalle mit Umbau des Arkadengangs in eine Prachtstraße mit Penthäusern, einem Seniorenwohnheim, einer Diskothek, Kindergärten, Schwimmhallen und einer Joggingstrecke auf dem Dach in einer finanziellen Größenordnung von 500 Millionen DM; oder Carlo Jahn, der beständige Kern einer erstaunlich langlebigen Bürgerinitiative, die sich seit 1977 für die Schaf-
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fung eines Dokumentations- und Informationszentrums am früheren Reichsparteitagsgelände einsetzte. Als historischen wie gegenwärtigen Kronzeugen der Geschichte des Reichsparteitagsgeländes präsentiert Abmayr Arno Hamburger, der nicht nur die NS-Zeit als Verfolgter erlebte, sondern neben seinem Amt als Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg im Stadtrat und im politischen Kuratorium des Dokumentationszentrums sitzt. Er war Ehrengast bei der Eröffnung des Hauses durch den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau am 4. November 2001. Abmayr kommentiert diesen Feierakt in kritischer Würdigung: »Der Staat feiert sein wiedergewonnenes Erinnerungsvermögen, als habe es die Zeit der Verdrängung nie gegeben.« Ausblick Die Annäherung mittels Film an das frühere Reichsparteitagsgelände als einer der größten baulichen Hinterlassenschaften des Dritten Reiches scheint angesichts der hier besprochenen Arbeiten nahezu vollständig abgeschlossen. Doch wird der komplexe Umgang in der vielfältigen Erinnerungs- und Gedenklandschaft der Bundesrepublik ein bedeutendes kulturpolitisches Thema bleiben. Mit den 2004 einstimmig verabschiedeten Leitlinien hat der Stadtrat dazu ein weitsichtiges Konzept vorgelegt.5 Nicht zuletzt wird der akute Verfallszustand des Zeppelinfeldes mit Tribüne und Türmen, der ohne eine sehr kostenintensive Sanierung nicht mehr aufzuhalten ist, die weitere Diskussion darüber befördern. Der Film als attraktives Medium dürfte auch zukünftig bei der Vermittlung dieses Themas Verwendung finden.
Filmliste ›ehemaliges Reichsparteitagsgelände‹ –
BRUTALITÄT IN STEIN, Produktion, Regie, Buch: Alexander Kluge, Peter Schamoni, Kamera: Wolf Wirth, Musik: Hans Posegga, Sprecher: Christian Marschall, Hans Clarin, Format: 35 mm, schwarz-weiß, 1960, Uraufführung: 08.02.1961, Oberhausen, Kurzfilmtage, 12 Min.
5
siehe: http://www.kubiss.de/kulturreferat/reichsparteitagsgelaende/stationen /stationen.htm, zuletzt gesichtet am 05.07.2012. Die Leitlinien und weiteres Material sind auf der dieser Publikation beiliegenden DVD auffindbar.
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FÜR DIE EWIGKEIT. Ein Film von Thomas Schadt, 1983, 60 Min. DAS ERBE. VOM UMGANG MIT NS-ARCHITEKTUR. TV-Bericht zum gleichnamigen Symposium von Dieter Wieland, in: Capriccio. Ein bayerisches Kulturjournal, 19.07.1988, 10 Min. DAS PROTZIGE ERBE. WAS GESCHIEHT MIT DER NAZI-ARCHITEKTUR? Kulturreportage über den Umgang mit NS-Bauten in Berlin, München, Nürnberg. Ein Film von Raimund Koplin, im Auftrag des Bayerischen Rundfunks (BR), 1988, 45 Min. DIE REICHSPARTEITAGE IN NÜRNBERG. Eine Filmproduktion des Pädagogischen Instituts der Stadt Nürnberg, 1990, 20 Min. Englische Fassung: THE NAZI PARTY RALLIES IN NUREMBERG. WHEN IN GERMANY. NUREMBERG. Ein Film von Helen Eisler, im Auftrag der BBC, 1991, 45 Min. ZEUGEN AUS STEIN. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Ein Film von Reiner Holzemer, im Auftrag der Deutschen Welle, 1992, 25 Min. FASZINATION UND GEWALT. NÜRNBERG UND SEIN REICHSPARTEITAGSGELÄNDE. Ein Film von Jutta Louise Oechler, im Auftrag von ZDF/3sat, 1992, 30 Min. GELÄNDEBEGEHUNG NÜRNBERG 1992. Ein Film von Michael Mrakitsch, im Auftrag des Saarländischen Rundfunks, 1992, 60 Min. JERRYBUILDING. UNHOLY RELICTS OF NAZI GERMANY. Bestandsaufnahme über den Umgang mit NS-Stätten in Deutschland (u.a. Alt-Rehse, Berchtesgaden, Nürnberg, Prora). Ein Film von Jonathan Meades, im Auftrag der BBC, 1994, 60 Min. DIE STADT ALS LEBENSRAUM. Eine Sendereihe von Angelika Finger. Teil 6: Dimensionen der Masse. Nürnberg. Im Auftrag des WDR, 1995, 30 Min. DEUTSCH-JAPANISCHER JUGENDAUSTAUSCH 1938. Im Auftrag von JNN MBS/TBS, Japanisches Fernsehen, 1996, 45 Min. KULISSEN DER GEWALT. DAS REICHSPARTEITAGSGELÄNDE 1945 BIS HEUTE. Film von Peter Heigl, im Auftrag des BR, 2001, 43 Min. ORTE DES ERINNERNS. DAS REICHSPARTEITAGSGELÄNDE IN NÜRNBERG. Film von Hermann G. Abmayr, im Auftrag des SWR, 2002, 28 Min. FASZINATION UND GEWALT. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Ein Film von Dorit Schatz. Bayerisches Fernsehen, 2003, 43 Min.
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DER KOLOSS VON NÜRNBERG. Ein Film von Christian Dröse, BR 2003, 43 Min. VOM UMGANG MIT DEM UNDING. DAS EHEMALIGE REICHSPARTEITAGSGELÄNDE IN NÜRNBERG. Medienwerkstatt, September 2004, 12 Min. DOKUZENTRUM NÜRNBERG – EINE STADT STELLT SICH IHRER GESCHICHTE. Ein Film von Gülseren Suzan und Jochen Menzel. ZDF Infokanal, 2005, 15 Min.
Dritter Teil – (Medien)pädagogische Materialien (DVD)
Der ›SchattenOrt‹ als Bildungsort – Bemerkungen zu Motivation, Kontext und Genese der medienpädagogischen Materialien C LAUDIA S CHWENEKER /A NDRÉ S TUDT
Die in Erlangen praktizierte angewandte Theater- und Medienwissenschaft erforscht inter- und multidisziplinär Wahrnehmungs- und Darstellungsprozesse als Formen und Formate (ästhetischer) Kommunikation. In der Lehre steht dabei die Herausbildung einer professionellen Beobachtungsperspektive der Studierenden im Mittelpunkt, die zur kritischen Vermittlung von an sich abstrakten Vorgängen aus Politik, Gesellschaft, Kultur, Geschichte und deren jeweilige Kontextualisierung befähigen soll. Das kann – gerade was die Theaterwissenschaft als Form historischer Wissenschaft betrifft – als eine aktive Arbeit an der Schnittstelle von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis begriffen werden, wobei Letzteres in der Genese von diesbezüglich adäquaten Dramaturgien und Erzählmustern zum Ausdruck kommt. Durch die Anbindung an das Interdisziplinäre Zentrum für ästhetische Bildung (IZÄB) und der Kooperation mit dem Institut für Pädagogik im Rahmen des Erweiterungsstudiengangs ›Darstellendes Spiel in der Schule‹ ergibt sich en passant eine mögliche Fokussierung auf schulische Bildungsprozesse, wobei die Rolle, die Theater und/oder Medien als spezifische Instrumente ästhetischer Bildung spielen können, besonders ins Auge gefasst werden. Demzufolge gehörte die Konzeption und Produktion von audiovisuellen Materialien durch Studierende der Theater- und Medienwissenschaft zum konzeptionellen Kern des Gesamtvorhabens. Die dazu
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notwendige Arbeit nahm dabei von Anfang an einen Einsatz in Bildungskontexten in den Blick und ging von der Notwendigkeit aus, ein dialogisches Verhältnis zu dem ›SchattenOrt‹ und seiner Vielschichtigkeit aufzubauen. Letzteres diente in gewisser Weise einer mehrfachen Selbstverortung – zum einen nämlich der Klärung des biographischen und sozialisierten Blicks auf den Ort und der damit verbundenen Inhalte, bzw. des Verhältnisses von historischer Zeit und subjektiver Lebenszeit, und zum anderen zur Klärung der Bedeutung einer – durch den Produktionsbezug gegebenen und aktiv eingenommenen – Perspektive der angewandten Theater- und Medienwissenschaft auf dieses historisch kartierte Diskursfeld. Anders gesagt: Durch die Kopplung von Introspektion und einer Befragung des konkret vorliegenden Ortes als Gegenüber sollte die Artikulation von Arbeits(hypo)thesen, die in eine eigenständige und eigenwillige filmische, akustische, performative und/oder dramaturgische Praxis führen könnten, sichergestellt werden. In diesem Sinne versteht sich die angewandte Theater- und Medienwissenschaft als pragmatische Form, um ein gesetztes Thema, einen gefundenen Gegenstand, einen diskutierten Sachverhalt etc. durch professionelle Beobachtung und Analyse tentativ in eine (neue/andere) Erzählung zu transformieren. Dies geschieht oftmals als essayistische Geste und sollte dabei einen Abstand von Gegenstand und Autor wahren, dessen (Zwischen-) Raum dann wieder dialogisch besetzt werden kann. Pragmatisch ist dieses Vorgehen deshalb, weil bei der Wahl der Darstellungsmittel nicht deren ästhetische Potentiale als künstlerische Geste sondern die Möglichkeiten und Bedingungen einer (ästhetischen) Kommunikation über den eigentlichen Ansatz hinaus im Mittelpunkt stehen. So wurde in unterschiedlichen Formaten – d.h. in thematischtheoretischen Seminaren, in Begehungen und Untersuchungen vor Ort, einer auf Medienpraxis angelegten Projektwoche und verschiedenen Expertengesprächen – eine multiperspektivische Annäherung an den Ort betrieben. Diese Recherchen führten im Ergebnis zu den Materialien, die im Anhang dieser Publikation auf einer DVD zusammengefasst sind. Diese sind insofern bemerkenswert, da sie den Standpunkt des Produzenten (d.h. hier den Blick des universitären Bildungsadressaten selbst) integrieren und somit die Machbarkeit einer pragmatischen Synthese von Theorie und Praxis als Wissenschaft aufzeigen. Zudem boten die sicht- und hörbaren Projektarbeiten, die im Rahmen des Projektwochenendes bereits öffentlich präsentiert wurden, eine
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spannende Reibungsfläche für andere Strategien im Umgang mit dem Ort, so z.B. die gezeigten Theateraufführungen des Staatstheaters Nürnberg, die Arbeit des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände oder die Ausstellung Das Gelände der Kunsthalle Nürnberg. Die angewandte Theater- und Medienwissenschaft schien uns als Folie für eine methodische Synchronisation der (Bildungs-)Ansprüche und (Bildungs-)Ziele von Theaterpädagogik auf der einen und Medienpädagogik auf der anderen Seite geeignet zu sein, da es in beiden Feldern zwei zentrale und einander sehr ähnelnde Weisheiten zu geben scheint. Erstens: Medien bilden. Zweitens: Theater bildet. Der Konnex von Gegenstand und Bildungsprozess findet sich quer durch die verschiedenen Publikationen in beiden Bereichen, aber auch in den gängigen Argumentationen bildungs- und kulturpolitischer Diskurse. Allzu gern und ebenso schnell wird der aktiven und gestaltenden Beschäftigung mit Kunst, Kultur, Medien, mit Wahrnehmung und Sinnlichkeit eine besondere bildende Wirkung mehr oder weniger plausibel unterstellt. Eine weitere augenscheinliche Gemeinsamkeit von Theaterpädagogik und Medienpädagogik als wissenschaftliche Disziplin ist das weite Feld der vielfältigen Ansätze, Praxen, Ziele und Publikationen, die Heterogenität des Ausbildungsweges sowie des Berufsbildes und schließlich die Schwierigkeiten in der Theoriebildung. Wenige Autoren thematisierten bislang die generell interdisziplinäre Ausrichtung der Felder,1 bzw. formulierten gar konkrete Ansprüche an eine interdisziplinäre Arbeit. Lediglich Leopold Klepacki, der sich auf den institutionellen Kontext Schule bezieht,2 hebt als Kernanliegen ein wesentliches Moment interdisziplinärer Anschlussfähigkeit hervor:
1
Vgl. dazu Pasuchin, Iwan: »Intermediale künstlerische Bildung – Kooperation als Chance«, in: BDK-Mitteilungen 1/2006, S. 27-31. Ebd.: »MusikMedien-Pädagogik. Theoretische Fundierung und Zukunftsperspektiven im Zeitalter von Multimedia«, in: Diskussion Musikpädagogik – Themenheft Medienpädagogik 2/2006, S. 4-11. Pietraß, Manuela: »Die Interdisziplinarität der Medienpädagogik«, in: Medienpädagogik in der Kommunikationswissenschaft. Positionen, Perspektiven, Potenziale, Ingrid Paus-Haase/ Claudia Lampert/Daniel Süss (Hg.), Wiesbaden 2002, S. 75-87.
2
Vgl. Klepacki, Leopold: »Medienpädagogik und Theaterpädagogik an der Schule. Über das (Nicht-) Verhältnis zweier fremder Schwestern«, in: Theater und Medien/Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Per-
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»In ein sinnvolles methodisch-inhaltliches Verhältnis können problemlos Medienpädagogik und Darstellendes Spiel jedoch nur treten, wenn die Medienpädagogik das ästhetische Element von Medien zum zentralen Ausgangspunkt macht und das Darstellende Spiel anerkennt, dass mediale Erfahrungen ebenfalls sinnlich-leibliche Primärerfahrungen darstellen.«3
Interdisziplinarität – als Denkansatz und Arbeitsform – erscheint umso mehr als unverzichtbar, will man die sozio-politische Situation und aktuelle gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Hinblick auf kulturelle, soziologische und (medien-)ökonomische Aspekte mitbedenken und verstehen. Entsprechende theater- und/oder medienpädagogische Methodenkompetenz zu entwickeln und auszubauen, setzt eine enge Zusammenarbeit mit anderen verwandten Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften voraus.4 Dabei oszilliert die Theoriebildung in der Theaterpädagogik und in der Medienpädagogik zwischen Ausdifferenzierung und Verallgemeinerung. Zunehmend werden jedoch Anstrengungen erkennbar, die Nähe zur jeweiligen Bezugsdisziplin erkunden zu wollen.5 Theaterpädagogik Im Unterschied zur Medienpädagogik stehen in der theaterpädagogischen Praxis seit den 1990er Jahren zunehmend ästhetische Maßstäbe im Vordergrund. Die Zielsetzung von theaterpädagogisch orientierten
spektiven. Eine Bestandsaufnahme, Henri Schoenmakers et al. (Hg.), Bielefeld 2008, S. 509-514. Das Darstellende Spiel in der Schule kann in gewisser Hinsicht als Sonderform theaterpädagogischen Arbeitens verstanden werden. 3
Ebd., S. 514.
4
Vgl. Wermke, Jutta: »Ästhetische Perspektiven der Medienerziehung«, in: Spannungsfeld Medien und Erziehung. Medienpädagogische Perspektiven, Hubert Kleber (Hg.), München 2000, S. 197-226. Hug, Theo: »Medienpädagogik. Begriffe, Konzeptionen, Perspektiven«, in: Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwendungen, Gebhard Rusch (Hg.), Wiesbaden 2002, S. 189-207.
5
Vgl. Hentschel, Ulrike/Ritter, Martin (Hg.): Entwicklungen und Perspektiven der Spiel- und Theaterpädagogik. Festschrift für Hans-Wolfgang Nickel, Berlin/Milow/Straßburg 2009.
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Projektgruppen besteht darin, Kunst zu produzieren und sie öffentlich darzubieten. Für derartige Ansätze, die das Theater so ernst nehmen wie die professionellen Theatermacher, hat sich der Begriff der produktionsorientierten Theaterpädagogik etabliert.6 In produktionsorientierten Projekten durchlaufen die Teilnehmer den gesamten Prozess professioneller Theaterarbeit von der dramaturgischen Konzeption bis zur Aufführung und lernen dabei die spezifischen Gestaltungsmittel und die Formensprache des Theaters kennen. Produktionsorientierte Theaterpädagogik ist dabei von einer ähnlichen Grundhaltung getragen wie die handlungsorientierte Medienpädagogik. Künstlerische Praxis wird als Weg zur Ausbildung einer generellen ästhetischen Kompetenz verstanden, sich in der Mediengesellschaft zurechtzufinden. Entscheidend für die Positionierung der produktionsorientierten Theaterpädagogik ist, dass von Beginn der 1990er Jahre an der soziale Aspekt um den ästhetischen Aspekt erweitert wurde, ohne dass dabei eine Abkehr von den sozialen Lernzielen stattfand. Im Gegenteil: »Theater wirkt nur, indem es Theater ist« befand Christel Hoffmann und fügte hinzu7, dass keine theaterpädagogische Konzeption einer Aufführung erzieherischen Wert verleihe, wenn diese Erziehung ihren Wert nicht über das ästhetische Vergnügen der sozialen Kunstform Theater beziehe. Eine Orientierung an der Kunstform Theater wurde somit als Weg erkannt, mit dem die eigene allzu vertraute Erfahrungswirklichkeit im Spiel transformiert, erweitert, überschritten und damit reflektiert werden kann, um so soziales Lernen in einer ästhetischen Orientierung überhaupt erst fruchtbar zu machen.8 Das Postulat »Theaterpädagogik ist
6
Vgl. Sting, Wolfgang: »Lemma ,Theaterpädagogik/Theatertherapie‘«, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Stuttgart/Weimar 2005, S. 348ff.
7
Hoffmann, Christel: »Zum Verhältnis von Theater und Pädagogik«, in: Theaterpädagogik und Dramaturgie im Kinder- und Jugendtheater, Dokumentation zur internationalen Tagung der ASSITEJ e.V. in Bremen 1989, Schriftenreihe der ASSITEJ Bd. 3, Jörg Richard (Hg.), Frankfurt/M. 1990, S. 25-34; hier S. 25.
8
Vgl. dazu Liebau, Eckart/Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule, Weinheim/München 2009.
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eine Kunst« steht somit für einen integrativen Gedanken und eine Synthese des Zusammendenkens sozialen und ästhetischen Lernens9. Das theaterpädagogische Projekt Du bist so jung und sollst schon sterben..., das im Kontext des Gesamtvorhabens ›SchattenOrt‹ entstanden ist,10 war von diesem Ansatz geprägt: Im Bewusstsein, es mit einem ambivalenten Ort zu tun zu haben, hatten die Spielaktionen der beteiligten Jugendlichen einen dezidiert ästhetischen Ansatz, der davon gekennzeichnet war, die eigene körper-/leibliche Präsenz eben den zwiespältigen Dimensionen des Aufführungsortes entgegen zu setzen. Dem Aspekt des Sozialen wurde – neben dem Miteinander von unterschiedlichen Theaterkulturen, die in der internationalen Ausrichtung des Projekts verwirklicht wurden – durch den intergenerationellen Ansatz, d.h. der Integration von Zeitzeugenaussagen, die durch die jugendlichen Darsteller eine Vergegenwärtigung erfuhren, Rechnung getragen. Ob diese Arbeitsweise dann im Ergebnis auch interessante ästhetische Ergebnisse erzeugen kann, ist eine andere Debatte –11 fest steht jedoch, dass mit diesem Ansatz den Jugendlichen Erfahrungen ermöglicht wurden, die sie nur im und durch das Spiel machen konnten. Sie gewannen eine neue Sicht auf historische Texturen, waren mit Aussagen konfrontiert, die jenseits einer schulisch-kanonischen Aneignung von Vergangenheit angesiedelt sind und mussten sich zu diesen vor Ort kognitiv, emotional bzw. körper-/leiblich verhalten. Medienpädagogik Ohne das Wissen um die Genese und Funktionslogik der gegenwärtigen Medienkultur ist Bildung heutzutage schlichtweg nicht mehr vorstellbar: eine gleichermaßen simple wie geradezu banale Feststellung und dennoch von immanenter Bedeutung. Medien spielen im Alltag von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Im Rahmen ihrer Sozialisation sind sie wesentliche Faktoren informellen Lernens. Dabei
9
Sting, Wolfgang: »Theaterpädagogik ist eine Kunst«, in: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik, Nr. 27, September 1997, S. 25-28.
10 Vgl. dazu den Artikel von Studt/Sparberg/Haas in diesem Band; zudem findet man Bildeindrücke, Aussagen zur theaterpädagogischen Konzeption und eine Beschreibung der Aufführung im Anhang unter Nr. 6-8. 11 Vgl. dazu die Kritiken zur Aufführung, die im Pressespiegel (Anhang Nr. 9b) erfasst sind.
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werden Medien im Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in einem immer früheren Entwicklungsstadium relevant. Diese Bedeutung muss eine auf Medien bezogene Bildung verstärkt berücksichtigen. Die Entwicklung der Medienpädagogik hat einen weiten und verzweigten Weg unternommen, seit Dieter Baacke die verschiedenen Aspekte von Medienkompetenz als Ziel medienrelevanter Bildungsprozesse formuliert hat:12 • • • •
Medienkritik: die reflexive inhaltliche Analyse Medienkunde: das (auch technische) Wissen über Medien und Mediensysteme Mediennutzung: die eigenständige und kritische sowohl aktive als auch passive Nutzung Mediengestaltung: das innovative und kreative Ausdruckspotential
Innerhalb der Diskussionen über die zentralen Aufgabenfelder der Medienpädagogik sind die bewahrpädagogische Grundhaltung sowie der Aufklärungsgedanke in der Tradition der Disziplin in ihren Zielformulierungen wie Mündigkeit und Erkenntnisfähigkeit klar zuordenbar, während unter dem Medienkompetenzbegriff eine handlungsorientierte Medienpädagogik und eine ästhetische Wahrnehmungserziehung subsumiert werden kann. Der Vorwurf, dass es sich bei dem Begriff ›Medienkompetenz‹ um eine schimärenhafte Vokabel handelt, ist auf die teils recht unterschiedlichen Konzeptvorstellungen der Autoren oder des jeweiligen medienpädagogischen Ansatzes zurückzuführen. Für die Grundlegung in diesem Kontext bedeutet Medienkompetenz zunächst, dass von einem eher weiten Medienbegriff ausgegangen wurde, der Medien als Zeichensysteme begreift, die eine (ästhetische) Kommunikation ermöglichen.13 Medien-Kompetenz gliedert sich zudem in die Bereiche Medien-Erziehung und Medien-Bildung. Im Erziehungs-Begriff verbindet sich die Vorstellung von einem absichtsvollen, pädagogisch professionell angeleiteten Lehren und Lernen, das sich an einer dezidierten Zielgerichtetheit von Absicht und Ergebnis
12 Baacke, Dieter: Medienpädagogik, Tübingen 1997. 13 Hier offenbart sich eine Nähe und/oder Überschneidung der Medienpädagogik zu angrenzenden Disziplinen wie der Sozial-, Gestaltungs- und Kulturpädagogik sowie zur Kunsterziehung, die »Ästhetik und Kommunikation« selbstverständlicher zu einem ihrer Bereiche zählen.
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orientiert. Dahingegen determinieren die personalen, sozialen und gestalterischen Kontexte den Begriff der Medien-Bildung und heben damit auf einen ganzheitlicheren Prozess der Subjektwerdung ab, der ebenso durch Unabgeschlossenheit wie auch Ungewissheit gezeichnet ist, denn »[...] das Subjekt entfaltet sich nach seinen eigenen generativen Ausdrucksmustern, ohne ständige pädagogische Anleitung; diese Dimension umfasst der Bildungsbegriff.«14 Die Förderung, Entfaltung und Ausbildung umfassender Medienbildung sollte Aufgabe aller Instanzen und Einrichtungen von Bildung und Erziehung sein, d.h. bereits in der Familie, ebenso im Kindergarten wie in der Schule und in der Jugendarbeit. Medien fungieren als Mittel der Vergewisserung sowie der Kenntnis von und über Lebenswelt und der Teilhabe an dieser Welt und ihren Kommunikationssystemen im dialogischen Prozess. Selbstverständlich sind dafür, je nach Medienwahl, teils sehr unterschiedliche Kompetenzen für die Aneignung und Nutzung relevant. Die aktive Medienarbeit spielt in der Medienpädagogik seit vielen Jahren eine wichtige Rolle; unter dieses Label fügt sich die themenzentrierte Medienarbeit mit Studierenden im Rahmen der ›SchattenOrt‹-Projektarbeit nahtlos ein. Der Vollzug im terminologischen Wandel von Medienkompetenz zur ästhetischen Kompetenz spiegelt sich nicht nur in den medienpraktischen Arbeiten der Studierenden sondern auch in ihrer grundlegenden Beschäftigung innerhalb des Gesamtvorhabens ›SchattenOrt‹ als einem ästhetischen Kommunikationsangebot. Um einen Einblick in den von uns gewählten Ansatz zu erhalten, werden nachfolgend die angebotenen Lehrveranstaltungen grob skizziert. Der ›SchattenOrt‹ im universitären Seminarkontext Die Einbindung des Gesamtvorhabens in den universitären Seminarkontext der Erlanger Theater- und Medienwissenschaft erfolgte über zwei Semester in mehreren Lehrveranstaltungen unterschiedlichen Formats, um aus der Perspektive der Studierenden einen eigenständigen – und wie sich herausstellte nicht weniger eigenwilligen – Zugang zum thematischen Topos Nationalsozialismus und dezidiert zum Um-
14 Hoffmann, Bernward: Medienpädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Paderborn 2003, S. 32. Dazu auch: Mollenhauer, Klaus: Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion, Weinheim 1986, S. 9ff.
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gang mit dem Reichsparteitagsgelände bzw. der Kongresshalle zu entwerfen. Als Ausgangsidee stand dabei die Überlegung, die Bildungsadressaten während der prozessualen Beschäftigung und Auseinandersetzung selbst zu Produzenten von Bildungsinhalten werden zu lassen. Die vorübergehende Nutzung der geschichtlich vorbelasteten Ausweichspielstätte durch das Schauspiel Nürnberg und die theaterinterne inhaltliche Frage nach einem angemessenen Umgang mit diesem Schauplatz definierten den Seminargegenstand gleichermaßen wie die Suche nach Antworten im weiten ethisch-moralisch-politischen Diskussionsfeld um die allgemeine Nutzung dieses Ortes. Der thematische Horizont des Seminars wurde durch die Überlegung, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit diesem geschichtsmächtigen Schauplatz aussehen könnte, abgesteckt, wobei der Ort auf latent und/oder explizit bestehende und wirksame Strategien ästhetischer Kommunikation bzw. Bildungs- und/oder Erziehungsabsichten hin befragt werden sollte. Dabei ist die andauernde und generationsübergreifende Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus als gesellschaftspolitische Notwendigkeit genauso wie die massenmediale (Re-)Präsentation bestehender Diskurse zum Topos, die eine gewisse Vulgarisierung und Immunisierung mit sich zu führen scheinen, zu thematisieren und zu problematisieren. Dieses Dilemma führte im Wesentlichen zur Konzeption der Seminare mit einem medienpädagogischen sowie theaterpädagogischen Schwerpunkt. Die folgende chronologische Übersicht der projektbezogenen Lehrveranstaltungen am Institut für Theater- und Medienwissenschaft in Erlangen dokumentiert die multiperspektivische Breite der thematischen Auseinandersetzung und deren sukzessiven Entwicklung. Seminar: ›SchattenOrt‹ – Theater- und Medienpädagogik Beschreibung Im Rahmen des Seminars lag die Konzentration auf (theater- und medienpädagogischen) Strategien eines zeitgemäßen Umgangs mit den In- und Gehalten des Geländes zu Bildungszwecken. Dabei ging es nicht primär um die Wiederholung hinlänglich bekannter Ansätze zum Topos nationalsozialistischer Herrschaft und dessen Konsequenzen im (erinnernden) Umgang mit ihr, sondern um eine konkrete Ausformulierung eines (didaktisch motivierten) Handlungsrahmens, der die ge-
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genwärtigen Herausforderungen einer aktiven und für die unterschiedlichen Zielgruppen adäquate Vermittlung dieses Themas als Bildungsinhalt absteckt. Eine Herausforderung deshalb, da die Adressaten dieser Bildungsabsicht, d.h. SchülerInnen und/oder Jugendliche, entweder durch die konditioniert scheinenden Kommunikationsstrukturen der Erwachsenen abgeschreckt werden, oder durch die mediatisierte/virtuelle Eigenerfahrung (d.h. durch die telegene/visuell-virtuelle Aufbereitung des Topos, z.B. als TV-Ereignis, Kino-Komödie und/oder Computerspiel) bereits ein eigenes Vokabular generiert haben, das sich ggf. als schwer kompatibel mit dem der jeweiligen Bildungsinstanz erweisen kann. Verlauf und Ergebnis Fünf Themenblöcke in konzentrischer Anordnung zum Projekt standen zur Bearbeitung: Block (1): Der Ort selbst. Recherche und Evaluation Das Gelände ist nicht nur geschichtlich brisant, sondern rein infrastrukturell von sehr verschiedenen und vielfältigen Nutzungsinteressen überlagert; das macht den Umgang mit ihm so schwer. Der semantische Gehalt des Ortes ist komplex: Es handelt sich sowohl um einen historisch signifikanten Ort, als auch einen Ort für Freizeit, Unterhaltung und Erholung. Zudem wird das Gelände u.a. durch die Nürnberger Messe, Sportvereine, deren Sportanlagen und für Volksfeste genutzt. Block (2): Theater/Medien – Gedächtnis/Erinnerung In diesem Kontext fand eine Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlich orientierten Gedächtnistheorien statt;15 dabei erwies sich die
15 Z.B. Assman, Aleida: Arbeiten am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M./New York 1993; Ebd.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Ebd.: Das kulturelle Gedächtnis an der Milleniumsschwelle. Krise und Zukunft der Bildung, Konstanz 2004; Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2005; Crivellari, Fabio/Kirchmann, Kay et al. (Hg.): Die Medien der Geschichte, Konstanz 2004; montage/av: Erinnerung/Gedächtnis, Nr. 11/01/2002; Ästhetik & Kommunikation: Ge-
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Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis nach Aleida Assmann als geeignet, um Wandlungsmöglichkeiten und Wandlungsprozesse des kulturellen Gedächtnisses erklärbar zu machen. Bei der dabei entstehenden Diskussion rückte die Frage nach Erinnerungshoheiten (zum Nationalsozialismus 1933-45 sowie zur deutsch-deutschen Geschichte bis 1989/90) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Block (3): Theater- und Medienwissenschaft als Form der Kulturwissenschaft Die hier stattfindende theater- und medienwissenschaftliche Diskussion nahm ›Medien der Vermittlung‹ (Theater und Medien) und ›Medien der Verkörperung‹ (z.B. in der Architektur, als ›location‹) in den Fokus. Bei dieser Annäherung wurde die Funktion und das Potential von Medien hinterfragt, Erinnerungen zu externalisieren und somit zu stabilisieren, wie auch die damit verbundenen medialen Konstruktionsund Inszenierungspraktiken untersucht. Block (4): Kunst und Gedächtnis: site specific Art; Konzepte der Architekturtheorie In diesem Zusammenhang wurden die Formensprache und Wirkung von Architektur besprochen und dezidiert Baustile der NS-Architektur beispielhaft untersucht. Dabei kam es zu einer Diskussion über Markierung und/oder Umfunktionierung von NS-Bauten (z.B. Haus der Kunst in München oder Seebad Prora auf Rügen). In diesem Zusammenhang wurde die Zuordnung des Reichsparteitagsgeländes als Dokumentationsstätte (der ›Lernort‹ in Abgrenzung zur Gedenkstätte) thematisiert und allgemein die Unterscheidung von Mahnen und Ge-
schichtsjammer, Nr. 91/1995; Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002; Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin/Neuwied 1966; Ebd.: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967; Kreuder, Friedemann: »Formen des Erinnerns in der Theaterwissenschaft«, in: Theater als Paradigma der Moderne. Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Erika Fischer-Lichte/Christopher Balme (Hg.), Tübingen 2003; Marx, Peter W.: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi, Tübingen 2003; Siegmund, Gerald: Theater als Gedächtnis, Tübingen 1996.
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denken im Kontext zu Funktionen der Denkmalkunst, die selten im allgemeinem Konsens und häufig in der öffentlichen Debatte steht, besprochen. Block (5): Künstlerische, pädagogische, politische, didaktische Dimensionen Die ästhetischen Strukturen und Darstellungsverfahren in den Medien zum Topos Nationalsozialismus oszillieren zwischen Verbot und Gebot – und unterscheiden sich hierbei von der offeneren Herangehensweisen der (bildenden) Kunst – z.B. Martin Kippenbergers Gemälde Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken aus dem Jahre 1984. Erinnerung durch Medien findet dabei oftmals zwischen Imperativ und Tabuisierung statt. In diesem Kontext wurde die Genese und Entwicklung der Figuration des Zeitzeugen und seine zunehmende (mediale) Prominenz diskutiert. Die Positionierung der Stadt Nürnberg im Umgang mit dem Gelände wurde durch die Auswertung der Materialien zum Prozess der politischen Willensbildung erschlossen; dessen Konsens besteht darin, das Reichsparteitagsgelände als (authentischen) Lernort zu etablieren. Format Projektwoche ›SchattenOrt‹ Beschreibung Vier parallel stattfindende Lehrveranstaltungen innerhalb einer Woche mit unterschiedlichen didaktischen Schwerpunktsetzungen (medienpädagogisch, filmisch, akustisch, bilddiskursanalytisch) boten den Studierenden ein dezidiert projekt- und praxisorientiertes Lehrangebot. Im Rekurs auf die Ergebnisse des vorangegangenen theoretisch ausgerichteten Seminars sollte eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Ort und den immanenten semantischen Begebenheiten unter größtmöglicher Autonomie der teilnehmenden Studierenden disponiert werden. Mit Blick auf eine fiktive Zielgruppe (im weitesten Sinne Schüler/Jugendliche) stand die Konzeption und Fertigstellung von potentiellem Lehr-/Lernmaterial im Fokus der Projektwoche, mit der übergreifenden Ausgangsfrage: Wie kann es gelingen, aus heutiger Perspektive einen zeitgemäßen Zugang zu diesem historisch signifikanten Ort zu generieren?
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Verlauf und Ergebnis Bei einem gemeinsamen Ortstermin rund um das Reichsparteitagsgelände, mit einer begleiteten Geländebegehung und der Sichtung von Thomas Schadts Dokumentation FÜR DIE EWIGKEIT [1983], wurden vielfältige Eindrücke gesammelt, die unter Berücksichtigung von sowohl medienpädagogischen wie auch mediendidaktischen Theorien und Konzepten kontextualisiert wurden. Dabei stand das prozessorientierte Arbeiten von der Ausgestaltung einer Idee über den Entwurf bis zum medialen Ergebnis im Mittelpunkt. Die Suche nach medialen und/oder künstlerischen Formen, das Abwägen unterschiedlicher ästhetischer Strategien und letztlich die Medienwahl bildeten die Grundlage für die Konzeption und Produktion des medienpädagogischen Materials. Die Reflexion der medienpraktischen Inhalte sowie deren Umsetzung, führte zur dialogischen Auseinandersetzung mit dem ›SchattenOrt‹. Die Bildspuren, die der Nationalsozialismus in Architektur, Theater, Film, Fotografie etc. hinterlassen hat, generierten hier Ideen für eine neue audio-visuelle Beschäftigung mit dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände und dem Nationalsozialismus. Seminar: Vorbereitung des Projektwochenendes Beschreibung In dieser Lehrveranstaltung wurden zunächst die theoretischen und die medienpraktischen Ergebnisse und Arbeiten der Projektwoche formal und inhaltlich untersucht und bewertet und über mögliche Formen der konkreten Einbindung dieser Medienarbeiten in Bildungskontexte diskutiert. Das geschah u.a. in Bezug auf die Ergebnisse bzw. der entstandenen Fragen aus den fünf bearbeiteten Themenblöcken des ersten Seminars. Des Weiteren stand die Vorbereitung des wissenschaftlichen Begleitsymposions zum Veranstaltungswochenende des ›SchattenOrt‹Projekts im Fokus dieses Seminars.16 In Analogie der konzentrisch angeordneten Themenblöcke aus dem ersten Seminar wurden dabei die interdisziplinäre Auseinandersetzung und inhaltliche Beschäftigung mit den zu erwartenden theoretischen Positionen der Teilnehmer am Symposion zum SchattenOrt und den hierzu implizierten Fragen vor-
16 Im ersten Teil dieser Publikation sind die Beiträge des Symposions weitestgehend nachzulesen.
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bereitet.17 In Textlektüre zu den jeweiligen Referenten wurde der themenrelevante Anteil der Schriften nach Gegenstand, Terminologie und Fragestellung überprüft und hinterfragt. Dabei standen die Intensivierung der Lektürekompetenz und der (Er-)Kenntnis des wissenschaftlichen Gegenstandes genauso im Mittelpunkt wie das Ausbilden einer informierten, aufgeklärten und gleichberechtigten Position einer Zuhörerschaft sowohl im Sujet wie auch im Vokabular – Letzteres, um den Verlauf der Diskussionen im Symposion potentiell selbst aktiv mitbestimmen zu können. Verlauf und Ergebnis Die Aneignung und Durchdringung der interdisziplinären Positionen verlief im gewohnten Rahmen einer universitären Lehrveranstaltung.18 Weiterführende Fragen, die aus der Textlektüre und den dadurch inspirierten Anschlussdebatten gewonnen wurden, waren: Welches Alter scheint adäquat für eine erste Beschäftigung mit dem Thema Nationalsozialismus? Welche Form und welcher Rahmen scheint für die Erstbegegnung als angebracht (z.B. der familiäre oder schulische Kontext)? Wie sind Genese, Entwicklung und Wirkungsweise von ›oral history‹ und ›Zeitzeugenschaft‹ zu bewerten? Worin besteht ihre Trennschärfe? Wie zuverlässig ist – bei aller impliziten Wichtigkeit dieser Formen von Geschichtserzählung (auch im Hinblick auf das sukzessive Aussterben der Zeitzeugen) – ihre Aussagekraft? In diesem Zusammenhang sedimentierte sich ein bemerkenswertes inhaltliches und ästhetisches Spannungsfeld sowohl für die Konzeption der medi-
17 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass zum Zeitpunkt des Seminars die Planung des Symposions noch nicht endgültig abgeschlossen war, so dass letztlich mehr ›potentielle‹ Referenten im Seminar behandelt wurden als dann tatsächlich am Symposion in Erscheinung traten. 18 Die Hemmschwelle zur aktiven Beteiligung der Studierenden während des Symposions wurde bedauerlicherweise nicht überwunden; trotz der im Vorfeld stattgefundenen dezidiert thematischen Annäherung und der kenntnisreichen Vergewisserung der einzelnen Positionen blieben Beiträge von studentischer Seite die Ausnahme. Interessanterweise zeigten sich die Expertendiskurse zum Thema hermetisch und bargen ein gewisses Einschüchterungspotential, welches hingegen in der praktischen Arbeit am Thema schnell überwunden werden konnte. Ein interessanter wissenschaftsdidaktischer Aspekt, der hier nicht weiter ausgeführt werden kann.
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enpädagogisch initiierten Praxisarbeiten wie auch für das theaterpädagogische Jugendclubprojekt: Letzteres rekurrierte in seiner theatralperformativen Ausrichtung auf Erzählungen aus einer Schreibwerkstatt von Senioren, die im intergenerativen Austausch von den jugendlichen Akteuren adaptiert wurden. Die Erinnerungen bzw. die Erzählungen der Senioren wurden dabei einer affirmativ-empathisch bis kritischen Hinterfragung unterzogen. Wiederum kam die Figuration des Zeitzeugen als Kulturphänomen zur Reflexion; vor allem dessen Inszenierung in medialen Darstellungen, die in ihren Visualisierungsstrategien zunehmend nicht mehr zwischen Täter- und Opferperspektiven unterscheiden, wurde äußerst kritisch bewertet. Eine im Seminarverlauf angeregte eigenständige Recherche und Evaluation verschiedener didaktischer Materialien zum Thema aus informellen und/oder institutionellen Bildungskontexten blieb unzureichend; gleichwohl vermittelte sich der Eindruck, dass sich trotz der Heterogenität der Formate (d.h. Buch, CD, Comic, Website etc.) deren inhaltliche Konzeption und Grundaussage sehr ähnelten. Zum potentiellen Umgang mit dem Material auf der beiliegenden DVD Für eine didaktische Verwendung der medienpädagogischen Praxisarbeiten im Unterricht bieten sich vielfältige und fächerübergreifende Anknüpfungspunkte. Durch die historische Signifikanz des Ortes wird in den Filmen, dem Audioprojekt und dem fotografischen Bildmaterial die Annäherung an Geschichte auf ganz unterschiedliche Weise thematisiert. Sie sind Ergebnisse themenzentrierter Medienarbeit, die ein hohes Maß an Durchdringung von Gesellschaft und der eigenen Lebenswelt dokumentieren. Die relevanten Aspekte sind dabei ein individueller und motivierter Zugang zu einem spezifischen Thema, die kritische Auseinandersetzung mit vorhandenen ästhetischen Darstellungs- und Wahrnehmungsstrategien, das Fordern und Fördern der eigenen Ausdruckskraft, Kreativität sowie der kommunikativen Kompetenz und schließlich und nicht zuletzt die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs.19 Vor einer Einbindung der Medienarbeiten im Unterricht sollte im Vorfeld die Überlegung stehen, welche Informa-
19 Keilhauer, Jan: »Themenzentrierte Medienarbeit. Ein Modellprojekt zur Präimplantationsdiagnostik«, in: merz, Nr. 4/2009, S. 56f.
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tionen vorab gegeben werden müssen, wie beispielsweise Thema der jeweiligen konkreten Medienarbeit, Entstehung und ggf. Beobachtungsaufgaben, damit eine optimale Lernzielorientierung erreicht werden kann. Bei der Konzeption für eine Filmeinführung z.B. ist die erwünschte Gesprächsausrichtung über den Film im Anschluss zu berücksichtigen. Ein derartiges Anschluss-/Aufarbeitungsgespräch kann auf vielfältige Weise konzipiert werden; es kommt darauf an, ob Inhalt und Aussage des Films und/oder die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Zuschauenden im Fokus stehen. Wertfreie und offene Fragestellungen bzw. Problemformulierungen unterstützen dabei den Kommunikationsprozess. Vom Filminhalt unabhängige Fragen sind u.a.:20 • • • • • •
Besteht ein Zusammenhang zur Lebenswelt der Zielgruppe? Welches Thema / welche Themen spricht der Film an? Ist die Aussage des Films klar, anschaulich, verständlich? Enthält der Film neue und relevante Informationen? (Informationsfunktion) und/oder motiviert er zur Auseinandersetzung? (Animationsfunktion) Gibt der Film Ansatzpunkte zur Weiterarbeit?
Der curriculare Kontext und das jeweilige Lernziel formen die Film-/ Audio-/Bildeinführung und das Anschlussgespräch und je nach Medienwahl kommt es zu spezifischen Sinnesmodalitäten im Erleben und Erfahren. Das Erarbeiten der projektbezogenen Medienarbeiten kann als Zeichen medienkompetenten Handelns verstanden werden. Ausgangspunkt für die Studierenden war die Beschäftigung mit den heterogenen semantischen Strukturen des Ortes. Die kritische Auseinandersetzung mit den (massen-)medialen Darstellungsweisen und ihren ästhetischen Strategien sowie die Reflexion der eigenen Wahrnehmung von diesen führten zu einem, teils recht eigenwilligen, thematischen Zugang. Die Rezipienten finden sich nun als Produzenten wieder, ihre Partizipation an der Kulturproduktion mittels ästhetischer Kommunikationssysteme
20 Diese und weitere Hilfsfragen bei Hoffmann, Bernward: Medienpädagogik, Paderborn 2003, S. 377.
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spiegelt sich in der Gestaltung von eigenen Medienprodukten und findet dort seinen adäquaten Ausdruck. ›SchattenOrt(e)‹ – die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit Dass bestimmte Orte spezifischen Wahrnehmungsmustern bzw. Darstellungsstrategien unterliegen, dokumentiert nicht zuletzt der Eklat um den Bariton Evgeny Nikitin bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth 2012, der wegen mehrerer Tätowierungen mit Nazi-Symbolik kurzfristig seinen Auftritt in Wagners Der Fliegende Holländer absagen musste. Zu vermuten ist, dass es sich dabei eher um einen Medienskandal handelte, der trotz und/oder gerade wegen der in dem Festivaljahr laufenden Begleitausstellung zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte (d.h. der Verbindung der Familie Wagner, der Festspiele und dem NS-Regime), die Fragilität so genannter »Vergangenheitsbewältigung« markiert. Die skandalauslösenden TV-Bilder, die auf der Brust des Sängers ein zu dem Zeitpunkt bereits übertätowiertes Hakenkreuz zeigten, stammten aus einem offensichtlich früheren Kontext. Dennoch oder gerade deswegen besitzen diese Aufnahmen eine derartige visuelle Sprengkraft und waren ausreichend, um altbekannte Debatten aufreißen, die Auftrittsabsage Nikitins notwendig erscheinen und so einen moralisch unantastbaren Gestus der Festivalleitung (medial) darstellbar und (medial) wahrnehmbar werden zu lassen. Das Areal des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg ist zweifelsohne ebenfalls ein Ort von sensibler historischer Signifikanz. Während jedoch die theatrale Inszenierung des nationalsozialistischen Größenwahns in Nürnberg in fortdauernder Aufarbeitung mit der Einrichtung des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände gewährleistet ist, unterscheidet sich die Situation am Grünen Hügel – Thomas Mann beschrieb Bayreuth einmal als Hitlers Hoftheater –21 einigermaßen signifikant. In Bayreuth befand sich während der NSDiktatur ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg und sowohl dieser Umstand im Allgemeinen als auch der zwiespältige Umgang der Familie Wagner mit der eigenen Vergangenheit insbesondere waren von allzu negierender Beachtung. Insofern unterschei-
21 Nach Schulz, Holger R.: »Hitler und die „Gleichschaltung“ der Bayreuther Festspiele«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 2/2007, S. 237268.
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den sich die Wahrnehmungsmuster bzw. Darstellungsstrategien an diesen ›SchattenOrten‹ in ihrer Ausprägung von der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit deutlich. Das Gesamtvorhaben innerhalb der Projektarbeit ›SchattenOrt‹ bekundet diesen Umstand in bemerkenswerter Weise und dokumentiert eine Vielzahl der Initiativen und Kooperationen, die der Gegenwärtigkeit von Geschichte im steten Prozess der Auseinandersetzung immer etwas hinzuzufügen hat. Es verstand sich als Versuch eines temporären Gesamtüberblicks der lokalen Aktivitäten, die am und um den konkreten Ort (als Gedächtnis- und Erinnerungsort) und dessen gegenwärtige Nutzung (als Lernort) angesiedelt sind. Nach unserem Verständnis wird das Projekt überhaupt erst durch die Veröffentlichung der Materialsammlung komplettiert – unsere Hoffnung ist, dass sie als Anregung für ein neues Nachdenken über Bildungsabsichten und deren Didaktiken, die sich dem Thema Nationalsozialismus widmen, verstanden wird. Den Materialien der dieser Publikation beiliegenden DVD werden auf den folgenden Seiten in chronologischer Reihenfolge jeweils ein moderierender, 22 bzw. informativer Text zur Seite gestellt, der die konkrete Konzeption und Genese des Materials weiter offenlegen soll und – aus unserer Sicht – spannende Anschlussfragen (z.B. als didaktischen Impuls) zu formulieren versucht. Wir hoffen, dass sich mit diesem Angebot arbeiten lässt – und freuen uns auf Kritik. #1 – Video
Steine sammeln (Laufzeit 5:12 min) 23
Ausgang & Idee In dieser ›Mockumentary‹ (= eine vorgetäuschte Dokumentation) geht es um einen jungen Mann, der sich – flankiert von einem (fiktiven) Stadtratsbeschluss, die Bestandteile des Reichsparteitagsgelände zum Abriss freizugeben – an der Haupttribüne zu schaffen macht, um Steine für einen privaten Weiterverkauf zu gewinnen. Die generelle Haltung der Reportage sieht sich als Form einer staunend teilnehmenden
22 Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis der DVD findet man am Ende dieses Kapitels. 23 Mit Laufzeit ist die Gesamtdauer des Clips gemeint, d.h. sie umfasst neben den Filmbildern, die in den Analysen per time-code als Protokoll erschlossen sind, Vor- und Abspann.
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Beobachtung organisiert, durch die wackelige Führung der Kamera (Handkamera) sollte ein Authentizitätsanspruch generiert und der konspirative Charakter der Aufnahmen (angesichts des Themas bzw. der aufgestellten Behauptung im Film) hergestellt werden. Hintergründe Zum Zeitpunkt der Konzeption des Filmes wurden notwendige Investitionen zum Erhalt der unter Denkmalschutz stehenden Tribüne in der Stadt Nürnberg politisch diskutiert. Angesichts leerer öffentlicher Kassen, die gerade die Kommunen zum Sparen zwingen, wäre gerade zu diesem Thema eine kontroverse Debatte in den Medien, vor allem in privaten, auf den Boulevard ausgerichteten TV-Formaten denk- und erwartbar. Diese blieb jedoch weitestgehend aus. Vorlagen & Motive Für die Erzählung wurde ein einheimischer Protagonist (als überzeichnetes Klischee) in den Mittelpunkt gerückt, dem man Worte auf dem Niveau des ›Stammtisches‹ in den Mund legte (und ein Versuch darstellt, die ausgebliebene Debatte in irgendeiner Form zu ersetzen). Die Pointe der Erzählung orientiert sich an der vom Protagonisten selbst ins Spiel gebrachten Parallele zum Fall der Berliner Mauer, die ja in Teilen ebenfalls von Bürgern entsorgt und weiterverwertet worden sei. Kurzanalyse (mit Bezug auf das Filmprotokoll) Dauer: 2.49/Anzahl der Einstellungen: 12 Der Film täuscht die Form einer Dokumentation vor. Diese Form der fiktionalen Dokumentation wird auch als ›Mockumentary‹ bezeichnet. Dieser Eindruck entsteht v.a. durch den durchgehenden Einsatz der Handkamera (E1-E12). Insgesamt besteht der Film mit einer Gesamtlänge von 2 Min. 49 Sek. aus verhältnismäßig wenigen Einstellungen. Die teils auffallend wackligen und unscharfen Bilder betonen signifikant das ›Abschneiden‹ von Gliedmaßen im Bildausschnitt (z.B. E7 oder E8); die Kamera gibt vor, ein scheinbar authentisches von ihr unbeeinflusstes Geschehen zu begleiten und ist somit weder auf die Handlungen noch auf den Aktionsradius des Protagonisten vorbereitet. Dass sie die Aktionen dennoch einfängt, intensiviert den quasidokumentarischen Charakter. In den Einstellungen von ungewohnt langer Dauer (E3, E5, E7, E8) wird der übliche Schnitt durch Veränderungen in der Größe des Bildausschnitts (Zoomfunktion in E3 und E8)
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und/oder durch Kamerabewegungen (Schwenk in E3, E7 und E8) zugunsten des nicht weichenden Kamerablicks ersetzt. Assoziationen zu verschiedenen TV-üblichen Formaten des Enthüllungsjournalismus werden nahelegt, verstärkend wirkt hier der kontinuierliche Originalton in derber fränkischer Mundart, was ansonsten v.a. im sogenannten Milieufernsehen vorzufinden ist. (weiterführende) Fragen • Wie wird der junge Mann gesehen/charakterisiert? z.B. o Welche Vermutungen können über seine generelle Haltung zur Geschichte angestellt werden? o Inwieweit stehen die (unterstellte) Intelligenz und Mundart in einem Zusammenhang? o Welche Spannungen zwischen Ego und Kollektiv (Ich und Gesellschaft) zeigen sich in seinen Aussagen? o Ist Ihnen der junge Mann sympathisch? •
Was ist von seinen Aussagen zu halten? z.B. o Gibt es einen generellen und ideellen Nutzen von Geschichte? o Ist die angeführte Parallele zum Fall der Berliner Mauer nachvollziehbar bzw. gibt es überhaupt einen Zusammenhang? o Findet eine Ökonomisierung der Geschichte statt? Wenn ja: Wo und in welcher Form? o Wie beurteilen Sie die Rolle von Geschichte in den Medien? Halten Sie die Fiktionalisierung von Geschichte in den Medien für problematisch? o Wo würden Sie den Aussagen widersprechen bzw. zustimmen?
•
Wie wirkt dieser Bericht? z.B. o Wie beurteilen Sie seine Machart (Kameranutzung, Bildeinstellungen und -inhalte, Stil des Interviews)? o Um was für ein Format handelt es sich? Kennen Sie ähnliche Beispiele? o Wie ist der Bericht thematisch gegliedert (Beobachtungen, profane Erklärungen – pragmatischer Nutzen der Steine, ökonomischer Nutzen der Steine, Ästhetik/Schönheit/Gedächtnis)?
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o Wie wird der Schein von Authentizität organisiert? o Wenn man generell Bilder als mediale Konstruktion von Wirklichkeit begreifen will, worin liegt die Wahrheit der Bilder? Der Film kann durch ein Filmprotokoll (1a), dessen Terminologie in einer weiteren Datei (1b) erläutert wird, die auch für die anderen vorliegenden Filmprotokolle (2a und 3a) Gültigkeit besitzt, auf einer Mikroebene formal/strukturell nachvollzogen werden. Damit soll zum einen die Konstruktion ›Film‹ transparent gemacht und zum anderen ein Vergleich von filmischen Mitteln und daran gekoppelten Aussagen am Material ermöglicht werden. #2 – Video Stadt und Verantwortung (Laufzeit 4:52 min) Ausgang & Idee Die Stadt Nürnberg hat per Stadtratsbeschluss der Sitzung am 19. Mai 2004 einstimmig Leitlinien/Leitgedanken zum künftigen Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände verabschiedet. Die kompletten Materialien (und weitere Informationen) zu diesem Beschluss sind online einzusehen,24 bzw. unter 9c im Anhang erfasst. Dieser Film wollte sich an einer Visualisierung von Anspruch und Wirklichkeit versuchen und stellt Aussagen dieses Papiers (und damit des politischen Diskurses) in ausgewählten (Bild-)Eindrücken des Geländes gegenüber. Hintergründe Angesichts der Tatsache, dass sich die Bemühungen der Stadt Nürnberg um einen angemessenen und konsensualen Umgang mit den architektonischen Hinterlassenschaften des NS-Staates in einem langjährigen und komplexen Diskurs niederschlagen, war die herbeigeführte Einstimmigkeit bemerkenswert. Durch die Austragung der FIFAFußball-WM 2006 in Deutschland (Nürnberg diente als Spielort von fünf Partien) war ein gewisser Handlungsdruck entstanden, wollte man – gemäß dem Veranstaltungsmotto Die Welt zu Gast bei Freunden – den Blicken der Weltöffentlichkeit standhalten.
24 siehe: http://www.kubiss.de/kulturreferat/reichsparteitagsgelaende/hinter gruende.htm, zuletzt gesichtet am 17.07.2012.
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Vorlagen & Motive Nach einer Begehung des Geländes im Februar 2008, rund 1 1/2 Jahre nach der Einrichtung des Geländeinformationssystems zum sportlichen Großereignis, wurden die dort gewonnenen Eindrücke – zu sehen sind die Ehrenhalle im Luitpoldhain, der Innenhof der Kongresshalle, Teile des Zeppelinfeldes und der Zeppelintribüne – aufs Neue mit den kommunalpolitischen Vorgaben verglichen. Kurzanalyse (mit Bezug auf das Filmprotokoll) Dauer: 2.36/Anzahl der Einstellungen: 27 Der Film gleicht einem visuellen Kommentar. In den ersten vier Einstellungen sind verschiedene nicht zuordenbare statische Großaufnahmen zu sehen, bevor in E5 der Sprecherkommentar einsetzt und in E8 eine Schrifteinblendung schließlich über die Herkunft des Kommentars aufklärt: Es handelt sich dabei um ein Positionspapier der Stadt Nürnberg. Weitere Einstellungen ohne Kommentar (jedoch mit Atmo) sind E11, E12, E19, E23 und E24. Großaufnahmen zeigen Bilder, die ähnliche Eindrücke evozieren: verlassen und verwelkt (E1), heruntergekommen und gefahrenvoll (E2), verschlossen und ausgeschlossen (E3 und E4). Auf der Tonebene ist das Rascheln der Blätter und Baufolie sowie das metallene Klirren des Schlosses am Bauzaun zu hören. E6 zeigt auf der Bildebene einen Kranz hinter Gittern, der Sprecherkommentar lautet u.a. »die Hauptverantwortung für ein nationales Erbe«. Die Besonderheiten der Text-Bild-Relation erstrecken sich über den gesamten Film. Von einer Text-Bild-Schere spricht man, wenn die Informationen des Visuellen und des gesprochenen Textes auffallend voneinander abweichen. Ist dieses Abweichen zu hoch, wird davon ausgegangen, dass sich Probleme bei der Informationsaufnahme ergeben. Hier fungiert das Abweichen vom Informationsinhalt in Bild und Ton als sublimes Störpotential, das ein Hinterfragen beim Zuschauer evoziert. In E17 dominiert ein Parkverbotsschild den visuellen Eindruck, dahingegen lautet die Forderung im Audiokommentar: »die (Sicherstellung der) Zugänglichkeit (...) für Besucher« zu gewährleisten (ähnlich hierzu E18 und E25/26). In der letzten Einstellung (E27) wird gar für 10 Sek. ein Graubild gezeigt, während folgender Sprechertext zu hören ist: »Die Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ist als offener Prozess im öffentlichen Dialog ohne vorgegebenes Ende zu führen.« Hier ist das Auseinanderfallen der TextBild-Relation eklatant, das offene Ende appelliert an den Zuschauer
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nach- bzw. weiterzudenken. Die Einstellungen sind zumeist statisch aufgenommen und die Montage wirkt ästhetisch motiviert. (weiterführende) Fragen • Welchen Eindruck erweckt das Gelände? Glauben Sie den Bildern? • Welchen Eindruck ruft die Darstellung des Geländes in diesem Beitrag hervor? z.B. o In der Gegenüberstellung von Text und Ton? o Ist die Wirkung eher suggestiv, manipulierend, informativ etc.? o Welche Rolle spielt der kurze Dialogtext? o Ist es relevant, dass dieser in englischer Sprache erfolgt? Was für eine Aussage wird damit transportiert? •
Wieso verzichtet man am Ende des Beitrags auf weitere Bilder? z.B. o Wie kann man die Schwarzblende deuten? als (negative) Assoziationsfolie (Ich sehe Schwarz...) als Möglichkeit der Assoziation eigener Bilder etc.
•
Würden Sie – auch wenn Ihnen die Hintergründe der politischen Debatte um einen angemessenen Umgang mit dem Gelände nicht en détail bekannt sind – die einstimmig beschlossenen Richtlinien als eine Art ›Schlussstrich‹ interpretieren wollen? - Wenn ja: Wie bewerten Sie einen ›Schlussstrich‹ angesichts der Bilder im Beitrag?
#3 – Video (Auch) Du bist Deutschland (Laufzeit 3:12 min) Ausgang & Idee Aufgrund eines dynamischen Wandels der Jugendkultur, bzw. der Kompetenz dieser Bildungsklientel, sich durch (neue) Medien einen eigenen Zugang zum Thema Nationalsozialismus zu verschaffen, müsste sich der pädagogische Umgang mit diesem Thema verändern und sein Vokabular anpassen. Geht man davon aus, dass die Sprache des Marketings eher als ein pädagogischer Frontalvortrag verstanden
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wird, so könnte ihre Adaption einen innovativen Zugang zum Topos ›Reichsparteitagsgelände‹ und zu dessen Inhalten und Texturen bieten: Die Inszenierung eines Werbespots mit diesbezüglichen Bildern und Aussagen würde unserem Thema neue Perspektiven verleihen, die man zudem – auch im oben angesprochenen Gegensatz von Interesse, Aufmerksamkeit und Erreichbarkeit der jugendlichen Klientel – weiter problematisieren könnte. Hintergründe Die oben stehende Hypothese speist sich aus Beobachtungen, die bei mehreren Ortsbegehungen gewonnen wurden. Das Reichsparteitagsgelände wird sehr häufig von Schulklassen besucht, die vor Ort fast ausschließlich mit einem belehrenden Vortrag konfrontiert werden, der darauf abzielt, die Besonderheiten des ›Ortes der Täter‹ zu vermitteln. Auch wenn es nur eine Spekulation ist: Die SchülerInnen wirken bei dieser Vermittlungsform zumeist passiv und relativ teilnahmslos – der Ort an sich scheint in wenigen Momenten oberflächlich wahrgenommen und damit erledigt zu sein. Vorlagen & Motive Die Konzeption bezog sich auf die Kampagne Du bist Deutschland, die im Vorfeld der 2006 in Deutschland stattgefundenen Fußballweltmeisterschaft für ein ›neues deutsches Nationalgefühl‹ werben sollte. Dieses prekäre Spannungsfeld von Weltbild und Weltabbild, das sich in diesem Zusammenhang zeigt und kontrovers diskutiert wurde (die Analogien zu unserem Kontext sind mehr als deutlich), diente als Impuls für die Anwendung eigener Inszenierungstechniken. Diese wurden als Bilderzeugungsstrategien am Ort selbst angewendet und machten das Reichsparteitagsgelände bewusst zum Thema und Gegenstand einer eigensinnigen – und nur medialen, im Sinne des Marketings/der Werbung wirklichen – Konstruktion. Kurzanalyse (mit Bezug auf das Filmprotokoll) Dauer: 1.58/Anzahl der Einstellungen: 25 Noch bevor das erste Bild zu sehen ist, erklingt ein banales unverfängliches musikalisches Motiv (E1-E25). Der ironisierende Imagefilm bezieht seine Spannung aus dem Wechselspiel der Mehrdeutigkeiten von Bild und Ton; z.B. zeigen E2-E4 ein offenbar in die Jahre gekommenes Bauwerk und der Text klärt uns auf »Einst warst Du eine Schön-
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heit. Heute zeigst Du offen Deine Narben und gestattest einen Blick hinter Deine Fassade.« (Vgl. hierzu auch E11, E12 und E13). Das ironische Moment manifestiert sich in der Differenz zwischen der Aussagekraft der Bilder und dem dazugehörigen Audiokommentar. Vier solitäre Schwarzbilder (E1, E8, E14, E19) unterteilen den Film in vier Bild- und Erzählabschnitte. Die Einstellungen E2-E7 bilden die erste Sequenz (ca. 19 Sek.) und thematisieren die Attraktivität und die Vergänglichkeit des Ortes; in den Einstellungen E9-E13 (ca. 25 Sek.) wird die politische Vergangenheit des Ortes thematisiert; die Gegenwart des Ortes findet sich in den Einstellungen E15-E18 (ca. 23 Sek.) wieder und vierte und letzte Sequenz bilden die Einstellungen E20-E25 (ca. 41 Sek.), in dem es um die Geschichte in der Gegenwart des Ortes geht. Die im Kommentar angelegte Mehrdeutigkeit findet ihre Entsprechung im Bildinhalt (z.B. E15, E16) oder die Ästhetik des Visuellen fungiert als historisches Zitat (z.B. E24, die an die ästhetische Bildsprache in Riefenstahls Filme erinnert). Die Montage erfolgt offenkundig nach ästhetischen Prinzipien. (weiterführende) Fragen • Worin liegt die (auch in der Übertragung auf unser Thema entstandene) Ambivalenz des Slogans Du bist Deutschland? z.B. o Was heißt es, ›Deutschland‹ zu sein? o Welche Bedeutung kommt dem ›Nationalgefühl‹ dabei zu? o Wie ist der Slogan angesichts der historischen Vorläufer zu beurteilen? •
Welche Themenkomplexe lassen sich im Spot aufspüren? z.B. o Zeitlichkeit: Vergangenheit – Gegenwart – (Zukunft) o Politisch-ideologische Themen o Appell an Verantwortung, Reflexivität o Spuren der Gewalt
•
Wie wirkt dieser Spot? z.B. o Wie beurteilen Sie seine Machart (Kameranutzung, Musik, Bildeinstellungen und -inhalte, Sprechhaltung der OffStimme)?
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o o
Wie ist die Haltung des Spots einzuschätzen – ist der ironische/satirische/ parodistische Grundton angemessen? Würden Sie mit diesen Bildern eine Marketingkampagne durchführen?
Die Vorlage zu diesem Film ist auf youtube.de online verfügbar.25 #4 – Video Sakrale Ruine (Laufzeit 3:01 min) Für dieses Video ist kein eigenes Filmprotokoll angefertigt worden; hier steht ein offenerer (didaktischer) Ansatz zur Auswahl, der die Fragen nach dem, was (vom Ort) zu sehen und (als Geschichtsinhalt) zu erkennen ist, in Verbindung mit dem intendierten pseudoreligiösen, d.h. vulgären theologischen Anspruch der NS-Bewegung und der Gefahr eines Mystizismus diskutieren könnte. Dabei vervollständigt sich das Bild von dem Ort (als Filmbild) durch eine nachträglich eingefügte Grafik-Animation – ggf. geht es dem tatsächlich vorliegenden (und ebenfalls unvollständigen) Gelände ebenso, nur dass die Strategien der Animation andere sind. Ausgang & Idee Die Bauten auf dem Reichsparteitagsgelände waren in ihrer Form, Ästhetik und Funktion auf die Repräsentation eines durch die NSPropaganda ausgerufenen ›tausendjährigen Reiches‹ angelegt.26 Hierin liegt eine Parallele zum Millenarismus, der den Glauben an die Wiederkunft von Jesus und seiner Herrschaft als zentrales Element enthält – NS-Ideologie und (christliche) Heilslehre laufen zusammen und materialisieren sich in der (heute noch sichtbaren) Architektur. Hintergründe Durch Worte aus Stein sollte die Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände den baulichen Ausdruck eines überindividuel-
25 Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=bq_MRWewv80, zuletzt gesichtet am 17.07.2012. (Das Original stammt aus dem Jahr 2005). 26 Vgl. dazu z.B. Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 33
1934.
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len und überzeitlichen Herrschaftsanspruches kommunizieren – quasi als metaphorischer Verweis und Übereinstimmung mit den von Moses in den Stein gehauenen göttlichen Geboten. Dieses alttestamentarische Gleichnis war der Ausgangspunkt für die Suche nach passenden, diesen Zusammenhang illustrierenden/inspirierenden Bildern. Vorlagen & Motive Die Kongresshalle stellt in ihrer heutigen (unfertigen) Beschaffenheit die größte architektonische Hinterlassenschaft der NS-Zeit dar; von Anbeginn an erschien die filmische Konzentration auf dieses (ruinöse) Bauwerk, welches man in der Nachbearbeitung per graphischer Animation ›fertig stellen‹ wollte, als opportun. Zudem – und auch diese Wahl wurde schnell getroffen – sollten die Bilder durch einen Choral von J.S. Bach strukturiert und rhythmisch gegliedert werden.27 (weiterführende) Fragen • Was zeigen/bewirken die Bilder? z.B. dokumentarische Aufnahmen, symbolische Abbilder/Ikonen etc. • Wie ist der Zusammenhang von Bild und Musik zu bewerten? z.B. gelingt die Aufladung durchgehend – oder sperrt sich das Material? • Welche Aussagen lassen sich durch die graphischen Elemente gewinnen? z.B. konkreter Ort – Virtualität der (Herrschafts-)Absichten, baufälliger Ist-Zustand – größenwahnsinniger Soll-Zustand etc.
27 Wir haben den Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme« (BMV 645) in einer Einspielung von Ton Koopman verwendet; die Aufnahme wurde mit der Christian Müller Orgel in der Waalse Kerk in Amsterdam gemacht. Erschienen ist die verwendete Einspielung auf dem Label Brilliant Classics auf einer Sammlung unter dem Titel J. S. Bach Organ Works (Nummer 1685-1750). Es ist uns trotz intensiver Bemühungen um die Verwertungsrechte nicht gelungen, den aktuellen Inhaber der Rechte dieser Einspielung zu ermitteln – wir bitten daher ggf. um Kontaktaufnahme, um dies nachträglich zu regeln.
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#5a – Video Dokumentation des Projektwochenendes (Laufzeit 17:24 min) Ausgang & Idee Das Gesamtvorhaben in seiner programmatischen, inhaltlichen und strukturellen Ausrichtung sah als zentrales Moment die Ausrichtung eines Projektwochenendes vor, an dem sich alle involvierten Programmpartner eingeladen sahen, die Ergebnisse ihrer Beschäftigung mit der thematischen Vorgabe des ›SchattenOrtes‹ ebendort zu präsentieren. Die Vielschichtigkeit dieses Wochenendes sollte filmisch dokumentiert werden; das Ergebnis sollte weniger als Erinnerungsvideo denn als informativer Impuls zur Weiterführung der Diskussionen fungieren. Hintergründe Obwohl sich die (inhaltliche wie organisatorische) Komplexität des Themas und die z.T. divergierenden Profile der beteiligten Programmpartner – vor allem auf der Ebene Staatstheater Nürnberg und Institut für Theater- und Medienwissenschaft, wo sich ein kritisch-affirmativer, künstlerischer und ein eher diskurstheoretisch-historisch orientierter wissenschaftlicher Zugang kreuzten – nicht hinreichend in einer Zusammenstellung von Bildern darstellen lässt, sollte mit der Dokumentation zumindest die Vielschichtigkeit der angelegten Perspektiven (und der dahinter stehenden Interessen) angedeutet werden. Vorlagen & Motive Der Film geht mehr oder weniger chronologisch und deskriptiv vor; er rekonstruiert das Wochenende vom 4. bis 6. Juli 2008 als ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Programmpunkten und bietet dabei ausgewählte Stellungnahmen von beteiligten Personen – Gastgeber und Initiatoren, eingeladene Wissenschaftler und Sponsoren, involvierte Jugendliche und Politiker, Besucher und Experten. Zur (schematischen) Orientierung über alle Aktivitäten innerhalb des Projekts ist in diesem Anhang eine Übersicht beigefügt (Nr. 10); zudem lassen sich bestimmte Passagen des Films als Illustration der Textbeiträge dieser Publikation verstehen.
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Die inhaltlichen Statements im Film stammen von: Claudia Schweneker (zur generellen Motivation des Projekts) Klaus Kusenberg (Staatstheater als Gastgeber) Claudia Roth (Eröffnungsvortrag) Frank Haberzettel (Sponsor) Lena Wagner/Marianne Seitzinger (Jugendclubprojekt/Zeitzeugin) Peter W. Marx (Theaterwissenschaft) Micha Brumlik (Erziehungswissenschaft) Christoph Asendorf (Kunstwissenschaft) Ellen Seifermann (Kunsthalle Nürnberg) Ingmar Reither (Schreibwerkstatt) Käthe Säckel (Zeitzeugin) André Studt (Versuch einer Bilanz) (weiterführende) Fragen • Welche Perspektive nimmt die Dokumentation selbst ein? • Welche Akteure treten auf – was sagen sie genau? • Welche (unterschiedlichen) Motivationen lassen sich in den dargestellten Positionen erkennen? z.B. Kunst & Wissenschaft, Erinnerung & Verantwortung, Jung & Alt etc. • Welche Aktivität scheint Ihnen besonders geeignet, mit diesem Thema umzugehen? • Können Sie sich bestimmte Konfliktfelder, die innerhalb des Projektverlaufs virulent werden könnten, vorstellen? #5b – Video
Interviews zum Thema Theater/Erinnerung/Jugendclubprojekt (Laufzeit 15:43 min) Ausgang & Idee Im Rahmen der filmischen Dokumentation des Projektwochenendes wurden viele Interviews geführt – hier werden Stimmen zusammengeführt, die das Verhältnis von Theater, Erinnerung und das Verhältnis der Generationen ansprechen. Hintergründe Wenn sich ein Theater – gerade in Hinblick auf den Anspruch als ›moralische Anstalt‹ zu fungieren – an einem Ort wie dem Reichsparteitagsge-
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lände wiederfindet, so wird sich dieser Umstand in den Inhalten und Formen des theatral-performativen Handelns niederschlagen. Angesichts der in diesem Anspruch liegenden Bildungsfunktion sehen sich in dieser Zusammenstellung von Interviews (die in Teilen in der Dokumentation verwendet wurden) Statements zusammengefasst, die hierauf differenziert Bezug nehmen. So widmet sich der erste Teil dem internationalen Projekt des Jugendspielclubs des Staatstheaters Nürnberg, das gemeinsam mit Schülern aus Nürnberger Partnerstädten (Krakau/PL, Brasow/RUM) erarbeitet wurde. Zu Wort kommen Jugendliche aus Krakau und die Leiterin des Jugendclubs, Anja Sparberg. Neben Aussagen des amtierenden Schauspieldirektors Klaus Kusenberg und der Zeitzeugin Käthe Säckel, die das Thema ›Vergangenheitsbewältigung‹ anspricht, widmet sich Peter W. Marx als Theaterwissenschaftler dem besonderen Verhältnis von auf den Augenblick der Wahrnehmung bezogener Kunst des Theaters und dessen spezieller Gedächtnisfunktion. (weiterführende) Fragen • Welche Diskursfelder/Themenhorizonte werden aufgespannt? z.B. (Konstruktion und Aushandlung von) Geschichte, Mensch und Verantwortung, Wahrnehmungsanordnungen etc. • Wie kann man eine Diskussion in Bezug auf diese Aspekte ermöglichen? d.h. Wo überlappen sich die angesprochenen Themenfelder? • Wie lassen sich die Aussagen strukturieren? z.B. pragmatische, biographische, politische, akademische Aussagen etc. • Gibt es Tabus bzw. nicht diskutierbare Setzungen? z.B. Themenkomplex ›Schuld‹ Bei den dokumentarischen Formaten 5a und 5b könnte generell über die Rolle der Zeitzeugen diskutiert werden; sie bekommen durch ihre Einbettung in die Filmerzählung eine gewisse Prominenz und stellen durch ihr ›gelebtes Leben‹ und den Gestus des Dabeigewesen-Seins einen gewissen Anspruch auf Authentizität her, den man kritisch hinterfragen müsste.
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#6a (Video) & #6b (Bild) Impressionen der Kongresshalle/Diashow Ausgang & Idee Video (6a): Die Aufnahmen entstanden im Rahmen des Projektwochenendes und sollten als ›Füllmaterial‹ für die Dokumentation verwendet werden. Bild (6b): Im Rahmen der Besichtigung des Geländes bzw. der Suche nach geeigneten Drehorten wurden Fotos gemacht, um den eigentlichen Dreh vorzubereiten. Bei der Ansicht konnte man später dem Fotograf / dem Kameramann ein Faible für das (Bild-)Mächtige und Beeindruckende der Architektur unterstellen. Diese Beobachtung zweiten Grades (d.h. der nachträglichen Beobachtung der Beobachtung vor Ort) führte zu der Einsicht, dass die erste Beobachtung und Wahrnehmung des Geländes bereits in irgendeiner Form vorgeprägt war bzw. bewusst aufgesucht wurde. Hintergründe Die Wahrnehmung scheint sich an formalen Strukturen zu orientieren, z.B. Achsen, Winkeln, (dramatischen) Gegensätzen etc. – und setzt so potentiell Erzählungen frei. Es scheint so, als sei das Erscheinen den Bauten als implizite Inszenierung mitgegeben. Vorlagen & Motive Mit dem Begriff der ›Pathosformel‹, 28 bzw. dem ikonographischen Gedächtnis lassen sich die oben genannten Deutungsreflexe analysieren. Zudem werden diese eher aus der Antike herstammenden Strategien durch popkulturelle Bildmuster ergänzt, z.B. durch Anleihen aus dem Western-Genre. (weiterführende) Fragen • Welche Strukturen lassen sich in den Bildern erkennen? z.B. geometrische Formen, Gegensätze etc. • Welche Erzählungen/Stimmungen lassen sich mit den Bildern verknüpfen? z.B. Traurigkeit, Melancholie, Dominanz, Triumph etc. 28 Vgl. dazu Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1970.
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Wie verändert das Abspielen von Musik (z.B. zum Video 6a) die Wahrnehmung der dort erfassten Bilder? Kann man diese Bilder mit solchen, die man z.B. aus Geschichtsbüchern kennt, vergleichen? Sind die Bilder/die Bildinhalte schön?
Während die anderen Bilddateien eine Bearbeitung durch die Herausgeber dieser Publikation erfahren haben, so sind diese Bildfolgen – als Video oder Diashow – offen für einen kreativen Umgang mit ihnen. #7 – Audio
75 Jahre Reichsparteitagsgelände – eine akustische Reise
Ausgang & Idee Auch Bob Dylan hat in Nürnberg (akustische) Vergangenheitspolitik betrieben; so äußerte er sich am 1. Juli 1978 nach seinem legendären Auftritt auf dem Zeppelinfeld in dem Sinne, dass 80 000 Deutsche Hitler den Rücken gekehrt und sich ihm zugewandt hätten – und in der Tat hatte das damalige Publikum die ehemalige Haupttribüne – und damit Hitlers Redeplatz – hinter sich. Und dennoch: Bei dem Gedanken an das Gelände hat man wohl eher die Reichsparteitage zwischen 1933 und 1938 vor dem inneren Auge als das Bild eines wichtigen und beliebten städtischen Naherholungsgebietes; und doch war das Areal um den Dutzendteich in den Jahren 1876 bis 1933 ein beliebtes innerstädtisches Ausflugsziel – und ist es auch wieder seit 1945. Mehr Menschen dürften im Laufe der Jahre im Frankenstadion dem 1. FC Nürnberg zugejubelt haben als einige Meter weiter Hitler; wohl mindestens genauso oft wurde der ›Club‹ bestimmt auch heftig ausgebuht, eine Erfahrung, die Hitler an gleicher Stelle erspart blieb. Durch den Einsatz von Soundcollage wurde in einer Art ›akustischen Tiefenbohrung‹ versucht, sich diesem breiten Spektrum akustisch zu nähern, um eine Sensibilität für die ›Echos der Vergangenheit‹ zu schaffen. Hintergrund Im Gegensatz zu Text und Bild, die zeigen, erzählen und durch ihre Vielschichtigkeit der Rezeption immer auch schon eine (überindividuelle) Interpretation mitliefern, besteht bei dem eher auf den (individuellen) Höreindruck setzenden Ton die Möglichkeit, assoziativ, offen und relativ ungeprägt auf den Gegenstand zu reagieren bzw. diesen –
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jenseits von bestehenden und bekannten Deutungsmustern – wahrzunehmen. Der potentielle Hörer kann so spielerisch an die diversen Facetten des ›SchattenOrtes‹ herangeführt werden und bekommt die Ambivalenz des Geländes durch die Collagetechnik vorgeführt, so dass diese für die Hörer erfahrbar und möglichst unmittelbar nachvollziehbar werden kann. Durch die aktiv erfolgende (Re-)Konstruktion der Soundcollage kann der Hörer vom bloßen passiven Konsumenten zum aktiven Produzenten von Realität werden – die (vielleicht unterschiedlichen individuellen) Höreindrücke könnten dann wiederum einander gegenübergestellt, miteinander verglichen und diskutiert werden. Vorlagen & Motive Nach einer gründlichen Recherche über die Nutzer / die Nutzung des Geländes wurden akustische Metaphern gesucht bzw. auf Originalmaterial zurückgegriffen, das eine akustische Reise in die ambivalenten Texturen des Ortes ermöglichen sollte. Ziel war es, eine Sound-Collage zu erstellen, die ausschließlich Klänge und Geräusche verwendet, sowohl aktuelle als auch historische, die entweder vom Reichsparteitagsgelände selbst stammen oder doch zumindest von diesem stammen könnten; die Wiedergabe der verwendeten Sound-Schnipsel in chronologisch vermeintlich korrekter Reihenfolge wurde bewusst unterlassen, um damit den Effekt von aufeinander prallender Gegensätze zur Steigerung des Höreindrucks zu nutzen: Auf das martialische Geräusch marschierender Stiefel folgen etwa ein Skater und ein Fahrradfahrer; die Rede eines selbstgefälligen Gauleiters wurde verschnitten mit der marktschreierischen Ansage eines Geisterbahnbetreibers; nach hämischem Lachen klingendes Entengeschnatter folgt auf eine Rede Hitlers etc. – zudem finden sich immer wieder akustisch unspektakuläre Alltagsgeräusche und ›Oasen der Stille‹ in die Collage eingebaut, wie z.B. spielende Kinder, Vogelgezwitscher, Straßengeräusche – eben das ganz normale alltägliche Hintergrundrauschen des Ortes, wie er sich dem heutigen Besucher präsentiert. (weiterführende) Fragen • Was haben Sie gehört? • Können Sie das Gehörte zuordnen? • Wie beurteilen Sie die Zusammenstellung? • Welche Assoziationen setzt das Gehörte bei Ihnen frei? • Was vermissen Sie?
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Die Strategie, per akustischem Zugang zur Vergangenheit eine Vergegenwärtigung von Geschichtsinhalten zu betreiben und diese zu lokalisieren, bekommt zunehmend Konjunktur; hier sei auf das Projekt ›Memory.Loops– 300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München 1933-1945‹ besonders hingewiesen.29 Die Materialien 8-10 bestehen aus Texten, die entweder einzelne Artikel dieser Publikation ergänzen und/oder illustrieren oder für die Rekonstruktion des Gesamtvorhabens und der Kernveranstaltung am Projektwochenende nötig sind bzw. diese in einen größeren Kontext stellen. Die Moderationstexte zu diesen Teilen fallen dementsprechend kürzer aus – bzw. sind nur dort durch weiterführende Fragen ergänzt, wenn sich es im Hinblick auf die in den Texten thematisierten Inhalte als lohnenswert erschien. #8 – Text Du bist so jung und sollst schon sterben... – Aufführungsbeschreibung Dieser Text ergänzt den gleichnamigen Aufsatz von Studt/Sparberg/ Haas in dieser Publikation – in ihm sind Notizen, die im Zuge einer (unveröffentlichten) Magisterarbeit zur Arbeit des Jugendclubs am Staatstheater Nürnberg entstanden sind, verarbeitet. Er widmet sich – vor allem aus der Sicht der Nürnberger Jugendlichen – einer Rekonstruktion des Szenarios und bietet durch Abbildungen die Möglichkeit, sich einzelne Spielaktionen am Aufführungsort zu erschließen. (weiterführende) Fragen • Bekommt man einen Eindruck von der Aufführung? • Welche Gestaltungsmittel sind auffällig? • Wie gestaltet sich das Verhältnis von jugendlichem Darsteller und Zeitzeugen? • Welche Haltung nimmt die Inszenierung gegenüber der Geschichte ein? z.B. Thematisierung einer historischen ›Verantwortung‹ etc.
29 Siehe: http://www.memoryloops.net, zuletzt gesichtet am 17.07.2012.
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#9 – Texte 9a) Informationsmappe zum Projektwochenende Die Informationsmappe wurde den Fachbesuchern des Projektwochenendes zur thematischen Orientierung überreicht; man findet in ihr eine Skizze des Gesamtprojekts und die wichtigsten Fragestellungen und Strategien, sich jenen zu widmen. Zudem sind Artikel aus der Vorberichterstattung erfasst. An dieser Stelle stellt sie den Ausgang für die Bewertung dar, die im folgenden Pressespiegel zusammengefasst ist. (weiterführende) Fragen • Was will das Projekt? • Werden die zugrunde liegenden Motivationen transparent? • Wer sieht sich adressiert? • Wie beurteilen Sie das Projekt und seine Gesamtdarstellung? 9b) Pressespiegel zum Projektwochenende Dieser Pressespiegel ist rein auf die sichtbar gewordenen Aktivitäten des ›SchattenOrt‹-Projektwochenendes bezogen (die Kunsthalle Nürnberg, deren Ausstellung Das Gelände an diesem Wochenende eröffnet wurde – und einen integralen Bestandteil des Projekts darstellte, verfasste hierzu einen eigenen Pressespiegel, der hier nicht berücksichtigt ist). (weiterführende) Fragen • War das Wochenende gelungen? • Welche Inhalte wurden besprochen? • Gibt es Kritik? Woran macht diese sich fest? • Kann man die Kritik ihrerseits kritisieren? • War dieses Wochenende/das Projekt nötig? 9c) Materialien der Stadt Nürnberg zum Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände Die Stadt Nürnberg macht ihren Umgang mit den architektonischen Hinterlassenschaften des NS-Regimes transparent; im Internet lassen sich viele Dokumente abrufen, die einen Einblick in den politischen Willensbildungsprozess, die Diskussionen in den politischen Lagern und die letztlich getroffenen Entscheidungen zulassen. Der Vollständigkeit halber sind diese Materialien an dieser Stelle berücksichtigt,
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markieren sie doch auch das (politische) Feld, in dem sich das Projekt ›SchattenOrt‹ – samt seiner vielfältigen Programmpartner – befand (und zurechtfinden musste).30 (weiterführende) Literatur Dietzfelbinger, Eckart/Liedtke, Gerhard: Nürnberg - Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände - Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004. Geschichte Für Alle e.V. (Hg.): Geländebegehung – Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Nürnberg 2005. Porombka, Stephan/Schmundt, Hilmar (Hg.): Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute, Berlin 2006 Reither, Ingmar: »Worte aus Stein« und die Sprache der Dichter. Das Reichsparteitagsgelände als poetische Landschaft, Nürnberg 2000. Dt. Werkbund (Hg.): Werk und Zeit, Nr. 3/1988, S. 3-35 (kurze Darstellung des ersten Symposions zum Umgang mit dem Gelände aus dem Jahr 1988). (weiterführende) Fragen • Inwieweit lassen sich unterschiedliche Positionen in den Eingaben und Beschlussfassungen erkennen? • Welche Begriffe fallen am häufigsten und wozu dienen diese? • Lassen sich Alternativen ausmachen bzw. recherchieren (z.B. hinsichtlich der Nutzung des Areals)? • Welche Form findet man für die angesprochenen Fragen, um sicherzustellen, dass die Beschäftigung mit dem Thema nachhaltig angelegt bleibt? #10 – Text Schematische Darstellung des Gesamtprojekts/Kooperationspartner & Dank Selbsterklärender Titel: Hier findet man eine Übersicht zur generellen Orientierung.
30 Quelle: http://www.kubiss.de/kulturreferat/reichsparteitagsgelaende/hinter gruende.htm, zuletzt gesichtet am 17.07.2012.
Inhaltsverzeichnis der beiliegenden DVD #1 – Video 1a 1b
Steine sammeln Filmprotokoll Zur Terminologie der Filmprotokolle (generell – auch für 2a/3a)
#2 – Video 2a
Stadt und Verantwortung Filmprotokoll
#3 – Video 3a
(Auch)Du bist Deutschland Filmprotokoll
#4 – Video
Sakrale Ruine
#5a – Video #5b – Video
Dokumentation des Projektwochenendes Interviews zum Thema Theater/ Erinnerung/Jugendclubprojekt
#6a – Video #6b – Bild
Impressionen der Kongresshalle Diashow von Bildern des Geländes
#7 – Audio
75 Jahre Reichsparteitagsgelände – eine akustische Reise
#8 – Text
Du bist so jung und sollst schon sterben... – Aufführungsbeschreibung
#9 - Text 9a 9b 9c
#10 - Text
Informationsmappe zum Projektwochenende Pressespiegel zum Projektwochenende Materialien der Stadt Nürnberg zum Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände Schematische Darstellung des Gesamtprojekts Kooperationspartner & Dank
Kooperationspartner & Dank Schauspiel am Staatstheater Nürnberg: Klaus Kusenberg, Frank Behnke, Kathrin Mädler, Maren Zimmermann, Olaf Roth, Anja Sparberg – und Team. Commerzbank Nürnberg: Frank Haberzettel, Corinna Schimmel. Stadt Nürnberg (Kulturreferat): Julia Lehner, Matthias Strobel. Stadt Nürnberg (Amt für internationale Beziehungen): Silvie Preusser. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände: Hans-Christian Täubrich, Eckart Dietzfelbinger, Astrid Betz – und Team. Kunst- und Kulturpädagogisches Zentrum der Museen in Nürnberg: Thomas Brehm, Ingmar Reither. Kunsthalle Nürnberg: Ellen Seifermann, Angela Lorey – und Team. Bildungszentrum der Stadt Nürnberg: Dagmar Hauenschild, Anja Weigmann. Geschichte für Alle e.V./Institut für Regionalgeschichte: Katrin Bielefeld. Nürnberger Symphoniker: Lucius A. Hemmer. --Projektidee und Koordination: Marion Siems. Institut für Theater- und Medienwissenschaft: Henri Schoenmakers, Kay Kirchmann – und besonders Ingrid Rauh. Studentische Hilfskräfte (Projektwochenende): Diana Neidhardt, Alexandra Martin, Benedikt Orlowski (Homepage). Studentische Hilfskräfte (Publikation): Matthias Weigel (Medien), Katharina Vater (Text). Medienstudio und Video-Dokumentation: Alexander Kreische, Benedikt Orlowski, Benjamin Braun, Philip Lejeune, Lysann Windisch, Michael Schmitt, Andreas Irnstorfer, Johannes Müller, David Müller, Matthias Weigel (Endredaktion). Erstellung der DVD: Roman DeGiuli. Studentische Mitwirkung (Projektwoche): Martin Herold, Daniel Schrödel, Christoph Baumann, Rebekka Knoll, Marie Mühlan, Simona Diakon, Sandra Krauß, André Krüger, Diana Meisel, Katharina Breuser, Mario Matthias, Julia Opitz, Claudia Nitzsche, Antje Pankow, Ramona Weinholdt, Daniel Falkner, Sabine Wiesthal. Filmproduktion: Imbissfilm (Nürnberg/München).
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Lehrbeauftragte/Dozenten/Projektwoche: Herbert Heinzelmann, Nicole Wiedenmann, Daniel Schönauer, Martin Rehbock, Thomas Zahn. Eröffnungsvortrag: Claudia Roth. Symposionsteilnehmer: Christoph Asendorf, Micha Brumlik, Hermann Glaser, Peter W. Marx, Falk Pingel. --Wir danken der Dr. German Schweiger-Stiftung der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg für die gewährten Zuschüsse zum Symposion und zur Publikation. Wir danken der Josef E. Drexel-Stiftung (Nürnberg) für einen Zuschuss zur Ermöglichung der Publikation. Ohne den Anerkennungspreis des Wissenschaftsjahres 2007 zum Jahr der Geisteswissenschaften hätte das Gesamtprojekt nicht initiiert werden können – unser Dank gilt daher auch dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, sowie der Jury im Haus der Wissenschaft. Wir danken Katharina Vater ganz besonders für ihre unverzichtbare Hilfe bei der Endredaktion und der Erstellung der Druckvorlage; dem transcript-Verlag danken wir für die vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Publikation des Gesamtvorhabens. ...und natürlich allen, die wir versehentlich vergessen haben.
Autorinnen und Autoren
Asendorf, Christoph, seit 1996 Professur für Kunst- und Kunsttheorie an der Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder; gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Kunst in der modernen Zivilisation, Geschichte der Raumwahrnehmung, Ikonographie der Industrialisierung. Dietzfelbinger, Eckart, zunächst Mitarbeiter am Pädagogischen Institut der Stadt Nürnberg. Beteiligung an der organisatorischen und wissenschaftlichen Betreuung der Ausstellung Faszination und Gewalt — Nürnberg und der Nationalsozialismus, nunmehr wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Glaser, Hermann, 1964 bis 1990 Schul- und Kulturdezernent in Nürnberg; er war Vorsitzender des Deutschen Werkbunds und lehrt an der TU Berlin am Fachgebiet Kommunikationswissenschaft (Honorarprofessur) sowie im Fachbereich »Kultur und Management« an der Dresden International University. Klepacki, Leopold, Akademischer Rat am Institut für Pädagogik/FAU Erlangen-Nürnberg; Arbeitsschwerpunkte: Ästhetische Bildung, Pädagogische Anthropologie, Kulturpädagogik, Theatrale Bildung/Schultheater, Museumspädagogik, Theateranthropologie. Marx, Peter W., seit 2012 Professor für Medienkultur und Theater an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft, Gegenwartstheater und Jüngere Theatergeschichte, Metropolitane Kultur, Interkulturelle Studien/ Shakespeare in Performance.
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Pingel, Falk, ab 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1993 bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2009 stellvertretender Direktor des Georg-Eckert-Instituts (von Oktober 2005 bis September 2006 war er geschäftsführender Direktor). Seine Forschungsinteressen richten sich vor allem auf die deutsche und europäische Zeitgeschichte, insbesondere auf die Zeit des Nationalsozialismus sowie Inhalte und Methoden des internationalen Schulbuchvergleichs. Reither, Ingmar, Historiker – Tätigkeit als Museumspädagoge am Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrum der Museen in Nürnberg (KPZ); dort zuständig für das Museum für Kommunikation, das Stadtmuseum Fembohaus und das Museum Tucherschloss (im Zeitraum 2003 bis 2011 zuständig für das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände). Schweneker, Claudia, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Theater- und Medienwissenschaft/Politische Wissenschaft/Pädagogik. Im Projekt SchattenOrt mitverantwortlich für die Planung, Koordination und wissenschaftliche Begleitung. Stolzenberger, Jana, studierte Kunsthistorikerin, 2003-2005 Volontariat am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (GNM); 20052009 wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2009 assoziierte Wissenschaftlerin am GNM; seit 2005 an diversen Nürnberger Museen als Kunstvermittlerin tätig; Kuratorin der Ausstellung »Geartete Kunst - Die Nürnberger Akademie im Nationalsozialismus«; Veröffentlichungen zur Kunst- und Kulturgeschichte. Studt, André, lehrt und forscht als Dozent für angewandte Theaterund Medienwissenschaft/wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft FAU Erlangen-Nürnberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Dramaturgie kreativer Prozesse, Regie (-Theater), ästhetische Kommunikation; Mitwirkung im interdisziplinären Erweiterungsstudiengang ›Darstellendes Spiel in der Schule‹.
Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Januar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion Oktober 2012, 752 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1809-9
Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven Februar 2013, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien Januar 2013, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9
Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis 2011, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1844-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Martin Bieri Neues Landschaftstheater Landschaft und Kunst in den Produktionen von »Schauplatz International« August 2012, 430 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2094-8
Adam Czirak Partizipation der Blicke Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance Februar 2012, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1956-0
Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten 2011, 186 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1
Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4
Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche 2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7
Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien Januar 2012, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2
Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe Juni 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0
Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4
Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven August 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8
Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9
Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater Mai 2012, 318 Seiten, kart., mit CD-ROM, 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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