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German Pages 499 [504] Year 2011
Scham und Schamlosigkeit
Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 21
De Gruyter
Scham und Schamlosigkeit Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne Herausgegeben von Katja Gvozdeva · Hans Rudolf Velten
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022555-6 e-ISBN 978-3-11-022556-3 ISSN 1612-443X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Werner Röcke zum 65. Geburtstag
Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer interdisziplinären Tagung, die unter dem Titel Scham und Schamlosigkeit – Grenzverletzungen im Spannungsfeld von Dissimulation und Ostentation vom 4. bis 6. Juni 2009 im ICI Kulturlabor in Berlin zu Ehren des 65. Geburtstages von Werner Röcke stattfand. Konzeption, Planung und Organisation der Tagung gingen auf Mitarbeiter und Schüler Werner Röckes zurück: Ruth von Bernuth, Albrecht Dröse, Katja Gvozdeva, Hans Rudolf Velten und Julia Weitbrecht. In allen Stadien der Durchführung hat Hartmut Böhme tatkräftig mitgewirkt und damit zur Entstehung dieses Buches wesentlich beigetragen. Thema und Konzeption der Tagung waren durch das wissenschaftliche Profil und die Arbeiten Werner Röckes inhaltlich und methodisch inspiriert. Er ist einer der ersten Philologen in der Nachkriegszeit, der „heikle“ und von der Forschung bisher wenig beachtete kulturgeschichtliche Themenkomplexe in der Literaturwissenschaft aufgegriffen und der vorurteilsfreien, sachlich-nüchternen wissenschaftlichen Untersuchung zugeführt hat. Wahl und Analyse des Begriffspaars Scham und Schamlosigkeit sind seinem methodischen Ansatz verpflichtet, die Regeln einer kulturellen Ordnung an ihren Gegenbildern abzulesen und dynamische Wechselbeziehungen zwischen anscheinend inkompatiblen und einander gegenseitig ausschließenden Bereichen herauszuarbeiten. Wir schlossen an seine Studien an, die in der Verschränkung von historisch-anthropologischen, mentalitätsgeschichtlichen, psychoanalytischen und mediengeschichtlichen Ansätzen zu zeigen versuchen, wie Gegensätze – Gewalt und Gewaltvermeidung, Exklusion und Inklusion, Erinnertes und Verdrängtes, Fremdes und Eigenes, Sakrales und Profanes – in gesellschaftlicher bzw. literarischer Kommunikation in ihrer Paradoxie oder Dialektik aufeinander beziehbar sind. In seinen Untersuchungen zur Leistung der Literatur innerhalb der Ausbildung einer differenzierten Affektkultur hat Werner Röcke wiederholt vorgeführt, wie ein literarischer Text die Logik der asymmetrischen Gegenbegriffe von Hass und Liebe, Begehren und Angst aufheben und damit dynamische Modelle liefern kann, die sich bei der Betrachtung von Scham in ihrem Zusammenhang mit der Schamlo-
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Vorwort
sigkeit als produktiv erweisen können. Aus diesem Kontext, welcher für die Tagungskonzeption in besonderem Maße fruchtbar war, ließen sich die leitenden Überlegungen zur Grenze und ihrer Verletzung entwickeln. Denn mit diesem Denkmodell können die spezifischen Relationen von Scham und Schamlosigkeit systematisch aufeinander bezogen werden. Die Beiträge des vorliegenden Tagungsbandes stammen aus den historischen Geistes- und Kulturwissenschaften mit Schwerpunkten in der deutschen Philologie, der Geschichtswissenschaft, der romanischen Philologie, der Kunstgeschichte und der Kulturwissenschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Zwei die Epoche und den europäischen Kulturraum begrenzende Beiträge aus der Soziologie und der Ethnologie fügen dem historischen Themenkern eine rahmende und perspektivierende Sichtweise hinzu. Wir bedanken uns herzlich bei all denjenigen, die zur Entstehung dieses Bandes beigetragen haben: in erster Linie bei den Beiträgerinnen und Beiträgern, die die Ausgangsthesen der Tagung kritisch hinterfragt, im intensiven interdisziplinären Gespräch wesentlich präzisiert und die daraus gewonnene Ergebnisse in ihren jeweiligen schriftlichen Fassungen weiter vertieft und reflektiert haben. Wir bedanken uns ferner für die großzügige Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Gestalt der beiden Sonderforschungsbereiche 447 und 644, und der Fritz-ThyssenStiftung sowie dem ICI Kulturlabor Berlin und seinem Leiter Christoph Holzhey bei der Durchführung der Tagung. Schließlich danken wir den studentischen Hilfskräften des Lehrstuhls Röcke: Axel Frank, Annika Goldenbaum, Björn Menrath, Falk Quenstedt, Eva Rothenberger, Carola Schiefke und Cornelia Selent für ihre wertvolle Hilfe bei der Einrichtung der Beitragsmanuskripte. Berlin, im März 2011
Katja Gvozdeva und Hans Rudolf Velten
Inhalt Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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INCIPIT Hartmut Böhme Urszenen der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Alois Hahn Scham, Geheimnis und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
STUDIEN Gerd Althoff Kulturen der Ehre – Kulturen der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jan-Dirk Müller Scham und Ehre. Zu einem asymmetrischen Verhältnis in der höfischen Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Hans Rudolf Velten Schamlose Bilder – schamloses Sprechen. Zur Poetik der Ostentation in Heinrichs Reinhart Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Gerhard Wolf Diskursivierung der Scham im Erec Hartmanns von Aue und im mittelniederländischen Walewein von Penninc und Pieter Vostaert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Albrecht Dröse Scham und Zweifel. Die Konstitution von Heimlichkeit und die Dissimulation des Begehrens in Gottfrieds Tristan . . . . . . . 159
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Inhalt
Klaus Ridder Schlüsselszenarien: Scham und Schamlosigkeit im Prosa-Lancelot . . . 194 Horst Bredekamp Von der Schamlosigkeit zur großen Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Peter von Moos Beschämendes und schamloses Schweigen im Mittelalter. Facetten einer Provokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Ruth von Bernuth Die spihlende Hand GOttes. Schamlosigkeit und Christusnarrheit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Alexiuslegenden, Jacob Schmids Weiße Thorheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Julia Weitbrecht Entblößung, Scham und Heiligung in den Märtyrerinnenlegenden des Mittelalters und in Hugos von Langenstein Martina . . 330 Niklaus Largier Das Phantasma der Nacktheit: Sexualität, Häresie und Beichte. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Katja Gvozdeva Spielprozess und Prozess der Zivilisation. Emotionales Rätsel in Italien und Frankreich zwischen 1479 und 1638 . . . . . . . . . . . . . 363 Helmut Pfeiffer Reue und Scham. Selbstbeobachtung und ethische Emotion bei Montaigne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Hartmut Böhme Nacktheit und Scham in der Anatomie der Frühen Neuzeit . . . . . . . 434
EXPLICIT Klaus-Peter Köpping Ostentative Schamlosigkeit in japanischen rituellen und ästhetischen Performances im Kulturvergleich . . . . . . . . . . . . . . 473
K ATJA GVOZDEVA /H ANS RUDOLF VELTEN
Einleitung
I. Fragestellung des Bandes Platon lässt in seinem Protagoras der Scham eine konstitutive Rolle für die Polis zukommen: nach dem Willen von Zeus sollen im Gespräch mit Hermes nicht nur wenige, sondern alle Bürger die „schöne Scham“1 erhalten. Die Scham-Losen aber sollen als Krankheit des Staates ausgerottet werden: „Ja, gib’ sogar das Gesetz in meinem Namen, dass man den der Scham und Gerechtigkeit Unfähigen als einen Krebsschaden des Staates vertilge!“2 Für Adam und Eva ist dagegen nicht die Scham, sondern der schamfreie Zustand der Weltlosigkeit Bedingung für ihre Gemeinschaft mit Gott. Für sie ist die Scham keine Tugend wie in Athen, sondern im Gegenteil das Bewusstsein des eigenen Unwerts, Signatur der „Krankheit“, die zur Vertreibung des Menschen aus dem Paradies führt. Die höfische Kultur des Mittelalters kennt beides noch gut: die Scham als höchste Tugend, als der sêle crône3 und Voraussetzung für eine friedliche Gemeinschaft, und die Scham als schmerzhaftes Bewusstsein eigenen Ungenügens. Beide Auffassungen bezeichnen zwei Seiten der gleichen Münze: die Tugend wird von außen gesehen, die Defizienz vom Subjekt empfunden. Relational dazu erscheint die Schamlosigkeit ebenso zwiespältig: einerseits als gewissenloses Laster, das die Gemeinschaft schädigt,4 andererseits als Form der Enthobenheit von Scham, die die Scham nicht
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Daran orientiert sich auch Schelers Schamtheorie im Kern: „Scham ist ein schönes Verbergen des Schönen“. Scheler, Max: „Über Scham und Schamgefühl“ (1913). In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10. Bern 1957, S. 67–154. Platon, Protagoras, 323a. So in der Lehre des Gurnemanz für Parzival, Pz 319,10. Wie etwa in dem Ausdruck „schamloser Betrüger“, welcher Schamlosigkeit als moralische Defi zienz auffasst (irreverentia), oder in „schamlose Dirne“, welches sich mehr auf die Körperscham (impudentia) bezieht. Vgl. dazu Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14: R-Schiefe, Berlin 1893, ND Berlin 1991, Sp. 2119–20.
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kennt.5 Auch hier wird im ersten Fall von außen bewertet, im zweiten von innen empfunden. Somit erscheint die Schamlosigkeit zwar als Gegensatz, aber auch wie ein Schatten der Scham, ihre ständige Begleiterin beziehungsweise ihre verdeckte Seite. Sie teilt mit der Scham deren Doppeldeutigkeit (und Paradoxie) und kann, da beide nur in normativen Koordinaten identifizierbar sind, nur mit ihr und aus ihr existieren. In den Kultur-, und Sozialwissenschaften6 hat die Scham in ihren verschiedenen Ausprägungen schon seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert großes Interesse hervorgerufen. Vor allem psychologische,7 soziologische8 und philosophische9 Studien schufen hier eine Grundlage für die weitere Forschung. Dagegen war die Scham in den historischen Wissenschaften und Philologien weniger präsent. Erst seit den Arbeiten von Lucien Febvre10 und Norbert Elias wurde die Scham als Kategorie der historischen Anthropologie in der Nachkriegszeit stärker beachtet – wozu sicherlich auch ihre vieldiskutierte Rolle in Elias’ Prozess der Zivilisation beigetragen hat.11 Die seit den 80er Jahren wachsende interdisziplinäre Emotionsforschung verband die bisherigen Ansätze mit neuro- und kognitionswissen-
5 Jean-Claude Bologne unterscheidet diese beiden Formen der Schamlosigkeit mit impudeur und apudeur in seinem Buch Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls, Weimar 2001. 6 Zuvor bereits bei Schleiermacher, Friedrich: „Versuch über die Schamhaftigkeit“. In: Schleiermachers vertraute Briefe über die Lucinde, Hamburg 1835, S. 46–68 und Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier, Düsseldorf 1964 (zuerst 1872). 7 Vgl. vor allem Wurmser, Léon: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin / Heidelberg / New York 1993; neuere Arbeiten in Auswahl: Gilbert, Paul u. Bernice Andrews: Shame. Interpersonal behavior, psychopathology, and culture, New York 1998; Gilbert, Paul u. Jeremy Miles: Body shame. Conceptualisation, research, and treatment, Hove 2002; Heller, Agnes: „Five Approaches to the Phenomenon of Shame“. In: Social Research 70 (2003), S. 1018–29. 8 Simmel, Georg: „Zur Psychologie der Scham“. In: Ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Hg. u. eingel. von Hans-Joachim Dahme u. O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 145–150; Gilligan, James: „Shame, Guilt, and Violence.“ In: Social Research, 70 (2003), S. 1149–1180; Gleichmann, Peter u. a. (Hrsg.): Macht und Zivilisation. Frankfurt a. M. 1984. 9 Neben Scheler hier v. a. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg 1952 (Orig.: L’ être et le néant, 1943); Heller, Agnes: The power of shame. A rational perspective. London 1985; Nussbaum, Martha: Hiding from humanity: disgust, shame and the law. Princeton 2004; Landweer, Hilke: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchung zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen 1999. 10 Lucien Febvre forderte schon 1941 die historische Aufarbeitung der zentralen menschlichen Gefühle, darunter die Scham. Vgl. Febvre, Lucien: „Sensibilität und Geschichte“. In: Ders.: Das Gewissen des Historikers. Hg. von Ulrich Raulff, Berlin 1988, S. 91–107. 11 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2. erweiterte Auflage. 2 Bände. Frankfurt a. M. 1969. Kritisch dazu Duerr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Bd. 1. Frankfurt am Main 1988.
Einleitung
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schaftlichen Fragestellungen, was zu einer stärkeren Beschäftigung mit den sogenannten „negativen Emotionen“ führte.12 Scham wurde dabei je nach Untersuchungsperspektive als eine selbstreflexive „soziale Emotion“, als „leibliches Erleben“ oder „körperbezogenes Empfinden“ (Körperscham) gesehen, die nun auch in historischen Kontexten der Lebenswelt und – sichtbar an seinen zeichenhaften Ausdrucksformen wie Erröten und Senken des Blicks – in medialen Ausdrucksformen der Literatur, des Theaters und der Kunst größere Aufmerksamkeit erhielt.13 Hingegen ist die Schamlosigkeit sehr viel seltener thematisiert worden.14 Diesem Phänomen, das kategorial und begrifflich schwer zu fassen ist, wird meist kein eigenständiger Rang zuerkannt. In der Emotionsforschung zur Scham wird die Schamlosigkeit entweder gar nicht betrachtet, weil sie nicht als Affekt oder Gefühl identifizierbar ist,15 oder lediglich als Negativfolie der Scham erörtert, dann aber nicht weiter theoretisiert.16 Zwar wird sie im wissenschaftlichen Diskurs der Obszönität, der Erotik und der Pornographie verhandelt,17 ist damit jedoch ihrer paradiesischen
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Kolnai, Aurel. Ekel – Hochmut – Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt a. M. 2007. Vgl. etwa; Seidler, Günter H.: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. Stuttgart 2001; Benthien, Claudia, Anne Fleig u. Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln 2000; Bastian, Till: Der Blick, die Scham, das Gefühl. Eine Anthropologie des Verkannten. Göttingen 1998; Gerhards, Jürgen: Soziologie der Emotionen. Weinheim, München 1998; Speziell zur mittelhochdeutschen Literatur vgl. Yeandle, David H.: „Schame“ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210: eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung, Heidelberg 2001. In Duerrs Kritik am Zivilisationsprozess erscheint auch die Schamlosigkeit, doch wird sie nicht weiter ausgeführt. Vgl. Duerr, Nacktheit und Scham, a.a.O.; vgl. auch Gabbert, Klaus: „Prometheische Schamlosigkeit.“ In: Ästhetik und Kommunikation 69 (1987), S. 85–91; Diebitz, Stefan: „Schamlosigkeit und Gewalt. Bemerkungen zu ihrem inneren Verhältnis“. In: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 394–411. Vgl. Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. – 16. Jahrhunderts. Berlin 2006. Schamenthobenheit und Schamlosigkeit verlieren im emotionstheoretischen Rahmen ihre unterschiedlichen Konnotationen, fallen zusammen und werden als synonymische Bezeichnungen für zielgerichtete Provokation verwendet.. Vgl. Baisch, Martin: „man bôt ein badelachen dar: des nam er vil kleine war. (167, 21f.) Über Scham und Wahrnehmung in Wolframs ‚Parzival‘.“ In: Wahrnehmung im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hg. v. John Greenfield, Porto 2004, S. 105–132, hier S. 122. Vgl. Vinken, Barbara (Hg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. München. 1997; mit speziellem Bezug auf die mittelalterliche Kultur: Ziolkowski, Jan M.: Obscenity. Social control and artistic creation in the European Middle Ages. Leiden 1998; McDonald, Nicola: Medieval obscenities. York 2006. Vgl. auch Beutin, Wolfgang: Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance. Würzburg 1990.
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Kehrseite der Schamenthobenheit beraubt und wird so nicht in der ganzen Vielfalt ihrer Bezüge zur Scham, oft sogar nicht in unmittelbarer Nähe zur Scham gesehen. Der vorliegende Band stellt sich die Aufgabe, Scham und Schamlosigkeit in einer konkreten historischen Epoche, die von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit reicht, zusammen zu denken. Er setzt sich zum Ziel, der Scham ihren in der Forschung verlorenen Kontrapunkt zurückgeben, um Einblicke in jenes intrikate wie dialektische Verhältnis zwischen beiden, als auch Seitenblicke auf die Scham selbst zu ermöglichen, die zuvor verborgen blieben. Es geht daher nicht darum, einen weiteren Beitrag zur historischen Emotionsforschung zu leisten: zwar besitzt die Scham als subjektive Emotion unbestrittene Gültigkeit, hier jedoch soll sie nicht unter diesem Aspekt behandelt werden. Ebenso wenig geht es um die Scham als Ausdrucksform einer mentalitätsgeschichtlich bestimmbaren „historischen Subjektivität“. Dagegen werden in diesem Band Scham und Schamlosigkeit als jeweils kulturell geprägte Kommunikationsmodi und -medien betrachtet. Sie interessieren vor allem in Hinsicht auf ihren Gebrauch in unterschiedlichen face-to-face-Interaktionen sowie auf ihre Inszenierungsweisen in der Literatur und Kunst der Vormoderne.
II. Dialektik von Scham und Schamlosigkeit: Grenzsetzung und Grenzüberschreitung Ohne die anderen kann man sich weder schämen, noch kann man als schamlos erscheinen.18 Was Scham und Schamlosigkeit als Gegensätze zunächst miteinander verbindet, ist die menschliche Interaktion, in der beide nicht von vorneherein präsent sind, sondern erst im Kommunikationsprozess entstehen und auf den Verlauf dieses Prozesses auch Einfluss nehmen. Scham ist zwar eine vom Subjekt erfahrene Emotion, wird aber vom realen bzw. imaginierten Blick der anderen hervorgerufen.19 Wenn die Scham somit als soziales Gefühl par excellence definiert werden kann, ist damit gemeint, dass im Empfinden und Wahrnehmen etwas sowohl für das Selbst, als auch für die Gesellschaft Grundsätzliches berührt, aktualisiert und verhandelt wird. Als „Emotion des Verhältnisses zu den
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Zuerst Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 474. Vgl. Schäfer, Alfred und Christiane Thompson: „Scham – eine Einführung“. In: Scham. Hg. von A. Schäfer u. C. Thompson, S. 12.
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gesellschaftlichen Vorschriften und ihrer Übertretung“20 richtet sich die Scham prospektiv oder retrospektiv auf die Norm, die man nicht verletzen bzw. nicht verletzt haben möchte, und bringt somit sowohl diese Norm als auch ihre geschehene bzw. befürchtete Verletzung, die gesellschaftlich als Schamlosigkeit beurteilt wird, den an der Kommunikationssituation Beteiligten zu Bewusstsein.21 In der psychologischen Fachliteratur wird Scham als „das quälende, peinigende Gefühl, das entsteht, wenn eine wichtige innere oder äußere Grenze verletzt wurde“, definiert.22 „Scham umfasst unser ganzes Selbst“23 und macht zugleich einen Riss in diesem Selbst spürbar, der in theologischen Begriffen als „Riss in der Seele“ definiert wird.24 Die soziologischen, psychologischen und theologischen Auffassungen der Scham lassen sich so in der Vorstellung des Hervortretens einer Grenze und dem Wunsch nach der Wiederherstellung eines Ganzen vereinen. Die Grenze wird in sozialen Koordinaten als Differenz aktualisiert, indem sie in den Körper als an seiner Grenze auftretende Schamröte eingeschrieben wird; in der Psyche erscheint sie als plötzliche Hemmung des Rede- und Handlungsimpulses25 und tritt theologisch als Getrenntsein von Gott ins christliche Bewusstsein. Im Wunsch, sich dem Blick der anderen zu entziehen, ganz „zu verschwinden, sogar zu sterben“26 ist die Tendenz nach der Überwindung dieser Grenze fassbar. Im religiösen Bewusstsein tritt dieser Wunsch, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten, um die Scham hinter sich zu lassen, als das Verlangen danach auf, die „entzweite“ Seele zu heilen. So bringt es der Theologe Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik auf den Punkt: Scham ist die nicht zu beseitigende Erinnerung [des Menschen] an seine Entzweiung mit dem Ursprung, sie ist Schmerz über diese Entzweihung und das ohnmächtige Verlangen, sie rückgängig zu machend. Der Mensch schämt sich, weil ihm etwas verloren gegangen ist, das zu seinem ursprünglichen Wesen, zu seiner Ganzheit gehört.27
20 Heller: The power of shame, S. 111; Eming: Emotion und Expression, S. 203. Vgl. auch Demmerling, Christoph: „Philosophie der Scham“. In: Schäfer u. Thompson (Hg.): Scham, S. 75–101, hier S. 101. 21 Demmerling: „Philosophie der Scham“, ebd. 22 Vgl. Chu, Victor u. Brigitta de las Heras: Scham und Leidenschaft. Zürich 1994, S. 18. 23 Lewis, Michael: Scham. Annäherung an ein Tabu. Hamburg 1993, S. 12. 24 Darüber sind sich die psychologischen und die theologischen Betrachtungen der Scham einig. Vgl. Härle, Wilfrid: Dogmatik. 3., überarb. Aufl., Berlin 2007, S. 486. 25 Ruhnau, Jürgen: „Scham / Scheu“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1992, Bd. 8, S. 1208–1215, hier S. 1208. 26 Lewis: Scham, S. 12. 27 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik. Zusammengestellt von Eberhard Bethge, 6. Aufl. München 1963, S. 22.
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Das Schamgefühl erscheint in allen Koordinaten des Menschlichen paradox, indem es das schmerzliche Anerkennen der hervortretenden Grenze und das brennende Verlangen nach ihrem Verschwinden verbindet. Wo die Schamgrenzen verlaufen und was ihre Überschreitung ausmacht, ist nur relational zu fassen, denn sie werden kulturell gesetzt und verschieben sich sowohl nach Kommunikationssituation als auch nach gesellschaftlichem Stand oder Epoche. Unbestritten ist ihr Vorhandensein innerhalb jeder Kultur und Gesellschaft, die strukturell auf Differenzen aufgebaut ist.28 Die Kulturen der Scham müssen aber insofern weiter reflektiert werden, als dass Schamgrenzen in jedem einzelnen Kontext und Moment nicht per se existieren, sondern immer wieder neu verhandelt werden müssen. Scham ist als Medium der Grenzsetzung nicht nur effizient, indem sie als die Integrität einer Gesellschaft wiederherstellendes29 Verhaltensregulativ fungiert, sondern sie ist auch durch inhärente Gegenimpulse gekennzeichnet. In diesem Verständnis von Scham kann sie auf einer gemeinsamen systematischen Ebene mit Schamlosigkeit untersucht werden: derjenigen der Dialektik der Grenze und ihrer Transgression.30 Mit spezifischem Blick auf die im vorliegenden Band zu betrachtende historische Periode, die weit stärker als die Gegenwart durch das religiöse Bewusstsein bestimmt ist, lässt sich die kulturelle Dynamik der Grenzsetzung und ihrer Überschreitung am eindrücklichsten am biblischen Narrativ der Genesis erkennen, das die ‚Urszene‘ der Scham entwirft (Beitrag von H. Böhme) und als ‚Schlüsselszenario‘ (Beitrag von K. Ridder) die vormoderne Kultur, Kunst und Literatur prägt.31 Im Paradies befinden sich Adam und Eva in einem Zustand der Ganzheit und Grenzenlosigkeit. Da es noch keine Differenz gibt, gibt es auch keinen Begriff in der menschlichen, auf Differenzen aufgebauten Sprache, um ihr Aussehen und Verhalten zu bezeichnen. Sie sind nackt, ohne von Kleidern entblößt zu sein; sie sind schamlos bzw. schamenthoben, ohne Scham zu kennen. Scham entsteht erst im Zusammenhang mit
28 Vgl. Duerr: Nacktheit und Scham, S. 18ff. 29 Scham gilt als Verhaltensregulativ insbesondere für die vormodernen, „noch auf persönlichen Bindungen beruhenden Sozialstrukturen und eine noch wenig stratifi zierte face-to-face Gesellschaft“. Vgl. Stahlmann, Ines: „Scham. Zu einem Verhaltensregulativ in der homerischen Gesellschaft“. In: Psychologie und Geschichte 8 (1998), H. 1–2, S. 85111, hier S. 85. 30 Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“. In: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften Bd 1. Frankfurt a. M. 2001, S.320–342; Hetzel, Andreas u. Wiechens, Peter (Hg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999; Neumann, Gerhard u. Warning, Rainer (Hg.): Transgressionen: Literatur als Ethnographie, Freiburg i. B. 2003. 31 Im Folgenden werden Verweise auf Beiträge des vorliegenden Bandes durch einfache Namensnennungen im Fließtext abgekürzt.
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dem göttlichen Verbot, das übertreten wird. Die schmerzliche Erkenntnis, die im Gefühl der Scham stattfindet und die Vertreibung aus dem Paradies bedingt, ist diejenige der Grenze. Sie bringt die Trennung zwischen Mann und Frau, Gut und Böse, Göttlichem und Menschlichen, Himmel und Erde, paradiesischer und irdischer Gemeinschaft ins Bewusstsein. Damit verschafft uns die mythische Erzählung erstens den Einblick in die Überdeterminierung der Schamgrenze, die als Körpergrenze, Geschlechtergrenze, gesellschaftliche Normgrenze, Grenze zwischen Leben und Tod, Menschlichem und Göttlichem in kulturellen Performances der Scham und Schamlosigkeit auf unterschiedliche Weisen aktualisiert wird. Zweitens erlaubt sie, die Paradoxien der Scham und der Schamlosigkeit aufzulösen, indem sie diese in den Prozess des Sündenfalls und der Heilsgeschichte einordnet. Im paradiesischen Dispositiv bildet die Scham den negativen Pol des Gegensatzes, indem sie die dem Göttlichen fremde Grenze anzeigt und die Ausgrenzung veranlasst; die Schamlosigkeit markiert den positiven Pol, indem sie den ursprünglichen, noch nicht verdorbenen Zustand des Menschen kennzeichnet. Dieser Gegensatz, der mit dem Sündenfall vom Himmel auf die Erde projiziert wird, erscheint dann in irdischen Koordinaten im Spiegelbild: Der rechte und der linke Pol, um es kulturanthropologisch mit Robert Hertz32 zu formulieren, werden ausgetauscht. Die Scham, die dem prälapsarischen Menschen und seiner Gemeinschaft mit Gott fremd ist und als Verstoß angesehen wird, gerät in der biblischen Anthropologie zur Signatur der irdischen Existenz des Menschen. Darin wandelt sie sich zu einer ethisch-moralischen Tugend und wird zum sozialen Verhaltensregulativ. Entsprechend gehört die Schamlosigkeit nun dem Bösen an, denn sie richtet sich gegen die sozial etablierten Normgrenzen. Aber die Erinnerung an die paradiesische Schamlosigkeit als Union zwischen Mann und Frau sowie zwischen Mensch und Gott ist nicht vollständig erloschen und die Möglichkeit, diesen Zustand zu erreichen, ist dem Menschen von Gott nicht vollständig verwehrt.33 Im Rahmen der erotischen Kommunikation ist das Übertreten der Schamgrenze notwendige Bedingung des Erreichens des ekstatischen Augenblicks der Ganzheit, der zwischen der Sterblichkeit des einzelnen Menschen und der Unsterblichkeit des Menschengeschlechts vermittelt. Aber auch im Bereich der religiösen Praktiken begegnen wir den Überschreitungen der gesellschaftlichen Schamgrenzen. Die Schamlosigkeit, ob sie sozial, erotisch 32 33
Hertz, Robert: La prééminence de la main droite. Étude sur la polarité religieuse.In: Revue philosophique 68 (1909), S. 553–580. Zur Rolle von Erinnerung und Gedächtnis bei der Scham vgl. den Beitrag von Alois Hahn in diesem Band.
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oder religiös kodiert ist die, nimmt den Menschen für eine begrenzte Zeit aus seinem alltäglichen Zustand heraus. Gegenüber der Gesellschaft mag sie zerstörerisch sein, dennoch verbirgt sich in ihr ein Transformationsund Innovationspotential, das man in den Akten der Grenzüberschreitung erkennt34 und das die Scham alleine nicht erreichen kann. Ohne Schamlosigkeit würde die Schamgrenze immer am selben Ort verharren, ohne erneuert bzw. verschoben werden zu können. Die Dialektik der Grenzsetzung und Grenzüberschreitung ist eine Abstraktion, die dazu dient, das dynamische Verhältnis zwischen Scham und Schamlosigkeit in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten zu bestimmen. Sie erlaubt aber nicht, zu sagen, wie dieses Verhältnis zustande kommt. Indem wir der Dialektik von Scham und Schamlosigkeit ein dynamisches Modell der Grenzziehung und Grenzüberschreitung zu Grunde legen, verlangt die performative Konstellation dieser Dynamik 35, nicht nach ontologischen, sondern kommunikativen Dispositionen von Scham und Schamlosigkeit zu fragen, sie demnach als Kommunikationsmedien zu untersuchen (G. Wolf). Daher rücken vor allem die performativen Strategien und Ausdrucksmodi von Scham und Schamlosigkeit ins Blickfeld.
III. Performative Strategien von Scham und Schamlosigkeit: Verhüllung und Enthüllung Sowohl die nähere Betrachtung der biblischen Urszene der Scham als auch die Beobachtung jeder konkreten alltäglichen Schamszene erlaubt es, diese Strategien zu identifizieren und offenzulegen. „Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren“, heißt es in Gen. 3,7. In dieser ersten Schamszene geht es nicht um die Phänomenologie der Nacktheit an sich, sondern um die Performanz des Enthüllens und die ostentative Gewalt, die die Scham kennzeichnet: sie schreibt die Grenze in Körper und Bewusstsein ein, indem sie den Einzelnen ‚auszieht‘, dem Blick der anderen preisgibt und seine Augen öffnet. Das ist aber nur eine
34 Vgl. Köpping, Klaus-Peter u. Ursula Rao: „Zwischenräume.“ In: Ritualität und Grenze. Hg. von Erika Fischer-Lichte u. a., Tübingen 2003, S. 235–249; Hahn, Alois: „Transgression und Innovation. In: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus. Hg. v. Werner Helmich u. a., München 2002, S. 452–465. 35 Zum performativen Prozesscharakter von Grenzen und ihren Überschreitungen vgl. Audehm, Kathrin u. Hans Rudolf Velten (Hg.): Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft. Freiburg 2007.
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Seite dieser Performanz: Wie Adam und Eva, die sich aus Feigenblättern einen Schurz machen und sich vor Gott unter Bäumen verstecken, reagieren wir auch heute auf die nicht zu kontrollierende, überwältigende Gewalt des Enthüllens mit dem Verdecken des Gesichts, auf das die Schamröte tritt, mit dem Senken des Blicks und anderen Gesten des Verhüllens und Dissimulierens. Die Widersprüchlichkeit dieser Performanz hat Bonhoeffer im zweiten Teil seiner Schamdefinition festgestellt: „[…] Scham sucht Verhüllung als Überwindung der Entzweiung. Verhüllung bedeutet aber zugleich Bestätigung der geschehenen Entzweiung und kann darum den Schaden nicht heilen“.36 Paradoxerweise könnte nur das scham-lose Enthüllen dessen, wessen man sich normalerweise schämt, den Schaden heilen. Dieser ostentativen Strategie bedient sich die Schamlosigkeit, die die Grenze abzuschaffen sucht, aber unausweichlich ihren Gegensatz ins Leben ruft: die Schamreaktion der Anwesenden, in der die Grenze gesetzt wird. Somit kann man die performativen Dispositive der Verhüllung und Enthüllung, in denen Hartmut Böhme einen „kulturellen Grundmechanismus“ sieht, nicht eindeutig zwischen Scham und Schamlosigkeit als gegenüberliegenden Polen aufteilen. Im Verhüllen-Enthüllen verwirklicht sich die in der paradoxen Dynamik der Grenzöffung und Grenzschließung aufgehobene performative Relation zwischen beiden. Mit dem performativen Modell des Verhüllens-Enthüllens wird ein Instrument an die Hand gegeben, mit dem die Erscheinungsformen von Scham und Schamlosigkeit auf unterschiedlichen Ebenen untersucht werden können. Dies zeigen die Beiträge des Bandes, die sich den kulturellen Paradoxien und komplexen Verhältnissen von Scham und Schamlosigkeit widmen, indem sie ihre körperlichen und sprachlichen Strategien des Verhüllens und Enthüllens, der Dissimulation und Ostentation in unterschiedlichen Kommunikationsfeldern untersuchen: der sozialen Interaktion, der erotischen und religiösen Kommunikation, der kulturellen Medien Ritual, Spiel, Text und Bild. Dabei werden Fragen nach den Bedeutungen gestellt, die interaktiv auf die Schamszenen projiziert werden, nach den Diskursivierungen von Scham und Schamlosigkeit, nach den performativen Prozessen, an denen sie beteiligt sind, und nach den Wirkungen, die sie erzielen. Alle diese allgemeinen Fragestellungen richten sich vorwiegend auf die vormoderne Periode, die im Zentrum unserer Beobachtungen steht und geben daher differenzierte Antworten, die das Spezifische der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schamkulturen offenlegen können.
36 Bonhoeffer: Ethik, S. 22.
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IV. Kommunikationsfelder von Scham und Schamlosigkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit Will man die kulturelle und gesellschaftliche Relevanz von Scham und Schamlosigkeit in einer spezifischen historischen Epoche, der europäischen Vormoderne, untersuchen, kommt man nicht umhin, zunächst die Thesen Ruth Benedicts,37 zumal ihre Differenzierung von Scham- und Schuldkulturen ins Blickfeld zu nehmen. Für Benedict besitzen Schuldkulturen internalisierte moralische Instanzen, die dem Individuum Möglichkeiten der Restitution eröffnen: Geständnis, Reue, Buße, Beichte. Schamkulturen haben diese Möglichkeiten nicht: sie sind ganz auf die äußere, gesellschaftliche Korrektur bzw. Strafe durch Blamage, Beschämung, Ehrverlust angewiesen. Benedict arbeitete das Modell der Schamkultur für die ostasiatischen Räume aus, während sie demgegenüber die europäische christliche Kultur als Schuldkultur begriff. Es hat Versuche gegeben, diese kulturtheoretischen Überlegungen aus ihrer Verankerung in kulturellen Räumen herauszulösen und in zeitlichen Koordinaten anzuordnen, indem man eine kulturelle Entwicklung von der Schamkultur der heidnischen Antike38 zur Schuldkultur des christlichen Mittelalters39 konstruierte (kritisch dazu Müller und Wolf in ihren Beiträgen). Die Dichotomie von Scham- und Schuldkulturen erweist sich insgesamt, sowohl für die asiatischen als auch für die europäischen Kulturräume, sowohl für eine synchrone als auch für eine diachrone Beobachtung als zu grob. Wie Peter Köpping in seinem für diesen Band aus theoretischer Sicht relevanten Beitrag argumentiert, liegt auch in der japanischen Kultur ein komplexes Verhältnis von Scham und Schuld vor. Wenn dort der Übergang von Scham zur Schuld den Wechsel von Parametern der kollektiven Zugehörigkeit zu persönlichen Parametern der Pflicht markiert, so lässt sich die öffentliche Interaktion besser mit dem Begriffspaar Scham-Schamlosigkeit als mit Scham-Schuld erfassen: Präsentiert sich die Scham als alltäglicher Modus der Gruppeninteraktion, der in seiner Funktion eines Verhaltensregulativs die Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung sichert, so signalisiert die Schamlosigkeit den Übergang zu einer außeralltäglichen Kommunikationssituation und wird zum Modus
37 Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. Boston 1946. 38 Vgl. Dodds, E.R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley u. Los Angeles 1951. 39 Vgl. Szövérffy, Josef: „‚Artuswelt‘ und ‚Gralwelt‘. Shame culture and guilt culture in ‚Parzival‘“. In: J. S.: Germanistische Abhandlungen. Mittelalter, Barock und Aufklärung. Brookline, Mass. u. Leiden 1977, S. 33–46.
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der Selbstaufführung eines Einzelnen gegenüber seiner Gruppe bzw. der ganzen Gemeinschaft.40 Das Beispiel zeigt, dass es innerhalb jeder Kultur Platz sowohl für die Schuld als auch für die Scham gibt. Anders formuliert kann jede Kultur je nach Kontext und Situation ihre Schuld- oder Schamfacetten zeigen. Zeigt sie ihre Schamfacette, so verbirgt sie auf der Kehrseite dieser Facette die Schamlosigkeit. Deswegen stellt sich für uns die Frage, ob die europäische Vormoderne eine Scham- oder eine Schuldkultur sei bzw. ob es zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit eine Umpolung stattfindet, anders: Welches sind die bestimmenden Handlungen und Reaktionen auf eine Grenzverletzung, die eine Schamkultur (auch im Gegensatz zu einer Schuldkultur) auszeichnet? Wie lässt sich dabei „ein christlich geprägtes Schuldkonzept mit dem in einer adligen Kriegergesellschaft geltenden Schamprinzip […] verknüpfen“?41 Wie gehen die kulturellen Medien mit dem Verhältnis zwischen dem sozialen Paradigma Scham, Schande und Ehre und dem religiösen Paradigma Sünde, Schuld und Buße (Ridder, Wolf) um? Die Untersuchung von solchen Konfigurationen dient, wie Peter von Moos es formuliert, der „ Sensibilisierung für solche Komplexitäten“, und der Relativierung der „ viel zu grobe[n] Dichotomie von Scham- und Schuldkulturen“.42 Was ist aber das Besondere an der Schamfacette der vormodernen Kultur in ihrer Entwicklung vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit? Warum sollte die Scham in dieser Periode anders als heutzutage bewertet werden, wenn dieses Gefühl anthropologisch bedingt ist und in allen kulturellen Kontexten nachweisbar ist?43 Wir schlagen vor, diese Frage folgendermaßen anzugehen: der Scham kommt in der Vormoderne eine spezifische kommunikative Relevanz zu, was auch die besondere Rolle der Schamlosigkeit nachvollziehbar macht. Diese kommunikative Relevanz lässt sich aus der Kombination aus bestimmten epochenunabhängigen Eigenschaften des Schamgefühls und bestimmten Eigenschaften der vormodernen Kommunikation ableiten. Denn die vormoderne Gesellschaft ist durch eine hohe Dichte der interaktionalen Kontakte und der gegenseitigen Wahrnehmung geprägt. Nach Luhmann zeichnet sie sich durch die „Anwesenheit der Beteiligten“ aus, welche eine wechselseitige Wahrnehmung in der face-to-face-Kommuni-
40 Zu Kulturtheorien von Scham und Schuld vgl. Benthien, Claudia: Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham u. Schuld und die Tragödie um 1800. Köln u. a. 2011. 41 Jan-Dirk Müller in diesem Band. 42 Peter von Moos in diesem Band. 43 Vgl. Duerr: Nacktheit und Scham, S. ?
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kation impliziert.44 Diese face-to-face- Kommunikation ist durch einen hohen Ritualisierungsgrad gekennzeichnet. Dies hat zur Folge, dass Mittelalter und Frühe Neuzeit Epochen sind, in welchen moralische Normen deutlicher als später „eingefleischt“ und in menschliche Interaktionszusammenhänge eingebunden waren. Rituelle Kommunikation ist sprachlich und körperlich verfasst: sie strukturiert Handlungen und körperliche Vollzüge nach anerkannt normierten, sichtbaren Abläufen und deutet sie symbolisch. Obschon gegen jede Art der Disziplinierung widerständig,45 wird der Körper zum Medium in einer rituellen Ordnung, in der über Aufführungen und Visualisierungen Kommunikation entsteht. Man hat dies auch als ‚Kultur der Sichtbarkeit‘ bezeichnet, in welcher Diskurse und Semantiken „verkörpert“ werden.46 In ritualisierten Kommunikationssituationen erhalten genuine und anthropologisch bedingte Emotionen und ihre körperlichen Ausdrucksformen zeichenhaften Charakter: sie werden instrumentalisiert, in Szene gesetzt und damit als Kommunikationsmedien benutzt. Solcher instrumentelle Gebrauch von Emotionen steht im Zentrum der Arbeiten Gerd Althoffs.47 Seine Thesen sind von der mediävistischen Literaturwissenschaft aufgenommen und auf der komplexeren Ebene der literarischen Darstellung weiterentwickelt worden. Die Arbeiten zur Emotionalität in mittelalterlicher Literatur verweisen auf den „Zeichen- und Handlungscharakter des Emotionsausdrucks“48 und erforschen die literarisch dargestellten und codierten Emotionen mit dem inzwischen auch in der Literaturwissenschaft gängigen Begriff der Inszenierung. Dabei wird immer wieder betont, dass die Gefühle grundsätzlich nicht sichtbar seien und durch unterschiedliche körperliche Arrangements erst als solche in Szene gesetzt werden müssen.49
44 Luhmann, Niklas: „Einfache Sozialsysteme“. In: Zeitschrift für Soziologie 1 (1972), S. 51–65). 45 Diesen widerständigen, unkontrollierten Körper beschreibt Horst Bredekamp in seinem Beitrag zur „ostentativen Schamlosigkeit“ apotropäischer Skulpturen des Mittelalters zu diesem Band. 46 Vgl. dazu die Arbeiten von Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; ders.: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter. Berlin 2009. 47 Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997; ders.: „Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“. In: Benthien, Fleig u. Kasten, Emotionalität, S. 82–99. 48 Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin u. New York 2006, S. 48. Zur Schamemotion und ihren Bezug zu den Rezipienten vgl. Mecklenburg, Michael: „Erecs Scham. Kulturelle Umbesetzung einer Emotion im mittelhochdeutschen höfischen Roman“. In: arcadia 44 (2009), H.1, S. 73–92. 49 Koch: Trauer und Identität, S. 48–49.
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Im Unterschied zu anderen Gefühlen ist die Scham ein sichtbares, d. h. an ganz bestimmten, meist unwillkürlichen körperlichen Reaktionen deutlich erkennbares, und mit der Sphäre des Sehens auf unterschiedliche Weisen verbundenes Gefühl.50 Dieses spezifische visuelle Dispositiv bildet eine Voraussetzung dafür, dass sie im höheren Maße als andere Emotionsausdrücke als Zeichenkomplex auf verschiedenen Ebenen der Kommunikation benutzt wird und zusammen mit ihrer Kehrseite – der Schamlosigkeit – zum Medium einer symbolischen, verhüllend-enthüllenden Sprache der kulturellen Grenzsetzung und Grenzverletzung wird. Dies gilt sowohl für die soziale, als auch für die religiöse und die erotische Kommunikation. Im Folgenden sollen, ausgehend von diesen drei Kommunikationsfeldern, die Beiträge des Bandes vorgestellt werden, wobei freilich keine strikte Trennung möglich ist und gerade die Übergänge zwischen sozialen, religiösen und erotischen Facetten der Scham in konkreten Kommunikationssituationen und ihren literarischen Inszenierungen von Interesse sind. a) Soziale Kommunikation Als ‚soziale Emotion‘ indiziert und reguliert die Scham das Verhältnis eines Einzelnen zu seiner Gemeinschaft. Dieses Verhältnis, das man abstrakt als Dynamik von Inklusion und Exklusion begreifen kann, wird in der Vormoderne in polaren Kategorien von Ehre und Schande aufgefasst.51 Der Status eines Mitglieds der mittelalterlichen Adelsgesellschaft beispielsweise ist von seiner Ehre abhängig, d. h. von seinem ‚Ansehen‘ und seiner Geltung in der Gemeinschaft. Ehre ist weder durch Macht noch durch Reichtum zu erlangen, sondern durch eine ethische Wertorientierung und Vorbildhaftigkeit. Als solche ist sie Maßstab für das ‚richtige‘ Verhalten eines Gesellschaftsmitglieds, sie ist gewissermaßen das soziale und das moralische Kapital des mittelalterlichen Menschen. Die Ehre, der honor einer Person bestimmte im Mittelalter und darüber hinaus Verhalten in sehr dominanter Weise. Weite Teile dieses Verhaltens waren davon geprägt, „den honor zu wahren, ihn zu vermehren und Angriffe auf diesen honor abzuwehren“.52 Dieses Vermehren der Ehre ist
50 Vgl. z. B. Williams, Bernard: Shame and Necessity. Berkeley u. a. 1999; Nussbaum: Hiding from Humanity. 51 Vgl. Krause, Burkhardt: „Scham(e), schande und êre. Selbstwahrnehmung – zwischen Affekt und Tugend“. In: Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel. Hg. v. Burkhardt Krause u. Ulrich Scheck. Tübingen 2006, S. 21–75. 52 Gerd Althoff in diesem Band.
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allerdings nur auf das männliche Geschlecht bezogen. Weibliche Bescheidenheit und Zurückhaltung (modestia), die als Gegenbild zur männlichen Ehre anzusehen ist, kann dagegen nicht vermehrt, sondern muss bewahrt werden. Allerdings können beide Formen der Ehre, die aktiv-männliche und die passiv-weibliche verloren gehen, wenn die gesellschaftlichen Normen nicht beachtet werden. Gegenbegriff zur Ehre ist die Schande: als negativer Pol verweist sie auf ein soziales Defizit als Ergebnis eines unbeabsichtigten Ehrverlustes oder einer beabsichtigter Ehrverletzung. Die Kategorie der Schande thematisiert die kollektive Geringschätzung und Verachtung eines Einzelnen, und in der Rede über sie wird der Entzug des einmal erworbenen sozialen Status performativ vollzogen (Velten). Die Scham steht im Spannungsfeld der beiden Pole Ehre und Schande. Ihre Paradoxie besteht in der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu den ethischen Bereichen der Tugend und des Lasters, und gerade aus diesem dynamischen Bezug zur Polarität der sozialen Wertkategorien Ehre und Schande, lässt sie sich gewinnbringend erklären. Jede dieser Kategorien spiegelt eine Facette der Scham wider. Die erste ist diejenige des positiven Bezugs auf die Ehre: sie wurde bereits von Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik als Furcht vor Schande definiert und im Begriff der aidôs gefasst. Die Vorstellung der Scham als einer sozialen Tugend, die die Schande fürchtet und die Ehre bewacht, lebt im romanisch-germanischen Mittelalter im Begriff der verecundia weiter.53 Die verecundia äußert sich passiv in der schamhaften Haltung der Frau, die von ihr wie von einem Mantel verhüllt wird (Weitbrecht), sowie in der Reaktion des werden man auf die Bedrohung eines Ehrverlustes (Müller). Als wesentliche Kategorie der höfischen Ethik und des höfischen Romans, mit dem sich mehrere Autoren in diesem Band auseinandersetzen, erlaubt schame als zentrale ritterliche Tugend die Erkenntnis potenzieller Grenzverletzungen und ihre Vermeidung in der höfischen Kommunikation. Dabei erscheint die Vermittlung von Schamempfinden als ein ‚pädagogisch‘ notwendiger Akt (Wolf). Doch wird bei der Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Schambegriff gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die „Glossierung von schame mit Schamhaftigkeit […] zu eng“ ist.54 Die Scham spielt nicht nur als Vermeidung der Ehrverletzung, sondern auch als ihre Affirmation eine wichtige Rolle. Diese zweite, enthüllende Facette der Scham hat mit einer ethischen Tugend nichts mehr gemeinsam, denn hier wird das
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Boquet, Damien: La vergogne historique: éthique d’une émotion sociale. In : Histoire de la vergogne. Rives méditéranées 31 (2008), S. 7–16 54 Jan-Dirk Müller in diesem Band.
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Schamgefühl auf die negative Kategorie der mittelalterlichen Ethik, die Schande (ignominia, infamia, indignitas) bezogen und mit Entblößung und körperlicher Gewalt assoziiert (Velten). Die Scham / Schande markiert die Verletzung der gesellschaftlichen Sittlichkeits- und Anstandsgrenzen, macht das gestörte Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft sichtbar. Sie ruft als Ausdruck sozialer Kontrolle und sozialer Sanktion nach Restitution der Ehre. Die vormoderne Gesellschaft macht von diesen beiden Facetten der Schamemotion in unterschiedlichen Formen der öffentlichen Interaktion Gebrauch, wobei das genuine menschliche Gefühl in komplexe Zeichenund Diskursordnungen eingebunden wird: Der spontane Schamausdruck der verecundia wird reglementiert und genderspezifisch kodiert. Die Frau muss sich in der Öffentlichkeit mit ihrer Schamhaftigkeit verhüllen, vor allem gegenüber den anwesenden Männern. In den frühneuzeitlichen Verhaltenstraktaten ist die Schamhaftigkeit nicht als individuelles Gefühl, sondern als gesellschaftliche Vorschrift formuliert (Gvozdeva). Dadurch kann diese Hülle der Scham von den Frauen aber auch als kommunikative Strategie der Überlistung und somit als Überschreitung dieser Grenzen benutzt werden.55 Das komplexe Wechselverhältnis dieser beiden, auf Ehre und Schande bezogenen Seiten der Scham wird in der höfischen Interaktion an literarischen Beispielen wie Hartmanns von Aue Erec, Wolframs von Eschenbach Parzival und dem Prosa-Lancelot ausgearbeitet (Müller, Ridder, Wolf). Als Technik der Macht56 wird die Scham in Mittelalter und Früher Neuzeit in einer Reihe von Ritualen und rechtlichen Praktiken funktionalisiert. Für die Untersuchung von Praktiken der Beschämung, also des geplanten Hervorrufens von Scham bei anderen, scheinen Machtbeziehungen eine wichtige Rolle zu spielen. Trotz unterschiedlicher Auffassungen ist es in der sozialgeschichtlichen Forschung von Elias und Foucault bis zu heutigen Ansätzen57 ein Gemeinplatz, dass Scham auf prominente Weise Macht- bzw. Herrschaftsverhältnisse gerade deshalb zeigen kann, indem sie diese verbergen will. In der historiographischen Beschreibung von Unterwerfungsritualen wird die Scham als ein ausgeklügeltes Repertoire von Handlungssequenzen, von verhüllenden und enthüllenden Ausdrucksformen (z. B. Barfüssigkeit oder Senkung des Blicks) erkennbar, die
55 S. den Teil zur erotischen Kommunikation. 56 Michel Foucault hat den beschämenden, „gesichtslosen“ Blick als „Technik der Macht“ bezeichnet. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994, S. 229. 57 Neckel, Sieghard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt u. New York 1991; Landweer: Scham und Macht.
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der Restitution verletzter Ehre dienten (Althoff). Die Scham kann somit, wie andere menschliche Gefühle auch, öffentlich „aufgeführt“ werden, um daran Selbstdistanzierung von früherem Verhalten zu zeigen und damit einen bestimmten Status wiederherzustellen oder andere (politische) Wirkungen (Verpflichtungen, Gnadenerweise, Beilegung von Konflikten) zu erzielen. Andererseits bedienen sich auch die ritualisierten Praktiken der Beschämung der Ausstellung des nackten Körpers, um in disziplinierender und letztendlich integrativer Absicht das Schamgefühl bei den Opfern (und den Anwesenden) sichtbar zu machen. Dies gilt sowohl für die Volksjustiz und das Charivari, als auch für die offizielle Rechtsprechung, wenn diese auf Strategien der Entblößung für die Ausführung von Schandstrafen zurückgreift (Weitbrecht).58 Die Schandstrafen der Ausstellung des entehrten Körpers zielen auf die Verfestigung des flüchtigen Schamgefühls durch das Brandmarken, das bei jedem fremden Blick auf derartig stigmatisierte Körper wieder belebt werden muss.59 Es handelt sich dabei um aggressive Akte der Beschämung, deren Urheber in Kenntnis der bestehenden Schamgrenzen bewusst Schamempfinden provozieren.60 Auch wenn diese Rituale der Beschämung und der Bloßstellung, in denen die Schande performativ hergestellt wird, genau das öffentlich ausstellen, dessen man sich schämt, fallen sie nicht in die Kategorie des Schamlosen, weil sie gesellschaftlich sanktioniert und auf das Auslösen der Scham ausgerichtet sind. Schamlos ist dagegen derjenige, der diese Praktiken egoistisch pervertiert, wie es im mittelalterlichen Tierepos zum Ausdruck kommt. Signifikanterweise wird dabei nicht die Gesellschaft, sondern ihr Zerfall in Szene gesetzt (Velten). Schamlos ist auch derjenige, der sich der Wirksamkeit dieser Praktiken entzieht, d. h. keine Scham angesichts der Schande zeigt, die ihm gesellschaftlich zugewiesen wird. Der höfische Roman reflektiert diesen Kasus in der Schandkarrenepisode des Lancelot, dieser Schlüsselszene für Schamlosigkeit (Ridder). Dieses und andere literarische Beispiele in diesem Band machen deutlich, dass die Schamlosigkeit keine strukturelle Funktion in der Gesellschaft hat. Literarisch inszenierte Schamlosigkeit ist die „Kehrseite normativer Diskussionen über Scham und Ehre“,61 sie signalisiert die Negierung
58 Einige Beispiele dafür bei Duerr, Nacktheit und Scham, S. 275f. 59 Vgl. dazu die Materialien der Tagung La honte entre peine et pénitence. Les usages sociaux de la honteau Moyen Âge et à l’ époque moderne. Colloque international organisé par Bénédicte Sère et Joerg Wettlaufer. Paris, 21–23 octobre 2010. http://www.shamestudies.de/ paris/text/Abstractheft_Paris_online.pdf 60 Scheler, Scham und Schamgefühl, S. 94. 61 Jan-Dirk Müller in diesem Band.
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der Gesellschaft im Sinne ihrer Zerstörung oder ihres Übergangs in andere Kommunikationssphären. Diese sollen nun in den beiden folgenden Teilen vorgestellt werden. b) Religiöse Kommunikation Will man den Darstellungen der vormodernen Textzeugnisse glauben, war das Zusammenspiel von Scham und Schamlosigkeit für zahlreiche religiöse Praktiken in Mittelalter und Früher Neuzeit konstitutiv: für den asketischen Rückzug aus der Welt, für verschiedene Formen des Martyriums, für Beichte, Liturgie sowie für weniger bekannte Phänomene wie die Selbstausstellungen der so genannten Christusnarren. Einige der hier untersuchten diskursiv erzeugten Phänomene sind historisch nicht nachzuweisen, zumindest nicht in der Form, die ihnen die Texte geben (Largier, von Bernuth). Im Zentrum der Fragestellung der Beiträge, die sich mit den religiösen Spielräumen von Scham und Schamlosigkeit beschäftigen, steht aber nicht die „Glaubensfrage“, sondern Themen und Problemkomplexe wie Narrativierungen von Heiligungsprozessen (Weitbrecht), Diskursivierungen der Narrheit in Christo (von Bernuth), Semiotisierungen der Nacktheit im religiösen Kontext (von Moos), narrative Strategien der Ersetzung der weltlichen Ordnung durch ein religiös-spirituelles Normenund Sinnsysteme (Ridder), sowie liturgische „Realitätsräume“, die Texte durch Literalisierung rhetorischer Topoi entwerfen (Largier). In den textuellen Inszenierungen von religiösen Transformationsprozessen können Scham u Schamlosigkeit auf ganz unterschiedliche Weisen aufeinander bezogen werden. Die Märtyrerinnenlegenden des Mittelalters operieren mit den weltlichen Szenarien der öffentlichen Beschämung (Strafpraktiken), der Erotisierung der Nacktheit und mit der moralischen Konzeption der weiblichen Schamhaftigkeit als sozialer Tugend, um die sozialen und erotischen Paradigmen in religiöse umzusetzen (Weitbrecht). Während in den Martyrien männlicher Heiliger der gefolterte Körper nicht sexualisiert ist, wird dem Motivkomplex von Entblößung und Verhüllung im Falle der Frauenkörper eine besondere Funktion im Heiligungsprozess zugewiesen. Die Heiligung der Märtyrerin erfolgt in drei Phasen, die für Übergangsrituale kennzeichnend sind: beschämende Entblößung und Ausstellung des Körpers als Objekt der Begierde; Schamreaktion der keuschen Frau und Mitleid des Publikums, sowie schamhafte Verhüllung des transformierten Körpers im Martyrium. Im heilsgeschichtliche Themen verarbeitenden höfischen Roman kann man zwar dieselbe Übergangsdynamik des Wegs zum Heil erkennen, in der Scham und Schamlosigkeit auf eine grundsätzliche Weise zum Thema
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werden. Doch hier nimmt die spirituelle Transformation des Helden (Lancelot) den Weg von der Scham, die die Grenze zur Welt, zu Liebe und Ehre markiert, hin zur Schamenthobenheit seines Eremitentums und dem idealen Zustand vor dem Sündenfall, den er erst nach seinem Tod wiedergewinnt (Ridder). Im Unterschied zum emotionslosen und in diesem Sinne schamlosen Lancelot besetzt der Gottesnarr als „Heiliger unter der Tarnkappe“,62 der „eine institutionalisierte Form der Liminalität“63 verkörpert, einen Raum der Tabubrüche. Er ist zeitlich und räumlich von der Gesellschaft nicht abgesondert, sondern in ihr angesiedelt. Seine öffentlichen Aufführungen der Schamlosigkeit stehen im Zeichen der religiösen Praxis der imitatio Christi, im Neuen Testament als Narrheit beschrieben. Der Gottesnarr benimmt sich aus weltlicher Sicht obszön und skandalös, auch wenn er sich für sich selbst „in einem transgressionslosen Jenseits von Gut und Böse, Ehre und Schande“64 befindet. Diesem Widerspruch zwischen zwei polaren Konzepten der Schamlosigkeit, die sich in der Figur des Narren in Christo vereinen, gehen die beiden Beiträge von Peter von Moos und Ruth von Bernuth nach; sie fokussieren Fragen nach der Dynamik von Schamlosigkeit im Spannungsfeld von Gesellschaft und Religion. Eine ostentative Schamlosigkeit (Nacktheit, orgiastische Riten) kennzeichnet ebenfalls die Liturgie der sogenannten „Adamiten“ und anderer Sekten, die aber vermutlich als Topos der christlichen Häresiologie seit ihren Anfängen bei den Kirchenvätern diskursiv erzeugt wurde (Largier). Die ursprünglich rhetorische Denkfigur der eschatologischen Auflösung aller Ordnung und der antizipierenden Restitution des paradiesischen Genusses verwandelte sich im Laufe des Spätmittelalters im Medium der Beichte in ausführliche phantasmatische Beschreibungen, die einen Wahrheitsstatus beanspruchten. In der diskursiven Produktion und zunehmenden Literalisierung der Welt radikaler Schamlosigkeit sieht Largier die Genese der frühneuzeitlichen Pornographie. Vor diesem Hintergrund scheint der Weg der christlichen Entschämung, so wie ihn etwa der Christusnarr beschreitet, ein gefährlicher zu sein. Die religiöse Schamlosigkeit kann in unmittelbare Nähe zur erotischen Ausschweifung geraten und mit ihr zusammenfallen.
62 Peter von Moos in diesem Band. 63 Ruth von Bernuth in diesem Band. 64 Peter von Moos in diesem Band.
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c) Erotische Kommunikation „Wir sprechen immer dann von Erotik“, so der französische Literat und Philosoph George Bataille, „wenn ein Mensch sich auf eine Weise verhält, die zu den gewöhnlichen Sitten und Meinungen in betontem Gegensatz steht. Die Erotik zeigt die Kehrseite einer Fassade, deren einwandfreies Äußeres nie in Abrede gestellt wird: Auf der Kehrseite enthüllen sich Gefühle, Körperteile und Gewohnheiten, derer wir uns gewöhnlich schämen.“65 Die Erotik als psychologisch-geistige Seite der Sexualität und ihre diskursive Ausdrucksform ist nach Bataille somit im Spannungsfeld von Scham und Schamlosigkeit zu verorten. Die Unterschiede zwischen historisch und kulturell varianten Ausprägungen der Erotik sind jedoch weniger an das Schamgefühl selbst gebunden, und auch nicht an die Dynamik von Verhüllen und Enthüllen, sondern daran, wie über Erotik gesprochen, in welche Sinnzusammenhänge sie eingebunden wird und welche Inszenierungsstrategien unterschiedliche kulturelle Medien einsetzen, um das erotische Gefühl beim Rezipienten zu provozieren, zu regulieren oder zum Objekt der Reflexion machen. Mit einer Ausnahme sind alle Untersuchungen, die die erotische Kommunikation in diesem Band thematisieren, im Bereich der romanisch-germanischen Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit angesiedelt. Peter Köppings kulturtheoretischer Beitrag zur rituellen Schamlosigkeit enthält einige methodische Überlegungen, die den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen vorausgeschickt werden können. Köpping stellt die Frage nach der „Authentizität“ von Scham und Schamlosigkeit und somit nach der Möglichkeit der Verallgemeinerung von Erwartungen schamhaften Handelns. Er zeigt, dass es ein „Nebeneinander von Prüderie [im Alltag] bei gleichzeitiger Enthemmung“66 in rituellen Aufführungen und den künstlerischen Produktionen gibt, wobei sich die Schamgrenze derselben Akteure je nach Kommunikationssituation verschiebt. In rituellen Kontexten ist die Schamlosigkeit eine mediale Strategie, die trotz ihres ostentativen Charakters sich der Doppeldeutigkeit der erotischen Sprache bedient, indem sie durch Überlagerung und Substituierung von „Symbolen aus den Grenzbereichen“ „assoziatives Begehren“ kreiert. Mit anderen Worten, Schamlosigkeit erscheint auch in rituellen 65
Bataille, Georges: L’Érotisme. Paris 1957, S. 121: „L’érotisme laisse entrevoir l’envers d’une façade dont jamais l’apparence correcte n’est démentie : á l’envers se révèlent des sentiments, des parties du corps et des manières d’être dont communément nous avons honte“. 66 Klaus-Peter Köpping in diesem Band.
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Kontexten der erotischen Kommunikation als ein instabiles, auf Scham und Verhüllung angewiesenes Element der Opposition. In Bezug auf die höfische Literatur des Mittelalters lässt sich fragen, wie die Inszenierungen der Liebeskommunikation mit den geschlechterspezifischen Schamkonzeptionen umgehen, die im sozialen Bereich der Ehre wirksam sind. Der höfische Roman, der von mehreren Autoren des Bandes untersucht wird, zeigt verschiedene Möglichkeiten des narrativen Einsatzes von Scham, indem er diese als normative Barriere inszeniert, welche im erotischen Diskurs überwunden werden kann (Dröse). Es handelt sich um mehrstufige Kommunikationsprozesse, in denen Transformationsprozesse stattfinden: Die sozialen Konfigurationen von Scham werden durch interpersonale abgelöst, überlistet und umfunktionalisiert. Was die männliche Scham angeht, erscheint sie in den Narrationen als doppelt besetzt: einmal als Gefühl, das vom Bewusstsein der Überschreitung gesellschaftlicher Normgrenzen ausgelöst wird, einmal als Liebesaffiziertheit, die mit dem Berühren der Grenzen der Intimsphäre und der Körpergrenzen zu tun hat (Ridder, Dröse). Die Dramatisierung des Prozesses der Umkodierung der Scham erfolgt in denjenigen Szenen, in denen der Held öffentlichen Beschämungen ausgesetzt wird, die seine ritterliche Ehre angreifen, denen gegenüber er sich aber als schamenthoben verhält. Die normsetzende Instanz ist nicht mehr die Gesellschaft, sondern die Frau (Wolf). Die Liebeskommunikation wird im Roman als physische Entfernung von der Gesellschaft in Szene gesetzt, ein Weg, den der Held auf dem Schandkarren ins erotische Abenteuer bestreitet, das mit Scham aus Angst des Versagens gegenüber dem Liebesobjekt besetzt ist (Ridder). Schamlosigkeit gegenüber der Gesellschaft wird durch Scham gegenüber der Frau konterkariert. Weibliche Scham dagegen, kulturell grundsätzlich als prospektiv kodiert, zeigt eine andere Dynamik. Als Schutz vor fremdem Begehren und als Kontrolle des eigenen Begehrens konfiguriert, und somit Form und Mittel der Distanznahme, fungiert sie in literarischen Minneepisoden als „dissimulative Artikulationsform des Begehrens“.67 Das rätselhaft ambivalente Sprechen und Handeln der Frau, in welchem die Intentionen des Verbergens und Enthüllens aufeinander bezogen sind, schafft einen liminalen Raum, in dem die Minne sich als performativer Prozess der Durchdringung der Gegensätze verwirklicht. Somit kennzeichnet Scham nicht allein die Grenze, sondern vor allem den Modus ihrer Überschreitung (Dröse).
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Albrecht Dröse in diesem Band.
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In Bezug auf die Einsetzung und Umfunktionalisierung der weiblichen Scham im Kontext der rätselhaften Rede scheint dieser auf den Tristan Gottfrieds von Straßburg bezogene Befund für die vormoderne Kultur eine hohe Relevanz zu besitzen. Wie die Untersuchung der literarischen Inszenierungen des Rätselspiels in der italienischen Renaissance-Gesellschaft zeigt (Gvozdeva), vermittelt die weibliche Scham zwischen sozialen Normen und Artikulationen des Begehrens. In einem obszön-erotischen Spielraum entfaltet das Rätsel eine Wirkung, die mit derjenigen der Freud’schen Zote vergleichbar ist: die Ausübung der sexuellen Aggression wird durch die scheinbare Abwehr in der Schamreaktion lizensiert. Um die schamlose Entblößung der parties honteuses geht es auch in einem Essay Montaignes, der sowohl thematisch als auch rhetorisch die Grenzen überschreitet (Pfeiffer). Bei Montaigne bildet die erotische Kommunikation eine Facette der Betrachtung des essayistischen Schreibens. Die skandalöse Selbstausstellung des Autors rekurriert nicht nur auf die spektakulären „Ausstellungen der eigenen Nacktheit in ihrer Animalität, wie sie die Zyniker praktizierten“ und das antike Konzept der parrhesia, die „offene, Schamgrenzen ignorierende Rede“.68 Die Geständnisrede Montaignes, in der eine meditative „Exploration der Grenzen von Körper und Ethos“ stattfindet, erfolgt im Rahmen des Kommentars der erotischen Poesie. Selbstentblößung wird hier mit erotischer Imagination in Verbindung gebracht. Auch wenn der Essay als Kommentar „den imaginären Eros der Poesie“ direkt nicht erreichen kann, strebt er in seinem Appell an zukünftige erotische Interaktion an, als eine „performative Verführungsrede“ zu funktionieren.
V. Scham und Schamlosigkeit im historischen Wandel Norbert Elias hatte in seinem Hauptwerk Der Prozess der Zivilisation (1939) die Scham zum Hauptindikator gesellschaftlicher Veränderung gemacht, indem er ihr den Platz eines Schlüsselaffekts im Prozess des zivilisatorischen Fortschritts durch Subjektivierung und Triebdisziplinierung, und das heißt bei Elias Eindämmung der Gewalt durch Scham, zuwies. Er ging dabei von einem „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen“ zwischen Mittelalter und Neuzeit aus und erkannte in der Scham das Instrument der Anpassung des Körpers an Herrschaftsverhält-
68 Helmut Pfeiffer in diesem Band.
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nisse.69 Dadurch würden Nacktheit und Sexualität, die im Mittelalter vergleichsweise ungezwungen hätten gezeigt und gelebt werden können, graduell aus der Öffentlichkeit verbannt und in eine entstehende Privatsphäre hineinverlegt. In ihrer Hauptbedeutung meint Zivilisation somit nicht mehr als genau diese Delegitimierung und Verfeinerung körpernaher Interaktionsformen, die das Mittelalter auszeichnet. Abgesehen von der teilweise berechtigten Kritik Hans-Peter Duerrs an diesem linearen historischen Modell aus ethnologischer Sicht,70 spielt auch die verdeckte Seite der Scham, die Schamlosigkeit für Elias kaum eine Rolle. Sein mehrheitlich aus der Neuzeit stammendes Material dokumentiert den allmählichen Verlust des für die Vormoderne noch charakteristischen Wechselverhältnisses von Scham und Schamlosigkeit. An seine Stelle, das zeigen die zeitlich im 16. Jahrhundert angesiedelten Beiträge in diesem Band, tritt ein Verhältnis des Entweder / Oder, eine sich zuspitzende Entfremdung und Entgegensetzung. Scham und Schamlosigkeit entkoppeln sich sukzessive, da die primäre Schamlosigkeit immer stärker verdrängt wird bzw. ihren transzendentalen Bezug verliert: so vermögen die entstehenden Gesellschaften der Neuzeit immer weniger die schamlose Religiosität der Christusnarren nachzuvollziehen, die theologische Betrachtung der adamitischen Praktiken wird im Zuge der Inquisition aggressiver und grenzt die christlich-rituellen Formen der Schamlosigkeit aus (Largier), die Nacktheit verliert durch den aufkommenden anatomischen Blick in der Kunst ihre Verbindung zur Scham, sucht aber den Rückweg zum prälapsaren Menschsein nicht und wird auf sich selbst zurückgeworfen (Böhme). Diese Entwicklung hatte sich bereits in der höfischen Literatur bezüglich einer Statusveränderung der Scham angedeutet: in den höfischen Romanen bezeichnet sie immer weniger eine Reaktion auf die ethischen und gesellschaftlichen Normen, sondern immer mehr ein Selbstverhältnis, „das zwar noch der Bestätigung durch die anderen bedarf, das aber deren Urteil durch das eigene strengere Urteil ersetzt“ (Müller). In dieser ‚Privatisierung‘ werden Normen der vormodernen Schamkultur bereits in
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Vgl. Norbert Elias: Der Prozess der Zivilisation, zusammenfassend im Kap. „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“, Bd. 2, S. 397–409 („Scham und Peinlichkeit“). Duerrs Argumentation ist nicht historisch, sondern universalistisch und transkulturell. Duerr weist vor allem Elias‘ Grundgedanken zurück, welcher den vormodernen Menschen die Fähigkeit zur Internalisierungen von Fremdzwängen – erkennbar an der Normativität der Scham – abspricht. Elias hatte die Internalisierung als einen historischen Prozess zwischen Mittelalter und Neuzeit erkannt, eine These, der Duerr vehement widerspricht. Duerr, Hans-Peter: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1993, S. 18–22.
Einleitung
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der höfischen Periode in Zweifel gezogen, ihre Grenzen werden mehr und mehr verhandelbar und porös. Mit dem Rückgang der rituellen Funktionen der Scham und ihrer Praktiken in Schamstrafen, Beichte und Buße verändert auch die Schamlosigkeit in der Frühen Neuzeit ihre Wertigkeit, und neue Bereiche ihrer Manifestation kommen hinzu. Sie weitet ihre Möglichkeiten im imaginativen Raum der Nacktheit aus, indem es zu einer Inversion kommt: was zuvor zum Bereich des Imaginären, doch Verbotenen gezählt hatte, wird durch seine diskursive Benennung zum Raum des Möglichen einer Inversion oder Subversion, wie Largier am Beispiel der Beschreibungsexzesse der spätmittelalterlichen Inquisitoren („Literalismus der Imagination“) deutlich macht. Erst durch diese mediale Verschiebung wird die ‚schamlose‘ Kunst eines Aretino oder eines de Sade möglich sein, um die Koordinaten von Scham und Schamlosigkeit einer Inversion zuzuführen. Eine ähnliche Tendenz zur Reflexion und ‚modernen‘ Selbstinszenierung im Medium der Schamlosigkeit ist in der frühneuzeitlichen Anatomie und der moralphilosophischen Essayistik zu erkennen. Das Selbstbildnis Dürers als Nackter ist, wie Böhme zeigt, eine Inkunabel der Entblößung, die durch kein Schamregime bestimmt ist. Diese Schamlosigkeit hat eine neue Qualität: sie hat weder etwas mit dem Status der paradiesischen Unschuld gemeinsam, noch ist sie Kennzeichen einer ethischen Transgression. Vielmehr zeigt sich hier die Schamlosigkeit des rücksichtslos Enthüllten im Sinne der Dokumentation einer curiositas, die rückhaltlos, präzise, aber auch reflexiv ist (Böhme). Parallel dazu hebelt Montaigne die Scham als kulturelles Gebot aus, indem er ihre Kontingenz sichtbar macht. Es handelt sich um eine Inversion der verhüllenden Tendenz der Scham durch die offene Provokation des fremden Blicks. Die „Selbstentblößung“ der skandalösen Wahrheitsrede in den Essais wird zur „meditativen Erforschung der Grenzen von Körper und Ethos“.71 In beiden Beispielen tritt eine individualisierte Tiefendimension an die Stelle des gesellschaftlichen und religiösen Paradigmas, die ein souveräner persönlicher Blick erschließt, der gerade keinen internalisierten Anderen repräsentiert: die unhintergehbare Wahrheit, die Montaigne von sich selbst einfordert, entspricht der unhintergehbaren Nacktheit der Dürerschen Selbstdarstellung. Beiden eignet eine selbstreferentielle Souveränität, die ihre Anknüpfungspunkte in der antiken Selbstsorge findet und die die Schampraktiken der Zeit hinter sich lässt. Die Überschreitung der Schamgrenzen wird hier zur Fixierung von Identität und Teil der Lebenskunst. Der schamlose Text, das schamlose Bild ist nicht mehr an die
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Helmut Pfeiffer in diesem Band.
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Normen des gesellschaftlichen konstituierten Schamregimes gebunden, sondern gerät in der Selbstentblößung zum Akt der Bewusstwerdung von Subjektivität (Hahn). Die Epoche des engen Konnubiums von Scham und Schamlosigkeit endet, das Private ist nun der Schutz einer Selbstenthüllung, in der curiositas zur Tugend und zum Beginn einer grenzenlosen Ausdehnung des Wissens wird.
INCIPIT
H ARTMUT BÖHME
Urszenen der Scham Im Garten Eden waren Adam und Eva nackt, ohne es zu wissen. Durchaus identifiziert Adam die aus seinem Fleisch erschaffene Eva: „Das endlich ist Bein von meinem Bein/ und Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 3,23), sagt er angesichts Evas. Er sieht an ihr, daß sie nicht eines jener gefiederten, bepelzten, schuppigen, hornigen Wesen ist, denen er ihren Namen gab und dadurch von sich unterschied. Eben diese Namenstaufe löst den Wunsch nach einem Gleichen aus, das so ist, wie er ist. Als solches Gleichartiges nimmt er Eva wahr, nicht aber in ihrer Unterschiedenheit von ihm; sie ist seinesgleichen, doch nicht eine andere, d. h. er realisiert nicht ihre und seine Geschlechtlichkeit: sie sind nackt, ohne es zu wissen. Mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis, das – wie die Schlange verspricht – „wie Gott“ (Gen 3,5: eritis sicut dii) werden lassen und klug machen soll, beginnt ein Prozess, an dessen Anfang die Scham und an dessen Ende der Mord und die unaufhebbare Zerrissenheit des Bewusstseins stehen.1 Adam und Eva „gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, daß sie nackt waren“ („et aperti sunt oculi amborum/cumque cognovissent esse se nudos“ (Gen 3,7) Dies ist die Scham. In der Scham soll das verhüllt werden, dessen man sich schämt: sie machen sich einen Schurz. Und Scham löst den Wunsch aus, sich selbst in toto zu verbergen: Adam und Eva verbergen sich vor Gott „unter den Bäumen des Gartens“. In der Scham ängstigt man sich vor dem Angeblicktwerden, insbesondere durch eine höhere Instanz. Gott stellt Adam und Eva zur Rede: nämlich in Frage. Die Frage ist derjenige Sprachmechanismus, der den Befragten sich zu identifizieren zwingt, d. h. sich zu enthüllen, womöglich in dem, dessen man sich schämt. Darum können Fragen Pein sein und sind es hier, in
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Schüngel-Straumann, Helen: „…Und sie erkannten, daß sie nackt waren“. Die Frau in den Erzählungen von Genesis 2 und 3. In: Der nackte Mensch. Hg. von Detlef Hoffmann. Marburg 1989, S. 116–131; Wurmser, Leon: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin 1990.
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der Bibel, zuerst. In ihren Antworten erweisen Adam und Eva, dass sie schon jetzt jenseits der paradiesischen Namenssprache stehen, in der Wort und Wesen sich im Namen begegnen. Sie verschieben mittels der Sprache ihr Vergehen von einem auf den anderen: Adam auf Eva, Eva auf die Schlange. Das heißt: sie verhüllen nicht nur Teile des Körpers, die ihre Geschlechtlichkeit markieren; sie verbergen nicht nur den ganzen Körper, um überhaupt ungesehen zu sein; sondern sie benutzen die Sprache als Verhüllung. In dieser Weise von der Scham imprägniert, wird niemals mehr ein Hörer sicher sein können, dass das Gesagte auch meint, was es sagt. Dreifaches Dunkel versuchen Adam und Eva um sich zu schlagen wie einen ummantelnden Schutz: traumatisch und beschämend erfahren sie ihr Identifiziertwerden, dem sie nicht entgehen können. Das heißt: wir können nicht Menschen werden, ohne uns zu identifizieren und zu verkörpern, und wir können dies nur unter den Bedingungen der Scham. Die Scham wird in dieser Erzählung als etwas so Fundamentales angesehen, dass von ihr der Zwiespalt ausgeht, wonach alles, was erscheint, ein Verhüllen dessen sein kann, was sich zurückzieht und versteckt. Nichts als nackt zu sein – ohne Schurz, ohne Versteck, ohne sprachliche Ausflucht –, ist furchtbar. Es ist der Ursprung des Leidens – eben die Vertreibung aus dem Paradies schamloser Nacktheit und unschuldiger Namen. Es ist des Lebens Fluch, Arbeit und Schmerz, Feindschaft und Verlust des Friedens. Dahinein werden sie verstoßen, nicht ohne dass Gott den armseligen und beschämten Nackten zuvor Kleidung fertigt, wie um ihnen zu zeigen, dass dies ihr Los sein wird: Verhüllung. „Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit.“ (Gen 3,21) 2 Sogleich folgt die nächste Beschämung. Hirte und Bauer, die sie sind, bringen die Söhne Abel und Kain dem Gott ihr Opfer. Sie erweisen darin ihr fortgeschrittenes Bewusstsein, indem sie nämlich im Mechanismus des pars pro toto, auf dem das Opfer beruht, sich des symbolischen Prozesses kundig zeigen. Doch Kain wird von Gott ohne Grund bedeutet, daß er nicht angeschaut und angenommen wird („Dominus … ad Cain et ad munera illius non respexit“, Gen 4,5). Heiße Scham überläuft Kain – er findet sich in einer grundlosen Verwerfung vor, also ganz nackt. Als solchen spricht Gott ihn an; vollständig durchschaut er ihn, er sagt ihm, dass er den Dämon in sich trage, dessen er Herr werden solle. Seine Beschämung wendet Kain um in etwas, was leichter zu fallen scheint als die absolute Entblößung, in der er steht: die heftige Wut und der Mord
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Vgl. allgemein Perniola, Mario: „Between Clothing and Nudity“. In: Fragments for a History of the Human Body. Part Two. Hg. v. Michel Feher, Ramona Naddaff u. Nadia Tazi. Boston 1991, S. 237–265.
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(„iratusque est Cain vehementu et concidit vultus eius“, Gen 4,5). In den Mord verhüllt er seine schreckliche Scham. Schuld verhüllt Scham.3 Das Stigma, mit dem Gott ihn daraufhin schlägt, bezeichnet ihn und schützt ihn zugleich. In endloser Flucht, heimatlos auf der Erde, ist Kain nichts als das Zeichen seiner Tat: woraus Kain fliehen wollte, der Scham, wird in eine Flucht verwandelt, auf dass alle ihn eben darin erkennen. Dass Kain nicht sterben darf, ist die größere Strafe – denn in der tiefsten Scham, wie die Sprache sagt, wünscht man im Erdboden zu versinken. Auf der Erde aber vor aller Augen „rastlos und ruhelos“ (Gen 4,14) herumzuirren, stellt die schrecklichste aller Qualen dar. Dies ist die preisgegebenste aller Nacktheiten. Ihr gegenüber steht jene Nacktheit, die sich der Liebe vertraut – und Liebe heißt jenseits von Eden: zu hoffen, dass man nicht verraten wird. Dass Gott ein womöglich böser oder zorniger Gott ist (wie so viele alte Götter der Religionen) und das Leiden unverdient, dies macht die Schutzbedürftigkeit der ausgesetzten nackten Menschen so heillos. Auf der Linie des Christentums war darum ein neues Opfer notwendig: das Selbstopfer Jesu, dessen Körper am Kreuz alle Nacktheit symbolisch zusammenzieht, um gerade dadurch einen Schutz, einen Mantel um die beschämten, nackten und leidenden Menschenkinder zu legen. So trägt die Schutzmantel-Madonna christologische Züge. Jesus, so wird versprochen, soll als Christus das Kleid der sündigen Menschen sein. Denn sie verbergen ihre Nacktheit durch heillose Abwehrversuche, durch die Lüge, als dem großen Verhüllungsmechanismus der Sprache, und durch die Gewalt, in der sich die eigene Schwäche, Angst und Nacktheit verbirgt. Erst als vom Fleisch erlöste und im Endgericht angenommene Leiber, die nunmehr eine sublime, himmlische Substanz haben, werden wir, befreit von jeder Scham, die unser Erdendasein kennzeichnet, Gott „von Angesicht zu Angesicht“ sehen (1. Kor. 13, 12: „prósopon pròs prósopon, facie ad faciem“). In der Paradies-Geschichte wird eine zweite Genesis erzählt, diejenige nämlich des Menschen. Der Mensch wird erst jenseits von Eden. Erzählt wird die Geschichte traumatischer Bewusstwerdung: was ist es, Mensch zu sein? Es heißt zuerst, sich entblößt zu erfahren und damit angewiesen zu sein auf Verhüllung. Nichts als nackt zu sein, ist entweder bewusstlose Unschuld (dies ist kindlich) oder endlose Preisgabe wie die Kains (dies ist die äußerste Grenze des Mensch-Seins). Auf dieser Skala spielt das gesell-
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Diese Einsicht entwickeln zuerst: Bastian, Till, Hilgers, Isny u. Micha: „Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis“. In: Psyche 44 (1990), S. 1101– 1114.
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schaftliche Leben sein Spiel von Verhüllen und Enthüllen. In der biblischen Anthropologie wird das Verhüllen und Enthüllen als der kulturelle Grundmechanismus dargestellt. Er wird verbunden mit der physischen Nacktheit unseres Körpers, der zu seiner Grenze die Haut hat und die Haut als die Fläche seiner Scham. Jede Kleidung, jedes Haus, im weiteren Sinn: jede Institution und besonders die Ehre und die Sprache substituieren die Haut; sie sind zweite Haut, behalten jedoch ihre Doppelform: Schutz und Grenze, aber auch Fläche der Beschämung und Preisgabe zu sein. Aus der Nacktheit also gehen die Mechanismen des Verhüllens und Enthüllens hervor. Das Enthüllen ist darum so prekär, weil die primäre Angewiesenheit das Verhüllen ist.4 Hüllenlos, aber dennoch Leib zu sein, hieße sterben. Die Scham also, die uns unserer Nacktheit innewerden lässt, ist im tiefsten eine Ankündigung des Todes, d. h. absoluter Hüllenlosigkeit. Wir verstehen nun, warum die Hüllenlosigkeit, welche die christliche Religion erlösend in Aussicht stellt, nur um den Preis des Todes zu haben ist. Leben aber heißt, sich schämen zu müssen (man weiß nicht warum) und stets an Verhüllungen und immer besseren Verhüllungen zu arbeiten. Fällt die letzte Hülle, so ist der Tod da. Auf dem körperlichen Dasein beruhen die wichtigsten kulturellen Mechanismen. Die Nacktheit und die Scham sind es, welche das Verhüllen und Enthüllen hervorbringen und auf allen kulturellen Ebenen generieren. Wir bewohnen viele Kleider – und durch sie haben wir, neben den Momenten des Schutzes und der Augen öffnenden Ansicht nackter Wahrheit, auch viele Formen von Verhüllen und Enthüllen, von Täuschung und Maskierung, von Lüge und Gewalt, von Hintergehen und Verbergen, von Aufdeckung und Freilegung gelernt. Wir bewohnen viele Kleider – Sprache, Sitten, Häuser, Institutionen, Techniken, Wissensformen, Weltbilder.5 Könnte es sein, dass die Scham und ihre Abwehr nicht nur einen zentralen Antrieb kultureller Anstrengungen, sondern auch wesentliche Funktionen gesellschaftlicher Einrichtungen erklären? Wissen wir darüber so wenig, weil in einer Schamkultur die Scham zwar funktionieren soll, nicht aber das Sprechen darüber: denn wir schämen uns der Scham? Und wie steht es mit der Sprache? Mit den Zeichen? Könnte es sein, dass der leibliche Mechanismus von Verhüllen und Enthüllen sich der Sprache aufgeprägt hat? Ist die Sprache in ihrer Doppelheit, zu entbergen 4 5
Knigge, Volkhard: „Die Nackten: das Nackte: der Akt. Psychoanalytische Bemerkungen über Imaginäres und Symbolisches am Nackten“. In: Der nackte Mensch. Hg. v. Detlef Hoffmann. Marburg 1989, S. 100–117. Lehmann, Hans-Thies: „Das Welttheater der Scham“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 45 (1991), S. 824–839.
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und zu verbergen, ist das Zeichen, das zwischen der Maskierung und dem Bedeuten des Sachverhalts sein Spiel treibt, – sind also Sprache und Zeichen kultivierte Kleider unserer Nacktheit wie zugleich ihrer Enthüllung? Sind jene sprachtheologischen Traditionen, die sich auf die adamitische Namensprache berufen, in ihrem Versuch, im Wort das Wesen erscheinen zu lassen, nicht dem aussichtslosen Wunsch geschuldet, das Paradies wenigstens in der Sprache wiederherzustellen – jene wunderbare Nacktheit, in der wir schmerz- und anstrengungslos ins commercium der Wörter eingetaucht sind wie Adam in den allgemeinen Frieden der Wesen?
A LOIS H AHN
Scham, Geheimnis und Gedächtnis
Zumindest für die europäische Moderne lässt sich sagen, dass Scham im Gegensatz zu Schuld sich nicht nur auf deviantes Tun (u.U. einschließlich Unterlassungen oder ‚Gedankensünden‘), sondern auch auf deviantes ‚Sein‘ beziehen kann, z. B. auf Stigmata, die aus Gruppenzugehörigkeiten oder körperlichen Anomalien, Krankheiten usw. erwachsen. Die subjektive Empfindung von Scham setzt typischerweise voraus, dass die Scham auslösenden Sachverhalte sozial bekannt werden, wenn man davon absieht, dass manchmal auch schon die bloße Angst oder die Vorstellung, etwas könnte bekannt werden, Scham auslösen kann. Eine weitere Differenz der beiden Gefühle liegt in der interpersonalen Übertragbarkeit von Scham: Man kann sich für andere schämen. Trotzdem ist natürlich ein wesentlicher Anlass für Scham das bekannt werden von Schuld. In beiden Fällen ist deshalb eine besondere Affinität von Scham und Geheimnis evident. Geheimhaltung ist ein Generator der Schamvermeidung. Die gleiche Funktion kann das Vergessen haben. Gedächtnis ist deshalb ein zentrales Moment bei der sozialen und individuellen Schamverarbeitung. Institutionen wie das Beichtgeheimnis lassen sich deshalb auch interpretieren als Mechanismen zur Überwindung von Scham, wodurch Bekenntnisse von beschämender Schuld erst möglich werden. Außerdem sind soziale Kämpfe um öffentliches Gedächtnis auch zu verstehen als Kämpfe darum, wem legitim zugemutet werden kann, sich schämen zu müssen. In jedem Falle ist Scham ein sehr vielgestaltiges Phänomen, dem wir aber doch unterstellen, dass es sich um ein identisches Gefühl handelt, obwohl die Anlässe, bei denen es entsteht, die individuellen und kollektiven Reaktionen und die Formen, in denen es Ausdruck findet, es nicht leicht machen, das hinter allem stehende Gemeinsame zu benennen. So merkte schon Simmel an: Aber wenn wir den Namen der Scham den Gefühlen geben, mit denen so Divergentes uns übergießt wie eine leichte Derangierung des Anzugs und das Eingeständnis schwerster sittlicher Verfehlung, wie Lob und Ruhm, die uns
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entgegengebracht werden, und eine Taktlosigkeit, von einem ganz Fremden in unserer Gegenwart begangen – so spricht dennoch ein Instinkt dafür, dass diese Mannigfaltigkeit der Veranlassungen auf ihren psychischen Umsetzungen einen gemeinsamen Punkt erreicht, von dem an ein einheitliches Gefühl die Verschiedenheit der Ursprünge auslöscht.1
Statt aber gleich mit einer Definition aufzuwarten, die diese Einheit der Differenz benennt, will ich zunächst versuchen, mich anhand von einigen Beispielen, die ich dann erläutere, an die Lösung des Problems ‚heranzupirschen‘. Einige davon entspringen eigener Beobachtung, andere entnehme ich der Literatur.
1. Beispiel: Das verlorene Pornoheft Ein Lehrer verliert beim Herausholen von Akten auf einer Konferenz in Gegenwart seiner Kollegen ein Pornoheft. Er sieht, dass die anderen das gesehen haben und die anderen sehen, dass er gesehen hat, dass sie es gesehen haben. Der Lehrer errötet über das ganze Gesicht, steckt das Pornoheft wieder ein. Die anderen tun so, als hätten sie nichts gesehen. Einer der Beteiligten räuspert sich und setzt die Konferenz fort, als sei nichts geschehen. Dass der Lehrer Pornos anschaut, mag bereits an sich als Normverstoß angesehen werden. Aber solange er das geheim halten kann, kommt es nicht zur Schamszene. Erst die reflexive Wahrnehmung löst sie aus. Denn auch das unausgesprochene Wissen aller Beteiligten um die Tatbestände reicht nicht. Es bedarf der Evidenz durch die simultane reflexive Wahrnehmung. Im Beispiel wird zusätzlich deutlich, dass die Szene nicht nur für den Lehrer peinlich ist, sondern auch für die ganze Gruppe. Einige der Anwesenden schämen sich ebenfalls. Jedenfalls kommt es zu einer Störung der Interaktionsordnung.2 Die Beteiligten versuchen in unserem Beispiel gemeinsam, die Störung zu beheben. Der Scham korrespondiert in diesem Fall der Takt, also die kollektive Anstrengung zur Schonung des Selbstbildes des Lehrers durch wenn auch fingiertes Wegschauen. Sein Fehltritt wird behandelt, als habe er nicht stattgefunden. Im Anschluss daran, also vielleicht am nächsten Tag, wenn der Kollege nicht dabei ist, wird man womöglich über ihn 1 2
Simmel, Georg: „Zur Psychologie der Scham“ (1901). In: Ders.: Schriften zur Soziologie. Frankfurt a. M. 1983, S.140). Vgl. Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1986 (Orig.: Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face behavior, 1967), S. 106–150.
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klatschen. Aber der Klatsch ist, wie Jörg Bergmann das genannt hat, eine „diskrete Indiskretion“, weil sie immer nur Abwesende zum Ziel und Gegenstand hat.3 Die Peinlichkeit der Schamszene ergäbe sich auch nicht, wenn nicht eine spezifische Diskrepanz zwischen der Würde des Lehrers und damit verbundenen Ansprüchen und Erwartungen verbunden wäre. Eine Gruppe pubertierender Knaben z. B. könnte einander Pornobilder zeigen, ohne dass dabei Schamgefühle entstünden. Entsprechendes könnte entstehen, wenn Ansprüche auf Würdewahrung gar nicht mehr aufrechterhalten werden: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert.“ Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass Scham zwar in sozialen Situationen entsteht, aber primär einzelne Personen desavouiert und nicht nur ihr Bewusstsein tangiert, sondern eine unmittelbare körperliche Reaktion hervorruft, in diesem Falle das Erröten. Es gäbe allerdings auch eine andere Form der Schamverarbeitung für den Lehrer. Er könnte eine Art von ‚Vorwärtsverteidigung‘ versuchen, indem er einen account abliefert, eine gegen Scham immunisierende Erklärung. Etwa so: „Ach Gott, jetzt fällt mir das blöde Heft heraus. Das habe ich heute Morgen bei einem Schüler aus der 10. Klasse konfisziert. Es ist schon Besorgnis erregend, wie früh unsere Jugend mit derartigem Schmutz und Schund konfrontiert wird. Wir sollten uns ernsthaft überlegen, wie wir dieses Problem auch an unserer Schule pädagogisch bewältigen“. Unabhängig davon, ob die Kollegen diese Einbettung des Geschehens akzeptieren oder nicht, verwandelt der Betroffene sich von jemandem, der sich schämt und schämen muss, in einen verantwortungsbewussten Pädagogen, der gegen die Verderbnis der Sitten ankämpft. Sein Selbst bliebe vollständig unbeschädigt. Die Situation wäre eben dadurch gerettet. Dass der Lehrer selber aus Vergnügen Pornos liest, wäre beschämend, dass er voller Abscheu und Empörung solche Machwerke bekämpft, wäre mit seinem Idealselbst kompatibel. Freilich sind solche Selbstdarstellungen nicht ohne Risiko. Gerade der, der sich ein öffentliches Image als Ritter ohne Furcht und Tadel gegen Unmoral verschafft hat, muss bei eventueller Entlarvung mit besonders entschiedener Missbilligung, ja Schadenfreude rechnen. Der beschämende Gesichtsverlust ist für den Moralisten erheblich größer als für jemanden, der sich diesbezüglich bedeckt gehalten hat. Dass jemand als junger Mann in der Waffen-SS oder in der NSDAP war, wird man ihm eher verzeihen, wenn er sich nicht jahrzehntelang als Tugendbold inszeniert hätte.
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Bergmann, Jörg R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin, New York 1987.
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Wenn aber das bislang bestehende Geheimnis gelüftet wird, dann ist die Diskrepanz doppelt sichtbar. Tilmann Jens hat die Demenz seines Vaters als Flucht vor der Scham angesichts von Entlarvung durch Dokumente interpretiert. Das mag im konkreten Fall wahr oder völlig abwegig sein. Aber es behält eine verständliche Plausibilität. In jedem Falle zeigt sich, dass beschämende Tatsachen in der Gegenwart nicht nur dem lebendigen Gedächtnis von Handlungspartnern entspringen können, sondern auch den Zufällen, die sich unverhofften Lektüren von Archiven verdanken. Über lange Jahre unbestrittene Selbstdarstellungen werden durch Funde in Datenbeständen desavouiert, die eine Art materialisiertes Gedächtnis sind. Die Schuld von Leuten, die ihre Identität als öffentliches Gewissen der Nation aufgebaut haben, wird durch die Entblößung sicher nicht größer oder geringer, wohl aber die Beschämung. Hätte Petrus sich nicht als ganz besonders ergebener Jünger Jesu inszeniert, wäre wohl auch seine Beschämung nach dem dritten Schrei des Hahns nicht so massiv ausgefallen. Allerdings findet eine wirkliche Enthüllung im biblischen Beispiel ja nicht statt. Hier reicht wohl, dass Petrus sich vorstellt, er würde bei seinem Verrat gesehen. Reue und Scham manifestieren sich dort sozusagen uno actu. Dass Scham und Geheimnis zusammenhängen, wird hier unmittelbar sinnfällig, insofern als Geheimhaltung immer auch ein Mittel zur Schamvermeidung ist. Die Schamszene entsteht geradezu durch absichtliche oder unabsichtliche Aufdeckung, durch Enthüllungen, die jemanden gleichsam nackt dastehen lassen. Er verliert das Gesicht. Eine Funktion, die etwa das Beichtgeheimnis hat, besteht gerade darin, die Scham, die beim Aufdecken eigener Sünden entsteht, zu überwinden oder doch zu reduzieren. Die Attraktivität auswärtiger Beichtväter hängt offenbar damit zusammen, dass man den Zeugen der eigenen Selbstenthüllung nicht kennt und danach auch nicht mehr zu Gesicht bekommt. Spätere Begegnungen mit Menschen, die etwas Peinliches voneinander wissen, können nämlich die Erinnerung an Schamszenen nie völlig ignorieren. Man weiß dann voneinander, dass man etwas voneinander weiß. Es geht also beim Beichtgeheimnis darum, ein Bekenntnis zu ermöglichen, obwohl es Schamgefühle auslöst. Man könnte auch umgekehrt sagen: Es gibt bereits ein vorgängiges Schamgefühl, das uns im Normalfall hindert zu reden. Hier hätten wir es dann mit einer anderen Form von Scham zu tun als im obigen Beispiel. Hier ist Schamgefühl eine Art von zur Gewohnheit gewordener Vorsicht und Bedachtsamkeit, die zu vermeiden sucht, dass Szenen entstehen, in denen man sich schämen muss. Typischerweise entwickelt sich dieses Schamgefühl als Folge von Lernerfahrungen. Man erinnert sich einer Schamszene und versucht, sie in Zukunft nicht wieder eintreten zu lassen. Schließlich mögen die Ent-
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stehungsgeschichten, gleichsam Urszenen der Schamgenese, ganz vergessen sein. Was bleibt, ist ein habitualisiertes Gedächtnis, ein Gefühlskondensat, das zwar in der Vergangenheit entstanden ist, jetzt aber zur Vermeidung peinlicher Situationen anregt. Schamszenen ereignen sich eben dann, wenn äußere Umstände, psychische oder körperliche Schwächen oder soziale Herausforderungen dazu führen, dass es zu Ereignissen kommt, wo dieses vorgängige Schamgefühl nicht Herrin der Situation bleibt, überrumpelt wird und dann verletzt wird. Im Allgemeinen denkt man an bewusste Prozesse, wenn man von individuellem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung spricht. Häufig ist es jedoch so, dass es sich bei Gedächtnisleistungen darum handelt, dass bestimmte Lernerfahrungen gar nicht mehr bewusst sind, sondern gleichsam zum weitestgehend unbewussten Moment geistiger und vor allem auch körperlicher Prägungen geworden sind. Diese wirken vielfach gerade deshalb, weil man sich an die Situation, in der sie gelernt wurden, nicht mehr erinnert. Aber dieses Nicht-Erinnern darf nicht schlechterdings als Vergessen beschrieben werden. Vielmehr sind die hier in Rede stehenden Fähigkeiten gerade dadurch dem Vergessen entzogen, dass sie Komponenten von Gewohnheiten oder habituellen Dispositionen geworden sind. Man hat nicht nur vergessen, wie sie zustande gekommen sind, sondern auch – oft – dass man das vergessen hat. Mit diesem ‚Vergessensvergessen‘ verbindet sich oft eine enorme Widerständigkeit gegen Veränderungen aller Art.
2. Beispiel: der inkontinente Schüler Lassen Sie mich eine zweite Schamszene schildern. Sie spielt ebenfalls im Schulmilieu. Ein zehnjähriger Knabe hat Probleme mit der Kontrolle seiner Blase. Plötzlich passiert ihm im Unterricht das Malheur. Er macht sich in die Hosen. Einer der Mitschüler bemerkt das, weist mit dem Finger auf ihn und ruft ‚Iiih, der Franz hat in die Hosen gepinkelt‘. Bald steht eine ganze Gruppe von Mitschülern um Franz herum und verspottet ihn. Franz verbirgt vor Scham sein Gesicht mit den Händen, lehnt sich über den Tisch und weint. Die Lehrerin nimmt den Widerstrebenden in den Arm und sucht ihn zu trösten. Anschließend macht sie den Kameraden die Grausamkeit ihres Spottes klar und sagt, sie sollten sich schämen, so mit einem Mitschüler umzugehen, der doch nichts für seine Schwäche könne und auch ohne, dass er gehänselt werde, genug darunter leide. Den Jungen tut es wirklich leid, und einige scheinen sich auch ihrer Rohheit zu schämen.
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Auch hier entfaltet sich die Schamszene nur, weil Franz sein Missgeschick in der Öffentlichkeit der Klasse passiert. Die Klasse ist gewissermaßen die Bühne seiner Leiden. Er wird gesehen und sieht, dass er gesehen wird. Auch hier verbindet sich Scham mit unmittelbaren körperlichen Affekten. Es bleibt nicht beim Erröten, sondern es fließen Tränen. Franz fühlt sich gedemütigt. Eigentlich möchte er sich unsichtbar machen und der Szene entziehen. Klar ist, dass Franz nicht in irgendeinem Sinne ‚schuldig‘ ist. Er leidet unter einem Stigma im Sinne Goffmans, das ohne sein Wollen sichtbar wird und ihn bloßstellt.4 Die Reaktion der Kameraden sucht, anders als im ersten Beispiel, gerade nicht, die Situation zu retten, sondern verschärft sie durch Dramatisierung. Die Lehrerin reagiert moralisch und stellt nun ihrerseits das Verhalten der anderen Jungen als inakzeptabel dar und mahnt Reue und Scham an. Simmel hat analysiert, warum wir uns schämen, wenn wir in unpassenden Situationen nackt wahrgenommen werden. Seine Überlegungen lassen sich auch auf die Interpretation unserer Beispiele anwenden: In dem nächstliegenden Falle der Scham, der sich an körperliche Nacktheit knüpft, ist das Entscheidende die zugespitzte Aufmerksamkeit, die man auf sich gerichtet fühlt, und die gleichzeitige Entwürdigung. Jede Persönlichkeit ist von einer gewissen Sphäre von Reserve und Unnahbarkeit umgeben, deren Grenzen freilich nach den kulturellen und individuellen Umständen außerordentlich wechseln, in die jedes Eindringen aber – gleichviel ob damit ein objektives Gebot verletzt wird oder nicht – als ein Riß zwischen der Norm der Persönlichkeit und ihrer momentanen Verfassung empfunden wird. In unserer Kultur gehört ganz generell die unbekleidete körperliche Erscheinung zu dieser Sphäre, die nur unter besonderen Umständen einem anderen zugängig sein darf, ohne gleichsam das Ich von seiner Ganzheit und Unversehrtheit loszulösen. Will man das besonders Peinigende des Schamgefühls in abstrakten Begriffen auseinanderlegen, so scheint es in dem Hin- und Hergerissenwerden zwischen der Exaggeration des Ich, dadurch dass es ein Aufmerksamkeitszentrum ist, und der Herabsetzung zu bestehen, die es in seinem gleichzeitigen Manko gegenüber der vollständigen und normativen Idee seiner selbst fühlt.5
Das, was Franz passiert, ist eben diese Nicht-Anerkennung seiner Person. Goffman hat in anderem Zusammenhang davon gesprochen, (…) daß das Selbst zum Teil ein zeremonielles geheiligtes Objekt ist, das man mit angemessener ritueller Sorgfalt behandeln muß. Als Mittel zur Etablierung dieses Selbst benimmt sich das Individuum angemessen im Kontakt mit anderen und wird von ihnen mit Ehrerbietung behandelt. Man muß sich aber darüber
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Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1967 (Orig.: Stigma: notes on the management of spoiled identity, 1963). Simmel, Zur Psychologie der Scham, S.142).
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im klaren sein, daß der Boden dafür vorbereitet werden muß, dass dieses heilige Spiel stattfinden kann (…). Verhaltenspraktiken für Ehrerbietung und Benehmen müssen institutionalisiert werden, damit das Individuum befähigt wird, ein lebensfähiges und geheiligtes Selbst zu entwerfen, und in dem Spiel eine angemessene Grundlage hat.6
Franz ist in unserem Beispiel plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit aller. Seine momentane Position entspricht aber nicht der, die zu einer würdigen Selbstdarstellung passen würde. „Denn er empfindet jetzt seine ganze Persönlichkeit mit allem Inhalt (…) in die Aufmerksamkeit des Begegnenden gerückt, und zugleich, daß sein momentanes Ich, gegen diese Vorstellung gehalten, verringert und herabgesetzt ist.“ 7 Die ‚Heiligkeit‘ seiner Person wird damit profaniert. Die Knaben haben eben noch nicht jene rituelle Kompetenz, die gerade darin bestünde, das Image ihres Kameraden zu schonen. Sie haben die oben erwähnte Kompetenz zu taktvollem Verhalten noch nicht in ihr habituelles Gedächtnis eintragen können. Darin sind sie in einer anderen Lage als ihre Lehrerin. Bei ihr sind die Verhaltenspraktiken für Benehmen und Ehrerbietung verinnerlicht und institutionalisiert. Für die Kinder beginnt dieser Prozess oder er wird jedenfalls mit dieser Situation fortgesetzt. Sie werden sich vielleicht dieses traumatischen Erlebnisses auch später wieder erinnern. Vielleicht werden sie es auch verdrängen. Aber sie werden sich (so hofft die Lehrerin) in Zukunft schämen, auf menschliche Schwächen wie im zitierten Beispiel zu reagieren. Zur Erhaltung der ‚Würde‘ gehören die zur jeweils präsentierten Identität passenden Kompetenzen und Requisiten, über die wir spontan verfügen müssen oder die wir jedenfalls glaubhaft inszenieren können sollten. Einer der wichtigsten möglichen Störenfriede für eine überzeugende Darstellung unserer selbst ist immer unser Körper, der oft nicht so ‚will‘, wie wir wollen. Er verweigert sich und macht unseren ‚Auftritt‘ zunichte. Von der Impotenz des feurigen Liebhabers in der Liebesnacht, über das plötzliche Stottern oder das Vergessen von Namen bis zu peinlichen Versprechern oder ähnlichen Freudschen Fehlleistungen reicht die lange Liste schamauslösender ‚Aussetzer‘ und Fehltritte. Der Körper plaudert dann etwas aus, was er geheim halten sollte. Das soziale Arrangement für Schamvermeidung sieht deshalb immer auch Rückzugsräume vor, in denen der Körper temporär aus dem Spiel genommen und der Beobachtung entzogen werden kann, um dann, neu präpariert, aus der Kulisse wieder zum Einsatz auf der Bühne zu kommen.
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Goffman, Interaktionsrituale, S.100f. Simmel, Zur Psychologie der Scham, S.143.
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Norbert Elias hat am Beispiel der historischen Entwicklung der Schamgefühle in Europa gezeigt, dass das Niveau der Erwartungen insbesondere in Bezug auf die Gelehrigkeit des Körpers seit dem 16. Jahrhundert enorm gestiegen ist.8 Gerade die Bedeutung der Kontrolle der Körperausscheidungen und der Hygiene für die Aufrechterhaltung der rituellen Unversehrtheit des Selbst wird man gar nicht unterschätzen können. Das zeigt sich organisatorisch auch daran, dass die nun schambesetzten Vorgänge auch architektonisch immer neue Bereitstellung von Kulissen erfordern. Gleichmann hat das etwa für den hygienischen Umgang mit Fäkalien gezeigt.9 Und die Omnipräsenz und permanente Nähe von restrooms wäre nur ein Beispiel dafür. Dignität setzt neue Dispositive (im Sinne Foucaults) voraus, in denen sich toilet training und die präsente Nähe von Toiletten entsprechen müssen. Aber nicht nur man selbst ist eine ständige Gefahr für die eigene Würde. Auch die anderen sind diesbezüglich riskant oder bedrohlich, indem sie uns z. B. öffentlich mit nicht in die Selbstdarstellung passenden Enthüllungen konfrontieren und statt zu kooperieren sabotieren. Nicht nur das Publikum, sondern auch die Mitspieler sind immer wieder Risiken oder Gefahren für die Sicherung unseres eigenen Images. Dabei müssen sie nicht einmal boshaft sein. Vielfach reicht Ungeschick oder die ‚Tücke des Objekts‘. Wohl dem, der ‚keine Narbe hat‘ und wenn doch, über ein großes Repertoire an taktischen oder strategischen Mitteln verfügt, um auftretende Störungen blitzschnell durch rettende Interpretationen, Ablenkungsmanöver und raffinierte Fiktionen zu entschärfen vermag. Diese Kompetenzen besitzt man in der Regel nicht von Natur. Sie sind hochkomplexer Habitus bedürftig, die auf einem inkorporierten Gedächtnis zur Bewältigung peinlicher Situationen beruht, das entweder alle Beteiligte oder doch wenigstens die eigenen Verbündeten vor Beschämung bewahrt, nicht selten gelingt das freilich nur dadurch, dass man selbst nur den Kopf aus der Schlinge ziehen kann, indem man andere belastet. „Haltet den Dieb“, ruft dann der Dieb.
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Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M., 8. Aufl. 1982, S. 312–454. Gleichmann, Peter R.: „Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen“. In: Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Hg. von Peter Gleichmann, Johan Goudsblom u. Hermann Korte. Frankfurt a. M. 1979, S. 254–278.
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3. Beispiel: Die beschämte irische Kirche Die FAZ vom 22.5.2009 berichtet: In Irland sind über Jahrzehnte hinweg Tausende Kinder in kirchlich geführten Kinderheimen und Erziehungsanstalten für Waisen sexuell und gewalttätig missbraucht worden. Zu diesem Schluss ist eine unabhängige Kommission zur Untersuchung des Missbrauchs gekommen, die in zehn Jahre dauernden Ermittlungen mehr als 1700 Zeugen anhörte und Vorfällen in den überwiegend von Orden der katholischen Kirche geleiteten Institutionen systematisch nachging (….). Die Repräsentanten der katholischen Kirche in Irland reagierten mit Entschuldigungsworten. Der irische Kardinal Brady sagte, er sei ‚tief beschämt‘ darüber, dass ‚Kinder auf solche abscheuliche Weise leiden mussten (…)‘. Die Kommission zur Aufklärung des Kindesmissbrauchs (…) stellt (…) fest, (…) die Kongregationen, die diese Anstalten führten, hätten Missbrauchsfälle vertuscht und Pädophilie lieber an andere Einrichtungen innerhalb ihrer Orden weitergegeben, als die Fälle zur Anzeige zu bringen.10
Der Kardinal gibt hier zu Protokoll, er sei beschämt. Hier handelt es sich nicht wie in unseren ersten Beispielen um eine Interaktionssituation. Der beschämte geistliche Würdenträger war auch nicht selbst Verursacher oder auch nur Zeuge der beschämenden Vorfälle. Er schämt sich als Repräsentant, der öffentlich an etwas erinnert wird, was vorher von Mitgliedern seiner Institution vertuscht wurde. Scham bezieht sich hier also zunächst nicht auf eine aktuelle Verletzung der rituellen Würde des sich Schämenden. Das Eigentümliche des Schamgefühls ist, dass man sich auch für andere schämen kann und bisweilen muss. Diese Pflicht ergibt sich typischerweise durch Zugehörigkeit zu Institutionen, Gruppen usw. Auch hier ist allerdings wie in den anderen Beispielen die Scham an Enthüllung von Geheimnissen geknüpft. Solange man nicht öffentlich mit den Tatsachen konfrontiert wurde, entfiel auch die Scham. An die Stelle der reflexiven Wahrnehmung ist hier die Kommunikation über die Presse getreten. Massenmedien haben hier eine ähnliche Funktion. Man ‚sieht sich‘ durch Medienenthüllungen entblößt. Hier ist es nicht die eigene Erinnerung an Schuld, die zur Reue führt, sondern die Identifizierung mit Kollektiven, die im kollektiven Gedächtnis als Schuldige entlarvt werden. In Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine berühmte Formulierung von Theodor Heuss eine vergleichbare Rolle gespielt. Er hatte, um sich gegen die Annahme einer Kollektivschuld aller Deutschen zur Wehr zu setzen, von der Kollektivscham gesprochen, zu der alle Deutschen angesichts der
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„Irische Kirche ‚tief beschämt‘. Untersuchung über Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen vorgelegt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.5.2009, S.6.
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Gräuel und Verbrechen Nazideutschlands verpflichtet seien. Man sieht an diesen Beispielen, dass Schuld – eigene nicht und erst recht nicht fremde – als solche nicht unbedingt zu Scham führen muss, selbst dann nicht, wenn man sich sehr wohl an sie erinnert. Aber solange sie geheim gehalten werden kann, muss man sich u. U. nicht schämen. Bekannt gewordene Schuld allerdings macht zumindest Schambekenntnisse unumgänglich. In einem übertragenen Sinne gilt auch hier, was Simmel über die Scham dessen sagt, der sieht, dass er öffentlich als Nackter sichtbar ist. Die Differenz zwischen seiner öffentlichen Persona, so wie sie erinnert wird, und den Selbstdarstellungen, denen sie widerspricht, produziert „(…) einen Abstand zwischen einer unvollkommenen Wirklichkeit und einer ideell vorhandenen normierenden Ganzheit“,11 die Scham erzeugt, zumindest deren öffentliche Bekundung. Bei Simmel war dabei aber an Interaktion gedacht. Hier aber wird Scham ein Moment politischen Kampfes um Glaubwürdigkeit von Institutionen. Gerade unter Bedingungen der medial geführten Auseinandersetzung um Einfluss und Macht wächst damit der Enthüllung von Geheimnissen als Instrument der Beschämung von Gegnern eine ganz neue und dramatische Funktion zu.
4. Beispiel: Der Selbstmord aus Scham Im Januar 2009 nahm sich der schwäbische Unternehmer Merckle das Leben. Er hatte sich beim Kauf von VW-Aktien verspekuliert und Milliarden Verluste kassiert. Dazu schreibt die Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt vom 12.1.2009: Weil Merckle beim Land Baden-Württemberg um eine Bürgschaft für einen Kredit nachsuchte, sah sich der Industrielle, Herr über mehr als 100 Firmen, plötzlich als glückloser Zocker belacht und öffentlich mit ‚Florida-Rolf‘ verglichen, jenem Schmarotzertypus, der den Staat feixend ausnutzt. Der 74-Jährige war auf dem Weg vom hoch angesehenen und überall willkommenen Helden zum gejagten Schuldner, dessen Lebenswerk zerfällt. Ein solider Mittelständler sei größenwahnsinnig geworden, hieß es. Ohne Erfolg wurde Adolf Merckle zum Paria. Das Scheitern des Milliardärs, der auch nach seinem Scheitern reich geblieben wäre, sei daher exemplarisch zu nennen, meint der Schriftsteller Burkhard Spinnen: Merckle war der klassische Typus des schwäbischen Unternehmers, bei dem Privatleben und Beruf untrennbar miteinander verbunden waren. Er stellte sich und sein Leben ganz und gar in den Dienst der ökonomischen Sache – und verwirkte sein Leben, als diese Sache scheiterte. Das ist es, was am Tod von Adolf Merckle so anrührt. In anachronistischer Manier hat er sich
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Simmel, Zur Psychologie der Scham, S.148.
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hinweggesetzt über die moderne Errungenschaft, dass wir selbst nach schwerem Versagen weiterleben können. Anders als bei den Offizieren älterer Armeen sollte die individuelle Schuld, die Scham gegenüber der Gesellschaft, nicht mehr so schwer wiegen, dass sie zum Selbstmord treibt. Merckle sah das anders.12
Durkheim hat diesen Typ von Selbstmord in seinem berühmten Buch als „suicide altruiste“ bezeichnet.13 Nicht Schuld als solche führt zu ihm, sondern Gesichtsverlust. Scham wird zur Selbstmordursache. Gerade weil man sich mit der Gruppe, in der man lebt, zutiefst integriert weiß, führt oft schon die kleinste Abweichung des bekannt gewordenen Verhaltens von der öffentlich inszenierten Identität zu unerträglicher Scham. Durkheim hatte diesen Typus vor allem mit der Struktur von archaischen Gesellschaften in Verbindung gebracht. In seiner eigenen gesellschaftlichen Umgebung sah er hauptsächlich das Militär als letzte Bastion dieser Einstellung, die sich dort auch statistisch belegen ließ. Seinem österreichischen Zeitgenossen Schnitzler verdanken wir gerade auch aus der Welt des Militärs literarische Belege für die Theorie. Gesichtsverlust und Scham als Selbstmordmotiv. Ich werde mich auf zwei der zahlreichen Belege beschränken: Schnitzlers Leutnant Gustl und sein Fräulein Else. Im Konzert gerät der Leutnant mit einem Bäckermeister in ein Gedränge. Der Bäckermeister ergreift den Griff des Degens und sagt: „Herr Leutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech’ ihn und schick’ die Stück’ an Ihr Regimentskommando. Versteh’n Sie mich, Sie dummer Bub?“14 Dann fügt der Bäckermeister hinzu: Aber ich will Ihnen die Karriere nicht verderben … Also, schön brav sein! (…) So, hab’n sie keine Angst, ’s hat niemand was gehört … es ist schon alles gut … so! Und damit keiner glaubt, daß wir uns gestritten haben, wird’ ich jetzt wieder freundlich mit Ihnen sein! – Habe die Ehre, Herr Leutnant, hat mich sehr gefreut – habe die Ehre.“15
Der Leutnant ist dadurch objektiv entehrt. Den Bäckermeister kann er auch nicht zum Duell fordern wie einen Standesgenossen. Gustl wird sich erschießen müssen; denn wenn jemand diese Szene mitbekommen hätte oder der Bäckermeister sie ausplauderte, wäre der Leutnant nicht 12 13 14 15
Crolly, Hannelore: Warum uns der Selbstmord von Adolf Merckle rührt, 2009. www.welt. de/wirtschaft/article3013521/Warum-uns-der-Selbstmord-von-Adolf-Merckle-ruehrt. html Durkheim, Émile: Der Selbstmord. Übers. von Sebastian und Hanne Herkommer. Frankfurt a. M. 1983. Schnitzler, Arthur: „Leutnant Gustl.“ In: Ders.: Leutnant Gustl. Erzählungen 1892–1907. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. Mit einem Nachwort von Michael Scheffel. Frankfurt a. M. 2004, S. 342. Ebd., S. 344.
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mehr satisfaktionsfähig. Er könnte sich im Regiment nicht mehr sehen lassen. Der Selbstmord ist also die einzige Möglichkeit zu verhindern, sich schämen zu müssen. Solange die Sache freilich nicht rauskommt, besteht auch kein Grund zur Scham. Zum Glück für den Leutnant trifft den Bäckermeister Habetswallner noch in der Nacht der Schlag, und er stirbt. Der Leutnant muss sich also weder schämen noch umbringen. Schließlich gibt es niemand, der darüber berichten könnte. Die Diskrepanz zwischen Image und Wirklichkeit wird nicht sichtbar. Ganz anders ist die Lage in Schnitzlers Fräulein Else. Ihr Vater hat Mündelgelder veruntreut und wird sich aus verlorener Ehre erschießen müssen, wenn er nicht eine Million Zuschuss von einem reichen Bekannten bekommt. Else soll um das Geld bitten. Von Dorsfeld, so heißt der Gentleman, ist aber nur dazu bereit, wenn Else sich ihm nackt zeigt, wobei er diskret eine Situation vorschlägt, wo nur er sie nackt sieht. Else aber schämt sich mehr, von ihm allein nackt gesehen zu sehen als vor allen Gästen des Berghotels. Sie zeigt sich ihm also nackt vor allen Leuten, kann die Schande nicht ertragen und nimmt aus Scham eine Überdosis Veronal. Natürlich würde die schamtheoretische Analyse dieser und anderer Schnitzlersche Texte uns ins Herz der Problematik führen. Aber dazu reicht hier der Raum nicht aus. Daher bleibt als einziges Mittel zur Schamvermeidung die Aposiopese.
Literaturverzeichnis Bergmann, Jörg R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin, New York 1987. Crolly, Hannelore: Warum uns der Selbstmord von Adolf Merckle rührt, 2009. www. welt.de/wirtschaft/article3013521/Warum-uns-der-Selbstmord-von-AdolfMerckle-ruehrt.html Durkheim, Émile: Der Selbstmord. Übers. von Sebastian und Hanne Herkommer. Frankfurt a. M. 1983. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M., 8. Aufl. 1982, S. 312–454. Gleichmann, Peter R.: „Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen“. In: Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Hg. von Peter Gleichmann, Johan Goudsblom u. Hermann Korte. Frankfurt a. M. 1979, S. 254–278. Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1986 (Orig.: Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face behavior, 1967), S. 106–150. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1967 (Orig.: Stigma: notes on the management of spoiled identity, 1963).
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„Irische Kirche ‚tief beschämt‘. Untersuchung über Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen vorgelegt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.5.2009, S.6. Schnitzler, Arthur: „Leutnant Gustl.“ In: Ders.: Leutnant Gustl. Erzählungen 1892– 1907. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. Mit einem Nachwort von Michael Scheffel. Frankfurt a. M. 2004, S. 342. Simmel, Georg: „Zur Psychologie der Scham“ (1901). In: Ders.: Schriften zur Soziologie. Frankfurt a. M. 1983.
STUDIEN
GERD A LTHOFF
Kulturen der Ehre – Kulturen der Scham Historiker stehen bisher ziemlich am Rande, wenn in kulturwissenschaftlichen Diskursen über das Thema Scham und Schamlosigkeit gehandelt wird.1 Schon ein kurzer Blick in diese Diskurse zwingt einen Historiker, freiwillig die Scham über das Wenige, das Historiker auf diesem Felde anzubieten haben, einzugestehen. Um dann in einem Akt tätiger Reue zu versuchen, daran zumindest ein bisschen zu ändern. Bereits an diesem Bekenntnis von Scham und Bereitschaft zu tätiger Reue wird aber ein Grundproblem fassbar, dass mich vorrangig beschäftigen wird. Man muss auf die Authentizität und Intensität meiner Scham und Reue mittels der verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen schließen, mit denen ich beides für mich reklamiere. Selbst wenn man mich gut kennt, oder zu kennen glaubt, bleibt aber ein ziemlicher Rest an Unsicherheit, da man nicht wissen kann, in welchem Ausmaß und in welche Richtung ich von der Technik der dissimulatio Gebrauch mache. Es mag sein, dass ich über- oder untertreibe, verschleiere oder vortäusche.2
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Vgl. u. a. Bohn, Caroline: Die soziale Dimension der Einsamkeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Scham, Hamburg 2008. Engelen, Eva-Maria: „Eine kurze Geschichte von ‚Zorn‘ und ‚Scham‘. In: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008), S. 41−73. Gvozdeva, Katja u. Werner Röcke (Hgg.): Risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, Frankfurt a. M. u. a. 2008. Röcke, Werner u. Hans Rudolf Velten (Hgg.): Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005. Bachorski, Hans-Jürgen u. a.: „Performativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit“. In: Paragrana 10 (2001), H. 1, S. 157−190. Neumann, Helga u. Werner Röcke (Hgg.): Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und früher Neuzeit, Paderborn u. a. 1999. Röcke, Werner: „Inszenierungen des Lachens in Literatur und Kultur des Mittelalters“. In: Paragrana 7 (1998), H. 1, S. 73–93 [Texte beziehen sich nicht auf Scham]. Kühn, Rolf u. a. (Hgg.): Scham − ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven, Opladen 1997. Neckel, Sighard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt a. M., New York 1991. Zum Phänomen der dissimulatio vgl. allg. Zagorin Perez: Ways of Lying: Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe, Cambridge 1990.
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Diese Unsicherheit gilt bei meinen folgenden Bemühungen aber potenziert, denn ich verfüge nur über die Beschreibungen der Ausdrucksformen von Scham, die im Mittelalter in aller Regel von Dritten niedergeschrieben wurden. Überdies ist mir ihre Lebenswelt viel fremder. Es braucht aber viel Vertrautheit mit den Rahmenbedingungen und Spielräumen einer Kultur, um die Botschaften dieser Ausdrucksformen zu entziffern, denn das Verhältnis der Ausdrucksformen zu dem, was sie auszudrücken vorgeben, ist ein durchaus kompliziertes. Darum aber soll es im Folgenden gehen. Aber auf einem Umweg. Den Zugang zum Thema dieses Bandes habe ich mir auf dem Umweg über das Phänomen der Ehre zu bahnen versucht, das bei Historikern wie in anderen mediävistischen Disziplinen seit längerem – und zu Recht – viel behandelt worden ist.3 Die Ehre, der honor einer Person bestimmte im Mittelalter und darüber hinaus Verhalten in sehr dominanter Weise. Weite Teile dieses Verhaltens waren davon geprägt, den honor zu wahren, ihn zu vermehren und Angriffe auf diesen honor abzuwehren. Viel Zeit wurde darauf verwendet, honorifice aufzutreten und sich wechselseitig honorifice zu behandeln – und dies vor allem in der Öffentlichkeit.4 Solche Ehrerweise waren – was für uns ganz wichtig wird − keine Akte der Höflichkeit, die in das Belieben der Akteure gestellt gewesen wären, vielmehr gab es einen relativ genau bemessenen Anspruch auf Ehre, der nur einen schmalen Korridor für individuelles Verhalten ließ. Und dieser Anspruch wurde notfalls mit allen Mitteln durchgesetzt. Solche wechselseitigen Ehrerweisungen waren auf Hoftagen so unvermeidbar, dass sich dort niemand aufhalten konnte, der im Dissens mit anderen lebte. Das Nichterscheinen oder Abreisen war das einzige und häufig benutzte Mittel, sich dem Zwang zu entziehen, das Verhältnis zu Anderen offen zu legen. Diesem Zweck der Ehrung dienten Rituale der Begrüßung und des Abschieds, Ehre wurde erwiesen in Ritualen des Gabentausches, mit der Platzierung an der Tafel an ehrenvoller Stelle, und mit einer Fülle von anderen Ehr- und Hulderweisen, die vor allem in symbolischen Formen gegeben wurden. In der historischen Überlieferung nachweisen lässt
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Vgl. dazu allg. Vogt, Ludgera: Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1997. Vogt, Ludgera u. Arnold Zingerle: Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a. M. 1994. Görich, Knut: Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001. Vgl. dazu allg. Althoff, Gerd (Hg.): Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter. (Vorträge und Forschungen 51), Sigmaringen 2001. Weitere Literatur bei Patzold, Steffen: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfi ldern 2008, S. 570−633.
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sich dies vorrangig an den Interaktionen der Führungsschichten, weshalb ich mich im Folgenden auf sie konzentriere. Literarische Überlieferung begründet und vertieft unser Wissen auf diesem Gebiet in vielfältiger Weise.5 Die Ehre einer Person setzte sich aus Vorzügen und Fähigkeiten zusammen, die ganz verschiedenen Bereichen zuzuordnen sind: Herkunft und Geblüt bestimmten sie ebenso wie persönliche Eigenschaften, seien es Tapferkeit und kriegerische Fähigkeiten oder auch Gelehrsamkeit und Beredsamkeit. Ämter, Lehen und Reichtum spielten ebenso eine Rolle wie Netzwerke und Verbindungen. Aus der Summe solcher honores resultierte im Mittelalter aber der Rang einer Person – und von diesem Rang hingen so gut wie alle Möglichkeiten der Einflussnahme und politischen Wirksamkeit ab. Das war jedoch erst das Ergebnis einer Entwicklung, in der den Königen als Spitzen der Rangordnung zunehmend die Möglichkeiten genommen wurden, diese Rangordnung nach ihrem Gutdünken zu gestalten. An die Stelle königlicher Huld als entscheidendem Faktor bei der Etablierung einer Rangordnung trat der vererbbare Anspruch auf Eintritt in den Rang des Vaters oder des Amtsvorgängers.6 Versuche der Stabilisierung wie der Veränderung dieser Rangordnung aber waren häufige Konfliktursachen. Man kann auch formulieren, ein hoher Prozentsatz mittelalterlicher Konflikte waren Ehrkonflikte, weil jede vermeintliche Benachteiligung, Nichtberücksichtigung und Zurücksetzung als Angriff auf den honor aufgefasst wurde. Für die Kommunikation in dieser nach Rang geordneten Gesellschaft, von der ich exemplarisch im Folgenden den Herrschaftsverband um den König näher in Augenschein nehmen will, existierten nun eine Fülle von Regeln, die trotz der sensiblen und konfliktträchtigen Ehrvorstellungen ein friedliches und reibungsloses Zusammenleben ermöglichen sollten.7 Diese Normen und Regeln waren allerdings nicht schriftlich fixiert, sondern lebten als Vorstellungen von den ‚Gewohnheiten‘ in den Köpfen der Beteiligten. Natürlich hatten dabei nicht alle die gleichen Vorstellungen darüber, was ihnen auf Grund der
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Vgl. dazu den Beitrag von Jan-Dirk Müller in diesem Band mit weiteren Hinweisen. Vgl. dazu Fichtenau, Heinrich: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München 21992, dort insbes. das Kapitel: ‚Ordnung als Rangordnung‘, S. 11−47. Die speziellen Möglichkeiten eines Individuums, seinen Platz in der Rangordnung durch Leistungen unterschiedlicher Art zu verbessern betont jetzt zu Recht Patzold, Steffen: „Individuum und Politik im Mittelalter“. Vortrag Münster 2010. Vgl. dazu bereits Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997; weitergeführt jetzt in Garnier, Claudia u. Hermann Kamp (Hgg.): Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, Darmstadt 2010.
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Gewohnheiten an Rechten im weitesten Sinne zustand. In Beratungen wurde vielmehr im Bedarfsfall festgestellt, welche Norm oder Regel für ein anstehendes Problem anzuwenden sei.8 Hierbei kam es häufig zur Erfindung von Gewohnheiten auf dem Wege der Analogiebildung, die man gerne den Ranghöchsten und Ältesten überließ. Das genauer zu erläutern wäre jedoch ein anderes Thema. Für uns ist wichtiger, dass diese Gewohnheiten auch ohne schriftliche Fixierung mit hohem Geltungsanspruch ausgestattet waren, und das traf insbesondere für diejenigen unter ihnen zu, die Fragen der Ehre berührten. Verstöße gegen Normen auf diesem Gebiet zogen gravierende Folgen nach sich. Verletzungen der Ehre verlangten Rache oder zumindest Wiedergutmachung der Ehrverletzung (satisfactio).9 Ehe man einen Präzedenzfall akzeptierte, der Konsequenzen für Rang und Ehre hatte, riskierte man daher lieber einen bewaffneten Konflikt. Andererseits schuf das Bestreben aller, im Range aufzusteigen, natürlich ein Klima, das Provokationen und Ehrverletzungen begünstigte, da man nur auf Kosten anderer aufsteigen konnte.10 Welchen Stellenwert hatte nun aber in dieser ehrfixierten Gesellschaft, die ich hier ganz knapp zu skizzieren versucht habe, die Scham, die man neben anderem ja als ein Eingeständnis verstehen kann, versehentlich, unwillentlich, aus Unachtsamkeit, aus Schwäche oder aus falscher Lagebeurteilung einen Normverstoß begangen zu haben, den man gerne ungeschehen machen würde? Oder anders formuliert: Wie viel öffentlich sichtbare Scham erlaubt oder verträgt eigentlich die Ehre eines Mitglieds der mittelalterlichen Eliten? Ist es mit dem Selbstverständnis eines Adligen oder Kriegers überhaupt vereinbar, Scham zu zeigen? In der historischen Forschung findet man auf solche Fragen wenig Antworten.
8 Vgl. dazu allg. Hannig, Jürgen: Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses zwischen Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27), Stuttgart 1982; jetzt Pilch, Martin: Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien 2009. Schneidmüller, Bernd: „Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter.“ In: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Hg. v. Paul-Joachim Heinig u. a. (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 53–87. Patzold, Steffen: „Normen im Buch. Überlegungen zu Geltungsansprüchen so genannter ‚Kapitularien‘“. In: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 331−350. 9 Vgl. dazu bereits Althoff, Gerd: „Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter“. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. v. Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 247−265. 10 Vgl. dazu Schreiner, Klaus u. Gerd Schwerhoff (Hgg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Norm und Struktur 5), Köln 1995.
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Um solche Fragen jedoch zu beantworten, ist die Erinnerung an Probleme hilfreich, die bereits auf dem Felde der historischen Emotionsforschung diskutiert worden sind.11 Die dort aufgeworfenen Fragen sind nämlich auch für die Suche nach Erscheinungsformen von Scham wichtig. Der Zusammenhang von Scham und Emotion sei daher angesprochen, soweit er für meine folgenden Überlegungen relevant wird. Wenn ich es richtig sehe, wird die Scham in den modernen Wissenschaften im Wesentlichen als ein Gefühl eingeschätzt, das den Menschen überfällt, ihn ergreift und das nur in Maßen kontrollierbar ist. Die spezifische Leiblichkeit der Scham löst eine Blockierung und Passivierung aus, man möchte in den Boden versinken, senkt den Blick, weil man den der Anderen nicht aushält, ist unfähig zu sprechen usw.12 Es handelt sich um eine besonders krasse Form von Verlegenheit in einer als besonders peinlich empfundenen Situation. So überfallartig die Scham kommt, so schnell vergeht sie allerdings auch. Im Unterschied zu Schuldgefühlen kann man Schamgefühle nur schwer dauerhaft entwickeln. All dies und einiges Andere spricht dafür, dass wir es bei der Scham mit einem Gefühl zu tun haben, das vielen Anforderungen an Authentizität und Echtheit gerecht wird. Die Frage nach der Authentizität von Gefühlsäußerungen mittelalterlicher Menschen ist aber deshalb ein Problem, weil man bemerkt hat, dass sie die Windstärke ihrer Emotionen in vielen Situationen an anderen Kriterien ausrichten als an Fragen der Echtheit. Sie nutzten vielmehr gerade in vielen rituellen Kommunikationssituationen Emotionen als Zeichen, die Eindeutigkeit herstellten und so nicht zuletzt den Verpflichtungsgrad des zum Ausdruck Gebrachten erhöhten.13 Wer mit großer emotionaler Intensität, etwa unter Tränen, seine Vergehen bekannt und sein Tun bedauert hatte, war naturgemäß stark an diese Aussage gebunden, ebenso derjenige, der mit großer Freude und Jubel sein Einverständnis mit einer Entscheidung öffentlich kundgetan hatte.
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Vgl. dazu den breiten Literaturüberblick von Schnell, Rüdiger: „Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung“. In: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173−276; jüngst Rosenwein, Barbara H.: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006. Vgl. dazu Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchung zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999. Vgl. dazu Althoff, Gerd: „Empörung, Tränen, Zerknirschung. ‚Emotionen‘ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“. In: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S. 60−79; wieder in: Althoff: Spielregeln, S. 258−281. Althoff, Gerd: „Tränen und Freude. Was interessiert Mittelalter – Historiker an Emotionen?“ In: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 1−11.
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Gerade in Ritualen hat man mit anderen Worten Emotionen aufgeführt oder inszeniert und so den Verpflichtungsgrad der getätigten rituellen Aussagen erhöht. Das tat man keinesfalls immer freiwillig, sondern man willigte in diese Form der dissimulatio ein, weil nur so schlimmere Konsequenzen vermieden werden konnten. Es handelte sich um eine „inszenierte Freiwilligkeit“, die deutlich menschenverachtende Züge haben konnte, indem sie den Zwang und die Drohungen, auf denen das Mittun beruhte, vollständig verbarg.14 Über die wirklichen, echten Gefühle derjenigen, die so agierten und agieren mussten, sagen solche Ausdrucksformen also nichts aus. Es zählte nicht das, was die Akteure empfanden, sondern das, was sie zeigten. Daher fragt sich wohl, ob es auch Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Scham und ihre Ausdrucksformen in ähnlicher Weise Verwendung in Ritualen fanden wie andere Emotionen und deren Ausdrucksformen: ob sie also in ähnlicher Weise aufgeführt wurde wie andere Emotionen, um die Selbstdistanzierung von früherem Verhalten sichtbar zu machen. Dies ist meines Erachtens in der Tat der Fall. Und es dürfte kein Zufall sein, dass Ausdrucksformen, die wir als solche der Scham auffassen dürfen, gerade in den Ritualen auftauchen, die der Wiederherstellung verletzter Ehre dienten. Diese Wiederherstellung der Ehre einer Konfliktpartei geschah nämlich in vielen Fällen gütlicher Konfliktbeilegung dadurch, dass die andere Partei öffentlich Scham über ihr früheres Verhalten zeigte. Am Ende von Konflikten finden wir in allen Jahrhunderten des Mittelalters Rituale, die dem Leitgedanken der Genugtuung, der satisfactio, verpflichtet waren. Ausgeglichen wurde der materielle wie immaterielle Schaden, der im Konflikt entstanden war, vor allem dadurch, dass man durch symbolische Handlungen sich vor dem Anderen erniedrigte und so dessen verletzte Ehre wiederherstellte. Verantwortlich für diesen Ausgleich waren Vermittler, die die Formen des Ausgleichs mit den Parteien absprachen, die Parteien auf eine bestimmte Form des Ausgleichs verpflichteten und die Einhaltung dieser Verpflichtung im Ritual überwachten.15 Für diesen Ausgleich gab es sehr eindeutige Regeln, die beiden Konfliktparteien sehr spezifische Rollen zuwiesen. Diese Rollen orientierten sich erstaunlicherweise weder an der jeweiligen Schuld am Ausbruch des
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Althoff, Gerd: „Freiwilligkeit und Konsensfassaden. Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters“. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Hg. v. Klaus Herding u. Bernhard Stumpfhaus. Berlin, New York 2004, S. 145−161; Althoff, Gerd: „Inszenierte Freiwilligkeit“. In: Herrschaftsverlust und Machtverfall. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer. Hg. Peter Hoeres u. a., München 2011. Vgl. dazu Kamp, Hermann: Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001.
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Konflikts, noch wurden sie dadurch definiert, wer sich im Konflikt als Sieger und wer als Verlierer erwiesen hatte. Die Rollen waren vielmehr eindeutig an den Rang der Konfliktparteien gebunden: Der Rangniedere hatte sich zu unterwerfen, der Ranghöhere nahm diese Unterwerfung entgegen, auch wenn der Konfliktverlauf den Rangniederen als erfolgreicher ausgewiesen hatte. Hatte ein Rangniederer die Ehre des Ranghöheren dadurch besonders verletzt, dass er im Konflikt erfolgreich gewesen war, musste die Unterwerfung dies vielmehr durch besondere Formen der Selbst-Entehrung ausgleichen. Die Gegenleistung, die der Ranghöhere in den Ausgleich und Friedensschluss einbrachte, bestand dagegen zumeist aus einem Verzicht auf eine angemessene Strafe und in demonstrativen Formen der Vergebung. Beobachtet man nun das hier nur allgemein beschriebene Verhalten der Rangniederen in diesen Ritualen, von denen wir eine Unmenge an kürzeren und längeren Beschreibungen aus vielen Ländern Europas besitzen, genauer, so fällt auf, dass sie ganz gehäuft Ausdrucksformen benutzen, die als Ausdruck von Scham aufgefasst werden können oder müssen.16 Das Gefühl des im Boden versinken Wollens wird ausgedrückt in einem Fußfall, der unter verbalen Beteuerungen der Selbstaufgabe von Einzelnen wie von größeren Gruppen vor dem früheren Gegner vollzogen wird. Die Normverletzung wird verbal und nonverbal zugegeben und es wird großer Wert darauf gelegt, zum Ausdruck zu bringen, dass man seine Auffassung vollständig geändert habe und die eigenen Taten nun verabscheue, ja jede Strafe gerne auf sich nehmen würde, weil sie verdient sei. Kurz: Man schämt sich intensiv für sein früheres Verhalten und bringt dies verbal und nonverbal zum Ausdruck. In den Unterwerfungsritualen am Ende von Konflikten werden nun allzu regelmäßig Personen von solchen Schamattacken betroffen, um anzunehmen, dass dies jeweils spontan auftretende Anwandlungen sein könnten. Wir dürfen vielmehr davon ausgehen, dass auch dieses scheinbar so individuelle und authentische Gefühl der Scham aufgeführt und inszeniert werden konnte, weil es die Choreographie eines Rituals vorschrieb. Vor weiteren Überlegungen seien zunächst einige Beispiele vorgeführt, mit
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Das empirische Material bieten Althoff, Gerd: „Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft“. In: Spielregeln. Hg. v. Gerd Althoff, S. 99−125; Ders.: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Moeglin, Jean-Marie: „Harmiscara – Harmschar − Hachée. Le dossier des rituels d’humiliation et de soumission au Moyen Âge“. In: Archivum latinitatis medii Aevi. Bulletin Du Cange 54 (1996), S. 11−65; Ders.: „Von der richtigen Art zu kapitulieren: Die sechs Bürger von Calais (1347)“. In: Krieg im Mittelalter. Hg. v. Hans-Henning Kortüm, Berlin 2001, S. 141−166.
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denen diese Einschätzung empirisch begründet werden kann. Sie stammen aus ausführlicher beschriebenen Unterwerfungsritualen. Ich zitiere nur die für meine Argumentationsabsicht jeweils zentralen Stellen, an denen die Scham der sich Unterwerfenden über ihre frühere Haltung zum Ausdruck kommt, ohne den historischen Kontext genauer zu erläutern. Rahewin, der Fortsetzer Ottos von Freising, beschreibt die erste Unterwerfung der Mailänder unter Friedrich Barbarossa im Jahre 1158, bei der eine milde Behandlung der Rebellen fest vereinbart worden war, obgleich sie die kaiserliche Ehre empfindlich verletzt hatten, wie folgt: Nachdem beide Parteien die Friedensbedingungen angenommen hatten, kam Mailand, um wieder zu Gnaden angenommen zu werden, nachdem es (die Zusicherung) freien Geleits erhalten hatte, in folgender Ordnung und Haltung mit den Seinen an den Hof. Voran der gesamte Klerus und die Angehörigen des kirchlichen Standes mit ihrem Erzbischof mit vorangetragenen Kreuzen, nackten Füßen und in ärmlichem Gewand; dann die Konsuln und angesehensten Bürger der Stadt, ebenfalls ohne Obergewand, mit nackten Füßen, entblößte Schwerter auf dem Nacken tragend. Es war ein großartiges Schauspiel (ingens spectaculum): eine gewaltige Zuschauermenge und Mitleid bei vielen, die milderen Sinnes waren, als sie sahen, wie die vor kurzem noch Stolzen, die sich ihrer gottlosen Taten rühmten, nun demütig waren und zitterten, so dass eine solche Veränderung, selbst beim Feinde Teilnahme erregen musste.17
In dieser Passage der Darstellung wird der Inszenierungscharakter des Ganzen gar nicht verschleiert. Es gab nach Rahewin Friedensvereinbarungen und die Zusicherung freien Geleits, jedem war klar, dass die Gegner vom Kaiser zu Gnaden angenommen werden würden. Dennoch führten die Mailänder zunächst nonverbal ihren Gesinnungswandel auf, durch Barfüßigkeit und Büßergewand unterstrichen sie die Anerkennung ihrer Schuld, die Laien sogar die verdiente Todesstrafe durch ihre Schwerter im Nacken. Durch diese Demut und ihr Zittern brachten sie aber die Scham über ihre Normverletzungen so eindrucksvoll zum Ausdruck, dass sie Mitleid bei vielen erregten. Damit hatten sie jedoch noch nicht genug getan, um die Ehre des Kaisers wiederherzustellen. Die Inszenierung sah
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Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris. Hg. v. Georg Waitz u. Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. 46). Hannover, Leipzig 31912, lib. 3, cap. 48, S. 224f.: „Talibus pacis condicionibus utrimque receptis, Mediolanum in gratiam reditura hoc ordine talique specie, fide publica accepta, cum suis ad curiam venit. Inprimis clerus omnis et quique fuerant aecclesiastici ordinis ministri cum archiepiscopo suo, prelatis crucibus, nudis pedibus, humili habitu; deinde consules et maiores civitatis, item abiecta veste, pedibus nudis, exertos super cervices gladios ferentes. Erat autem ingens spectaculum, validissima constipatio multorumque, qui mitioris ingenii erant, commiseratio, cum viderent paulo ante superbos et de factis impiis arrogantes ita nunc humiles esse ac tremere, ut miseranda esset, quamquam in hoste, tanta mutatio.“ (Übersetzung n. FSGA).
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vielmehr zunächst eine Rede des Herrschers vor, in der er seine Vorstellungen von treuen Untertanen ausbreitete: Der erhabene Kaiser sah mit gnädiger Miene auf sie nieder und sagte, er freue sich, dass Gott eine so herrliche Stadt und ein so großes Volk gemahnt habe, endlich einmal den Frieden dem Krieg vorzuziehen […] er wolle lieber über treu ergebene und gutwillige Untertanen herrschen als über solche, die nur Zwang dazu gebracht hätte […] sie müssten sich nun bemühen, ihr Verhalten zu bereuen, damit sie umso leichter ihre Fehler ablegten […].18
In der Rede des Kaisers wird also die Freiwilligkeit der Mailänder Unterwerfung betont und überdies werden Zeichen der Reue verlangt. Dies waren die Stichworte, auf die die Mailänder erneut die Scham über ihr Verhalten sehr expressiv zum Ausdruck brachten: Hierauf sprachen jene mit gesenktem Blick und flehender Stimme nur wenige Worte zur Rechtfertigung ihrer Vergehen. Sie hätten die Waffen nicht in feindlicher Absicht oder um gegen das Reich zu kämpfen ergriffen, sie hätten vielmehr nicht dulden können, dass das Land ihrer Väter […] von ihren eigenen Landsleuten verwüstet werde. Wenn er sie jetzt verschone, wollten sie sich, befreit von der Furcht vor Schaden, künftig umso eifriger bemühen, sich das Wohlwollen und die Gnade des Kaisers zu erhalten.19
Scham und Reue ergänzen sich im verbalen und nonverbalen Verhalten der Mailänder perfekt. Der gesenkte Blick, die flehende Stimme und der Verzicht auf ausführlichere Rechtfertigung stehen für die Scham, das Versprechen, sich der Gnade in Zukunft würdig erweisen zu wollen, für die Reue über das vorherige Verhalten. Dass diese Inszenierung keinen Einzelfall darstellte, sei mit einer Unterwerfung belegt, die ebenfalls in Italien, aber rund 150 Jahre früher, 1001 die Einwohner der Stadt Tivoli vor Kaiser Otto III. durchführten. Auch hier wird nahegelegt, dass die Unterwerfung und der nachfolgende Frieden zuvor ausgehandelt worden waren. Als Vermittler fungierten in diesem Falle Papst Silvester II. und Bischof Bernward von Hildesheim, die
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Ebd., S. 225: „Divus ergo augustus placido eos vultu intuens ait laetum se esse, cum tam claram civitatem tantumque populum Deus commonuerit, uti aliquando pacem malint quam bellum […] seque malle devotis et volentibus quam coactis imperitare. […] studendum illis esse, quo facilius errata superent, penitudinem eos facti habere“. (Übersetzung n. FSGA). Ebd., S. 225f.: „ Ad haec illi summisso vultu, supplici voce pauca pro delicto suo verba faciunt: se non hostili animo nec ad oppugnandum imperium arma cepisse, sed terminos patrum suorum […] vastari a suis gentilibus pati nequivisse; de caetero, si modo sibi parcatur, velle eniti, ut, malorum metu liberi, propensius erga se benivolentia imperialis et gratia conservetur“. (Übersetzung nach FSGA); zur Interpretation des Falles vgl. Görich: Ehre, S. 214ff.
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sich zuvor im Heere Ottos III. aufgehalten hatten, als er Tivoli belagerte. Zum Zwecke der Konfliktbeilegung gingen die Geistlichen in die Stadt, wurden dort ehrenvoll empfangen: „und gaben nicht eher nach, als bis sie mit Gottes Hilfe alle zur friedlichen Unterwerfung unter das Gebot des Kaisers gebracht hatten“, wie die Lebensbeschreibung Bischof Bernwards ausführlich berichtet. Am nächsten Tag kehrten die Bischöfe zum Kaiser zurück, gefolgt von einem denkwürdigen Triumphzug. Denn alle angesehenen Bürger der Stadt folgten ihnen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Rechten ein Schwert und in der Linken eine Rute tragend, und bewegten sich so zum Palast. Dem Kaiser seien sie mit Hab und Gut verfallen, (riefen sie) nichts ausbedungen, nicht einmal das nackte Leben. Wen er für schuldig halte, möge er mit dem Schwert hinrichten oder, wenn er Mitleid üben wolle, am Pranger mit Ruten auspeitschen lassen. Wünsche er, dass die Mauern der Stadt dem Erdboden gleichgemacht würden, so wollten sie dies bereitwillig und gern selbst ausführen. Nie in ihrem Leben würden sie sich in Zukunft dem Befehl seiner Majestät widersetzen.20
Die Performance dieser Bürger ähnelt, wie man leicht bemerkt, der der Mailänder ziemlich exakt. Auch sie bringen verbal und nonverbal ihre Scham über ihr vorheriges Verhalten zum Ausdruck und zeigen sich bereit, alle erdenklichen Konsequenzen zu tragen. Es ist fast überflüssig zu betonen, dass auch sie gar nicht bestraft wurden, sondern wie die Mailänder die vollständige Verzeihung des Kaisers fanden. Was in den beiden bisherigen Beispielen sozusagen als Massenveranstaltung inszeniert wurde, gibt es viel häufiger aber als Unterwerfungsakt einzelner Personen am Ende von Konflikten. Ich zitiere als Beispiel die Unterwerfung Herzog Heinrichs des Zänkers vor dem Kinderkönig Otto III., der zum Zeitpunkt dieser deditio fünf Jahre alt war. Als das königliche Kind Otto III. nach Frankfurt kam, da kam auch er dorthin und erniedrigte sich nach Gebühr, um der Strafe für seine ungerechte Erhebung zu entgehen. Demütig in Aufzug und Haltung, beide Hände gefaltet, ertrug er die Scham (non erubuit), sich vor den Augen der gesamten Menge und in Gegenwart der kaiserlichen Frauen dem königlichen Knaben als Lehnsmann zu
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„Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis auctore Thangmaro“. In: Annales, chronica et historiae aevi Carolini et Saxonici. Hg. v. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 4). Hannover 1841, cap. 23, S. 769: „ […] nec prius desistunt, quam omnes pacatos imperatoris ditioni Dei gratia adiuti subdunt. Postera namque die, nobili triumpho subsequente, episcopi imperatorem adeunt. Nam cuncti primarii cives praescriptae civitatis assunt nudi, fęmoralibus tantum tecti, dextra gladios, laeva scopas ad palatium praetendentes; imperiali iuri se suaque subactos; nil pacisci, nec ipsam quidem vitam; quos dignos iudicaverit, ense feriat, vel pro misericordia ad palam scopis examinari iubeat. Si muros urbis solo complanari votis eius suppetat, promptos libenti animo cuncta exequi, nec iussis eius maiestatis dum vivant contradicturos“. (Übersetzung n. FSGA).
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ergeben, den er als Waise gefangen genommen und dessen Reich er gewaltsam an sich gerissen hatte. In wahrhafter Treue versprach er ihm ferner zu dienen, forderte nichts für sich als das Leben und bat nur um Gnade.21
In einer anderen Quelle, den Altaicher Annalen, wird zudem gesagt, Heinrich der Zänker habe mit seinen Getreuen die häufiger bezeugte Unterwerfungsformel benutzt: „Mache mit mir, was du willst.“22 Es ist vielleicht gar nicht nötig, mit weiteren Beispielen zu belegen, dass die hier diskutierten Ausdrucksformen von Scham in der Tat zum festen Repertoire der Unterwerfungsrituale gehörten. Die jüngere historische Forschung − und nicht nur sie – hat auf diesem Felde jedoch so breite empirische Befunde erarbeitet, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Beispiele ausgingen. Ich bitte daher, mir abzunehmen, dass ich mit den drei Beispielen genau die Äußerungen von Scham vorgeführt habe, die typisch sind. Dies verschafft mir Zeit, noch einige Überlegungen zur Frage vorzutragen, wie es in dieser ehrbewussten Gesellschaft dazu kommen konnte, dass öffentlich geäußerte Scham zu einem wichtigen symbolischen Kapital im Rahmen von Konfliktbeendigungen wurde. Mit dem Einsatz dieses Kapitals konnte ja in vielen Fällen ein Verzicht auf Strafe erkauft und der status quo ante wiederhergestellt werden. Zu diesem Zweck wurde die Scham als spontane, selbstbestimmte Regung aufgeführt, die aus freiwillig vollzogenem Sinneswandel resultierte. Um dies augenscheinlich zu machen, erschienen die sich Unterwerfenden zeitlich und räumlich entfernt vom Konfliktgeschehen. Sie kamen entweder allein oder wurden von den Vermittlern herbeigeführt. Jedwede Andeutung eines Zwangs wurde dabei vermieden. Die dann verbal wie nonverbal vorgeführte Einsicht, gegen herrschende Normen verstoßen zu haben, verstand man als Genugtuungsleistung, die die verletzte Ehre des Gegners wiederherzustellen in der Lage war. Folgerichtig dosierte man diese Genugtuungsleistungen auch nach dem Ausmaß der zuvor begangenen Ehrverletzungen. Es ist daher
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Annales Quedlinburgenses. Hg. v. Martina Giese (MGH SS rer. Germ. 72). Hannover 2004, a. 985, S. 474f.: „Veniente in Frankanafurd rege infante tertio Othone ibidem et ipse adveniens humiliavit se iuste, quo poenam evaderet elationis iniustae, regique puerulo, quem orbatum captivaverat, cuius regnum tyrannice invaserat, praesentibus dominis imperialibus, quas regni cura penes erat, avia, matre et amita regis eiusdem infantis, humilis habitu, humilis et actu, totius in aspectu populi ambabus in unum complicatis manibus militem se et vera ulterius fide militaturum tradere non erubuit, nil paciscendo nisi vitam, nil orando nisi gratiam“. (Übersetzung n. GdV). 22 Annales Altahenses maiores. Hg. v. Wilhelm v. Giesebrecht u. Edmund v. Oefele (MGH SS rer. Germ. 4), Hannover 21891, a. 974, S. 12: „ […] ut ille ex eis fecisset, quicquid sibi placuisset“. Zu weiteren Belegen für diese Formel vgl. Althoff: Spielregeln, S. 212f., Anm. 45.
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gerechtfertigt, von inszenierten Äußerungen der Scham auszugehen, die zum festen Repertoire ritueller Verhaltensmuster gehörten. Es fragt sich nur, wie man auf diese Formen der Konfliktbeendigung verfallen ist. Alois Hahn hat bereits den Zusammenhang von Scham und Reue ausführlich diskutiert.23 Beide Sachverhalte sind durch eine große Schnittmenge verbunden. Ich kann an seine Ausführungen unmittelbar anknüpfen. Das Unterwerfungsritual der mittelalterlichen Adelsgesellschaft ist nämlich dem kirchlichen Bußritual nachgebildet. Und das geschah sehr bewusst. Die Abfolge Scham, Reue, Buße, Vergebung des Bußrituals findet ihre Entsprechung in Scham, Selbstentehrung als Satisfaktionsleistung und Vergebung des weltlichen Rituals. Das Verhalten des Sünders gegenüber Gott hat das Vorbild für die Formen der Beilegung von Konflikten zwischen Ranghöheren und Rangniederen abgegeben. Diese Einschätzung ergibt sich nicht nur aus der Parallelität der Sequenzen beider Rituale. Das Unterwerfungsritual ist vielmehr in einer historischen Situation erstmals bezeugt, die es in direkten Bezug zum kirchlichen Bußritual bringt. Kaiser Ludwig der Fromme wurde nämlich 834 von seinem Sohn Lothar und den fränkischen Bischöfen gezwungen, sich freiwillig dem kirchlichen Bußritual zu unterziehen. Das Ganze diente dazu, ihn aus seiner weltlichen Herrschaft zu verdrängen. Als sich die Machtverhältnisse zugunsten des Kaisers verändert hatten, unterwarf sich sein Sohn mit seinen Helfern in ganz ähnlichen Formen dem Vater, wie es zuvor der Vater vor Gott getan hatte. Und der Vater verzieh ihm alles Vorgefallene. Das Bußritual war in den weltlichen Bereich transferiert worden. Es ist seit diesen Jahren immer häufiger bezeugt.
Literaturverzeichnis 1. Primärtexte Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris. Hg. v. Georg Waitz u. Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. 46). Hannover, Leipzig 31912. „Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis auctore Thangmaro“. In: Annales, chronica et historiae aevi Carolini et Saxonici. Hg. v. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 4). Hannover 1841.
23 Vgl. Hahn, Alois: „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34, (1982), H. 3, S. 407−434; vgl. auch den Beitrag Hahns in diesem Band.
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Annales Quedlinburgenses. Hg. v. Martina Giese (MGH SS rer. Germ. 72). Hannover 2004. Annales Altahenses maiores. Hg. v. Wilhelm v. Giesebrecht u. Edmund v. Oefele (MGH SS rer. Germ. 4). Hannover 21891.
2. Literatur Althoff, Gerd: „Inszenierte Freiwilligkeit“. In: Herrschaftsverlust und Machtverfall. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer. Hg. von Peter Hoeres u. a. (im Druck). Althoff, Gerd: „Tränen und Freude. Was interessiert Mittelalter – Historiker an Emotionen?“ In: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 1−11. Althoff, Gerd: „Freiwilligkeit und Konsensfassaden. Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters“. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Hg. v. Klaus Herding u. Bernhard Stumpfhaus, Berlin, New York 2004, S. 145−161. Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Althoff, Gerd (Hg.): Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, Sigmaringen 2001. Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997. Althoff, Gerd: „Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft“. In: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Hg. v. Gerd Althoff, Darmstadt 1997. S. 99−125. Althoff, Gerd: „Empörung, Tränen, Zerknirschung. ‚Emotionen‘ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“. In: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S. 60−79. Bachorski, Hans-Jürgen u. a.: „Performativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit“. In: Paragrana 10 (2001), H. 1, S. 157−190. Bohn, Caroline: Die soziale Dimension der Einsamkeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Scham, Hamburg 2008. Engelen, Eva-Maria: „Eine kurze Geschichte von ‚Zorn‘ und ‚Scham‘. In: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008), S. 41−73. Fichtenau, Heinrich: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München2 1992. Garnier, Claudia u. Hermann Kamp (Hgg.): Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, Darmstadt 2010. Görich, Knut: Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001. Gvozdeva, Katja u. Werner Röcke (Hgg.): Risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, Frankfurt a. M. u. a. 2008. Hahn, Alois: „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34, (1982), H. 3, S. 407−434. Hannig, Jürgen: Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses zwischen Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches, Stuttgart 1982.
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JAN-DIRK MÜLLER
Scham und Ehre Zu einem asymmetrischen Verhältnis in der höfischen Epik
I. In seinem Nackten Boten erzählt der Stricker eine Geschichte, die Studenten in mediävistischen Anfängerseminaren immer wieder schockiert, weniger durch ihren Verlauf als durch dessen Deutung durch den Erzähler.1 Der Vorgang ist eine Verkettung von unglücklichen Zufällen: Ein Herr schickt einen Boten zu einem seiner Vasallen, um Quartier zu machen. Der Bote erfährt von einem kint, der Hausherr halte sich in der Badestube auf. Der Bote nimmt an, was ja auch naheliegt, er wolle dort ein Bad nehmen. Obwohl er sieht, dass das „kint […] arm der sinne und des guotes und tumbes muotes“ ist (NB 18–20: ‚arm an Verstand und Besitz und dumm‘), fragt er nicht weiter, sondern entledigt sich seiner Kleider, um, mittelalterlichen Badegewohnheiten entsprechend, den wirt dort gleichfalls nackt aufzusuchen. Tatsächlich hat der wirt sich jedoch mit seiner ganzen Familie in den einzigen in der Übergangszeit geheizten Raum zurückgezogen. Ein hövischeit nennt das der Erzähler (NB 55). Als der Bote, inzwischen nackt, hinein will, wird er von einem Hund angefallen, gegen den er sich mit einem Badewedel verteidigt, so dass er rückwärts gehend die Badestube betritt. Dabei kehrt er der versammelten Familie, einschließlich der Frauen, seinen nackten Hintern zu. Das ist eine ungeheuerliche Beleidigung. Wenn er merkt, was er angerichtet hat, läuft der Bote weg. Der Hausherr fühlt sich entehrt, wenn er sich nicht sogleich rächt (NB 105–109) und stürzt hinterher, um den Boten zu töten. Dieser flieht nackt zu Pferd. Als
1
Der Stricker: „Der nackte Bote“. In: Der Stricker: Fünfzehn kleine Verserzählungen mit einem Anhang: Der Weinschwelg. Hg. v. Hanns Fischer. Tübingen 1960, S. 97–107. Die untersuchten Texte werden, wie folgt, abgekürzt: NB = Stricker, Der nackte Bote; Er = Hartmann von Aue, Erec; Iw = Hartmann von Aue, Iwein; Pa = Wolfram von Eschenbach, Parzival; Gr = Hartmann von Aue, Gregorius.
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Jan-Dirk Müller
er auf seinen Herrn trifft, fürchtet er sich, ihm den seltsamen Aufzug zu erklären, und flieht trotz dessen Fragen weiter. Jetzt erreicht der wirt den Herrn und klagt ihm, der Bote habe ihm vröude und êre genommen (NB 137). Darauf droht der Herr dem Boten gleichfalls mit Rache (NB 155f.; vgl. 146, 178f.), doch will er der Sache zunächst nachgehen und befragt den Boten. So erfahren beide den Sachverhalt; der beleidigte Hausherr lässt von seiner Rache ab. In zwei Versen, die in der Leithandschrift fehlen (NB 203f.), gesteht er seinen Irrtum ein, da er sieht, dass der Bote ihm keine Schande (laster) bereiten wollte. Auf die mangelnde Intention, die das Fehlverhalten entschuldigt, kam es dagegen bei seiner ersten Reaktion offensichtlich nicht an. Hier zählte allein der Tatbestand. Es war ein schlimmes Missverständnis, denn die Folgen (Totschlag, Blendung) wären schrecklich gewesen, obwohl offenbar, da sie nirgends problematisiert werden, im Prinzip nicht unangemessen. Jemandem den nackten Hintern zeigen ist eine arge Beleidigung. Wenn Eulenspiegel hinter seinem Vater auf dem Pferd sitzend seinen Hintern entblößt, sind alle empört, obwohl Eulenspiegel noch ein Kind ist.2 Der Bote pervertiert das Begrüßungsritual, indem er sich vom Gegenüber ab-, statt ihm zuwendet und indem er die freundschaftliche Geste einer Ehrbezeugung durch die schamlose Geste einer Kränkung ersetzt, und das alles noch dazu vor Damen. Nur so ist die Reaktion des Hausherrn verständlich, dem seine Ehre abgeschnitten wird, der im Kern seiner Person angegriffen ist und der sich deshalb rächen muss. Was soll die Geschichte? Folgt man dem Epimythion, so warnt sie vor Übereilung auf Grund eines Missverständnisses – wieder eine der wenig aufregenden Alltagsweisheiten, die der Stricker aus seinen Mären herausfiltert. Doch um wessen Übereilung und wessen Missverständnis geht es eigentlich? Nahe läge es, dass der Erzähler davor warnte, jemanden auf Grund des bloßen Anscheins mit dem Tod zu bedrohen. Dies geschieht allerdings nur in einer, offenbar als sekundär eingeschätzten Überlieferung des mære. Dort nämlich ist es der wirt, der bedauert, fast seinem wane zum Opfer gefallen zu sein (NB 203 nach Hs. EB). Allerdings scheint das eine nachträgliche Korrektur zu sein.3 In der der 2
3
„Die ander Historie“. In: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten. Hg. v. Wolfgang Lindow. Stuttgart 1966, S. 12–13. Der Ulenspiegel stand vor allem in den 1970er und frühen 1980er Jahren im Zentrum der Diskussion; ihren Abschluss fand sie durch Werner Röcke (Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987 (Forschungen zur älteren deutschen Literatur 6], S. 213–257; vgl. S. 230). Vgl. Der Stricker: Fünfzehn kleine Verserzählungen (Anm. 1), 106f., die Variante zu V. 185–204 im Apparat. Ich halte, unabhängig von den handschriftlichen Verhältnissen im allgemeinen, die Entscheidung des Herausgebers gegen die Hs. EB auch in diesem
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Ausgabe zugrundegelegten Leithandschrift bezieht sich der Rat jedenfalls nicht auf den wirt, sondern auf den Boten: „Wære dem kneht ein leit geschehen,/ wir solden niemer gejehen,/ daz er unschuldic wære“ (NB 207–209: ‚Wäre dem Knecht Leid geschehen, sollten wir keinesfalls sagen, dass er unschuldig sei‘): Er ist selber schuld (NB 224), weil er aus der erstbesten Information des schwachsinnigen kint nicht die Schlüsse hätte ziehen dürfen, die er zog: dô liez er sich an einen wân. der wân betriuget manigen man. Swer daz niht wol bedenken kan, der mac sich lîhte verlân sô sêre an etelîchen wân, daz er von dem wâne wirt sîner êren âne oder gewinnet sô getânen schaden, dâ mit er sêre wirt geladen (NB 212–220). (da vertraute er auf eine [falsche] Vermutung. Solch grundlose Annahme täuscht viele. Wer das nicht richtig bedenkt, der überlässt sich leicht irgend einer grundlosen Annahme, so dass er ihretwegen seine Ehre verliert oder einen solchen Schaden erleidet, der ihm schwer zusetzt).
Die Wut des Hausherrn ist verständlich, denn die Ehrverletzung war manifest. Man muss sich probeweise den Kasus ins gegenwärtige Rechtssystem übertragen denken, um die Differenz der Normen zu ermessen. Nicht nur würde die Ehre keine derartige Reaktion rechtfertigen, sondern selbst wenn sie das täte, läge die Verantwortung für den Irrtum beim vermeintlich Gekränkten: Bevor eine so schwer wiegende Reaktion erfolgt, müssen deren Voraussetzungen genau überprüft werden; die Provokation durch den nackten Hintern könnte bei einer spontanen Gewalttat allenfalls für mildernde Umstände sprechen. Das ist in der Geschichte des Stricker genau umgekehrt: Das Leben ist der Ehre ebenso nachgeordnet wie es die Intention der Handelnden ist. Entscheidend ist, was vor aller Augen sich zeigt, und das ist die ‚öffentliche‘ Beleidigung durch die schamlose Geste, die, wenn sie einmal von allen registriert wurde, zwangsläufig eine
Einzelpunkt für richtig; ein Eingriff in umgekehrter Richtung ist kaum denkbar. Dass hier gestoppelt wurde, zeigen die am Schluss in EB angefügten Verse, die davor warnen, aus irgend einem wân sîn êre aufs Spiel zu setzen, denn wenn etwas schief gehe, werde man getadelt. Diese Aussage hat wenig mit dem Verlauf des mære zu tun, denn sie passt weder auf den Boten noch dessen Kontrahenten; nirgends werden die spontane Reaktion des wirt und ihr Ziel, die Wiederherstellung von êre, in Frage gestellt. Von einem drohenden Ehrverlust ist keine Rede.
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Tilgung der Schande durch Rache nach sich ziehen muss. Der Beleidigende hat mindestens fahrlässig gehandelt, seine Bestrafung ist konsequent. So stellt sich der Fall in der Perspektive des Erzählers dar und so soll ihn offenbar sein mittelalterliches Publikum verstehen. Allerdings ist diese Deutung nicht ganz unangefochten; der Stricker erzählt ja gerade kein exemplum für eine radikale Geltung von Ehre, sondern einen Kasus, in dem die Konsequenz der Ehrverletzung in letzter Sekunde abgebogen wird.4 Das, was geschehen wäre, wenn der Irrtum nicht aufgeklärt worden wäre, scheint für den Erzähler nicht problemlos zu sein, wie es das sein müsste, wenn wirklich die Ehre allem anderen vorgeordnet wäre. Die Geschichte problematisiert insofern das Prinzip, auf dem sie beruht (und Eingriffe der Überlieferung, wie der kommentierte, verstärken die Zweifel an seiner unumschränkten Geltung). Sie stellt es zwar nicht in Frage, denn Ehrkränkung durch Schamlosigkeit erfordert Rache, erzählt aber einen Fall, in dem dieser Mechanismus zum Glück – aus der Perspektive des Beleidigers – und legitimerweise – aus der Perspektive des Beleidigten – unterbrochen werden konnte. Die Instanz des Dritten, der die Kontrahenten zusammenführt, bestätigt zwar grundsätzlich das Prinzip – er ist ja gleichfalls zur Bestrafung des Boten entschlossen –, kann aber seine Exekution für diesmal abwenden. Der Kasus ist damit an der Grenze der Kultur, der er seine Existenz verdankt, angesiedelt, er zieht deren Normen nicht in Zweifel, aber er setzt sie aus. Es sind die Normen einer Schamkultur. Das gibt mir das Stichwort für die folgenden Überlegungen. Meine These besagt, dass in Erzählungen um 1200 deren Grenzen verhandelt werden, und zwar insbesondere im höfischen Roman. Damit nehme ich gegenüber dem Thema der Tagung eine exzentrische Position ein: Es geht bei mir um Scham und Ehre, nicht so sehr um deren Verletzung durch Schamlosigkeit. Schamlosigkeit ist freilich nur in dem normativen Rahmen identifizierbar, den das Prinzip Scham definiert. Zu zeigen ist, wie dieses Prinzip selbst brüchtig wird, was natürlich Auswirkungen auf das hat, was als Schamlosigkeit gilt. Ihre Faszination erwächst aus der Transgression des Rahmens, der damit allerdings gerade nicht zerstört wird. Schamlosigkeit ist insofern nicht subversiv, denn sie ruft in Erinnerung, was sie überschreitet; das Überschrittene wird in der Transgression
4
Diese Beobachtung ist auch gattungsgeschichtlich relevant; vgl. Müller, Jan-Dirk: „Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den ‚Drei listigen Frauen‘“. In: Philologische Untersuchungen. FS Elfriede Stutz. Hg. v. Alfred Ebenbauer. Wien 1984, S. 289–311: Das mære lässt sich nicht mehr als Exempel lesen. Was exemplarisch zu gelten beansprucht, setzt sich in diesem besonderen Fall (casus!) zum Glück gerade nicht durch. Erzählt wird nicht exemplarisch, sondern kasuistisch. Das plot bestätigt nur bis kurz vor Schluss, was das Epimythion als gültige Lehre behauptet.
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erfahrbar und von ihr ex negativo bestätigt.5 Das Interesse des Mittelalters an komischen Geschichten von schamlosen Handlungen und Gesten ist nur die Kehrseite normativer Diskussionen über Scham und Ehre. Hier steht die Norm scheinbar nicht zur Debatte; die narrative Expansion aber verhindert ihre Applikation und lässt Zweifel an ihrer Geltung erkennen. II. Ehre ist das zentrale Prinzip von Adelskulturen. Seit Dodds‘ Untersuchungen zu den homerischen Epen6 wurden Ruth Benedicts7 Überlegungen zum polaren Gegensatz von Scham- und Schuldkulturen als Schlüssel auch für frühe heroische Epik Europas benutzt. Zwar machte Dodds schon für das frühe Griechentum klar, dass es immer nur Tendenzen zur einen oder anderen Seite gibt, doch glaubte man in der jüdisch-christlichen Tradition eine eindeutige Umpolung zugunsten der Schuldkultur beobachten zu können. Für das europäische Mittelalter und seine Fokussierung auf den Begriff der Sünde schien, anders als für außereuropäische Kulturen, der Gegensatz nicht mehr relevant; ‚Schuld‘ hatte ‚Scham‘ verdrängt. Allerdings galt das nicht uneingeschränkt, sondern primär für die von Klerikern bestimmten christlichen Leitdiskurse der Epoche. Diese durchdringen zwar im Laufe des Mittelalters alle kulturellen Sphären. Doch ist dies ein langwieriger und mühevoller, auf Widerstand stoßender, keineswegs unilinear verlaufender Prozess, der auch zu Beginn der Frühen Neuzeit noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Zumal in den oberflächlich missionierten Unterschichten bestehen magische Praktiken und mythische Überzeugungen fort und sind auf vielfältige Weise mit christlichen Traditionen amalgamiert8 – hier bedeutet das Zeitalter von Reformation und Gegenreformation einen scharfen Einschnitt –, doch 5 6 7
8
Zu dieser Struktur von Transgression vgl. Foucault, Michel: „Préface à la transgression“. In: Dits et Écrits 1954–1988. Bd. I. 1954–1969. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Paris 1994, S. 233–250; hier S. 238; vgl. auch die paradoxalen Formulierungen S. 237. Dodds, Eric Robertson: Die Griechen und das Irrationale. Aus dem Englischen übersetzt von Hermann-Josef Dirksen. Darmstadt 21991. Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. Boston 1946; vor Benedict: Mead, Margaret: Cooperation and Competition Among Primitive Peoples. New York 1937, S. 493–495; Baroja, Julio Caro: „Honour and Shame: A Historical Account of Several Conflicts“. In: Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society. Hg. v. John George Peristiany. London 1965, S. 79–137. Berühmtes Beispiel ist der Müller Menochio. Er ist von den zu seiner Zeit geltenden religiösen Leitdiskursen zweifellos beeinflusst, doch hat er sich aus ihnen sein eigenes Weltbild zurecht gemacht, das denen widerspricht. Vgl. Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt am Main 1979.
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Spannungen gibt es auch mit den Wertordnungen einer säkularen Adelsgesellschaft. Die feudale Kriegerwelt, deren höchstes Prinzip die Ehre ist, wird erst langsam über die formale Annahme des christlichen Glaubens im Frühmittelalter hinaus von den christlichen Leitdiskursen umgeformt. Historiographie und Heldenepik zeigen, dass die Adelswelt als Ganze anfangs noch bei weitem weniger in eine christliche Weltordnung integriert ist, als das von den Wortführern der letzteren programmatisch behauptet wird. Eine wichtige Etappe ist das 11./ 12. Jahrhundert mit der Entstehung der Ritterorden, dem Programm einer nova militia, der Kreuzzugsideologie und besonders mit dem Entwurf einer höfischen Kultur, die sich ein Verhaltensprogramm vorgenommen hat, das Gott und der Welt gleichermaßen gefällt. Dabei scheint gegenüber dem europäischen Westen in Deutschland die Entwicklung noch einmal retardiert. Das bedeutet, dass die Umstellung von Scham auf Schuld keineswegs, wie es das christliche Dogma erwarten ließe, um 1200 bereits allgemein vollzogen ist. In einem Epos wie dem Nibelungenlied fehlt der christliche Begriff der Sünde, während bis zur letzten Szene die Heroen ihr Handeln an ihrer Ehre, gefasst als gegenwärtige und künftige Fama, ausrichten, und selbst die deutlich christlich geprägte Nibelungenklage stellt das Prinzip der Ehre nirgends in Frage, sondern sucht es nur mit christlichen Normen zu versöhnen.9 Doch auch im höfischen Roman bleibt Ehre eines der obersten Prinzipien des Handelns, freilich konkurrierend mit der Frage nach Schuld. In der ‚Krise‘ des klassischen Artusromans, die den Helden auf den Weg der Wiedergutmachung schickt, ist Schuld in der Regel nicht als Sünde gefasst, sondern als Verfehlung, als Verstoß gegen eine Ordnung, in der Prinzipien der Ehre und ethische Prinzipien ununterscheidbar miteinander verklammert sind. Der Held lässt sich etwas zuschulden kommen, was irgendwo zwischen moralischer Verfehlung und Verstoß gegen soziale Regeln der höfischen Gesellschaft liegt. Die Ritter dagegen, die eindeutig als Vergewaltiger, Rechtsbrecher, Unterdrücker, Aggressoren gegenüber Frauen usw. Schuld im strafrechtlichen oder ethischen Sinn auf sich laden, befinden sich entweder auf der Gegenseite des Helden oder überhaupt nur am Rand der Erzählwelt. Die Rede von der Krise nivelliert dabei den recht unterschiedlichen Typus der Verfehlung, etwa zwischen Erecs verligen, Iweins Bruch des Versprechens gegenüber Laudine, Parzivals Scheitern auf der Gralsburg. Erst in Hartmanns Gregorius, einer ‚höfischen Legende‘ also, besteht die Verfehlung, die den Helden seine Ehre kostet und aus der Gemeinschaft ausschließt, explizit in einer
9
Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 249–257; 270–289; 360–362 u.ö.
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Todsünde. Sonst ist der Charakter der Verfehlung manchmal sogar dem Helden anfangs verborgen, und trotzdem katapultiert sie ihn für einige Zeit aus der höfischen Welt heraus, bis er sie auf dem Aventiureweg des doppelten Kursus gesühnt hat. Dabei ist es typisch für moderne Interpreten, die nicht mehr einer Schamkultur angehören, überall nach ‚Schuld‘ zu suchen, d. h. dasjenige moralisch zu interpretieren, was nicht, oder jedenfalls nicht dominant als moralisches Problem erzählt wird. Wenn der großräumige Gegensatz von Scham- und Schuldkulturen, wie er in der Kulturgeschichte entworfen wurde, für die feudale Adelskultur des Mittelalters zu grobmaschig ist, dann lässt er sich doch heuristisch zum Verständnis einiger seltsamer Erzählkonstellationen auswerten. Dabei geht es eher um minimale Verschiebungen als um schroffe Entgegensetzungen, wie sie vor Jahren Josef Szövérffy in Bezug auf das Verhältnis von Artusepik und Gralsepik behauptete. Szövérffy hatte besonders in Hartmanns Iwein Elemente einer Schamkultur identifiziert, die dann in der Geschichte Parzivals durch diejenigen einer Schuldkultur verdrängt worden seien.10 Damit werden die komplizierten und gegenläufigen Tendenzen innerhalb des höfischen Romans eher eingeebnet als erklärt. Die Verknüpfung von Ehre und Schuld ist für beide Romane zentral, wenn auch die Akzente jeweils etwas anders gesetzt werden. Die folgenden Überlegungen nehmen das alte Problem wieder auf, doch nicht um mit großräumigen Kulturtypen zu argumentieren, sondern um eine Konfiguration innerhalb der höfischen Literatur des Hochmittelalters zu beschreiben, die weder der einen noch der anderen Seite zugeschlagen werden kann, eben deshalb aber Zeugnis für die Schwierigkeiten ist, ein christlich geprägtes Schuldkonzept mit dem in einer adligen Kriegergesellschaft geltenden Schamprinzip zu verknüpfen. Das mære des Stricker zeigt, dass das Problem in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts durchaus noch Diskussionsstoff bot.
10
Szövérffy, Josef: „‚Artuswelt‘ and ‚Gralwelt‘: Shame culture and guilt culture in ‚Parzival‘“. In: Ders.: Germanistische Abhandlungen. Mittelalter, Barock und Aufklärung. Gesammelte Schriften. Brookline, Mass. u. Leiden 1977, S. 33–46; Ward, Donald: „Honor and Shame in the Middle Ages: An Open Letter to Lutz Röhrich“. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/28 (1982/83), S. 1–16; Ward bezweifelt, dass je eine menschliche Gesellschaft von einem der beiden Typen allein bestimmt wurde, sieht aber das Mittelalter eher auf der Seite der Schamkultur (vgl. S. 4; 9f.).
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III. Scham/ schame ist eine zentrale Kategorie höfischer Ethik.11 Sie hat soziale, ethische und emotionale Komponenten.12 In Gurnemanz‘ Unterweisung für Parzival steht sie an allererster Stelle, noch vor der Aufforderung, sich der Schwachen anzunehmen, rechte milte zu üben und erst recht vor dem berüchtigten Rat, nicht zuviel und nutzlos zu fragen: ir sult niemer iuch verschemn. verschamter lîp, waz touc der mêr? der wont in der mûze rêr, dâ im werdekeit entrîset unde in gein der helle wîset (Pa 170,16–20) . (Seid niemals unverschämt. Was taugt jemand, der sich schämen muss? Dem geht es wie einem Vogel, dem in der Mauser die Federn ausfallen: So verliert er „werdekeit“, Ansehen und Wert, und damit ist sein Weg zur Hölle vorgezeichnet).13
Die Verse sind nicht leicht zu verstehen; über die grundsätzliche Bedeutung der Stelle ist die Forschung sich jedoch einig: schame ist zentrale Rittertugend. Die Glossierung von schame mit ‚Schamhaftigkeit‘ ist dabei allerdings zu eng.14 Scham ist auch nicht nur Antwort auf gesellschaftliche
11
Zusammenstellungen bei Henry Kratz, Ann G. Martin und David. N. Yeandle (Kratz, Henry: Wolfram von Eschenbach’s Parzival. An attempt at a Total Evaluation. Bern 1973, S. 68–73; Martin, Ann G.: Shame and Disgrace at King Arthur’s Court. A Study in the Meaning of Ignominy in German Arthurian Literature to 1300 [GAG 387]. Göppingen 1984; Yeandle, David N.: „scama in Old High German (With Special Reference to the Development of an Ethical Meaning)“. In: Das unsichtbare Band der Sprache. Studies in German Language and Linguistic History in Memory of Leslie Seiffert. Hg. v. John L. Flood u. a. Stuttgart 1993, S. 25–56; Yeandle, David N.: schame im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung. Heidelberg 2001; Yeandle, David N.: „Schame in the Works of Hartmann von Aue“. In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. FS Roy Wisbey. Hg. v. Volker Honemann u. a. Tübingen 1994, S. 193–228). Alle einschlägigen Arbeiten dokumentieren das breite Bedeutungsspektrum des Begriffs. Doch scheinen mir die Kategorisierungen z. T. revisionsbedürftig. 12 Die letzteren untersucht Yeandle, David N.: „The Concept of schame in Wolfram’s ‚Parzival‘“. In: Euphorion 99 (2005), S. 295–321. 13 Die Zitate nach Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin 1998. Ich lehne mich im Folgenden an die Übersetzung von Knecht an, wandle sie allerdings in mir wichtig scheinenden Punkten ab; so spricht Knecht von einem „Habicht in der Mauser“ (S. 173). 14 Eberhard Nellmann schreibt zu Pa 3,5: „Schamhaftigkeit“, „Keuschheit“, „Scham- Ehrgefühl“; sie sei „eine der fundamentalen Tugenden in Wolframs Ethik, ebenso zentral für Männer wie für Frauen“ (Kommentar zu Wolfram von Eschenbach: Parzival. Bd. II.
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Ausgrenzung („disgrace“).15 In jedem Fall kommt scham immer ins Spiel, wo eine (ständische, sexuelle, ethische) Ordnung verletzt ist.16 Scham ist die angemessene Haltung gegenüber Schande; Schande aber ist das Antonym von Ehre. Gurnemanz mahnt Parzival also, auf die Ehre zu achten. Was genau mit Scham und Unverschämtheit gemeint ist, wird nicht näher ausgeführt. Für unsere Fragestellung ist festzuhalten, dass der gesellschaftliche Mangel an werdekeit nicht nur gesellschaftliche Sanktionen nach sich zieht (der hässliche Vogel in der Mauser wird von allen verabscheut), sondern auch religiöse (helle): Der Unverschämte (verschamter lîp) ist zur Hölle bestimmt, obwohl in die Hölle eigentlich der Sünder, nicht der Hässliche kommt. Das ist verständlich nur in einer auf Sichtbarkeit angelegten Adelsgesellschaft, in der ‚Gut-sein‘ sich nach außen zeigen muss; was im Wortsinn ‚unansehnlich‘ ist, ist deshalb meist böse.17 Solche Überblendungen zwischen einer religiösen, um ‚Schuld‘ zentrierten Ordnung und einer ritterlichen, um ‚Schande‘ zentrierten, sind für Gurnemanz’ Lehre insgesamt typisch. Sie erklären, warum in ihr hygienische Anweisungen mit religiösen Lehren verbunden werden können und warum aus Parzivals ‚Ansehnlichkeit‘, gefasst als geschickede unde schîn (Pa 170,21) – richtiges, passendes und deshalb allgemein bewundertes Verhalten und Auftreten –, sich sein Herrenstatus ergibt, aus dem ethische und religiöse Verpflichtungen abgeleitet werden können: ir tragt geschickede unde schîn, ir mugt wol volkes hêrre sîn. ist hôch und hoeht sich iwer art, lât iweren willen des bewart, iuch sol erbarmen nôtec her: gein des kumber sît ze wer mit milte und mit güete: vlîzet iuch diemüete (Pa 170,21–28).
15
16 17
Frankfurt 1994, S. 450); ähnlich S. 547 zu 173,6; ebd. zu 170, 16 („Schamgefühl“). Zwar ist auch von Parzivals Schamhaftigkeit immer wieder die Rede, aber sie ist bestenfalls ein Teilaspekt dessen, was schame bedeutet, so bei Jeschute (131,6) oder Belakane (27,9). So Kratz: An attempt at a Total Evaluation (Anm. 11), S. 65; diese Bedeutung dominiert etwa Pa 337,22 (Jeschutes und Cunnewares scham verwandelt sich in prîs, Ächtung in Ehre); dabei zeigt übrigens die Kombination der beiden Begriffe, dass für die höfische Gesellschaft Selbst- und Fremdeinschätzung zusammenfallen. Deshalb empfindet Gurnemanz scham über Parzivals Narrenkleider (was Kratz: An attempt at a Total Evaluation [Anm. 11], S. 66 nicht versteht). Vor diesem Hintergrund sind die Ausnahmen – etwa (positiv) Cundrie oder (negativ) Genelun – zu sehen.
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(Euer Auftreten ist passend und glanzvoll,18 Ihr habt recht wohl das Zeug zu einem großen Herrn. Wenn Euer Adel hoch ist und noch weiter steigt, dann richtet Euren Willen darauf, Euch der Leute, die in Not leben, zu erbarmen. Kämpft gegen ihr Leid mit Freigiebigkeit und Güte und ohne Hochmut).
Scham wird im Übrigen in Gurnemanz’ Lehren noch zweimal erwähnt, diesmal in speziellerer Bedeutung. Das erste Mal ist scham die Reaktion des werden man – also eines, der eigentlich ‚dazugehört‘ – auf widrige Lebensverhältnisse, die seiner adligen Ehre widersprechen:19 der kumberhafte werde man wol mit schame ringen kan (daz ist ein unsüez arbeit): dem sult ir helfe sîn bereit (Pa 170,29–171,2). (Ein adliger Mann im Elend hat wohl mit Scham zu kämpfen. Das ist eine saure Plage. Dem sollt Ihr zu helfen bereit sein).
Der glücklichere Standesgenosse muss ihm zu Hilfe kommen, damit er im Kampf mit der Scham obsiegt. Das zweite Mal wird scham auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bezogen. Gurnemanz mahnt Parzival, in der minne aufrichtig und ohne Hinterlist zu sein, sonst nämlich drohe die Verachtung der Frauen, und dies bedeute Schande, für die man sich schämen muss: swenn ir bejaget ir ungunst, sô müezet ir gunêret sîn und immer dulten schemeden pîn. (Pa 172,26–28) (Wenn Ihr deren Gunst [der Minne] verspielt, werdet Ihr Eure Ehre verlieren und immerfort die Qualen der Schande erleiden).
In all diesen Fällen ist das Prinzip Ehre mit einem religiös begründeten Ethos verknüpft. Die Instanzen, die die Abweichung sanktionieren, sind verschiedene: Gott, die Gesellschaft, die Frauen, und ihre Maßstäbe sind keineswegs deckungsgleich, das Fazit aber jedes Mal dasselbe: scham. Es wird zu sehen sein, wie in der viel beschworenen Krise des Helden eine weitere Instanz hinzukommt: sein Selbstgefühl. In den Spannungen zwischen den Urteilen dieser Instanzen liegt ein Grundproblem des höfischen Romans und der höfischen Ethik insgesamt. 18 19
„Grazie am Leib und hellen Glanz“ (Knecht: Übersetzung [Anm. 13], S. 173) scheint mir zu schwach. Es geht um die Verklammerung von (eigenem) Vermögen und Geltung (bei den anderen). Ähnlich zur Armut des Koralus in Hartmanns Erec (302f.; 424–427; 1579f.) und zur Armut der 300 Damen im Iwein (6224; 6228f.; 6299; 6309).
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IV. Dazu zuvor ein kurzer Blick auf Hartmanns Gregorius, in dessen Zentrum zweifellos Schuld und nicht Scham steht. Indem im Laufe der Erzählung Scham über verlorene Ehre zunehmend hinter dem Problem der Sünde zurücktritt,20 scheint der Gregorius die Ablösung einer Schamkultur durch eine Schuldkultur zu spiegeln. Schon der Prolog schlägt das Thema an: Sünde und Gnade, von denen für älliu sündigiu diet (Gr 57) erzählt wird. Ihren Ausgang nimmt die Geschichte allerdings zunächst woanders. Der sterbende Vater gibt dem Sohn, wenn er ihm lant und michel êre (Gr 235) hinterlässt, eine typische Fürstenlehre (Gr 244–258), die den herausragenden Status der Kinder (êre) garantieren soll. Tatsächlich sorgt der junge Fürst in aller Augen vorbildlich für seine Schwester. Die dadurch befestigte êre ärgert den Teufel (ir beider êren in verdrôz, Gr 307); er hat es auf ihre Geltung in der Welt (ir vreuden und ir êren, Gr 315) abgesehen. Der Teufel bedient sich bei seiner Verführung höfischer Werte: Das Begehren des jungen Mannes ist nämlich ambivalent, durchaus positiv geweckt durch minne und schoene der Schwester, negativ angestachelt jedoch durch die Gehässigkeit des Teufels (des tiuvels hoene) und sein jugendliches Ungestüm (kintheit) (Gr 323–327). Es besteht kein Zweifel, dass der Inzest schwere Sünde ist (Gr 689).21 Daneben spielt allerdings mindestens beim ersten Inzest durchaus noch die êre eine Rolle.22 Wenn sie die Nähe ihres Bruders spürt, vertut (versûmte) das Mädchen Zeit mit der Überlegung: „swîge ich stille, so ergât des tiuvels wille und wirde mînes bruoder brût,
20 Hartmann von Aue: Gregorius. Hg. v. Hermann Paul, neu bearb. v. Burghart Wachinger. 15., durchgesehene u. erweiterte Auflage. Tübingen 2004. 21 Vgl. allerdings zu deren Charakter zuletzt Hausmann, Albrecht: „Gott als Funktion erzählter Kontingenz. Zum Phänomen der ‚Wiederholung‘ in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘“. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. v. Cornelia Herberichs u. Susanne Reichlin. Göttingen 2010, S. 79–109, hier S. 99; Hausmann stellt die Frage, ob die Interpretation des ersten Inzests als „Tatschuld“ durch die Protagonisten zutrifft und nicht vielmehr durch die Wiederholung im zweiten, unwillentlich begangenen Inzest (bei dem eine Deutung als ‚Tatschuld‘ ausgeschlossen ist) gezeigt werde, dass auch im ersten Inzest das undurchschaubare Wirken Gottes die eigentliche Ursache ist. Das würde die Todsünde des Inzests aus der theologischen Diskussion persönlicher Schuldhaftigkeit lösen. 22 Darauf hat zuerst Siegfried Christoph aufmerksam gemacht („Guilt, Shame, Atonement in Hartmann’s Gregorius“. In: Euphorion 76 [1982], S. 207–221), der betont, dass eine „exclusively theological perspective“ unzureichend für das Verständnis des Textes ist (S. 207).
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und wirde ich aber lût, sô habe wir iemer mêre verlorn unser êre“ (Gr 385–390). (Schreie ich nicht, dann setzt der Teufel seinen Willen durch und ich werde die Geliebte meines Bruders. Wenn ich aber laut werde, so haben wir für immer unsere Ehre verloren).
So wird das Liebesverhältnis auch insgeheim fortgesetzt (Gr 402–404), bis die Geheimhaltung wegen der Schwangerschaft nicht mehr möglich ist (Gr 443–448). Die Konsequenz ist eine doppelte. Die Schwester beklagt, sie sei zweifach tot, was ihr Heil in der Welt und vor Gott betreffe (bruoder, ich bin zwir tôt/ an der sêle und an dem lîbe, Gr 436f.), denn sie habe um seinetwillen die Gunst Gottes wie der Gesellschaft verloren (wande ich hân durch dich verlorn/ got und ouch die liute, Gr 440f.). Ihre erste Sorge gilt aber weiterhin der Geheimhaltung (Gr 442–447). Auch für ihn gilt die Ehre als oberstes Prinzip (ez stuont umbe al sîn êre, Gr 461). Beider Bemühen ist, auch wenn sie selbst Gottes Gnade (gotes hulde, Gr 471) verloren haben, das daran unschuldige Kind zu retten und einen Weg zu finden, die Schande zu verbergen (ze verhelne unser schande, Gr 489). Das geschieht mit Hilfe eines wîsen man (Gr 491), heimlich an einem heimlichen Ort (Gr 516f.; 529), dort also, wo der Verstoß gegen die êre unbemerkt bleibt: und volge wir sîner lêre: sô gestât unser êre. (499f.) (folgen wir dem, was er uns rät, dann bleibt unsere Ehre intakt).
Swachiu dinc nennt der Bruder das Vorgefallene (Gr 520): etwas Peinliches, der Ehre Abträgliches, nicht etwa Sünde, vielmehr etwas, das alle Ehre aufs Spiel setzt (umbe alle unser êre stât, Gr 531). Ziel ist, die Schande zu verschweigen (daz unser zweier schande/ sî verswigen deste baz, Gr 564f.). Der Ratgeber schlägt eine ebenso fromme wie ehrkonforme Lösung vor: Der junge Fürst soll eine Wallfahrt ins heilige Land machen und die Herrschaft der Schwester übertragen. Das gibt ihm, sollte er dabei sterben, die Chance der Buße für die Todsünde, ist aber auch eine unverdächtige Begründung dafür, dass er sich aus dem Land entfernt, und beendet überdies die Fortsetzung des Liebesverhältnisses. Auch für die Schwester wird eine passende Lösung gefunden; sie soll das Kind, ohne dass jemand etwas merkt, zur Welt bringen (daz des nieman innen wirt, Gr 594; vgl. 669), und dann aussetzen, ohne dass die Mutter der werlde iht emphliehe, des landes sich entziehe. belîbet si bî dem lande,
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ir sünde und ir schande mac si sô baz gebüezen (Gr 601–605). (aus der Welt fliehe und sich dem Land entzieht. Bleibt sie beim Land, kann sie ihre Sünde und ihre Schande besser büßen).
Die Buße für den Inzest soll die Erfüllung der Herrscherpflichten sein. Dennoch ist die Wertehierarchie ins Rutschen geraten. Die eigentliche Konkurrenz zur Liebe Gottes ist nicht mehr die Ehre, sondern die minne. Die Ehre steht nicht nur der Sünde, sondern auch der minne nach: enheten si niht gevürhtet got, sie heten iemer der werlde spot geduldet vür daz scheiden (Gr 639–641). (Wenn sie nicht Gott gefürchtet hätten, hätten sie lieber den Ehrverlust in der Welt als die Trennung erduldet).
Diese Alternative entfällt, aber sie muss eigens abgewehrt werden. Gott und die Ehre verlangen die Trennung. Trotzdem ist die ehrkonforme Lösung, wie der Fortgang zeigt, nicht von Dauer. Hinter der Fassade, die intakt geblieben ist, bereitet sich der zweite Inzest vor. Zunächst dominiert nach wie vor die Ehre, als deren Repräsentant Gregorius gefeiert wird (Gr 2167, 2173). Er kämpft durch got und durch êre (Gr 2070) zu Gunsten der bedrängten Frau. Der Lohn ist die Ehe der Landesherrin mit dem Retter des Landes, die auf Rat der Großen zustande kommt. Nach ihrem Maßstab ist Gregorius ein vorbildlicher Herrscher, der im Übrigen die süntlîche bürde (Gr 2286) seiner Eltern bewusst, freilich insgeheim trägt. Ist darin nicht die Kompromissformel ‚Gott und der Welt gefallen‘ erkennbar? Die Denkordnungen der Welt der êre dominieren noch, wenn Gregorius sich die Verstörung seiner Frau nach Entdeckung der Tafel damit erklären will, dass sie glaube, er sei ein ungeborn man (Gr 2577), also nicht standesgemäß. In der Welt der Ehre wäre das eine hinreichende Erklärung. Sie erweist sich jedoch als falsch, denn es geht nur noch um der sünden grunt (Gr 2497). Allerdings hat die Handlung blinde Stellen. Mit der felix culpa des guoten sündære (Gr 176, 671, 2552, 2606) beschäftigt, hat man dem seltsamen Umstand keine Aufmerksamkeit geschenkt, dass die Entdeckung des doppelten Inzests durch Gregorius und seine Mutter ohne jede Folgen in der Sphäre der Herrschaft bleibt. Der Inzest müsste doch eigentlich die Legitimität der Herrschaft über Aquitanien ruinieren23 und das Paar der 23 Das Inzestverbot reicht im Mittelalter viel weiter als in der Moderne; mit Hilfe der arbores consanguinitatis konnten dynastische Verbindungen zu Fall gebracht oder nachträg-
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Infamie aussetzen. Genau dies war beim ersten Inzest gefürchtet worden. Doch nichts dergleichen geschieht: Gregorius verschwindet einfach, seine Mutter aber soll weiter herrschen, ohne gemach und vreude zwar (Gr 2710), auch durch dehein werltlîch êre (Gr 2713) und sich kasteiend, alle Güter den Armen und der Kirche verteilend (Gr 2714–2735): dem lande und dem guote und werltlîchem muote dem sî hiute widerseit (Gr 2745–2747). (Der Landesherrschaft, weltlichem Besitz und weltlicher Gesinnung sei heute abgeschworen).
Der Inzest löst nicht Scham und Ehrverlust aus. Diese Dimension wird von jetzt an völlig ausgeblendet, bei der Mutter, die in der Welt bleibt, wie bei Gregorius, der sich aus ihr entfernt. Beide rechnen sich den Inzest als Schuld zu, bei ihr durch Fortsetzung der vertuschten ersten Verfehlung immerhin noch plausibel, bei Gregorius, obwohl vom Handlungsablauf ihn nichts dazu zwingt.24 Er verschwindet, ohne dass es einen öffentlichen Ankläger geben müsste. Gregorius wählt nicht den Weg kirchlicher Buße;25 er bestraft sich nicht nur selbst mit bußfertiger Askese, sondern auch mit Infamie. Hartmann zwingt beide Aspekte, Sünde und Schande, zusammen: Gregorius hat, wie er zugespitzt formuliert, eine schämlich missetat begangen (Gr 2687), die ihn mit süntliche[n] schanden (Gr 3597) befleckt. Er entzieht sich dem Forum der Öffentlichkeit, das diese brandmarken müsste, und liefert sich der Bosheit und den Beleidigungen einer Instanz aus, die maximal von der Welt der êre entfernt ist, einem ungeborne[n] (2829) Mann, von [...] swacher geburt aus (Gr 2949).26 Nur dadurch dass er, wie er sagt, ich billich eine/ belîbe unz an mînen tôt (Gr lich für illegitim erklärt werden. Das geschah meist nicht unangefochten. Die sexuelle Beziehung zwischen den Geschwistern oder zwischen Mutter und Sohn war aber ein so krasser Fall, dass darüber kaum Dispute denkbar sind. 24 Röcke hat nach der Relation von Vergehen und Strafe gefragt und die Maßlosigkeit der Buße, das Fehlen eines festen Maßes für die Strafe (S. 638f.) konstatiert. Sie zu bemessen sei allein dem Subjekt aufgegeben; dies sei die ‚Geburt des Gewissens‘, das sich von einem objektiven Bußkatalog emanzipiere. Der Umgang mit der Sünde offenbart ihm zufolge ähnliche Subjektivierungstendenzen wie sie an den höfischen Romanen zu beobachten sein werden (Röcke, Werner: „Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns ‚Gregorius‘“. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hg. v. Matthias Meyer u. Hans-Joachim Schiewer, Tübingen 2002, S. 627–647). Mir scheint darüber hinaus der Charakter der Strafe auf die Regeln einer Schamkultur zu verweisen. 25 Christoph: Guilt, Shame, Atonement, S. 214. 26 Christoph: Guilt, Shame, Atonement, S. 219. „Gregorius renounces all claim to honor and status“ (S. 218).
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3514f.), kann er der Sanktion der Gesellschaft entgehen27 – indem er ihre Prinzipien in seine eigene Entscheidung aufnimmt. Diese sind übrigens keineswegs völlig verabschiedet; sie treten sofort wieder in Kraft, wenn der Büßer gefunden wird und sich seiner Nacktheit schämt. Die radikale Buße schließt nicht eine Option für das radikal Abjekte ein. Gregorius’ Erhebung zum Papst – nicht umsonst Streitgegenstand säkularer Mächte – stellt eben auch das Maximum an êre wieder her (Gr 3151f.; 3546f.), auf die er durch seine Herkunft Anspruch hat. So kommen, freilich deutlich hierarchisiert, zuletzt indirekt doch noch beide Wertordnungen zu ihrem Recht. Die Folgen aber von Scham und Schuld sind vollständig entkoppelt.28 V. In den so genannten Krisen des Artusromans wird das Verhältnis von Scham und Schuld auf andere Weise ausagiert. Mein erstes Beispiel ist Hartmanns Erec.29 Wer verurteilt Erecs verligen und warum? Sexuelle luxuria, die manche Interpreten dem Helden vorwerfen, spielt auf der Textoberfläche offensichtlich keine Rolle; von einer ‚Sünde‘ Erecs in diesem Betracht ist nicht die Rede; sie könnte übrigens auch kaum durch eine Abenteuerfahrt getilgt werden.30 Erec verstößt gegen das Gebot der Ehre, indem er Enite unmäßig liebt: die minnete er sô sêre/ daz er aller 27 „[I]t is not sinful desperatio, however. It is rather a despair of the world, the sense of not being able to reestablish an appropriate social self which will be acknowledged by the others“ (Christoph: Guilt, Shame, Atonement, S. 219). 28 Dass es um ihre Versöhnung geht, zeigt auch die Geschichte der Mutter. Sie leistet Buße inmitten von Herrschaft. Diese Buße wird anerkannt, wenn sie später ihren Sohn als Papst sieht (Gr 3864–3967). Andererseits ist die Welt der êre weit weg, so dass die Mutter und Landesherrin nach dem Wiederfinden ihres Sohnes einfach in Rom bleiben kann. Was mit Aquitanien geschieht, ist gleichgültig. Aber es ist durch den Inzest auch nie in Gefahr geraten. 29 Zitiert nach Hartmann von Aue: Erec. Hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985. Wie zu erwarten, treten scham und verwandte Wörter am häufigsten in Hartmanns Artusromanen auf, im Erec (43,14%) deutlich mehr als im Iwein (33,33%), doch immerhin noch 11,76% der Belege finden sich im Gregorius (nach Yeandle: Schame in the Works of Hartmann von Aue, S. 196). 30 Ich halte es daher für falsch, kirchliche Lehren über fornicatio in der Ehe und Sexualität ohne Zeugungswillen auf den Roman anzuwenden. Problematisch ist Erecs ausschließliche Zuwendung zu Enite, weil sie ihn von seinen Herrscherpflichten ablenkt und deshalb seine und seines Hofes Ehre tangiert: si sprâchen alle: „wê der stunt/ daz uns mîn vrouwe ie wart kunt!/ des verdirbet unser herre.“ (Er 2996–2998: ‚Sie sprachen alle: „Wehe die Stunde, in der wir unsere Herrin kennenlernten; dadurch wird unser Herr zugrunde gerichtet“‘).
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êre/ durch si einen verphlac (Er 2968–2970: ‚die liebte er so sehr, dass er allein ihretwegen alle Ehre in den Wind schlug‘). Verurteilt wird Erec zunächst einmal von der Hofgesellschaft, die den Ehrverlust konstatiert: in schalt diu werlt gar./ sin hof wart aller vreuden bar/ unde stuont nâch schanden (Er 2988–2990: ‚Die ganze Gesellschaft tadelte ihn; sein Hof verlor alle Freuden und zeichnete sich nur noch durch Schande aus‘). In Chrétiens Erec et Enide ist Enide ganz eindeutig Anwältin der Hofgesellschaft, wenn sie Erec diesen ehrlosen Zustand vor Augen rückt.31 Der Vorwurf erfolgt zwar in der Abgeschiedenheit der Kemenate, doch ist in Enides Worten der Hof virtuell anwesend. Diese Konstellation hat Hartmann verändert und damit eine schon bei Chrétien angelegte Tendenz von scham zu schult verstärkt. Enite spricht vor sich hin; sie ist nicht Wortführerin der anderen, sondern beklagt, daz ich mînem lîbe/ sô manegen vluoch vernemen sol (Er 3031f.: ‚dass ich so viele Verwünschungen gegen mich hören muss‘). Sie schreibt sich die Schuld an Erecs Ehrverlust (Schande) zu (Er 3007f.; schult freilich im Sinne von Ursache) und überlegt, wie sie dessen Folgen, die Gegnerschaft der Hofgesellschaft (alsô gemeinen haz, Er 3006), abwenden könne. Die Instanz der anderen bleibt also im Hintergrund zwar präsent, und ihre Norm der Ehre bestimmt Enites Selbsteinschätzung, doch beginnt sich das Problem auf das Verhältnis zwischen den Liebenden zu verschieben, und da bekommt schult eine andere Färbung. Erec versteht den unausgesprochenen Vorwurf. Er sucht jetzt aber bezeichnenderweise nicht das Licht der Öffentlichkeit, um sich zu rehabilitieren, sondern rüstet sich insgeheim, verholne, aus (Er 3064). Beim Erkennen des Defizits und beim Aufbruch ist also gerade die Instanz abwesend, vor der er seine Ehre verloren hat und vor der diese auch am Ende der Ritterfahrt glanzvoll wiederhergestellt wird. Erecs Vergehen ist zwar ein Verstoß gegen die Ehre,32 aber er rechnet es sich als eine persönliche Schuld an, die Wiedergutmachung verlangt.33 Das gleiche gilt für Enite. Ginge es nur um die Wiederherstellung von Ehre, dann wäre das Leben, zu dem Erec sie auf der Abenteuerfahrt verurteilt, unpassend (und als solches wird es ja auch beurteilt), selbst wenn man es anfänglich als Strafe für ein unziemliches Verhalten der Ehefrau gegen ihren Mann deuten könnte. Ihre Erniedrigung, ihre notwendigen Verstöße gegen Erecs
31 32 33
Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten. München 1979, 2561–2570. So Szövérffy: ‚Artuswelt‘ and ‚Gralwelt‘, S. 38f. Das widerspricht dem gängigen Bild (Szöfférvy, Ward, Yeandle), dass êre im Erec im Wesentlichen äußere Reputation meine.
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Willkürgebot und ihre Todeserfahrung haben nichts mit der Gesellschaft, wohl aber mit dem Binnenverhältnis des Paares zu tun. Die Differenz der Bewertungsmaßstäbe wird evident, wenn Erec von Keie an den Hof des Artus gebracht werden soll und der Hof sich ihm förmlich aufdrängen muss. Zunächst will Keie Erec zwingen, ihm als eine Art Kampftrophäe an den Hof zu folgen, was schief geht. Keie unterliegt im Zweikampf, muss seinen Namen nennen und am Hof die Schande seiner Niederlage (wieder die charakteristische Formulierung: schemelîchez mære, Er 4840) bekannt machen. Erec dagegen verweigert dem unterlegenen Keie seinen Namen und schlägt damit auch die Ehre aus, die Keie ihm vor dem Hof des Artus zuschreiben würde (Er 4829). Keie hat ihn trotzdem erkannt (Er 4852–4857), und der Hof folgt seiner Vermutung. Am Artushof hat man Erecs Ehre nie in Zweifel gezogen und will ihn deshalb ehrenvoll empfangen (Er 4861–4879). Erec lehnt jedoch ab, wenn Gawein ihn in Artus Namen an den Hof bittet, obwohl er Artus seine Loyalität zusichert: ich hân ze disen zîten/ gemaches mich bewegen gar (Er 4977f.: ‚ich habe im Augenblick auf jede Art von angenehmen Leben [am Hof] verzichtet‘). Der Hof muss sich ihm in den Weg legen. Obwohl Erec sich für ungeeignet, am Hof zu erscheinen, für unhovebære, erklärt (Er 5064), wird er von allen geehrt: ez enwart ouch groezer werdekeit noch volleclîcher êre nie manne erboten mêre dan im dâ ze hove geschach (Er 5085–5088). (Niemals wurde größere Wertschätzung und reichlichere Ehre einem Mann erwiesen, als ihm da am Hof erboten wurde).
Die Anerkennung der anderen ändert aber nichts an seinem Entschluss weiterzureiten. Der Hof missbilligt das (diz dûhte si alle missetân, Er 5273), doch Erec ist erst, nachdem er sich in der zweiten Aventiure-Reihe als Heilsbringer bewiesen hat, bereit, von Artus und der Hofgesellschaft der êren krône zu empfangen (Er 9891; vgl. 9944–9951; 9963–9968; 10037–10045). Mir kommt es wieder auf diese Entkoppelung an. Die Maßstäbe des Artushofes und die Erecs stimmen nicht überein. Das Verhältnis von Hof und Einzelritter, von Institution, die über êre entscheidet und Person, die êre sucht, ist gestört. Erec, nicht der Hof entscheidet, wann der Makel getilgt ist. Erecs Maßstäbe sind strenger als die der Artusrunde. Erst ganz zuletzt kommen beide wieder zusammen. Wenn die Ehre also weiterhin den Handlungszusammenhang bestimmt, so beginnt sie sich jedoch von der gesellschaftlichen Instanz zu lösen, die über sie verfügt. Der Artushof konstatiert keinen Ehrverlust, dessen Erec sich schämen müsste; von
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einer schult Erecs lässt sich im strengen Sinn gleichfalls nicht sprechen, doch rechnet sich Erec, was ihn anfangs in den Augen der Gesellschaft disqualifiziert, als persönliche Verfehlung an, über deren Tilgung nicht mehr der Hof allein entscheidet. VI. Anders als bei der ‚Krise‘ des Erec ist im Iwein34 wie im Parzival der ganze Hof Zeuge der Beschuldigung des Helden, und trotzdem lässt sich auch dort die Dissoziation der Maßstäbe feststellen. Es fällt nämlich auf, dass der Hof, obwohl doch selbst beschädigt, solange der öffentlich bloßgestellte Held zu ihm gehört, keineswegs dieselbe Konsequenz wie dieser aus den Anschuldigungen der Lunete (bzw. im Parzival der Cundrie) zieht. Dabei ist er der erste Adressat der Anklage; an ihn, nicht an den Helden wenden sich beide zuerst. Lunete beginnt: Künec Artûs, mich hât gesant mîn vrouwe her in iuwer lant: und daz gebôt sî mir daz ich iuch gruozte von ir, und iuwer gesellen über al; wan einen: der ist ûz der zal (Iw 3111–3116). (König Artus, meine Herrin hat mich hierher in Euer Land geschickt und mir befohlen, Euch ihren Gruß zu überbringen, und all Euren Gefährten, nur einem nicht, der gehört nicht dazu).
Deutlicher noch ist Cundrie: die besten über elliu lant sæzen hie mit werdekeit, wan daz ein galle ir prîs versneit. tavelrunder ist entnihtet: der valsch hât dran gepflihtet (Pa 314,26–30). (Hier wären die besten Ritter der Welt in Ehren versammelt, wenn nicht ihr Ruhm durch Gallenbitternis verschnitten wäre; die Tafelrunde ist ruiniert, denn Verrat hat sich in ihr breit gemacht).
Erst danach wenden sich beide zu Iwein bzw. Parzival und beschimpfen sie (Iw 3137–3180; Pa 315,17–318,4). Die Anschuldigung hat zwei
34 Hartmann von Aue: „Iwein“. In: Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hg. v. Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters 6). Frankfurt 2004.
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Teile; der erste richtet sich an die Gesellschaft, die ihr Mitglied ächten soll, der zweite an dieses selbst. Der Vorwurf ist beide Male Bruch von triuwe; triuwe schließt alle positiven zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen, vom Versprechen, nicht feindlich zu handeln und Zusagen einzuhalten, über politische Bündnisse, Verpflichtungen innerhalb des Verwandtschaftsverbandes oder zwischen gesellen bis hin zur affektiven Zuwendung zum anderen, zur Frau, selbst zu Gott.35 Der Vorwurf mangelnder triuwe spricht jemandem jedwede Soziabilität ab. Genau dies geschieht mit Iwein. Deshalb nennt Lunete ihn einen verrâtære (Iw 3118), d. h. jemanden, der die anerkannte Ordnung von Grund auf zerstört, von dem man untriuwe ode ungemach (Iw 3122) zu erwarten hat. Sie fordert die anwesenden Herren auf, Iwein künftig vür einen triuwelôsen man anzusehen (Iw 3183) und aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen, denn seine Verfehlung wirkt ansteckend auf seine Umgebung. Auch Lunete selbst ist durch ihn eidbrüchig und zur Verräterin (meineide/ und triuwelôs beide, Iw 3185f.) geworden, weshalb ihr später der Prozess gemacht werden wird. Selbst Artus läuft Gefahr, Teil an Iweins Schande zu haben, wenn er auf triuwe und êre keine Rücksicht nimmt: und mac der künec sich iemer schamen hât er iuch mêre in rîters namen, sô liep im triuwe und êre ist (Iw 3187–3189). (Der König wird, wenn ihm triuwe und êre etwas gilt, immer Schande haben, wenn er Euch länger zu seinen Rittern zählt).
Der Zusammenhang scheint klar: Iwein hat gegen das Grundprinzip mittelalterlicher Gesellschaft (triuwe) verstoßen, damit die Ehre des Hofes, der sie repräsentiert, verletzt. Sein Verbleib dort würde den Hof in Schande stürzen; der König müsste sich dann schämen. Iwein sollte vom Hof vertrieben werden. Worin besteht eigentlich Iweins Verfehlung? Ehrenrührig im Sinne des Hofs ist seine Turnierwut nicht, und öffentlich zu sanktionierende Schuld ist sie auch kaum. Iwein hat sein Versprechen Laudine gegenüber gebrochen, nach Jahr und Tag zu ihr zurückzukehren und seine Rolle als Landesherr und Verteidiger der Gewitterquelle zu erfüllen. Das Versprechen hat rechtliche und politische Implikationen. Vor ihrem Hintergrund scheinen die Vorwürfe der Treulosigkeit und des Verrats durchaus
35
Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 153–163; vgl. Ehrismann, Otfrid: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 211–216.
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gerechtfertigt.36 Allerdings beseitigt Iweins Ächtung das politische Problem keineswegs, sondern verschärft es eher. Laudine wird einige Zeit zu warten haben, bis ihr wieder ein Mann als Landesherr und Verteidiger der Quelle zur Seite steht. Die Ahndung von untriuwe schafft nicht den rechtlosen Zustand, der ihre Folge ist, aus der Welt, weshalb sich fragt, ob hier überhaupt das Hauptgewicht liegt. Könnte hinter dem politischgesellschaftlichen Problem nicht noch ein anderes stehen und der Konflikt wie im Erec auf dieses Problem verschoben werden? Auffälligerweise wird auch nach Lunetes Auftritt Iweins Rolle als Ritter nie in Frage gestellt, wohl aber sein Verhältnis zu Laudine. Nur so ist die Fortsetzung der Geschichte zu verstehen: Wo nach den Worten der Lunete Iwein vom König aus der Tafelrunde ausgeschlossen werden müsste, heißt es: Er verlôs sîn selbes hulde (Iw 3221), und das bedeutet nun einmal: nicht die Gunst des Königs und seines Hofes verlor Iwein, sondern die ‚Gunst seiner selbst‘. Das politisch-gesellschaftliche Prinzip hulde wird auf das Selbstverhältnis übertragen. Der König als Repräsentant des Hofes dagegen reagiert geradezu entgegengesetzt: nû was dem künge starke leit des hern Îweins swære, unde vrâgte wâ er wære und wolde in getroestet hân unde bat nâch im gân (Iw 3240–3244). (Nun bekümmerte den König das Leid Herrn Iweins sehr, und er fragte, wo er sei; er wollte ihn trösten und bat, ihn zu suchen).
Der Hof schließt Iwein gerade nicht aus, sondern sucht ihn – damit man ihm zeigt, dass er weiter dazugehört? Die Sanktion der Ehre ist also nicht nur politisch kontraproduktiv, sondern der Hof verweigert sie; sie wird von diesem auf die des Helden verschoben. Für Iwein aber spielt, was die anderen sagen, offensichtlich keine entscheidende Rolle: ern hazte37 weder man noch wîp, niuwan sîn selbes lîp.
36 Vgl. besonders Mertens, Volker: Laudine. Soziale Problematik im Iwein Hartmanns von Aue. Berlin 1978. Mertens hat auf den Rechtscharakter der Frist ‚nach Jahr und Tag‘ verwiesen. Festzuhalten ist freilich, dass der Bruch des Versprechens gerade nicht als Rechtsproblem behandelt wird. Dann wäre übrigens auch die Lösung am Schluss unangemessen. 37 In älteren Ausgaben konjiziert zu: ahte; vgl. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer. Berlin 1968. Entscheidend ist beide Male, dass nicht der Konflikt mit der Gesellschaft, sondern das gestörte Selbstverhältnis im Vordergrund steht.
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er stal sich swîgende dan (daz ersach dâ nieman) (Iw 3225–3228). (Er haßte keinen anderen, nur sich selbst, und schlich sich leise davon; niemand sah das da).
Statt die Reaktion der anderen abzuwarten, die doch über den Ehrvorwurf entscheiden müssten, macht er sich selbst solche Vorwürfe, dass er den Verstand verliert. In seiner Jagd auf Ascalon hatte er sich noch um einen Beweis für seinen Sieg bemüht und damit den Regeln einer Schamkultur gemäß gehandelt.38 Nach Lunetes Auftritt vor dem Hof ist es nicht mehr die Schande, die ihn um seinen Verstand bringt, sondern vrou Minne (Iw 3254), sein zerstörtes Verhältnis zu Laudine. Schon bevor die Unglücksbotin kam, hatte er sich an seine Verfehlung erinnert (Iw 3082–3092). Seine Selbstvorwürfe gehen der Anklage vor dem Hof voraus. Gewiss spielt scham im höfischen Sinne durchaus weiterhin eine Rolle – wie bei Gregorius –, aber sie ist nicht mehr zentral, eher ein Randphänomen: So legt man ihm, wenn man ihn von seinem Wahnsinn heilen will, rücksichtsvoll passende Kleider hin, damit ihm die für den Ritter und Hofmann schemlîchiu schande, nackt gesehen zu werden, erspart wird (Iw 3490). Für die Wiederherstellung seines Selbst ist das aber nur noch eine Nebenbedingung; die ihm von der Gesellschaft zurückgegebene Identität reicht nicht aus, macht aus ‚Iwein‘ nur den alleits bewunderten ‚Löwenritter‘. Seine Ehre wird rasch wiederhergestellt, zuerst im Kampf für die Dame von Narison, dann in den folgenden Aventiuren, die ihm ein solches Renommee in der ritterlichen Gesellschaft verschaffen, dass man von weit her seine Hilfe sucht. Auch sein Einsatz für das ‚Recht‘ macht den Bruch seiner rechtlichen Verpflichtung wieder gut. Das alles reicht aber nicht. Auch nach seiner Heilung bleibt es bei seiner negativen Selbsteinschätzung, was sich in seinem Namenswechsel ausdrückt, den zunächst nicht einmal der Artushof durchschaut. Als ‚Löwenritter‘ ist er auf seine soziale Rolle, auf das generische Prinzip vorbildlichen Rittertums reduziert.39 Er hat noch einen langen Weg vor sich, bevor er bei Laudine wieder ‚Iwein‘ sein darf. Dies aber – die gnâde seiner Dame und nicht etwa die Anerkennung der Artusgesellschaft – ist Bedingung dafür, dass er sich nicht mehr ‚schämen‘ muss, seines bisherigen Lebens und seines Namens, der damit verknüpft ist (mîns lebens und mîns rehten namen, Iw 5500). Damit
38 Vgl. Szövérffy: ‚Artuswelt‘ and ‚Gralwelt‘, S. 37f. 39 Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 241–245.
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aber wird schame aus ihrem genuin gesellschaftlichen Zusammenhang herausgelöst.40 Im Lichte globaler Interpretamente wie ‚Schamkultur‘ vs. ‚Schuldkultur‘ ist die Handlungsfolge befremdlich. Offensichtlich geht es bei der Anschuldigung um Ehre, aber ebenso offensichtlich nimmt die Instanz, die über Ehre entscheidet, die Anschuldigung nicht so ernst, dass sie den Beschuldigten so rasch wie möglich entfernt, sondern bleibt ihm in fortdauernder Sympathie verbunden. Der Artusritter Iwein wird, nachdem er verschwunden ist, bis zuletzt gesucht, und wenn sein Inkognito gelüftet ist, wird er von allen gefeiert. Dagegen zieht Iwein selbst sofort und rückhaltlos die Konsequenz, aber nicht weil er seine Ehre verletzt sieht, sondern weil er in dem Vorwurf eine Schuld erkennt, die er sich sogar schon vor dem öffentlichen Auftritt eingestanden hatte. Die Ehre wird zwar vor allen verhandelt, aber für Iwein wird sie eine Kategorie des Selbstverhältnisses.41 Dessen Störung kann kein Kollektiv wiederherstellen. Kollektive Schande und individuelle Scham fallen auseinander; ihre Korrektur muss auf anstrengende Weise wieder miteinander zur Deckung gebracht werden. Das gelingt nur durch die prekäre, komödienhaft ausgestellte Konstellation des doppelten Schlusses: eines am Hof des Artus, eines zweiten an dem der Laudine. Die Rehabilitierung vor Artus bedeutet Iwein nichts; er stiehlt sich ein drittes Mal davon, um den unseligen Mechanismus der Gewitterquelle wieder in Gang zu setzen, zur Not immer wieder aufs Neue. Seine Laufbahn als Artusritter mündet in eine Aporie. Für die Versöhnung mit Laudine scheint die Wiederherstellung der Ehre gleichgültig. Ausgerechnet in Szenen, die die persönliche Identität des Helden eng mit seiner Rolle vor der Gesellschaft verklammern, in denen der persönliche Vorwurf, der ihn trifft, in der Form einer Anklage vor dem König und seinem Hof erzählt wird, ist der Zusammenhang zwischen Selbstverlust und Verlust der gesellschaftlichen Stellung entkoppelt. Nur auf Umwegen ist das Renommee des Löwenritters Mittel, das Lunete benutzen kann, um das Verhältnis zu Laudine und damit zu sich selbst wiederherzustellen.
40 Insofern geht es Iwein primär gerade nicht mehr um „public reputation“ (anders Yeandle: Schame in the Works of Hartmann von Aue, S. 206f.). 41 Aus diesem Grund geht Szövérffys Charakteristik der Artuswelt als ‚Schamkultur‘ nicht auf (‚Artuswelt‘ and ‚Gralwelt‘ ).
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VII. Einen ähnlich seltsamen Befund haben wir im Parzival. Es ist zuerst Sigune, die Parzival vorwirft, durch das Unterlassen der Frage auf der Gralsburg die Ehre verloren zu haben: gunêrter lîp, verfluochet man! [...] iuch solt iur wirt erbarmet hân (Pa 255,13/ 17: ‚ehrloser Mensch, verfluchter Mann! Euer Gastgeber hätte Euer Mitleid erregen sollen‘); an seiner triuwe klebe Gift (dâ diu galle in der triuwe/ an iu bekleip sâ niuwe, Pa 255,15f.).42 Eine Wiedergutmachung (wandel, Pa 255,24) ist ausgeschlossen. Dies ist vor dem Hintergrund der unmittelbar folgenden Episode zu sehen, der Begegnung mit Orilus und Jeschute, denn in diesem Fall, im Kontext der Artuswelt, gelingt eine Wiedergutmachung: Parzival kann die schlimmen Folgen seines Übergriffs auf Jeschute durch ritterlichen Kampf, und indem er dem Gegner seinen Willen aufzwingt, tilgen. Strukturell ließe sich sagen, dass die Wiedergutmachung, die Hartmanns Helden im zweiten Cursus des Doppelwegs zu leisten haben, bei Wolfram bereits vor der Krise am Artushof einsetzt. Was auf der Gralsburg geschehen ist, ist aber offenbar von anderer Art; hier steht wandel nicht in Parzivals Macht. Auch Cundrie wirft Parzival Verletzung der triuwe vor. Nach ihren massiven Anschuldigungen fragt der Erzähler: waz half in küenes herzen rât unt wâriu zuht bî manheit? und dennoch mêr im was bereit scham ob allen sînen siten. den rehten valsch het er vermiten: wan scham gît prîs ze lône und ist doch der sêle krône. scham ist ob siten ein güebet uop (Pa 319,4–11).
Knecht übersetzt: Was hatte ihm sein kühnes Herz geholfen, was seine Tapferkeit mitsamt den wirklich feinen Sitten? Es mußte sich doch in ihm erst noch recht die höchste von seinen Tugenden bewähren, das ist die Scham. Sie hatte ihn noch keinen wirklichen Verrat begehen lassen; denn die Scham belohnt mit weltlicher Ehre,
42 Szövérffy: ‚Artuswelt‘ and ‚Gralwelt‘, S. 44 sieht in diesen Worten die Brücke eines Übergangs von der Scham- zur Schuldkultur. Zuvor hatte sie Parzivals Verfehlung noch ausdrücklicher im Sinne des älteren Paradigmas ausgelegt: durch die unterlassene Mitleidsfrage habe er seine Ehre verloren (255,26f.: ze Munsalvæsche an iu verswant/ êre und rîterlîcher prîs). Szövérffy sieht das Ziel in 456,30 erreicht, wenn Parzival gegenüber Trevrizent bekennt: ich bin ein man der sünde hât (vgl. S. 45). Was Szövérffy nicht beachtet, ist, dass dieser Satz in der Mitte des Romans fällt und die Welt der Ehre, auch für Parzival, präsent bleibt.
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und sie ist zugleich die Krone der Seele. Scham ist noch mehr als alle anderen Tugenden ein wohlbestelltes Tagwerk.
Die Übersetzung wirft Probleme auf. Knecht trennt Wolframs Aussagen in solche, die auf die Vorvergangenheit und solche, die auf die Zukunft bezogen sind. Aber ist das richtig? Wieso muss Parzival scham noch bewähren? Und durch welche späteren Verhaltensweisen geschieht das? Hat er nicht schon alle Vorzüge, ohne dass das nutzte? Heißt es deshalb nicht eher: Was halfen ihm, was sein kühnes Herz ihm eingab, und sein wahrhaft höfisches Verhalten bei männlichem Wesen? Darüber hinaus verfügte er noch über scham, die höchste aller seiner Tugenden?
Daran schließt sich bruchlos an: Wirkliche Bosheit (valsch) hatte er gemieden; denn scham belohnt mit Ehre und krönt die Seele; sie ist ein praktisch geübtes Verhalten an der Spitze aller Sitten.
Was Knecht in Vergangenheit und Zukunft scheidet, liegt offenbar auf ein und derselben Ebene. Auch Nellmann43 bemerkt, der Erzähler nehme hier Parzival in Schutz: Er „habe es nicht wirklich [wie von Cundrie behauptet] an triuwe fehlen lassen“, wobei er valsch als Gegenbegriff zu triuwe auffasst. Bedeutet das, dass der Erzähler Cundries Anklage desavouiert? Oder liegen Vorwurf und Rechtfertigung auf unterschiedlichen Ebenen? Könnte es sein, dass hier zwei Urteilsinstanzen miteinander konkurrieren? Der Erzähler nennt zunächst die ritterlichen und höfischen Vorzüge, die Parzival bisher glanzvoll bewährt hat und über die er offenbar weiter verfügt; sie sind nach Cundries Beschuldigungen nichts mehr wert. Wie aber ist die Fortsetzung zu verstehen? Fehlt Parzival scham oder wird nicht eher diese Tugend den bisher genannten Vorzügen hinzugefügt, nicht ohne sie noch einmal, wie schon in Gurnemanz‘ Lehre und wie zuvor als religiös-ethische Tugend (sêlen krône), an die Spitze aller anderen Tugenden zu stellen. Wenn dies so wäre, dann hätte die scham genau so wenig wie die anderen Tugenden verhindert, was Parzival vorgeworfen wird.44 Scham gehört als Reaktion auf Schande, auf die Kehrseite ritterlicher Ehre, zu jener Kultur, deren höchster Repräsentant Parzival bis dahin war. Im Parallelfall des Gawan, der von Kingrimursel vor dem Hof angeklagt
43 Nellmann: Kommentar, II, S. 619f. Diese Auffassung – dass Parzival stets sich an schame orientiere – dominiert in der Forschung durchaus. 44 Auch Kratz: An attempt at a Total Evaluation, S. 67 ist der Ansicht, dass mit den Versen 319,6–11 Parzival ausdrücklich bescheinigt wird, solche scham zu besitzen.
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wird, erscheint scham in dieser gewöhnlichen Bedeutung. Ein ritter ordenlîchez lebn (Pa 321,27) schließt, wie Kingrimursel sagt, rehtiu scham und werdiu triwe (Pa 321,29) ein. Beides habe Gawan verletzt. Würde er weiter trotz dem, was ihm vorgeworfen wird, beanspruchen, zur Tafelrunde zu gehören, dann wäre das unverschämt (Hêr Gâwân sol sich niht verschemn, Pa 322,1).45 Hier ist der Zusammenhang von Verfehlung und Strafe, von êre und scham klar, und deshalb muss Kingrimursels Vorwurf widerlegt werden; sonst könnte Gawan nicht rehabilitiert werden. Mit dem Vorwurf gegen Parzival aber steht es anders. Cundries Rede ist wahr; sie wird nie zurückgenommen, auch nicht, wenn sie Parzival um Verzeihung bittet. Parzival muss die Frage stellen. Mit Cundries Vorwurf kommt eine Dimension ins Spiel, die nichts mehr mit scham und êre zu tun hat. Deshalb ist die Anklage für Parzival zunächst unverständlich und Zeichen für Gottes Versagen. Was Cundrie Parzival vorwirft und was Parzival sich als Verfehlung zurechnen soll, beeinträchtigt daher auch seine Ehre bei den anderen zunächst nicht.46 Im Gegenteil, die Damen beginnen zu weinen (Pa 319,12–18); für sie ist er nicht stigmatisiert, so dass er, wie Gurnemanz gedroht hatte, durch ihre Verachtung schemede pîn leiden müsste. Der Hof entnimmt den Worten der Cundrie zunächst und vor allem die Erkenntnis, dass der unbekannte Held der Sohn Gahmurets ist und also dank seiner Herkunft ‚dazugehört‘. Man freut sich trotz allem, was man gehört hat, über seine Anwesenheit: nu sol ein ieslîch Bertenoys sich vröun daz uns der helt ist komn, dâ prîs mit wârheit ist vernomn an im und ouch an Gahmurete (Pa 325,30–326,3). (nun soll jeder Mann des Artus sich freuen, daß der Held zu uns gekommen ist, denn wahrhaftiges Lob hört man von ihm und Gahmuret).
Allenfalls ist diese Freude nach Cundries Angriff vermischt (geparriert) mit trûren (Pa 326,7; 10). Man versucht, Parzival zu trösten (Pa 326,14; 327,25). Nach den gewöhnlichen Maßstäben der Artusrunde hatte es so ausgesehen, als habe der Roman sein Ziel erreicht, an dem alle Rätsel aufgeklärt sind und der Held als Ordnungsstifter anerkannt ist. In diesem Sinne konnte Parzival den vormals feindseligen Clamide mit der von 45
Kratz: An attempt at a Total Evaluation, S. 65; zum Verhältnis der beiden Anklagen zueinander Martin: Shame and Disgrace at King Arthur’s Court, S. 76f. 46 Fuchs-Jolie, Stephan: „lebendec begrabn. Ein Versuch über Parzivals Unsichtbarkeit“. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hg. v. Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 33–56: „Nun kann keine Rede davon sein, dass die Artusgesellschaft ihm die Huld entzogen habe“ (S. 33).
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Keie widerrechtlich gezüchtigten Cunneware vermählen. Die heidnische Dame von Janfuse preist Parzival gar als Garanten (stiure) von Ehre, indem durch ihn al getouftiu diet/ mit prîse sich von laster schiet (Pa 329,5f.: ‚alle Christen sich von Schande zu Lob statt Schande erhoben haben‘). Aber im selben Augenblick, in dem das Ziel erreicht ist, erweist es sich als verfehlt. Wie bei Erec: Es hilft nichts; Parzival antwortet der Dame von Janfuse: ine bin doch trûrens niht erlôst (Pa 329,18) – solange nicht, bis er den Gral wiedersieht (Pa 329,25f.). Daher lässt sich nicht mehr sagen, dass scham in dem bisher explizierten Sinn Antrieb für seinen erneuten Aufbruch vom Artushof ist, „primarily because of his lowered prestige and reputation, not from a sense of guilt in itself“.47 Parzival erkennt, dass der Grund seines Versagens in dem liegt, was ihn als Ritter eigentlich auszeichnet: Sol ich durch mîner zuht gebot/ hoeren nu der werlte spot (Pa 330,1f.: ‚soll ich, weil ich meiner guten Erziehung folgte, jetzt von allen verspottet werden‘), wenn er auch einräumt: sô mac sîn râten niht sîn ganz (‚dann kann seine Lehre [die Lehre der zuht] nicht vollständig sein‘). Und zu dieser zuht gehört, das weiß man seit Gurnemanz’ Lehre, auch scham. Parzival appelliert an alle, die unter dem gleichen Gebot stehen (durch iwer zuht, Pa 330,8), ihm zu raten, wie er die Anerkennung dieser Welt wieder gewinnen kann (daz i’uwern hulden næhe mich, Pa 330,9).48 Die Formulierung zeigt aber, dass auf dieser Ebene der Konflikt nicht lösbar ist. Parzival legt den Vorwurf im Horizont von Ehre aus, indem er sich ausgestoßen fühlt. Die Lösung liegt aber jenseits der Interaktionsregeln der höfischen Gesellschaft und jenseits des Aktionsradius eines Aventiure-Ritters, obwohl Parzival zunächst die Folgen der öffentlichen Anklage in herkömmlicher Weise versteht, indem er annimmt, die hulde der anderen verloren zu haben. Er will sich wieder um die verlorene Ehre bemühen: swenne ich her nâch prîs genim,/ sô habt mich aber denne dernâch (Pa 330,14f.: ‚wenn ich von jetzt an Ruhm erwerbe, dann nehmt mich wieder dementsprechend auf‘). Bis dahin sieht er sich durch Ehrverlust von den anderen isoliert: ir gâbt mir alle geselleschaft,/ die wîle ich stuont in prîses kraft (Pa 330,17f.: ‚ihr nahmt mich alle in eure Gemeinschaft auf, solange ich mich im Glanz der Ehre sonnte‘). Er entlässt die Leute des Artus aus ihrer Verpflichtung, bis er gebüßt hat (unz ich bezal, Pa 330,19). Deshalb ist sein Abschied in seinen Augen notwendig (Pa 331,25f.). Den 47 So Kratz: An attempt at a Total Evaluation, S. 65; vgl. S. 22; 275. 48 Schu, Cornelia: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkrit von Wolframs Parzival. Frankfurt 2002, S. 269f. betont, wie sehr bei den Vorgängen auf der Gralsburg die zuht hervorgekehrt wird (vgl. die Diskussion von Parzivals Verhalten S. 267–279).
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anderen aber erscheint er unpassend, und er wird allgemein beklagt: des moht et niemen dâ gezemn:/ daz er sô trûrec von in reit (Pa 331,8f.: ‚das konnte niemandem da passen, dass er so traurig von ihnen wegritt‘). Offenbar decken sich die Maßstäbe Parzivals und die des Hofes nicht mehr. Ehre und scham bedeuten für den Helden und für den Hof jeweils etwas anderes. Parzival schämt sich und flieht deshalb die Artusgesellschaft, obwohl ihm eine Verfehlung vorgeworfen wird, die in deren Augen keine ist. Scham und Schuld sind auseinander getreten. Den gravierenden Unterschied zu den ‚Krisen‘ bei Hartmann hat man längst gesehen: Parzival begibt sich keineswegs auf einen Weg der Wiedergutmachung,49 sondern fällt zunächst einmal aus allen Ordnungen heraus. So lange er das Geschehen in Kategorien der ritterlich-höfischen Gesellschaft beurteilt, kann er nur Unverständnis für Gottes Willkür zeigen. Wenn Trevrizent seine Fehlhaltung korrigiert hat, steht ihm das Verhaltensprogramm eines Hartmannschen Artusritters nicht mehr offen. Trotzdem braucht es noch hunderte von Versen bis er zum Artushof zurückfindet, aber keiner einzigen Tat, die ihn in den Augen des Hofs rechtfertigen würde. Der Katalog erfolgreich bestandener Kämpfe, deren er sich rühmen kann, kann die Berufung zum Gral nicht erklären. Lange Zeit hat man das IX. Buch zu direkt als Schlüssel zum religiösen Gehalt des Parzival gelesen;50 wenn dies in jüngeren Arbeiten zunehmend relativiert wurde, dann betrifft das doch nicht den grundsätzlichen Perspektivenwechsel, der mit diesem Buch einsetzt. Mit diesem Buch löst sich Parzival endgültig aus dem Kreis arthurischen Wettstreits um Ehre, der auch nach seiner Entfernung vom Hof sein Denken bestimmt hatte, so dass er mit Gott hadert, weil der offenbar andere als ritterliche Maßstäbe anlegt (Pa 461,9–26; 472,1–11). Er kämpft weiter als Ritter, aber die Maximierung von Ehre bringt ihn seinem Ziel, dem Gral, keinen Schritt näher. Er kann trotzdem zum Gral berufen werden. Mit der Begegnung mit Trevrizent ändert sich der Ton von Anfang an: ich bin ein man der sünde hât (Pa 456,30), lauten Parzivals Worte schon bei der Begrüßung. Sie beziehen sich wohl auf sein Bewusstsein, sich von Gott entfernt zu haben, was seinen Aufzug am Karfreitag erklärt. Trevrizent fordert ihn auf abzuladen, waz ir kumbers unde sünden hât (Pa
49 Haug, Walter: „Parzival ohne Illusionen“. In: DVjS 64 (1990), S. 199–217. 50 Zur älteren Forschung: vgl. Bumke, Joachim: Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie. München 1970, S. 150–176; Schröder, Joachim: schildes ambet umben grâl. Untersuchungen zur Figurenkonzeption, zur Schuldproblematik und zur politische Intention in Wolfram von Eschenbachs [!] ‚Parzival‘. Frankfurt 2004, S. 60–68. Demgegenüber schon Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart 61991, S. 128–132; 178–180.
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467,21: ‚was Eure Leiden sind und Eure Sünden‘); sünde ist ein Leitbegriff des Gesprächs der beiden, die Erbsünde, die das Menschengeschlecht von Adam her prägt: unt daz diu sippe ist sünden wagen, sô daz wir sünde müezen tragen (Pa 465,5f.) (und daß diese Verwandtschaft uns mit Sünde belastet, so daß wir die [Erb] Sünde tragen müssen).
Daraus ergibt sich, unabhängig von individuellem Vergehen, die Verpflichtung, die sünde zu büßen (Pa 465,13; 466,13). Ihren ritterlichen Dienst um den Gral leisten die templeise nicht um der Ehre willen, sondern im Bewusstsein ihrer Sündenschuld (Pa 468,30); dafür sind sie von der Schande der Sünde für immer befreit (vor sündebæren schanden/ sint si immer mêr behuot, Pa 471,10f.). Das Unterlassen der Frage ist auf Sündhaftigkeit zurückzuführen (Pa 473,14), für die Parzival büßen muss (Pa 473,18). Trevrizent resümiert: du treist zwuo grôze sünde: Ithêrn du hâst erslagen, du solt ouch dîne muoter klagen. ir grôziu triwe daz geriet, dîn vart si vome leben schiet (Pa 499,20–24). (du trägst zwei große Sünden: du hast Ither erschlagen und sollst auch über Deine Mutter klagen. Ihre große triuwe war daran schuld: daß Du von ihr gingest, kostete sie das Leben).
Was Trevrizent Parzival vorwirft, sind beides keine Vergehen im Sinne höfischer Ehre, wie sie der Artushof pflegt. Indem er die Mutter verlässt, folgt er seinem art; anders als Perceval bei Chrétien weiß er nicht einmal, dass sein Fortgehen sie tötet.51 Auch dass er mit Ither einen Verwandten tötet, kann er nicht wissen; es ist das Risiko, dass ritterlichem Kampf immer eingeschrieben ist, in Trevrizents menschheitlicher Perspektive, wie sie seine Erbsündenlehre entfaltet, ihn grundsätzlich belastet. Er wiederholt die Kainstat. Trotzdem, grundsätzlich in Frage gestellt wird er im Roman insgesamt nicht. Den Artushof befreit Parzivals Kampf gegen Ither sogar aus einer gefährlichen Krise. Den rêroup an Ither aber, den Parzival selbst als sünde eingesteht (Pa 475,8; 10), erwähnt Trevrizent an dieser Stelle nicht einmal. Er wirft ihm den Totschlag, nicht das Berauben
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Schu: Vom erzählten Abenteuer, S. 255–259. Schu stellt fest (S. 259), dass Parzival dem Vorwurf der Sünde nicht widerspricht; aber gilt er deshalb uneingeschränkt?
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des Toten vor.52 Beide Verfehlungen erscheinen nur hier, im Munde des Eremiten, als Parzivals sünden. Mit sünde kommt offenbar eine andere Wertordnung ins Spiel als die einer zwar pazifizierten, gleichwohl letztlich auf Gewalt gegründeten Kriegergesellschaft. Das Nebeneinander dieser beiden Wertordnungen auszuagieren, scheint das Ziel der Einführung Gawans als des zweiten Helden im Roman zu sein. Bei Gawan gibt es von Anfang an die Zwiespältigkeit der Reaktion auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht. Die Welt der Ehre ist hier intakt; wo Cundrie bei ihrer Anklage weint, zeigt Kingrimursel bei der seinen hôhen muot (Pa 319,21), denn er befindet sich in Einklang mit der allgemein akzeptierten höfischen Wertordnung. Hier würde der Vorwurf der Ehrlosigkeit durch heimtückisches Verhalten die Artusrunde direkt betreffen. Deshalb wendet sich Kingrimursel auch von Anfang an an beide: wâ ist Artûs unt Gâwân? (Pa 320,15) und sowohl Artus selbst (Pa 322,15–22) wie die Artusrunde, repräsentiert in Bêâcurs (Pa 323,4–12), sind bereit, den Vorwurf durch Kampf – also auf der Ebene höfischer Interaktion – aus der Welt zu schaffen. Gawan lehnt das ab, weil ihm das Schande (laster, Pa 323,30) eintrüge: ein Argument auf derselben Ebene wie der Vorwurf. Die Anklage gegen Parzival aber kann niemand anderes aus der Welt räumen außer ihm selbst, und das kann auch nicht in einem Zweikampf geschehen. Auch Parzivals spätere Rückkehr zum Hof weckt Zweifel an der Notwendigkeit der Trennung zuvor.53 Wenn er wieder in den Horizont der Erzählung tritt, weiß der Erzähler: sîn herze valsch nie underswanc (Pa 678,23: ‚nie hatte sich Verrat seines Herzen bemächtigt‘). Er erträgt keine Schande (unprîs, Pa 678,25); seine Ehre ist unbefleckt, und so gewinnt 52
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Das Urteil über die Tötung Ithers ist also ebenfalls ambivalent (Schu: Vom erzählten Abenteuer, S. 259–267). Bei Wolfram tritt Ither, anders als bei Chrétien, nicht als „unverschämter Aggressor“ (S. 259) auf; er ist sogar ein enger Verwandter des Königs (und damit Parzivals). Trotzdem divergieren die Kommentare über Parzivals Tat (vgl. auch Martin: Shame and Disgrace at King Arthur’s Court, S. 70; zur Diskussion auch Schröder: schildes ambet umben grâl [Anm. 50], S. 63f.). Vielleicht sollte man hier wie bei der Schuld am Tod der Mutter weniger von unterschiedlichen „Perspektive[n]“ sprechen (Schu: Vom erzählten Abenteuer, S. 261), denn das würde verschiedene subjektive Einstellungen der Romanfiguren voraussetzen. Eher scheint Wolfram zwischen Adelswelt und radikal christlicher Ordnung divergierende Positionen unabgestimmt nebeneinander zu stellen. Keine einzelne Aussage kann für sich ‚Autorität‘ beanspruchen (ebd. S. 278; vgl. 287). Zum Folgenden auch Fuchs-Jolie: lebendec begrabn, S. 34: „Huldverlust und Wiedererlangen von Huld ist demnach ein Denkmuster, das uns durch die Struktur der Handlung und die Selbstwahrnehmung des Protagonisten nahegelegt wird, das aber vom Erzählten hinsichtlich des artusritterlichen Registers nicht oder allenfalls sehr indirekt gedeckt ist“. Grund für diese Unstimmigkeit scheint mir, dass Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung – beide im Horizont von Ehre – auseinander fallen.
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er auch den prîs (Knecht übersetzt: Ehre) im Kampf gegen Gawan (Pa 689,15f.; 694,27). Alle sind froh, dass er gekommen ist (Pa 694,28), sprechen ihm hohes Lob zu (Pa 694,30) und bekunden, nie habe es einen besseren Ritter gegeben (Pa 695,9; ähnlich 694,27; 30; 695,4; 6; 19; 699,3–5; 8,14f.). Nach wie vor befindet sich Parzival in Übereinstimmung mit der Wertordnung des Artushofs. Keine Rede von einer Rehabilitierung; nie hat eine Entfremdung stattgefunden. Aber was hat dann eigentlich den Umschwung herbeigeführt? Es gibt, anders als bei Erec und Iwein, keine herausragende Tat für die Gesellschaft, keine Schwellensituation, die es zu bewältigen gilt.54 Parzival ist als einziger besorgt, vor die zurückzukehren, die am Plimizoel Cundries Beschuldigung (valschlîchiu wort, d. h. Bezichtigung der Falschheit) hörten (Pa 695,30): Ich scham mich noch sô sêre (Pa 696,3), sagt er in der Sprache, die bei Hof gilt. Wenn er dann doch wider sein Erwarten ehrenvoll begrüßt wird, weicht elliu scham ûz sîme herzen dô (Pa 696,19): das Problem scheint gelöst. Artus ehrt ihn als vollkommensten Ritter (698,25–30), und Parzival lässt sich überzeugen, dass der Angriff auf seine Ehre seinen prîs bei denen nicht zerstört hat, von den ich mich dô schamende schiet (Pa 699,12: ‚von denen ich mich voller Scham trennte‘). Knechts Übersetzung „in Schande trennte“ verdeckt die Differenz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung. Der Abschied von der Tafelrunde wird damit letztlich unerklärlich: ‚mich schiet von tavelrunder ein verholnbærez wunder: die mir ê gâben geselleschaft, helfen mir geselleclîcher kraft noch drüber.‘ des er gerte Artûs in schône werte (Pa 700,19–24). (‚Mich trennte von den Tafelrundern ein geheimnisvolles Wunder. Die damals mich in ihre Gemeinschaft aufnahmen, die sollen mir freundschaftlich darüber hinweghelfen‘. Was er begehrte, gewährte ihm Artus bereitwillig).
Wiederhergestellt wird, was aus Sicht des Hofs nie hätte aufgelöst werden müssen: mir ist mîn recht hie wider gegebn (Pa 701,15). Aber wieder ist mit der Rückgewinnung dessen, was Parzival zusteht (reht), die Geschichte nicht zu Ende; sie kann es nicht, weil Entscheidendes auf einer anderen Ebene liegt. Der Bruderkampf mit Gawan, der im Iwein am gefährlichen, doch glücklichen Schluss der Ritterkarriere des
54 Parzivals ritterliche Leistungen sind vom 7. Buch an nicht mehr auf den Artushof bezogen; er schickt keine Ritter mehr dorthin zurück (Fuchs-Jolie: lebendec begrabn, S. 41).
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Helden steht – allerdings auch hier durch die Wiederholung des Brunnenabenteuers noch ergänzt werden muss – steht im Parzival nur an drittletzter Stelle.55 Zwei weitere Kämpfe müssen folgen, der mit Gramoflanz, in dem Parzival als Vertreter Gawans kämpft, und der mit Feirefiz, der den Bruderkampf noch einmal steigert und Parzival als Zweikämpfer scheitern lässt. Alle diese Kämpfe stehen unter falschen Voraussetzungen. Der Kampf gegen Gramoflanz ist der Beginn der Bewältigung jener Konflikte, die im Horizont der Artuswelt sich aufgestaut haben. Hier geht es um prîs oder laster (Pa 692,27 bzw. 693,18). Der gegen Feirefiz bereitet die Überwindung dieser Welt vor, Parzivals Berufung zum Gralskönig. Obwohl doch allseits geehrt und keineswegs ein zweites Mal vor dem Hof geschmäht, entfernt sich Parzival – wie Iwein nach Lunetes Anklage – verholn (Pa 703,21) vom Artushof, als ein diep (Pa 708,10), wie Artus ihm vorwirft, um anstelle von Gawan, gewissermaßen in dessen Maske, doch gegen dessen Wunsch gegen Gramoflanz zu kämpfen. Er beugt sich nicht den Regeln des Hofes, aber vermieden wird so der Zusammenstoß Gawans und Gramoflanz’, der, wenn einer den prîs (vgl. Pa 711,17) gewänne, ihre künftige Verwandtschaft blockieren würde. Der Kampf gehört in den Zusammenhang des scheinbar unauflöslich verknäuelten Handlungsgeflechts, das einen glücklichen Ausgang der Gawan-Handlung zu verhindern scheint und von Artus mühsam entwirrt werden muss. Das wird in einem Friedensfest gefeiert.56 Noch einmal könnte die Geschichte zu Ende sein. Aber Parzival gehört immer noch nicht dazu: Gott will nicht, dass er an der höfischen Freude teilhat (Pa 733,8); got gebe freude al disen scharn:/ ich wil ûz disen freuden varn (Pa 733,19f.: ‚Gott schenke all diesen Scharen Freude; ich will mich aus ihnen entfernen‘). Er ist freudenflühtec (Pa 733,25), flieht die Freude, und so entfernt er sich wieder heimlich, so dass man es erst am nächsten Morgen bemerkt und beklagt (man hôrt sîn reise smorgens klagn, Pa 733,29; vgl. 755,1–4). Das Motiv ist seine minne zu Condwiramurs, für die der Hof keinen Ersatz bietet: ich pin trûrens unerlôst (Pa
55
Das Heraustreten aus der Ordnung der Ehre zeigt sich auch daran, dass diesem Kampf das Publikum fehlt (Pa 679,22), während Gramoflanz für seinen Kampf gegen Gawan vorgesehen hatte, daz ez vil liute sæhe,/ wem man dâ prîses jæhe (Pa 683,5f.): dass möglichst alle sehen, wer der beste ist. Vor Artus soll über prîs oder laster entschieden werden (Pa 684,14). Dieser Teil der Handlung bleibt im Horizont der Schamkultur. 56 Brüggen, Elke: „Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs ‚Parzival‘“. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG Symposion 1994. Hg. v. Jan-Dirk Müller (Germanistische Symposien. Berichtbände 17). Stuttgart u. Weimar 1996, S. 205–221; Unzeitig-Herzog, Monika: „Artus mediator. Zur Konfliktlösung in Wolframs ‚Parzival‘ Buch XIV“. In: Frühmittelalterliche Studien 22 (1998), S. 169–217.
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733,16: ‚ich bin von meinem trûren nicht befreit). Condwiramurs ist aber seit dem Plimizoel mit dem Gral verbunden, und so kündigt mit diesem Aufbruch der Erzähler die Lösung für beides an (Pa 734,8–14). Parzivals Ziel ist nicht am Artushof erreichbar. Zuvor muss er noch einen Kampf kämpfen, in dem er nicht Sieger bleibt. Aber der, der den prîs erringt, ist bereit, auf die Ehre zu verzichten (lâ daz laster wesen mîn, Pa 745,27). Auch nach der Rückkehr vom Kampf mit Feirefiz gibt es ausführliche Rituale höfischer Integration. Doch erst, wenn zum zweiten Mal Cundrie erscheint, ist auch eine Auflösung der Parzival-Handlung in Sicht. Der Ort der Wiederherstellung ist der Hof, der Hof ist die Instanz, an der über gut oder schlecht befunden wird, aber es geht nicht um Wiederherstellung von Ehre – das ist längst geschehen. Parzival spricht nicht als Ritter, sondern als sündiger Mensch (Pa 783,7: mîn sündehafter lîp). Diesmal flieht er nicht vom Hof, sondern verabschiedet sich formvollendet (Pa 786,17–19), um auf der Gralsburg nachzuholen, was er versäumt hatte. Parzivals Restitution liegt außerhalb des arthurischen Regelkreises. Aber bedeutet dies nur den Übertritt aus der arthurischen Wertordnung in die andere Wertordnung des Grals?57 Warum ist er dann überhaupt – nach der Belehrung durch Trevrizent – an den Artushof zurückgekehrt? Parzival bleibt offensichtlich trotz allem der ritterlichen Ordnung verpflichtet; etwas anderes als ritterlich kämpfen kann er – wieder: auch nach der Belehrung durch Trevrizent – nicht.58 Freilich verinnerlicht er die Maßstäbe jener Ordnung mit der paradoxen Konsequenz, dass der scham des vermeintlich Ausgestoßenen keine gesellschaftliche Instanz mehr entspricht, die den Ausschluss verfügte. Die Dissoziation der beiden Aspekte von scham hat erzählstrukturelle Konsequenzen. Gab es im Iwein noch einen doppelten Schluss, dann sind es im Parzival bis zu vier: immer neue Versöhnungs- und Integrationshandlungen: Parzival und der Hof, Gawan/ Artus und Gramoflanz, Feirefiz und die Artusrunde folgen aufeinander, doch keiner kann das erwünschte Ende herbeiführen. Das geschieht voraussetzungslos durch Erscheinen der Gralsbotin. Dass aber die Ordnung der Gralsgesellschaft 57
Von diesen beiden Wertordnungen spricht Fuchs-Jolie: lebendec begrabn, S. 43. Im Zerbrechen des Ither-Schwertes sieht Fuchs-Jolie die Verabschiedung des „im Grunde längst desavouierten ritterlich-kämpferischen Rollenmodells“ (S. 51). Was aber ist die Alternative: die Gralsordnung mit ihrem Tötungsgebot? Offenbar nicht Trevrizents Rückzug aus der Rittergesellschaft und sein radikales Urteil über Kampf als Folge der Erbsünde. Gibt es überhaupt eine diskursiv beschreibbare Lösung? 58 Fuchs-Jolie: lebendec begrabn, S. 46f.; Schu: Vom erzählten Abenteuer, S. 290, 294f.; vgl. schon Jones, Martin: „Parzival’s Fighting and his Election to the Grail“. In: WolframStudien 3 (1975), S. 52–71.
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auch nicht das letzte Wort ist,59 zeigt Wolfram durch komödienhafte Züge des Schlusses an, nicht zuletzt, wenn er am Ende des Romans die bisher gültige Bedingung des Fragegebots ändert: in ein Frageverbot. VIII. Die untersuchten Erzählungen scheinen mir weniger den Übergang von einer ‚Scham-‘ in eine ‚Schuldkultur‘ zu spiegeln als Umbesetzungen in der Konfiguration von Ehre und Scham zu spiegeln. Mir scheint in allen diesen Fällen eine Asymmetrie vorzuliegen, die nicht reflektiert, sondern nur im unabgestimmten Gegeneinander der Erzählkonstellationen ausgestellt wird. Sie besteht in der Diskrepanz des individuellen und des kollektiven Urteils (an dem sich Scham doch orientieren müsste). Das für eine Adelsgesellschaft zentrale Prinzip der Ehre bestimmt durchgehend weiterhin das Selbstverhältnis der Helden, doch ist sie nicht mehr dominant gesellschaftlich gefasst. Diese Asymmetrie scheint mir von Anfang an den Entwurf einer sowohl christlichen wie adligen höfischen Gesellschaft zu bestimmen. An ihr arbeitet sich der höfische Roman ab. Selbst im Gregorius und seiner religiösen Problematik um Sünde und Gnade wird das Prinzip der ‚Ehre‘ nicht vollständig verabschiedet; es bestimmt im Gegenteil den Charakter der Strafe für die Schuld. Umgekehrt wechselt in den Ritterromanen ‚Scham‘ ihren Platz im Normgefüge. Sie ist nicht mehr primär gesellschaftsbezogen, Reaktion auf die anderen, sondern bezeichnet ein Selbstverhältnis, das zwar noch der Bestätigung durch die anderen bedarf, das aber deren Urteil durch das eigene strengere Urteil ersetzt. Während in Erec und Iwein beide zuletzt in eine ritterliche Ordnung integriert werden, bleibt es im Parzival bei der Disparität. Es ist weniger eine Disparität der Wertordnungen als der individuellen Einstellung zu ihnen. Aber was wird unter dieser Bedingung mit dem Entwurf einer idealen höfischen Gesellschaft?
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Die Forschung hat ihre Defi zienzen (etwa das Tötungsgebot, ihre anfängliche Minnefeindlichkeit) seit langem gesehen, doch gegenüber ihrer religiösen Auszeichnung zurückgestuft. In jedem Fall spiegelt das Nebeneinander die Disparität der christlichen und der ritterlich-feudalen Lebensordnung. Schu: Vom erzählten Abenteuer, S. 362 notiert die wachsende Skepsis gegenüber der angeblichen Überlegenheit der Gralsgesellschaft (u. a. am Verhältnis der 7. zur 6. Auflage von Joachim Bumkes Wolfram-Band, S. 121 gegen, S. 135–138); vgl. auch Pratelidis, Konstantin: Tafelrunde und Gral. Die Artusrunde und ihr Verhältnis zur Gralswelt in Wolframs ‚Parzival‘. Würzburg 1994.
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Jan-Dirk Müller
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H ANS RUDOLF VELTEN
Schamlose Bilder – schamloses Sprechen Zur Poetik der Ostentation in Heinrichs Reinhart Fuchs
1. Schamlosigkeit Man sol sîn gedultic wider ungedult, daz ist den schamelôsen leit. swen die bœsen hazzent âne sîne schult, daz kumt von sîner frümekeit. Walther von der Vogelweide, L 73, 35
Den Schamlosen solle man mit Geduld gegenübertreten, sagt der Sänger in Walthers Lied „Die mir in dem winter fröide hânt benomen“, und er scheint es auch zu sich selbst sagen zu wollen. Diese Schamlosen sind die bœsen, Feinde des Sängers und Störenfriede einer höfisch-verfeinerten Kultur, als dessen Träger und Verfechter er sich sieht. Schamlosigkeit erscheint hier als impudentia bzw. inreverentia bezogen auf Personen, die schamlos, d. h. ohne jeden Ansatz eines ethischen Schamgefühls, und unverschämt, d. h. ohne jeden Respekt handeln.1 In dieser sehr negativen Bedeutung ist unscama bereits bei Notker angelegt, bezogen nämlich auf die Vermessenheit, die Unverschämtheit der ungläubigen Juden.2 Walthers schamelôse verweisen demnach nicht auf die ‚primäre‘ Schamlosigkeit oder Schamenthobenheit des Paradieses,3 welche jenseits jeder Vorstellung von Scham und Schamgrenzen herrscht. Vielmehr ist damit
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Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 14: R – Schiefe: achter Band. Bearb. von und unter Leitung von Moriz Heyne. Leipzig 1893, ND Stuttgart 1987, Sp. 2119–20: „auf personen bezogen: schamloser betrüger, schamloser wollüstling, schamlose dirne“. Vgl. dazu Yeandle, David N.: >schame< im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung. Heidelberg 2001, S. 3f. „Es handelt sich [bei Notker] wohl um das Ausbleiben positiver, zurückblickender Fremdscham (…)“. Vgl. die Einleitung zu diesem Band.
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jene ‚sekundäre‘ Schamlosigkeit gemeint, die eine bestimmte Vorstellung von Scham innerhalb einer bestimmten Gesellschaft voraussetzt. Auf diese bezieht sie sich direkt, indem sie deren Grenzen – Sittlichkeits- und Anstandsregeln – bewusst verletzt. Nicht zwangsläufig, aber doch häufig handelt es sich dabei um aggressive Akte bezüglich des Schamempfindens, die insbesondere gegen andere Personen gerichtet sind. Um solche aggressiven Akte der Beschämung muss es auch dem Sänger in Walthers Lied gegangen sein, wenn er feststellt, dass die Bösen die Frommen hassen, gerade weil diese ihre Demütigungen geduldig über sich ergehen lassen. Akte der Beschämung (und Gegen-Beschämung) erscheinen in diesem Licht als Techniken der Macht, welche Ungleichheit zwischen Personen stiftet. Sie verfolgen das ausdrückliche Ziel, entweder ein bereits bestehendes Machtverhältnis explizit sichtbar zu machen und zu erneuern oder eine neue Machthierarchie herzustellen.4 Sie versuchen, den öffentlichen Raum für sich zu nutzen5 und sind ein „strategisches Instrument zur Erlangung von Überlegenheit“.6 Schamlosigkeit erscheint so in ihren Handlungsvollzügen als Mittel des Willens zur Macht. Andererseits übt der Sänger Walthers mit der Rede über die Schamlosen jedoch seinerseits Macht aus, indem er das Wort in polemischer und diffamierender Absicht ausspricht. Die Rede von den „Schamlosen“ hat eine ähnlich exkludierende Funktion wie die Akte der Beschämung. Beide sind öffentlich, und beide nehmen bestimmte ethische und soziale Normen in Anschlag, um einerseits Zustimmung (unter Anwesenden) zu schaffen, andererseits Ausgrenzung des/der Anderen zu erreichen.7 So setzt die Rede von der Schamlosigkeit eine bestimmte Machtverteilung voraus, die in der Rede hergestellt oder bestätigt wird. Rede – und somit auch dichterische Rede – ist also in der Lage, Schamlosigkeit bei anderen zu indizieren und zuzuweisen.
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Vgl. Lietzmann, Anja: Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Diss. Tübingen 2003, S. 173–179, S. 175. Zum Zusammenhang von Scham / Beschämung und Macht vgl. auch Neckel, Sighard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a. M., New York 1991. Vgl. Diebitz, Stefan: „Schamlosigkeit und Gewalt. Überlegungen zu ihrem inneren Zusammenhang“. In: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), H. 2, S. 393–410, S. 399. Neckel: Status und Scham, S. 100. Vgl. Lietzmann: Theorie der Scham, S. 66f.
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2. Scham und Schande Das deutsche Wort Scham leitet sich gleichbedeutend von althochdeutsch scama bzw. altsächsisch skama und mhd. scham / schame ab und geht zurück auf germanisch *skamo. Dieser Wortstamm hat die Bedeutung von ‚Beschämung‘, ‚Schande‘.8 Auch noch im Mittelhochdeutschen ist der enge Zusammenhang von Scham und Schande evident, und zwar in seinen beiden Hauptbedeutungen: erstens dem Gefühl der Scham bzw. Schamhaftigkeit (als verecundia, rubor) und zweitens der Beschämung, Schmach als soziales Defizit (lasterlîcher schame, schade unde scham, schande unde scham usw., im Sinne von ignominia, infamia, indignitas). Gleichzeitig ist mhd. schande vor allem in der Verwendung von Beschädigung, Unehre, direkte Ableitung von ahd. scama („mit einem t-suffix, vor dem das stammauslautende m in n übergehen muszte“).9 Auch dem engl. shame liegt in seiner Wurzel die Verletzung eines sozialen Status zugrunde, und es wird daher im Deutschen oft mit Schande oder Beschämung übersetzt.10 Eindeutig sind beide, Schande und Scham in der zweiten Bedeutung von Beschämung, als Gegenbegriffe zur Ehre aufzufassen, indem sie eng an Ehrverlust und Ehrverletzung geknüpft sind.11 Zudem hat auch mhd. schaden dieselbe Wurzel. Im Deutschen Wörterbuch wird betont, dass in manchen Fällen, besonders in der älteren Sprache „schande geradezu in die bedeutung von scham über[geht]“. Als Beispiel wird eine Iwein-Stelle angeführt: „schemelichiu schande tuot wê“.12 Es ist auch versucht worden, Schande von schinden abzuleiten, doch wird diese Ableitung heute nicht als gültig anerkannt.13 Dass sie versucht wurde, zeigt auch noch einmal die enge Verwandtschaft des Verbs schin8 ‚Schande‘ entwickelte sich als Abstraktbildung aus germ. *skam-do. Siehe die entsprechenden Lemmata in Lexer, Mathias: Mhd. Wörterbuch. 3 Bände. Leipzig 1872–1878. Bd. 3, ND Stuttgart 1992, Lemma >SchandeschandeSchandeschandeschame< im Alt- und Mittelhochdeutschen, S. xvi-xviii. Yeandle unterscheidet zwischen „Fremdscham“ und „Eigenscham“. Während die Fremdscham durch äußere Faktoren bestimmt wird (Beschämungrituale, -reden, Demütigungen aller Art), also vor allem in der Interaktion des Individuums mit der Gemeinschaft, ist die Eigenscham die Scham für das Handeln vor sich selbst.
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behält er in Einschätzung seiner Möglichkeiten den aufsteigenden Zorn unter Kontrolle, er verfolgt dann auch zielstrebig die Restitution seiner verletzten Ehre, die er durch das Nichttragen von Waffen selbst mit verursacht hat. Scham ist somit ein variables Element, auf Regelverstöße und Grenzverletzungen zu reagieren, sie hat eine regulative Funktion.23 Dass hier Scham positiv auf Ehre bezogen ist, hat Siegfried Christoph unterstrichen: „Only a man of honor can be shamed, and only a man governed by a proper sense of shame can be truly honorable.“24 Dagegen ist die Scham im Reinhart Fuchs an keiner Stelle ein Antrieb zur Besserung. Sie erscheint vielmehr als verborgene Norm der Schamlosigkeit und als unausgesprochenes Komplement der öffentlichen Schande. Freilich kann man nun einwenden, dass dies gattungstypologische Gründe hat: nirgends im Tierepos greift der Anthropomorphismus so weit, dass er mit den komplexen Handlungsmotivationen im höfischen Epos vergleichbar wäre und einen verinnerlichten Schambegriff entwickelt hätte: alles ist viel typisierter, der Raum für Empfindungen der Figuren ist kaum ausgebildet, Liebe etwa ist nur im parodistischen Modus greifbar.25 Daher scheint es zunächst abwegig, Scham als literarische Darstellung einer ‚Emotion‘, im Sinne eines Gefühlsausdrucks im Reinhart Fuchs zu untersuchen, wie dies mit menschlichen Gefühlen wie Liebe, Trauer und Zorn in den letzten Jahren für die höfische Literatur getan wurde.26 Vielversprechender ist meiner Ansicht nach, die Scham im Rahmen der rituellen Kommunikation zu untersuchen, und dabei den Zusammenhang 23 Vgl. Mecklenburg, Erecs Scham, S. 91 sowie Jan-Dirk Müller und Gerhard Wolf mit ihren Beiträgen in diesem Band. 24 Christoph, „Honor, Shame and Gender“, S. 27. 25 Vgl. zur Gattung des Tierepos noch immer grundlegend Jauß, Hans Robert: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierepik. Tübingen 1959; allgemeiner auch ders.: „Zur Tierdichtung“. In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. München 1977, S. 49–152. Insbes. zum Fuchsepos vgl. Goossens, Jan, u. Timothy Sodmann (Hgg.): Reynaert, Reynard, Reynke. Studien zu einem mittelalterlichen Tierepos. Köln, Wien 1980; ders.: „Von kranken Löwen und Rahmenerzählungen, Hoftagen und Strafprozessen. Bemerkungen zur Erzählstruktur des mittelalterlichen Tierepos“. In: Alles was Recht war. Rechtsliteratur und literarisches Recht. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 70. Geburtstag. Hg. v. Hans Höfinghoff. Essen 1996, S. 217–226. 26 Von den zahlreichen Untersuchungen seien genannt: Jaeger, C. Stephen u. Ingrid Kasten (Hg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Berlin, New York 2003; Schnell, Rüdiger: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. In: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173–276; Eming, Jutta: Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jhs. Berlin 2006; Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2006; Velten, Hans Rudolf: „Ekel, Schrecken, Scham und Lachen: Strategien der Ansteckung im Neidhartspiel“. In: Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführung von Gefühlen. Hg. von Clemens Risi u. Jens Roselt. Berlin 2008, S. 214–241.
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mit der Schande als bleibender Nichtung der Ehre nicht aufzugeben.27 Ich denke, dass die Akte der körperlichen und seelischen Versehrung, welche die Schande ostentativ ausstellen, dass diese starken Bilder und Worte die Scham gewissermaßen als ihre Innenseite mittragen, ohne dass sie selbst wirksam werden könnte, und dass dies in den narrativen Strategien auch zum Ausdruck kommt. Was ich sagen will: die so häufig belegten Begriffe wie Schmach und Schande im Reinhart Fuchs beziehen sich auf ostentative Ereignisse der Misshandlung, die die Scham als Emotion bei den Betroffenen mit sich führen; diese wirkt schlechterdings an der Innenseite der Oberfläche des Erzählens, wird nicht auserzählt, und ist dennoch Zielund Kontrapunkt derjenigen Kognition, die in der listigen kündekeit des Fuchses aufgehoben ist. Dies möchte ich im Folgenden zeigen: zunächst gehe ich auf den Aspekt der Öffentlichkeit der Schande, ihrer Funktion im Text und in der mittelalterlichen Schamkultur ein; dann werde ich unter dem Stichwort ‚Ostentation der Schande‘ einige starke Szenen der tätlichen Versehrung und der sprachlichen Beschämung vorstellen, also des physischen und psychischen Vollzugs von Gewalt und seiner diskursiven Verarbeitung auf der Handlungsebene, bevor ich zum Abschluss auf das Verhältnis von Emotion und Kognition zu sprechen komme.
3. Öffentlichkeit der Schande Ich beginne mit der Textstelle, welche in der Anklage gegen den Fuchs die körperlichen und seelischen Demütigungen Ysengrins und Hersants zusammenfasst. Auf dem wegen der Krankheit Vrevils, des Löwen einberufenen Hoftag tritt Ysengrin auf und „suchte rechte“. Mit den Worten des Bären Brun, der hier in der Rolle des Fürsprechers erscheint, werden nochmals die bleibenden Schädigungen Ysengrins vorgebracht: kvnic gewaldic vnde her, groz laster vnde ser claget ev her Ysengrin: daz er hevte des zageles sîn vor evch hi ane stat, daz was Reinhartes rat.
27 Ansätze sind dazu vorhanden in dem breiten historisch-anthropologischen Überblick von Burckhardt Krause:„Scham(e), schande und êre. Selbstwahrnehmung – zwischen Affekt und Tugend“. In: Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel. Hg. v. Burkhardt Krause u. Ulrich Scheck. Tübingen 2006, S. 21–75.
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des schamt sich vaste sin lip, – vrowen Hersante, sin edele wip, hat er gehonet in dem vride, den ir gebvtet bi der wide daz geschach vber iren danc. (V. 1375–1385) [‚Mächtiger und erhabener König, / Herr Isengrin klagt vor Euch / seine tiefe Schmach und Verwundung; / daß er heute ohne seinen Schwanz / vor Euch steht / das hat er Reinhart zu verdanken. / Er schämt sich auch sehr dafür. / Außerdem hat jener Frau Hersant, seine edle Gemahlin, / mitten im Landfrieden, / den Ihr doch beim Strang geboten hattet, entehrt. / Es war wahrlich gegen ihren Willen.‘]28
Der Verlust des zagel als Kennzeichen wölfischer Würde, welcher, ganz im Sinne der Komik des Tierepos, mit obszönen Untertönen geschildert wird, und die Notzucht der Wölfin zur Zeit des Landfriedens sind Schädigungen, die das Wolfspaar durch Reinhart erfahren hat. Sie bedeuten eine tiefe Schmach (groz laster), die hier vor allen publik gemacht wird. Als der Dachs Crimel diese Darstellung anzweifelt (wie hätte Reinhart eine so starke Wölfin wie Hersant vergewaltigen können?) und zudem noch unterstellt, dass der Gewaltakt unter dem Konsens Hersants stattgefunden habe – somit die Ehre Ysengrins als Gehörntem noch stärker verletzt („daz mag evch wesen swere / dar zu lastert er sine kint“) – muss sich der Wolf weiter eröffnen: „er sprach: ir herren, ich will ev sagen: / der schade beswert mir niht den mvt / halp so vile, so daz laster tvt“. (V. 1410–12) [(Er sprach:) ‚Ihr Herren, ich muss Euch erklären, / daß mich der Schaden nur halb so bedrückt / wie die Schande‘.] Ysengrin macht hier einen klaren Unterschied zwischen schade und laster, also zwischen Leibesschaden und Schmach, d. h. dem Verlust sozialer Geltung und Ehre. Dabei benutzt er die Formulierung „beswert mir nicht den mvt“, die durchaus ein Gefühl der kummervollen Scham beschreibt, nämlich die Beschwernis des Gemüts. Deutlich wird, dass die Ehrverletzung als sozial wahrnehmbarer Makel viel schwerer wiegt als die körperliche Schädigung. Im Urteilsspruch Randolts wird die öffentliche Schande Ysengrins unumstößlich: „her Ysengrin hat vil lasters vertragen“; der Hirsch fordert die Bestrafung Reinharts: „sold er gehonen edele wip, / phy, was sold in dan der lip? / ich verteile im bi minem eide“. (V. 1423–25) [Sollte er edle
28 Auf Grund der vorliegenden Übersetzung von Göttert benutze ich auch dessen Textausgabe, die sich auf die Hs. S (Kasseler Bruchstücke) und P (Heidelberg, Cod.pal. germ.341) stützt: Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. erläutert v. Karl-Heinz Göttert. Stuttgart 1987.
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Frauen entehrt haben – / pfui teufel, wie kann man ihn dann noch leben lassen? / Ich verurteile ihn eidlich.] Mit diesen Worten macht er den Kasus von einer Privatfehde zur Angelegenheit aller. Mit dem Urteil ist zugleich die soziale Sanktion des Übeltäters beschlossen. Ab diesem Zeitpunkt in der Erzählung wird die Schande der Wölfe öffentlich gemacht, sie wird als ein rechtliches Vergehen begriffen, das im Urteil geahndet wird. Diesem rechtlichen Verfahren entsprechend erhält die Schande ihre durchweg ernsthafte, nüchterne Darstellung im rückblickenden Bericht. Hier hat sie keine dramatische Aufladung erfahren, sie erscheint nicht im Bild ihrer Ostentation, sondern als formaler Prozess. Ganz so verhält es sich auch bei Reinharts Auftreten bei Hof als Pilger und Arzt, mit der Ausnahme, dass der Schamlose nun anwesend ist. Und wieder passieren seine Schandtaten, diesmal aus der Erzählerperspektive, Revue. Trotz seiner Verkleidung erkennen ihn alle anwesenden Tiere: nv mvget ir sehen wunder, wa Reinhart her gat, der manic tier gehonet hat. […] di erzvrnten knechte schreiten uf in von rechte. do clagte sere er Isengrin, daz im were daz wip sin gehonet. do sprach der kapelan: er hat ovch mir leide getan. Diepreht sprach: herre kvnic, sehet, wi er stat, der evch vil lasters erboten hat! (V. 1838–52) [‚Nun könnt ihr das Wunderding sehen, / wie Reinhart dahergeht, / der so viele Tiere seinen Hohn hat spüren lassen. / … / Die aufgebrachte Schar / beschuldigte ihn mit vollem Recht. / Isengrin klagte heftig / daß ihm seine Gattin / entehrt worden war. Der Kaplan sagte: / ‚Er hat auch mir Leid zugefügt.‘ / Diepreht fuhr fort: ‚Herr König, seht nur, wie er dasteht, / der Euch so viel Schande bereitet hat.‘]
Jetzt wird Reinhart nicht nur vom Wolf, sondern von allen Tieren, die er in Schande gebracht hat, angeklagt. Wieder ist die Schande und die Verhöhnung öffentlich, wieder wird sie als Rechtsbruch im Landfrieden und als Schmach für den König interpretiert (was auch an den Anschuldigungen als verrataere – Hochverräter – und morder deutlich wird). Aufgebrachter könnten die Tiere nicht sein – es geht hier um Leben und Tod. Was mich daran interessiert, ist die Schwere der sichtbaren Versehrungen, die im Zeichen der Bloßstellung und des Ehrverlusts stehen. Sie weisen auf eine spezifisch vormoderne Dichotomie von Beschämung und Schande hin, wie sie Ruth Benedict im Begriff der Schamkulturen (shame cultures) auf den Punkt gebracht hat. Der Begriff geht auf anthropolo-
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gische Studien Benedicts und Margaret Meads in den 1930er und 40er Jahren zurück, und bezeichnet Kulturen, die bei der Disziplinierung ihrer Mitglieder und der Reglementierung von Fehlverhalten primär auf ein System der öffentlichen Bloßstellung zurückgreifen.29 In der mediävistischen Aufnahme dieses über Dodds30 vermittelten Konzepts in der Folgezeit wurde häufig übersehen, dass shame hier weniger Scham, als mehr Schande meint, wie ich es zuvor im Zusammenhang mit der Etymologie von Scham und Schande schon angesprochen hatte.31 Benedict stellte die shame cultures einen anderen Typus gegenüber, den der guilt cultures, den Schuldkulturen, welche im Rahmen der Sozialisation eine Internalisierung der Evaluierungsinstanz des eigenen Fehlverhaltens einfordern. Als Maßstab der personalen Integrität in den Schamkulturen kann nach Benedict die sichtbare Ehre gelten, die durch fehlerhaftes Verhalten ebenso beschädigt werden könne wie durch Beleidigung und Beschämung, was dann auch auf die soziale Gruppe des Entehrten durchschlage.32 Dodds hatte dieses Funktionsschema auf die griechische Kultur übertragen und die Epen Homers als Ausdruck einer archaischen Schamkultur, die klassischen griechischen Tragödien dagegen als stärker an Schuld orientiert bestimmt; die Sanktion durch Beschämung (aidōs) habe in den homerischen Epen die Funktion einer öffentlichen Missbilligung eingenommen, während in der Tragödie die internalisierte Verurteilung von Fehlverhalten (und somit Schuldbewußtsein) im Mittelpunkt gestanden habe. In der mediävistischen Diskussion hat sich durch die Bedeutung des christlichen Schuldkonzepts im 12. Jahrhundert die Frage als nicht fruchtbar erwiesen, ob das christliche Mittelalter mehrheitlich Schamoder Schuldkultur sei. In der Forschung dominierte je nach Gattung das
29 Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert : Formen der japanischen Kultur, Frankfurt a. M. 2006 (Orig.: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, 1946). 30 Dodds, Eric Robertson: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970 (Orig.: The Greeks and the Irrational, 1951). 31 Vgl. zur Adaption des anthropologischen Scham-Schuld-Konzepts auf den Artusroman Szövérffy, Josef: „‚Artuswelt‘ and ‚Gralwelt‘: Shame culture and guilt culture in ‚Parzival‘“. In: Paradosis. Studies in Memory of Edwin A. Quain Harry C. Fletcher. Hg. v. Mary B. Schulte. New York 1976, S. 85–98; eine Aufarbeitung der Diskussion und ihre Transferprobleme bietet jetzt Benthien, Claudia: Tribunal der Blicke: Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800. Köln 2011. 32 Vgl. dazu aus philosophischer Sicht Neckel, Sighard: „Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existenziellen Gefühls“. In: Zur Philosophie der Gefühle. Hg. v. Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann, Frankfurt a. M. 1993, S. 244 – 265, hier 254: „Schamgefühle eines Individuums betreffen damit immer schon seine Stellung inmitten eines größeren sozialen Zusammenhangs, sie sind der emotionale Nexus zwischen Individuum und sozialer Struktur“.
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Verhältnis von Ehre und Schuld, wenn es um das falsche Handeln der Protagonisten des höfischen Romans ging, weniger das Verhältnis von Ehre und Scham, welches stärker in der Heldenepik registriert wurde. Es kann jedoch nicht darum gehen, heuristische Begriffe zu Signen von ganzen Epochen oder Gattungen zu machen, sondern jeder literarische Text muss auf seine Inszenierung von Scham bzw. Schuld untersucht werden, d. h. die Frage verfolgen, auf welche Weise Fehlverhalten narrativ sanktioniert wird und mit welchen emotionalen Ausdrucksweisen es verbunden ist. Im Falle des Reinhart Fuchs liegen die Dinge allerdings klar zutage: Ich denke, dass Heinrichs fiktive Welt der Tiere alle Anzeichen einer Schamkultur aufweist. Dafür spricht nicht nur das Beschreibungsmodell Benedicts, sondern auch die Art der Beschämungen, die im Reinhart Fuchs erscheinen. Die rechtsgeschichtliche Forschung hat herausgearbeitet, in welch hohem Maß die Körperverletzungen der von Reinhart Geschädigten den Schandstrafen des mittelalterlichen Rechts ähneln: in der weltlichen Gerichtsbarkeit waren „Strafen an Haut und Haaren“ eine eigene Strafgruppe, die nicht primär auf körperliche Leiden zielten, sondern auf die öffentliche Ehre des straffällig gewordenen Individuums. Gängige Strafen waren Schandpfahl, Pranger, Halseisen, Prügel, Geißel, Karren, Entblößungen und Haare abschneiden.33 Öffentlichkeit und Körperlichkeit waren bei solchen Strafen eng aufeinander bezogen, denn es war der vor aller Augen ausgestellte, verlachte Körper die eigentliche Strafe und Schande. Insofern vollzog die Öffentlichkeit selbst die Strafe in der Verspottung, die Ehrenstrafen waren keine rechtlichen Strafen im modernen Sinn, sondern soziale Sanktionen.34 Daher war die Angst vor der öffentlichen Schandstrafe noch bis ins 16. Jh. hinein sehr groß. Mit diesem Vergleich zu den Schandstrafen, die ja als solche im Reinhart Fuchs nicht eingesetzt werden, will ich insbesondere auf die Bedeutung von Schande und Erniedrigung in der Feudalgesellschaft des 12. Jahrhunderts aufmerksam machen. Bedeutsam daran erscheint der Aspekt der Stigmatisierung. Denn Schandstrafen beschädigen die Bestraften dauerhaft, für den Rest ihres Lebens gewissermaßen, so wie die von Reinhart
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Einige Beispiele bei Duerr, Hans-Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1988, S. 275f. 34 „Denn die Ehrenstrafe wurde im Grunde nicht vom Scharfrichter oder dem Stadtknecht usw. vollzogen, sondern von der Öffentlichkeit selbst. In der Verspottung durch das Volk lag die eigentliche Strafe, die deshalb infam machte.“ Schild, Wolfgang: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung. München 1980, S. 212. Vgl. auch Quanter, Rudolf: Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege. Eine kriminalistische Studie. ND Ausg. Dresden 1901, Aalen 1970.
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beschädigten Tiere dauerhaft erniedrigt sind.35 Während die Strafe ein Schauspiel vor bestelltem Publikum ist, sind seine Wirkungen unauslöschlich. Das Stigma ist das performative Kennzeichen des Ehrverlusts, ein immerwährender, ostentativer Vollzug der Strafe. Im Text ist dies an den bleibenden Versehrungen der Tiere zu erkennen: dem Verlust von Schwanz und zagel beim Wolf, dem Verlust von Ohren und Kopfhaar beim Bären, dem Verlust der Haut bzw. des Fells bei Wolf, Fuchs, Kater und Biber, sowie dem Heraustrennen eines Gürtels aus der Haut des Hirschen und eines Schinkens aus dem Fleisch des Ebers. Diese Versehrungen sind Stigmata oder Schandmalen zu vergleichen, die den betreffenden Tieren Ehre und soziale Geltung für immer entziehen.
4. Bilder der Schande – Ostentationen der Versehrung Die körperlichen Schädigungen an den Feinden Reinharts und deren Beschämung werden von Heinrich nicht nur einfach erwähnt, sondern sie erhalten eine hervorgehobene Stellung in der narrativen Struktur der Erzählung, indem sie an zentralen Orten des narrativen Verlaufs wiederholt erscheinen und dort in besonders grellen und die Aufmerksamkeit des Rezipienten erregenden szenischen Bildern dramatisiert werden. Es sind regelrechte Ostentationen der Schande, denen eine Dynamik von Schande und Beschämung unterliegt. Unter Ostentation verstehe ich das bewusste Zeigen und Verdeutlichen bestimmter Bilder und Szenen des Körpers mit Hilfe von narrativen und rhetorischen Mitteln (Palillogie, Iteration, Vergrößerung, Emphase, Hyperbolik, Expressivität usw.), und somit demonstrative Akte des Sichtbarmachens.36 „Sie betrifft ein bestimmtes Maß an Auffälligkeit und Inszenierungshaftigkeit. Sie bezieht sich auf Vorgänge, bei denen etwas als vorhanden vorausgesetzt, gleichzeitig aber mittels bestimmter Strategien im Zeigen konstituiert bzw. re-präsentiert wird“, so Christian Kiening in seiner medienhistorischen Bestimmung
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Zur sozialen Relevanz von Stigma und Stigmata vgl. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1967 (Orig.: Stigma: notes on the management of spoiled identity, 1963). Goffman führt aus, wie das Stigma die Identität einer Person dauerhaft verändert: da die Stigmatisierung ein bleibendes Körperzeichen darstellt, wird die stigmatisierte Person für unrein erklärt und fällt der Unehre anheim. Sie ist diskreditiert. Vgl. Goffman, ebd., S. 9–14. 36 Somit sind literarische Ostentationen den rituellen Ostentation (Heiltumsweisungen, Wundenweisen, Elevation der Hostie) durchaus verwandt, indem sie demonstrative Akte des Sichtbarmachens sind.
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des Begriffs.37 Für Kiening ist die Ostentation eine auf den Rezipienten ausgerichtete mediale Strategie, die zwischen Bildlichkeit, Stimmlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Präsenz und Repräsentation vermitteln kann. Ostentationen gehen in ihrer Plakativität und ihrer performativen Dimension des Zeigens und des Zum-Erscheinen-Bringens über semiotische Relationen von Bedeutung und Geltung hinaus. Sie wenden sich direkt an die sinnliche Wahrnehmung der Rezipienten.38 Als narrative Strategien der dramatischen Visualisierung von Körperlichem in literarischen Texten verleihen Ostentationen somit ihren sprachlich evozierten Bildern nicht nur eine beweiskräftige Zeigefunktion, sondern darüber hinaus eine sinnliche Qualität, eine theatrale Funktion der Verlebendigung, die die Imagination der Zuhörer steuert. Doch umfasst ‚Ostentation‘ nicht nur derartige visuelle Phänomene des Zeigens und Sichtbar-Machens des Körpers. Sie ist allgemein eine Strategie der Hervorhebung, die sich auch in Sprechakten, etwa durch drastisches Sprechen oder Spott, manifestieren kann. Ihre perlokutionäre Absicht besteht darin, durch Unterstreichung, Verstärkung und Dramatisierung dem Sprechakt etwas Dringliches und damit Aufmerksamkeit zu verleihen. Diese Hervorhebung referiert über ihr Signifikat hinaus auch immer auf sich selbst, da der Sprecher sich selbst als Bezugspunkt verwendet.39 Die Ostentation des spöttischen Sprechakts beruht in diesem Verständnis auf ihrer selbstbezüglichen Form der Entblößung. Ich unterscheide daher bei den folgenden Textpassagen des Reinhart Fuchs zwischen bildlich-szenischen Ostentationen und solchen, die durch Sprechakte, und hier im Besonderen durch spöttische Rede hervorgerufen werden. Zunächst zum ersten Komplex, in welchem drei Szenen bedeutsam erscheinen: a) Die Vergewaltigung der Wölfin Im ersten Teil des Fuchsepos ist Reinhart bereits listig, böse und schamlos, doch kann er sich noch nicht durchsetzen; alle kleinen Tiere können 37 Kiening, Christian: „Wege zu einer historischen Mediologie“. In: Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG, 4 (2007), S. 15–21, S. 18. 38 Kiening stützt sich hier auf Theorien des Performativen, wie sie etwa Mersch in seinem Entwurf einer performativen Ästhetik des sich zeigenden Ereignisses vorgelegt hat. 39 „Sie charakterisiert generell das Zusammentreffen von Selbstausstellung und Selbstüberschreitung des Medialen, wie es in vielerlei Formen historisch greifbar wird: dort, wo performative (die semiotische Differenz überspielende) Vollzüge und reflexive (die semiotische Differenz bewusst machende) Dimensionen einander ergänzen und wechselseitig steigern“. Kiening: „Wege zu einer historischen Mediologie“, S. 18f.
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durch Glück und Gegenlist entkommen. Sein Erfolg beginnt mit der Werbung um Hersant, die zunächst scheitert, dann aber im Bericht Kuonins offenbar erfolgreich war. Als Hersant den Fuchs bei seiner Flucht am Gerichtstag verfolgt und nach ihm in seinen Bau eindringen will, kommt es zu einer Szene, die dicht an der Grenze zum Obszönen liegt: ver Hersant lief nach im drin mit alle wan vber den bvc. do gewan si schire schande genuc: sine mochte hin noch her, Reinhart nam des gvten war, zv eime andern loche er vz spranc, vf sine gevateren tet er einen wanc. Ysengrine ein herzen leit geschach: er gebrvtete si, daz erz an sach. (1167–1176) … vern Hersante schande was niht cleine, si beiz vor zorne in die steine, ir kraft konde ir nicht gefrvmen nv sach Reinhart kvmen Isingrinen zorniclichen. mir ist bezzer, daz ich entweiche sprach Reinhart vnde hob sich wider in. mit Ysengrine qvamen die svne sin, manic tier vreisam mit Ysengrine qvamen dar san; mit den mochte er bezevgen sint, daz geminnet was sin libes wib. Ysengrin begonde weinen. bi den hindern beinen wart ver Hersant vzgezogen mich hat vil dicke betrogen Reinhart, sprach Ysengrin, daz wolde ich allez lazen sin, wenne ditz ansehende leit daz ist lanc vnde breit. (1168–1200) [Frau Hersant lief hinterdrein, / aber nur bis zum Vorderteil. / Da erwartete sie die größte Schmach: / Da sie weder vor noch zurück konnte, / nahm Reinhart die Gelegenheit beim Schopf, / lief aus einem andern Loch hinaus / und schwang sich auf die Gevatterin. / Isengrin brach fast das Herz, / denn jener begattete sie vor seinen Augen. (…) Frau Hersants Schmach war bodenlos; / sie biß vor Wut in die Steine, / aber ihre Stärke nützte ihr jetzt nichts. / Da sah Reinhart / Isengrin wutschnaubend heraneilen. / ‚Für mich ist es besser, mich jetzt zurückzuziehen‘, / sagte Reinhart und ging wieder in sein Heim. / Mit Isengrin kamen seine Söhne, / und viele schreckenerregende Tiere / waren ebenso dabei. / Mit all denen konnte jener später bezeugen, / daß seine Frau vergewaltigt worden war. / Isengrin brach in Tränen aus. / An den Hinterbeinen / wurde Frau Hersant herausgezogen. / ‚Schon oft hat mich Reinhart betrogen‘, / klagte Isengrin, / aber
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all das würde ich auf sich beruhen lassen – / außer dieser Schmach vor meinen Augen; / sie ist zu groß.‘]
Die Szene überrascht durch ihre Raumregie und prägnante Kürze – alles passiert in Sekundenschnelle: an die dramatische Verfolgung schließt sich die List des Fuchses an, der zu einem Loch der Dachshöhle hineinschlüpft und zum anderen wieder hinaus, während der massige Körper seiner Verfolgerin stecken bleibt. Vor den Augen der Heraneilenden vergewaltigt er sie, ohne dass jene es verhindern oder seiner habhaft werden können. Obszön wird das Geschehen auf zwei Weisen: einmal, dass der Hörer / Leser es – wie die anderen Tiere – gewissermaßen voyeuristisch mitvollziehen muss, und zweitens, dass durch den Anthropomorphismus die Grenze zum menschlichen Körper aufgeweicht wird, sodass sich dieser wie eine zweite Folie in die imaginierte Szene schieben kann. Dies ist später auch bei den Schindungen noch von Bedeutung. Von den beiden anderen bisher besprochenen Episoden unterscheidet sich diese einmal durch ihre dramatische Handlung, die auf Mit- und Nachvollzug ausgelegt ist, und zum zweiten durch die ausführliche Darstellung von Emotionen auf Seiten Ysengrins und Hersants. Ist es zunächst der Zorn, der beide erfasst, so stellt sich angesichts der Augenzeugenschaft und Öffentlichkeit der Schande Kummer und Schmerz ein: „Isengrine ein herzen leit geschach / er gebrvtete si, daz erz an sach … Isengrin begonde weinen“. Schließlich dominiert die Scham den Abschluss, wenn Ysengrin über „ditz ansehende leit“ klagt, also über die übergroße Schmach – im Sinne des Ehrverlusts – vor seinen Augen. Dass Scham hier beteiligt ist, zeigt noch der sentimental erscheinende Rückblick Ysengrins auf sieben glückliche Ehejahre, die nun mit der Schande durch Reinhart für immer ausgelöscht seien: „nv hat vns gehonet Reinhart, owe, daz er ie vnser gevatere wart! / ichn magez nimmer werden vro“ (1223–25) [Jetzt aber hat uns Reinhart Schande bereitet, / Wehe, dass er unser Gevatter geworden ist! / Darüber kann ich nicht mehr froh werden“.] In dieser Szene treffen Scham und Schamlosigkeit – im doppelten Sinne von obszönem und dreistem, gewissenlosem Handeln und zur Schau gestellter Beschämung – direkt aufeinander. Reinhart schädigt Ysengrin mehr denn je durch die Entehrung seiner Frau vor anderen Schamzeugen und aktualisiert das Gerücht der Buhlschaft zwischen beiden. Seine Schamlosigkeit betrifft hier nicht nur die Transgression von rechtlichen Normen (Vergewaltigung), sondern vor allem die öffentliche Zurschaustellung von Scham/Schande und somit eine Demütigung und bleibende soziale Schädigung der gesamten Wolfsfamilie. Es ist der zwanghaft voyeuristische Blick, der hier Scham ostentativ herstellt, und vor dem sich die Geschädigten weit weg wünschen. Scham und Schamlosigkeit
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konstituieren sich in einer kompulsiven, von Reinhart beherrschten dramatischen performance vor Zuschauern, zu welchen die Ankommenden gemacht werden. Sie sind performative Operatoren, die sich im Ereignis vollziehen und durch das Ereignis auf lange Sicht wirken können. Der Schamlose greift dabei auf kognitive Qualitäten zurück, die den Opfern abgehen: Kalkül und Geistesgegenwart, Intelligenz, und Mut zum Risiko. Es sind diese Fähigkeiten, die ihn den anderen überlegen machen. Sie stehen gegen die Emotionalität der Wölfe, welche hier als pathetisch entlarvt und karikiert wird. Zorn, Kummer, Schmerz und Scham mischen sich in diesem von grellen Farben dominierten Bild der Schändung, die mehr als ein Rechtsbegriff ist, nämlich ein von allen Beteiligten erfahrenes Ereignis.40 Dabei werden die schwankhaft-sexuellen Erzählmuster, die im Roman de Renart noch auf breiter Ebene vorgeherrscht haben, in Heinrichs Erzählung so verkürzt, dass sie fast vollständig getilgt sind.41 Auch wenn damit die Kategorisierung Hersants als Ehebrecherin zurückgedrängt wird,42 wird doch die gesamte Szene von der Darstellung der obszönen Gewalt gesteuert. Die Wölfin kommt in doppelter Hinsicht in eine Objektrolle; sie ist das Objekt der Vergewaltigung durch den Fuchs und sie ist das Objekt des voyeuristischen Blicks der herankommenden Wölfe, des Erzählers und somit des Rezipienten – womit durch den Blick drei Ebenen verbunden werden. So potenziert die Erzählung die ausgestellte Scham, indem alle gleichzeitig zu Schamzeugen und zu Voyeuren gemacht werden – eine stärkere Ostentation ist kaum vorstellbar. Die Blicksteuerung weist direkt
40 Wie stark die Wirkung dieses Bildes noch Jahrhunderte nach seiner literarischen Gestaltung war, zeigt die Bewertung Helmut de Boors in seiner Literaturgeschichte, welcher man die Empörung quasi anmerkt: die „Minne“ zu Hersant sei „ins Gröbstsinnliche verzerrt“, sie „gipfelt in der ungerheuerlichen öffentlichen Vergewaltigung Hersants durch Reinhart.“ „Tiefst verletzt“ sei „das moralische Empfinden“, so de Boor in Kap. IX seiner Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2. München, 11. Aufl. 1991, S. 378. 41 Vgl. Hesse, Elisabeth: Der Fuchs und die Wölfin. Ein Vergleich der Hersanthandlung im Ysengrimus, im Roman de Renart und im Reinhart Fuchs. In: Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Alois Haas u. Ingrid Kasten. Bern u. a. 1999, S. 127–128. 42 Dass die Wölfin hier kein Geschrei (gerüchte) anstimmt, wie später in der Anklage der Dachs in seiner Verteidigungsrede für Reinhart monieren wird, und insofern die Vergewaltigung nicht rechtsgültig sei, ist wie alle anderen Äußerungen Crimels eine maßlose Auslegung des Rechts. Denn es ist offensichtlich, dass die Wölfin nicht in der Lage ist zu schreien, da sie im Fuchsbau steckt und in die Steine beißt. Der Kontrast zwischen dem Ereignis der Vergewaltigung und Crimels Auslegung könnte nicht größer sein. Anders Widmaier, Das Recht im Reinhart Fuchs, S. 161f, die hier lediglich eine Diskussion über die rechtlichen Dimensionen der Handlungen Reinharts sieht.
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auf die Rezipienten als Adressaten des dramatischen Ereignisses hin, und es ist kaum zweifelhaft, dass auch sie davon berührt werden sollen. b. Die Schande des Bären – die Glatze als Stigma Im zweiten Beispiel geht es um die Schande des Bären Brun, nachdem er sich aus dem Baumstamm befreit hat, dort jedoch seine Ohren und sein Kopfhaar lassen muss (V. 1563–1621, eine Antizipation der späteren Schindung). Auch hier bleibt es nicht bei einer Ehrverletzung, die für immer als Schandmal sichtbar bleiben wird, sondern das Ereignis wird ebenfalls dramatisch aufgeladen: seine konstitutiven Elemente sind das langsame Herankommen der mit Prügeln bewaffneten Dörfler, die wachsende Angst des Bären („sin angist der was vil groz“), während die Zeit, sich zu befreien, verrinnt, sowie seine gesteigerten Anstrengungen, den Kopf aus dem Baum zu ziehen. Dies alles erscheint in einer spannungsreichen Szene, in welcher seine Angst dem Bären schließlich auch zur Flucht verhilft – freilich unter dem Verlust seines Kopfhaares. Die mit der körperlichen Schädigung verbundene Schande wird später zum Ziel des Spottes Reinharts – dazu später mehr – , und die nun weithin sichtbare „Glatze“ gerät bei der Ankunft am Hof wird die Wahrnehmung des versehrten Bärenkörpers zur öffentlichen Angelegenheit, wenn es heißt: Her Brun kan ze hove bloz, do wart sin clage vil groz. dar kamen tier gedrungen, alte vnde ivnge, vnde scowitten die blattin breit. do clagiter die grimmen leit deme kunige, sin capilan. er sprach: diz hat mir Reinhart getan. ich gebot ime, kunic, fur dich; drut herre, nu sich, wie er mich hat gehandelot, mir ware liebir der dot. (1607–1618) [Herr Brun kam nun entblößt am Hof an / und klagte sehr heftig. / Die Tiere drängten sich heran – / alt und jung – / und betrachteten die allzu große Glatze. / Da klagte er die schlimme Schmach / dem König, er, sein Kaplan: / ‚Das hat mir Reinhart zugefügt. / Ich hatte ihn, König, vor dich geladen; / mein lieber Herr, nun sieh / wie er mich behandelt hat; / lieber wäre ich tot.]
Neben der lauten Klage ist auch hier wieder die Ostentation des Schandmals in Form der übergroßen Glatze fassbar, und zwar im Herandrängen der Tiere an Brun und des Betrachtens der Glatze: „vnde scowitten die
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blattin breit“. Dass dieses Anblicken des Bären sich mit einer Schamreaktion verbindet, wird daran deutlich, dass sich der so Misshandelte lieber den Tod wünscht als mit dem auf seine Gefräßigkeit und Triebhaftigkeit verweisenden Stigma weiterzuleben. Dies ist zu erklären mit der wichtigen Rolle des Kopffells als repräsentativem körperlichem Statusmerkmal. Der Anblick der Schmach greift auch auf den König über, der zornig und schwermütig wird. Die in der Szene angelegte Komik drängt Heinrich zurück zugunsten einer Zurschaustellung der Schande des Bären, welche die ganze Hofgesellschaft erfasst. c. Die Schindung der Gegner Reinharts Die Angriffe Reinharts gegen seine Gegner gipfeln in der Schlussszene der Hoftagsfabel, wenn der als Arzt Verkleidete Vrevil zur Genesung ein Wolfsfell, ein Bären-, ein Katzen- und ein Biberfell empfiehlt. Vrevil leistet in Missachtung seiner feudalen Schutzfunktion und seiner obersten Gerichtsbarkeit der Aufforderung Folge und lässt seine engsten Vasallen schinden.43 Das Unerhörte wird in einer grellen, wieder dramatischen Bilderfolge erzählt, teilweise so pathetisch, dass es an Kolportage grenzt. Im Unterschied zu seinen Vorlagen erzählt Heinrich hier auf eine völlige Vernichtung seiner fiktiven Welt hin. Während das Wolfsfell im Ysengrimus dem Löwenkönig die Heilung bringt, und auch im Roman de Renart nur der Wolf geschunden wird, überträgt Heinrich das Motiv auf alle jene großen Tiere, die im Verlauf des Prozesses Reinharts Gegner waren. Hier hat Neudeck einen Zusammenhang zwischen Gerichtsverhandlung und Strafaktion nachweisen können. Es gehe weniger um Legalität, sondern um Rache, um das „Bedingungsgefüge von Verrat und Rache, Vergehen und Vergeltung“.44 Bevor Reinhart „ane nôt“ den König vergiftet, nimmt er in einer maßlosen Steigerung von autotelischer Gewalt weitgehende Eingriffe in die körperliche Integrität der Opfer vor, indem er diesen das Fell abziehen lässt. Die körperliche Versehrung Ysengrins ist nach Tonsur, Entmannung
43 Zur Figur Vrevels vgl. Kolb, Herbert: „Nobel und Vrevel. Die Figur des Königs in der Reinhart-Fuchs-Epik“. In: Virtutes et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. FS für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Hg. v. Joseph P. Strelka u. Jörg Jungmayr. Bern, Frankfurt 1983, S. 328–350. 44 Neudeck, Otto: „Frevel und Vergeltung. Die Desintegration von Körper und Ordnung im Tierepos Reinhart Fuchs“. In: Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur. Hg. v. Bernhard Jahn u. Otto Neudeck. Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 101–120, S. 106.
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und Schwanzverlust an ihrem Höhepunkt angelangt, und Brun, Diepreht und der Biber müssen ihm folgen. Diese Enthäutungsorgie ist der Gipfel von Reinharts Beschämungsakten: es handelt sich dabei jedoch nicht, wie Neudeck formuliert, um eine „Zerstückelung der Tierkörper“ – von Desintegration kann man vielleicht beim Löwen sprechen, doch nicht bei den anderen Tieren –,45 sondern vielmehr um eine ostentative Schandstrafe, um den am Körper sichtbaren und unwiderruflichen sozialen Ehrverlust der großen Tiere. Nur der Körper des Löwen zerfällt und fällt dem Tod anheim, die anderen aber überleben stigmatisiert. Es ist die Ausstellung der Strafe in expressiven Bildern der Beschämung, die hier im Mittelpunkt steht. Die Ausdruckskraft der Schindung hat mit ihrer Durchführung zu tun; diese wird von Heinrich zwar nicht en detail geschildert, sie ist aber vor dem Hintergrund der anthropomorphisierten Figuren umso eindringlicher. Der Anthropomorphismus dient nicht allein der satirischen Entlarvung der menschlichen Natur, indem deren beständige Eigenschaften und Affekte in der Maske der Tiere zur Anschauung gebracht werden, wie Jauss betont hat,46 sondern auch der Übertragbarkeit von Emotionen. Die Angst und die Scham des Wolfs und des Bären bei der Bitte um ihr Fell verbinden sich mit der Vorstellung der Enthäutung eines Tieres oder sogar eines Menschen. Das Schinden ist eine spektakuläre Zurschaustellung des rohen Fleisches, eine visuelle Öffnung des Inneren des Körpers, seiner Kehrseite, seines entfalteten Inneren, also die völlige Zersetzung der herkömmlichen, nahen, vertrauten Figur.47 Die Tiere werden nicht zur Schlachtbank geführt, sondern zu einer „Opferschaubank“.48 Sie werden einer grausamen Handlung unterzogen, welche an ein Opferritual erinnert, das jedoch weitgehend funktionslos ist (bis auf die Ausnahme des Katzenfells). Was bleibt, ist eine hypertrophe Aufladung der Schande/ Scham, eine noch nie da gewesene und noch nie erzählte Schande, die an 45
Neudeck verwendet zwei zentrale Begriffe für die körperlichen Versehrungen der Feinde Reinharts: Zerstückelung und Zerreißung. Beide Begriffe gehen an den Tatsachen vorbei, denn allein der Löwe ‚zerfällt‘ in drei Teile, sein Haupt in neun, und von Zerreißung (als eine spiegelnde Strafe bzw. Vergeltung) kann bei der Schindung der Tiere keine Rede sein. 46 Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierepik, S. 21. 47 Vgl. zur Schindung Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek 1999, S. 82ff. Benthien macht darauf aufmerksam, dass die Schindung in der Literatur und im Mythos vor allem Gesetzesübertreter trifft, die die herrschende Ordnung von Grund auf verletzen. Den Opfern wird ihre Körpergrenze genommen, sie werden als Unmäßige in ihre sozialen Grenzen zurückverwiesen. Mit der Haut wird auch die Identität genommen. 48 Didi-Huberman, Georges: Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille. Paderborn 2010, S. 133–144.
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den Tieren ausgestellt wird. Ihre Körperlichkeit wird dadurch dergestalt defiguriert, dass das Schandmal größer ist als sein Träger.
5. Schamloses Sprechen: Spott Der Spott auf der Handlungsebene49 ist ein ständiger Begleiter der Beschämungsakte Reinharts, und er überbietet sie sogar gelegentlich. Er ist, wir haben es bei den Schandstrafen gesehen, das eigentliche Medium der Ehrverletzung. Spott ist als öffentlicher und erlaubter Diskurs die zweite Ebene der Beschämung nach der körperlichen. Ohne die Visualisierung der Schande vor einem Publikum und ohne den negativen, höhnischen Spott ist die Schande nicht wirksam. Spott und Verlachen sind im Mittelalter bis weit in die frühe Neuzeit hinein rituelle und allseits akzeptierte Formen von Normdurchsetzung und sozialer Kontrolle, die im performativen Vollzug richtig von falsch trennen und gemeinsame Werte und Identitäten versichern können. Darüber hinaus müssen Spott und Verlachen auch als Inszenierungen von Macht und Gegenmacht betrachtet werden, bei denen bestimmte Interessen und Pläne durchgesetzt bzw. vereitelt werden können.50 Ich greife zwei Szenen heraus: (1) Im ersten Teil des Epos setzt nach einer fehlenden Stelle in P und K – vermutlich handelt es sich um die Erzählung von der Entmannung Ysengrins im Wolfseisen – der Text wieder ein mit der Begegnung zwischen Ysengrin und Kuonin, wahrscheinlich einem Eichelhäher, aus dessen spöttischem Bericht man vom Beischlaf zwischen Hersant und Reinhart erfährt: [Ysengrin]: vor leiden stirbet ovch min libez wip. Kvnin sprach: si entvt. si enhat sich niht so wol behvt, als ich dich iezv hore iehen. ich han zwischen iren beinen gesehn Reinhart hat si gevriet, ichn az noch entranc siet: mag daz gebrvetet sin, ez gie vz unde in als ein bescintiz stabilin. Isingrin horte mere,
49 Zum spöttischen Erzählen siehe weiter unten. 50 Vgl. Seeber, Stefan u. Sebastian Coxon (Hg.): Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt. Themenheft der Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes (2010), H. 1, Göttingen 2010.
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div warin ime swere. er viel vor leide in unmaht, er wisse weder was dac oder naht, des lachete Kovnin (V. 582–595) [‚Aus Leid wird dann auch meine liebe Frau sterben.‘ / Kuonin meinte: ‚Das tut sie bestimmt nicht. / Sie hat sich überhaupt nicht so in acht genommen, / wie ich dich hier reden höre. / Zwischen ihren Beinen habe ich nämlich Reinhart gesehen, / wie er sie begattet hat; / ich habe seitdem noch nicht einmal etwas zu mir genommen. / Oder heißt das nicht begatten, / wenn sich da etwas herausbewegt und wieder hinein, / ganz wie ein entrindetes Ästchen?‘]
Der Wolf ist von der obszön-spöttischen Erzählung Kuonins, der sich als Augenzeuge des Beischlafs ausgibt und diesen genüsslich beschreibt, dermaßen schockiert, dass er in Ohnmacht fällt. Kuonins Spott ist auf Erniedrigung und Verachtung ausgelegt; er vollzieht sprachlich das nach, was geschehen, aber verborgen war (und auch von der Handschrift nunmehr verborgen wird) und macht es dadurch in einem maßlosen Akt der Enthüllung für alle sichtbar. Mehr noch, mit dem obszönen Bild des sich entrindenden Stäbchens wird der Geschlechtsakt in den Vordergrund gespielt und verletzt so erst die Ehre des Wolfes, indem er als Wahrgenommener geschildert wird. Erst im Zusammenhang mit dem Spott über den betrogenen Ysengrin wirkt die seelische Verletzung des Ehebruchs im Sinne einer Vollzugskraft, erst im Spott und im Lachen des Spötters gewinnt sie eine öffentliche Qualität. Dabei kann Ysengrin wieder nicht anders als mit Kummer und Scham reagieren. Die Nachrichten Kuonins beleidigen ihn und lasten schwer auf ihm. Scham paart sich mit Zorn in der Drohung, Kuonin die Augen auszukratzen („ez gienge dir an die ougen“) bzw. ihm das Leben zu nehmen. (2) Schärfer noch als Kuonins böser Spott ist der Hohn Reinharts über den geschundenen Brun, als er ihn nach seinem Abschied am Hof im Wald zufällig wieder sieht: saget, edeler schribere, was di hvt ze swere, daz ich sie euch niht sehe tragen? ich will evch werliche sagen: mich dvnket an den sinnen min, sult ir zv winter imannes vorspreche sin, der mvez ev einen bellitz lihen, ern mag iz ev niht verzihen, wan des dvrfet ir zv vrvmen. owe wer hat evh evwern hvt genvmen? (2203–2212) [‚Sagt mir, edler Schreiber, / war Euch das Fell zu beschwerlich, / daß ich es Euch nicht tragen sehe? / Ich muß doch sagen: / es scheint mir sicher, / würdet Ihr im Winter jemandes Fürsprecher sein, / so müßte er Euch einen Pelz leihen; / er
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kann es Euch in der Tat nicht versagen, / denn den habt Ihr wirklich nötig. / O weh, wer hat Euch nur Euer Fell geraubt?‘]
Zur Schande der Enthäutung kommt nun der spöttische Hohn hinzu, der sich auf das Fell als fehlendes Kleid des Bären, und somit als wichtigstes Repräsentationsmerkmal der großen Tiere (dies wird nochmals in dem Begriff bellitz deutlich) bezieht. Brun hat mit dem Fell auch seinen Status und seine Körperkraft verloren: er kann sich nicht verteidigen, weil ihm alle Ehre genommen ist: er hat mit dem Verlust der sozialen Geltung und Selbstachtung auch keinen Kampfesmut mehr. Als Entstellter weist er einen weithin sichtbaren körperlichen Mangel (die Nacktheit) auf, der gleichermaßen als Kainsmal seine Niederlage in Erinnerung ruft, und als Defekt den Spott der anderen geradezu auf sich zieht. Was ihm bleibt, sind selbstreferentielle Gesten der Drohung, die aber keine Gefahr mehr darstellen: „mit grimme grein er vmb sich“. Dass er hier nichts mehr sagen kann, sondern schweigen muss, nur noch undeutliche Laute wie ein Knurren von sich geben kann, nimmt ihm seine menschlichen Züge und reduziert ihn zur Bestie. Dass an dieser Stelle auch Scham eine Rolle spielt, ist allein schon an der Nacktheit Bruns, seiner nun vom Kopf auf den ganzen Körper ausgeweiteten Blöße, gut erkennbar. Die grundlegende Erfahrung der Scham ist das Gesehenwerden, und zwar das ungewollte Gesehenwerden; daher ist sie eng mit der Nacktheit, der Entblößung verbunden. Bloß und wehrlos, ohne Stimme und Sprache steht der mächtige Bär da, und sein widermvt oszilliert zwischen Widerwillen, Betrübtheit und Scham. Dass hier von Scham die Rede sein kann, ist mit Léon Wurmser zu begründen, der die Scham als „unerträglichen Affekt“ bezeichnet hat, der besonders häufig durch andere Emotionen substituiert oder „maskiert“ wird, etwa von Zorn oder Wut.51 Der aggressive Spott hat in dieser Szene die Funktion einer nochmaligen Steigerung der Entehrung des Bären, es ist eine zweite, allein diskursive Ostentation der entblößten Tatsachen, die an Prahlerei vor anderen grenzt. Der Bär kann darauf lediglich mit einer emotionalen Reaktion antworten, die im Moment der Schindung ausgeblieben war. Sie weist in ihrer Ohnmacht und Selbstbezüglichkeit auf die vollständige Erniedrigung des mächtigen Vasallen hin, ebenso wie der Hohn Reinharts auf seinen Ehrverlust und die unauslöschliche Schande hinweist. Somit macht der Spott nochmals evident, was ohnehin bekannt ist: er hat die zeigende,
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Wurmser, Léon: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin 1990.
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hinweisende Funktion dessen, der das Geschehen in öffentlichen Diskurs verwandelt und auch später immer wieder in Erinnerung rufen kann. Der Spott ist ein Instrument der öffentlichen Sanktion, er ist kommunizierbar und wiederholbar. Dass er hier als spielerische Kommunikationsform, gewissermaßen als Scherzrede interpretiert werden kann, halte ich für zweifelhaft; dafür ist das Finale des Reinhart Fuchs zu düster. Vielmehr ist er die diskursive Seite der unverhüllten Ausstellung der Schande, eine weitere Facette ihrer literarischen Inszenierung. Der aggressive Spott Reinharts und Kuonins auf der Handlungsebene ist auch zu unterscheiden vom lächelnden Spott des Erzählers, wenn er ironisch und satirisch auf die Missgeschicke der Tiere, auch Reinharts blickt (etwa im Brunnenabenteuer: „da wurden seine oren naz“). Der Spott unter den Tieren dagegen ist ritueller Natur, er ist soziale Sanktion, eine grausame Bestrafung durch Verlachen. Dieses wiederum ist eine Form der öffentlichen Beschämung, des Zeigens und Zurschaustellens von Ehrverlust.
6. Emotion und Kognition Im Reinhart Fuchs stehen sich die List des Fuchses als ein Vermögen der anima intellectiva, der Kognition, und die Emotionalität oder Sinnlichkeit als anima sensitiva der anderen Tiere gegenüber.52 Diese Gegenüberstellung ist ein Effekt der im Tierepos angelegten Erzähllogik, das tierische Verhaltens- und Handlungsweisen als Verkleidungen menschlicher Verhaltens- und Handlungsweisen entlarvt. Dabei ist das tierische Laster durchaus nicht im Sinne eines antithetischen Schemas durch eine menschliche Tugend zu ersetzen, sondern das tierische Verhalten hat spezifisch menschliche Züge. „Die Lektüre der Tierepen wird so zu einer anthropologischen Lektüre, die den Leser verunsichert über das Wesen des Menschen zurücklässt; die Grenze zwischen Mensch und Tier wird aufgehoben und fragwürdig.“53
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Die Unterscheidung von anima intellectiva (Vernunftdenken, Wollen) und anima sensitiva (Wahrnehmungs- und Bewegungsvermögen, einschließlich der Affekte) zur Bestimmung des genuin Menschlichen bzw. der Grenze zwischen Mensch und Tier geht auf Aristoteles und die Kirchenväter zurück und wurde als schematisches Seelenmodell in der mittelalterlichen Philosophie übernommen. Vgl. dazu Wild, Markus: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der Frühen Neuzeit. Berlin 2006, S. 29–42. Am deutlichsten entwickelt ist sie bei Thomas von Aquin, Summa theologiae Ia. quaestiones 76–79. Jahn, Bernhard u. Otto Neudeck: „Einleitung“. In: Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur. Hg. v. B. J. u. O. N.
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Kognition und Emotion der Tiere im Reinhart Fuchs sind jedoch genuin menschliche Vermögen, die in der Maske eines Konflikts der Tiere literarisch dargestellt werden. Es sind anthropomorphisierte Tiere, die der Text zu Trägern von menschlicher Gewalt und menschlichen Gewaltphantasien werden lässt. Interessant ist nun, dass beiden Vermögen bestimmte menschliche Kommunikationsformen eigen sind: auf der Seite der Tiere sind dies mit emotionalem Ausdruck versehene Artikulationen, wie Klagen, Jammern, Heulen, Weinen, Zähnefletschen usw., auf der Seite Reinharts dagegen ist es die kenntnisreiche und dissimulative Rede, zu welcher glatte Lügen, Täuschungen und Ambivalenzen gehören.54 Das rhetorische Vermögen ist somit ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Aspekt seiner kündekeit, und es kommt vollkommen ohne emotionale Färbung aus. Anders bei den großen Tieren: sie sind im dritten Teil des Epos zwar durchaus in der Lage, ihre Argumente vorzubringen, doch können sie es mit der souveränen Virtuosität des Fuchses nicht aufnehmen: am Ende sind sie, wie der Bär, zum Verstummen bestimmt, und es bleibt nur ein rein tierisches Grollen und Knurren übrig. Reinharts letzte Worte dagegen werden im Modus des Spotts geäußert, einer hochkomplexen und ambivalenten, weil mit den Aussagerahmen spielenden, ironischen Sprechform. Die Faszination des Fuchses liegt demnach in seiner intellektiven Menschlichkeit, der Kunst, sich des Verstandes und der Sprache nach Belieben zu bedienen. Dagegen sind die anderen Tiere nicht nur triebhaft, sondern vor allem von ihrer anima sensitiva, von ihren Emotionen dominiert. Daher erscheint es mir nicht ausreichend, Reinhart mit dem einfachen Modell des Schelmen als listigem Betrüger und seinen Widersachern als dummen oder gefräßigen Opfern zu charakterisieren.55 Heinrich verlegt den Gegensatz zwischen Kognition und Emotion auf die Ebene der feudalen Gesellschaft: erst in der Dynamik zwischen den Akten der Beschämung und der daraus folgenden, sichtbaren und wirkFrankfurt a. M. 2004, S. 7–14; ebenso vgl. Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch. Göttingen 2009, S. 9. 54 Vgl. zum Verhältnis Lüge und Wahrheit im Reinhart Fuchs siehe Schilling, Michael: „Vulpekuläre Narrativik. Beobachtungen zum Erzählen im ‚Reinhart Fuchs‘“. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 118 (1989) H. 2, S. 108–122, S. 118–119. 55 Vgl. dazu Wehrli, der sich sogar dazu versteigt, den Reinhart Fuchs als „erste europäische Form des Schelmenromans“ zu etikettieren. Wehrli, Max: „Vom Sinn des mittelalterlichen Tierepos“. In: Ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Freiburg, Zürich 1969, S. 113–125; vorwiegend schelmisch sieht aber auch Ruh den Reinhart: Ruh, Kurt: „‚Reinhart Fuchs‘. Eine antihöfische Kontrafaktur“. In: Ders.: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Teil 2: ‚Reinhart Fuchs‘, ‚Lanzelet‘, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin 1980, S. 13–33.
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samen Schande/Scham wird der Unterschied beider Vermögen greifbar. Während die Schande Kontrapunkt der Ehre ist, erscheinen die mit ihr verbundenen Emotionen, in erster Linie die Scham, als Kontrapunkt der vernunftmäßigen, kühlen Berechnung, welche den Kern der intellektiven Vorgehensweise bezeichnet. Damit verschiebt Heinrich die dem Tierepos eigene Schelmendynamik von Betrüger und Betrogenem, Listigem und Tor, auf die Ebene der rituellen Sozialformen: wer kundic ist, kann Schande vermeiden, und sie bei denjenigen, die von ihren Affekten wie Scham und Zorn geleitet werden, herbeiführen. Die politische Satire hätte eine deutliche verhaltenskritische, und somit ethische Schlagseite, unabhängig von moralischen oder rechtlichen Normen. Damit liegt gerade in dieser Gegenüberstellung eine wichtige Aussage der Dichtung. Denn Reinhart fasziniert, er ist ein Virtuose in allen Lebenslagen, begabt mit einem vortrefflichen Intellekt, der die anderen überrascht, verblüfft, düpiert, und der die Hörer / Leser wenn nicht erschreckt, so doch beeindruckt. Soll nun vor Reinhart gewarnt werden, wie die Verfechter der „Warnfabel-These“56 nahe legen? Ist er Werkzeug einer strafenden Instanz?57 Sind die Ostentationen der Schande Anschauungsmaterial der Abschreckung? Oder sind sie Gewaltphantasien gegenüber einer verhassten Wirklichkeit (des staufischen Königtums),58 an der nichts gerettet werden kann, sodass der Wunsch nach ihrer Abschaffung sich in der fiktionalen Zerstörung der Welt Bahn bricht?
7. Schamlosigkeit als narrative Strategie der Ostentation Von hier aus ist die Rolle Reinharts als Schelm, wie sie in der Forschung breiten Raum eingenommen hat, neu zu bewerten. Wir unterscheiden
56 Zuerst hat Ute Schwab den Reinhart Fuchs als Warnfabel interpretiert, in dem Sinne, dass Kritik am staufischen Königtum und speziell an der Instrumentalisierung des Rechts durch Friedrich Barbarossa und dessen Machtpolitik geübt werden sollte. Vgl. Schwab, Ute: Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs. Mit einem textkritischen Beitrag von Klaus Düwel. Neapel 1967; daran anschl. auch Schwob, Anton: „Die Kriminalisierung des Aufsteigers im mittelhochdeutschen Tierepos vom ‚Reinhart Fuchs‘ und im Märe vom Helmbrecht“. In: Wissenschaftliche Beiträge. Zur gesellschaftlichen Funktionalität mittelalterlicher deutscher Literatur. Greifswald 1984, S. 42–67. 57 Dies ist die Vermutung Neudecks, Frevel und Vergeltung, S. 113: Reinhart sei „regulatives Instrument einer höheren Gerechtigkeit“. 58 Die antistaufische Tendenz des Werkes hat Schwab überzeugend herausgearbeitet, Schwab: Zur Datierung und Interpretation, S. 147–156; im Anschluss daran Kühnel, Jürgen: „Zum Reinhart Fuchs als antistaufische Gesellschaftssatire“. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hg. v. Rüdiger Krohn. Stuttgart 1979, S. 71–86.
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dort eine reduktionistische und eine gattungskonforme Deutung.59 Die erste versteht Reinhart als das Prinzip des Bösen, als figura diaboli,60 oder als das Prinzip der untriuwe, welches zunächst den Wolf als Gegenspieler und dann das Gemeinwesen vernichtet.61 „Die Bosheit des Fuchses ist die Hauptursache für den Reichsuntergang“, formuliert Speckenbach.62 Von diesem Horizont aus lässt sich auch die Interpretation des Fuchses als Figur des Antichrist erklären.63 Doch die uneingeschränkte Dämonisierung des Fuchses ist fragwürdig. So erkennt die andere Sichtweise – sie ist der zyklischen Struktur des Roman de Renart zu verdanken – in Reinhart den immerwährenden Schelm, den durch seine kündekeit triumphierenden Betrüger, welcher die Dummheit und Triebhaftigkeit seiner Antagonisten sukzessive entlarvt und bestraft. Er wird dadurch zum Katalysator für die Defizite in der feudalen Gesellschaft.64 Auch wenn diese zweite Sichtweise einiges für sich hat, so hat schon Jauss bemerkt, dass Reinhart aller Sympathie, die der Schelmenfigur im altfranzösischen Epos eigen ist, verlustig geht: „Die Liebenswürdigkeit der Schelmenfigur setzt ihre Unbefangenheit, die Freiheit der Ausnahme gegenüber dem Befangensein der Regel voraus und ist damit gerechtfertigt, dass sie im Überspielen der gesellschaftlichen Konvention zugleich die Endlichkeit ihres normativen Anspruchs […] ironisch vor Augen führt.“65 Dies lässt sich von einem so konsequent auf Destruktion aller Ordnung zulaufenden Epos wie dem Reinhart Fuchs nicht behaupten. Auch kann von einer Aufforderung zur Wiederherstellung des ordo, einem Neuanfang, keine Rede sein. Kein anderes Werk der höfischen Literatur ist so radikal zukunftsnegierend wie Heinrichs
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Die beiden Deutungen lassen sich auch auf strukturelle Modelle zurückführen: so unterscheidet Bertau zwischen einer sukzessivlogischen und einer simultanlogischen Lektüre. Vgl. Bertau, Karl: „‚Reinhart Fuchs‘: Ästhetische Form als historische Form“. In: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200. München 1983, S. 19–29. So v. a. Linke, Hansjürgen: „Form und Sinn des Reinhart Fuchs“. In: Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie. Blanka Horacek zum 60. Geburtstag . Hg. v. Alfred Ebenbauer. Wien 1974, S. 226–262. Göttert sieht die untriuwe v. a. des Fuchses als Kernpunkt und Motivation der Erzählung: Göttert, Karl Heinz: Tugendbegriff und epische Struktur in höfischen Dichtungen: Heinrichs d. Glîchezâre Reinhart Fuchs u. Konrads von Würzburg Engelhard. Köln 1971. Speckenbach, Klaus: „Der Reichsuntergang im Reinhart Fuchs und in der Nibelungendichtung“. In: Proceedings of the Third International Beast Epic, Fable and Fabliau Colloquium. Hg. von Jan Goosens u. Timothy Sodmann. Köln, Wien 1981, S. 404–434, hier S. 408. Wie bei Schwob, „Die Kriminalisierung des Aufsteigers“, S. 54. Zuerst Schwab, Zur Datierung und Interpretation, S. 88; auf dieser generellen Linie auch Ruh, „Reinhart Fuchs“. Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierepik, S. 282.
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Fuchsepos: nach dem Tod Vrevils und der Flucht aller Tiere scheint es keine Ansätze für eine Rückkehr zur Ordnung zu geben.66 Dass die Welt erst völlig zerstört werden muss, um darauf eine neue aufzubauen, ist Otto Neudecks interessanter Deutung zu entnehmen. Er sieht im Anschluss an Bertau das Böse weniger beim Fuchs als bei den Tieren, die für ihre Vergehen – Triebhaftigkeit, Beugung des Rechts – und für ihr fehlendes Unrechtsbewusstsein bestraft würden.67 Somit erscheint Reinhart als „regulatives Instrument einer höheren Gerechtigkeit“, die Versehrung und bei Neudeck „Zerstückelung“ ihrer Körper soll positiv als Voraussetzung für eine Wiederherstellung von gestörter sozialer Ordnung als Regenerationsphänomen wirken.68 Die Aufgabe des Fuchses sei es, die Destruktionsarbeit zu übernehmen. So sei die Bezeichnung „der gvte Reinhart“ am Ende durchaus ernst zu nehmen – denn er habe ganze Arbeit geleistet. Abgesehen davon, dass der Zerstückelungsthese nicht zuzustimmen ist, halte ich diese Deutung zwar für originell, aber nicht tragend. Denn sie unterschätzt die zahlreichen negativen Charakterisierungen Reinharts durch den Erzähler, sie unterschätzt auch seine eigenen Untaten, die er „âne not“ begeht. Heinrich erzählt nicht von idealen höfischen Werten, sondern von ihrem Verlust, ihrer Abwesenheit, und zwar bei allen seinen Figuren. Insofern ist sein Werk eine „antihöfische Kontrafaktur“,69 auch wenn sie im selben historischen Moment wie die höfische Literatur entsteht. Als solche steht nicht die Ehre als oberster Wert der Gesellschaft im Mittelpunkt, sondern die Schande. Der Reinhart Fuchs ist ein Werk über Schande und ihre absichtsvolle Herbeiführung, die Beschämung. Beide sind – wie die Ehre – primär gesellschaftsbezogen und somit öffentlich, sie sind Ausdruck sozialer Kontrolle und sozialer Sanktion. Gegenüber der Scham als Tugendbegriff im Artusroman ist die Scham im Reinhart Fuchs an keiner Stelle ein Antrieb zur Besserung. Sie erscheint vielmehr als Funktion der Schamlosigkeit, und somit als Komplement der öffentlichen Schande. Heinrichs Werk weist die typischen Kennzeichen einer Schamkultur auf. Durch die Absenz religiöser Vorstellungen wird der Gedanke der Schuld (und ihre Bewältigung durch Reue, Buße und Beichte) nicht thematisiert. Alle Ehrkonflikte werden auf der Ebene der Schande und
66 Dies betont besonders Bertau, „Reinhart Fuchs“, S. 28. 67 So klagt Vrevil noch kurz vor seinem Tod darüber, dass er doch „ane schulde“ sei. (V. 2235). 68 Neudeck, „Frevel und Vergeltung“, S. 113. 69 So die häufig zitierte Formulierung von Kurt Ruh, „Reinhart Fuchs“, der sie jedoch von Jauss, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierepik, übernommen hat.
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der Beschämung ausgetragen. Scham wird quasi an der Innenseite der Schandereignisse mitgeführt, sie ist Ziel- und Kontrapunkt derjenigen Kognition, die in der listigen kündekeit des Fuchses aufgehoben ist. Es scheint dem Autor aber nicht um die Teilnahme an Emotionen zu gehen, sondern um ihr Abschreckungspotential: ihnen steht eine Aufwertung der emotionslosen kognitiven Strategien gegenüber. Dies ist an den verstörenden Bildern der Vergewaltigung, Versehrung und Schindung, die mit einem hohen Imaginationspotential aufgeladen sind, deutlich zu erkennen. Wenn Verstörung und Abschreckung aber zu den gewollten literarischen Effekten Heinrichs gehören, werden sie gerade durch die Ostentation der Schande / Scham, welche in der narrativen Ausstellung körperlicher Verletzungen und Demütigungen bestehen, erreicht: als einer phantasmatischen Selbstüberschreitung des Mediums zum Zwecke der Mobilisierung von Affekten und der Evokation von Empörung bei seinem Publikum.
8. Resümee Mein Thema waren die erzählerischen Ostentationen der Schande/ Scham, die durch gezielte Akte der körperlichen, psychischen und sozialen Beschädigungen von Reinhart herbeigeführt werden, um seine Widersacher zu vernichten. Sie gehen weit über die Gebundenheit an juristische Bedingungen hinaus, auch wenn ihre Termini der Rechtssprache der Zeit angehören. Sie beschreiben Arten und Weisen der körperlichen und seelischen Versehrung und die daraus folgende Vernichtung des sozialen Status in ausdrucksstarken Bildern, in denen Schande und Scham, häufig gepaart mit anderen Emotionen, erfahrbar und nachvollziehbar werden. Entscheidend ist dabei die enge Verbindung von körperlicher Bloßstellung und gesellschaftlichem Geltungsverlust. Aus den Bildern und Szenen bricht sich ein erzählerisches Gewaltpotential Bahn, welches so stark ist, dass es die groteskkomische Rahmung der Tierepik überschreitet und ganz ins Negative wendet. Auf der symbolischen Zeichenebene verweisen diese Szenen der Schande direkt auf die Bestrafung von Machtgier, Egoismus, Habgier, Wollust und Lüge, und auf den völligen Verlust von verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Treue, von sozialer Verantwortung im Sinne der milte, von Mitmenschlichkeit, aber auch der kompletten Abwesenheit christlich-ritterlicher Tugenden, wie wir sie aus dem höfischen Roman kennen. Ihre Einbettung in Inszenierungen versehrter Körper und ihren Stigmata steigert ihr performatives Wirkungspotential deutlich. Auch wenn die satirische Rahmung, die unterschiedlichen Formen der Parodie (Minneparodie, Parodie der Rechtspraktiken, Parodie hel-
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denepischer Strukturformen70) und eine noch deutlich zu spürende Situations- oder Körperkomik, sowie die oft zu bemerkende Ironie des Erzählers das Ganze sehr zweideutig machen, muss konstatiert werden, dass das Werk von seinem Ende her gelesen konsequent auf den Untergang seiner fiktiven Welt angelegt ist. Heinrich berauscht sich an der Möglichkeit, die moralisch-didaktische Zwecksetzung des Genres in eine der heldenepischen Form analoge politische Satire umzuschreiben. Was zu Beginn nur als radikale Variante komisch intendierter Schwankhandlungen erscheint, verliert sukzessive seine Enthebbarkeit und wird im Laufe der Erzählung immer mehr von bösem Spott und zynischem Ernst regiert: die Schindung der Tiere und der Gifttod des Löwen sind dabei die grausamen Endpunkte einer Reihe von Akten der Beschämung, welche Heinrich bei dieser Umdeutung benutzt hat. Sie drehen auch die parodistischen und komischen Inhalte der ersten beiden Teile ins Groteske, in den schwarzen Humor. Sinn und Zweck der Zentralität von Beschämung und Schande ist somit eine Präsentation und Amplifikation der mala als demonstrativer Akt der Sichtbarmachung in der politischen Satire des dritten Teils, und zwar durchaus als Affektstrategie dem Publikum gegenüber zu verstehen. Heinrich will mit seinen grellen Schandbildern, die auf Rechtsbrüche und Missbrauch von Herrschaft verweisen, die Verfehlung anprangern und gleichzeitig bestrafen. Dabei rekurriert er auf Muster schamlosen Erzählens, die in der Tierepik vor allem durch den Anthropomorphismus angelegt sind, und verbindet sie mit Ehrverletzungen durch Versehrungen und Spott. Das schamlose Erzählen besteht in der rücksichtslosen Ostentation von Bildern und Diskursen der Schande, welche zunächst starke Emotionen bei den Betroffenen auf der Handlungsebene auslösen. Diese inszenierten Emotionen dienen als ein trigger, um die starke Bildlichkeit in Affekte bei seinem Publikum umzumünzen und seiner politischen und gesellschaftlichen Kritik affektiven Nachdruck zu verleihen. Das Ziel seiner poetischen Vorgehensweise ist somit nicht allein, die Zuhörer und Leser zu warnen und sie wachzurütteln, sondern er will schockieren, verstören, er will die politisch-gesellschaftlichen und die rechtlichen Missstände des ausgehenden zwölften Jahrhunderts mit einem bleibenden Makel versehen, ihnen ein literarisches Schandmal setzen. Dies ist ihm, wie ich denke, gelungen. In seiner Radikalität könnte es ein Grund für die weitgehende (schamhafte) Ablehnung des Werkes in seiner Zeit sein. 70
Immer wieder wird auf das Verhältnis des Reinhart Fuchs mit verschiedenen heldenepischen Dichtungen, vor allem dem Nibelungenlied hingewiesen. Der Status dieses Verhältnisses ist jedoch immer noch nicht restlos geklärt. Vgl. dazu Speckenbach, „Der Reichsuntergang“, S. 433, der hier keine parodistische Relation vorliegen sieht.
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Diskursivierung der Scham im Erec Hartmanns von Aue und im mittelniederländischen Walewein von Penninc und Pieter Vostaert1
1. Einleitung Die höfische Epik des hohen Mittelalters entwirft eine Welt, in der der Status eines Ritters abhängig ist von seiner êre, d. h. von seinem Ansehen in der Gesellschaft. Diese êre ist nicht zu erringen durch Akkumulation von Macht und Reichtum, sondern durch eine Wertorientierung, die etwa im Iwein-Prolog2 abstrakt als rehte güete, als ethische Vorbildhaftigkeit, gefasst und in den Werken mit Werten wie milte, zuht, manheit konkretisiert wird. Exemplarisch hierfür ist die Figur Gawans, der neben König Artus das höchste Ansehen unter den Rittern wegen seiner tugent […] manecvalt3 besitzt. Gawan und Artus sind freilich die einzigen, die namentlich hervorgehoben werden; alle anderen Ritter werden prinzipiell als ethisch gleichrangig vorgestellt, wobei das Bild der Tafelrunde dieses Fehlen jeder Wertabstufung ikonografisch repräsentiert. Um dieses Ideal absoluter Gleichrangigkeit in den Texten aufrecht zu halten, muss darauf verzichtet werden, die Akkumulation von êre als Ziel jedes ritterlichen Handelns zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Denn der Gedanke enthält ein agonales Prinzip, das tendenziell die Harmonie am Hof in
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Die Texte werden zitiert nach folgenden Ausgaben: Hartmann von Aue: Erec. Hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt v. Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt v. Kurt Gärtner. Tübingen 2006; Penninc und Pieter Vostaert: Walewein. Hg. u. übersetzt v. Johan Winkelman u. Gerhard Wolf. Münster 2010. Hartmann von Aue: Iwein. Hg. v. Georg Friedrich Benecke u. Karl Lachmann, neu bearb. v. Ludwig Wolff, 2 Bde., Bd. 1. Berlin 71968, vv. 1–3; vgl. dazu Ragotzky, Hedda: „Saelde und êre und der sêle heil. Das Verhältnis von Autor und Publikum anhand der Prologe zu Hartmanns ‚Iwein‘ und zum ,Armen Heinrich‘“. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hg. v. Gerhard Hahn u. Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992, S. 33–54; hier: S. 36–39. Hartmann von Aue: Erec, v. 1624.
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Frage stellt. Dies wird bereits am Gattungsbeginn deutlich formuliert, als in Chrétiens Erec et Enide Gauvain vor den negativen Auswirkungen der Auszeichnung eines Einzelnen für die Stabilität einer Gemeinschaft warnt, in der permanente Rivalität herrscht.4 Aus diesem Grund verzichtet Artus meistens darauf, das, was das Ziel allen ritterlichen Strebens ist, der Gewinn der êre, explizit zu bestätigen; denn die Vermehrung des Ansehens des einen setzt das Ansehen der vielen herab. Stattdessen erzeugen die Texte den Eindruck, es bedürfe keines öffentlichen Anerkennungsrituals, weil unter den besten aller Ritter ohnehin ein Konsens über wahre Werthaftigkeit bestünde. Paradoxerweise wird denn auch die Bestätigung öffentlichen Ansehens nur selten öffentlich vollzogen – etwa bei der Verleihung des Ritterpreises am Ende eines Zweikampfes oder eines Turniers,5 aber hier ist der neue Status aufgrund des öffentlich erkämpften Sieges ohnehin evident. Nach ethischen Wertmaßstäben urteilen Hof und König hingegen nicht, und nur so kann auch im Streit der beiden Grafentöchter in Hartmanns Iwein Gawans Eintreten für die rechtlich und moralisch inakzeptable Position der älteren Tochter ohne jede negative Auswirkung auf sein Ansehen bleiben.6 Aber der vermeintliche consentium omnium über Wertmaßstäbe für ritterliches Handeln wird in den Texten selber immer wieder durchbrochen und zwar nicht nur durch das notorische Schandmaul Keie, der als quâtspreche7 die dunkle Seite permanenter Konkurrenz um Ansehen und Anerkennung vertritt, sondern auch aus einer Erzählerbemerkung in Hartmanns Erec lässt sich erschließen, dass der im Schatten des Erfolgs blühende Neid als Denkfigur immer präsent ist.8 Als Demütigung erfahrene Zurücksetzungen lösen jedoch ebenso
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Vgl. Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Afrz./Dt. Übersetzt u. hg. v. Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1991, vv. 39–66. Diese Rivalität resultiert aus der Funktion der Ehre als symbolisches Kapital, das knapp ist, ständig akkumuliert werden muss und mit dem „nutzenorientiert kalkuliert“ wird (vgl. Vogt, Ludgera: „Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des ‚Imaginären‘ am Beispiel zweier literarischer Texte. In: Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Hg. v. dies. und Arnold Zingerle. Frankfurt a. M. 1994, S. 291–314; hier: S. 299 u. 303). Vgl. dazu den ehrenvollen Empfang, der Erec nach dem Sperberkampf zuteil wird (Hartmann von Aue: Erec, vv. 1284–1294; dazu jedoch vv. 1270–1272), und den Lobpreis nach seinem Turniersieg (vv 2813–2825). Vgl. Fischer, Hubertus: Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns ‚Iwein‘. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos. München 1983, S. 140. Hartmann von Aue: Erec, v. 4664. Vgl. dazu Hartmann von Aue: Erec, vv. 1270–1272. Auch wenn die Hinweise auf den gegenseitigen Neid der Ritter relativ selten sind, kann man davon ausgehen, dass dies eine Konstante adligen Handelns gewesen ist; vgl. dazu etwa Althoff, Gerd: „Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung“. In: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 259–282; zit. nach Althoff, Gert: Spielregeln
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wie ihr Gegenteil, die öffentliche Anerkennung, Emotionen aus und diese können als illokutionäre Akte in den Artusromanen handlungsstiftende und -begründende Qualität gewinnen.9 Von menschlichen Emotionen berichtet auch gelegentlich die historische Überlieferung, wenn sie nach Kausalbegründungen für einzelne Ereignisse sucht. Im Unterschied zu den literarischen Quellen sind Emotionen hier Bestandteil der Grammatik ritueller Kommunikation. Wenn etwa ein Kaiser für seinen Gegenspieler sorgfältige Ehrbezeugungen inszenieren lässt,10 dann signalisiert er nach außen den Anschein von Gleichrangigkeit und besonderer Wertschätzung und der Erfolg dieser Aktion wird in den Quellen durch eine entsprechende freudige Reaktion des Geehrten dargestellt. Derartige Ehrbezeugungen im öffentlichen Raum sagen jedoch nichts über den ethischen Wert eines Adligen oder über dessen Einschätzung durch seine Umwelt aus, allenfalls lässt sich daraus ein aktueller politischer Status ablesen, der etwa bei einem ungünstigen Verhandlungsverlauf plötzlich aufgehoben werden kann. Öffentliche Ehrbezeugungen oder Tadel und Bloßstellungen sind demnach Teil der hochgradig ritualisierten Kommunikation des Mittelalters und erfordern als solche bei den Adressaten eine Bestätigung ihrer Wirksamkeit, die in den Quellen gelegentlich durch Zeichen von Freude, Scham oder Zerknirschung semantisiert wird.11 Dabei ist es unerheblich, ob derartige Emotionen in einer konkreten Situation überhaupt geäußert worden sind. Entscheidend ist die Absicht der Autoren, mittels des Zeichencharakters von Emotionen den kommunikativen Verlauf eines Geschehens eindeutig zu markieren.12 Sofern in der historischen Überlieferung von emotionalen Reaktionen berichtet wird, sind sie also keineswegs Teil einer indiin der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 199–228; hier: S. 218–223. 9 Im Sinne der Sprechakttheorie wird mit der Demonstration des eigenen Schamgefühls oder mit der öffentlichen Schambekundung bereits eine Handlung vollzogen, auf die die Umgebung reagieren muss. Diese Botschaft hat einen solch eindeutigen Zeichencharakter, dass damit jede weitere Diskussion überflüssig erscheint. Emotionen – so scheint es – dulden keinen Widerspruch. 10 Vgl. Althoff, Gerd: „Die Historiographie bewältigt. Der Sturz Heinrich des Löwen in der Darstellung Arnolds von Lübeck“. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Hg. v. Bernd Schneidmüller. Wiesbaden 1995, S. 163–182; zit. nach Althoff, Gerd: Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter. Darmstadt 2003, S. 190–210; hier: S. 205f. 11 Althoff, Gerd: „Empörung, Tränen, Zerknirschung. ‚Emotionen‘ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“. In: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. 60–79; zit. nach Althoff, Gerd: Spielregeln, S. 258–281. 12 Vgl. Althoff, Gerd: „Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. v. Claudia Benthien, Anne Fleig u. Ingrid Kasten. Köln Weimar Wien 2000, S. 82–99; bes. S. 85–87.
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vidualpsychologischen Charakterisierung der handelnden Figuren oder Grundlage für die Bewertung ihres ethischen Status, vielmehr wirken sie primär als performative Operatoren in einem politischen, rituell überformten Geschehen. Diese beiden Formen der Funktionalisierung von Emotionen, als handlungsauslösender Impuls mit Begründungscharakter oder als fester Bestandteil ritueller Kommunikation, wird man berücksichtigen müssen, wenn man sich mit der Scham im höfischen Roman befasst.13 Dabei darf man Emotionsdarstellung in literarischen Texten14 nicht generell über den Leisten der rituellen Kommunikation des Mittelalters schlagen dürfen, weil auf der syntagmatischen Ebene die Texte aus politischen Funktionsbestimmungen und Kausalbeziehungen abgelöst sind und dafür literarische und intertextuelle Relationen aufgebaut werden. So hat Hartmann in seinem Erec den Schamaspekt gegenüber der altfranzösischen Vorlage ergänzt bzw. entscheidend erweitert und damit ein neues Handlungsmotiv gewonnen: In der Initialaventiure wird Erec geradezu von Schamattacken heimgesucht, die ihn bis zu Selbstmordgedanken treiben und sein weiteres Handeln im ersten Wegteil mitbestimmen. Demgegenüber ist das Handeln Erecs bei Chrétien eher von einer kühlen Rationalität bestimmt.15 Der sich daraus ergebende Widerspruch liegt auf der Hand: Die Helden beider Romane verhalten sich in der Eingangsaventiure rational, aber bei Hartmann wird dies mit einer emotionalen Betroffenheit verbunden, die vernunftorientiertem Handeln im Wege steht. Gerade derartige Brüche lassen vermuten, dass auf der paradigmatischen Ebene die Schamemotion für den Autor des Textes ein Eigengewicht hat und die Bedeutung der Scham im weiteren Handlungsverlauf diskursiv entfaltet wird.
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Zur historischen Semantik des Begriffs zwischen Emotion, Affekt und Tugend vgl. Krause, Burkhardt: „Scham und Selbstverhältnis in mittelalterlicher Literatur“. In: Das andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. Hg. v. Martin Kintzinger, Wolfgang Stürner u. Johannes Zahlten. Köln Weimar Wien 1991, S. 191–212; ders.: „Scham(e), schande und êre. Selbstwahrnehmung – zwischen Affekt und Tugend“. In: Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel. Hg. v. Burkhardt Krause u. Ulrich Scheck. Tübingen 2006, S. 21–75. Nicht nachgegangen werden kann hier der Frage nach dem Einfluss anderer literarischer Gattungen, wie etwa der Heiligenviten, Legenden, geistlichen Spiele oder der geistlichen Prosa, auf die mittelalterliche Grammatik der Emotionen. Zu den prinzipiellen Problemen der Bewertung von Emotionsdarstellungen in den literarischen Texten des Mittelalters vgl. Schnell, Rüdiger: „Emotionsdarstellungen im Mittelalter. Aspekte und Probleme der Referentialität“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 127 (2008), S. 79–102. Bumke, Joachim: Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. Eine Einführung. Berlin, New York 2006, S. 22 und 96f.; Gephart, Irmgard: Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ‚Erec‘. Frankfurt a. M., Berlin, Bern 2005, S. 19–27.
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Auch wenn die Diskussion über die Position der in historischen Texten geschilderten Emotionen zwischen authentischer Gefühlsäußerung und ritueller Kommunikation die Erforschung dieses Themenfeldes in jüngster Zeit sehr belebt hat, hat die Scham bis vor kurzem nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies verwundert insofern, als in den Nachbardisziplinen der Literaturwissenschaft, in Philosophie, Psychologie, Theologie und Soziologie dieser Begriff schon seit langem breit diskutiert wurde16 und zuletzt die Elias-Duerr-Kontroverse,17 in der jenseits aller sonstigen Gegensätzlichkeiten Scham als Indikator für einen gesellschaftlichen Fortschritt benannt wird, sogar über den engeren Bereich der Wissenschaft hinaus öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat. Indessen hat diese Kontroverse auch gezeigt, dass bei einer methodologisch unkontrollierten Verwendung mittelalterlicher Quellen das Schamempfinden des Mittelalters sowohl als recht leger wie auch als restriktiv gedeutet werden kann und widerspruchsfreie Ergebnisse zur kulturellen Codierung von Scham oder ihres performativen Charakters im Mittelalter nicht zu erzielen sind. Jedoch hat die Elias-Duerr-Kontroverse insofern einen Fortschritt gezeitigt, als sich ‚unterhalb‘ kulturgeschichtlicher Makrotheorien in der Analyse literarischer Texte Hinweise auf eine je verschiedene Ausgestaltung und Funktion der Grenze zwischen Norm und Normverfehlung, zwischen Scham und Schamlosigkeit, finden lassen. Will man jedoch eben diese Konstituenten der Grenze und der Grenzverletzungen näher beschreiben, ist es nicht damit getan, sich auf die performativen Aspekte solcher Grenzverletzungen zu beschränken. Vielmehr ist es notwendig, die verschiedenen Facetten der in den Texten anzutreffenden Scham in ihrer je verschiedenen Inszenierung und narratologischen Funktion zu beschreiben. Auf diese Weise lässt sich dann der Diskurs der Scham zumindest für einzelne Texte erfassen. Dies soll im Folgenden exemplarisch anhand von zwei prominenten Vertretern der Gattung des Artusromans vorgeführt werden, anhand des Erec Hartmanns von Aue sowie des mittelniederländischen Walewein. Beide Werke eignen sich deswegen besonders gut für eine Untersuchung der Inszenierung und Transformation der Scham,
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Siehe dazu den Überblick über den Forschungsstand und die interdisziplinäre Diskussion bei Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. [zuerst Basel 1939] Frankfurt a. M. 1989; Duerr, Hans-Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozess. Frankfurt a. M. 1988. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschiede in beiden Positionen vgl. Landweer, Hilge: „Mikrophysik der Scham? Elias und Foucault im Vergleich“. In: Zivilisierung des weiblichen Ich. Hg. v. Gabriele Klein u. Katharina Liebsch. Frankfurt a. M. 1997, S. 365–399; hier: S. 389–396.
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weil in ihnen die Scham des Protagonisten sowohl eine fundamentale Bedeutung für die Aventiureannahme hat, wie auch die Semantik des Schambegriffs im Verlauf der Handlung diskursiviert wird.
2. Forschungen zur Verwendung des Schambegriffs bei Hartmann von Aue In ihrer 1984 erschienenen Dissertation Shame and Disgrace at King Arthur’s Court beschreibt Ann G. Martin schame im Erec als eine soziale Tugend, die dem höfischen Ritter die Erkenntnis potenzieller Grenzverletzungen in der höfischen Kommunikation erlaubt.18 Scham wird bei ihr zu einem Distinktionsmerkmal, mit dem sich der Protagonist gegen „true villains, the inhuman and the monstrous“, zu denen seine Herausforderer, aber auch Keie gehören können, abgrenzt.19 Folglich erscheint bei Martin die Vermittlung von Schamempfinden als ein ‚pädagogisch‘ notwendiger Akt, ohne den der Ritter die Artuswürdigkeit nicht erlangen kann. Ein Beispiel hierfür bietet Iders, welchem Erec im Sperberkampf das Gefühl für Beschämung mit dem Schwert geradezu einbläut.20 Die narratologische Funktion der Scham besteht für Martin dabei darin, dass sie als „springboard[] for action“21 dient und in den beiden ‚Krisen‘ die Handlung wieder in Gang setzt. Anachronistisch wirkt freilich Martins Deutung der Scham als individuelle Charaktereigenschaft Erecs; zumal damit die Scham nur als positiver Wert erscheint und ihre Ambivalenz nicht sichtbar wird. Im Anschluss an frühere Überlegungen Joseph Szövérffys22 hat David N. Yeandle23 in einer vorrangig sprach- und bedeutungsgeschichtlich angelegten Monografie zur schame im Alt- und Mittelhochdeutschen
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Martin, Ann G.: Shame and Disgrace at King Arthur’s Court. A Study in the Meaning of Ignominy in German Arthurian Literature to 1300. Göppingen 1984, S. 200f. 19 Martin: Shame, S. 206f. 20 Hartmann von Aue: Erec, vv. 928–950. 21 Martin: Shame, S. 27. 22 Szövérffy, Joseph: „Artuswelt und Gralwelt. Shame Culture and Guilt Culture in ‚Parzifal‘“. In: Paradosis. Studies in Memory of Edwin A. Quain Harry C. Fletcher. Hg. v. Mary B. Schulte. New York 1976, S. 85–98; wiederabgedruckt in Joseph Szövérffy: Germanistische Abhandlungen. Mittelalter, Barock und Aufklärung. Gesammelte Schriften. Brookline/ Mass., Leyden 1977, S. 33–46. 23 Yeandle, David N.: ‚schame‘ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprachund literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung. Heidelberg 2001.
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Ruth Benedicts24 Unterscheidung zwischen nicht-christlicher Scham- und christlicher Schuldkultur zur Grundlage seiner kulturgeschichtlichen Überlegungen gemacht. Hartmanns Erec deutet er dabei als deutliches Indiz „für die besonders wichtige[] Stellung der Schamkultur als Grundlage der Artusgesellschaft“25 und dementsprechend ist Scham im Erec Synonym für öffentliche Schande und hat nichts gemein mit einer ethischen Tugend. Yeandle übersieht jedoch, dass sich Schuld und Scham im Erec durchdringen: So erkennt der besiegte Iders gegenüber Erec ausdrücklich seine Schuld an, was wohl kaum auf ein christliches Bewusstsein hinweisen soll, andererseits empfindet er keine Scham für das Handeln seines Zwerges. Auch hinsichtlich Enite wird man von keiner die Differenz zwischen innerer Emotion und öffentlichem Akt einebnender Gleichsetzung von schame und schande ausgehen dürfen: Wenn Enite bei ihrem ersten Auftritt am Artushof schamhaft errötet,26 dann ist dies kein Zeichen einer öffentlichen Schande. An der großen Entwicklungslinie der Kulturgeschichte orientiert sich auch Irmgard Gephart, die das Schamgefühl des Protagonisten in der Geißelschlagepisode als Beleg für einen „umfassenden Wert- und Emotionswandel“27 wertet: Die nun „keiner intakten politischen Macht mehr untergeordnet[e]“28 innere Gefühlswelt der Protagonisten könne in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts genauer konturiert werden und handlungsinitiierende Qualität erlangen. Mit Bezug auf ein höfisches Ich-Ideal im internalisierten Blick des Anderen werden bei Gephart die Personen sich selbst zum Objekt, wobei die zunehmende Selbstdistanzierung eine gesteigerte Abhängigkeit vom Anderen zur Folge hat. So wecke erst Ginovers Blick auf den gedemütigten Erec bei diesem „eine Betonung seines Ichgefühls und gleichzeitig normative Ansprüche im Postulat der Ehre.“29 Diesen Prozess nimmt Gephart als Beleg für Elias’ Zivilisationstheorie und ein Vorrücken der Schamgrenze: Weil sich der Ritter angesichts einer „Abnahme direkter Ängste vor allgegenwärtigen Aggressionen in einem partiell befriedeten Klima“30 bewegt, wird nun anstelle des früheren Kriegsgegners das Auge des Anderen (d. h. hier: Ginovers) zur Kontrollinstanz.
24 Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. [zuerst Boston 1946] New York, Scarbourough 1974. 25 Yeandle: ‚schame‘, S. 118. 26 Hartmann von Aue: Erec, vv. 1723–1735. 27 Gephart: Unbehagen, S. 100. 28 Gephart: Unbehagen, S. 99. 29 Gephart: Unbehagen, S. 25. 30 Gephart: Unbehagen, S. 23.
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Auch Michael Mecklenburg, der sich allerdings wegen der seiner Meinung nach anachronistischen Übertragung psychologischer Kategorien der Moderne von Gepharts Ansatz distanziert, legt seiner Studie zu Erecs Scham das Zivilisationsmodell Elias’ zugrunde.31 Mecklenburg sieht das Werk als Beleg für einen geistesgeschichtlichen Transformationsprozess, dem Übergang von der Emotionalität zur Rationalität, der sich literaturgeschichtlich in der Ablösung des heroischen Epos durch den höfischen Roman manifestiere. Dabei erzeuge die sich zunehmend stabilisierende höfische Kultur ein Bewusstsein von Scham, das den Einzelnen davon abhält, unreflektiert auf Herausforderungen zu reagieren: Anders als der höfische Held hätte in der Zwergenepisode der Heros die Demütigung mit blinder Gewalt und ohne Rücksicht auf das eigene Leben beantwortet. Dagegen ist jedoch daran zu erinnern, dass sich im Sperberkampf Erec ‚heroisch‘ auf Iders stürzen wird und es nicht die Scham ist, die ihn an der Tötung des Unterlegenen hindert. Kritisch sehe ich auch Mecklenburgs Ansicht, wonach die in den Texten dargestellten Emotionen nicht durch die Struktur der Handlung vorgegeben sind, sondern zu „charakteristischen, individualisierenden Bestandteilen literarischer Charaktere“ [geworden sind], die sich unter Zuhilfenahme emotionspsychologischer Beschreibungskategorien präzise analysier[en]“ lassen.32 Auf diesem Weg wird die Scham zum Charaktermerkmal und wie bei Gephart zu einer Hochwerttugend, die den Helden auf eine neue ethische Stufe stellt. Damit wird jedoch die Bedeutung der Scham selbst im schamseeligen Erec überbewertet. Die Attribuierung des Schamdiskurses bei Hartmann hat daher kaum als Zeichen eines kulturellen Fortschritts, der in der Zähmung der Affekte durch Schamempfinden bestünde, verstanden werden. Dabei soll die von Mecklenburg erarbeitete psychologische Fundierung der Schamemotion gewiss nicht bestritten werden, aber im Text ist nicht sie, sondern ihre Funktion als performativer Operator in hochgradig rituell überformten Handlungen wirkungsmächtig.
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Mecklenburg, Michael: „Erecs Scham. Kulturelle Umbesetzung einer Emotion im mittelhochdeutschen höfischen Roman“. In: arcadia 44 (2009) H. 1, S. 72–92. Die Arbeit sieht sich der noch jungen historischen Emotionsforschung verpflichtet; vgl. dazu Eming, Jutta: „Emotionen in der mediävistischen Literaturwissenschaft“. In: Journal of literary theory 1, 2007, S. 251–273. Zur Darstellung und Kritik des Ansatzes siehe Schnell, Rüdiger: „Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung“. In: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173–276. Schnell spricht der historischen Emotionsforschung den Status einer eigenen Disziplin ab (S. 275f.). Mecklenburg: Scham, S. 81.
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3. Zur schame in der Geißelschlagepisode des Erec In der Initialaventiure von Hartmanns erstem Artusroman begleitet der junge Ritter Erec unbewaffnet die Königin Ginover und deren joungfrowen auf einem Spazierritt. Als man in der Ferne einen Ritter mit Dame und Zwerg erblickt, überlegt die Königin, wer der Ritter wohl sein könnte. Erec erklärt sich sofort bereit, dies in Erfahrung zu bringen, aber Ginover lehnt sein Angebot ab und schickt eine Frau aus ihrer Entourage. Diese jedoch dringt gar nicht bis zu dem Fremden vor, weil der Zwerg sie mit einem Geißelschlag am Weiterreiten hindert. Nachdem nun Ginover doch nolens volens Erec aussendet, widerfährt diesem dasselbe Schicksal und er kann sich nicht einmal an dem Zwerg für den Schlag rächen, weil er – „bloz als ein wîp“ – befürchtet, von dem Ritter getötet zu werden. Der Erzähler erläutert nun den Gemütszustand des zur Königin zurückgekehrten Erecs: er gelebete im nie leidern tac dan umbe den geiselslac und enschamte sich nie sô sêre wan daz diese unêre diu künegîn mit ir vrouwen sach. als im der geiselslac geschach, mit grôzer schame er wider reit. alsô klagete er sîn leit, schamvar wart er under ougen: „vrouwe, ich enmac des niht verlougen, wan irz selbe habet gesehen, mir ensî vor iu geschehen eine schande alsô grôz, daz ir nie dehein mîn genôz eines hâres mê gewan. (Erec, vv. 104–118)
Die performative Präsentation der Grenzverletzung vermittelt auf den ersten Blick eine völlig überzeugende Kausallogik: Erec reagiert auf den Peitschenschlag des Zwerges deshalb mit abgrundtiefer Scham, weil dies vor den Augen der Königin und ihres Gefolges geschehen ist. Nach der Erläuterung des Erzählers (vv. 108f.) ist es allein die Visibilität des Ereignisses und die Augenzeugenschaft Ginovers, die die Schamreaktion auslöst. Aber worin besteht genau die unêre, die Vernichtung seines öffentlichen Ansehens, die Erec hier erfährt? Der Protagonist formuliert die eigentliche Ursache sehr präzise; sie besteht nicht in dem Schlag an sich oder in dem damit verbundenen Schmerz, sondern seiner Unfähigkeit, auf diese Demütigung adäquat reagieren zu können. Der wênic man ist dabei
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selbst für den unbewaffneten Ritter kein ernst zu nehmender Gegner, aber dessen Dienstherr sehr wohl – und nur gegen den, der von dem ganzen Vorfall nichts mitbekommen hat,33 richten sich Erecs Rachegedanken. Erec ‚dekonstruiert‘ also die Individualität des Zwerges und definiert ihn als verlängerten Arm des Ritters,34 um überhaupt ein Motiv für die Verfolgung zu bekommen – der Zwerg allein wäre gar nicht satisfaktionsfähig gewesen. Mit dieser Argumentation verschiebt sich der Grund für Erecs Scham vom Geißelschlag auf seine Waffenlosigkeit, die es ihm unmöglich macht, seine adlige Gewaltfähigkeit, die für die Kommunikation einander fremder ritterlicher Körper unabdingbar ist, unter Beweis zu stellen.35 Seine fehlende Bewaffnung hat Erec allein zu verantworten und anders als bei seiner Nicht-Reaktion auf den Geißelschlag tragen weder der Erzähler noch Ginover in diesem Punkt Erec entlastende Argumente vor. Der Protagonist hat gegen den Grundsatz, wonach der Ritter außerhalb des Hofes permanent zur Aktualisierung seiner Wehrhaftigkeit verpflichtet ist, verstoßen. Auch der Zwerg hat sich bei seinem Handeln an dieser Regel orientiert, er unterwirft die Gewaltfähigkeit derjenigen, die in Kontakt mit dem Ritter treten wollen, einem ‚Lackmustest‘. Dies gilt erst recht für einen Versuch, den Namen des Ritters in Erfahrung zu bringen. Denn die (Erst-)Nennung des Namens ist innerhalb einer rituellen Kommunikation eine statusrelevante Handlung, die ein hierarchisches Verhältnis begründen kann.36 Insofern musste der Versuch Erecs trotz fehlender Gewaltbereitschaft den Namen des Ritters zu erfragen aus der Perspektive des Zwergs als Anmaßung erscheinen,37 und vielleicht war
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Zumindest behauptet Iders, nach seiner Niederlage Erec noch nie gesehen zu haben (Hartmann von Aue: Erec, vv. 986–988). In der Forschung wird die im Text vorgenommene Differenzierung zwischen Iders und Maledicur aufgehoben, um so den fremden Ritter in die Position des eigentlichen und ständisch angemessenen Gegenspieler Erecs zu bringen; vgl. Bumke: Erec, S. 23: „Ein fremder Ritter wagt es, nicht weit vor den Toren des Königssitzes die Königin des Landes schwer zu beleidigen […].“ 34 Die ‚Reindividualisierung‘ des Zwerges durch die Namensnennung findet erst bei seiner Bestrafung statt, wo der Eindruck entsteht, er habe völlig selbstständig gehandelt; vgl. Hartmann von Aue: Erec, vv. 1039–1077. 35 Dies macht ein einfaches Gedankenexperiment sichtbar: Einem bewaffneten Erec hätte der Zwerg wohl keinen Geißelschlag versetzt, weil dies seinen sofortigen Tod zur Folge gehabt hätte. 36 Vgl. die Bestimmungsaventiure Joie de la curt, wo das Motiv wieder aufgenommen wird (Hartmann von Aue: Erec, vv. 9325–9375). Nach Althoff wird innerhalb eines Begrüßungsrituals über das künftige Verhältnis der Personen verhandelt. Auch aus dieser Perspektive erscheint Erecs Auskunftbegehren eine Anmaßung (Althoff, Gert: „Ungeschriebene Gesetze. Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fi xierte Normen? In: ders.: Spielregeln, S. 282–304; hier S. 301). 37 Die Bedeutung der Namensnennung als Zeichen der Unterlegenheit thematisieren im Erec die Verse 4466–4477 u. 4747–4755. In beiden Passagen demonstriert Erec seine
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das Wissen um diese Konstellation der Grund für die anfängliche Weigerung der Königin Erecs Dienstangebot anzunehmen.38 Erec seinerseits hat die subtilen Interaktionsregeln der Namensnennung in seinem Gespräch mit dem Zwerg sorgfältig beachtet, Namen und Status Ginovers als Gattin des König Artus verschwiegen und sie lediglich als königin über diz land bezeichnet. Der Zwerg jedoch denkt und handelt in den Kategorien einer adligen Kriegergesellschaft, die – ganz nach den Kriterien heroischer Literatur – Hierarchien nur anerkennt, wenn sie durch Gewaltfähigkeit abgesichert sind. All diese Ambivalenzen der Situation werden nun im Gespräch Erecs mit der Königin überdeckt von der alles überwältigenden Schamemotion des Protagonisten. Dieser setzt Scham als nicht hintergehbare Emotion ein, mit der er der Königin die Erlaubnis zur Aufnahme der Verfolgung der Dreiergruppe abtrotzt39 und mit der er von jeder Diskussion über die Rechtfertigung des Auskunftbegehrens und seiner Waffenlosigkeit ablenkt. Die von Ginover ins Spiel gebrachte jugendliche Unerfahrenheit, für die er ja gerade ein sichtbares Beispiel abgegeben hat, wird durch die Instrumentalisierung der Scham ebenso zu einer quantité négligeable wie der Umstand, dass er Königin und Gefolge ohne jeden Schutz auf der Heide zurücklässt. Gänzlich von ihm unbeachtet bleibt auch, dass die Beleidigung der Königin schwerer wiegt als seine eigene,40 mit der Königin der Artushof herabgewürdigt wurde und eigentlich dieser zur Wiederherstellung des beschädigten Ansehens verpflichtet wäre. Demnach erscheint die Selbstfixierung Erecs, in der er Iders in nichts nachsteht, als Schatten der Scham. Diese Erkenntnis wird im Text noch ein zweites Mal wiederholt, wenn Erec in Karnant in einem Zustand der Selbstisolierung lebt, deren Konsequenz erneut eine gravierende Beschämung ist. Die Schamemotion aber gibt dem Beschämten auch dort die Lizenz zur Selbstermächtigung und zu einer eigenständigen ad-hoc-Definition der jeweiligen Grenzverletzung – zumindest legt dies der spontane Abschied Erecs von Karnant nahe. Beschämungen entfalten demnach im Erec stets eine Eigendynamik, wobei es dem Theorem der Artusepik entspricht, dass jede negative Erfahrung a la longue immer zur Quelle höchster vroide werden wird. Dies belegt bereits der Sperberkampf, Erkenntnis, dass Namensforderung und -nennung ein hierarchisches Verhältnis konstituieren und dies eine Schamreaktion auslösen kann. 38 Hier findet auch Ginovers ursprünglicher Auftrag an eine ihrer Begleiterinnen eine Erklärung: Die Königin ist sich des Risikos ihres Wunsches bewusst und hofft es mit der Aussendung einer Frau zu minimieren. 39 Nach Althoff (Empörung, S. 272) dürfen Emotionsdarstellungen in mittelalterlichen Quellen nicht als „unkontrollierte Gefühlsausbrüche“ verstanden werden, sondern sind „zweckorientiert“. 40 Vgl. Bumke: Erec, S. 23.
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in dem die Erinnerung an seine Demütigung Erec die Kraft zum entscheidenden Schlag gegen Iders verleiht. Eine Analyse von Erecs Scham muss deren Adressaten einbeziehen, weil dessen Reaktion maßgeblich dafür ist, ob das die Scham auslösende Fehlverhalten konkrete Sanktionen zur Folge oder keine besonderen Auswirkungen auf den Wertstatus hat. Dabei geht es nicht um die Schamemotion als solche, sondern immer um deren Anlass. Der Adressat von Erecs Scham ist zunächst Ginover, die allerdings seinen Selbstvorwürfen entschieden widerspricht und aus deren Verhalten sich keine Rechtfertigung der Scham ableiten lässt. Dies hat die Forschung schon lange erkannt und deswegen den Artushof als den eigentlichen Adressaten von Erecs Scham gesehen. Nach Kurt Ruh kann Erec an dieser Stelle gar nicht anders handeln, weil die Ehrverletzung den Ausschluss vom Artushof nach sich zöge.41 Dagegen spricht jedoch, dass Erec unbeschadet einer möglichen Niederlage ankündigt, binnen drei Tagen an den Artushof zu kommen, und später Iders trotz seiner Niederlage und der Beleidigung der Königin problemlos als Mitglied vom Artushof aufgenommen wird.42 Der Artushof geht demnach im Erec sehr großzügig mit Niederlagen oder Ehrverlust um und macht seine Entscheidungen nicht davon abhängig. Selbst Keie, der im Erec auch positive Züge trägt,43 tritt nicht als eine Figur auf, vor dessen Spott sich der Protagonist fürchten müsste. Der ‚Artushof‘ ist im Erec vor allem das Zentrum für die performative Bewährung der adligen Körper im Kampf: Nicht Erzählungen oder die Taten der Ritter außerhalb des Hofes entscheiden über die êre, sondern die Aktualisierung der Gewaltfähigkeit im hic et nunc: Zwar bringt Erec sein Sieg im Sperberkampf schon hohes Ansehen am Artushof ein,44 aber den eigentlichen Ritterpreis erringt er erst in einem großen Turnier nach seiner Hochzeit, in dem er sich vor allen anderen Rittern auszeichnet. Damit bestätigt sich auch, dass ein erworbener Status nicht auf immer festgeschrieben ist, sondern ständig aktualisiert werden muss, und dieses Prinzip eröffnet umgekehrt auch die Hoffnung auf Rehabilitation im Falle eines Scheiterns. Die Artusritter, die sich im Erec in einem Zustand der ständigen Konkurrenz befinden, repräsentieren demnach hier eine Welt,
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Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. 1. Teil: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. Berlin ²1977, S. 14. So auch Müller, Jan-Dirk: „Kleine Katastrophen“. In: Fehltritt. Hg. v. Peter von Moos. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 317–342; hier: S. 326. 42 Bei Chrétien (Erec et Enide, vv. 265–268) verspricht Erec ausdrücklich auch im Fall einer Niederlage an den Artushof zurückzukommen, bei Hartmann (Erec, vv. 138–143) fehlt der explizite Hinweis darauf. 43 Vgl. dazu Hartmann von Aue: Erec, vv. 4836–4845; aber vv. 4644, 4673, 4735. 44 Vgl. Hartmann von Aue: Erec, vv. 1284–1293.
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in der Gewaltfähigkeit und Erfolg im Kampf über den Status entscheiden, nicht etwa ein ideeller Wertstatus.45 Vor dem Urteil einer solchen wegen ihrer inneren Widersprüche labilen Instanz,46 deren Reaktionen letztlich an keinem verbindlichen Wertmaßstab orientiert und daher unvorhersehbar sind, muss sich der Ritter nicht fürchten, selbst wenn er eine demütigende Niederlage erlitten hat und insofern geht es am Text vorbei, wenn man Erec Angst vor der Ausgrenzung als Folge des Geißelschlages unterstellt: Seine Scham ist vielmehr der Gestalt gewordene Ausdruck seiner Selbstbezogenheit.47
4. Zur Bedeutung der Scham der Initialszene des Walewein Auch der mittelniederländische Walewein-Roman beginnt mit einer höchst komplexen Eingangssituation: Nach Beendigung des gemeinsamen Mahles – d. h. zum klassischen Zeitpunkt, an dem die Erzählung einer Geschichte fällig ist – erscheint am Artushof ein fliegendes Schachbrett, das keinerlei Botschaft mit sich führt oder sonstige Rückschlüsse auf seine Herkunft ermöglicht. Nachdem es einige Zeit vor den unbeteiligt bleibenden Rittern gelegen hat, fliegt es wieder zum Fenster hinaus. Der König erklärt nun zwar die Verfolgung des Schachbretts zur Aventiure für den Artushof, aber die Ritter reagieren auch darauf nicht. Sie ziehen die Grenze zwischen Normerfüllung und Normbruch, Scham und Schamverletzung selbstständig, wobei sie sich auf die Seite der Norm stellen und die Grenze der Schamverletzung weit jenseits von sich selbst situieren. Man hat diese Aventiureverweigerung immer als Ausdruck der Krise des Hofes interpretiert.48 Eine Krise aber bedarf eines Krisenbewusstseins genauso
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Im Zusammenhang mit der Verleihung des Schönheitspreises an Enide reflektiert der König bei Chrétien (Erec et Enide, vv. 1749–1759) über seine Verpflichtung, die für den Herrscher unabdingbaren Werte (Wahrhaftigkeit, Glauben, Gerechtigkeit, Einhaltung des Gesetzes) stets zu realisieren; Hartmanns Artus beruft sich nur auf sein ihm aufgrund der Tradition zustehendes Recht (Hartmann von Aue: Erec, vv. 1784–1796). 46 Auf die Labilität des Artushofes weist auch Werner Röcke hin, der daraus die Funktion der Keiefigur als Sündenbock ableitet: Durch seine Fehltritte lenkt Keie die innerhöfische Aggression der Artusritter auf sich und stabilisiert so die arthurische Gesellschaft (vgl. Röcke, Werner: „Provokation und Ritual“. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. v. Peter von Moos. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 343–361. 47 Auch Bumke (Erec, S. 23) spielt auf dieses Motiv an, übersieht aber, dass Erec bereits zuvor gegen die Regeln der Kommunikation unter einander unbekannter fremder adliger Körper verstoßen hat. 48 Vgl. dazu das Nachwort in der Ausgabe Penninc und Pieter Vostaert: Walewein, S. 588, 594f.; zur Eingangsituation vgl. grundsätzlich Winkelman, Johan H.: „Arturs hof en Waleweins avontuur. Interpretatieve indicaties in de expositie van de Middelnederlandse
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wie der Differenz zu einer verfehlten Norm,49 und beides fehlt hier, denn weder hier noch später gibt es explizite Hinweise auf sein Fehlverhalten. Nichts deutet auch auf ein Schambewusstsein der in ihrer Nonchalance sehr selbstbewusst gezeichneten Artusritter, die durch ihr Schweigen Artus vielmehr eine Begründungspflicht für die Legitimität der Aventiure aufnötigen. Dessen folgende Argumentation gegenüber seinen Rittern wird durch den Erzähler sorgfältig vorbereitet, der zunächst das Schachbrett in seiner ästhetischen Gestalt beschreibt und seinen Wert taxiert: Die Füße des Brettes sind aus rotem Gold, der Rahmen aus Silber und die elfenbeinernen Figuren mit Edelsteinen besetzt, die schon für sich genommen wertvoller sind als das ganze Artusreich. Hierauf – und nicht auf dem Ansehen, dass der Besitz eines solch außergewöhnlichen Spieles einbringen würde – begründet Artus seinen Appell zur Verfolgung des Spiels: […] „Bi mire coninc crone dit scaecspel dochte mi so scone! Maerct ghi heren ende siet hen quam hier sonder redene niet! Die up wille sitten sonder sparen dit scaecspel halen ende achter varen ende leverent mi in mine hant ic wille hem gheven al mijn lant ende mine crone na minen live willic dat zijn eghin blive.“ (Walewein, vv. 67–76) [(…) „Bei meiner Königskrone, / das Schachspiel schien mir sehr schön zu sein! / Passt auf, meine Herren, und bedenkt, / dass es nicht ohne Grund hierher geflogen ist! / Wer unverzüglich aufs Pferd steigen will, / das Schachspiel verfolgt, es holt / und mir aushändigt, / dem will ich mein ganzes Reich / und meine Krone nach meinem Tod vererben. / Ich will, dass dies sein Eigentum wird.“
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Walewein“. In: Spiegel der Letteren 28 (1986), S. 1–33; ders.: „Der Ritter, das Schachspiel und die Braut. Ein Beitrag zur Interpretation des mittelniederländischen ‚Roman van Walewein‘“. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. v. Johannes Janota, Paul Sappler u. a., 2 Bde. Tübingen 1992, Bd. II, S. 548–563; hier: S. 553f.; Schmitz, Bernhard Anton: Gauvain, Gawein, Walewein. Die Emanzipation des ewig Verspäteten. Tübingen 2008, S. 210–228; Wolf, Gerhard: „Der Artushof in der Komplexitätskrise. Ein Beitrag zur Eingangsaventiure des mittelniederländischen ‚Walewein‘“. In: Artushof und Artusliteratur. Hg. v. Mathhias Däumer, Cora Dietl u. a. Tübingen 2010. Diese Norm wird in der Sekundärliteratur immer stillschweigend vorausgesetzt, obwohl sie nicht von der Erzählerinstanz formuliert wird. Insofern ist es fraglich, ob man tatsächlich von einer „tiefen Krise“ der arthurischen Ordnung sprechen kann, die sich darin manifestiere, dass „die Tugendbegriffe der Ritterschaft, vor allem der zentrale Aspekt der Ehre, […] Lähmung und Angst platzgemacht“ hätten (Schmitz: Gauvain, S. 223).
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Dieser König, der einen materiellen und politischen Lohn für die Aventiureannahme aussetzt, handelt signifikant anders als der Artus am Gattungsbeginn. Dennoch wäre es verfehlt, diesen neuen Artus an dem alten zu messen und das Lohnversprechen als artuskritisch zu verstehen, denn im gesamten weiteren Text erscheinen solche rationale Überlegungen als Ausweis von Klugheit. Mir scheint denn auch diese narrative Gestaltung ein Tribut an eine Realität zu sein, in der die Vermehrung des Ansehens kein rationales Motiv für riskante Unternehmungen ist und selbst die Ehre als „nutzenorientierte[r] Grundmechanismus“50 wirkt: Ein Lohnversprechen muss einen materiellen Bonus beinhalten, weil es ansonsten unattraktiv bliebe. Freilich lässt sich an einem solchen ‚Realitätszuwachs‘ bereits das Manko ökonomischer Kalküle ablesen: Denn wer das Angebot des Königs genau prüft, dem entgeht nicht, dass es nach ökonomischen Kriterien gar nicht sinnvoll wäre, das Schachbrett dem König zu übergeben. Artus selbst ist an dem materiellen Wert des Spiels gar nicht interessiert, für ihn ist seine Pracht und die mit ihm transportierte geheime Botschaft ausschlaggebend. Dieser Erkenntnisdrang ist als Handlungsmotivation innerhalb der Gattung ungewöhnlich und – wie sich im Text sogleich thematisiert wird – innerhalb des religiösen Diskurses hoch problematisch. Angesichts des anhaltenden Schweigens der Tafelrunde greift Artus nun doch zu dem traditionellen Argument drohenden Ansehensverlustes im Falle einer Nichtannahme der Aventiure:51 Die coninc seide:„Wie so wille goet rudder in mijn hof betalen hi sal mi dat scaecspel halen of wine ghecrighen nemmermere vandesen daghe voortwert ere laten wijt ons aldus ontfaren.“ (Walewein, vv. 80–85) [Der König sagte: „Wer / an meinem Hof als tapferer Ritter gelten will, / der soll mir das Schachspiel bringen, / denn sonst gewinnen wir niemals mehr / von diesem Tag an Ansehen in der Welt, / wenn wir es einfach von uns wegfliegen lassen.“]
50 Vogt: Ehre, S. 301. Kortüm verweist darauf, dass in der historischen Realität der Sieg über einen Gegner immer auch ein ökonomischer Erfolg war, da nun Lösegeld verlangt werden konnte. Die Schonung des Unterlegenen ist daher „Ausdruck eines Wirtschaftsrationalismus“ (Kortüm, Hans-Henning: Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters. Berlin 1996, S. 75). 51 Im Daniel des Strickers (vv. 83–86) wird definiert, dass das Ansehen des Hofes von der andauernden Wertbewährung seiner Ritter, die nicht die Todsünde der acedia begehen dürfen, abhängt.
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Mit dem Topos goet rudder erinnert Artus seine Ritter zwar an ihre Verpflichtung zur Repräsentation absoluter Vorbildlichkeit und zur Bewahrung des Ansehens des Artushofes. Aber auch dieses Argument verfängt nicht, weil die Ritter – wie sie später erläutern werden52 – sich an einem anderen Parameter orientieren und die ere in den Kontext einer anderen Ordnung stellen, der der Hof genügen muss. Wenn selbst der Appell an die ere nichts mehr bewirkt, verbleibt Artus nur ein letzter Ausweg: Er muss die Aventiure selbst übernehmen. Damit aber sind Konsequenzen für die Zukunft des gesamten Hofes verbunden, die Artus drastisch ausmalt: Um die Bedeutung dieses Aktes allen sichtbar vor Augen zu führen, beruft er sich zuerst auf die göttliche Ordnung, nach der er zum Herrscher über die Ritter eingesetzt worden ist53 – und unterstreicht damit, wie sehr der Ungehorsam der Ritter auch gegen Gottes Willen verstößt: Alse die coninc dit verhorde sprac hi: „Bi mire coninc crone ende biden here vanden trone ende bi al diere ghewelt die ic ye van Gode helt, ne wille mi niemen tscacspel halen ic sect jou allen in corter talen ic salre selve achter riden. Ic ne wils niet langher onbiden eert mi alte verre ontfaert. Ic bem die gone diet beghert dat ict weder halen sal mine lette ramp ende ongheval eer ic meer te Carlicen kere of ic blive doot inde ghere. Ic salre jou mede doen die ere, ic soude met rechte zijn jou here nu salic zijn jouwer alre knecht.“ (Walewein, vv. 88–105) [Als der König dies bemerkte, / sprach er: „Bei meiner Königskrone / bei Gott auf dem himmlischen Thron / und bei der ganzen Macht, / die ich je von Gott erhalten habe, / kündige ich euch allen kurz und bündig an, / dass ich dem Schachspiel selber hinterherreiten werde, / wenn es mir niemand zurückholen will. / Ich will nicht länger warten, / denn sonst entfernt es sich allzu weit von mir. / Ich begehre es so sehr, / dass ich es zurückholen werde, / wenn mich nicht höhere Gewalt oder ein Unfall daran / hindern, wieder nach Carlicen zurückzukehren; / ansonsten werde ich es bis zu meinem Todestag begehren. / Damit werde ich euch Ehre erweisen, / denn rechtmäßig sollte ich euer Herr sein, / jetzt aber werde ich euer aller Diener sein.“]
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Vgl. unten S. 150. Vgl. Schmitz: Gauvain, S. 223f.
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In dieser Ankündigung liegt eine doppelte Drohung gegenüber den Artusrittern: So beschwört die Annahme der Aventiure durch den König die Gefahr seines Todes herauf, aber selbst eine erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe würde die Stabilität des Hofes untergraben, weil in jedem Fall der König zum Vasall seiner Vasallen mutieren würde. Artus bezieht sich dabei auf das Idealmodell seines Hofes, dessen Reputation abhängig ist von den Aventiuren seiner Ritter. Diese sind ständig zur Bestätigung und Vermehrung dieses Ansehens verpflichtet, sie erweisen mit ihren Aventiuren Artus Ehre und bestätigen so die bestehende Ordnung; durch ihre Weigerung hingegen bringen sie das perpetuum mobile der Tafelrunde, die Aventiure, zum Stillstand und zerstören die Welt des Artushofes. Es sind jedoch nicht derartige rationale Überlegungen, die Walewein nun zum Eingreifen bewegen, ausschlaggebend für ihn ist – so formuliert es der Erzähler – eine innere Emotion – sein sich einstellendes Schamgefühl: Deer Walewein die nu ende echt in dogheden es ghetrect voort hi scaemde hem als hi dit hoort datter niemen was soghedaen die dat belof durste anevaen van sinen here den coninc. (Walewein, vv. 106–111) [Herr Walewein, der immer / ein Vorbild an Tugendhaftigkeit ist, / schämte sich, als er hörte, / dass niemand bereit war, / das Angebot, das sein Herr / und König gemacht hatte, anzunehmen.]
Diese Argumentation des Erzählers überrascht zweifach: Zum einen ist die Erwähnung von Waleweins Schamgefühl unmotiviert, nach der Logik wäre eher eine Kritik der Feigheit der Artusritter zu erwarten gewesen. Zum anderen legt die Formulierung die Vermutung nahe, Walewein würde mangelndes Vertrauen der Ritter in Artus’ Glaubwürdigkeit als Grund für deren Verweigerungshaltung annehmen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass Walewein selbst nicht auf das Angebot des Königs reagiert und erst das Schweigen der gesamten Tafelrunde bei ihm die Scham ausgelöst hat, die als Aktivitätsimpuls wirkt. Ähnlich wie im Erec wird also auch im Walewein die Schamemotion zu einem ‚starken Attraktor‘, der als Begründung für die Durchbrechung von Konventionen dient und der sichtbar alle rationalen Überlegungen in ihrer Wirkung übertrifft. Walewein hält aber anders als Erec seine Schamemotion verborgen: In seiner Rede an den König argumentiert er utilitaristisch und scheint sich die von ihm vermuteten Bedenken der Ritter (vv. 109–111) zu eigen zu machen, wenn er eine Bestätigung des königlichen Versprechens verlangt:
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[…] „Coninc Artur; here, die worde die ghi heden ere seid, die hebbic wel verstaen. Die jou ghelof wille anegaen, suldi houden also ghi seit te voren dien eet die ghi hebt ghezworen?“ (Walewein, vv. 113–118) [(…) „König Artus, mein Herr, / die Worte, die Ihr soeben gesprochen habt, / habe ich gut verstanden. / Werdet Ihr demjenigen gegenüber, der euer Angebot annimmt, / den Eid halten, den Ihr geschworen habt?“]
Es fragt sich, warum der Text hier mit einer deutlichen Diskrepanz zwischen Figuren- und Erzählerrede arbeitet und der Erzähler seinem Publikum die Information über die innere Schamemotion Waleweins mitteilt, während sie die Figur vor den Anderen geheim hält. Demonstriert wird hier und an anderer Stelle im Text ein Verhalten, das das Verbergen und die Kontrolle innerer Emotionen zur Norm erhebt.54 Der Grund hierfür lässt sich im konkreten Fall leicht erschließen: Hätte Walewein seine Scham über die Passivität der Artusritter artikuliert, hätte er ihnen ihre ere abgesprochen. Deswegen bedient er sich im Folgenden eines rationalen machtpolitischen Argumentes, welches – da es keine Konkurrenz der Ritter um die Artusnachfolge gibt – die Würde der Ritter unangetastet lässt. In Kontext einer Reputationskonkurrenz sind politische oder ökonomische Motive anscheinend weniger prekär, weil sie keine moralischethische Diskussion hervorrufen. Die Gegenprobe für diese These bietet eine spätere Handlungspassage: Nachdem Walewein bei der Verfolgung des Schachbretts an den Hof des Königs Wunder gelangt ist, erzählt er dort von den Ereignissen am Artushof und bedient sich dabei bis in Einzelformulierungen hinein des Erzählerberichts. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch darin, dass er sich jetzt gegenüber König Wunder ausdrücklich zu seiner Scham bekennt.55 An dem fremden Hof kann Scham demnach zum öffentlich akzeptierten Handlungsmotiv werden, weil hier keine Konkurrenzsituation besteht und sich Walewein nun ohne Bedenken zu einem moralischen Motiv bekennen kann. Die Eingangssequenz ist durch den Aufbruch Waleweins vom Artushof noch nicht beendet, es beginnt vielmehr nun ein Gespräch zwischen
54 Abgesehen vom Verhalten des Protagonisten bewertet der Erzähler rational nicht durchdachte Handlungsweisen negativ. Vgl. dazu Penninc und Pieter Vostaert: Walewein, vv. 8552–8555 u. 9702–9705. 55 „Ic scaemde mi als ic dat horde, / dat daer niemen was so ghedaen / die dat ghelof durste ane gaen / van minen here den coninc […]“ (Penninc und Pieter Vostaert: Walewein, vv. 1200–1203). [Ich schämte mich, als ich bemerkte, / dass niemand so mutig war, / dieses Angebot, das mein Herr, / der König, gemacht hatte, anzunehmen (…)]
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Artus, den Rittern der Tafelrunde und dem Protagonisten, das in einem räumlich eigenartig gestalteten Zwischenraum stattfindet. Walewein hat den Palas bereits verlassen und hält sich vor den Mauern der Burg auf, wo das Schachbrett in der Luft schwebt. Die Artusgesellschaft ihrerseits ist an die Fenster des Palas geeilt, um das weitere Geschehen zu beobachten. Mit dieser Konstellation schafft der Text einen Erzählraum, in dem der Hof intern über die Legitimität der Aventiure verhandeln kann und Walewein sich nicht darauf beziehen muss. Damit hat auch Keie die Möglichkeit, seine topische Kritik am Protagonisten nachzuholen, die angesichts der kollektiven Aventiureverweigerung zuvor selbstreferenziell gewesen wäre. Behandelt werden im internen Gespräch einige der zuvor offen gebliebenen Fragen wie die Rechtfertigung der Passivität des Hofes, die Einordnung des fliegenden Schachbretts in den arthurischen und religiösen Horizont oder die Bewertung von Waleweins Verhalten. Bezeichnenderweise ist es nicht die übliche Reizrede Keyes, die das Gespräch in Gang setzt, sondern es sind die Artusritter, die die Kritik an der Aventiure Waleweins formulieren: [Die im Saal zurückgeblieben waren, sprachen]: „Verghinct hem tongoede bi Gode ende biden goeden daghe, hi souds hebben clene claghe dat hi die dinc dar anevaen die ne gheen man dar bestaen no noit kerstijn horde tellen dat si yewer oyt ghevellen. Dies dinct hi ons zijn onvroet.“ (Walewein, vv. 154–161) [„Wenn es ihm übel ergehen sollte, / hätte er – bei Gott und bei Christi Opfertod – / keinen Grund, sich zu beklagen, / denn er wagt es, Dinge zu unternehmen, / zu denen niemand sonst den Mut gehabt hätte / und von denen die Christenheit nicht einmal wusste / dass sie sich überhaupt irgendwo zutragen würden. / Deshalb glauben wir, dass er nicht klug handelt.“]
Thematisiert wird hier also die seit Beginn der Gattung diskutierte Frage nach dem Verhältnis zwischen dem curiositas-Charakter jeder Aventiure und dem christlichen Verbot der Neugierde.56 Während jedoch im Iwein die Neugierde Kalogreants und Iweins durch das Verhalten Artus’ legi-
56 Die christliche Theologie des hohen Mittelalters verurteilt die curiositas nicht allein deswegen, weil – wie der Sündenfall zeigt – den Menschen die sinnliche und theoretische Erfahrung der göttlichen Geheimnisse verborgen bleiben soll. Denn da sich „die Neugierde […] naturgemäß auf das Schwierige, Seltsame, Verborgene und Abgelegene [richtet, steigt] der Grad der Selbstbestätigung durch die Befriedigung dieser Neugierde […]“ (Fischer: Ehre, S. 20). Folgerichtig befürchten die Artusritter die Akkumulation von Ansehen, wenn der Protagonist Erfolg hat.
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timiert ist,57 bleibt im Walewein die Diskrepanz zwischen Aventiuregebot und christlicher curiositas-Kritik bestehen. Mit dem Hinweis auf sie rechtfertigen sich die Artusritter für ihre Untätigkeit, grenzen sich von Walewein und Artus ab und rücken die Annahme dieser Aventiure sogar in die Nähe der Todsünde der superbia. Diese Argumentation greift auch die religiöse Fundierung der Drohung des Königs (vv. 89–92) kritisch auf und setzt die kirchliche Kritik am adligen Konkurrenzdenken und Profilierungsstreben – wie sie etwa Jakob von Vitry58 formuliert hat – dagegen. Auf diese Weise zieht der Hof eine Grenze zwischen sich und Walewein, zwischen Normerfüllung und -bruch. Aus dieser Perspektive wird Waleweins Scham zum Anlass eines Normverstoßes, denn sein Schamgefühl entzündete sich an einem Verhalten, das vollkommen den christlichen und höfischen Normen entsprochen hat. Daraus ergibt sich eine Neuperspektivierung von Scham und Schamverletzung: Beides lässt sich nicht objektiv definieren, sondern ist abhängig von den Kontexten, aus denen heraus man urteilt: So mag zwar Waleweins Scham angesichts der Verletzung der höfischen Norm durch die Artusritter legitim sein, aber sie ist es nicht vor dem Hintergrund der christlichen Theologie und dem Maßstab menschlicher Klugheit (v. 161). Eine weitere Facette der Scham wird in einem Dreiergespräch zwischen Keye, Walewein und dem Hof entwickelt. Einleitend ruft Keye Walewein die spöttische Bemerkung zu, er hätte sich die mühselige Jagd nach dem fliegenden Schachbrett ersparen können, wenn er im Palas eine Schnur daran gebunden hätte.59 Keye erinnert Walewein damit an sein eigenes Zaudern und grenzt ihn so aus der Gemeinschaft der Artusritter aus. Bei seinem Spott geht er von der notorischen Reputationskonkurrenz am Hof aus und will augenscheinlich das Zusammengehörigkeitsgefühl des Hofes gegen den jetzt zum Außenseiter gewordenen Walewein aktivieren. Allerdings unterläuft er damit die Argumentationsstrategie der anderen Ritter, die die gesamte Aventiure als unchristlich denunziert haben und sie generell als illegitim definieren. Prompt gebieten sie denn auch Keye zu schweigen und schlagen ihn so auf seinem eigenen Feld, wenn sie ihn daran erinnern, dass er selber auch nicht jenen Mut aufgebracht hat, dessen Fehlen er Walewein vorwirft. Argumentationslogisch ist darin ein Hinweis auf die Selbstreferenzialität von Vorwürfen enthalten, inhaltlich
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Nach Fischer (Ehre, S. 22–25) wird die curiositas-Begierde im Iwein zu einem positiven Wert umgeschrieben, weil sie zur ritterlichen Selbstbestätigung animiert. 58 Vgl. dazu Kortüm, Menschen, S. 58f. 59 Nach Schmitz (Gauvain, S. 219) bezieht Keyes Rede „ihren Hintersinn […] aus dem initialen Versagen der Waleweinfigur, aus der genretypischen Inertia des Zu-spät-Handelns.“
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wird damit signalisiert, dass sich der Hof auf das Scham-Ehre-Paradigma nicht einlassen will, weil er damit keinen argumentativen Vorteil gegen Walewein erzielen kann, und vielmehr weiterhin auf die Auslagerung der Aventiureproblematik in den Bereich des Religiösen und der Rationalität setzt. Walewein hat von diesem internen Gespräch nichts mitbekommen, er orientiert sich jetzt, nachdem er aus der Diskursgemeinschaft Artushof ausgeschieden ist, wieder ganz nach dem Ehre-Paradigma und ist voll Angst vor einer öffentlichen Blamage. Die Szene, in der diese ‚Regression‘ entwickelt wird, ist mit Sinn für subtile Komik gestaltet: Das Schachbrett schwebt nämlich so nahe vor seiner Nase, dass er es hätte leicht mit den Händen ergreifen können; aber er unterlässt dies aus Angst vor den Sticheleien des Hofes (vv. 210–223) im Falle eines Versagens. Mit dieser für die weitere Handlung völlig irrelevanten Passage wird die Bedeutung der Scham als Triebfeder für das ritterliche Handeln eigens hervorgehoben und gleichzeitig eine weitere Facette der Scham aufgezeigt. Ebenso wenig wie Erec hätte Walewein einen Grund, sich vor einem Artushof zu schämen, dessen Tendenz zur Risikovermeidung und zur rationalen Bewältigung von Herausforderungen gerade erst problematisiert worden ist. Wenn er es dennoch tut, dann könnte der Grund in der Absicht liegen, dem Publikum des Textes diese spezifische Ambivalenz der Scham deutlich zu machen: Scham führt zwar zur Aktivität,60 aber sie kann gleichzeitig deren Erfolg sabotieren, wenn man sich nicht davon lösen kann. Der Text suggeriert, Walewein hätte die Aventiure mit einem Handgriff beenden können, aber die Fixierung auf seine ere habe dies verhindert.
5. Genderspezifische Aspekte der Scham im Erec und im Walewein Der Schambegriff hat in der mittelalterlichen Literatur bekanntlich eine genderspezifische Komponente. Im Erec präsentiert der Erzähler die Scham als eine Emotion, die sich bei Enites erstem Auftritt vor dem Artushof in unwillkürlichem Erröten manifestiert.61 Ursache hierfür ist Enites Erkenntnis der großen Diskrepanz zwischen ihrem eigenen sozialen 60 Vgl. Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Erec, Iwein, Parzival, Tristan. Stuttgart 2003, S. 66. 61 Auf die ganze Bandbreite weiblicher Emotionalität, die anhand der Enitefigur entworfen wird, kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu jetzt Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2006, S. 160–174.
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Status und dem der Tafelrundenritter. Diese Verwendung des Schambegriffs lässt sich zwar mit derjenigen in der Geiselschlagepisode vergleichen, weil in beiden Stellen eine Differenz zwischen einer bestehenden Norm (sozialer Status, Tapferkeit) und deren defizienter Aktualisierung besteht,62 aber dennoch zeigt sich hier ein gravierender Unterschied: Während die Scham Erecs zum aktivitätsauslösenden Furor und ihre Ambivalenz damit angedeutet wird, rückt sie bei Enite in den Rang einer hervorstechenden weiblichen Tugend. Aber dieser eindeutig positiven Bewertung der Scham steht ein Erzählerkommentar entgegen, der sich bereits vor dem Bericht über Enites Auftritt am Artushof findet und in dem weibliche Scham in einem anderen Kontext, dem ‚Machtkampf‘ der Geschlechter, betrachtet wird. Die betreffende Passage steht im Anschluss an den Sperberkampf, als Erec und Enite das erste Mal allein zusammen sind und Enite aus Schüchternheit kaum ein Wort herausbringt. Ein solches Verhalten soll aber nicht – wie der Erzähler bemerkt – als Kennzeichen eines schüchternen Charakters missverstanden werden, denn durch ihre Schamhaftigkeit verschaffen sich die Frauen eine gute Ausgangsbasis für die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele: ir gebærde was vil bliuclîch, einer megede gelîch. si enredte im niht vil mite: wan daz ist ir aller site daz si zem êrsten schamic sint unde blûc sam diu kint. dar nâch ergrîfent si den list daz si wol wizzen waz in guot ist, und daz in liep wære daz si nû dunket swære, unde daz si næmen, swâ si sîn reht bekæmen, einen süezen kus vür einen slac und guote naht vür übeln tac. (Erec, vv. 1320–1333)
Enites Scham wird hier nicht als Mittel bewusster Irreführung denunziert, aber mit der ironisch-kritischen Bemerkung über das Wesen der Frauen (‚so sind sie alle‘) weist der Erzähler indirekt auf die Ambivalenz auch der weiblichen Schamtugend hin. Einerseits ist sie ein Zeichen für Demut und Unterwürfigkeit, andererseits ist sie eine list, die sich gezielt einsetzen lässt. Damit fällt ein schmaler Schatten auf die unreflektierte Begeisterung der Artusritter über Enites Erröten, denn dahinter verbergen
62 Vgl. oben S. 141 u. Anm. 38.
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sich Konsequenzen, die – wie man aus dem Erzählerkommentar entnehmen kann – zu einer Verkehrung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern führen können – und dies gelingt, weil eine kulturelle Codierung gezielt zur Manipulation eingesetzt werden kann. Eben diese Thematik wird im Walewein an einer zentralen Stelle, der ersten Begegnung Waleweins mit seiner späteren amie, aufgegriffen: Auf seinem Aventiureweg ist Walewein in das Land des Königs Assentijn gelangt, wo er dessen Tochter Ysabele entführen will, um für sie am Ende einer Tauschkette das fliegende Schachbrett auszulösen. Bei der schrittweisen Eroberung der die Burg des Königs umgebenen Mauerringe kommt Walewein dank eines selbstständig fechtenden Wunderschwerts zunächst gut voran und tötet weit über die Hälfte der Burgbesatzung; nachdem er jedoch im Zweikampf mit Assentijn sein Schwert verloren hat, wird er überwältigt. Als Ysabele den Gefangenen sieht, verliebt sie sich sofort in ihn und ersinnt einen Plan, um in seine Nähe zu kommen. Dabei macht sie sich den gesellschaftlichen Topos von der Schamhaftigkeit der Frauen zunutze. Zunächst nötigt sie ihrem Vater die Erlaubnis zur Folterung Waleweins mit dem Argument ab, auf diese Weise Rache für dessen Massaker an der Burgbesatzung nehmen zu wollen; dann überredet sie im Verlies die Wächter, sie mit dem Gefangenen allein zu lassen und beruft sich dazu auf die Foltererlaubnis ihres Vaters. Die implizit gestellte Frage, warum der Vater dies den Wächtern nicht mitgeteilt habe, beantwortet sie mit der Tugend weiblicher Schamhaftigkeit, die der Vater nicht beschädigen wollte: „Ic sal, bi miere rechter trouwen, tote hem nemen sulken ware dat seggic ju al hopenbare hem ware beter, ware hi doot: Sijn torment wert so groot,“ – sprac die joncfrouwe, – „ende sine pine. Dit seggic oec al stillekine minen vader, niet hopenbare. Mi ware leet quame die niemare achter hove – ic bem een wijf – dat ic enen man sijn lijf name. In wilne ooc doden niet, maer sine smerte ende sijn verdriet dat wert groot, bi miere trouwe.“ (Walewein, vv. 7432–7445) [„Ich werde bei meiner Treueverpflichtung / so gut für ihn sorgen / – das verspreche ich euch coram publico – / dass er sich wünschen wird, lieber tot zu sein: / So groß werden Folter und Schmerzen / für ihn sein“ – sprach die junge Dame. / „Dies habe ich auch im Geheimen / meinem Vater gesagt, nicht in der Öffentlichkeit. / Denn es wäre mir unangenehm, wenn sich am Hof / die Kunde
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verbreitet, dass ich einem Mann das Leben / genommen habe – denn ich bin ja / eine Frau. Ich habe auch nicht vor, ihn zu töten, / aber seine Schmerzen und sein Kummer / werden groß sein – bei meiner Verpflichtung zur Treue.“]
Ysabele muss gar nicht ihr eigenes Schamgefühl erwähnen,63 weil allein der Hinweis auf die Norm weiblicher Schamhaftigkeit und die daraus abzuleitende Geheimhaltung des Vorgangs genügt, um die Wächter zum Verlassen des Verlieses zu bewegen. Ysabele instrumentalisiert demnach die allgemeine Schamnorm, um Schamlosigkeit zu ermöglichen. Scham lässt sich damit aber nicht mehr von Schamlosigkeit unterscheiden, sie fällt mit ihr zusammen. Ysabeles Schamperformanz macht Verhaltensgrenzen indirekt sichtbar, transzendiert sie gleichzeitig und dies belegt, dass derjenige, der die Mikrophysik von Scham durchschaut, Scham zum Medium von Machtakkumulation einsetzen kann. Ähnlich wie in der Initialaventiure des Walewein dient so die Instrumentalisierung von Grenzziehungen der Legitimation individueller Interessen. Die Voraussetzung hierfür ist, dass verschiedene Diskurse in einer Situation zusammentreffen, somit eine Diskursüberlagerung entsteht und eine ,Diskurshierarchie‘, an der sich die Handelnden orientieren könnten, fehlt. Ysabele operiert deswegen gegenüber den Wächtern erfolgreich, weil keine starre Grenze zwischen Scham und Schamlosigkeit existiert. Scham wird demnach auch bei den weiblichen Figuren als Kommunikationsmedium verwendet, das von jedem mit eigenen Vorstellungen besetzt wird und sich für die bewusste Erzeugung von Projektionen vorzüglich eignet.
6. Ergebnisse In den beiden behandelten Werken interessiert die Autoren nicht die ontologische Position der Scham zwischen Affekt und Tugend, sondern ihre Wirkung als Medium der Kommunikation. Die Schamemotion übernimmt dabei den Status einer Letztbegründung, mit der alle anderen Normen der höfischen Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden. Gleichwohl ist Scham kein uneingeschränkt positiver Wert, durch die Diskursivierung des Begriffs in den Texten werden auch dessen Schattenseiten deutlich, die insbesondere darin bestehen, dass ein derartig ‚individualistischer‘ Antrieb zur Rücksichtslosigkeit und Durchsetzung partieller Interessen gegen das Kollektiv führt. Gemeinsam ist beiden Werken aber 63 Am Beispiel der Ysabelefigur lässt sich ersehen, wie wenig der Text auf psychologische Stimmigkeit achtet und die Schamemotion situationsgebunden eingesetzt wird. So hindert wenig später Ysabele ihre scamelhede (v. 7861) daran, Walewein zu küssen.
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auch die Aufwertung der Schamemotion als Handlungsmotiv, die einem stoischen Adelsideal, wie es noch bei Chrétien vorherrscht, zu widersprechen scheint. Als individuell bestimmbarer, flexibler Wert erlaubt es Scham dem Einzelnen selber die Grenze zur Schamverletzung festzulegen. Diese Grenze existiert also nicht per se, sondern ist fließend und beruht auf einer Setzung; sie hat insofern Prozesscharakter, als sie auf performative Akte, mit der sie erst konstituiert wird, angewiesen ist. Die Grenzziehung erfolgt immer ad hoc und muss ständig gegenüber der Umwelt aktualisiert werden. Dies bedeutet freilich, dass Scham eine ‚unzuverlässige‘ Emotion ist, die nicht vorherberechnet werden kann. Schamemotionen werden in den Texten gezielt eingesetzt, insbesondere wenn sich der Protagonist sehr unterschiedlichen und sich widerstreitenden Normen gegenübersieht, die sich zu einem ‚gordischen Knoten‘ verschlungen haben, den die Emotion ‚durchschlägt‘. Scham liefert zudem die Lizenz für Regelverstöße gegen die höfische Sitte oder christliche Gebote, und ist somit eine notwendige Voraussetzung für adliges Ehrbewusstsein, das tendenziell immer zur Gewalt führt. Scham funktioniert also gleichzeitig in ihrer Unberechenbarkeit und Unverfügbarkeit als Legitimation dafür, dass bei der Verteidigung oder Akkumulation von Ansehen gegen geltende Regeln oder das Recht verstoßen werden darf. Schließlich ermöglicht es der Hinweis auf seine Scham dem Protagonisten, sich auf legitime Weise für eine gewisse Zeit von der höfischen Gesellschaft zu trennen.64 Damit kann er sich im innerhöfischen Konkurrenzkampf Vorteile verschaffen und daher liegt es nahe – wie das Beispiel Ysabeles zeigt – den Anschein von Scham als Mittel der Manipulation einzusetzen. Dies ist jedoch unvermeidlich in einer hochgradig rituell organisierten Kommunikation, in der jede öffentliche Diskussion prekär ist und durch die Verlagerung der Kommunikation auf die emotionale Ebene – sei es verbal oder nonverbal – der Grad der Betroffenheit kommuniziert wird.65
64 Dazu bedarf es keiner gezielten „Verstoßung“ des Protagonisten durch die höfische Gesellschaft wie Müller (Katastrophen, S. 326) meint. 65 Althoff: Empörung, S. 280.
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Scham und Zweifel. Die Konstitution von Heimlichkeit und die Dissimulation des Begehrens in Gottfrieds Tristan Das zentrale Ereignis in Gottfrieds Tristan vollzieht sich auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall. Tristan und Isolde, der Inbegriff des Liebespaars in der mittelalterlichen Epik, sind sich an diesem Punkt der Erzählung nicht sonderlich zugetan. Isolde hat Tristan als Mörder ihres Oheims1 identifiziert und ihm bedeutet, dass sie ihn verabscheut („ich bin iu gehaz“, 11579), Tristan wiederum, der die widerstrebende Isolde für seinen Oheim und Protektor Marke als Braut gewonnen hat, betrachtet Isolde in erster Linie als eine politische Investition, die Markes sowie seine eigene Ehre steigert. Die Veränderung ihres Verhältnisses erfolgt schlagartig und ist zugleich von irritierender Zufälligkeit. Aufgrund einer Verwechslung trinken Isolde und Tristan gemeinsam den von Isoldes zauberkundiger Mutter zubereiteten Minnetrank, den sie für Wein halten. Dieser Trank, gewissermaßen die pharmakologische Verlängerung eines magischen Sprechakts, evoziert die Minne, die Tristan und Isolde zusammenzwingt: Sie bringt Tristan und Isolde in ihre Gewalt (sie „zoch si beide in ir gewalt“, 11719):
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Bei Isolde wie bei Tristan ist die traditionelle Sonderstellung des Mutterbruders im Verwandtschaftssystem zu berücksichtigen. Ich zitiere Text und Übersetzung nach folgender Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Hg. von Karl Marold. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder. Bd. 2: Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung in das Werk von Tomas Tomasek. Berlin, New York 2004. Ergänzend wird zu Rate gezogen: Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1 u. 2: Text, Bd. 3: Kommentar. Stuttgart 2008.
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diu süenaerinne Minne diu het ir beider sinne von hazze also gereinet, mit liebe alsô vereinet daz ietweder dem andern was durchluter alse ein spiegelglas sie heten beide ein herze. (11725–11731) [„Die Liebe hatte Versöhnung gestiftet, sie hatte beider Sinn so von Hass gereinigt und in Zärtlichkeit vereint, dass jedes dem anderen wie ein vollkommen klarer Spiegel war. Sie hatten nur mehr ein gemeinsames Herz.“]
Wie immer man auch die in der Forschung überaus umstrittene Minnetrankepisode beurteilt,2 offensichtlich ist, dass der Text hier den Triumph der Minne demonstriert, insofern sie die Feindschaft der Akteure in Liebe zu verkehren vermag. Dies zeigt sich in einer eigentümlichen Paradoxie: Gesetzt ist die Minne zwischen Tristan und Isolde von vornherein als ‚Herzenseinheit‘ und ‚Durchsichtigkeit‘, doch ist diese noch keineswegs kommunikative Praxis, im Gegenteil: si wâren beide einbaere an liebe und an leide und hâlen sich doch beide, und tete daz zwîvel unde scham. si schamte sich, er tete alsam. si zwîvelte an im, er an ir swie blint ir beider herzen gir an einem willen waere in was doch beide swaere der urhap unde der begin daz hal ir willen under in. (11730–11740) [„Sie waren eins in ihrem Wohl und Wehe, aber sie offenbarten sich nicht, das machten Zweifel und Scham: Sie schämte sich und er auch, sie zweifelte an ihm und er an ihr. So blind entschlossen das Verlangen ihres Herzens in seinem einen Willen war, so machte es ihnen doch zuerst und am Anfang Kummer, darum verbargen sie es voreinander.“]
Die Einheit in Liebe und Leid zeigt sich also zunächst nur darin, dass die Figuren gleichermaßen von Scham und Zweifel befallen sind. Beide Be-
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Zu dieser Diskussion vgl. u. a. Huber, Christoph: Gottfried von Straßburg: Tristan. Berlin 2001, S. 83ff. ; Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007, S. 194ff.; sowie Young, Christopher: „Der Minnetrank als Literarisierungsprozess bei Gottfried von Straßburg“. In: Der ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000. Hg. v. Huber, Christoph u. Victor Millet. Tübingen 2002, S. 257–279.
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griffen bezeichnen aber Negationen der Einheit: Im Gegensatz zur postulierten Durchsichtigkeit verbergen die Liebenden ihr Begehren schamhaft voreinander, im Gegensatz zur Herzenseinheit zweifeln sie aneinander. Der Zusammenhang von Scham und Begehren ist durchaus topisch, insofern die Scham gegen das Begehren soziale Normen zur Geltung bringt, auch wenn konkret zu untersuchen wäre, wer hier warum Scham empfindet. Signifikant ist der Zusammenhang mit dem Zweifel, der wohl als Misstrauen aufgrund des politisch definierten Verhältnisses der Akteure zu begreifen ist. Diese Konjunktion von Scham und Zweifel macht die Artikulation des Begehrens und damit die Liebeskommunikation insgesamt unwahrscheinlich und erlegt den Liebenden stattdessen ein schmerzhaftes Schweigen („swaere“) auf. Das Verschweigen ist aber zugleich der „urhap unde ... begin“, das heißt, mit dieser Diskrepanz zwischen idealer Diaphanie und faktischer Dissimulation markiert der Text auch Anfang und Ende eines Prozesses, in dem sich diese Herzenseinheit herstellt. Von dieser Warte aus erscheinen Scham und Zweifel nicht nur als Negationen, sondern als Momente eines Annäherungsprozesses. Angesichts der starken Korrelation von Scham und Zweifel, die der Text hier entwirft, stellt sich die Frage, welche Funktion ihr im Gesamttext zugewiesen wird. Meine Ausführungen setzen an bei der Beobachtung, dass die unterschiedlichen Initiierungen der Minne in Gottfrieds Tristan über eine je spezifische Verbindung von Scham und Zweifel inszeniert werden. Beide Begriffe nehmen in der „Minneanthropologie“ des Textes eine Schlüsselrolle ein.3 Meine These ist, dass Scham und Zweifel dabei nicht nur als Hemmungen der Minne, sondern auch als deren notwendige Bedingungen zu begreifen sind: Ohne Scham und Zweifel keine Liebe, zumindest nicht im Tristan. Versucht man das Verhältnis beider Parameter zunächst systematisch zu bestimmen, so zeigt sich, dass Scham und Zweifel eine gewisse Affi nität aufweisen: Sie erscheinen gleichermaßen durch eine Widersprüchlichkeit bzw. Verunsicherung gekennzeichnet, die allerdings auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist. Scham ist eine Emotion, sozusagen ein Gegen-Gefühl, das sich aus der Wahrnehmung einer ‚Grenzverletzung‘ speist: 4 Der Begriff der Grenzverletzung kann sich dabei ebenso auf ein Fehlverhalten beziehen, das mit sozialen Normen nicht Einklang zu bringen ist, wie auch auf eine Verletzung der Intimsphäre.5 Im Zweifel hat der Widerspruch dagegen eine propositionale Struktur, die sich im Gegensatz 3 4 5
Huber, Gottfried, S. 50. Vgl. dazu auch die Einleitung in diesen Band. Zur Phänomenologie der Scham vgl. etwa Baer, Udo u. Gabriele Frick-Baer. Vom Schämen und Beschämtwerden. Weinheim 2008. Zur Systematik Heesch, Matthias: „Scham“.
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zweier konträrer bzw. kontradiktorischer Urteile manifestiert.6 Dabei lässt sich ein intellektueller bzw. theoretischer Zweifel, der sich auf kognitive Plausibilität bezieht, von einem praktischen bzw. moralischen Zweifel, der den Wert einer Handlung betrifft, unterscheiden.7 Im Blick auf die Vollzugsform ist eine Gegenläufigkeit von Scham und Zweifel erkennbar: Konstitutiv für die Scham ist der Modus des Verbergens; entsprechend kann die Scham als Dissimulation einer Grenzverletzung bestimmt werden kann, die jedoch paradoxerweise sichtbar macht, was sie verbergen soll.8 Die dem Zweifel inhärente Frage hingegen zielt auf das ‚Entbergen‘; der Zwiespalt wird als Problem exponiert. Der Zweifel ist daher nicht statisch, sondern impliziert eine Dynamik, sei es, dass sich die Bifurkation ins Unendliche fortsetzt,9 sei es in der Oszillation zwischen unzureichenden Gründen.10 Diese skizzenhaften Ausführungen beanspruchen nicht, die systematische und historische Komplexität der Begriffe Scham und Zweifel auch nur annähernd zu beschreiben. Sie eröffnen aber eine erste Perspektive auf das Verhältnis von Scham und Zweifel. Im Blick auf den Gegenstand sind ohnehin Differenzierungen geboten. So bezieht sich das mittelhochdeutsche „zwîvel“ weniger auf die kognitive Tätigkeit (dubitatio), sondern markiert zumeist den moralischen Zweifel;11 paradigmatisch steht dafür der „gemischte Held“ in Wolframs ‚Parzival‘.12 In sozialer Hinsicht bezeichnet Zweifel eine Beziehungsstörung, die gerade im ‚Tristan‘ deutlich wird: „zwîvel unde arcwân“ treiben König Marke um, der sich berech-
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12
In: Theologische Realenzyklopädie 30, Berlin, New York 1999, S. 65–72, sowie Flam, Helena: Soziologie der Emotionen – Eine Einführung. Konstanz 2007, S. 21ff. Mojsisch, Burkhard: „Zweifel“. In: Lexikon des Mittelalters 9, Stuttgart 2000, Sp. 718– 719. Mittelstraß, Jürgen: „Zweifel“. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 4. Mannheim, Stuttgart 1996, S. 868–869. Beiner, Melanie: „Zweifel I.“ In: Theologische Realenzyklopädie 36, Berlin, New York 2004, S. 767–772, hier S. 767. Vgl. die Einleitung in diesem Band. Die Dynamik des Zweifels stellt heraus Flusser, Vilem: Vom Zweifel. Berlin 2006, S. 8. Vgl. dazu auch Guldin, Rainer, Anke Finger u. Gustavo Bernado: Vilem Flusser. Stuttgart 2009, S. 30. Dazu Vogl, Joseph: Über das Zaudern. Zürich-Berlin 2008. Das Urbild des unentschiedenen Zweifels, Buridans Esel, der zwischen zwei gleich großen Heuhaufen verhungert, hebt die Prozessdimension gerade hervor. Der ‚Lexer‘ verzeichnet zum Lemma ‚zwîvel‘: „zweifel als ungewissheit, besorglichkeit, misstrauen, unsicherheit, hin- und herschwanken, unbeständigkeit, wankelmut, untreue, verzweiflung“. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. (1986) http://urts55. uni-trier.de:8080/Projekte/MWV/wbb (Stand 3.3.2011). Dazu Brackert, Helmut: „‚Zwîvel‘: zur Übersetzung und Interpretation der Eingangsverse von Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘.“ In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson. Hg. v. Mark Chinca, Joachim Heinzle u. Christopher Young. Tübingen 2000, S. 335–347.
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tigterweise von seiner Frau und seinem Neffen hintergangen glaubt. Im theologischen Kontext schließlich ist „zwîvel“ ein Synonym für die Todsünde der desperatio, für die Verzweiflung des Sünders an Gottes Gnade. Eine zweite Differenzierung, die ich hier vornehmen möchte, betrifft den Begriff der Scham. In der Minnetrankszene ist Scham nicht so sehr Reaktion auf eine Grenzverletzung bzw. Ehrverletzung, d. h. retrospektive Scham, sondern ist vielmehr prospektive, d. h. auf die Zukunft bezogene Scham.13 Habitualisiert erscheint diese „Furcht vor der Schande“ in der Schamhaftigkeit.14 Die Schamhaftigkeit (verecundia) gilt in der europäischen Vormoderne als eine dezidiert weibliche Tugend: „Die scham trug stettigclychen der eren spygel vor jren augen“, rühmt bspw. der Ackermann seine verstorbene Ehefrau und zitiert damit einen zentralen Topos des mittelalterlichen Frauenpreises.15 In der Spiegelmetaphorik deutet sich die spezifische Funktion der Schamhaftigkeit an: Sie kann als ein Sensorium begriffen werden, das Grenzverletzungen antizipiert und vermeidet. Insofern die weibliche Ehre traditionell an Keuschheit geknüpft ist, bedeutet Schamhaftigkeit zum einen, sich dem fremdem Begehren zu entziehen, zum andern, das eigene Begehren zu kontrollieren; in beiden Fällen werden unterschiedliche Formen der Verhüllung und Distanznahme genutzt. In der Schamgrenze fallen Selbst- und Körpergrenzen und gesellschaftliche Verhaltensforderungen zusammen, d. h. Schamgrenzen sind immer auch sozial und normativ konstituiert. Dennoch ist Schamhaftigkeit nicht einfach bloß als repressiver Effekt autoritärer Ordnungen zu begreifen, sie eröffnet vielmehr auch spezifische Optionen weiblicher Handlungs- und Selbstmächtigkeit, sich entweder hinter Grenzen zurückzuziehen16 oder aber diese verdeckt, etwa in Formen indirekter Kommunikation, zu überschreiten.17
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Diese Unterscheidung nach Aristoteles: Rhetorik II 6,1384a. (Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt von Christoph Rapp u. hg. v. Helmut Flashar. 2 Bände. Berlin 2002.) Zur Definition vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik IV 15,1128b11f. (Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Olof Gigon und hg. v. Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001.) Johannes von Tepl: Der Ackermann. Hg. v. Christian Kiening. Stuttgart 2002. Kap. XI, 16f. (S. 22): „Die Scham hielt ihr stets den Ehrenspiegel vor Augen.“ Vgl. etwa Ruhe, Doris: „Diskretion, Ehre und Alltagsmoral in pragmatischen Texten des französischen Spätmittelalters“. In: Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Hg. v. Alois Hahn, Gert Melville und Werner Röcke. Berlin 2006, S. 135–154. Diese Dialektik ist nicht zuletzt in der ‚Kopftuchdebatte‘ zuweilen aus dem Blick geraten; dazu Von Braun, Christina und Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frauen, der Islam und der Westen. Berlin 2007. Zur indirekten Kommunikation vgl. Kieserling, Andre: Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main 1999, S. 147–178.
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Insbesondere die höfische Geschlechterkommunikation, wie sie im Tristan vorgeführt wird, ist ein Feld, in dem dieser schamhafte Modus der Affektkommunikation wirksam wird.18 In den Blick genommen werden in der Folge drei Episoden, die die Eröffnung von Minneverhältnissen inszenieren. Das betrifft zunächst die Minneeröffnung zwischen Tristans Eltern, Riwalin und Blanscheflur, zweitens die vieldiskutierte Minnetrankszene und drittens die nur fragmentarisch überlieferte Annäherung zwischen Tristan und Isolde Weißhand, die den Abschluss des überlieferten Textes bildet. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, welche – unterschiedlichen – Funktionen Scham und Zweifel dabei erfüllen, welche Codierungen sie aufweisen und in welchen Konfigurationen sie auftreten. Ich versuche, diese Fragen in eingehenden Textanalysen zu beantworten.
I. Die Scham als Aspekt der Rede: Blanscheflur und Riwalin Hintergrund der ersten Begegnung zwischen Blanscheflur und Riwalin ist ein Turnier am Hof von Blanscheflurs Bruder Marke, auf dem Riwalin ritterliche Höchstleistungen vollbracht hat. Diese werden von den höfischen Damen beifällig diskutiert und lösen Blanscheflurs erotischen Affekt aus. Wan si in ouch in ir muote swaz ir dekeiniu taete ze hôhem werde haete. sie haete in ir muot genomen, er was in ir herze komen; er truoc gewalteclîche in ir herzen künicrîche den zepter und diu krône. (720–727) [„… denn auch sie schätzte ihn im Stillen sehr, noch mehr als irgendeine von ihnen. Sie hatte ihm Zutritt zu ihren Gedanken gewährt, er war in ihr Herz gekommen, er trug Zepter und Krone im Königreich ihres Herzens und regierte mit Macht.“]
Die Gewalt, der sich Blanscheflur unterworfen fühlt, führt indes nicht zur Äußerung des Begehrens. Der Text vermerkt stattdessen ausdrücklich, dass Blanscheflur ihre Affiziertheit verbirgt: „daz sî doch alsô schône und alsô tougenlîche hal, daz si ez in allen vor verstal“, (728ff.: „Aber davon 18
Vgl. Albers, Irene: „Das Erröten der Princesse de Clèves. Körper – Macht – Emotion“. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Ingrid Kasten. Berlin, New York 2010. S. 263–296, hier S. 275.
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schwieg sie fein still und verbarg es, so dass niemand es bemerkte“). Die Begegnung beider erfolgt daher mehr oder weniger zufällig.19 Riwalins höflich-distanzsprachliche und eher formelhaft-knappe Begrüßung: „â, dê vus sal, bêle!“ (741), erwidert Blanscheflur dabei mit signifikanter Ausführlichkeit: hêrre gott der rîche, der elliu herze rîche tuot der rîche iu herze unde muot und iu sî groze genîgen … (744–749) [„Der mächtige Gott, der alle Herzen reich beschenkt, möge auch Euer Herz und Euren Sinn glücklich machen.“]
Blanscheflurs Antwort stellt eine Amplifikation der Grußes dar, sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht: Blanscheflur erweitert und steigert die höfisch-höfliche Floskel zu einem ausdrücklichen Segenswunsch, der eine ‚Bereicherung‘ von Herz und Sinn des Gegenübers herbeiwünscht. Nach dieser überraschenden Zuwendung stellt sie sogleich Distanz zu ihrem Gegenüber her, indem sie eine Rechtsangelegenheit („des rehtes unverzigen“), also eine Störung ihrer sozialen Beziehung geltend macht. Das erzwingt Riwalins Nachfrage: „ach süeze, waz han ich getan?“ (750). Blanscheflur erklärt: „an einem vriunde mîn, dem besten, den ich ie gewan, da hâbet ir mich beswaeret an.“ (752ff.: „Nicht mir, sondern meinem allerbesten Freund, und damit habt Ihr mir Kummer gemacht.“) Riwalin versteht „vriunt“ wörtlich, d. h. er nimmt an, er habe jemanden, der Blanscheflur nahesteht (einen „mage“, 760), beim Turnier verletzt und grübelt darüber nach, um wen es sich handeln könnte. Doch Blanscheflurs Vorwurf ist metaphorischer Art und wird vom Erzähler selbst erläutert: Der „vriunt“ sei Blanscheflurs Herz, das Riwalins wegen „ungemach“ erlitten habe (765ff.). Riwalin will, dem höfischen Reglement entsprechend, den vermeintlichen Schaden wieder gutzumachen und unterwirft sich ihrem Urteilsspruch. Blanscheflurs Antwort ist erneut irritierend: Zum einen für den Rezipienten, denn die offenbar Verliebte erklärt Riwalin, dass sie ihn deswegen zwar nicht liebe, ihm allerdings auch nicht übermäßig böse sei (777ff.:„durch dise geschicht enhazze ich iuch zu sere niht, ine minne iuch ouch niht umbe daz“). Zum andern für Riwalin, denn sie schiebt ihr Urteil auf: Sie wolle ihn noch prüfen, ob und inwiefern er ihr Genugtuung („buoze“, 781) leisten könne. Das
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Die Begegnung erfolgt von „aventiure“ (735), ist damit also ebenso zufällig wie vorherbestimmt.
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Verfahren wird also in der Schwebe gehalten. Riwalin will sich daraufhin mit einer höfischen Verneigung verabschieden: und sî, diu schoene, ersûfte in an vil tougenlîchen unde sprach: ûz inneclîchen herzen: „ach, friunt lieber, got gesegene dich!“ (784–787) [„Da seufzte sie, die Schöne, ganz verstohlen und sprach aus tiefstem Herzen: ‚Ach, Freund, lieber Freund, Gott segne dich.‘“]
Diese höchst ambivalente und komplexe Dialogsequenz hat in der Tristanforschung vergleichsweise geringe Beachtung gefunden. In der Regel hat man Blanscheflurs Rede als halb verhülltes „Geständnis“ bzw. als „Andeutung“ betrachtet, deren Funktionsweise zumeist nicht weiter erhellt.20 Analytisch lassen sich zwei konträre Positionen ausmachen: Alexander Schwarz meint, dass Blanscheflur in der unvermuteten Begegnung mit dem Geliebten ihrer „kommunikativen Kompetenz“ beraubt sei und sich nur in „wirren Worten“ äußern könne.21 Jan-Dirk Müller hingegen hat diese Interaktion als eine „Dissimulation“ aufgefasst.22 Mit diesem Begriff nimmt Müller Bezug auf die rhetorische Technik, etwas anderes zu sagen als man meint, und begreift Blanscheflurs Rede folglich als strategische Kommunikation, analog zu anderen Formen listiger Verstellung, wie etwa den „klebeworten“, die Tristan und Isolde miteinander wechseln.23
20 So spricht Ries immerhin von „halb enthüllenden, halb verhüllenden Geständnis“ und „dunkle Andeutungen“, in: Ries, Sybille: „Erkennen und Verkennen in Gottfrieds ‚Tristan‘ mit besonderer Berücksichtigung der Isold-Weißhand-Episode“. Zeitschrift für deutsches Altertum 109 (1980), S. 316–337, hier S. 323. Ähnlich Tomasek, Gottfried, S. 76: Blanscheflurs „Andeutung ihrer Minne“; sowie Huber, Gottfried, S. 49: Sie lasse ihre Gefühlslage im „höfischen small talk“ durchscheinen lasse. Ebenso Schnell, Rüdiger: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ‚Tristan und Isold‘ als erkenntniskritischer Roman. Tübingen 1992., S. 198: Blanscheflur gebe in einer metaphorischen Rede zu verstehen, dass sie in ihn verliebt sei. All diese Beschreibungen unterstellen eine gewisse Intentionalität. 21 Schwarz, Alexander: Sprechaktgeschichte. Studien zu den Liebeserklärungen in mittelalterlichen und modernen Tristandichtungen. Göppingen 1984, S. 92f. 22 Müller, Jan Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zum höfischen Roman. Tübingen 2007, S. 307. 23 Cicero, De oratore II, 269: Urbana etiam dissimulatio est, cum alia dicuntur ac sentias. (Marcus Tullius Cicero: De oratore – Über den Redner. Hg. und übersetzt v. Theodor Nüsslein. Düsseldorf, Zürich 2007.) Vgl. dazu auch Quintilian, Institutio oratoria IX, 2, 44–46. (Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt v. Helmut Rahn. 2 Bände. Darmstadt 1995.) Die rhetorische dissimulatio wird zwar häufig auf die Ironie eingeschränkt, doch der Kontext zeigt, dass sowohl bei Cicero als auch bei Quintilian dieser Begriff einen weiteren Umfang hat. Als Verstellung erscheint sie bei Lausberg, Heinrich: Handbuch der Literarischen Rhetorik. Stuttgart 2008, S. 446: „Der privative Stärkegrad heißt dissimulatio, ‚Verheimlichung der eigenen Mei-
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Gegen die Müllers These spricht, dass sie Blanscheflur ein Kalkül unterstellt, das mit der Inszenierung ihrer erotischen Naivität schwer vereinbar ist. Diese Naivität wird in ihrem Selbstgespräch deutlich, die sich der Unterredung mit Riwalin anschließt. Blanscheflur wiederholt dort zunächst noch einmal ihre Vorwürfe gegen Riwalin, beschuldigt ihn sogar der Zauberei („zouberlist“, 1001), die ihre Not verursacht habe, bevor sie zur Erkenntnis gelangt, dass sie in ihn verliebt ist: und semmir got, ich waene wol, ob ich’s mit êren waenen sol und sol ich mich der rede niht schamen durch mînen magetlîchen namen, sô dunket mich, diu herzeclage, die ich durch in ze herzen trage, diu ensî niwan von minnen. (1057ff.) [„Bei Gott, ich glaube wirklich – wenn ich’s in Ehren glauben dürfte und mich nicht vielmehr schämen müsste, als Jungfrau so etwas zu sagen –, mir scheint, das schlimme Herzweh, das ich von ihm habe, das kommt von nichts anderem als von Liebe.“]
Dem entspricht auch die Codierung ihres Affekts eingangs des Gesprächs: Dort wird der Topos der Minneherrschaft zitiert, der aber insofern variiert erscheint, als eben nicht die Minne, sondern das begehrte Gegenüber Riwalin die Gewalt ausübt („er truoc gewalteclîche in ir herzen künicrîche den zepter und diu krône“, 725f.); Gewalt im bekannten mittelalterlichen Doppelsinn von Herrschaft und Aggression.24 Genau aus diesem Blickwinkel ist der Vorwurf Blanscheflurs an Riwalin formuliert. Das mag nun für eine gewisse Konfusion sprechen, doch diese Selbstverkennung führt aber gerade nicht zu dem Verlust kommunikativer Kompetenz, den Schwarz unterstellt: Blanscheflurs Rede erscheint zumindest auf der Darstellungsebene als eine höchst kunstvolle, obskur-metaphorische Rede,25
nung‘, der positive simulatio ‚positive Vortäuschung einer eigenen, mit einer Meinung der Gegenpartei übereinstimmenden Meinung‘.“ Generell dazu Dotzler, Bernhard: „Simulation“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart – Weimar 2003, S. 509–534; des Weiteren Müller, Wolfgang G.: „Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini.“ In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 189–208. 24 Vgl. Keller, Hildegard: „Diu gewaltaerinne Minne. Von einer weiblichen Großmacht und der Semantik der Gewalt“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), S. 17–37, hier S. 28f. 25 Setzt man Blanscheflurs Äußerungen in Zusammenhang (wie Riwalin dies tun wird), so zeigt sich, dass sie sich am Muster der rhetorischen partes orationis orientieren, deren Funktionen allerdings eigentümlich gebrochen erscheinen: Die salutatio wird in einen
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die eine komplexe semantische Substitution von Herz und Freund vornimmt und sich im Folgenden als ausgesprochen wirkungsvoll erweist.26 Es zeigt sich, dass Blanscheflurs Rede durch eine doppelte Intransparenz konstituiert ist: Blanscheflur verkennt einerseits ihren affektiven Zustand und verhüllt andererseits aber den Umstand ihrer affektiven Betroffenheit vor Riwalin. Diese spezifische Dissimulation bestimmt die Szene von Anfang an, sie korreliert der Sphäre der Heimlichkeit, in der sich der Affekt entfaltet. Schon Blanscheflurs Wertschätzung für Riwalin wird ja durch den Erzähler vom Diskurs der höfischen Damen abgehoben („swaz ir dekeiniu taete“) und in den psychischen Binnenraum („muot“) verlegt.27 Dass sie in der Folge ihren Affekt verbirgt, ist „schône“ (728), entspricht also den höfischen Geschlechternormen, die eine direkte Artikulation weiblichen Begehrens disqualifizieren. Eine solche Dissimulation des Begehrens ist jedoch nicht einfach strategische Verstellung, sondern vielmehr schamhaftes Verbergen. Dementsprechend wird ihre Redehaltung als „vil schemelîche“ charakterisiert (743). Üblicherweise wird „schemelîche“ mit ‚schüchtern‘ übersetzt,28 Scham also als eine kommunikative Barriere begriffen. Die Besonderheit besteht bei Blanscheflur allerdings darin, dass die normative Grenze anscheinend mit einer Grenze des Wissens zusammenfällt.29 Es ist die mit ihrem Status als adlige Jungfrau, die von Minne noch nichts weiß, verbundene Schamhaftigkeit, die Blanscheflur zunächst hindert, ihren leidvollen Zustand auch auf den Begriff Minne zu bringen. Gerade diese eigentümliche, schambedingte Selbstverkennung ermöglicht aber eine spezifische „(Dis-)Artikulation“ des Begehrens in einem rechtlichen Code.30 Deren zweite Möglichkeitsbedingung
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Segenswunsch transformiert; die Instanzen der mehrdeutigen narratio sind nicht klar markiert; gefolgt von einer eine ausweichende und prolongierende argumentatio und sie mündet in schließlich in eine Fürbitte und Segen als peroratio, die in ihrem vertraulichen Gestus das Redeanliegen paradoxiert. Komplex insofern, als Blanscheflur damit die geläufige Metaphorik bzw. Metonymie, in der das Herz für den Freund steht (wie sie bspw. im ‚Herzmaere‘ Konrads von Würzburg zu beobachten ist) invertiert. Damit ist zugleich eine semantische Offenheit gewährleistet, dank derer „vriunt“ auch auf Riwalin bezogen werden kann. Vgl. Wenzel, Horst: „Gottfried von Straßburg“. In: Von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit: Höfische und andere Literatur 750–1320. Hg. v. Ursula Liebertz-Grün. Hamburg 1988, S. 250–263, der S. 251 die Heimlichkeit hervorhebt. So in den Übersetzungen von Krohn und Knecht. Vgl. 973ff.: „und alles des, des si geleit, von senelicher arbeit, sone wiste sî niht, waz ir war, wan si wart nie da vor gewar, was sus getaniu swaere und herzesorge waere ...“ – Und all die Schmerzen, die sie von Sehnsucht erdulden musste, waren ihr ganz rätselhaft, denn sie hatte nie zuvor Leiden dieser Art und solches Herzweh erfahren. Dieser Begriff, der Reden und Schweigen zusammenführt, nach Michaelis, Beatrice: „Recht verschwiegen: Das ‚Tabu‘ der Sodomie in der Sprache des mittelalterlichen Rechts“. In: Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung
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ist die mit der metaphorischen Substitution erzeugte Externalisierung, wodurch sich Blanscheflur selbst eine neutrale Sprecherposition zuweist. Der Rechtsdiskurs wird wiederum konterkariert durch metakommunikative (verbale wie nonverbale) Gesten: den Segenswunsch zu Anfang und den geseufzten Segen am Schluss mit dem adressierenden Blickkontakt. Der Ausdruck ‚Freund‘ wird so zum Platzhalter für ihr Herz ebenso wie für Riwalin.31 Der Ausdruck „schemelîch“ bezieht sich daher nicht einfach auf eine Artikulationshemmung, sondern auf eine dissimulative Artikulationsform des Begehrens. Scham kennzeichnet nicht nur die Grenze, sondern auch den Modus ihrer Überschreitung. Blanscheflur verschleiert ihr problematisches Begehren nicht nur vor einer (übrigens in dieser Szene nicht markierten) höfischen Öffentlichkeit, sondern auch vor dem Adressaten, ja sogar vor sich selbst. Diese doppelbödige Kommunikation entspricht der paradoxen Verfasstheit der Scham: Was auf der verbalen Ebene verborgen werden soll, zeigt sich auf der Ebene der Wahrnehmung. Diese Paradoxie ist für ihre Rede konstitutiv; der Abschluss des Gesprächs offenbart darum auch nicht einfach ihre wahre Intention,32 sondern annonciert vielmehr einen heimlichen Sinn, den es zu ermitteln gilt. Blanscheflurs Dissimulation fungiert kommunikativ als paradoxe Intervention: Sie erzeugt bei ihrem Gegenüber eine kognitive Dissonanz, die einen intensiven gedanklichen Prozess auslöst:33 Riwalin „trahte maneger slahte, waz Blanschefliure swaere und dirre maere waere“ (792ff.: „Er drehte und wendete die Frage hin und her, was Blanscheflur bekümmern mochte und was es damit auf sich hatte.“). Die Inkongruenz zwischen verbalen und körperlichen Zeichen erhält besonderes Gewicht: „ir gruoz ir rede betraht er gâr, ir sûft, ir segen, al ir gebar, daz marcte er al besunder“, (795ff.: „Ihr Adieu, ihre Rede insgesamt betrachtete er genau, ihr Seufzen, den Segenswunsch, ihr ganzes Verhalten in allen Einzelheiten machte er sich deutlich.“). Riwalin macht dabei die Entdeckung der Widersprüchlichkeit dieser Zeichen, d. h. ihrer Potentialität: Seufzer und Segen sind ohne weiteres als Äußerungen der Liebe interpretierbar: „er
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von Geschlecht. Hg. v. Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John und Beatrice Michaelis. Bielefeld 2008, S. 141–154, hier S. 143f. Michaelis analysiert mit dem Begriff der (Dis-)Artikulation die „tabuähnliche Verbotsstruktur“ in mittelalterlichen Diskursen zur ‚unaussprechlichen‘ Sünde der Sodomie. Michaelis hebt (in Anschluss an Foucault) die produktive Dimension solcher Vermeidungstechniken und Sprachverbote hervor; ein wesentlicher Effekt des Verschweigens besteht demnach darin, zum Sprechen anzureizen. Das mag auf die Herzenseinheit Tristans und Isoldes vorausdeuten: „sie heten beide ein herze“ (11731). Vgl. Müller, Kompromisse, S. 307. Vgl. Ries, Erkennen, S. 317.
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kam binamen an den wân, diu zwei diu waeren getân durch niht niwan durch minne“, (802f.: „Und als er so das Seufzen und den Segen in seinem Sinn bewegte, brachte er sie mehr und mehr auf den Weg zur Liebe hin und endlich auch auf den Begriff: Die zwei Dinge hatten keinen anderen Grund als Liebe.“). Diese Deutung entzündet umstandslos auch bei ihm den erotischen Affekt, den der Text als wechselseitige Inthronisierung und Inbesitznahme der Liebenden codiert.34 Dieses irritierend passive und plötzliche ‚Gehabtsein‘ der Liebenden durch die Liebe, das ja auch die Minnetrankszene prägt, lässt sich als ‚thematische Überfremdung‘ begreifen, die charakteristisch für vormodernes Erzählen ist.35 Die Besonderheit besteht hier darin, dass der Text die Diskrepanz von idealer Setzung und prozessualer Realisierung exponiert: Der Erzähler konstatiert eine nur abstrakte Einheit „mit gedanken“, da die beiden Liebenden einander noch nicht als Liebende erkennen („doch wiste doch dewerderz niht umbe des anderen geschiht“, 817f.). Es fehlt mit anderen Worten die Reflexivität.36 Rüdiger Schnell hat die Entstehung der Liebe zwischen den Eltern als „Erkenntnisprozess“ bezeichnet, der Riwalin vom „wân“ über „zwîvel“ und „trôst“ zur Gewissheit führe.37 Anzumerken ist, dass dieser Prozess nicht linear, sondern kreisförmig verläuft, als eine selbstverstärkende ‚positive Rückkopplung‘, insofern hier die Momente des Begehrens und des Wissens in einem Wechselverhältnis stehen.38 Blanscheflurs paradoxe Kommunikation lässt Riwalin im Ungewissen, „in welher wîs siz taete, durch haz oder aber durch minne“ (828f.: „wie sie es mit ihm meinte, ob es ihr Hass war oder ihre Liebe …“). Diesen Zustand bezeichnet der Text als „zwîvel“ bzw. „zwîvele wanken“ (833): Riwalins Zweifel aber
34 811ff.: „jâ Blanscheflûr und Riwalîn, der künec, die süeze künigîn, die teilten wol gelîche der herzen künecrîche.“ Zu berücksichtigen ist auch der „visuelle Eindruck“, den Blanscheflur, „diu saelege ougenweide“ (639), bei Riwalin hinterlässt. So Largier, Niklaus: Liebe als Medium der Transgression. Überlegungen zu Affektgemeinschaft und Habitusformung in Gottfrieds ‚Tristan‘ (mit einer Anm. zur ‚Hohelied‘-Mystik). In: Norm und Krise von Kommunikation, , S. 209–224, hier S. 216f. Meines Erachtens jedoch wird sein Affekt weniger durch den Anblick als vielmehr im Zweifel initiiert. 35 Dazu Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt am Main 1994, S. 34f. am Beispiel Boccaccios. Vgl. dazu auch Haferland, Harald; Schulz, Armin: „Metonymisches Erzählen“. In: Deutsche Vierteljahresschrift 84 (2010) H.1, S. 3–43, hier S. 12f., die Lugowski wie folgt referieren: „So scheint es dem am modernen Roman geschulten Leser etwa, als würden die Figuren des Decameron nicht lieben, sondern als würden sie – an denen doch thematisch die Macht der Liebe demonstriert werden soll – von der Liebe ‚gehabt‘ werden.“ 36 Dazu u. a. Kieserling, Kommunikation, S. 117ff. 37 Schnell, Rüdiger: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ‚Tristan und Isold‘ als erkenntniskritischer Roman. Tübingen 1992, S. 199. 38 Vgl. Watzlawick, Paul, Janeth H. Beavin und Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern 1969, S. 29ff. und 47f.
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ist ebenso wie Blanscheflurs Scham nicht nur eine Hemmung, sondern ihm kommt auch eine produktive Funktion zu, die ihren sinnfälligen Ausdruck im Leimrutengleichnis findet: Wie der Vogel auf der Leimrute verstrickt sich der Liebende desto tiefer in die Liebe, je heftiger er sich zur Wehr setzt.39 Insofern sich Riwalins Zweifel aus einer Art double bind ergibt (Blanscheflur sagt das eine und bedeutet ihm das andere), kann er logisch-semantisch nicht aufgelöst werden,40 er führt vielmehr zu einer endlosen Oszillation („er wancte mit gedanken wilent abe unde wilent an“, 832f.: „auf und nieder schaukelte sein Sinn“; „trôst und zwîvel fuorten in unendeclîchen under in“, 881f.: „Zwischen Hoffnung und Zweifel wurde er hin und her gerissen ohne Ende.“). Largier hat diesen Befund zeichentheoretisch formuliert: „Es handelt sich um den semiotischen Abgrund, der sich öffnet, wo das verliebte und sehnsüchtige Herz die Zeichen zu entziffern sucht, die das Liebesobjekt in der sozial erzwungenen Heimlichkeit vermeintlich aussendet.“41 Genau damit aber fungiert der Zweifel als Operator der Minne, genauer der Passionsliebe, deren Medium die „maßlose gedanklichen Beschäftigung“ mit dem Liebesobjekt ist (cogitatio immoderata): 42 Riwalins „zwîvel“ erweist sich selbst als „senede trahte“ (859: „sehnsüchtige Gedanken“). Der Zweifel wird doppeldeutig, der kognitive Zweifel als Reflexion der Deutungsalternativen wird zum emotionalen Zweifel an Blanscheflur, den der Text als eine quasiräumliche Bewegung von Annäherung und Distanzierung beschreibt. Damit aber erscheint der „zwîvel“ selbst als Alternative zum „trôst“, also zur Zuversicht, dass Blanscheflur ihn ebenfalls liebe: „trôst seite im minne, zwîvel haz“ (883: „die Hoffnung redete von Liebe, der Zweifel von Hass“). Im inneren Konflikt (884: „kriec“) ist die Zuversicht mit Macht der Minne verknüpft, weshalb sie gegen den misstrauischen Zweifel das Übergewicht gewinnt.43 Diese Gewissheit verbindet sich mit der imaginativen Vergegenwärtigung der Geliebten, die eine erneute Steigerung des Begehrens bewirkt („senefiuwer“, 929). Ergibt sich Riwalins Zweifel aus dem intrikaten Zusammenhang von Verkennen und Erkennen, so zeigt sich bei Blanscheflur eine ähnliche Dialektik: Ihr Selbstgespräch ist am Modell einer juristischen Argumen39 40 41 42
840ff. 891f.: „ern vant niht staetes an in zwein. sin gehullen sô noch sus inein.“ Largier, Liebe, S. 215. Andreas, De amore I, 9: … postea vero, quotiens de ipsa cogitat, totiens eius magis ardescit amore. Ebenso I, 13: Non quaelibet cogitatio sufficit ad amoris originem, sed immoderata exigitur. (Andreas: De amore libri tres. Von der Liebe. Drei Bücher. Hg. v. Fritz Knapp. Berlin, New York 2006.) Vgl. auch Largier, Liebe, S. 216. 43 908ff.: „sus treip es minne mit im an, biz doch der trôst den sige gewan und er den zwîvel gâr vertreip und Riwalin gewis beleip, sin Blanscheflur diu minnet in …“
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tation in utramque partem orientiert: Dem Vorwurf an Riwalin, für ihre Not verantwortlich zu sein, folgt im fragenden Selbstzweifel seine Apologie.44 Blanscheflur führt ihren Zustand auf sich selbst, ihren „tumbe(n) meisterlôse(n) muot“ (1043, „mein unbelehrtes, unbeherrschtes Temperament“) zurück und begreift ihr Herzweh als Folge der Minne. Scham fungiert hier, wie oben bereits deutlich gemacht wurde, als Erkenntnishemmung, die sich in der Selbstreflexion auflöst; diese Erkenntnis impliziert auch Anerkennung, dass Riwalin ihr Lebensglück („ir beste leben“, 1081) ist. Blanscheflur eröffnet mit „senelîche(n) blicke(n)“ („sehnsüchtigen Blicken“, 1087) einen intensiven Blicktausch, worin sich zum einen das Begehren beider weiter verstärkt,45 zum andern (als Wahrnehmung der Wahrnehmung) Reflexivität und damit eine „präkommunikative Sozialität“ herstellt, die die Voraussetzung für die Minnekommunikation bildet.46 Die Genese der Minne vollzieht sich somit im Zusammenspiel von Scham und Zweifel. Die Funktion der schamhaften Dissimulation besteht dabei weniger in der Übermittlung versteckter Ich-Botschaften, sondern vor allem in der Eröffnung einer Sphäre von Heimlichkeit als dem spezifischen Medium der Minne. Der Zweifel ist auf die Dissimulation bezogen, nicht nur, weil er eine geheime Botschaft dechiffrierte, sondern auch, indem das zweifelnde Subjekt in einem selbstverstärkenden Prozess in die heimliche Minnesphäre einbezogen wird. Auch in der Folge bleibt die illegitime Minneinteraktion auf Formen der Verhüllung angewiesen: Von der ersten Minnebegegnung, in der Blanscheflur als Ärztin verkleidet den im Krieg nach dem Fest schwer verwundeten Riwalin aufsucht, bis hin zur nächtlichen Flucht des Paares in Riwalins Heimat Parmenie, da eine Schwangerschaft Blanscheflurs nicht länger verheimlicht werden kann. Zwar wird die Verbindung des Paares durch eine Hochzeit dann noch einmal von der Heimlichkeit in die Helligkeit öffentlicher Anerkennung überführt,47 es ist jedoch bezeichnend, dass Riwalins getreuer Vasall Rual erst auf eine solche Legalisierung dringen muss. Zudem ist die Harmonie nur von kurzer Dauer und endet mit Riwalins Tod. In dieser Verknüp-
44 1015: „Waz wize ich aber dem guoten man?“ 45 1114ff.: „Swa liep in liebes ougen siht, daz ist der minnen fiure, ein wahsendiu stiure.“ 46 Kieserling, Kommunikation, S. 118. Nur am Rande sei erwähnt, dass der Text hier und anderer Stelle die antike Lehre der quinque lineae amoris zitiert mit den Stufen Blick (visus), Gespräch (alloquium), Berührung (tactus), Kuss (osculum) und Vereinigung (coitus). Gottfrieds Entwürfe der Minneannäherung sind aus diesem Schema jedoch kaum abzuleiten; im Gegenteil wird das Schema selbst Gegenstand der Modifi kation und Komplexitätssteigerung, indem bspw. wie hier die Abfolge von Anrede und Blicktausch verkehrt wird. 47 1612ff: „iuwer werdekeit, und iuwer pris, iuwer fröude und iuwer wunne diu stiget als diu sunne.“
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fung von Heimlichkeit und Transgression weist die Elterngeschichte voraus auf die Geschichte von Tristan und Isolde.
II. Scham und Zweifel: Tristan und Isolde nach dem Minnetrank Die Minnetrankepisode entwirft eine andere Konstellation als die Elterngeschichte: Entfaltet sich das Begehren dort in der topischen Korrelation von Vortrefflichkeit und Schönheit, ist dieser Zusammenhang bei Tristan und Isolde deutlich relativiert und von politischen Codierungen überlagert.48 Für die Minnetrankszene, die den Triumph der Minne mit einem verhängnisvollen Zufall verknüpft, sind andere Muster ausschlaggebend: Wie Volker Mertens plausibel gemacht hat, zitiert der Text die biblische „Urszene“ der Scham,49 die sowohl in ihrer Bedeutung für die Akteure als auch in ihrem Inszenierungsmodus mit der Trankszene vergleichbar ist: Der Trank verändert das Bewusstsein der Akteure fundamental, er fokussiert die geschlechtliche Differenz und erzeugt das Begehren. Analog zum Sündenfall ist auch hier die Konsequenz die Scham. Doch ist die Trankwirkung eben nicht nur erotisch, sondern auch „existentiell“:50 „in was ein tôt unde ein leben, ein triure, ein vröude samet gegeben“, (11447ff.: „Die beiden mussten eins sein im Leben und im Tod, in der Trauer und in der Freude, so war es ihnen aufgegeben.“). Diese Finalität einer emotionalen Einheit impliziert eine Transformation der Akteure und ihres vordem feindlichen Verhältnisses. Die Begriffe „zwîvel“ und „scham“ lassen sich in dreifacher Hinsicht auf diesen Transformationsprozess beziehen. Erstens lässt sich damit der Verlauf des Prozesses grob in zwei Phasen einteilen, wobei eine erste Phase innerer Konflikte (Zweifel) einer zweiten Phase schamhafter Annäherung vorausgeht. Zweitens erweisen sich beide Phasen in je spezifischer Weise durch die Momente von Scham und Zweifel konstituiert. Drittens
48 Was natürlich die Frage nach der irischen Vorgeschichte ihrer Liebe aufwirft, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Die Pointe liegt offenbar darin, dass die Trankszene die traditionellen Muster der Liebesentstehung überspielt. Vgl. Gerok-Reiter, Annette: „Umcodierung. Zum Verhältnis von minne und ere in Gottfrieds ‚Tristan‘“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), S. 365–389, hier S. 365. 49 Mertens, Volker: „Bildersaal – Minnegrotte – Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S. 40–64, hier S. 56f. 50 Mertens, Bildersaal, S. 57.
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schließlich markieren Scham und Zweifel auch geschlechterbedingte Dominanten der jeweiligen Binnenprozesse. Diese Differenz ist zunächst bestimmend: Tristans Zweifel ist insofern ‚männlich‘, als er als Konflikt zwischen objektiven Rechtsansprüchen, als Dilemma inszeniert wird: Die soziale Instanz der Ehre, die mit der doppelten Treuepflicht gegenüber seinem Oheim und Herren Marke verbunden ist, steht gegen die Minne als dem personifizierten Begehren, die als seine „Erbherrin“ („erbevogetîn“) bezeichnet wird, da sie schon das Elternpaar beherrscht hat. Darin ist auch angedeutet, dass Tristan seiner Erbherrin primär die Treue schuldet. Der Text stellt allerdings seine „staete“ („Beständigkeit“, 11759) heraus und inszeniert seinen Zustand als Minnegefangenschaft: Tristan bleibt in der Schlinge der Minne stecken („stricke“, 11757; 11788). Aber auch wenn sich darin schon ein Übergewicht der Minne andeutet, so bleibt doch der Konflikt vorläufig ungelöst. Tristans Minneverlangen wird durch Scham (als Furcht vor der Schande) reguliert. Daraus ergibt sich eine emotionale Oszillation, die als räumliche Bewegung dargestellt wird: Ehre wie Minne ziehen Tristan jeweils auf ihre Seite (11760ff.). Der Zwiespalt wird als eine Angelegenheit des Herzens beschrieben, das zwar auf Isolde ausgerichtet ist, aber ihn zugleich dazu zwingt, den Blick von ihr abzuwenden, woraus die für die Scham charakteristische Blickvermeidung resultiert. Isoldes Zweifel wird hingegen als Überwältigung inszeniert. An die Stelle der Schlinge tritt der tückische ‚Leim‘ der Minne, der im Vergleich zur Leimrute in der Elterngeschichte zu einem Sumpf ausgeweitet ist. Isolde ist nicht nur wie Tristan „gevangen“ (11756), sondern sie versinkt, je heftiger sie sich sträubt, desto tiefer in „die blinde[n] süeze des mannes unde der Minne“ (11812f.: in die dunkle Süße des Mannes und der Minne). Dieser Konjunktion von Mann und Minne korrespondiert auf der anderen Seite die Verbindung von Scham und „maget“. An die Stelle eines binär strukturierten Konflikts zwischen Norm und Begehren tritt bei Isolde eine quaternäre, gendercodierte Konstellation. „Scham“ und „maget“ einerseits und „minne“ und „man“ andererseits bilden in einer Psychomachie en miniature jeweils feindliche Kampfformationen: diu scham diu jagete ir ougen hin, diu minne zôch ir herze dar diu widerwertige schar maget unde man, minne unde scham, diu was an ir sêre irresam. (11827–11830) [„Die Scham scheuchte ihre Augen weg, die Liebe zog ihr Herz hin. Die ganze wirr zerstrittene Bande, die Jungfrau und der Mann, die Liebe und die Scham, machte sie ganz konfus.“]
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Traditionell ist die Psychomachie die Darstellungsform des Konflikts von Tugend und Laster bzw. Begehren, hier wird allerdings die Werthierarchie uneindeutig durch die Verbindung mit den Geschlechtern. Anders als bei Tristan manifestiert sich Isoldes Konflikt nicht im zaudernden Schwanken, sondern in einer Konfusion („diu was an ir sêre irresam“): diu maget diu wolte den man und warf ir ougen der van, diu schame diu wolte minnen und brâhte es nieman innen. (11831–11834) [„Die Jungfrau wollte den Mann und wandte ihre Augen ab. Die Scham wollte minnen und verbarg es vor allen.“]
Die Paradoxie, dass ‚die Scham nach Liebe verlangt‘, resultiert aus der Engführung von Schamhaftigkeit und „maget“. „Diu schame“ steht metonymisch für Isolde selbst, die begehrt und als Schamhafte ihr Begehren verbirgt. In diesem Oxymoron, das vom Begehren der Scham spricht, ist Scham jedoch nicht länger bloße Negation, sondern erscheint als komplexer, dissimulativer Modus des Begehrens, als Moment einer dynamischen Konstellation, in der sich die Gegensätze durchdringen. waz truoc daz vür? scham unde maget, als al diu werlt gemeine saget, diu sint ein alsô haele dinc, sô kurze wernde ein ursprinc: sine habent sich niht lange wider. (11835–11839) [„Scham und Jungfernschaft sind, wie alle Welt weiß, ein rätselhaftes Ding: mehr eine Ursache als eine Sache, ein Anfang von etwas und folglich nicht von Dauer; sie halten sich nicht lange.“]
Das Diktum des Erzählers, Scham und Jungfräulichkeit seien „haele dinc“, ist nicht leicht zu übersetzen. Das Homonym „haele“ steht einerseits analog zu Verhehlen und bedeutet ‚verborgen‘, ‚rätselhaft‘, andererseits ‚vergänglich‘ bzw. ‚flüchtig‘.51 Im Kontext sind beide Bedeutungen möglich, mit „haele“ kann also sowohl ein Bezug zum transitorischen Charakter der Jungfernschaft als auch zum Dissimulationsmodus der Scham hergestellt werden. In dieser Äquivokation überkreuzen sich beide Bedeutungen: Die Scham wird flüchtig, die Jungfrau rätselhaft. Die topische Verbindung von Virginität und Scham nutzt der Erzähler zu
51
Vgl. dazu das Lemma ‚haele‘ in Lexer, Handwörterbuch, sowie in: Benecke, Georg Friedrich; Müller, Wilhelm und Zarncke, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 1854–1878 http://urts55.uni-trier.de:8080/Projekte/MWV/wbb (Stand: 3.3.2011)
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einer Umkehrung: Scham begrenzt nicht nur die Weiblichkeit, sondern wird gewissermaßen auch von ihr affiziert. Diese Bewertung konnte der Ovidleser Gottfried der Ars amatoria entnehmen,52 dort ist allerdings die Rede von einem nur vorgetäuschten weiblichen Widerstand, ein Motiv übrigens, der in der nachklassischen höfischen Liebesliteratur, etwa bei Konrad von Würzburg oder in der Minnelehre des Johannes von Konstanz wiederholt auftaucht.53 Isoldes Scham ist jedoch gerade nicht gespielt, sondern erscheint als ein liminaler Zustand, als Anfang von etwas Neuen: „ein ursprinc“ (11838). Scham markiert hier also nicht mehr nur die Grenze, sondern eine Schwelle, die eine Transformation, einen Übergang in eine neue Ordnung einleitet.54 Wenn dabei die „maget“ als rätselhaft bzw. verborgen charakterisiert wird, so kann das auf den widersprüchlichen und dissimulativen Modus dieser Transformation bezogen werden, der wiederum topisch der Potentialität weiblicher Unberechenbarkeit zugeordnet wird.55 Entsprechend heißt es, dass Isolde, wie es ihr als Frau zukommt („als ez ir was gewant“, 11841), den inneren Krieg verloren gibt und heimlich („tougenlîche“, 11846) ein Auge auf Tristan wirft. Ihre Blicke bewirken bei ihm eine Steigerung der Minne, die die prekäre Balance von Ehre und Minne zum Kippen bringt: „er begunde ouch entwîchen, do’s in die Minne nicht erlie“ (11854). Im heimlichen Blickkontakt verstärkt sich die wechselseitige Attraktion; die Rede ist der „wuocherhafte(n) Minne“ (11871). Dennoch stagniert die Interaktion vorläufig auf dieser ersten Stufe der Annäherung, wobei erneut die Scham als Hemmung erscheint.
52
Ovid, Ars I,665ff.: pugnabit primo fortassis, et ‚improbe‘ dicet: pugnando vinci se tamen illa volet. (Publius Ovidius Naso: Ars Amatoria. Hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 1992.) 53 Vgl. dazu Schnell, Rüdiger: „Ovids ‚Ars amatoria‘ und die höfische Minnetheorie“. In: Euphorion 69 (1975), S. 131–159; ein Verweis auf die Sonderstellung des Tristan findet sich dort, S. 152. 54 Zum Begriff der Schwelle vgl. Saul, Nicholas u. Möbus, Frank: „Einleitung“. In: Schwellen: germanistische Erkundungen einer Metapher. Hg. v. Nicholas Saul, Frank Möbus u. a. Würzburg 1999, S. 9–15; des Weiteren Audehm, Kathrin u. Velten, Hans Rudolf: „Einleitung“. In: Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft. Hg. v. Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten. Freiburg 2007, S. 9–42, hier S. 14 55 Der Topos weiblicher Unbeständigkeit findet sich u. a. bei Vergil, Aeneis IV, 596f.: varium et mutabile semper femina. (Publius Vergilius Maro: Aeneis. Hg. v. Johannes Götte und Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2000.) Dazu u. a. Green, Dennis H.: „Frauenfeindliche Pauschalurteile in der Literatur des Mittelalters“. In: Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag. Hg. von Greule, Albrecht u. a., Ingbert 2008, S. 103–111, hier S. 105.
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Wan sî enmohten under in zwein ir willen niht gehaben in ein daz geschuof diu vremede und diu scham, diu in diu wunne benam. (11903–11906) [„Wenn sie aber beieinander waren, so litten sie wieder, denn es bedrückte sie, dass sie nicht zueinander kommen konnten; sie wollten es beide, aber Fremdheit und Scham standen ihrem Glück entgegen.“]
In Verbindung mit dem Begriff der Fremde repräsentiert die Scham nicht mehr externe soziale Instanzen, sondern die Grenze zwischen den Akteuren, ihre Selbst- und Körpergrenzen. Der Begriff der Fremdheit indiziert Distanz und zielt nicht nur auf einen Mangel an Vertrautheit, sondern auch auf die Feindschaft, die sie einander noch unterstellen: „si zwîvelte an im, er an ir.“ (11739). Zwar ‚kleben‘ die Blicke der Liebenden aneinander und lösen bei ihrem Gegenüber Erröten und Erbleichen aus,56 welche Zeichen ebenso sehr der Scham wie der Liebe sind. Doch das Defizit ist mit Blicken nicht zu beheben (die wechselseitige ‚Durchsichtigkeit‘ erweist sich an dieser Stelle ebenso als Postulat wie als Metapher): Das begehrte Gegenüber bleibt opak. Ihr Einverständnis könnte nur verbal hergestellt werden, die direkte Selbstoffenbarung gegenüber dem Fremden käme allerdings einer Selbstenthüllung, ja einer ostentativen Selbstentblößung gleich, die eine massive Beschädigung der eigenen Integrität riskierte.57 Statt eines Geständnisses ist ein kreisförmiger Prozess indirekter Annäherung entworfen, der die Grenzen nicht einfach überschreitet, sondern sie sukzessive verschiebt bzw. öffnet. Der Text beschreibt diese Annäherung im Bild der Jagd: Tristan und Isolde agieren als „wildenaere“ (Wilderer, 11934), die einander Fallen stellen. Signifikanterweise geht die Initiative auch hier vom weiblichen Part aus, die den Modus der Interaktion vorgibt. Isolde verfährt ‚in Art und Weise der Jungfrauen‘ („vil rehte in megede wîs“; 11942), d. h. schamhaft und indirekt (sie beginnt „von verren“, 11943), indem sie das Gespräch auf den Beginn ihrer Bekanntschaft lenkt. Die Fremdheit wird in der Verständigung über ihre gemeinsame Geschichte vermindert; allerdings werden die Gesprächspartner dabei unweigerlich mit der Ambivalenz dieser Geschichte konfrontiert. Gerade jenen Augenblick aber, in dem die Feindseligkeit in offene und tödliche
56 Sie nehmen einander mit „mit gelîmeten ougen“ wahr (11908). 57 Zum Aspekt der Selbstbewahrung vgl. von Moos, Peter: „‚Herzensgeheimnisse‘ (occulta cordis): Selbstbewahrung und Selbstentblößung im Mittelalter“. In: Schleier und Schwelle Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. Hg. v. Assmann, Aleida und Jan Assmann. München 1997, S. 89–110.
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Gewalt umzuschlagen drohte, macht Isolde zum Ausgangspunkt ihrer verhüllten Minneeröffnung: „â, sprach Îsôt, dô ez sich mir ze alsô guoten staten getruoc, daz ich iuch in dem bade niht sluoc, got hêrre, wie gewarb ich sô! daz ich nu weiz, wiste ich ez dô, binamen sô waere ez iuwer tôt.“ (11962–11967) [„Ach“, sprach Isot, „dass ich Euch damals in dem Bad, als sich die günstige Gelegenheit ergab, nicht erschlug! Lieber Gott, warum nur habe ich es bleiben lassen! Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, wärt Ihr gewiss nicht mit dem Leben davongekommen.“]
Die Vergeltung im Irrealis impliziert, dass Isolde von Tristan schweres Leid zugefügt worden ist:58 Wie Blanscheflur bezieht sich damit auch Isolde auf ein rechtliches Interaktionsmuster, das in der Eröffnung intimer Kommunikation gewissermaßen zweckentfremdet wird: Anders als Blanscheflur artikuliert Isolde durchaus ihre Betroffenheit, verschweigt aber den Grund ihrer Klage; mehr noch: Sie thematisiert dieses Verschweigen ausdrücklich als vorenthaltenes Wissen.59 Die exponierte Leerstelle erzeugt eine kognitive Dissonanz, die das Movens zweifelnder Reflexion bildet. Sie provoziert die Tristans Frage: „waz wirret iu? waz wizzet ir?“ (11969: „Was macht Euch Kummer? Was wisst Ihr?“). Isoldes Antwort besteht in der sprachlichen und körperlichen Inszenierung ihrer Überwältigung. „waz ich weiz, daz wirret mich, swaz ich sihe, daz tuot mir wê: mich müejet himel unde sê; Iîp unde leben daz swaeret mich.“ (11970–11973). [„Alles, was ich weiß, macht mir Kummer; alles, was ich sehe, tut mir weh; mich quälen der Himmel und das Meer; mein eigener Leib, mein Leben ist mir eine Last.“]
58 Die Konnotationen, die mit der Evokation des entblößten, bedrohlicher weiblicher Handlungsmacht ausgelieferten Tristan aufgerufen sind, mögen hier außer Betracht bleiben. 59 Zu Verfahren und Funktion indirekter Kommunikation vgl. Kieserling, Kommunikation, S. 158ff. Vgl. zum Folgenden auch Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2006, S. 268–272. Koch bezieht die Szene allerdings auf ritualisierte Trauer als dem maßgeblichen „Interaktionsmuster“ (Koch, Trauer, S. 271).
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Körperlich wird diese leidvolle Last („swaere“) im Verlust der Selbstkontrolle manifest, der Isolde Halt bei Tristan suchen lässt. Diese Berührung markiert der Text als Beginn der Intimkommunikation.60 Doch auch dieses Körperzeichen ist noch immer nicht eindeutig, sie ermöglicht jedoch Tristan immerhin eine vorsichtige körperliche Nähe. Er umfängt Isolde „in gastes wîse“ (11985), das heißt, er ist sowohl Fremder, der die Schamgrenzen beachtet, als auch Gast, dessen Nähe geduldet wird. Diese intrikate Nähe gestattet eine gewisse Vertraulichkeit: Tristan spricht „suoze unde lîse: ei, schoene süeze, saget mir, was wirret iu? Waz klaget ir?“ (11987f.: „Ach, schöne Süße, sagt mir doch: Was macht Euch Kummer, was tut Euch weh?“). Isoldes Selbstoffenbarung verschleiert sich in der änigmatischen Äquivokation, sie litte an „lameir“ (11990). Das Französische als höfische Distanzsprache verhüllt noch einmal ihr Begehren,61 fordert aber gerade damit ihren ehemaligen Lehrer Tristan zur Übersetzung, also zur Enthüllung auf. Initiiert ist ein kognitiver Prozess („versinnen“, 11997), in dem die Vielfalt der Bedeutungen rekapituliert wird („der meine der dûhte in ein her“; 12000). Tristan schließt in seiner ersten Frage zunächst nur die harmlosen Bedeutungsvarianten (Meer, Bitterkeit) aus,62 das Geständnis Isoldes erfolgt somit indirekt, in der Verneinung und insistierenden Wiederholung der dissimulierenden Wendung, sie leide an „lameir“ (Liebe). Tristan kann daran nun im Gestus der Heimlichkeit („tougenlîche“, 12017) anknüpfen, er leide ebenfalls an „lameir“, und überführt die implizite Andeutung in eine explizite Offenbarung, die die Einheit sprachlich vollzieht und die körperliche Vereinigung präludiert. In dieser ausführlichen Schilderung des Transformationsprozesses leistet der Text mehr als nachholende „psychologische Feinarbeit“,63 er weist den Prozess der Annäherung vielmehr als konstitutiv für die Minnebe-
60 11972: „das was der belde ein begin.“ 61 Vgl. Zotz, Nicola: Sprache des Hofes – Sprache der Liebe. Französisch als Sprache der Distanz im ‚Tristan‘. In: Tristan, Hg. v. Huber, S. 117–129, hier S. 127: „Isolt spricht französisch, um – während sie ihre Liebe gesteht – gleichzeitig auf Distanz zu gehen, um ihre existentielle Enthüllung vorsichtshalber formal noch zu verhüllen, und zwar durch eben die Sprache, die sonst höflich-distanzierten Aussagen vorbehalten ist.“ 62 Vgl. Zotz, Nicola: „Programmatische Vieldeutigkeit und verschlüsselte Eindeutigkeit. Das Liebesbekenntnis bei Thomas und Gottfried von Straßburg (mit einer neuen Übersetzung des Carlisle-Fragments)“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 50 (2000), S.1–19, besonders S. 5ff. und 15f. In Thomas‘ Text wird an dieser Stelle die durch Ysolt ambige Rede hervorgerufene dotance (d. h. Verwirrung) Tristans in Szene gesetzt. Dass dieser Begriff bei Gottfried in diesem Abschnitt nicht auftaucht, wertet Zotz als Hinweis auf die überlegene „Sicherheit“ Tristans im Gegensatz zu einer Unentschlossenheit Isoldes; m. E. jedoch verfolgen beide hier die Strategie dissimulativer Annäherung. 63 Wolf, Alois: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989, S. 183.
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ziehung aus. Denn in diesem Zusammenspiel von Scham und Zweifel etabliert sich eine neue Kommunikationsordnung zwischen den Akteuren, die im Text mit dem Begriff „heinlîche“ beschrieben wird: do diu fremede hine wart do was ir heinlîche rîlîch unde rîche. (12380–83) [„… als sie erst die Fremdheit hinter sich gelassen hatten, war ihre Leidenschaft mächtig und stark.“]
Gemeint ist hier mit „heinlîche“ nicht einfach nur vertrauliche Nähe und Innigkeit, sondern jene eingangs geforderte vollständige und reziproke Öffnung füreinander, die „sin“, „herze“ und „willen“ umfasst (11725ff.), in der allein sich die Herzenseinheit realisieren kann – mit anderen Worten: Intimität.64 In der intimen Dyade muss die Scham zwischen den Liebenden zurücktreten, denn wie der Erzähler betont, berauben jene sich selbst, die sich nach dieser Offenbarung weiter schamhaft zurückhalten, d. h. einander vorenthalten. und was daz wîsheit unde sin: wan die sich helent under in, sît daz si sich enbârent und danne ir schame vârent und gestent sich an liebe, die sint ir selber diebe. sô sî sich danne ie mêre helent sô sî ie mêre ir selben stelent, und mischent liep mit leide. (12384–12391) [„Und sie taten recht so und weise, denn die Liebenden, die sich voreinander verbergen, nachdem sie sich hingegeben haben, die dann schamhaft sein und von ihrer Lust nichts mehr wissen wollen, die bestehlen sich selbst. Je mehr sie verhehlen und verbergen, desto ärmer machen sie sich und mischen Leid in ihre Lust.“]
Das Kommunikationsideal der Diaphanie ist also als Gegenbild zur schamhaften Dissimulation entworfen, ebenso die Herzenseinheit zu argwöhnischer Feindschaft („zwîvalt“; 11721). Diese „heînliche“ der Lie-
64 Grundlegend zur Begriffsgeschichte Marianne Streisand: „Intimität/intim“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2000., S.175–195; Siehe auch die Begriffsdiskussion bei Möckel, Sebastian: „‚Der süeze wehsel under zwein‘. Intime Dialoge im mittelhochdeutschen Tagelied um 1200“. In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hg. v. Marina Münkler. Berlin , New York 2011. S. 127–155, hier S. 132ff.
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benden hat allerdings einen Doppelaspekt: Heimliche Vertrautheit bedeutet auch Verborgenheit, bedeutet, sich den Blicken der anderen zu entziehen.65 In struktureller Hinsicht manifestiert sich in diesem Spannungsverhältnis die ‚Grammatik der Intimität‘: Die Inklusion impliziert auch die Exklusion,66 d. h. sie produziert einen ausgeschlossenen Dritten. Kaum zufällig tauchen solche ‚Figuren des Dritten‘ in vielfältiger Weise im Text auf,67 sei es Brangaene als eingeweihte Helferin, sei es Marke als der betrogene Ehemann und Herrscher, seien es Marjodo oder Melot als Nebenbuhler, sei es schließlich Isolde Weißhand. Zwar finden sich Inszenierungen von derart exklusiven, „höchstrelevanten“ Beziehungen auch in anderen vormodernen Texten,68 die Besonderheit von Tristan und Isolde besteht indes darin, dass sie gezwungen sind, ihre ehebrecherische Liebe von vornherein geheim zu halten, also die Sphäre ihrer Heimlichkeit nicht nur nach außen abzugrenzen, sondern förmlich abzuschließen.69 In der illegitimen Beziehung von Tristan und Isolde ist das Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion mit dem radikalen Entweder-Oder von Minne und Ehre konfrontiert; zugleich aber inszeniert der Text ein Sowohl-Als-Auch bzw. den prekären „Parallelismus“ beider Sphären.70 Mag die gesteigerte Intimität der Passionsliebe narrativ auf den Trank zurückgeführt werden, darstellbar ist sie nur als Transgression; sie kann geradezu als ein Effekt der Grenzverletzung begriffen werden.71 Es ist ja der Zwang zur Geheimhaltung, der eine besondere „Kommunikationschance“
65
Auf diesen Doppelaspekt verweist schon Wenzel, Horst: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds ‚Tristan‘“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), S. 335– 361, hier S. 342. Die Bedeutung der Geheimhaltung wird auch in den einschlägigen Liebestraktaten betont, so bei Ovid, Ars II,602ff. und bei Andreas, De amore II,1,1. 66 Baier [Möckel], Sebastian: „Heimliche Bettgeschichten: intime Räume in Gottfrieds ‚Tristan‘“. In: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Hg. v. Elisabeth Vavra. Berlin 2005, S. 189–202, hier S. 190. 67 Vgl. Koschorke, Albrecht: „Die Figur des Dritten bei Freud und Girard“. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hg. v. Andreas Kraß und Alexandra Tischel. Berlin 2002, S. 23–34, hier S. 24. Des Weiteren Kiening, Christian: „Poetik des Dritten.“ In: Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt am Main 2003, S. 157–175. Die im ‚Tristan‘ entworfenen Dreiecksverhältnisse wären gesondert zu beleuchten. 68 Vgl. Möckel, Dialoge, S. 135. 69 Diese Unterscheidung nach Hahn, Alois: „Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten“. In: Schleier, Hg. v. Assmann, S. 23–40, hier S. 23. Eine analoge Struktur ist auch beim Elternpaar nachzuweisen. 70 Dazu Gerok-Reiter, Umcodierung, u. a. S. 382. 71 Die Transgressivität des Tristan hat vor allem Warning herausgearbeitet: Warning, Rainer: Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im ‚Tristan‘. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hg. v. Gerhard Neumann u. Rainer Warning, Freiburg 2003, 175–212.
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eröffnet und diese Dyade konstituiert.72 Die Übereinstimmung von Innen und Außen wird dabei ersetzt durch ideale Übereinstimmung zwischen den Liebenden, ihre wechselseitige Durchsichtigkeit korreliert ihrer Undurchschaubarkeit nach außen. Daher sind Formen der Dissimulation auch weiterhin von zentraler Bedeutung für den Handlungsverlauf. Es handelt sich jedoch nicht mehr um Performanzen der Scham, sondern um strategisches Handeln, d. h. Verstellung und List, deren Funktion es ist, die geheime Sphäre der illegitimen Minne zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, d. h. intime Kommunikation zu ermöglichen.73 Dazu dienen intime Räume,74 der verhüllende Schatten bzw. die Dunkelheit der Nacht,75 aber auch doppelsinnige Rede, die „klebeworte“ (12997), in denen das Paar eine „Arkansprache der Liebe“ ausbildet.76 Doch jegliche Dissimulation unterliegt einer Kontingenz, sie zeigt sich hier in den unwillkürlichen Körperzeichen des Errötens und Erbleichens, die sich letztlich als unkontrollierbar erweisen.77 Der permanenten Dissimulation korreliert daher der permanente argwöhnische Zweifel, „zwîvel unde arcwân“ (u. a. 13721) des betrogenen Ehemannes und der höfischen Instanzen, sie führt in ein Wechselspiel von List und Gegenlist.78 Auch dieser Zweifel hat eine selbstverstärkende Tendenz, insofern die Suche nach Gewissheit immer neue Verdachtsmomente generiert. Der Kommentar des Erzählers disqualifiziert den eifersüchtigen Zweifel Markes zwar als destruktiv und lässt doch den Zweifel als notwendige Begleiterscheinung der Liebe gelten, der dem nicht eliminierbaren Rest von Undurchschaubarkeit von alter und ego Rechnung trägt.79 Die Tristanminne allerdings scheint davon nicht betroffen: In der Idealität wechselseitiger Diaphanie ist für Zweifel kein Platz.
72 Hahn, Aspekte, S. 23. 73 Largier, Liebe, S. 215: „Die Spannung, die in der Erzählung das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit bestimmt, lässt sich als Welt der Tricks und der Lüge, der permanenten Simulation und Dissimulation bezeichnen.“ 74 Vgl. Baier [Möckel], Bettgeschichten. 75 Röcke, Werner: „Im Schatten höfischen Lichtes – Zur Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit im mittelalterlichen Tristan-Roman“. In: Licht. Religiöse und literarische Gebrauchsformen. Hg. v. Walter Gebhard. Frankfurt a. M. 1990, S. 37–75. 76 Wenzel, Horst: Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Individualgeschichte im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: Wege in die Neuzeit. Hg. v. Thomas Cramer. München 1988, S. 229–251, hier S. 235. 77 Vgl. Koch, Trauer, S. 266: „Die Minne bemächtigt sich der Körper, die als Zeichenträger nur bedingt zu kontrollieren sind.“ 78 13871: „dâ frumte in beiden samet, daz list wider list gesetzet ist.“ 79 13781–13856.
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III. Zweifel und Dissimulation: Tristan und Isolde Weißhand Die dritte Minnebegegnung, die zwischen Tristan und Isolde Blanschemain stattfindet, ist vor dem Hintergrund der Minnekonzeption des Textes ausgesprochen irritierend. Auch wenn die Interpretation schon aufgrund des fragmentarischen Charakters dieser Episode einige Vorsicht walten lassen muss,80 so wird hier doch die exklusive Herzenseinheit, die noch im Abschied der Liebenden ratifiziert worden war, offenkundig unterlaufen: Man hat deshalb erwogen, ob der physischen Trennung nicht auch eine innere Distanzierung Tristans parallelläuft oder (in zuweilen moralisierendem Gestus) die Rolle der erotischen Begierde herausgestellt.81 Bedeutsam für die hier verfolgte Fragestellung ist, dass diese Annäherung mit einem inneren Konflikt Tristans (zwîvel) verbunden ist. Es ist freilich zu klären, was dieses Schwanken Tristans ausmacht: Manifestiert sich darin eine Spannung zwischen der Erinnerung und Erotik82 oder aber eine „Zeichenverwirrung“, die sich aus der Namensidentität der beiden Isolden ergibt, und die Tristan danach streben lässt, das „Zeichen als Zeichen“ (der abwesenden Isolde) zu tilgen? 83 Wichtig erscheint mir zunächst, dass diese Annäherung als Prozess entworfen wird. Dabei lassen sich die Erinnerung und Verwirrung als Momente des Prozesses deuten. Das Moment der Erinnerung ergibt sich aus der Aufspaltung der intimen Dyade; man könnte diese Sequenz gewissermaßen als Versuchsanordnung lesen, wie sich deren Teile, genauer der männliche Part, im Falle der Trennung verhält. Die Herausforderung an das Paar besteht darin, ihre Intimität unter den Bedingungen der Distanz auf Dauer zu stellen. Das gelingt in der Erinnerung, d. h. der beständigen wechselseitigen symbolischen Vergegenwärtigung: Eindringlich appellieren die Liebenden beim Abschied aneinander, sich im Gedächtnis zu behalten.84 Jedoch gerade diese symbolische Vergegenwärtigung ist konstitutiv für den doppelbödigen erotischen Affekt Tristans. Denn nicht nur die Schönheit der anderen Isolde affiziert Tristan, sondern auch und vor al80 Darauf verweist Millet, Victor: Liebe und Erinnerung. Überlegungen zur Isolde Weißhand-Episode. In: Tristan, Hg. v. Huber, S. 357–377, hier S. 357. 81 So etwa Wolf, Mythe, S. 250–261; Ries, Verkennen, S. 336f. 82 Wie Millet, Liebe, S. 363. 83 So Draesner, Ulrike: Zeichen – Körper – Gesang. Das Lied in der Isolde-WeißhandEpisode des Tristan Gotfrits von Straßburg. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hg. v. Michael Schilling u. Peter Strohschneider. Heidelberg 1996, S. 77–101, hier s. 87ff. 84 Tristan erklärt, dass „Isôt diu muoz iemer in Tristandes herzen sîn.“ (18278f.) und appelliert „bedenket ie genôte mich iuwern lîp, Isôte.“
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lem die Namengleichheit; dass Tristan beständig von Isolde reden hört, „fiuwerniuwete ime den muot“ („verjüngte sein Verlangen mit Feuer“, 19049) und er fühlt sich abermals „g’isôtet“ (19006).85 Auch wenn man aus diesem Wortspiel nicht unbedingt eine erneute Verzauberung Tristans ableiten muss,86 so scheint mir hier doch ein Echo der Trankwirkung indiziert. Zumindest inszeniert der Text Tristans Irritation. Die erotische Präsenz der anderen Isolde und die erinnerte Herzenseinheit werden durch den Namen nicht nur verknüpft, sondern verstärken sich wechselseitig. Diese prekäre Synthese fungiert als double bind: Es ist Isolde und sie ist es doch nicht.87 Dieser Widerspruch stößt die prinzipiell endlos oszillierende cogitatio immoderata an, die der Text als „Vexierspiel“ der Namen präsentiert, worin die Isolden auf der sprachlichen Ebene ununterscheidbar werden.88 Der Imperativ der Erinnerung wird in den Vorsatz transformiert, dem teuren Namen ‚Dank‘ abzustatten: swaz aber mîn ouge iemer gesiht, daz mit ir name versigelt ist, dem allem sol ich alle vrist liebe und holdez herze tragen, dem lieben namen genâde sagen … (19038–19042). [„Doch muss ich allem, was mein Auge sieht, wenn es nur das Wahrzeichen ihres Namens trägt, jederzeit mit Liebe begegnen und von Herzen gut sein und muss dem lieben Namen danken ...“]
Die darin implizierte Differenzierung zwischen dem Namen und seiner Trägerin zeigt, dass Tristan hier keineswegs einer Verwirrung unterliegt, sondern nur dem Namen seine Reverenz zu erweisen will.89 In der metonymischen Logik des ‚Wahrzeichens‘ bezieht sich Tristan auf seine blonde Isolde; faktisch aber richten sich die Liebesbezeugungen an die Namenträgerin aus Arundel. Im Erzählerkommentar wird dieses Unterfangen als Zerstreuungsstrategie („gemuotheit“, 19057) dekuvriert, d. h. Tristan vollzieht die spielerische Affirmation seiner Irritation, um sein Liebesleid („senebürde“, 19065) zu verringern. Tristan eröffnet denn auch bewusst den Blicktausch: Er 85 86 87 88 89
Die Übersetzungen bieten hierfür: „Isôtenzauber“ (Knecht) bzw. „durch Isolde verzaubert“ (Krohn). V. 18993ff.: „Vil dicke sprach er wider sich: „a de benie, wie bin ich von disem namen verwirret … er birt mir wunderliche not.“ So Millet, Erinnerung, S. 364. Z. B. 19029: „Ich habe Isot gefunden, aber nicht die Blonde, die mir so süße Schmerzen macht. Es ist Isot, die mich auf solche Gedanken gebracht hat, in denen nun mein Herz befangen ist.“ Huber, Tristan, S. 125. Millet, Liebe, S. 364.
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üebete an ir dicke sîn inneclîche blicke und sante der so manegen dar, daz si binamen wol wart gewar, daz er ir holdez herze truoc. (19067 –19071) [„Oft zielte er seine schmachtenden Blicke auf sie und schoss so viele auf sie ab, dass sie sehr wohl bemerkte, wie gut er ihr in seinem Herzen war.“]
Die Blicke finden Resonanz, denn zum einen erfreut sich Tristan aufgrund seines Prestiges ohnehin des Interesses der weißhändigen Isolde,90 zum andern erscheint seinem Kampfgefährten Kaedin die Verbindung zwischen Tristan und seiner Schwester politisch erwünscht, weshalb er seiner Schwester auch entsprechende Anweisungen erteilt. Die unterschiedlichen Rücksichten der beteiligten Parteien finden sich zunächst allesamt bestätigt. Die Liebe entwickelt sich so als ein höfisches Spiel: Isolde Weißhand wendet ihre Verführungstechniken auf Tristan an,91 wodurch sie sein Begehren entfacht („biz daz sin ouch enzunde“, 19115). Es kommt zu einer ersten ritualisierten Verständigung, in der Isolde Weißhand und Tristan einander „liebe und gesellschaft“ (19125) schwören. Der hier durchaus mehrdeutige Begriff ‚Liebe‘ ruft allerdings eine Grenze auf, kaum zufällig erinnert sich Tristan kurz darauf an seine „erbesmerzen“ (19131) und schilt sich selbst der Untreue. Diese Erinnerung fungiert als negative Rückkopplung („hie mite kam er des willens wider“, 19171), Tristan entsagt ausdrücklich seinem Minneverlangen und fällt in die Trauer zurück. Allerdings unterliegt er der Eigendynamik der einmal initiierten Annäherung: Aus „höfscheit“ (19186), also höfischer Rücksichtnahme der verliebten Dame gegenüber, setzt er seine galanten Aktivitäten fort. Er leistet Isolde Weißhand Gesellschaft, er liest ihr Geschichten vor, komponiert und singt Couplets mit einem doppelsinnigen Kehrreim: „Isot ma drue, Isot m’amie, en vus ma mort, en vus ma vie!“ (19217f.: „Isolde meine Geliebte, Isolde meine Freundin, in euch mein Tod, in euch mein Leben.“) Darin scheint die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen der öffentlich wahrnehmbaren „süeze[n] gebaerde“ (19175) und seinem verborgenen Minneleid geschlossen. Die Doppeldeutigkeit des Leichs ist kein Zeichen der Verwirrung des Protagonisten, sondern die Dissimulation
90 Damit ist erneut das Korrelationsprinzip von Vortrefflichkeit und Schönheit zitiert: Tristan sticht durch seine Waffentaten hervor, die schöne und vornehme Isolde ist in Arundel „die Blume des Landes“ (18958). 91 19106ff.: „allez daz, daz die gedancken stricket, minne in dem herzen quicket, daz begunde s’an in wenden.“
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einer Klage um seine, die irische Isolde. Tristan produziert Ambiguität – allerdings nur für sich selbst. Als öffentlichen Aufführung fungiert diese Dissimulation als Simulation, denn der ganze Hof einschließlich Isolde Weißhand muss diese Verse auf die Karker Isolde beziehen als ein scheinbar eindeutiges Geständnis Tristans, als Werbung im Medium des Gesangs. Zwar ist diese Artikulation des Begehrens als Sang ästhetisch eingeklammert und relativiert, dennoch fungiert sie performativ als Selbstoffenbarung unter dem Deckmantel höfischer Kunstbetätigung.92 Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Heimlichkeit hat sich damit verkehrt: Die Minneannäherung vollzieht sich nicht mehr heimlich, sondern gewinnt den Charakter einer öffentlichen Inszenierung, die von der höfischen Öffentlichkeit beifällig betrachtet wird. An die Stelle der intimen Dyade tritt damit eine Dreierkonstellation, worin die zuvor ausgeschlossenen ‚Figuren des Dritten‘ als Zuschauer und Akteure einbezogen sind. Diese öffentliche Inszenierung beruht allerdings auf der Dissimulation aller Parteien, die divergierenden Wünschen und Sehnsüchten folgen: Erstens Tristan, der seine Liebe zur irischen Isolde verbirgt, zweitens Kaedin als Repräsentant des Hofes, der diese Annäherung aus politischen Gründen forciert, und schließlich Isolde Weißhand, die die brüderlichen Instruktionen mit ihren eigenen erotischen Interessen verknüpft. Die Zustimmung der Verwandtschaft verschafft Isolde Weißhand dabei einigen Freiraum. Tristans scheinbare Selbstoffenbarung kann Isolde daher ebenso öffentlich durch eine markante symbolische Geste beantworten: sô warf ouch eteswenne der cranke magetliche name sîne kiusche und sîne schame zem nacken von den ougen si leite im dicke untougen ir hende in die sîne als ob es Kâedîne ze liebe geschaehe swes aber sich der versaehe, ir selber vröude lac dar an. (19234–19243) [„Und immer wieder kam es auch vor, dass ihre schwache Jungfernschaft sich selbst zum Trotz alle schamhafte Zurückhaltung fahren ließ: Oft legte sie ganz offen ihre Hände in die seinen, als ob sie es Kaedin zuliebe täte. Was immer aber der sich dabei gedacht haben mag, so ist doch gewiss, dass sie selbst Freude daran hatte.“]
92 Vgl. 19219ff.: „und wande er daz so gerne sanc sô was ir aller gedanc und wanden ie genote, er meinde ir îsôte ...“
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Mit dieser Geste ist eine öffentliche („untougen“) Überschreitung der Schamgrenze inszeniert. Scham spielt in dieser Episode nur hier, im Moment ihrer Überwindung eine Rolle. Die Geste ist bedeutungsschwer, denn sie ist politisch-rechtlich konnotiert und schafft eine gewisse Verbindlichkeit: Indem Isolde Weißhand ihre Hände in Tristans Hände legt, demonstriert sie nicht nur öffentlich ihre Freundschaft (die oberwähnte „liebe und gesellschaft“), sondern deutet eine Selbstübergabe (Kommendation) an.93 Bezeichnenderweise jedoch ist sogar diese Geste noch mit einer Dissimulation verbunden, insofern Isolde Weißhand das, was dem Hof und namentlich Kaedin als politisch-strategische Handlung erscheint, insgeheim selbst eine Freude ist. Mit der Begegnung von Tristan und Isolde Weißhand entwirft Gottfried die Kontrafaktur der anderen beiden Minneeröffnungen. Zwar vollzieht sich auch diese Annäherung in der wechselseitigen Steigerung des Begehrens, doch anstelle der finalen Integration in die Herzenseinheit perpetuiert sich die Dissimulation, denn die Steigerung des Begehrens bedeutet für Tristan zugleich die Steigerung seines Zwiespalts. Die kognitive Irritation über die andere Isolde ist in moralischen Zweifel umgeschlagen: „er zwîvelte an Isolde, ob er wolde oder enwolde“ (19254f.: „Er war entzweit in seiner Liebe zu Isot, ob er wollte oder nicht.“). Der Zweifel ist ebenso Moment wie Resultat eines vitiösen Zirkels: Tristans höfische Simulation löst als Resonanzeffekt die massive Zuwendung Isolde Weißhands aus, die ihn erneut erotisch affiziert („bis daz sin aber enzunde“, 19249), wodurch er in Zweifel gestürzt wird. Als Gegenkopplung fungiert wiederum die Erinnerung an die irische Isolde, wobei gerade die Nähe der anderen Isolde seinen Verlust umso fühlbarer macht. Tristan wird vom Schmerz überwältigt, doch seine keineswegs versteckte, sondern öffentlich wahrnehmbare Trauer wird vom Hof und von Isolde Weißhand missdeutet und provoziert nur verstärkte Zuwendung. Sie löst bei Isolde Weißhand eine Art Sympathie-Trauer aus, die Tristan erneut durch seine höfisch-galante Aktivitäten zu lindern versucht. Das beantwortet Isolde Weißhand durch erneute Liebesbezeugungen und vertieft so Tristans Zweifel. Ein letzter Zyklus ist nur noch durch die Metaphorik des Jagen und Einholens skizziert. In dieser Metaphorik und in der zunehmenden Verknappung der Erzählzeit deutet sich eine Beschleunigung des Zirkels an. Diese Aporie ist mit moralischen Kategorien nicht zu erfassen; die erotische Faszination wird vom Erzähler vielmehr als unvermeidlicher
93
Vgl. Cordes, Albrecht: „Kommendation“. In: Lexikon des Mittelalters 5, Stuttgart 2000, Sp. 1278.
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Präsenzeffekt begriffen.94 Tristan zuzurechnen ist hingegen seine Strategie der Zeichenverwirrung; sie wird, entsprechend dem Minnekonzept des Textes, als Betrug an Isolde Weißhand gekennzeichnet (19402: „si was betrogen“). Das ist nicht nur eine moralische Wertung Tristans, sondern auch eine Beschreibung der höfischen Simulation als „trügeheite“, die nicht nur Isolde Weißhand blendet, sondern auch Tristan in die Konfusion treibt („sus was er beider irre“; 19392). In der Selbstreflexion Tristans wird seine Desorientierung selbst zum Symptom: Liebe wird als Krankheit objektivierbar, deren Therapie ihrer Vervielfältigung besteht. Das hat seine Parallele zum Beginn, als der irritierte Tristan beschloss, dem „lieben Namen Gnade zu sagen“: Hier wie dort besteht der Modus der Bewältigung des Zweifels in der Verdopplung der Affirmation: Aus dem Entweder-Oder der Alternativen wird ihr Sowohl-Als-Auch, um die „senebürde“ zu verringern. Das exklusive Minnemodell des Textes ist damit offen dementiert. Doch dieses Dementi bleibt zunächst abstrakt. Die Lösung Tristans von seiner blonden Isolde kann sich nur in den Kategorien der Intimität vollziehen: Der Zweifel wird personal gewendet, als Zweifel an seiner blonden Isolde. In einer simulierten Zwiesprache mit seiner Geliebten beschwört Tristan ihre frühere Herzenseinheit, deren Idealität aber nun die Diskrepanz zwischen ihrer vermeintlichen Freude und seiner Trauer markiert, zwischen der erotischen Erfüllung in ihrer Ehegemeinschaft und seiner entbehrungsreichen Einsamkeit.95 Es ist in dieser Logik Isolde, die die Exklusivität durchbricht, weil sie ja einen anderen Partner hat, und sich daher nur „mâzlîche“ nach ihm sehnt und leidet (19491f.), und auch die letzte Möglichkeit intimer Fernkommunikation durch Boten nicht nutzt. Diese virtuelle Absage soll wohl die neue Verbindung mit Isolde Weißhand vorbereiten. Der überlieferte Text endet allerdings, auffällig genug, im Diskurs des Zweifels. Man mag spekulieren, welche Fortsetzung dieser Diskurs in einer vollständigen Fassung des Romans gefunden hätte.
V. Fazit Der Befund ist, dass alle drei Minnebeziehungen über ein Zusammenspiel von Scham und Zweifel initiiert werden. Kennzeichnend ist dafür der Doppelaspekt der Scham: Scham erscheint einerseits als normative und
94 19367: „ … daz man vil michels baz vertreit durch verre minne ein verre leit, dan daz man minne nahe bî und nâher minne âne sî.“ 95 19488: „nu bin ich trûric, ir sît frô.“
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kommunikative Barriere, die durch die Macht der Minne überwunden wird (explizit in der Psychomachie der Minnetrankszene), andererseits ist sie spezifischer Artikulationsmodus der Minne: Die Minnebeziehungen im Tristan stellen sich her sich in Formen doppelsinnigen Sprechens und Handelns, wobei die Intentionen von Verbergen und Enthüllen aufeinander bezogen sind. Gerade mit einem handlungsorientierten Begriff von Scham als Dissimulation der Transgression gelingt es, spezifische Performanzen der Minneeröffnung zu erfassen, in der auf verdeckte Weise sowohl Selbstgrenzen der Akteure geöffnet als auch die normative Grenzen überschritten werden. Dabei ist der dissimulative Modus der Annäherung weiblich codiert; er realisiert sich in der Produktion von Mehrdeutigkeit, die männlichen Zweifel auslöst. Der Zweifel bezieht sich zum einen auf die durch schamhafte Kommunikation erzeugten kognitiven Dissonanzen, zum andern verändert er in einem selbstverstärkenden Prozess die Akteure und ihre Verhältnisse und vollzieht darin Übergang zu einer neuen Kommunikationsordnung. Ist Scham Modus der Kommunikation, so kann der Zweifel als Modus der Transformation begriffen werden. Die Funktion dieses Wechselspiels von Scham und Zweifel im ‚Tristan‘ besteht darin, eine Sphäre der Heimlichkeit zu erzeugen, d. h. in Abgrenzung zur Gesellschaft eine intime Kommunikationsordnung zu etablieren. Mit den unterschiedlichen Minneeröffnungen inszeniert und reflektiert der Text auf je spezifische Weise die Konstitution von Intimität. Scham und Zweifel fungieren gewissermaßen als Operatoren der Minne – und markieren zugleich auch ihre Kontingenz. Denn erst im Kontrast zur schamhaften Dissimulation wird die ‚Durchsichtigkeit‘ als erotisches Kommunikationsideal, besser gesagt, als Kommunikationsutopie begreiflich. Diese Gegenbildlichkeit ist auch für den Zweifel zu konstatieren, der im Verlauf der Erzählung die Herzenseinheit wie ein Schatten begleitet. Die intime Kommunikationsordnung erweist sich dabei als prekär und temporär, begründet durch die Struktur der Intimität, die in der Abgrenzung nach außen zugleich externen Druck erzeugt. Im Darstellungsmodus des Textes wird Intimität radikalisiert, insofern sie sich nur als Transgression realisieren kann und daher von vornherein auf Geheimhaltung angewiesen ist. Die fortwährende, aber nie perfekte Dissimulation der Passionsliebe ruft den Zweifel und das eifersüchtige Misstrauen der ausgeschlossenen Dritten hervor, das schließlich die physische Trennung der Dyade erzwingt. Überdauern kann sie nur im wechselseitigen Gedenken, das in der Konstruktion des Textes aber in eine höfische Simulation von Minne führt, also zur artifiziellen Verselbständigung des Codes, die auch die Dyade selbst in die Krise stürzt. Die Liebe, so scheint es, wird vom Diskurs des Zweifels verschlungen.
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K LAUS R IDDER
Schlüsselszenarien: Scham und Schamlosigkeit im Prosa-Lancelot „Kein jungfrau wart nie also schamhafftig als er ist …“ (Steinhoff II, 70, 30).
Einleitung Als der altfranzösische Prosa-Lancelot in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entsteht – die deutsche Übersetzung folgt vermutlich nicht wesentlich später –, können die Autoren bereits auf eine Tradition literarischer Schaminszenierung im höfischen Erzählen zurückblicken. Scham hat Chrétien de Troyes im Erec und Schamenthobenheit1 im LancelotRoman auf eine signifikante Weise dargestellt. Das spätere Erzählen rekurriert auf diese Episoden, so dass man im Blick auf die hier literarisierten Ideen von Schlüsselszenen sprechen kann. Eine Situation gravierender Beschämung des ritterlichen Helden eröffnet den ersten Roman Chrétiens. Im Beisein der Königin Ginover und ihrer Frauen wird der unbewaffnete Erec von einem Zwerg ins Gesicht geschlagen. Er kontrolliert seinen Zorn, greift nicht in selbstzerstörerischer Weise an, kehrt zur beobachtenden Königin zurück, ist von tiefer Scham erfüllt, setzt aber mit Bedacht seine Gegenaktion ins Werk.2 Erec 1
2
Den Begriff verwende ich, um die Situationsbezogenheit des Ausbleibens von Schamreaktionen um eines höheren Wertes willen zu verdeutlichen. Der Begriff der Schamlosigkeit bezeichnet demgegenüber mit negativer Konnotation das Fehlen von Scham, vor allem von Körper- und Sexualscham, vielfach von einer Außenperspektive aus beurteilt. vgl. auch Baisch, Martin: „man bôt ein badelachen das: / des nam er vil kleine war“ (167, 21f.). Baisch, Martin „Über Scham und Wahrnehmung in Wolframs Parzival “. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hg. v. John Greenfield. Porto 2004, S. 105–132, insbes. S. 114–123. „Il sot bien que del nain ferir / ne porroit il mie joïr, / car le chevalier vit armé, / molt felon et desmesuré, / et crient qu’asez tost l’ocirroit, / se devant lui son nain feroit. / Folie n’est pas vaselages; / de ce fist molt Erec que sages: / rala s’an, que plus n’i ot fet. [...].
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gelingt es, die in der Initialsituation erfahrene Entehrung durch reflektierte ritterlich-höfische Gewaltausübung aufzuheben und sogar auf einer höheren Stufe die Achtung der Gesellschaft zu erlangen. Das Geschehen steht von Anfang an unter der Prämisse einer prinzipiellen Tilgbarkeit der Scham.3 Die Fahrt des Protagonisten auf dem Schandkarren im Lancelot-Roman Chrétiens lässt sich demgegenüber als eine Schlüsselszene für Schamenthobenheit im höfischen Erzählen verstehen. Lancelot überschreitet um seiner Liebe zur Königin Ginover willen eine gesellschaftliche Norm. Er steigt auf den Schandkarren, zögert einen Moment, zeigt also eine gewisse Schamreaktion, überwindet dann jedoch die Furcht vor Schande und setzt sich über Erwartungen der Gesellschaft hinweg.4 Die Szene
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,Itant bien prometre vos vuel / que, se ge puis, je vangerai / ma honte, ou je la crestrai‘“, Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Erec und Enide. Übers. u. hg. v. Albert Gier, Stuttgart 2002, VV. 225–246. – „ouch wolde er sich gerochen hân, / wan daz er wîslîchen / sînem zorne kunde entwîchen. / der ritter hete im genomen den lîp, / wan Êrec was blôz als ein wîp. / er gelebete im nie leidern tac / dan umbe den geiselslac / und enschamete sich nie sô sêre / wan daz diese unêre / diu künegîn mit ir vrouwen sach. / als im der geiselslac geschach, / mit grôzer schame er wider reit.“, Hartmann von Aue: Erec. Hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt v. Ludwig Wolff. Tübingen 72006, VV. 99–110. In Erecs Reaktion überlagern sich im Roman Hartmanns zwei Formen der Scham: eine elementar anthropologisch verankerte Scham als Folge von Wehrlosigkeit gegenüber Gewalt (vgl. dazu Lehmann, Johannes F.: „Scham und Gewalt. Zum Zusammenhang von Wehrlosigkeit und Scham bei Aristoteles, Kant und Kleist“. In: Schuld und Scham. Hg. v. Alexandra Pontzen u. Heinz-Peter Preusser. Heidelberg 2008, S. 27–38) und eine stärker kulturell fundierte Scham als Folge von Normverletzungen. Insbesondere der Vorwurf der Feigheit, in einer von Gewalt und Krieg bestimmten Gesellschaft das Negativum schlechthin, steht im Hintergrund der Initialsituation. Der Held zeigt zwar Symptome der Scham, reagiert auf den verinnerlichten Feigheitsvorwurf jedoch nicht impulsiv mit dem zu erwartenden Zorn-Gewalt-Handeln. Vielmehr wird die Reaktion hinausgeschoben, sie erfolgt erst im weiteren Handlungsgeschehen. Will man es etwas zuspitzen, dann kann man das weitere Handlungsgeschehen, insofern der Protagonist des Romananfangs in ihm die entscheidende Rolle spielt, als eine Form der ,Abarbeitung‘ der initialen Scham-Situation verstehen; zur Scham im Erecroman vgl. Gephart, Irmgard: Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue Erec. Frankfurt a. M. [u. a.] 2005. Yeandle, David N.: „Schame in the Works of Hartmann von Aue“. In: Das unsichtbare Band der Sprache. Studies in German Language and Linguistic History in Memory of Leslie Seiffert. Hg. v. John L. Flood u. Paul Salmon [u. a.]. Stuttgart 1993, S. 25–56. Krause, Burkhardt: „Schame(e), schande und êre: Selbstwahrnehmung zwischen Affekt und Tugend“. In: Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel. Stauffenburg Colloquium, Bd. 56. Hg. v. Ulrich Scheck. Tübingen 2006, S. 21–75, insbesondere S. 40, 48f. u. 58–60. „Mes reisons qui d’amors se part / Li dit que de monter se gart, / Si le chastie et si l’ansaingne / Que rien ne face ne n’anpraingne, / Don il et honte ne reproche. / N’est pas el cuer, mes an la boche / Reisons qui ce dire li ose; / Mes amors est el cuer anclose, / Qui li comandë et semont / Que tost sor la charrete mont. / Amors le viaut, et il i faut; / Que de la honte ne li chaut / Puis qu’amors le comande et viaut.“ – „Doch Vernunft, die anders als die Liebe urteilt, sagt ihm, er solle sich hüten aufzusteigen. Sie warnt ihn und schärft
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symbolisiert, dass seine Liebe zu Ginover die gesellschaftliche Seite des Schambegriffs, die in seinem Zögern noch einmal kurz aufscheint, in diesem Moment abstreift. Die Gesellschaft ist nicht mehr die ausschließliche Bewertungsinstanz adäquaten Handelns, Lancelot richtet sein Verhalten ganz auf Ginover aus. Bevor nun Situationen der Scham und der Schamenthobenheit des Protagonisten im Prosa-Lancelot in den Blick kommen, möchte ich das zugrunde gelegte Verständnis der Scham-Emotion und die gewählte Analysemethode literarischer Emotionsdarstellung umreißen: Im Bereich des körperlichen Scham-Ausdrucks (Erröten u. a.) und des subjektiven Empfindens von Scham (Bedürfnis zu Verschwinden u. a.) gibt es vermutlich eine überkulturelle, genetisch bedingte Invarianz. Faktoren, die Scham auslösen, und Formen, über die Scham handelnd kommuniziert oder substituiert wird, unterliegen demgegenüber einer intensiven kulturellen Überformung. Wie lässt sich die Verschränkung zwischen biologischen und kulturellen Aspekten von Emotionen denken? In sozialen Kontexten werden Emotionen – so die Hypothese von Ronald de Sousa – über Schlüsselszenarien gelernt und bestimmt. Schlüsselszenarien sind signifi kante Episodentypen mit dramatischer Struktur, auf die aktuelle emotionsauslösende Situationen rückbezogen werden. Erzählungen – als Teil alltagsweltlicher, religiöser oder ästhetisch-inszenatorischer Vollzüge – spielen als Medium solcher Szenarien eine wichtige Rolle.5 Hier haben wir eine Verbindung
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ihm ein, nichts zu tun und zu unternehmen, was ihm Schande und Tadel einbringen müsse. Nicht im Herzen sondern auf der Zunge ist der Sitz der Vernunft, die ihm das zu sagen wagt. Liebe aber ist im Herzen eingeschlossen, sie befiehlt und ermahnt ihn, sofort auf den Karren zu springen. Liebe will es, und so springt er hinauf. Was kümmert ihn die Schande, da Liebe es befiehlt und will!“, Chrétien de Troyes: Lancelot. Le Chevalier de la Charrette, übers. u. eingel. v. Helga Jauß-Meyer. München 1974, VV. 369–381, Übersetzung S. 31; zur Semantik des Werkes honte im Chevalier de la Charette vgl. Hult, David F.: „Lancelot’s Shame“. In: Romance Philology XLII (1988), S. 30–50. „Meine Hypothese lautet: Wir werden mit dem Gefühlsvokabular vertraut gemacht, indem wir es mit Schlüsselszenarien assoziieren lernen. Anfangs, so lange wir noch klein sind, beziehen wir diese Szenen aus unserem alltäglichen Leben; später verstärkt aus Geschichten, Kunst und Kultur. Noch später werden sie, in Lesekulturen, ergänzt und verfeinert durch Literatur. Schlüsselszenarien umfassen zwei Aspekte: Erstens einen Situationstyp, der die charakteristischen Objekte des besonderen Gefühlstyp liefert […], und zweitens eine Gruppe von charakteristischen oder ,normalen‘ Reaktionen auf die Situation, wobei Normalität zunächst eine biologische Angelegenheit ist und dann sehr schnell zu einer kulturellen wird.“, De Sousa, Ronald: Die Rationalität des Gefühls. Übers. v. Helmut Pape u. Mitarbeit v. Astrid Pape u. Ilse Griem. Frankfurt a. M. 1997, S. 298f.; vgl. auch S. 12; zur Auseinandersetzung mit dieser Theorie vgl. beispielsweise Nimtz, Christian: „Axiologie, Motivation und Moral. Ein Kommentar zu Ronald de Sousa“. In: Moralität, Rationalität und die Emotionen“. Hg. v. Achim Stephan u. Henrik Walter. Ulm 2004, S. 75–96. Zur Rolle der Literatur beim Erlernen von Emotionen vgl. auch
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zwischen einer Emotion und ihrem Ausdruck, die einerseits wohl bis in Tiefenschichten einer Kultur hinein reicht, andererseits aber ständiger Transformation und Aktualisierung unterliegt. Was für Schlüsselszenarien lassen sich für Scham und Schamenthobenheit erkennen? In der christlich geprägten Kultur des Mittelalters scheint im Sündenfall Adams und Evas ein solches Schlüsselszenarium vorzuliegen. Das Sündenfall-Drama handelt von der Entdeckung der Sexualität und der Genese der Scham. Die in der Genesis gestaltete Verbindung von erster Sünde, Selbsterkenntnis und Körperscham führte in der Auslegungstradition des Sündenfalls zu einer deutlichen Fokussierung des Schambegriffs auf das Sexuelle.6 Es ist daher in religiöser Sicht naheliegend, Schamenthobenheit und Asketismus in Verbindung zu bringen. Der Asket strebt durch radikalen, vor allem sexuellen Verzicht und durch die Aufgabe menschlicher Gemeinschaft eine gottgefällige Körperlichkeit und eine Durchbrechung der Zyklik menschlichen Lebens an. Die Überwindung der Sexualität tilgt dann notwendig auch die mit ihr einhergehende Scham. Mit den verschiedenen Ausformungen der vita consecrata, des geweihten Lebens, verknüpfen sich daher Schlüsselszenarien für Schamenthobenheit.7 Im gegebenen Zusammenhang höfisch-weltlicher Literatur interessiert insbesondere der Episodentyp ,Hinwendung zu eremitisch-asketischem Leben‘ (also die Einsiedler- und Klausner-Motivik). Die dramatische Struktur
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Heller, Agnes: Theorie der Gefühle. Hamburg 1980, S. 169: „Die Kunst ist nämlich dazu fähig – in erster Linie die Wortkunst – uns sämtliche Emotionen durchleben zu lassen, die wir überhaupt kennen. Das nämlich, was wir verstehen können, können wir auch durchleben […]. Wir müssen nicht tödlich verliebt gewesen sein, um vom Tod Tristans und Isoldes zu Tränen gerührt zu werden […].“ Dazu Schreiner, Klaus: „Si homo non pecasset… Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfasstheit des Menschen“. In: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. v. Norbert Schnitzler u. Klaus Schreiner. München 1992, S. 41–84. Ders.: „Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall“. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. v. Peter v. Moos. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 1–96; Flasch, Kurt: Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos. München 2004; dazu auch Scheffczyk, Leo u. Schmitz, Rolf: „Sünde, »Sündenfall«“. In: LexMa, Bd. 8, Sp. 315–322: „Das Bild vom Menschen ist im MA maßgebl. von der Exegese des S.nfalls und dem Dogma der Erbsünde bestimmt. Der paradies. ,engelhafte‘ Körper des Menschen, der in ,heiliger Schamlosigkeit‘ lebte, wird zum kranken und mit Mängeln behafteten Körper. Durch das Dogma der Erbsünde wird die Individualschuld zur vererbten Kollektivschuld. Schwerwiegendste Folge des S.nfalls ist die concupiscenta carnis‘. Das sexuelle Verlangen wird nach dem ,peccatum originale‘ zur S., der nackte Körper zu ihrem Austragungsort und die ,nuditas‘ des Körpers zum Grund von Scham und Schuld.“ (Sp. 319). Zu religiös motivierten Formen der Schamenthobenheit in der Nachfolge Christi vgl. v. Moos: „Einleitung“. In: Der Fehltritt, S. 65f.
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dieses Motivkomplexes lässt sich etwa durch die Stichwörter conversio, Hingabe, Versuchung, Überwindung, Erhöhung andeuten.8 Die These der folgenden Überlegungen besteht darin, dass sich das emotionspsychologische Konzept der Schlüsselszenarien und die literaturwissenschaftliche Kategorie der Schlüsselszenen sinnvoll aufeinander beziehen lassen: Über relativ einfache Szenarien werden Emotionen gelernt und bestimmt (so die Emotionspsychologie); über komplexe, literarästhetisch gestaltete Episodentypen werden Emotionen differenziert und reflektiert, kritisiert oder parodiert (so könnte man aus literaturwissenschaftlicher Sicht argumentieren).9 Literarisch geformte Schlüsselszenarien nehmen
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Zur Eremiten-Thematik vgl. insbesondere Mertens, Volker: Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption. Zürich, München 1978, S. 53: „Im Bewußtsein des 11. und 12. Jahrhunderts verspricht das Eremitentum den höchsten Rang der Heiligung […]. Das Eremitentum ist als strengste Nachahmung Christi, als äußerste Einsamkeit mit Gott, dem sonst höchstbewerteten Heiligenordo, dem Märtyrertum, ebenbürtig“. Dazu auch Ernst, Ulrich: „Der Körper des Asketen. Zur Theatralik von ,Heiligkeit‘ in legendarischen Texten von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit“. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 18. bis 20. März 1999. Hg. v. Klaus Ridder u. Otto Langer. Berlin 2002, S. 275–307, hier S. 284: „Durch das Entstehen der provozierend weltzugewandten, einen profanen Körperkult propagierenden, höfischen Kultur einerseits und dem Aufkommen dualistischer häretischer Strömungen andererseits wird im 12. Jahrhundert ein gesteigertes Interesse an Formen asketischen Rigorismus ausgelöst, das auch für die Gründung der neuen Reformorden und der sog. Eremitenbewegung mitverantwortlich ist“. Allgemein zum Eremiten als einem wesentlichen Motiv der mittelalterlichen Erzählliteratur vgl. Kennedy, Angus J.: „The Hermit’s Role in French Arthurian Romance (c. 1170–1530)“. In: Romania 95 (1974), S. 54–83. Im Blick auf mittelalterliche Literatur reflektiert das Konzept der Schlüsselszenarien Eming, Jutta: „Die Maskierung von Emotionen in der Literatur des Spätmittelalters. ‚Florio und Biancefora‘ und ‚Euralius und Lucretia‘“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 183 (2005), S. 49–69, hier S. 59–69; Dies.: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts. Berlin [u. a.] 2006, S. 69f.: „Mit De Sousas Begriff des paradigm scenarios lassen sich Handlungskonstellationen in literarischen Texten als prototypisch oder paradigmatisch für emotionale Codes des Mittelalters auffassen. Literatur ist insofern eine soziale Praktik zum Erwerb emotionaler Kompetenzen. Unter dieser Voraussetzung und mit aller gebotener Vorsicht wäre es also möglich, Hypothesen über Emotionen in historischen Epochen zu bilden“. Für die neuere Literatur vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005, S. 46: „Die Bestimmung der Schlüsselszenarien beleuchtet die Entstehungsbedingungen eines von einem bestimmten Affekt geprägten literarischen Textes.“ […] „Mit Hilfe der Kategorie des Schlüsselszenarios können wir grundsätzlich jeden literarischen Text darauf hin befragen, ob dessen prägende affektuelle Stimmung biographisch oder kulturell vermittelt ist“ (S. 47). Kritik am Konzept der Schlüsselszenarien übt Kolesch, Dorisch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt a. M., New York 2006, S. 36: De Sousas Modell der Schlüsselszenarien orientiere sich zu sehr am ,Modell der Schrift- und Textkultur‘. Um die Einengung auf sprachliche Prozesse zu vermei-
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Einfluss auf die Wahrnehmung von Scham und Schamenthobenheit; sie akzentuieren darüber hinaus Kontexte, in denen beide Phänomene reflektiert werden. In den eingangs skizzierten zentralen Szenen der höfischen Romane Chrétiens kommen Scham und Schamenthobenheit insbesondere dann in den Blick, wenn gesellschaftliche Normerwartungen und individuelle Dispositionen aufeinander treffen; im Prosa-Lancelot werden sie zudem in Verbindung gebracht mit den theologischen Kategorien Sünde, Schuld und Buße. Exemplarisch soll nun eine Deutung von Situationen der Scham und der Schamenthobenheit des Protagonisten im Lancelot-Roman10 versucht werden. Die Grundannahme besteht dabei darin, dass Einzelepisoden im Prosa-Lancelot, vielleicht sogar wesentliche Teile der strukturellen Fügung des gesamten Werkes, auf literarische und religiöse Schlüsselszenarien hin durchsichtig sind. Die genannten Szenen werden im Rezeptionsprozess assoziiert, sie gehören zum religiösen und literarischen Grundlagenwissen des Lesers über Scham und Schamenthobenheit. Ein wesentliches Kennzeichen Lancelots besteht in seinem Pendeln zwischen Scham und Schamenthobenheit, d. h. in bestimmten Situationen zeigt er eine fast übertriebene, in anderen fehlt ihm die zu erwartende Scham.11 Die Analyse einiger signifikanter Situationen im ersten Roman-
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den, möchte sie daher „von einer theatralen Struktur emotionaler Prozesse spreche[n]“. „Schlüsselszenarien wären damit theatrale Szenen, die kurzzeitig eine bestimmte Konfiguration von Erfahrungen, Verhaltensweisen, Normen, Traditionen und Werten in einem anschaulichen Tableau vivant inkorporieren. In Schlüsselszenarien werden Emotionen exponiert; sie werden so einsehbar, wahrnehmbar und nachahmbar. Gleichzeitig aber können sie dadurch auch der Kritik oder gar Parodie ausgesetzt werden und möglichen Veränderungs- und Historisierungsprozessen unterliegen“ (S. 35); vgl. auch Turk, Horst: „Schlüsselszenarien. Paradigmen im Reflex literarischen und interkulturellen Verstehens“. In: Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Hg. v. Doris Bachmann-Medick. Berlin 1997, S. 281–307. Horst Turk schwebt eine „kontrastive inner- und interkulturelle Analyse“ vor (S. 283). Der Ausgangspunkt dieser Analyse sind Schlüsselszenarien: „Szenarien, die bestätigend oder widerlegend kulturelle Paradigmen umsetzen“ (S. 283). Ausgaben: Lancelot. Roman en prose du XIIIe siècle. Éd. critique par Alexandre Micha, I–IX. Genève 1978–1983 [zitiert n. Bd., Kap. u. Abschn.]. – La Queste del Saint Graal. Roman du XIIIe siècle. Hg. v. Albert Pauphilet. Paris 1923 [zit. n. Seite u. Zeile]. – La Mort le Roi Artu. Roman du XIIIe siècle. Hg. v. Jean Frappier. Genève 1964 [zit. n. Abschn. u. Zeile]. – Prosalancelot. Nach der Heidelberger HS Cod. Pal. germ. 147. Hg. v. Reinhold Kluge, ergänzt durch die HS Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., komm. u. hg. v. Hans-Hugo Steinhoff. Frankfurt a. M. 1995, 2003, 2004 [zit. als Steinhoff I, II: Lancelot und Ginover, Bd. I, II; Steinhoff III, IV: Lancelot und der Gral, Bd. I, II; Steinhoff V: Die Suche nach dem Gral und Der Tod des Königs Artus]. Zur Darstellung von Scham im Prosa-Lancelot vgl. Freytag, Wiebke: „‚Mundus fallax‘, Affekt und Recht oder exemplarisches Erzählen im Prosa-Lancelot“. In: Wolfram Studien 9 (1986), S. 134–194, insbesondere S. 151–154 u. S. 161; vgl. ebenso Klinger, Judith: Der
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teil, im Lancelot propre, will zunächst Auslöser von Scham bzw. Gründe für das Ausbleiben von Schamreaktionen herausarbeiten (Abschn. 1 u. 2). Darüber hinaus ist danach zu fragen, wie die Einbindung der Figur in einen religiösen Kontext, die Gralswelt, zur Umbesetzung auch der Rede über Scham führt. In der Gralssuche rekurriert der Prosa-Lancelot intensiv auf die biblische Erzählung vom Sündenfall und die Denkform des eremitisch-asketischen Lebens. Scham und Schamlosigkeit werden hier auf eine grundsätzliche Weise zum Thema, und das Handeln der Protagonisten wird in Beziehung zu diesen Schlüsselszenarien gesetzt (Abschn. 3). Lancelots Rückkehr zum Artushof und die Wiederaufnahme der Minnebeziehung zu Ginover in der Mort Artu haben Züge einer zerstörerischen Schamlosigkeit und setzen die zum Untergang des Artusreiches führende Dynamik in Gang. Doch Lancelot gibt Ginover schließlich auf und verlässt den Artushof. Um die Konflikte der Artusritter zu entschärfen, überschreitet er individuelle Schamgrenzen, scheitert jedoch. Sein Leben endet nach dem Tode Ginovers und dem Untergang des Artusreiches in einem Zustand irdischer Schamenthobenheit: Er lebt seine letzten Jahre als Eremit. Dieses Ende ist nicht als Element des Niedergangs der Artuskultur aufzufassen, sondern als individueller Weg des Heils, als Aufstiegsbewegung zu unbeschädigtem, paradiesischem Leben nach dem Tode (Abschn. 4).
1. Scham: Lancelots Distanz zur Gesellschaft Von seiner königlichen Abstammung weiß Lancelot zunächst nichts, positiviert die bestehende Möglichkeit nichtadliger Herkunft jedoch auf eine radikale Weise durch die Selbstzuschreibung von innerem Adel.12 Das Stigma der unsicheren Herkunft verwandelt sich in ihm zur Gewissheit
mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im Prosa-Lancelot. München 2001, insbesondere S. 31, 133, 405f., 417f. 12 Lancelots Reflexionen über seine adlige Herkunft – angestoßen durch die Frau vom See – führen ihn zu der Frage nach dem Ursprung des Adels insgesamt, die dann in der Ritterlehre der Frau vom See wieder aufgenommen wird: „Und han auch hören sagen das eynes vatter kint und eyner mutter die einen edeler sint dann die andern. Das enweiß ich nicht wo von das kum: es were dann als viel, ob ein kint byderwer were dann das ander und húbscher und me mit den wapen thet, das er sich da mit veradelte. Als viel wil ich uch fúrwert sagen: mag hohes hercz den man edel gemachen, so sag ich uch furware das ich der edelsten eyner bin der gesin mag“ (Steinhoff I, 264, 16–23; Micha VII, 15a, 32). Wenn er sich hier auf die Ureltern bezieht („das eynes vatter kint und eyner mutter“; „que d’un homme et d’une feme sont issus toutes gens“), dann ist auch der Sündenfall mitgedacht.
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der eigenen Größe und Besonderheit. Herrschaftsverlust ist ihm nicht Quelle von Trauer und Klage, sondern Möglichkeit zu Rittertaten und Ruhm.13 Den Übergang zwischen dem Abschluss seiner Erziehung im Reich der Frau vom See und dem Eintritt in die Artuswelt bezeichnet die Ritterlehre der Frau vom See, die Lancelot über die Tugenden und Pflichten sowie über die Geschichte der Entstehung des Rittertums in Kenntnis setzt. Lancelots Aufbruch aus einem idyllischen Anfangszustand in eine herrschaftliche Ordnung wird dadurch symbolisch in Beziehung gesetzt zu der in der Ritterlehre durchscheinenden Idee der zeitgenössischen politischen Theorie (die an Vorstellungen der spätantiken Kirchenväter anknüpft), dass nach einem paradiesischen Zustand mit allgemeiner Freiheit und Gemeinbesitz ohne staatlichen Zwang unter den infolge des Sündenfalls verderbten Menschen notwendigerweise Unfreiheit, abgegrenzte Eigentumsrechte und staatliche Herrschaft aufkamen.14
In der Ritterlehre wird die Frage nach der ursprünglichen Freiheit oder Gleichheit der Menschen zu der nach der Legitimität erblicher Adelsherrschaft zugespitzt. Der französische Autor des Lancelot propre erwähnt den Sündenfall nicht explizit, spricht wohl aber davon, dass [w]ir hetten allesampt einen vatter und ein můtter von allererst; wann da nyt und haß begund zu wahsen und gewalt begund vor das recht zu gan, zu den zyten waren alle lút glich herre und glich edel. Da da kranck lút nicht kunden genesen vor den starcken, da machten sie under yn das man den krancken und den armen solt geben riechtere und schirmer, die sie zu recht solten halten vor allen den, die yn gewalt deten […] (Steinhoff I, 332, 10–17; Micha VII, 21a, 10).
Zu dieser Schutzfunktion wurden die Stärksten, die Schönsten und die Tugendreichsten ausgewählt. Ritterschaft entwickelt sich also nach dem Sündenfall aus der Notwendigkeit, unter den Menschen Frieden zu schaffen. Besonders Qualifizierten wurden Schutzaufgaben übertragen, daraus 13
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Zu Lancelots Selbstbild als ‚armer Ritter‘ vgl. Klinger: Der mißratene Ritter, S. 139f.; Knapp, Fritz Peter: Chevalier errant und fin’amour. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten. Studien zum Lancelot en prose, Moriz von Craûn, zur Krone Heinrichs von dem Türlin, zu Werken des Strickers und zum Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. Passau 1986, S. 14–17; zu seiner düsteren Selbsteinschätzung in der Gefangenschaft vgl. Klinger: Der mißratene Ritter, S. 256. „Erst im jenseitigen Himmelreich schien eine […] vollkommene […] Erneuerung jenes ursprünglichen Idealzustandes möglich“, Töpfer, Bernhard: Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart 1999, S. 567; vgl. auch Stürner, Wolfgang: Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken. Sigmaringen 1987.
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erwuchs die Privilegierung des adligen Ritterstandes. Allein den Rittern obliegt in dieser Sicht die Gewährleistung der Sicherheit und der Schutz der Kirche, nicht etwa einem König. Daher soll ein Ritter „me schand forchten dann den dot“ (Steinhoff I, 334, 4; Micha VII, 21a, 11). Der Rückblick auf die Geschichte des Rittertums stellt Lancelots Aufbruch in die Artuswelt in die Spannung zwischen den irreversiblen Folgen des Sündenfalls (Streitigkeiten, Krieg u. a.), dem Versuch, diese defizitäre Ordnung durch das Wirken des adligen Ritterstandes zu stabilisieren und der Hoffnung auf Wiedergewinnung des ursprünglichen Idealzustandes nach dem Weltgericht hinein. Schon hier wird deutlich, dass eine Annäherung an den paradiesischen Urzustand der Menschen für den Autor des Lancelot propre nicht durch den Aufbau weltlich-politischer Ordnung und ‚staatlicher‘ Machtausübung denkbar ist. An dieser Position richtet sich Lancelots weiteres Handeln aus. Das Idealkonzept des adligen Ritterstandes verhindert seine vollständige Integration in die Artusgesellschaft. Lancelot verweigert, eine geburtsadlige Identität zu entwickeln und eine eigene Herrschaft aufzubauen. Er entzieht sich weitgehend den Anforderungen des Artushofes, der ihn – gerade in Abwesenheit – zu seiner Leitfigur stilisiert.15 Dies beginnt mit seiner Ritterweihe, deren Ablauf er dem Hof nur teilweise überlässt. In der Ritter-Investitur manifestiert und intensiviert sich „die Dissoziierung der Beziehungen des Helden zu Artus und zu Ginover“; hier ist „das verhängnisvolle Ehebruchdreieck angelegt, das zuletzt Auslöser, nicht Grund der finalen Katastrophe sein wird“.16 In der Anfangsphase der Liebe ist diese Spannung in Schamreaktionen Lancelots präsent, die sich als Reflex von Liebesaffiziertheit, aber auch als Bewusstsein von Grenzüberschreitung und Normverletzung verstehen lassen.17 Bei ihrer ersten Begegnung „besah yn [Ginover] sere und lang“, Lancelot betrachtet sie ebenfalls ausgiebig, „wann das nymant geprúfen mocht, und wundert yn sere wie die frauw so schön mocht gesyn“ (Steinhoff I, 366, 9–10; Micha VII, 22a, 22). Beide sind überwältigt von der Schönheit des anderen, die getauschten Blicke sind erotische, die Situation ist als Beginn der Liebe kenntlich. Nach der Ritterweihe richtet Lancelot es so ein, dass er allein von der Königin in ihrem Zimmer Abschied neh15 16 17
Dazu Ridder, Klaus: „Stigma und Charisma. Lancelot als Leitfigur im mittelhochdeutschen Prosaroman“. In: Zeitschrift für Germanistik Neue Folge 3 (2009), S. 522–539. Huber, Christoph: „Von der ‚Gral-Queste‘ zum ‚Tod des Königs Artus‘. Zum Einheitsproblem des ‚Prosa-Lancelot‘“. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 21–38, hier S. 24. Als Lancelot am Hof zum ersten Mal auftritt, ist dieser von seiner Schönheit fasziniert. Man spricht über ihn, bis er – wie Enite in vergleichbarer Situation (VV. 1708–1735) – in Scham versinkt: „So viel sprach myn herre Ywan und syn gesellen von dem knappen das sich der knapp schamt.“ (Steinhoff I, 360, 35f.; Micha VII, 22a, 16).
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men kann: Er kniet vor ihr nieder, betrachtet sie solange wie irgend möglich; dann setzt eine Schamreaktion ein, und er muss den Blick senken: Der knapp wart der koniginne geware und knyte vor ir nyder und besah sie sere gútlich als lang als er úmmer getorst. Da er sich begůnd schamen, er schlug syn augen off die erden und er schampt sich fast sere. (Steinhoff I, 380, 32–6; Micha VII, 22a, 42).
Auch das Liebesgeständnis Lancelots, das unter der Regie von Galahot stattfindet, ist von Schamreaktionen begleitet. Galahot kündigt Ginover Lancelot als den besten Ritter der Welt an. Dieser tritt vor die Königin und zittert so sere das er die konigin kam mocht gegrußen, und wart miteinander bleich. […] Er slug die augen off jhen erden als der sich sere schampte; da wúste die konigin zuhant wol das ers was. (Steinhoff I, 784, 15–21; Micha VIII, 52a, 101).
Ginover erkennt ihn an seiner Scham. Sie rekapituliert dann in Fragen und Antworten die Taten Lancelots und enthüllt schließlich Galahot den vollen Namen des Ritters. Lancelot „schamptes sichs fast sere“ (Steinhoff I, 802, 20; Micha VIII, 52a, 116 App. zu Z.9). Er gesteht Ginover seine Liebe; alle seine Taten habe er um ihretwillen vollbracht. Die Szene endet mit dem ersten Kuss der beiden unter Galahots Anleitung.18 Die Motivreihe lässt sich bis zur ersten Liebesnacht des Paares weiterverfolgen. Die Frau von Maloaut berührt Lancelot am folgenden Morgen am Kinn – eine „Gebärde der Vertraulichkeit“:19 „des schampt sich Lancelot ußermaßen sere, und die konigin prúfet es“ (Steinhoff I, 1238, 27f.; Micha VIII, 70a, 36). Dass die Reaktion Lancelots nicht nur als Überblendung von Liebes- durch Öffentlichkeitsscham zu werten ist, unterstreicht ein Kommentar zu dieser Stelle, der sich nur in zwei französischen Handschriften findet: „Sire chevalier, or n’i faut que la courone que vos soiez rois“ („Herr Ritter, nun fehlt Euch nur die Krone, um König zu sein“).20 Die Unterstellung von Herrschaftsbegierde löst Lancelots Scham aus. Scham ist hier daher auch Zeichen des gebrochenen Rechts und der gesellschaftlichen Isolierung. Lancelots Schamreaktionen im ersten Werkteil verweisen jedoch nicht nur auf die Liebesbindung zu Ginover, sondern auch auf das gestörte
18 Zu dieser Szene vgl. Klinger: Der mißratene Ritter, S. 131. 19 Steinhoff II, 953 (Kommentar zu I, 1238, 27f.). 20 Cornelia Reil hat darauf aufmerksam gemacht. Vgl. Reil, Cornelia: Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. Tübingen 1996, S. 125 (Micha VIII, 70a, 36; Übersetzung v. C. Reil).
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Verhältnis zur Artusgemeinschaft. In seinem Selbstbild hat das Prinzip der Vergesellschaftung des Artusritters durch den Hof ebenso wenig Platz wie die Identifikation mit seinem königlichen Namen, das Rühmen der eigenen Taten oder das Streben nach eigener Herrschaft.21 Das Bewusstsein von Differenz löst in der Konfrontation mit gesellschaftlichen Ansprüchen ebenfalls Schamreaktionen aus. Dieses Sich-Schämen-Müssen bezeichnet die Unvereinbarkeit von Lancelots Selbstbild mit den Erwartungen der Gesellschaft. Was im Lancelot propre als Entstehungsgeschichte der absoluten Liebe zwischen Lancelot und Ginover erscheint, ist zugleich Schilderung des Zerfalls der Bindung an den Artushof und der gesellschaftlichen Ordnung. Die Geschichte von Lancelots Aufstieg zur Leitfigur des Hofes ist gleichzeitig die der gestörten Gesellschaftsbeziehung und der unerlaubten Begierde. Zwar bietet der Text zunächst (im Lancelot propre) keine heilsgeschichtliche Deutung der Liebeshandlung; doch erotischer Blick, Begehren und Scham sowie Gesetzesbruch und (unterstellte) Herrschaftsbegierde lassen unter Umständen schon hier an das Sündenfallszenarium denken. Der Sündenfall gab Kategorien an die Hand, um im glänzenden Aufstieg des Protagonisten-Paares auch eine Abstiegsbewegung, eine zunehmende Heillosigkeit, zu sehen. Lancelots Scham, so lässt sich festhalten, resultiert im Lancelot propre aus seiner Liebesaffiziertheit, aber auch aus einer Distanz zur Gesellschaft, die nicht temporär – wie in anderen Artusromanen –, sondern fundamental und nicht überbrückbar ist. Ziel des aus dieser Scham erwachsenden Handelns ist daher auch nicht die Wiederherstellung einer (vermeintlich und real) beschädigten Ehre. Dies ist der wesentliche Unterschied zur
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Sogar das „berechtigte Lob anderer ruft schame hervor“ (Steinhoff I, 1278, 16f.; II, 478, 7–23) und „verkehrt sich in [seiner] Wahrnehmung zur schande“ (Klinger: Der mißratene Ritter, S. 128). Die Nennung des Namens vor Gawan als dem Repräsentanten des Artushofes löst daher eine gravierende Scham-Zorn-Ambivalenz aus: „»Gut herre«, sprach myn herre Gawan, »sagt mir, wer sint ir?« »Herre«, sprach er, »ir mögent wol sehen das ich ein ritter bin.« »Das ist nemlich ware das ir der best ritter von der welt sint. Ich bit uch durch alle fruntschafft das ir mir uwern namen sagent.« »Ich enwil sin uch nit sagen«, sprach er. […] »Herre«, sprach die jungfrauw zu mym herren Gawan, »ich siehe wol das ern uch nit sagen wil; ich wil yn uch sagen, ich wurd anders meyneydig«. »Herre«, sprach sie, »er heißt Lancelot vom Lac, des konig Bannes sůn von Bonewig. […]« Myn herre Gawan unmůtiget sere wiedder yn und fragt yn ob es war were das im die jungfrauwe gesagt hett. Der ritter wart roter dann ein fuer under synen augen und besah die jungfrauwe sere zornlich. »Herre«, sprach er, »die jungfrauw hat yren willen gesprochen, sie mocht wol schwigen, ducht es sie gut. Ich wil darzu nit vil reden ob es war sy oder nit.«“ (Steinhoff I, 592, 7–27; Micha VII, 41a, 11–12; zu dieser Textstelle Klinger: Der mißratene Ritter, S. 120f.; vgl. auch Steinhoff I, 1220, 6–24; dazu Klinger: Der mißratene Ritter, S. 124.
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Scham-Konzeption im Erec, den der Leser – weil er die initiale Schlüsselszene in Chrétiens Roman vor Augen hat – umso deutlicher erkennen kann.
2. Schamenthobenheit: Lancelots Liebe zu Ginover Lancelots Liebe zur Artuskönigin ist absolut; sogar seine Ritterschaft bindet er radikal an Ginover. Die Position, die im Scham-Ehre-Konzept des frühen Artusromans die Gesellschaft einnimmt, fällt hier auf Ginover zurück.22 Auf der einen Seite bedeutet dies, dass jede reale oder vermeintliche Störung des Verhältnisses zu Ginover zu Schamreaktionen, zum Rückzug in die Anonymität, schließlich sogar zum Wahnsinn führt. Auf der anderen Seite ist Lancelot gegenüber Verletzungen seiner gesellschaftlichen Ehre, die aus der Liebesbindung resultieren, unempfindlich. In diesem Sinne kann man von Schamenthobenheit sprechen. Die aus Chrétiens Lancelot-Roman bekannte Karren-Episode ist der Höhepunkt dieser Erzähllinie. Lancelot unternimmt die Rettung der entführten Königin, kann sie jedoch zunächst nicht befreien, verfolgt aber die Entführer und trifft schließlich auf einen Zwerg, der einen Schandkarren lenkt.23 Der Zwerg verspricht ihm, dass er die Königin am folgenden Morgen sehen werde, wenn er sich auf den Karren setze.24 Lancelot steigt – im Unterschied zur entsprechenden Schlüsselszene bei Chrétien – ohne
22 Die Tatsache, dass bei Lancelot fast ausschließlich die Reflexion seines Verhaltens auf Ginover Schamreaktionen auslöst, macht deutlich, dass sie den Platz eingenommen hat, den normalerweise die Gesellschaft als normsetzende Instanz inne hat. Die ,Ordnungsfunktion‘ von Lancelots Schamempfinden bestätigt insofern nicht die Normen der Artusgesellschaft, sondern seine Fixierung auf Ginover. Zu dieser Perspektive vgl. Engelen, Eva-Maria: „Eine kurze Geschichte von ‚Zorn‘ und ‚Scham‘“. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 50. Hg. v. Christian Bermes, Ulrich Dierse u. Michael Erler. Hamburg 2008, S. 41–73. Engelen weist der Scham eine Ordnungsfunktion zu: „Scham ordnet die sozialen Beziehungen der Anerkennung: Wen achte ich? Wessen Urteil ist mir etwas wert? […] Zusätzlich zu diesen Ordnungs[funktionen] […] kommen motivationale Funktionen für die Handlungsbereitschaft hinzu“ (S. 50f.). Damit stellt der Roman „den Herrschaftsanspruch des Artushofs als dem normativen Zentrum der Romanwelt von Grund auf in Frage“; Klinger: Der mißratene Ritter, S. 135. 23 Derjenige, der den Schandkarren besteigt, verliert jede Ehre: „Da was sitt, das kein man off eim karch geseßen hett, er hett in allen höfen sin ere darumb verlorn; und welchem man sin ere nemen wolt, den saczt man uff ein karch und furt yn durch die statt dannen er was, so hett er ummer me sin ere verlorn.“ (Steinhoff II, 328, 20–24; Micha III, 36, 24). 24 „Mit dem Sprung auf den Karren leistet Lancelot das, was der König verweigert hatte: für die Rettung der Königin die eigene Ehre auf Spiel zu setzen“ (Steinhoff II, 1009, Kommentar zu II, 328, 8–31).
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jedes Zögern auf den Karren. Gawan kommt hinzu und verweigert auf die auch an ihn gehende Aufforderung das Besteigen des Karrens, beklagt die Schande und Selbstentehrung Lancelots, bittet ihn, herabzusteigen. Doch Lancelot – Gawan erkennt ihn zunächst nicht – zeigt keine Scham und betont, dass er keine Schande durch den Karren habe.25 Wie weit sich für Lancelot der Fluchtpunkt der Scham verschoben hat und wie wenig Einsicht die Gesellschaft in seine Befindlichkeit hat, zeigt sich in folgender Szene. Als der Zwerg am nächsten Morgen Lancelot von einem Fenster aus die Königin, die von Meleagant weggeführt wird, zeigt, fällt dieser in Liebes-Trance und wäre ohne fremde Hilfe aus dem Fenster gestürzt. Gawan erkennt ihn jetzt und beschwört ihn, sich nicht selbst zu töten. Eine der beiden Frauen, die seinen Sturz aus dem Fenster verhinderten, wendet ein, „es könne ihm doch ebenso recht sein, wenn er stürbe, als wenn er noch länger in solcher Schande lebte wie jetzt“ (Übers. Steinhoff II, 339, 22–24). „Und Lancelot“, so heißt es im Text, „schampt sich ußermaßen sere das yn myn herre Gawan also funden hett“.26 Quelle der Scham Lancelots ist jedoch nicht die Karrenschande, sondern das vermeintliche Versagen gegenüber Ginover.27 Ginover verlangt von Lancelot aber auch explizite Treuebeweise, die in einem Verstoß gegen primäre ritterliche Normen bestehen und daher
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„»Ich höre wol«, sprach der geczwerg, »das du din ere lieber hast dann dißer stinckende ritter, der off dem karch lytt, umb das ich yn thú die konigin sehen.« »Das ist werlich schad«, sprach myn herre Gawan. »Ay edel ritter«, sprach er, »gent von dem karch ee dann uwer laster mer werde, und siczet uff das best roß das ich alhie han!« […] »Das duncket mich werlich groß schande«, sprach myn herre Gawan, »umb die groß biederbekeit die ir mich duncket haben, das ir uchselber so sere uneret«. »Der unere haben woll der hab es«, sprach Lancelot, »ich enwil ir nit«.“ (Steinhoff II, 330, 3–16; Micha III, 36, 25). Die sichtbare Schande, die Lancelot um der Liebe zur Königin willen auf sich nimmt, akzeptiert er nicht als persönliche Schuld. Indem er auf den Karren springt, setzt er sich über eine bestehende Norm hinweg und initiiert so eine gesellschaftliche Normumwertung: Das Zeichen der Schande, der Karren, ist am Schluss ein Symbol der Ehre, ein Symbol auch für Lancelot, den Karrenritter, für dessen Vermögen der Positivsetzung von vormals Negativem; dazu ausführlicher Ridder: „Stigma und Charisma“, S. 530–533. 26 „Er [= Lancelot] sah nach so er lengst mocht. Da er sie [= Ginover] nit lenger gesehen kunde, er bůckt so ferre ubers fenster das er uß gevallen were, ob myn herre Gawan darzu nit komen were noch die jungfrauwen, die yn mit gewalt inne dunsen. Und myn herre Gawan erkant yn zuhant und sprach das er durch got sichselben nit endotet. Da sprach die ein jungfrawe, das er im als mere dot möchte sin als das er lenger mit so großen schanden in der werlt lebete als er nu dete. »Werlich frauw«, sprach myn herre Gawan, »lebet er mit der werlt mit schanden, so ist auch in der werlt keyn ere!« Und Lancelot schampt sich ußermaßen sere da yn myn herre Gawan also funden hett“ (Steinhoff II, 338, 16–27; Micha III, 36, 36–37). 27 „ich han in dem pointe gewesen alle die ere in der werlt zu gewinnen; die han ich all verlorn mit selbes myn unbiederbekeit“; „car j’ai esté en point et en lieu de toutes honors conquerre et par ma malvaistié i ai failli.“ (Steinhoff II, 338, 30–32; Micha III, 36, 37).
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in hohem Grade einen Schamanlass darstellen. Im Turnier von Pomiglei beispielsweise vollbringt Lancelot solange außerordentliche Leistungen, bis die Königin ihm ausrichten lässt, er solle sich von jetzt an zurücknehmen.28 Dies wiederholt sich am folgenden Tag. Eine junge Frau kündigt Lancelot als den besten Ritter der Welt an. Er kämpft zunächst wieder überragend, verhält sich dann jedoch, auf Geheiß Ginovers, so schmählich wie am Tag zuvor. Die Jungfrau wird daraufhin „schamrot, das sie nicht ain wortt mehr redenn konntte“ (Steinhoff II 460, 36; Micha II, 41, 12). Es zeigt sich das gleiche Bild, wie in der Karrenepisode: Man schämt sich für Lancelots Versagen, Lancelot selbst zeigt jedoch keine Scham-Reaktion.29 Die Liebe zur Königin, so ist zu resümieren, treibt Lancelot einerseits zu außerordentlichen Rittertaten, verstärkt jedoch auch seine Distanz zur Artusgemeinschaft. Sie intensiviert zum Schutz des illegitimen Verhältnisses das Bemühen um Unerkanntheit und lässt jedes Streben nach feudaler Herrschaft als inadäquat erscheinen. Ebenso wie das Konzept des Herzensadels macht die Ginover-Liebe Lancelot situativ unempfindlich gegenüber den normativen Anforderungen der ritterlichen Gesellschaft. Scham-Reaktionen, aber auch das Ausbleiben der Scham-Emotion signalisieren im Lancelot propre ein Sich-Entfernen von gesellschaftlich-sozialer Idealität.
3. Scham und Schuld: Lancelots Sündenfall und Bußfahrt Während der Suche der Artusritter und Lancelots nach dem Gral im zweiten Werkteil des Prosa-Lancelot wird die ritterlich-höfische Ordnung durch ein religiös-spirituelles Normen- und Sinnsystem ersetzt. Der Text entfaltet theologische Konzeptionen und verarbeitet heilsgeschichtliche Themen in einem Umfang, der sich weit von zeitgenössischen Gralsromanen entfernt. Alle Ereignisse werden in einen heilsgeschichtlichen Rah-
28 „Allso hört er uff alle seine redlichait zu thun, unnd wann ain ritter gegen ime rannthe, so machte er sich auß dem wege unnd flohe ine. […] Dießer gestalltt hielte sich Lanntzelot, unnd alle die, so ine am morgenns für redlich gehalltten hetten, die schempten sich seinn“ (Steinhoff II 460, 10–17; Micha II, 41, 9–10). 29 Zu weiteren entsprechenden Textstellen vgl. Klinger: Der mißratene Ritter, S. 146. – Gawan selbst wird im Anschluss seines Besuches auf der Burg Corbenic auf einen Schandkarren gebunden, herumgefahren und mit Dreck beworfen (Steinhoff III, 174, 12–176, 5; Micha II, 66, 31–32). „Daß Gawan daraufhin die Stunde seiner Geburt verflucht, kann als Reaktion auf seine Schande und als Ausdruck seiner Scham gewertet werden“, Ehlert, Trude: „Normenkonstituierung und Normenwandel im Prosa-Lancelot“. In: Wolfram-Studien 9 (1986), S. 102–118, hier S. 113, A. 22.
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men eingebettet. Schlüsselszenarien religiöser Weltdeutung, insbesondere der Mythos von Sündenfall und Erlösung, fungieren in diesem Werkteil als Deutungshorizont des Erzählens. Ritterschaft und Liebe werden nun als Sünde und damit Auslösemoment von Scham und als Anlass zur Buße bewertet; Enthaltsamkeit und eremitisches Leben dagegen gelten als Weg zu Schamenthobenheit und Wiedergewinn paradiesischen Unversehrtseins. Die Gralssuche ersetzt das Modell von ritterlich-höfischer Scham, Schande und Ehre durch die religiösen Kategorien von Sünde, Schuld und Buße.30 Ein Einsiedler sieht Lancelot bereits dadurch „in dotsunde“ gefallen, dass er Ritter geworden sei (Steinhoff V, 244, 29f.; Pauphilet 123, 21). Er konstruiert eine Biographie Lancelots, die von der im ersten Werkteil erzählten deutlich abweicht. Lancelot habe sich zunächst in einem Zustand der Vollkommenheit und Tugendhaftigkeit befunden. Irgendein Anlass zur Scham bestand hier nicht. 31 Nachdem er die Ritterwürde empfangen habe, reizte seine Reinheit und Vollkommenheit jedoch den Teufel dazu, ihn zu versuchen.32 In dieser Sicht ist dann Ginover ein Werkzeug des
30 Das literarische Geschehen im Prosa-Lancelot soll hier nicht in der vereinfachenden Perspektive eines Wandels von der Scham- zur Schuldkultur interpretiert werden: „Die Erzählforschung bezieht diese antik-mittelalterliche Parallelentwicklung gern auf das Schema: von der Schamkultur der Heldenepik zur Schuldkultur des Romans. Homer und das Rolandslied lassen sich in der Tat unter dem Gesichtspunkt der frühzeitlichen Fehltritt-hamartia vergleichen, die hellenistischen Aretalogien und der Grals-Zyklus unter demjenigen spätzeitlicher Schuld und Heilssuche.“; v. Moos: „Einleitung“. In: Der Fehltritt, S. 12. 31 „Wann ee du ritter wůrdest, da hettest du in dir beherbergt alle gůte tugende also natúrlich das ich nit enwúste keynen jungen man der dir möchte gelichen. Wann zu aller erst hettestu in dir beherbergt reinikeit also volkúmenlichen das du sie nye gebrochen hettest mit willen noch mit wercken“ (Steinhoff V, 244, 31–36; Pauphilet 123, 22–27). – Zu den hier Lancelot vom Einsiedler zugeschriebenen christlichen Tugenden (Reinheit, Demut, Geduld, Gerechtigkeit, Freigiebigkeit), die deutlich von den ritterlich-höfischen Tugenden des Protagonisten im ersten Werkteil abweichen, vgl. Steinhoff V, 1115 (Kommentar zu V, 244, 31–248, 13). Zum Motiv des Eremiten im Prosa-Lancelot vgl. insbesondere Fromm, Hans: „Lancelot und die Einsiedler“. In: Ders., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 219–234. Unzeitig-Herzog, Monika: Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im ‚Prosalancelot‘. Heidelberg 1990. Wolfzettel, Friedrich: Ein Evangelium für Ritter: ‚La Queste del Saint Graal‘ und die ‚Estoire dou Graal‘ von Robert de Boron. In: Speculum Medii Aevi. Zeitschrift für Geschichte und Literatur des Mittelalters. Revue d’Histoire et de Littérature médiévales 3 (1997), S. 53–64. Zur leitmotivischen Funktion des Eremiten in der Queste vgl. Jonin, Pierre: „Des premiers ermites à ceux de la ‚Queste del Saint Graal‘“. In: Annales de la Faculté des Lettres et Sciences humaines d’Aix-en-Provence 44 (1968), S. 293–350. 32 „Und da gedacht er in mancherley wyse wie er dich möcht betriegen, als lang biß das yne zu letst beducht das er dich mit wybern vil balder mocht bringen in dotsúnde dann mit andern dingen. Und sprach das der erst vatter wart durch wyber willen betrogen, und Salomon, der wyste von allen irdenischen mannen, und Sampson, der da hett men
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Satans, die Lancelot auf den „weg von unkuscheit“ (Steinhoff V, 250, 5f.; Pauphilet 125, 33–126,1) lockt, der daraufhin ebenfalls zu einem „diener des tufels“ (Steinhoff V, 250, 24; Pauphilet 126, 17) mutiert und seine Tugenden vergisst. Gott hatte in Lancelot jedoch so viel Gutes und so viel Vollkommenheit hineingelegt, so der Eremit, dass dieser die von ihm in der Welt bekannten großen Rittertaten dennoch vollbringen konnte. Hätte er all seine ursprünglichen Tugenden gewahrt, hätte er „vollendet die abentúr von dem heiligen gral“ (Steinhoff V, 252, 4f.; Pauphilet 126, 29f.). Am Ende der Rede des Eremiten weint Lancelot,33 schämt sich seines früheren Lebens, sagt ihm vollkommen ab (Steinhoff V, 254, 35–256, 3; Pauphilet 128, 27–30) und verspricht Umkehr. Lancelot nimmt die ihm auferlegte Buße auf sich und zieht im härenen Hemd weiter.34 Es ist unschwer zu erkennen, dass das heilsgeschichtliche Modell für „diese Reformulierung der Lancelot-Vita im heilsgeschichtlichen Drama [vom] Sündenfall“35 besteht. Über die ‚Scham/Schande/Ehre-Dialektik‘ des Lancelot propre schiebt sich temporär das religiöse Deutungsmodell der Sünde, Schuld und Buße. Man kann aber nicht von einer Ablösung des einen durch das andere, sondern nur von einer temporären Überlagerung beider Konzeptionen sprechen. Auch Sünde und Schuld haben allerdings ihr soziales Korrelat in der Schande, die Lancelot durchaus auch auf seiner Bußfahrt erfährt. In einem Turnier schlägt er sich auf die Seite der Ritter in schwarzen Rüstungen, als diese zu unterliegen drohen. Doch jetzt muss er die erste Niederlage seines Lebens hinnehmen. Tiefe Scham drückt sich in dem Bewusstsein aus, dass er „nye also geuneret wer worden und wer nye in keynen torney komen, er hett den briß gehabt und were auch nye men gefangen worden in keynem torney“ (Steinhoff V, 280, 5–8; Pauphilet 141, 13–16). In einer weiteren Reflexion führt er sein Versagen dann selbst auf seine Sündhaftigkeit zurück.36 stercke dann keyn man, und Absolon, der da was Davids son, der schönst man von der welt“ (Steinhoff V, 248, 23–30; Pauphilet 125, 18–23). 33 „Lanczelot, der da weynte also ernstlich als ob er sech alle die welt dott ligen vor im, als der da was als betrubt das er nit enwúste das er werden solt“ (Steinhoff V, 254, 23–25; Pauphilet 128, 16–19). 34 Huber, Christoph: „Galaad als Erlöser. Zur heilsgeschichtlichen Struktur im ‚Prosalancelot‘“. In: DVjs 82 (2008), S. 205–219, hier S. 218, A. 41, macht darauf aufmerksam, dass ,erste Andeutungen‘ der Bewertung der Lancelot-Vita durch den Einsiedler sich „schon am Ende des Galahot-Teils in den Kommentaren des Helies von Toledo“ finden (Steinhoff II, 62, 11–76, 35; Micha I, 4,28–5,1). 35 Klinger: Der mißratene Ritter, S. 393. 36 „Da er das also bedacht, da begund er ußer maßen großen ruwen zu han und sprach, nůn sehe er wol das er wer merer súnder dann keyn ander, wann sin sunde und sin böse abentúre hab im benomen das gesiecht von den augen und die macht von dem libe“
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Lancelot kommt schließlich an das Ende seiner Bußfahrt, in eine „Situation buchstäblicher Auswegslosigkeit“:37 Er erreicht eine von Felsen, Wildnis und Wasser eingeschlossene Engstelle und nur kraft göttlicher Gnade vermag er, seinen Weg fortzusetzen. Die Erzählung schwenkt jetzt für längere Zeit zunächst auf Gawan (Steinhoff V, 290, 17ff.; Pauphilet 146, 33ff.) und dann auf die berufenen Gralsucher Bohort, Parzival und Galaad über. Parzivals Schwester führt Galaad zu einem von König Salomon gefertigten Schiff. In einer großen Rückblende wird die Geschichte von Salomons Schiff erzählt, das sich als ein „sichtbar-konkretes Bindeglied“ (Steinhoff V, 1135, Kommentar zu V, 396, 7f.) zwischen der christlichen Heilsgeschichte und der im Roman erzählten Geschichte Galaads erweist. In der hier entworfenen genealogischen Abfolge erscheint das Wirken Galaads als Fluchtpunkt eines heilsgeschichtlichen Geschehens, das mit dem Sündenfall Adams und Evas beginnt, sich mit dem Bau des Schiffes durch Salomo fortsetzt und mit Galaads ritterlichem Erlösungshandeln in der Erzählgegenwart endet.38 Das eingefügte Schlüsselszenarium vom Sündenfall bringt die Genese der Scham als Folge der Sünde in den Bildern der Genesis in Erinnerung; die Autoren setzen jedoch deutlich eigene Schwerpunkte.39 Eva bricht die todbringende Frucht auf Anraten des Teufels und „da verwandelte sich alle ir wesen“.40 Die mit dem Verlust des Paradieses eingehandelte Sterblichkeit führt dann zum Gebot Gottes, Nachkommen zu zeugen.41
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(Steinhoff V, 280, 9–13; Pauphilet 141, 16–19). Zornig und „unmůtig“ (Steinhoff V, 280, 19; Pauphilet 141, 24f.) reitet er weiter. Steinhoff V, S. 1113 (Einleitung zum Stellenkommentar über ‚Lancelots Bußfahrt‘). Salomo wird von einer Stimme in Kenntnis gesetzt, dass sein Geschlecht erst mit Galaad enden werde (Steinhoff V, 432, 9–15; Pauphilet 221, 9–13) und dies veranlasst ihn zum Bau des Schiffes, mit dem die auserwählten Gralssucher später an den Ort der Gralsschau gelangen. Zum Sündenfall im Prosa-Lancelot vgl. Casier Quinn, Esther: „The Quest of Seth, Solomon’s Ship and the Grail“. In: Traditio. Studies in Ancient and Medieval History, Thought, and Religion 21 (1965), S. 185–222; vgl. auch Steinhoff V, 1140–1142, Kommentar zu V, 414, 14–442, 2. „Wann da warn sie geschaffen als ein geistlich ding alwegen zu leben, were das gewest das sie sich hetten gehalten on sunde. Und da sie sich darnach gesahen, da sahen sie sich nacket, da dackten sie ir schemde und schamten sich das ein vor dem andern. Als viel forchten sie sich yczu vor yrer missetat, und bedeckte yglichs syn schemde mit syn zweyn henden“ (Steinhoff V, 414, 37–416, 6; Pauphilet 211, 23–29). Für Wiebke Freytag („Mundus fallax“, S. 182) impliziert der Text hier die Auffassung, dass „Affekte den Menschen erst seit dem Sündenfall heimsuchen als Folge seiner Verwandlung […] durch die Sünde“ (mit weiteren Belegen). Auffallend ist, dass die Aufforderung sich zu vereinigen und Nachkommen zu zeugen in der Darstellung des Prosa-Lancelots erst nach dem Sündenfall an die Menschen (Steinhoff V, 421, 2–5; Pauphilet 214, 2–6), in der Genesis (1,28) jedoch direkt nach der Erschaffung des Menschen erfolgt. Die Betonung der Geistlichkeit der Menschen vor
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Die Scham verhindert zunächst die Vereinigung, doch Gott schickt eine Dunkelheit, um das Schamgefühl zu überlisten.42 Im Prosa-Lancelot wird daraufhin Abel, der Gerechte, gezeugt, während in der Bibel der Brudermörder Kain der Erstgeborene ist.43 Scham ist also das problematische Erbe des Sündenfalls, ihre temporäre Überwindung (Schamenthobenheit) aber auch notwendige Bedingung für den Erhalt des Menschengeschlechts. Das von Gott gesandte Mittel gegen die Scham, die Beeinträchtigung der Wahrnehmung, lässt die Zeugung Galaads assoziieren. Lancelot zeugt mit der Tochter des Gralskönigs die Erlösergestalt Galaad, indem er mit einer Vision Ginovers über die wahre Identität seiner Partnerin getäuscht wird. So erscheint sogar das Verhältnis von Lancelot und Ginover auf eine bestimmte Weise legitimiert: Wie Abel wird Galaad mit dem Willen Gottes in Dunkelheit und Verneblung gezeugt.44 Die Autoren des Prosa-Lancelot legen es wohl
dem Sündenfall ist eine Hinzufügung im Prosa-Lancelot, welche so in der Genesis nicht vorgeprägt ist. 42 „Da waren sie als großer schemde das sie nit mochten ein also schemlich hantwerck an gan. Wann der man schamt sich also sere als das wip, und sie wústen nit wie sie möchten úbertreten den rathe unsers herren. […] Da gesahe unser herre ir schemde, und es erbarmet yne, wann umb das das syn gebott nit mocht werden úbergangen […] so sante er yne eynen großen drost zu irer schemde. Wann es kam under sie zwey ein finster wolcken als groß das ir eins das ander nit gesehen kunde. […] Da rieff das ein dem andern und tasten sich sunder sehen. Und darumb das alle ding wúrden gethan nach dem willen unsers herren, darumb můst es syn das sie mit einander zu schaffen hetten, also das es yne der wärlich vatter hett gebotten. […] Also wart Abel der Gerechte enpfangen under dem baum off den frytag, als ir gehört hant“ (Steinhoff V, 420, 31–422, 20; Pauphilet 214, 31–215, 24). 43 In der Darstellung des Sündenfalls im Prosa-Lancelot wird die Körperlichkeit und die Sexualität (und im Zusammenhang damit auch die Körperscham) stärker als in der Genesis betont, vor allem aber deutlich negativer bewertet. Nicht die Erkenntnis der Entfremdung von sich selbst und vom Gegenüber, nicht die Auflösung der Harmonie, ist im Roman Quelle der Scham, sondern rein die Entdeckung der eigenen Körperlichkeit. Sexualität wird ausschließlich als Folge der ,Sündenfallkatastrophe‘ dargestellt – und daher negativ bewertet. Körperlichkeit und Sexualität ziehen logischerweise und (der Darstellung nach) das Schamgefühl nach sich. Allerdings wird im Prosa-Lancelot durch die ,Verdunklungsepisode‘ auch deutlich gemacht, dass Gott seinen Heilsplan trotzdem weiterverfolgt und deshalb auch in das sündhafte Leben eingreift, um die Scham für einen Moment auszusetzen. Daher kann trotz Sündenfall und Sündhaftigkeit der Menschen ein Mensch mit einer heilsgeschichtlichen Bedeutung und Aufgabe gezeugt werden (Abel – Galaad). 44 Die Zeugung Galaads und die Sündenfall-Erzählung, die in den Exkurs über Salomons Schiff inseriert ist, versteht Christoph Huber als Kernelemente im Spannungsfeld von säkularen und geistlichen Sinnbildungsmodellen im Prosaroman: „Der heroische Heilsbringer Lancelot, der in die Unterwelt gestiegen ist, wird sozusagen mit der Jungfrau Maria in ein Bett gelegt. Die Perspektiven kreuzen sich in diesem Beischlaf und verfehlen sich dabei. Sie können und sollen in diesem erzählerischen Kraftakt nicht zur Deckung kommen“ (Huber: „Galaad als Erlöser“, S. 219).
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darauf an, dass der Leser auch die Lancelot-Figur in typologische Zusammenhänge stellt. Lancelot erscheint in dieser Sicht ebenso „als Adam, der gefallene Mensch“ wie „als Vorläufer seines Christusanlogen Sohns Galaad“.45 Vor dem Hintergrund des jetzt geltenden religiösen Sinnhorizontes, so lässt sich festhalten, werden die für Lancelot zentralen Werte, seine ritterliche Orientierung und die Liebe zu Ginover, als nichtig erklärt. Aus dem besten Ritter der Welt, aus der Leitfigur des Artushofes, wird in der Gralssuche der Sünder, der durch die Übernahme einer Buße im christlichen Sinne Verzeihung erlangen will. Die Hinwendung zu Gott als Ehre garantierende Instanz bedeutet zugleich eine noch radikalere Abwendung von der höfisch-ritterlichen Gemeinschaft. Unter der Anleitung religiöser Autoritäten, der Einsiedler, begreift Lancelot sein bisheriges Leben als verfehlt, als Anlass zu permanenter Scham. Sein weiterer Weg erscheint als ein unaufhaltsamer Abstieg bis hin zur völligen Destruktion der vordem idealen Leitfigur des Hofes.46
4. Schamlosigkeit: Lancelots Rückkehr zum Artushof und sein Ende als Eremit Nach der Entrückung des Grals und nach Galaads Tod legt Lancelot das Büßerhemd ab, kehrt zum Artushof zurück, tritt dort wieder in seine Position als Leitfigur ein und reaktiviert – trotz aller gegenteiliger Versprechen und Vorsätze – binnen eines Monats die Liebesbeziehung zu Ginover. Er nimmt die heimlichen Liebesbegegnungen sogar intensiver als früher wieder auf und ist nur noch bedingt auf Diskretion in der Öffentlichkeit des Hofes bedacht. In diesem Sinne handelt er nun schamlos,47 45
„Die Theologie der Queste, die alle Ereignisse in einem heilsgeschichtlichen Rahmen situiert, legt solche Figurationen der Ankündigung und Erfüllung, des Sündenfalls und der Erlösung durchaus nahe.“; Klinger: Der mißratene Ritter, S. 314; weitere Literatur zu den typologischen Zusammenhängen: Ruberg, Uwe: Raum und Zeit im Prosa-Lancelot. München 1965, S. 34–37; Voss, Rudolf: Der Prosa-Lancelot. Eine strukturanalytische und strukturvergleichende Studie auf der Grundlage des deutschen Textes. Meisenheim a. Glan 1970, S. 25–42; Matarasso, Pauline: The redemption of chivalry. A study of the Queste del Saint Graal. Genf 1979, S. 38–95. 46 Ein weiterer Einsiedler, bei dem Lancelot einkehrt und dem er sein Leben erzählt, deckt ihm die Geschichte des Grals, die Herkunft seines Geschlechts und die Identität seines Sohnes auf (Steinhoff V, 264, 15–276, 22; Pauphilet 133, 18–139, 30). 47 An dieser Stelle sei auf die Unterhaltung zwischen Lancelot und dem Fräulein von Challot verwiesen. Lancelot spricht vollkommen ohne Scham von seiner Liebesbeziehung zu Ginover und betont, dass es nicht in seinem Interesse liege, etwas an dieser illegitimen Beziehung zu ändern. Nach den ganzen Erfahrungen seiner Bußfahrt betont er nun sogar
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die Wahrnehmung des Liebesverhältnisses durch den Hof ist daher eine notwendige Konsequenz.48 Auch in anderer Hinsicht agiert Lancelot nun ohne Scham: Er übernachtet oft bei Einsiedlern, „wieder die das er zu andern zyten syn bicht hett gethan“ (Steinhoff V, 670, 27f.; Frappier 64, 4–6), verschweigt aber den Bruch aller geleisteten Gelübde. Im Tod des Königs Artus scheint die die Gralssuche bestimmende geistliche Normenwelt ,vergessen‘. Christoph Huber hat von einer „programmatischen Verweigerung“ gesprochen und dies an einer für sich stehenden Szene festgemacht: Ginover gibt unwissentlich einem Ritter eine vergiftete Frucht, wird des Mordes angeklagt und auch verurteilt; Lancelot rettet sie in einem Gerichtskampf.49 Und obwohl der Text keine direkte Beziehung zur Eva der Sündenfall-Geschichte herstellt, assoziiert der Leser doch genau dieses. Der Verweiszusammenhang von Sündenfall und Figurenhandeln wird so in den Tod des Königs Artus hinein verlängert und auch das folgende Geschehen in den Horizont dieses Szenarios gerückt: Schamlosigkeit und Unvorsichtigkeit des wieder vereinigten Paars steigern
unter Anrufung Gottes, dieser möge es verhüten, dass sein Herz von der Liebesgeschichte ablasse: „Und sunder zwyvel, sie was von recht großer schonheit und kam zu Lanczelot und sprach: »Herre, were der ritter nit unertig den ich umb die mynne bete das er mir sie versaget?« Da sprach Lanczlot: »Hett er syn hercz in syner gewalt das er synen willen da mit möcht thůn nach uwerm gebot, dann were er eyn recht gebure, versagte er uch es dann! Wann wer er also das er mit imselber noch mit synem herczen nit mocht synen willen gethun noch uwer gebott geleisten und er versagt uch das, nÿmans ensolt yn darumb schelten. Und das sagen ich uch umb michselber. Wann also helff mir got, wer es also das ir uwer hercz an mich woltent seczen und das ich mocht mit mirselber mynen willen gehann und myn begirde, als manch ander ritter hat, so bin ich der der sere fro were wann ir mir woltent geben uwer mynne. Dann werlich, ich gesahe in langer zyt nye frauw noch jungfrauwe die ein man billicher möchte lieb han dann uch.« »Wie ist dem«, sprach sie, »ist uwer hercz nit als fry das ir uwern willen mögent da mit hann?« »Myns herczen willen mag ich wol thun, wann myn hercz ist mit all da ich es han wil; aber es möcht an keynem ende baß gesyn dann es ist und dar ich es gesaczt hann. Und unser herre got múß es nit gestaten das es sich von dannen scheyde; wann darnach so möcht ich nit als wol leben noch als gemechlich als ich han gethan«“ (Steinhoff V, 608, 10–31; Frappier 38, 49–76). 48 „Und er het es zuvorn gethan vil wißlicher und bedechtiglicher dann er es nů det, also das es nÿmand geware wart. Nu hilt er es darnach als dörlichen das Agravans, herrn Gawins bruder, der im nye recht holt wart, nam syn men war dann keyn ander, also das er es geware wart das Lanczelot die königin lieb hett und sie yne“ (Steinhoff V, 548, 3–9, Frappier 4,10–18). 49 Zur Vergifteten-Frucht-Episode (Steinhoff V, 698, 16ff.; Frappier 74, 35ff.) vgl. Huber: „Von der ‚Gral-Queste‘ zum ‚Tod des Königs Artus‘ “, S. 35f.; Reil: Liebe und Herrschaft, S. 132–141; Waltenberger, Michael: Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im ‚Prosa-Lancelot‘. Frankfurt a. M. [u. a.] 1999, S. 149f.
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sich erneut, eine zum Untergang treibende Kettenreaktion wird in Gang gesetzt.50 Lancelot bemüht sich unter Aufbietung aller Kräfte, den Niedergang des Artusreiches aufzuhalten. Zwar lügt er Artus über sein Verhältnis zur Königin schamlos an,51 um ihrer Ehre willen gibt er Ginover jedoch dem König zurück – die komplexen Erzählzusammenhänge blende ich hier aus – und stellt damit die Artusherrschaft über die vordem als absolut erachtete Liebe. Um Artus zur Aufgabe des Krieges gegen ihn zu bewegen, erinnert er den König daran, dass Galahot sich allein seinetwegen unterworfen habe, obwohl dieser ihn bereits besiegt hatte. Jetzt gelingt es Lancelot, ohne jede Scham die eigenen exorbitanten Taten hervorzuheben, um den König vom Krieg abzubringen (Steinhoff V, 824, 12–826, 4; Frappier 119, 92–124).52 Als Artus auf Betreiben Gawans, der Lancelot der verräterischen Ermordung seines Bruders Gaheries beschuldigt, den Krieg gegen ihn fortsetzt, bietet Lancelot an – um den Gerichtskampf mit Gawan zu vermeiden – das Königreich Gaune zu verlassen „und barfuß zehen jare in dem land“ (Steinhoff V, 886, 1; „et m’en irai nuz piez et en langes, touz seus, sanz compaignie, en essill en tel maniere jusqu’a dis anz“, Frappier 147, 74–76) umherzuziehen. Wie sehr jedoch das Verhältnis zur Artusherrschaft gestört und die soziale Verbundenheit inzwischen zerfallen ist, signalisiert der Text bereits am Beginn dieser Episode über eine Schamreaktion: Lancelot „grůßt […] den konig sere hoch, und mit dem so was er doch vol scham, wann der konig grůßt yn nit wiedder, darumb das er wust das herre Gawin sich des sere betrubet hett“ (Steinhoff V, 882, 34–36; Frappier 147, 29–31). Das Angebot wird abgelehnt, Lancelot muss gegen 50 „Hette Lanczlot die konigin vor lieb gehabt, so gewann er sie noch lieber dann vor und sie auch yn. Da daten sie als dörlich das es das meiste teyl in dem hoff wúst und geware wart und herre Gawin und auch syn vier brúder“ (Steinhoff V, 720, 29–32; Frappier 85, 33–39); dazu Huber, „Von der ‚Gral-Queste‘ zum ‚Tod des Königs Artus‘ “, S. 35f.; vgl. auch Reil: Liebe und Herrschaft, S. 134, A, 59; Waltenberger: Das große Herz der Erzählung, S. 140. 51 „Herre, hett ich myn frauwe lieb gehabt in der wise als uch die ungetruwen verreter von uwerm hoff ließen verstan, ich hett sie uch noch nit in eim mond wiedder geben“ (Steinhoff V, 820, 20–22; Frappier 119, 35–38). 52 Auch die Herrschaftsverhältnisse werden neu geordnet. Eine eigene Herrschaft tritt er auch in dieser Situation, in der die „Zeit des Aventüre-Rittertums vorüber ist“ (Steinhoff V, 1208, Kommentar zu V, 832, 17–834, 12), nicht an. Scham motiviert diesen Entschluss jedoch nicht mehr. Lancelot übergibt Bohort das Königreich Bonewig und Lionel das von Gaune. Die Herrschaft über Gallien, die er vorher aus der Hand von Artus abgelehnt hatte, nimmt er auch jetzt von diesem Neuregelungsprozess aus: „Dann hett er mir alles syn rych geben, ich gebe es im alles wiedder in dißer půnt als es yczu ist, umb des willen wann ich nit von im wolt zu lehen han“; „car s’il m’avait tout le monde doné, si li rendroie ge a cest point“ (Steinhoff V, 832, 35–37; Frappier 125, 12f.).
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Gawan kämpfen, der später an seinen Verletzungen stirbt. Der Fall des Artusreiches ist nicht aufzuhalten. In die Finalstruktur des kollektiven Verfalls sind die Protagonisten jedoch nicht einbezogen.53 Als Ginover erfährt, dass König Artus nach dem Kampf gegen den Verräter Mordred gestorben ist, wird sie in dem Kloster, in das sie sich zurückgezogen hat, Ordensfrau (Steinhoff V, 1010, 23f.; Frappier 195, 19f.).54 Als Lancelot kurz vor der entscheidenden Schlacht die Nachricht erhält, dass die Königin vor drei Tagen gestorben sei, ist er schmerzerfüllt und zornig (Steinhoff V, 1014, 12–14; Frappier 197, 17–19),55 zieht sich dann aber in eine Klause zurück, empfängt die Priesterweihe und lebt noch vier Jahre in eremitischer Gemeinschaft bis zu seinem Tod.56 53
„Während die ‚historische‘ Handlungslinie in die erwartbare Katastrophe führt, mündet die ‚biographische‘ in die Erlösung des Helden. Die Konkurrenz der beiden Abschlussbewegungen wird noch dadurch verstärkt, daß auch die anderen wichtigen Akteure des letzten Romanteils außer Artus und Mordred nicht mit den anderen Rittern in der apokalyptischen Schlacht sterben, sondern ihr Leben jeweils individuell in gottgefälliger Weise beschließen. So darf Gawan nach seinem Tod Artus in verklärter Gestalt erscheinen, Hector empfängt die Priesterweihe, und von Ginover heißt es ausdrücklich, daß »nye kein frauw nam als ein gůt ende als sie det«“ (Steinhoff V, 1014, 9f.; Frappier 197, 14f.); Waltenberger: Das große Herz der Erzählung, S. 142f. 54 Lancelot und die Könige Bohort und Lionel brechen auf die Todesnachricht hin auf, um Artus zu rächen, und landen in Britannien (Steinhoff V, 1012, 15–20; Frappier 196, 31–36). 55 „und sprach, nů were im mit all nit verliben in dißer welt, dwyl das er syn frauw verloren hett und synen nefen [=Lionel]“ (Steinhoff V, 1020, 6f.; Frappier 199, 24f.). 56 „»Ich sagen uch was ich thun sol. Ir sint gewest myn gesellen vor der wollust dißer welt. Nu wil ich uch gesellschafft thun in der arbeyt dißer welt und in dißem leben, wann als lang als ich geleben, so wil ich númmer von hinnen komen, und wollent ir myn nit, so wil ich anderschwo gan.« Und so sie das hetten verstanden, da waren sie des sere fro und lobten des got mit gůtem herczen und huben ir hende gein dem hymmel off. Also verbleibe Lanczlot dainne by den zweyn gůten lúten und byderben.“ (Steinhoff V, 1022, 7–15; Frappier 200, 39–47) „Lanczlot der was wol vier jare darinn, in der wise das da keyn man enwas der da also geistlich möcht gelebet hann als er det mit beten und mit fasten und mit frů off stan und mit wachen. […] An dem vierczehende tag vor dem meyen da legt sich herre Lanczlot siech. […] Des funfften tages da schiede er von dißer welt. Und zu der zytt, da im die sele von dem libe schiede, so enwas der bischoff noch Beobleris nit da, wann sie lagen und schlieffen da in bůschen under eim baum. Und es geschach das Beobleris zu erst erwacht und sah das der erczbischoff by im schlieff. Und in synem schlaff so hette er die grösten freude von der welt und sprach: »Ach gott, gebenedit systu! Nu gesehen ich alles das ich wolt gesehen.« […] Da er syn augen hett off gethan und das er Beobleris gesah, da sprach er: »Ach bruder, warumb hant ir mich erweckt von der großen freuden da ich inne was in als großer gesellschafft von engeln, das ich nye so viel byeinander gesahe, ich sy gewesen wo ich wolle; und die fůrten hinweg Lanczlots selen. Nu laßent uns gan besehen ob er dot sy!« […] Und da sie dahin kamen da herre Lanczlot was, da funden sie das im die sele yczu von dem libe gescheiden was. »Ach got«, sprach der erczbischoff, »gebenedit múßent ir syn! Nu weiß ich wol, schynbarlichen und fur ware, das mit dießes Lanczlots selen die engel groß fest und freude gemacht hant, wie ich
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Im Tod des Königs Artus, dies als Resümee, brechen die latenten Konflikte der Artusgesellschaft auf. Ein neues Norm- und Sinnsystem kommt jedoch nicht mehr ins Spiel. An Stelle der ritterlich-höfischen und der religiös-spirituellen Motivationsstrukturen tritt zumindest teilweise das Wirken der Fortuna.57 Die Fortuna-Bilder rücken zwar das Ende des Artusreiches in eine Perspektive; das Ende Lancelots wird dem Leser durch sie jedoch nicht gedeutet. Sein Rückzug aus der Welt ist Konsequenz des Scheiterns der ihn bisher leitenden Sinnsysteme: der höfischen Liebesideologie, der exklusiven Artusidealität, der ständischen Sonderreligion des Grals und der Pragmatik feudaler Realpolitik. Nachdem ihm diese Norm- und Wertkonzepte abhanden gekommen sind, folgt sein Handeln der Idee der außergesellschaftlichen Askese (nicht der völligen Isolierung):58 Gesellschaftsferne und Enthaltsamkeit sind ihm Bedingung des Heils. Auf eine radikale Weise ist Lancelot nun von Scham und Sinnlichkeit enthoben, fern von Gesellschaft und Herrschaft, befreit von der Dissoziation des Öffentlichen und Privaten. Die eremitisch-asketische dann gesehen han. Nun weiß ich wol das das penitencie und bůß uberkúmet alle ding, und ich gelaßen númmer von penitencien als lang als ich leben.«“ (Steinhoff V, 1024, 19–1026, 19; Frappier 201,46–202,40). Der Schluss des Prosa-Lancelots ist ganz unterschiedlich interpretiert worden: Für Corinna Biesterfeldt beispielsweise endet der Roman „tragisch im schicksalhaften, zu heilsgeschichtlicher Deutung aufrufenden Untergang des Artusreiches und in schuldhafter scheiternder Verstrickung seiner Helden“ (Biesterfeldt, Corinna: „Werkschlüsse in der höfischen Epik des Mittelalters. Ein Forschungsbericht.“ In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 99 (1995), S. 51–68, hier S. 59). Für Walter Haug dagegen wird im Prosa-Lancelot „die Unfähigkeit der Bewältigung zum Prinzip der narrativen Handlung, sie erzeugt eine ihr eigene Bewegung, die sich zwangsläufig im Kreise dreht, bis schließlich das Spiel im tödlichen Ernst seiner Ausweglosigkeit zusammenbricht – abgesehen von der quer dazu stehenden Rettung durch radikalen Weltverzicht.“ (Haug, Walter: „Das Endspiel der arthurischen Tradition im ‚Prosalancelot‘“. In: Haug, Walter: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Tübingen 1995, S. 288–300, hier S. 299). 57 Die Schicksalsgöttin spielt im Lancelot propre noch keine bedeutende Rolle, wird in der Gralssuche gar nicht erwähnt, aber im Tod des Königs Artus insbesondere von Artus für das zum Untergang treibende Geschehen verantwortlich gemacht: „Das Verhältnis von Gott, Fortuna und menschlichem Willen, von Schicksal, Schuld und Sünde bleibt aber ambivalent“ (Steinhoff V, 1218, Kommentar zu V, 944, 6f.). 58 Darauf, dass es sich hierbei nicht um das bekannte Motiv der moniage am Ende eines Artusromans handelt, verweist Jan-Dirk Müller. Er unterscheidet die moniage von der conversio am Ende eines ritterlichen Lebens. Conversio bedeutet den unwiderruflichen Übertritt in eine andere Lebensform. Der Ritter wird zum Büßer. „Lancelots conversio ist Vorbereitung auf den Tod. Es gibt keine neuen Kämpfe mehr, nurmehr ein Leben in Buße und Askese. Dagegen bedeutet moniage, daß die frühere art nicht vollständig ausgelöscht wird und der Gegensatz im früheren Heros weiter angelegt bleibt. Das Spannungsverhältnis wird mit wechselnden Akzentuierungen ausagiert. Das eine Mal erweist sich die heroische art als stärker, das andere Mal ist die Hinwendung zum Dienst Gottes entscheidend.“; Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik um 1200. Tübingen 2007, S. 158f.
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Lebensform ebnet den nachparadiesischen Menschen – Lancelots Ende ist hier durchaus exemplarisch gedacht – den Weg zum Heil. Nachdem er im Tod des Königs Artus das fortschreitende Auseinanderbrechen der sozialen Bindungen nicht aufhalten konnte, reagiert er auf den Verlust sozialer Ordnungssysteme mit einem Akt der Unabhängigkeitssetzung von solchen Systemen und der radikalen Ausrichtung seines Lebens auf Gott; er verbringt die letzten Jahre seines Lebens in einem Zustand schamenthobener Emotionslosigkeit. Der Blick auf Gott ist das, was bleibt, wenn Liebesaffiziertheit, Körperlichkeit, Gralsfaszination und Gesellschaftsbindung ihre Bedeutung verloren haben. Mit dem Aufstieg seiner Seele in den Himmel – im Traum des Erzbischofs von Canterbury – kehrt er nach seinem Tode in einen Zustand vor dem Sündenfall zurück, der die Scham nicht kennt.59
5. Schlussbemerkungen Unter zwei Gesichtspunkten möchte ich am Schluss die Überlegungen resümieren und perspektivieren: a) Schlüsselszenarien: Zu Recht hat man eine Schnittstelle zwischen Emotionspsychologie und Narratologie darin gesehen, dass Autoren über Emotionsdarstellungen affektive Wirkungen auf Rezipienten ausüben und Rezipienten durch emotionale Momente mit literarischen Figuren verbunden sind.60 Im Konzept der Schlüsselszenarien ist eine weitere Schnitt-
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Friedrich Wolfzettel deutet die Geschichte von Galaad als „Geschichte einer geheimen Auserwählung“, an deren Ende dieser „zum Ursprung“ zurückkehrt. (Wolfzettel: „Ein Evangelium für Ritter“, S. 54). „Der Gral ist [dabei] nicht Ausdruck und Träger einer frohen Botschaft für alle, sondern […] Symbol einer geheimen Frohbotschaft“ (S. 55). Galaad bekommt Zutritt zur „Unmittelbarkeit des Heiligen“ (S. 55) und wird dem Artusreich entzogen, allerdings ist dieses (oder ein vergleichbares) Schicksal nur drei Artusrittern bestimmt, von denen letztlich nur Bohort an den Artushof zurückfindet, „um Zeugnis von den wundersamen Ereignissen zu geben“ (S. 54). Es scheint, als bedingen sich die „Rückkehr zum Ursprung“ und das Verlassen sozialer Bindungen und Systeme notwendigerweise. – Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob nicht auch Lancelots Schicksal am Ende des Prosaromans eine ähnliche Wendung nimmt. Im Rahmen seines Eremitendaseins bereitet er sich auf die Rückkehr seiner Seele in den paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall vor und lässt dabei, schon im irdischen Dasein, jede Bindung an Kultur und Gesellschaft hinter sich – ein ebenso irritierender wie utopischer Gedanke. 60 Vgl. Schnell, Rüdiger: „Erzähler, Protagonist, Rezipient im Mittelalter, oder: Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung?“ In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), S. 1–51, hier S. 22 u. S. 38, A. 100.
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stelle zwischen emotionspsychologischen und literaturwissenschaftlichen Frageinteressen gegeben. Emotionen werden im Mittelalter nicht nur mit Lastern und Tugenden verkoppelt, sondern auch mit Schlüsselszenarien verknüpft. Literarische Werke rekurrieren auf solche Schlüsselszenarien, integrieren und transformieren sie jedoch auch. Über die Auseinandersetzung mit Schlüsselszenarien werden Emotionen sicher nicht in einem primären Sinne gelernt und bestimmt, wohl aber differenziert, reflektiert und bewertet. In literaturwissenschaftlicher Perspektive lässt sich über die Analyse von Schlüsselszenarien das Zusammenspiel zwischen isolierter Emotionsdarstellung und poetischem Konzept eines Gesamtwerkes, zwischen literarischer Emotionsdarstellung und anderen Diskurstraditionen, zwischen erzählten Emotionen und lebensweltlichen Kontexten vermutlich adäquater beschreiben. b) Prosa-Lancelot: Der erste Werkteil des Prosa-Lancelot ist über weite Strecken als zuspitzende Auseinandersetzung mit der Schlüsselszene des Karrenritts in Chrétiens Lancelot-Roman zu verstehen. In der Gralssuche ist Lancelots Handeln als Ritter und Liebender dann in den Bedeutungshorizont des Sündenfall-Szenarios hinein gestellt. Die Teilhabe am Erlösungsdrama der Gralsschau bleibt seinem Sohn vorbehalten. Lancelot hingegen wird im Tod des Königs Artus in den Auflösungsprozess der höfischen Gesellschaft zurückgeworfen. Nach dem Untergang des Artusreiches und dem Ende einer ritterlich konzipierten geistlichen Gesellschaft bleiben dem in diese Prozesse verstrickten Protagonisten nur Weltflucht, Askese und radikal-individuelle Spiritualität. Die Autoren des Prosaromans lassen Lancelots Lebensweg in ein Schlüsselszenarium für Schamenthobenheit einmünden, das ebenso biographisch wie kulturell vermittelt ist. Über die Darstellung von Schlüsselszenarien für Scham und Schamenthobenheit verdeutlichen die Autoren des Werkes ein die gesellschaftliche Ordnung gefährdendes Potential. Die Werte und Normen der Artuswelt werden zunehmend fragwürdig (zunächst insbesondere aus Lancelots, in der Gralssuche auch aus geistlicher und in der Mort Artu dann aus realpolitischer Perspektive) und auch die Prinzipien der von religiösen Ideen bestimmten Gralswelt können sich letztendlich nicht durchsetzen. Quelle der Beschämung und der Schamenthobenheit Lancelots ist seine Distanz gegenüber den Anforderungen unterschiedlicher Normsysteme. Am Ende dieses Prozesses steht nicht der Einklang von individuell und gesellschaftlich akzeptierten Normen wie im Erecroman, sondern Verweigerung und Destruktion von höfisch-ritterlichen Normen und Werten. Das Ideal des Artusreiches und das der Ritter-Religion haben ihre Funktion als Bewertungsinstanzen von Scham, Schande und Ehre weitgehend eingebüßt.
Schlüsselszenarien: Scham und Schamlosigkeit im Prosa-Lancelot
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Scham und Schamlosigkeit, dies ist wohl aus dem Schluss des ProsaLancelot herzuleiten, thematisieren nicht mehr das Verhältnis von Individuum und höfischer Gesellschaft, sondern sind vom Einzelnen und vom Transzendenten her gedacht. Lancelot besitzt und hofft am Schluss nichts mehr, für das er sich schämen müsste. Seine Seele gelangt dort hin, wo Scham und Schamlosigkeit gar kein Thema sind. Im Text ist die Idee fassbar, dass nur im begrenzten Kreise jener, die sich an den durch Christus etablierten Normen orientieren, eine Abschwächung der negativen Folgen des Sündenfalls und eine Annäherung an den paradiesischen Urzustand möglich ist. In der radikalen Verpflichtung des Adels auf ritterliche Werte, wie sie die Ritterlehre der Frau vom See darlegt, und im asketischen Leben abseits der herrschaftlichen Ordnung, sucht der Text die wahre Lösung der privaten und gesellschaftlichen Konflikte.61
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61 Für kritisches Gegenlesen und weiterführende Hinweise danke ich Ulrich Barton, Otto Langer, Hannah Miehle und Selma Danisman Olmedo.
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HORST BREDEKAMP
Von der Schamlosigkeit zur großen Form
1. Die Ehebrecherin von Santiago de Compostela Die Freude am Bösen lautet der Titel des 1987 erschienenen Buches von Werner Röcke, das seine programmatische Wirkung bis heute in diesen dem Jubilar gewidmeten Band hinein entfaltet hat.1 Als ich das Buch im Jahr 1994 erhielt, saß ich an einem Artikel für jene Frankfurter Allgemeine Zeitung, die in den neunziger Jahren zumindest im Feuilleton durchaus spielerische, wenn nicht anarchische Züge besaß. Für die Serie ‚Mein meistgehaßtes Meisterwerk‘ hatte ich das Westportal der Kathedrale von Chartres vorgeschlagen, zögerte aber, diesen Angriff auf eine der Herzkammern meines Fachs loszulassen. Mit dem Hinweis auf den Titel seines Buchs hat mich der Jubilar aber zur Publikation ermutigt, die mir einige erbitterte Briefe eingebracht hat.2 Aus Vergeltung für den Rat lege ich nun eine unzensierte Fassung dieses Beitrags vor. Durch ein monatelang auf der Bestsellerliste platziertes Selbsterfahrungsbuch hat die Wallfahrt nach Santiago de Compostela eine ungeahnte Popularität zurückgewonnen.3 Das Buch beschreibt eindringlich jenes Wechselspiel von Außenerfahrung und Introspektion, das so gut wie zwangsläufig jeden Wanderer ergreift, wenn er die Pyrenäen hinter sich läßt und mit der endlos wirkenden Weite des spärlich besiedelten Nordspanien konfrontiert wird. Das Argument mag naiv erscheinen, aber vor 1000 Jahren, als die Wallfahrt nach Santiago ein Massenereignis zu werden begann, war dies kaum anders. Kerkelings Buch ist eine Neuauflage jener Pilgerführer, die aus der Perspektive eines Reisenden über die Landschaft, die Bevölkerung
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Röcke, Werner: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987. Bredekamp, Horst: „Harmonisiert: Westportal von Chartres (= Mein meistgehaßtes Meisterwerk 14)“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 213 (13. September 1993), S. 35. Kerkeling, Hape: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. München 2006.
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und die Kunst berichten und damit zugleich etwas über die eigene Psyche aussagen. Zu den berühmtesten gehört der Liber Sancti Jacobi aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts.4 In überraschender Offenheit berichtet er nicht nur über die Qualitäten der Straßen, der Lokale und Herbergen sowie der Sehenswürdigkeiten, sondern auch über die Gefährdungen, die während der Wallfahrt drohen: Fälscher, Weinpanscher, Anbieter gefährlicher Vergnügungen und Prostituierte aller Orten: „Auf den Wegen der Heiligen gibt es Unrecht und Betrug im Überfluß.“5 Am Ziel der Wallfahrt, der Kathedrale von Santiago de Compostela, berichtet der Reiseführer, wie die sexuellen Gefährdungen in den Skulpturen zur Abschreckung aufgenommen werden. Keiner Figur widmet sich der Chronist ausführlicher als der Frau auf dem Tympanon des südwestlichen Eingangsportales (Abb.1): Es darf auch nicht in Vergessenheit geraten, daß eine Frau neben der Versuchung des Herrn steht; sie hält in ihren Händen das stinkende Haupt ihres Versuchers, das von ihrem eigenen Ehemann abgeschlagen wurde; zweimal am Tag küßt sie jenes Haupt, von ihrem Mann dazu gezwungen. Oh welch ungeheure bewundernswert gerechte Strafe für die ehebrecherische Frau.6
Das Urteil des Reiseführers scheint der leib- und speziell frauenfeindlichen Ideologie, die gemeinhin mit der Reformbewegung von Cluny verbunden wird, seitdem Abt Odo von Frauenkörpern als dem „cadaver hominis“ gesprochen hatte, zu entsprechen.7 Aber ex negativo ergibt sich der Eindruck, daß hier eine mitnichten kontrollierbare Körperlichkeit geködert wurde. Die als Ehebrecherin angesprochene Frau, deren Relief ursprünglich an anderer Stelle platziert war, so daß sie nach rechts hin vollständig zu denken ist, hat mächtige, offene Haare, ihre Brüste zeichnen sich unter dem dünnen Gewand ab, als wären sie unbedeckt, und vor ihren Unterleib hält sie einen Totenkopf. Diese Elemente ihrer Aufsehen erregenden Erscheinung sind vom Bildhauer in einer geradezu lustvollen Konkretion verwirklicht. Hierin liegt das Grundmotiv einer verehrenden Verurteilung.
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Herbers, Klaus: Der Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerführer unterwegs nach Santiago de Compostela. Tübingen 1986. Herbers: Jakobsweg, S. 78. Herbers: Jakobsweg, S. 146f. Odo von Cluny: „Collationum libri tres“. In: MPL 133, col. 517–638C, hier: col. 556; vgl. Möbius, Friedrich: „Basilikale Raumstruktur im Feudalisierungsprozeß. Anmerkungen zu einer ‚Ikonologie der Seitenschiffe‘“. In: Kritische Berichte 7, 2–3 (1979), hier: S. 11.
Von der Schamlosigkeit zur großen Form
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2. Formen der Ostentation: vulva und digitus infamis Der Blick wird von der Mähnenfrau und von der palimpsesthaften Komplexität ihres Tympanon-Umfeldes so stark angezogen, daß er kaum mehr nach oben geht, zumal die am Architrav angebrachten Konsolfiguren in ihrer stark verwitterten Erscheinung die Betrachtung nicht mehr zu lohnen scheinen. Bei näherem Hinsehen jedoch zeichnet sich zwischen den Beinen einer der Figuren eine Vulva ab (Abb. 2). Bei ihr handelt es sich um ein Beispiel der sogenannten Sheela-na-gig-Figuren, wie etwa die berühmte Figur aus Kilpeck in Wales, die massenhaft vor allem in Britannien, Frankreich und Spanien auftreten (Abb. 3).8 Zu diesen unmittelbaren Ostentationen gehört eine unerhörte Konsolfigur aus St. Radegonde in Poitiers, gegenüber der einigermaßen rätselhaft bleibt, warum sie die kommenden Jahrhunderte der Prüderie hat überstehen können (Abb. 4). Sie greift mit beiden Händen zu ihrer Scham, um diese wie in einer medizinischen Vorlesung vorzuführen. Nicht weniger drastisch sind ihre Brüste charakterisiert, die als strotzende Halbkugeln von dem Stoff umgeben und damit umso stärker betont werden.9 Nicht weniger zahlreich waren die männlichen Gegenstücke. Eine der Konsolfiguren, die schräg über der Mähnenfrau des Tympanons angebracht sind, zeigt einen gewaltigen Phallus, als sei der antike Gott Priapos leibhaftig gegenwärtig (Abb. 5). In San Martín in Frómista, einer Wallfahrtskirche auf halbem Weg zwischen den Pyrenäen und Santiago de Compostela, zeigen sich einige dieser Figuren mit ähnlichem Drang zum Exhibitionismus (Abb. 6).10 Hier von Schamlosigkeit zu sprechen wäre untertrieben: vielmehr scheint eine extreme Wut der Ostentation zu regieren. In Andeutung beherrschen diese Phalloi ganze Kirchenräume: so etwa ein Bestienreiter aus San Isidoro von León, der die Quaste des Löwenschwanzes in der Hand wägt, als ginge es um die Traum- oder Alptraumform seines eigenen Geschlechts (Abb. 7). Auf einer der Dachkonsolen Frómistas ist in nochmaliger Steigerung ein in sich brütender, fleischiger Mann zu erkennen, der breitbeinig in der Hocke sitzt und dessen Hände in das Maul einer pantherartigen Bestie greifen (Abb. 8).
8 Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches. London 1986, S. 23ff.; Olmo García, Ángel del u. Basilio Varas Verano: Románico Erótico en Cantabria. Palencia 1988. 9 In dem jüngsten Buch zum Thema sind beide aufgeführt: Sanyal, Mithu M.: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Berlin 2009, S. 54–56. 10 Bredekamp, Horst: „Wallfahrt als Versuchung. San Martín in Frómista“. In: Kunstgeschichte aber wie? Fruh, Clemens; u. a. (Hg.). Berlin 1989, S. 221–258. Zuletzt: Beccerro de Benga, Ricardo: La Tierra de Campos. Palencia 2007, S. 23–31.
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Da jede Andeutung einer eigenen Körperlichkeit fehlt, scheint ihr Leib aus seinem Unterleib herauszuwachsen. Auf einem Kapitell in Santiago de Compostela schürzt dagegen eine Frau ihr Kleid, um den Blick auf einen Raubtierkopf preiszugeben (Abb. 9). Weil dem Kopf der Raubtierkörper fehlt, wird deutlich, daß auch die Frau mit dem Raubtier eine mischwesenhafte Verbindung eingegangen ist. Der Bestienkopf ist die Vulva (Abb. 10). Diese Visionen, die noch heute ihre Wirkung entfalten, wenn man sie im Dunkel der Kirchenwände entdeckt, sind aus der unstillbaren Hoffnung zu erklären, daß die Bild gewordenen Dämonen der Sexualität, dem „Einfallstor des Teufels“, vor sich selber apotropäisch zurückschrecken und damit auch von den Kirchen und den Menschen in ihr ablassen.11 Derartige Überlegungen können aber kaum die Finesse der Formphantasie erklären, deren sich die Bildhauer bemächtigten. Hier wirkte eine eigene Dynamik, die gegenüber jeder anderen Gestaltform über eigene, unverwechselbare Möglichkeiten verfügte. Wenn über die Stigmatisierung des Bösen nicht nur alles erlaubt, sondern auch gefordert war, musste sich dies im Bereich der dämoniebelasteten Skulptur schließlich wie eine Entlastung von allen Sicherheiten äußern, die mit diesen Figuren verbunden waren.12
3. Das Spiel der Indifferenz Sie wurden indifferent. Ein Bestienreiterkapitell Jacas (Abb. 11) wurde in der Kirche der Pyrenäenburg Loarre wiederholt und variiert (Abb. 12). Zwei Vögel, die auf dem Rücken eines nach rechts gewendeten Löwen stehen, picken auch hier in die Schultern der Eckfiguren. Mit ihrem Griff in die Bestienrachen könnten sie an Samson denken lassen, aber mit ihren kurzen Haaren und vor allem ihrer Verdoppelung und ihrem Ritt auf einem bikephalen Monstrum bezeugen sie eine andere Bestimmung. Die auf der rechten Schmalseite situierte Figur hält eine Art Wedel, um desto unbekümmerter auch den Phallus zu zeigen (Abb. 13). Die Adaption der aus Frómista nach Jaca vermittelten Form wiederholt sich auf einem weiteren Kapitell Loarres (Abb. 14). Wieder ist die 11 12
Das Muster ist vermutlich durch die Dämonenlehre von Isidor von Sevilla gelegt worden: Isidor von Sevilla: Die Enzyklopädie. Übers. v. Lenelotte Möller. Wiesbaden 2008 [VIII, 11, 5–11, S. 308f.]. Bredekamp, Horst: „Die nordspanische Hofskulptur und die Freiheit der Bildhauer“. In: Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert, 2 Bde. Beck, Herbert; Hengevoss-Dürkop, Kerstin (Hg.). Frankfurt a. M. 1994, Bd. I, S. 263–274.
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grobe Anordnung übernommen, und erneut stehen in der Mitte zwei Vögel auf dem Rücken eines bikephalen Bestienleibes. Der entscheidende Unterschied liegt aber darin, daß die offen über den Rücken fallenden Haare der Eckfiguren Samson ausweisen. Auf der rechten Schmalseite nähert sich ein mit verzerrten Gesichtszügen versehener Mann mit einem erhobenen Stamm (Abb. 15). Dieser Eckensteher hat damit zum zweiten Mal seine Identität gewechselt, ohne daß seine negative Bestimmung gewandelt wäre, wohingegen die Eckfiguren als samsonhafte Löwenkämpfer hervorgehoben sind. Damit aber ergibt sich der irritierende Befund, daß das isolierte Motiv des Raubtierreiters unbefangen variiert und in unterschiedliche Zusammenhänge eingebunden werden konnte. Die Formen verschleiern die Eindeutigkeit von Gut und Böse, Heros und Dämon. Während Samson den Löwen bändigt, bilden die übrigen Wesen mit der Bestie eine perverse Einheit. Dieser Vorgang gehört zu den aberwitzigsten Prozessen der nachantiken Kunstgeschichte. Vermutlich hat weniges die Freiheit und die Übermacht der nachantiken Bildkultur so unwiderstehlich unterstützt wie der apotropäische Widersinn, daß das zu Verdammende immer neu und immer bedrängender gezeigt werden sollte, bis es im Freilauf der künstlerischen Selbstausbildung ein Eigenleben zu entfalten vermochte.13 Hierfür bietet jene Gestalt, die der Pilgerführer des zwölften Jahrhunderts so eindrucksvoll erwähnt, ein wohl unnachahmliches Zeichen (Abb. 1). Mit der Mähne, den Brüsten und dem vor den Unterleib gehaltenen Totenkopf bildet sie ein Ensemble der offenbar allgegenwärtigen Motive der Fixierung des Bösen durch das Böse. Sie zeigt jedoch nicht weniger, daß in einer Zeit, die in der Regel als Epoche einer verordneten Leibfeindlichkeit gilt, das, was als die Verkörperung des Bösen galt, in ein unnachahmliches Zusammenspiel von Warnung und Attraktion oszilliert. Auf diese Weise aber wird es als Medium eines indifferent einzusetzenden Formmotivs zum Instrument der Inversion.
13
Bredekamp, Horst: „Romanische Skulptur als Experimentierfeld“. In: Spanische Kunstgeschichte. Eine Einführung. 2 Bde. Hänsel, Sylvaine; Karge, Henrik (Hg.). Berlin 1992, Bd. I, S. 101–112; Trinks, Stefan: „Skulpturen in Serie: Antike als Produktivkraft im Spanien des 11. Jahrhunderts“. In: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Laude, Corinna; Heß, Gilbert (Hg.). Berlin 2008, S. 181–205; Bredekamp, Horst; Trinks, Stefan: „Die Freiheit der Skulptur – Tücher des Todes versus Tücher des Heils“. In: Hispaniens Norden im 11. Jahrhundert. Christliche Kunst im Umbruch – El Norte hispánico en el siglo XI. Un cambio radical en el arte cristiano. Arbeiter, Achim; Kothe, Christiane; Marten, Bettina (Hg.). Petersberg 2009, S. 161–174.
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4. Moissac und Autun In noch gesteigerter Form bestimmte diese Spannung eine Generation später, um 1120, das aufwendige Skulpturenprogramm des Südportales von Saint-Pierre de Moissac (Abb. 16).14 Es staffelt sich im Charakter einer Vorhalle in die Tiefe. Ikonographisch wird der Eintretende in dieser Eingangsbucht in die Zange genommen, denn ihn erwartet eine Entscheidungssituation. Auf der rechten Seite, wenn er das Glück hat, zuerst dorthin zu sehen, wird ihm das Heilsversprechen von der Menschwerdung Christi von der Verkündigung bis zur Darbietung im Tempel entwickelt (Abb. 17). Auf der linken Seite der Eingangsbucht dagegen wird die Gegenrechnung der Gefährdung aufgemacht, die in den Todsünden des Geizes und der Wollust ihren Höhepunkt finden (Abb. 18). In ihrer Drastik wohl nicht zu überbieten, erscheint Luxuria als Wollust auf dem rechten unteren Relief. Sie hat beide Hände wie in einer blasphemischen Persiflierung des Orantengestus erhoben, so daß sich die Schlangen vom Boden über die Beine und die Armbeugen bis zu den Brüsten zu schlängeln vermögen. Zudem kriecht eine voluminöse Kröte zu ihrem Geschlecht, um in ihren Unterleib einzudringen. Erneut ist die Hervorhebung des Bösen ein Fest der Möglichkeiten des Bildhauers. Die Konkretisierung des Körpers der Luxuria läßt in ihrer lebensgroßen Erscheinung ebenso staunen wie der Teufel neben ihr, bei dem der Hungerbauch und die rachitische Brust reale Krankheiten vorzuweisen scheinen und dessen Kopf an antike Groteskmasken erinnert. Diabolik der Form und anatomische Verifikation treiben sich wechselseitig auf ein neues Niveau. Wie die Bestienreiterin aus Santiago (Abb. 9) in der Mähnenfrau verfeinert und attraktiviert wurde (Abb. 1), so kann der Luxuria von Moissac die kriechende Eva des Nordportals von Saint-Lazare in Autun konfrontiert werden (Abb. 19).15 Die vermutlich von dem Bildhauer Gislebertus geschaffene Figur, die nicht zu Unrecht als eine der berühmtesten Darstellungen der Versuchung überhaupt gilt, kriecht, da sie sich allein auf den rechten Ellenbogen und die beiden Knie stützt, im Sinne eines gespannten Anschleichens über den Boden des Paradieses. Die Krallenhand
14 15
Droste, Thorsten; Hirmer, Albert u. Irmgard: Die Skulpturen von Moissac. München 1996. Werckmeister, Otto Karl: „The Lintel Fragment Representing Eve from Saint-Lazare, Autun“. In: Jounal of the Warburg and Courtauld Institutes 35 (1972), S. 1–30; Zink, Jochen: „Das Lazarusportal der Kathedrale Saint-Lazare in Autun“. In: Kunst in Hauptwerken. Von der Akropolis zu Goya. Traeger, Jörg (Hg.). Regensburg 1988, S. 83–177.
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des Teufels drückt den in ihrem Rücken befindlichen Zweig herunter, so daß der Apfel Evas Hand entgegenkommt, um im nächsten Moment den Bericht der Bibel aufzuführen: „Und das Weib sah, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug mache.“ Entscheidend ist die Erhöhung der Augenlust, „quod pulchrum esset oculis“.16 Ihre Augen zeugen von einer trauervollen Vorahnung, und ihre Hand führt den Schuld- und Trauergestus aus, aber in diese orthodoxe Sinnschicht schleicht sich die Verführungskraft des Blickes und der Einflüsterung ein, die aus fast geschlossenen Lippen kommt, durch die Hand aber wie mit einem Schalltrichter verstärkt wird (Abb. 20). Dieses auf die Augenlust bezogene Verständnis des Sündenfalls kann ebenso als Gegenbild zur Luxuria von Moissac gewertet werden (Abb. 18) wie die Mähnen- gegenüber der Raubtierfrau von Santiago de Compostela. Die Skulptur ist hier ein Mittel permanenter Irritation.
5. Das Westportal von Chartres Dem Angriff auf diese Form der irritationsgestützten Indifferenz verdankt die Gotik ihren durchgreifenden Erfolg. Mit dem um 1145 geschaffenen Westportal von Chartres herrscht bei allem Raffinement der Binnenstruktur eine gefrorene Spiritualität des Leibes, und mit ihr hat sich eine antianarchische Ästhetik Bahn gebrochen (Abb. 21). Dies geschieht durch die begriffliche Hierarchisierung des Darstellungsprogramms, das nun nicht mehr aus dem Arsenal des apotropäisch Dämonischen kommt, sondern aus den Textcorpora der Theologen und Gelehrten.17 Gleichwohl aber bleibt die Inversion ein nun intrinsisch wirksames Spiel. Am rechten Gewände des Mittelportals erscheinen vermutlich ein Prophet, dann wohl König David, dann möglicherweise die Königin von Saba und außen König Salomon (Abb. 22). Auf den ersten Blick springt die Bindung der Figuren an die hinterfangende Säule ins Auge. Die grazilen Leiber treten kaum aus dem Umriß der hinter ihnen gelagerten Stützen heraus, die Köpfe überschreiten den Durchmesser der Säulen nicht, und auch die Füße kehren gewissermaßen in das Säulenrund zurück. Die 16
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Gen. 3,6. Vgl. Bredekamp, Horst: „Ein Mißverständnis als künstlerischer Dialog. Bemerkungen zur Antikenrezeption der Romanik“. In: Kunstforum International 111 (1991), S. 98–107; Ders.: „Das Mittelalter als Epoche der Individualität“. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen 8 (2000), S. 190–240, hier: S. 222–223. Sauerländer, Willibald: Das Königsportal in Chartres. Frankfurt a. M. 1984.
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Körperbewegungen, gezwungen, sich ebenfalls in den Umriß der schmalen Körper einzupassen, bleiben wie an den Leib gepreßt, was zur Folge hat, daß die Ellenbogen- und Handgelenke geradezu abknicken. Die Falten etwa der Königin sind wie von einem vereisten Lineal nach unten gezogen, als wäre der Stoff aus einer klirrenden Materie (Abb. 23), aber gerade durch dieses Gewand, das den Körper kristallin zu verstellen scheint, wölbt sich das angedeutete Rund des Bauches umso subtiler hervor. Besonders extrem geschieht dies bei den Königinnen (Abb. 24). Vorbereitet durch die langen Zöpfe und die langen Ärmelschlaufen, ziehen die Gewandlinien senkrecht von der Hüfte an nach unten. Darüber liegen, als solle auch hier das Gliederungssystem der Architektur wiederholt werden, die waagerechten Faltenlinien des Oberkörpers (Abb. 25). Daß aber keinesfalls allein an eine abstrakte, ornamentale Formgebung gedacht wurde, verdeutlichen die sich unter dem Kleid abzeichnenden Brüste. So stilisiert die Linien des Gewandes wirken, so sind sie doch nicht willkürlich gesetzt, sondern folgen mit minimalem Aufwand, aber doch getreu den Körperformen. Entscheidend ist hier das Merkmal einer schematischen Streckung, die sich gleichwohl nicht auf pure Abstraktion einläßt, sondern im Zuge ihrer eigenen Immaterialisierung den Bezug zur Realwelt, zum lebendigen Körper und zu einer bewegten Seele bewahrt. Unter den steinernen Faltenbahnen durchbricht die zu überwindende Körperlichkeit umso entschiedener ihre eigene Transition.
6. Straßburg und Bamberg Drei Generationen nach den Königinnen von Chartres zehrt die Straßburger Verkörperung der Synagoge davon, daß die Skulptur der Romanik hier elementar jene schöpferisch „zersetzende“ Rolle der Kultur gespielt hat, die Jakob Burkhardt grundsätzlich mit ihr verband.18 Es ist ein Genuß, ihr bei ihrem Satyrspiel zuzusehen (Abb. 26). Mittels des nass wirkenden Gewandes, des Hüftknicks und des schnurartigen Gürtels entfaltet die Skulptur eine durchaus atemberaubende Erosvalenz.
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Burckhardt, Jakob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Frankfurt am Main 1969 [1905], S. 61. Zum Umkreis der Straßburger Figur: Sauerländer, Willibald: Von Sens bis Straßburg. Ein Beitrag zur kunstgeschichtlichen Stellung der Straßburger Querhausskulpturen. Berlin 1966.
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Dies gilt umso mehr noch für die Gestalten des Fürstenportals von Bamberg (Abb. 27).19 In überlegener Hoheitlichkeit steht die bekrönte Ecclesia vor dem Betrachter, die flachen Schüsselfalten ihres Gewandes vor ihren Unterleib haltend und dennoch wie in einem Triangel das rechte Knie unter dem Stoff zeigend. Die Synagoga dagegen taumelt dem Betrachter mit zerbrochener Lanze blind entgegen; ihr Gewand liegt straff über den Schultern und dem Oberkörper, um die Brüste desto unverborgener durchscheinen zu lassen (Abb. 28). Unter ihnen ziehen sich Falten des Gewandes bis zum Gürtel, dessen schmaler Zug mit behutsamer Spannung den Körper über der Hüfte einschnürt, so daß sich das Gewand von hier aus über den Unterkörper schmiegt, um die Eleganz der ponderierten Beine aufscheinen zu lassen. In der Seitensicht wird deutlich, welche Herausforderung die verhaltene Hüftbewegung des tastenden Schrittes für den Bildhauer wie auch für den Betrachter bedeutet (Abb. 29). Die vortretende rechte Hüfte läßt den Körper in eine wie federbesetzte Spannung treten. Unerhört erscheint, wie sich die spinnennetzförmigen Faltenstege von oben und unten zu den so kleinen wie spitzen Brüsten bewegen. Wenn es noch eine Steigerung geben könnte, so bietet sie die Rückenansicht. Das tastende Schreiten der schlanken, hochgewachsenen Frau ist hier vollends zu einem Laufstegereignis geworden (Abb. 30). Der leicht gebeugte Kopf blickt mit Unsicherheit und Zögern in eine Zukunft, die aus christlicher Sicht das Heilsversprechen abgezogen hat. Aber was sagt diese religionspolitische Botschaft gegenüber der Möglichkeit, das tastende Schreiten zu einer Zelebration einer Person zu machen, die durch ihre verhaltene Vorwärtsbewegung das Denkmal einer Körper- und Gewandbewegung aufführt, das in seiner geradezu glühenden Erosvalenz besticht? Wer wollte hier von Scham oder der Schamlosigkeit der blinden Verwerflichkeit sprechen? Diese Figur verlacht die Kategorien, aufgrund derer diese Zuordnungen ausgesprochen werden könnten; und darin ist sie große Form.
19
Vgl. Suckale, Robert: „Die Bamberger Domskulptur“. In: Ders.: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters. Schmidt, Peter; u. a. (Hg.). München Berlin 2003, S. 175–253 [1987]; Schuller, Manfred: Das Fürstenportal des Bamberger Domes, Bamberg 1993; Rückert, Claudia: „Die sogenannte ältere Bildhauerwerkstatt des Bamberger Doms und ihre spanischen Wurzeln“. In: Hegener, Nicole; Lichte, Claudia; Marten, Bettina (Hg.): Curiosa Poliphili. Leipzig 2007, S. 83–91.
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Literaturverzeichnis Primärtexte Isidor von Sevilla: Die Enzyklopädie. Übers. v. Lenelotte Möller. Wiesbaden 2008. Odo von Cluny: „Collationum libri tres“. In: MPL 133, col. 517–638C.
Literatur Beccerro de Benga, Ricardo: La Tierra de Campos. Palencia 2007. Bredekamp, Horst: „Wallfahrt als Versuchung. San Martín in Frómista“. In: Kunstgeschichte aber wie? Fruh, Clemens (Hg.). Berlin 1989, S. 221–258. Bredekamp, Horst: „Ein Mißverständnis als künstlerischer Dialog. Bemerkungen zur Antikenrezeption der Romanik“. In: Kunstforum International 111 (1991), S. 98–107. Bredekamp, Horst: „Romanische Skulptur als Experimentierfeld“. In: Spanische Kunstgeschichte. Eine Einführung. 2 Bde. Hänsel, Sylvaine; Karge, Henrik (Hg.). Berlin 1992, Bd. I, S. 101–112. Bredekamp, Horst: „Harmonisiert: Westportal von Chartres (= Mein meistgehaßtes Meisterwerk 14)“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 213 (13. September 1993), S. 35. Bredekamp, Horst: „Die nordspanische Hofskulptur und die Freiheit der Bildhauer“. In: Beck, Herbert; Hengevoss-Dürkop, Kerstin (Hg.): Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994, Bd. I, S. 263–274. Bredekamp, Horst: „Das Mittelalter als Epoche der Individualität“. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen 8 (2000), S. 190–240, hier: S. 222–223. Bredekamp, Horst; Trinks, Stefan: „Die Freiheit der Skulptur – Tücher des Todes versus Tücher des Heils“. In: Hispaniens Norden im 11. Jahrhundert. Christliche Kunst im Umbruch – El Norte hispánico en el siglo XI. Un cambio radical en el arte cristiano. Arbeiter, Achim; Kothe, Christiane; Marten, Bettina (Hg.). Petersberg 2009, S. 161–174. Burckhardt, Jakob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Frankfurt am Main 1969 [1905]. Droste, Thorsten; Hirmer, Albert u. Irmgard: Die Skulpturen von Moissac. München 1996. Herbers, Klaus: Der Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerführer unterwegs nach Santiago de Compostela. Tübingen 1986. Kerkeling, Hape: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. München 2006. Möbius, Friedrich: „Basilikale Raumstruktur im Feudalisierungsprozeß. Anmerkungen zu einer ‚Ikonologie der Seitenschiffe‘“. In: Kritische Berichte 7, 2–3 (1979). Olmo García, Ángel del u. Basilio Varas Verano: Románico Erótico en Cantabria. Palencia 1988. Röcke, Werner: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987.
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Rückert, Claudia: „Die sogenannte ältere Bildhauerwerkstatt des Bamberger Doms und ihre spanischen Wurzeln“. In: Curiosa Poliphili. Hegener, Nicole; Lichte, Claudia; Marten, Bettina (Hg.): Leipzig 2007, S. 83–91. Sanyal, Mithu M.: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Berlin 2009. Sauerländer, Willibald: Von Sens bis Straßburg. Ein Beitrag zur kunstgeschichtlichen Stellung der Straßburger Querhausskulpturen. Berlin 1966. Schuller, Manfred: Das Fürstenportal des Bamberger Domes, Bamberg 1993. Suckale, Robert: „Die Bamberger Domskulptur“. In: Ders.: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters. Schmidt, Peter; u. a. (Hg.). München Berlin 2003 [1987], S. 175–253. Trinks, Stefan: „Skulpturen in Serie: Antike als Produktivkraft im Spanien des 11. Jahrhunderts“. In: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Laude, Corinna; Heß, Gilbert (Hg.): Berlin 2008, S. 181–205. Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches. London 1986. Werckmeister, Otto Karl: „The Lintel Fragment Representing Eve from Saint-Lazare, Autun“. In: Jounal of the Warburg and Courtauld Institutes 35 (1972), S. 1–30. Zink, Jochen: „Das Lazarusportal der Kathedrale Saint-Lazare in Autun“. In: Kunst in Hauptwerken. Von der Akropolis zu Goya. Traeger, Jörg (Hg.). Regensburg 1988, S. 83–177.
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Beschämendes und schamloses Schweigen im Mittelalter Facetten einer Provokation1
„Oft ruft gespielte Geduld heftigere Wut hervor, und boshaftes Schweigen übertrifft die schroffsten Beleidigungen“ (Johannes Cassianus).2 Die strategische Effizienz solchen Schweigens ist sprichwörtlich und gehört vielleicht sogar zu den kulturanthropologischen Universalien der Interaktion: Ein nicht beantworteter Angriff, der ins Leere läuft, ist für den Angreifer irritierend und beschämend, für den Angegriffenen ein paradoxer Triumph. Die darauf bezüglichen, vorwiegend trivial-utilitaristischen Klugheitsregeln der heidnischen Antike – etwa „tacendo vince, cedentes solent uincere“ – dominieren erstaunlicherweise in der mittelalterlichen Kindererziehungsliteratur für die klerikale und weltliche Elite. Dies ist historisch deshalb interessant, weil das ,Rezept‘ dabei anstandslos an das substanziell konträre Ideal der Bergpredigt angeschlossen werden kann. Die Paradoxie eines Schweigens oder Nachgebens, das ebenso als Selbstdemütigung wie als Fremddemütigung auslegbar ist, wurde am Beispiel des vor Pilatus und den Hohenpriestern schweigenden Jesus in einer reichen exegetischen Tradition immer wieder in alteram partem diskutiert. Dieses mehrdeutige Schweige-Modell hatte Auswirkungen auf verschiedene Verhaltensformen der Christomimetik, von denen zwei ausgewählt werden sollen: die Märtyrerhaltung und Passionsstilisierung verfolgter Christen, seien es Heilige 1
2
Die Vortragsfassung wurde beibehalten, da der vorliegende Text erweitert in eine größere Arbeit über vernachlässigte Aspekte des Schweigens im Mittelalter eingehen soll. Der hier folgende erste Abschnitt umreißt den vorgesehenen thematischen Rahmen, in dem der Beitrag seinen Platz finden wird. Eine andere Vorstudie zur geplanten Monographie ist: Moos, Peter von: „Die Pest des Schweigens“. In: Il silenzio / The Silence (Micrologus). Hg. v. Agostino Paravicini Bagliani. Florenz 2010, S. 183–223. Conlatio XVI 18 (CSEL 13), S. 454: „saepe autem ficta patientia etiam acrius ad iracundiam quam sermo succendit et atrocissimas uerborum transcendit iniurias maligna taciturnitas.“
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oder Häretiker, sowie die extreme religiöse Kommunikationsverweigerung und gesellschaftliche Selbstexklusion ,schamloser‘ Gottesnarren. In beiden Bereichen bildet die Ambivalenz einer als Demut erscheinenden, aber auch andere demütigenden Opferbereitschaft sowie der prekäre – leicht in praesumptio kippende Versuch, die unnachahmliche Kenosis Gottes nachzuahmen, eine bewusste Problematik, die Bernhard von Clairvaux sarkastisch auf den Punkt bringt: „Quanti humiliantur qui humiles non sunt!“3 Die Möglichkeit, sich beschämen zu lassen, lächelnd „die andere Wange hinzuhalten“ und gerade dadurch Ehre und Macht zu gewinnen, hat im Mittelalter auch ihren Platz in überaus differenzierten theoretischen Diskursen über occulta cordis oder psychische Intransparenz, über die Korrespondenz oder aber Diskrepanz von Leib und Seele, Körper- und Verbalsprache, über Hypokrisie und deren Inversion in die Selbstbeschämung, über rhetorische Effizienz durch schauspielerisches Pathos oder gerade umgekehrt durch das reduzierte, ja defiziente und zum Schweigen tendierende Sprechen im sermo humilis. Die Sensibilisierung für solche Komplexitäten soll u. a. auch die für das Mittelalter viel zu grobe Dichotomie von Scham- und Schuldkulturen sowie den grand récit vom Zivilisationsprozess ein wenig zu relativieren helfen. *** Für alle Beschäftigung mit Kommunikations-, Interaktions- und Ritualphänomenen des Mittelalters ist kaum ein Thema aufschlussreicher als die Auslegungsgeschichte des Verhaltens Jesu vor seinen Richtern. Joachim Knape hat den Prozess Jesu – neben Ciceros Catilinarien oder Shakespeares Antonius-Rede – mit Recht zu den Sternstunden der Rhetorikgeschichte gezählt, weil in dieser Gerichtsszene, einer rhetorischen Standardsituation, sämtliche Spielregeln der Anklage und Verteidigung versagen, an der „arhetorischen“ Wortkargheit des Angeklagten scheitern, und die instrumentelle Performativität der Redekunst durch religiösen „Substanzialismus“ radikal in Frage gestellt werde.4 Ich würde freilich im Hinblick auf die mittelalterliche Rezeption darin vielmehr eine die Kunstrhetorik gerade rhetorisch überbietende Form der Erwartungsenttäuschung sehen: Pilatus rechnet mit einer eloquenten Selbstverteidigung des Angeklagten, der im Rufe eines gewaltigen Volksredners steht, und erntet nur Schweigen, ita ut miraretur vehementer (Matth. 27.14). „Diese heftige Verwunderung“ ist jedenfalls eine erfolgreiche Wirkung symbo-
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Sermones super Cantica Canticorum, Sermo 34, 3. In: Bernardi opera. Bd. 1. Hg. v. J. Leclercq, C.H. Talbot u. H.M. Rochais. Romae 1957, S. 274, 2. Knape, Joachim: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 13–32, bes. S. 22.
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lischer Kommunikation, gleichviel ob man sie nun rhetorisch oder arhetorisch nenne. Hier ist das Schweigen zum illokutionären Sprechakt geworden.5 In der exegetischen Tradition gehen die anspruchsvollsten, aber selteneren Deutungen des Passionsschweigens, die vornehmlich Augustinus zugrunde gelegt hat, inkarnationstheologisch von der Kenosis aus.6 Der Verlust des Wortes gilt als Erfüllung von Isaias 53.7: „Wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt [...], öffnete er nicht seinen Mund.“ Die meisten Auslegungen gehen jedoch von der humanitas Christi und den konkreten Gesprächssituationen dieser Passionsphase aus; sie erklären das Schweigen aus der Unwürdigkeit der Verfolger, der Verachtung für deren Winkelzüge sowie der Überflüssigkeit jedes gesprochenen Wortes, das solche Wortverdreher nur gegen den Angeklagten gekehrt hätten.7Da Jesus aber nicht permanent auf alle gestellten Fragen schweigt, sondern einzelne beantwortet, wird genau beachtet, welche Adressaten in welcher Situation einer Antwort gewürdigt oder nicht gewürdigt werden. Dabei ist die vornehmlich im Matthäusevangelium angelegte Tendenz festzustellen, dass, verglichen mit den Hohenpriestern und anderen jüdischen Autoritäten, Pilatus mit dialogischen Zuwendungen eindeutig begünstigt wird.8 Am Beispiel der Pilatusfrage: „Sprichst du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizugeben...“ und Jesu Antwort: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre...“ (Joh. 19.10), erklärt Augustinus die Verteilung von Reden und Schweigen mit der klassischen Kenosis und Kerygma verbindenden Formel so:9 „Hier also antwortete er, und dennoch antwortete er nicht überall,
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Zu dieser Paradoxie vgl. Hörmann, Hans: Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik. Frankfurt a.M. 1988, S. 311–313; Schmitz, Ulrich: „Beredtes Schweigen – Zur sprachlichen Fülle der Leere. Über Grenzen der Sprachwissenschaft“. In: Schweigen. Hg. v. Ulrich Schmitz. Hannover 1990, S. 5–58, bes. S. 16 (Schweigen als Sprechakt); Jaworski, Adam: The Power of Silence: Social and Pragmatic Perspectives. Newbury Park u. London 1993, S. 49: „Fighting with silence as a weapon may be even more powerful than uttering the harshest of words.“ Grundstelle ist Philipp. 2. 6–7: „Er, der in Gottesgestalt war […] entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward den Menschen gleich.“ Vgl. Balthasar, Hans Urs von: Herrlichkeit. Bd. III 1. Einsiedeln 1965, S. 492–551; Latteur, Emmanuel: „Das Schweigen Christi und das monastische Schweigen“. In: Cistercienser-Chronik 86. 3 (1979), S. 103–117. Ruberg, Uwe: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. München 1978, S. 125–138. Demandt, Alexander: Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte. Köln u. a. 1999, S. 149–159. Für diesen Zusammenhang unergiebig ist Mattig-Krampe, Bettina: Das Pilatusbild in der deutschen Bibel- und Legendenepik des Mittelalters. Heidelberg 2001. Augustinus, In Ioh. evang. tract. 116.4–5 (CCSL 36), Z. 1ff.: „Hoc silentium domini nostri Iesu Christi non semel factum, collatis omnium euangelistarum narrationibus reperitur, et apud principes sacerdotum, et apud Herodem, quo eum, sicut Lucas indi-
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nicht wie ein Schuldiger, sondern wie ein unschuldiges Lamm öffnete er den Mund nicht. Wo er nicht antwortete, schwieg er wie ein Schaf; wo er antwortete, lehrte er wie ein Hirte.“ Die allgemein bevorzugte Interpretation dieses Schweigens der Überlegenheit fand eine der wichtigsten und bleibenden Anstöße in zwei Predigten des Maximus von Turin aus dem 4. Jahrhundert, die das Passionsgeschehen typologisch mit dem Susanna-Exemplum im Buch Daniel verknüpfen. Der Kirchenvater stellt in diesen im ganzen Mittelalter (auch wegen Fehlzuschreibungen an Ambrosius und Augustinus) weitverbreiteten Texten das Problem des Schweigens vor Gericht an den Anfang.10 Er sucht die für jeden Römer erstaunliche Tatsache zu verstehen, dass der zu Unrecht angeklagte Erlöser auf haltlose Vorwürfe schweigt und sich damit dem Verdacht der bekannten Rechtsmaxime aussetzt: „Wer schweigt, scheint zuzustimmen“. Dagegen setzt Maximus ein Prinzip kommunikativ–unkommunikativer Erhabenheit:11„Durch Schweigen bestätigt der
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cat, miserat Pilatus audiendum, et apud ipsum Pilatum; ut non frustra de illo prophetia praecesserit: sicut agnus coram tondente se fuit sine uoce, sic non aperuit os suum, tunc utique quando interrogantibus non respondit (Is. 53, 7). Quamuis enim quibusdam interrogationibus saepe responderit, tamen propter illa in quibus noluit respondere, ad hoc data est de agno similitudo, ut in suo silentio non reus, sed innocens haberetur. […] Ecce respondit, et tamen ubicumque non respondit, non sicut reus siue dolosus, sed sicut agnus, hoc est, sicut simplex atque innocens non aperuit os suum. Proinde ubi non respondebat, sicut ouis silebat; ubi respondebat, sicut pastor docebat.“ Maximus Taurinensis, Collectio sermonum antiqua. Hg. v. A. Mutzenbecher. Turnhout 1962 (CCSL 23), Sermones 57–58. Ders., Sermo 57, Z. 7–34: „Mirum, inquam, sit, fratres, quod arguatur saluator et taceat. Taciturnitas enim interdum pro consensu habetur; uidetur enim confirmare quod obicitur, cum non uult respondere quod quaeritur. Accusationem ergo suam dominus tacendo confirmat? Non plane accusationem suam tacendo confirmat, sed despicit non refellendo. Bene enim tacet qui defensione non indiget, ambiat defendi qui metuit superari, festinet loqui, qui timet uinci. Christus autem cum condemnatur et superat, cum iudicatur et uincit, sicut ait propheta: vt iustificeris in sermonibus tuis, et uincas cum iudicaris (Ps. 50). Quid ergo opus erat ei loqui ante iudicium, cui ipsum iudicium erat plena uictoria? Vincit enim cum iudicatur Christus, quia sic innocens adprobatur, unde ait Pilatus: innocens ego sum a sanguine huius iusti (Matth. 27). Melior est igitur causa quae non defenditur et probatur; plenior iustitia est quae non uerbis adstruitur, sed ueritate fulcitur. […] Nolo sic defendi iustitiam, sicut solet iniquitas excusari. Quod uincit Christus non orationis est sed uirtutis; scit enim saluator, qui est sapientia, quomodo tacendo uinceret, quomodo non respondendo superaret; atque ideo causam suam mauult conprobare quam dicere. [….] Sed quid de Christo loquar? Susanna mulier [apud?] inimicos suos tacuit et uicit (Dan. 13).“ Größere Teile dieser Stelle werden wörtlich übernommen von Ambrosius, Expos.evang. sec. Lucam, X (CCSL 14), Z. 927ff., und später z. B. von Abaelard (unten Anm.19) und Thomas von Aquin, Catena aurea in Lucam 3, 1, (ed. Marietti 1953, S. 299, Z. 71). Die beiden Predigten sind ein einflussreicher Beitrag zur Verchristlichung des stoischen magnanimitas-Ideals. René-Antoine Gauthier (Magnanimité. L’ idéal de la grandeur dans la philosophie païenne et dans la théologie chrétinne. Paris 1951, S. 236–238) vernachlässigt allerdings Maximus von Turin gegenüber dem von ihm abhängigen Ambrosius.
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Herr die Anklage nicht, vielmehr verachtet er sie, indem er sie nicht widerlegt. Gut schweigt, wer keiner Verteidigung bedarf; zu sprechen beeilt sich nur, wer überwunden zu werden fürchtet. Was brauchte Christus zu sprechen, da seine Verurteilung ein voller Sieg war? […] Denn Pilatus sprach: ‚Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten.‘ Die Gerechtigkeit ist nicht so zu verteidigen, wie das Unrecht entschuldigt zu werden pflegt. Doch was spreche ich von Christus? Eine Frau, Susanna, hat ihre Feinde angeschwiegen und damit gesiegt.“ So setzt sich diese im Sentenzenstil Senecas stilisierte Triumphpredigt mehrere Seiten lang fort. Die Quintessenz liegt in den zahlreichen Parallelen zwischen beiden Szenen: etwa zwischen den falschen Zeugen – den alten Lüstlingen und Ehrabschneidern Susannas – und dem jüdischen Volk als Verleumder Jesu, zwischen dem Schweigen der beiden schuldlos Angeklagten und den zwei strahlenden Siegen, d. h. zwischen der Überführung der Verleumder Susannas durch den Heiligen Geist, der aus dem jungen Daniel sprach, und dem Auferstehungswunder. Hinzu kommt ein in der Susanna-Geschichte fast schwankhaftes Moment, das Maximus zu einer Heucheleikritik zuspitzt:12 Die beiden Ältesten – „vom Volk bestellte Richter“–, die sich vor der Verführung voreinander schämen und erst, als sie sich gegenseitig entlarvt haben, komplizenhaft zusammenhalten, begehen genau das Vergehen, das sie der unschuldigen Frau anlasten, den Ehebruch. Ebenso beschuldigen die Hohepriester Jesus ihres eigensten Verbrechens, der Gotteslästerung. Es liegt darin mehr als eine Ironie: Der falsche Richter, der sich am Ende selber richtet, ist bis hinauf zum Dorfrichter Adam ein sprichwörtliches Spottbild.13 Diese Figur der Selbstaufhebung weltlicher Gerechtigkeit gehört zusammen mit dem zornentbrannten, gegen den Märtyrer Amok laufenden Tyrannen, der die Ohnmacht weltlicher Macht verkörpert, zu den ersten Inspirationsquellen für das, was Ernst Robert Curtius „hagiographische Komik“ genannt und auf eine spielerische Herabsetzung hergebrachter pathetisch-erhabener Erzählformen zurückgeführt hat.14 Diese 12
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Maximus Taurinensis, Sermo 58 (CCSL 23), 7–12: „Illa enim dum in adulterio conuincit praesbyteros, ipsa tamquam adultera retinetur; hic dum in sacrilegio arguit pharisaeos, ipse tamquam sacrilegus accusatur. Quod quidem sacrilegium in pharisaeis maius adulterium uocari potest; grauius est enim religionis adulter[i]um esse quam corporis, et plus est integritatem diuinitatis laedere quam integritatem hominis uiolare.“ Zu den diversen typologischen Parallelen vgl. Brown Tkacz, Catherine: „Susanna victrix, Christus victor: Lenten sermons, Typology, and the Lectionary.“ In: Speculum Sermonis: Interdisciplinary Reflections on the Medieval Sermon. Hg. v. Georgiana Donavin et al. Turnhout 2004, S. 55–86; Ruberg, Beredtes Schweigen, S. 125f. Vgl.: Thesaurus proverbiorum medii aevi, Bd. 9 (1999). Hg. v. Singer-Kuratorium. Berlin u. a. 1999, 294f., 300f. s.l. „Schlechte Richter“. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 5. Aufl., Bern, München 1965, S. 425–429. Sehr anregend hierzu Keller, Hildegard: „Zorn gegen Gorio.
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wesentlich sarkastische Komik beleuchtet eine uns ungewohnte kämpferische Vorstellung der Passion und des Martyriums, die in spiritueller Umkehrung von Sieg und Niederlage zur triumphalen Verhöhnung des scheinhaften Siegers führt. Will man nun von den exegetischen Texten und Ideen zu deren Wirkung und Sitz im mittelalterlichen Leben gelangen, so liegt es nahe, zuerst in den Märtyrerakten nach einem christomimetischen Schweigen vor den Christenverfolgern zu suchen. Diese Fährte ist jedoch merkwürdig unergiebig. Obwohl schon die frühesten Kirchenväter – gelegentlich auch apologetisch sich gegen den heidnischen Vorwurf unheroischer Schwäche richtend – und danach zahlreiche Erbauungsschriftsteller bis zum Spätmittelalter immer wieder auf die Vorbildfunktion des schweigenden Jesus für die Märtyrer hingewiesen haben, zeigen die frühen aus Verhörprotokollen entstandenen und erst recht die späteren sog. epischen Märtyrerpassionen kaum schweigende, sondern mehr oder weniger redegewandte, oft sogar aggressiv auftretende Heilige.15 Es kommt vor, dass ihnen Richter vorwerfen, Sie seien zu geschwätzig und sollen endlich zur Sache kommen. Offensichtlich wurde nicht das Schweigen, sondern das Bezeugen des Glaubens, die offensive professio fidei, als der wesentliche Sinn des „Blutzeugnisses“ angesehen.16 Und dies wird auch im 13. und 14. Jh. noch ausschlaggebend bleiben, als Franziskaner, weniger um zu missionieren, als um den Märtyrertod zu sterben, mit Mohammedbeschimpfungen in Moscheen eindrangen.17 Gegenüber der Nachahmung
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Zeichenfunktion von zorn im althochdeutschen Georgslied“. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hg. v. C. Stephen Jaeger u. Ingrid Kasten. Berlin 2003, S. 115–142. Ich danke MarcVan Uytfanghe für weiterführenden Hinweise. Auf meine Frage nach schweigenden Märtyrern schrieb mir der hervorragende Hagiographiekenner: „Je ne me souviens pas personnellement de martyrs silencieux devant leurs juges, car ils font profession de foi chrétienne. Mais je pense qu’il ne demanderait pas trop de temps de parcourir rapidement une édition des Actes dits,primitifs‘ […] Par contre, la masse des Passions tardives (dites ,épiques‘) se trouve dispersée dans les Acta Sanctorum, chez Mombritius et dans des éditions particulières, c’est plus difficile. De toute façon, ces textes-là sont souvent très rhétoriques (avec beaucoup de discours, des ,prêches‘ même des martyrs). Je doute donc qu’on y trouve beaucoup de cas de martyrs silencieux.“ Vgl. Delehaye, Hippolyte: Les passions des martyrs et les genres littéraires. 2. Aufl., Brüssel 1966, S. 163f., 183–195. Bereits im Mittelalter wurde dieser Unterschied zwischen dem schweigenden Jesus und den bekennenden Märtyrern festgestellt. Rupert von Deutz erklärt in seinem Amos-Kommentar (PL 168, Sp. 324 C) die Differenz heilsgeschichtlich aus der fortschreitenden Ausbreitung des Glaubens. Bei der Gerichtsszene Christi sei die Zeit für die Verkündigung des Evangeliums noch nicht gekommen: „quia tempus malum, iuxta quod sapientia loquitur: Ne effundas sermonem, ubi non est auditus“. Weitere mittelalterliche Stellen bei Ruberg: Beredtes Schweigen, S. 136f. sowie unten Anm.18, 25ff. Altaner, Berthold: „Zur Kenntnis des Arabischen im 13. und 14. Jahrhundert.“ In: Orientalia Christiana Periodica 2 (1936), S. 437–452, hier 451; Urvoy, Dominique: „Les
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des silentium domini dürfte in der Märtyrer-Hagiographie das offensive Verkündigungsmotiv vor allem deshalb so eindeutig vorherrschen, weil das Schweigen als inkommensurables Erlösungssymbol (tamquam ovis ad occisionem ductus) vom Schweigen als Ausdruck menschlicher Geduld und Standhaftigkeit abzusondern war.18 Die Analogien zum Passions-Schweigen zeigen sich jedoch auffällig oft in Konflikt-Situationen, in denen Angegriffene auf das, was sie als Verleumdungen und falsche Anschuldigungen empfinden, sich nicht gleich verbal zur Wehr setzen, sondern als erste Reaktion das Verstummen wählen, um eine in Würde und Geduld beherrschte Entrüstung auszudrücken. Solches Schweigen ist eine spezifische Verteidigungswaffe der Häresieverdächtigen. In einem berühmten Fall stand Bernhard von Clairvaux führend auf der Seite der Angreifer gegen einen solchen Schweiger: auf der 1140 gegen Abaelard arrangierten Synode von Sens. Das unerwartete Schweigen Abaelards auf Bernhards Verlesung der Anklagepunkte hat schon die Zeitgenossen zu kontroversen, meist parteilichen Erklärungen veranlasst, die dann von der Nachwelt bis heute je nach Einstellung zu den Protagonisten weiter debattiert wurden. Stephen Jaeger hat in einem wichtigen Aufsatz eine überzeugende, in der Abaelardforschung auch weitgehend akzeptierte Lösung des Problems angeboten.19 Eine Untersuchung
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Musulmans et l’usage de la langue arabe par les missionnaires chrétiens au moyen-âge.“ In: Traditio 34 (1978), S. 416–427, hier 416f.; Berg, Dieter: „Kreuzzugsbewegung und propagatio fidei. Das Problem der Franziskanermission im 13. Jahrhundert und das Bild von der islamischen Welt in der zeitgenössischen Ordenshistoriographie“. In: Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter. Berlin 1985, S. 59–76; Müller, Anne: Bettelmönche in islamischer Fremde. Münster 2002, S. 189–191. Eine klare Unterscheidung beider Funktionen gibt Christian von Stablo in seinem Matthäus-Kommentar (PL 106, Sp. 1482): „Quia sacerdos non audiebat, neque Christum, neque falsos testes dicentes, unde inveniret locum condemnandi illum, surgit de solio suo et adjurat ut inveniat aliquam occasionem calumniandi. ‚Jesus autem tacebat‘. Ipse enim sciebat quia magis ad calumniam vellent retorquere quam credere: propterea tacebat. Et princeps sacerdotum ait illi: ‚Adjuro te per Deum vivum, ut dicas nobis si tu es Christus Filius Dei‘. Intellexit iste iniquissimus pontifex quia adjuratus per nomen Dei, non duceret in vanum, sed responderet veritatem. Sed Dominus ita responsum suum temperavit, ut nomen suum videretur contemnere, neque etiam pateretur ullam calumniam. ‚Tu dixisti: Verum tamen dico vobis, amodo videbitis Filium hominis sedentem a dextris Dei.‘ Id est, illum qui fi lius hominis appellatur, videbunt boni oculis cordis habere eamdem virtutem quam Deus, cum ascenderit in coelum, et data fuerit ei omnis potestas in coelo et in terra, et venientem in nubibus ad judicandum totum mundum, qui a vobis judicatus est‘. Quid facerent sui martyres si ipsi sic tacuissent. Jam quia dispositum habebat quia mori pro populo annuntiavit veritatem, ut daret exemplum martyribus suis, quod constanter debeant annuntiare usque ad mortem.“ Vgl. auch unten Anm. 27 zu Michele minorita. Jaeger, C. Stephen: „Peter Abelard’s Silence at the Council of Sens“. In: Res publica litterarum 3 (1980), S. 31–54. Die minutiöse Untersuchung erübrigt hier eine erneute
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der im Werk Abaelards verstreuten Aussagen über das Schweigen, insbesondere in einigen Predigten über Susanna und den Prozess Jesu ermöglichte die Extrapolation auf das Ereignis von Sens. Abaelard zeigte an dieser Thematik ein außergewöhnliches Interesse und intensivierte dabei die erläuterte patristische Auslegungstradition im Sinne der magnanimitas.20 Es ist darum eine plausible Annahme, dass er aus diesem ihm vertrauten Modell persönliche Konsequenzen gezogen hat, als er in die ausweglose Situation von Sens geriet. Er selbst hatte beim Erzbischof von Sens eine theologische Disputation mit seinen Gegnern beantragt und durchgesetzt, um sich vor einer möglichst großen Öffentlichkeit in Anwesenheit des Königs, vor Vertretern der kirchlichen und weltlichen Hierarchie sowie in Begleitung seiner Anhänger zu rechtfertigen und Bernhard als Rufmörder hinzustellen. Dieser weigerte sich zuerst, einer solchen Versammlung wegen der für ihn ungünstigen Verhandlungsform beizuwohnen, besann sich dann aber eines Besseren: Durch interne Vorabsprachen in letzter Minute erreichte er, dass die vorgesehene Auseinandersetzung zu einem Gerichtsverfahren, um nicht zu sagen ‚Schauprozess‘ umfunktioniert wurde. Als Abaelard sich gegen die vereinbarte Verfahrensform in die Rolle des Angeklagten versetzt sah, verlegte er sich auf ein ostentatives Schweigen und verließ, von seinem Gefolge begleitet, den Raum. Dieser Akt demonstrativer Kommunikationsverweigerung erklärt sich gewiss auch pragmatisch aus seiner Absicht, an den Papst zu appellieren, doch mehr Gewicht dürfte Aufbereitung der Literatur, die ohnehin weit mehr mit den kontroversen Lehrmeinungen und den Strategien der Gegner Abaelards als mit dessen eigenen Beweggründen für den Verzicht auf das ihm gewährte „Rederecht“ beschäftigt sind. Die wohl neueste Behandlung des Themas geht auch kurz kritisch auf die nach 1980 erschienenen Arbeiten ein: Kolmer, Lothar: Abaelard. Vernunft und Leidenschaft. München 2008, S. 77–84, insbesondere S. 112f. zur psychologistischen, ja pathographischen Erklärung, eine Bewusstseinstrübung oder gar ein Gehirntumor hätten Abaelard „die Sprache verschlagen“. Diese von Jaeger überzeugend widerlegte Hypothese ist offenbar unverwüstlich. Sie findet sich erneut bei Clanchy, Michael: Abaelard. Ein mittelalterliches Leben. Darmstadt 2000, S. 395f. Auch wenn letzte Gewissheit über die christomimetische Motivation nicht zu erlangen ist, so dürfte doch diese in Abaelards eigenen Schriften ausreichend dokumentierte Perspektive eine plausiblere Deutung darstellen als gewisse Versuche des historischen Fremdverstehens aufgrund schlichter heutiger Alltagspsychologie. Dass bereits der Bernhard-Biograph Gottfried von Auxerre Abaelards Schweigen aus einer Gemütsverwirrung erklärte, hat als boshafte Unterstellung wenig Quellenwert (PL 185, 311C). Dazu vgl. auch Marenbon, John: The philosophy of Peter Abelard. Cambridge 1997, S. 32: „[...] it seems, on the contrary, that Abelard acted very rationally, countering Bernard’s stratagem and saving himself from immediate condemnation.“ 20 Es handelt sich um die Predigten 11, 12 zur Passion, De rebus gestis in diebus Passionis, De cruce und 29, De sancta Susanna, PL 178, Sp. 453–484, 555–564; ed. V. Cousin, Opera, Bd. 2, repr. Hildesheim 1970, S.428–460, 537–547, die in die kritische Edition von Paola De Santis (I sermoni di Abelardo per le monache del Paracleto. Löwen 2002) leider nicht aufgenommen worden sind.
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Abaelard an Ort und Stelle darauf gelegt haben, das Gesicht zu wahren und den seiner Sache sicheren Angreifer verblüfft stehen zu lassen. Jedenfalls hat er durch seine geistesgegenwärtige – vielleicht aber auch schon vorkalkulierte – Reaktion seiner öffentlichen Demütigung effizient den Boden entzogen und sich als ungerecht angeklagtes Opfer christomimetisch durch „aggressive Passivität“ in Szene setzen können.21 Man darf sich fragen, ob der offen und hinter den Kulissen geführte Kampf um die vorteilhaftere Verfahrensform sich am Ende nicht darum drehte, wer den andern vor der hochfeierlichen Öffentlichkeit am schnellsten und effizientesten beschämen, im Erdboden versinken lassen könne. Abaelard war nicht der einzige Denker, der sich auf die HäresieAnklage auf das Schweigen Jesu vor seinen Richtern berief. So wiederholt etwa Berengar von Tours in seinem Antwortschreiben an Lanfranc mehrfach, er habe im sog. Abendmahlsstreit niemals „Schmähung durch Schmähung vergolten“, sondern auf alle Verleumdungen stets geschwiegen. Ihm genüge als Ruhm das Zeugnis seines Gewissens (II Kor. 1.12), das ihm Rechtgläubigkeit attestiere, und darum sei er vor Unwissenden und Verrückten verstummt, um nicht selbst für verrückt gehalten zu werden, hätte er sich mit ihnen gestritten.22 Doch möchte ich hier einzig den vielleicht berühmtesten Fall eines Ketzerprozesses erwähnen, der dank konsequenter Passionsanalogie sowohl in der hagiographischen Darstellung wie offenbar auch in der dargestellten Wirklichkeit aus den Fugen lief und ins Gegenteil kippte: die „Geschichte des Minoritenbruders Michele von Florenz“, der 1389 in dem von Papst Johannes XXII ausgelösten Armutsstreit wegen seiner hartnäckigen Verteidigung der absoluten Armut Christi auf dem Scheiterhaufen starb.23 Das Ereignis wurde in der Forschung meist unter dem Aspekt der Umkehrung der Inquisitionslogik behandelt: Eine durch den
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Jaeger: „Peter Abelard’s Silence“, S. 37: „Christ’s aggressively passive behavior interested Abelard particularly“. 22 Rescriptum contra Lanfrancum. Hg. v. B. C. Huygens (CCCM 84). Turnhout 1988, Teil I, Z.1143–1164: „Vellem miseratione divina non reddere convitiis tuis convitia, quia scribis me labium dolosum in corde et corde locutum, ad vomitum redisse et volutabrum, qui numquam me contra calumpniam tuam audisti, numquam quid sentirem, sicut nec papa ille nec synodus tua, mansuetudine christiana pervidisti; sed quicquid scribas tu, ego gloriam habeo sub iudice deo testimonium conscientiae meae quod demonium, quod michi ascribis, non habeam[ … ] instantis timore mortis atque insanorum perturbatione deiectus a protestatione veritatis et defensione mea obmutui, non quod a percepta umquam veritate desciverim, quamquam nobilem quendam michi que in inmensum superiorem de quodam forsitan non dissimili, cui interfuisset, concilio dixisse non nesciam: compressus indoctorum grege conticui, veritus ne merito haberer insanus, si sapiens inter insanos videri contenderem“. Ähnlich auch Teil II, Z. 1429–1440. 23 Anonimo Fiorentino: Storia di fra’ Michele Minorita. Hg. v. Emanuele Trevi. Rom 1991.
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Fraticellen (im Verein mit dessen „Hagiographen“) meisterhaft inszenierte Dialogführung, die bis ins kleinste Detail hinein die Passion Christi nachzuahmen suchte, bewirkte schließlich in einer Art Gegenpropaganda die Demontage der inquisitorischen Repressionspropaganda,24 sodass, wie es am Ende des Berichts heißt, die öffentliche Meinung sich spaltete und die Mehrheit die (im Übrigen durchweg als „Pharisäer“) bezeichneten Kleriker verfluchte: „Die einen sagten: ‚Er ist ein Märtyrer, ein Heiliger‘, die andern das Gegenteil, und so entstand größerer Aufruhr in Florenz, als man je gesehen.“ Ich kann hier nur wenige das Schweigen betreffende Stellen herausgreifen, die besonders klar und einfach auf das eingangs erwogene heikle Problem der Nachahmbarkeit Christi in der Passion eingehen und den Wechsel von demütigem Schweigen und kerygmatischem Reden begründen. Michele antwortet seinen Richtern nur dann, wenn es um die Wahrheit geht, und schweigt, wenn seine Person beschimpft und gedemütigt wird. Jedes Mal wenn er ,Ketzer‘ genannt wird, entgegnet er, ohne auf das jeweilige Argument einzugehen, stereotyp mit derselben Formel: „Ich bin kein Häretiker und will es nicht sein, wohl aber bin ich Sünder und Katholik“. 25 Der Berichterstatter kommentiert dies so: „Er antwortete selten und nur dann, wenn es ihm notwendig schien, um mit spärlichen Worten den anderen die Augen zu öffnen.“ 26 Viele seiner Antworten, etwa die unentwegt wiederholte Formel „ich halte den gekreuzigten Christus für arm und Papst Johannes XXII. für einen Ketzer“ – Cristo povero Crocifisso, e papa Giovanni XXII eretico – sind in ihrem repetitiven Stil ein reduziertes, sich dem Schweigen annäherndes Sprechen. Am eindrücklichsten ist der Wortwechsel mit Bürgern bei seinem ‚Kreuzweg‘ durch Florenz, bei dem der Meinungsumschwung langsam, aber sicher vorbereitet wird: Wenn einer ihm sagte: ,Stimme des Volkes – Gottes Stimme‘, so sagte er: ,Die Stimme des Volkes hat Christus ans Kreuz geschlagen.‘ […] Viele sagten
24 Vgl. Trexler, Richard C.: Public Life in Renaissance Florence. New York 1982, S. 205f., 338f.. Merlo, Grado G.: „Coercition et orthodoxie: Modalités de communication et d’imposition d’un message religieux hégémonique“. In: Faire croire, XIIe au XVe siècle. Rom 1981, S. 101–118; Manselli, Raoul: „Evangelismo e povertà“. In: Il secolo XII: religione popolare ed eresia. Hg. v. Raoul Manselli. Rom 1983, S. 47–66. 25 Anonimo Fiorentino: Storia, Kap. XII, S. 50: „Di che nel principio cominciava:,Frate Michele, uomo di mala condizione e fama‘. E così con molte parole ingiuriose della sua persona; e ’l santo a nulla rispondea; se non quando dicea lui essere eretico; e il santo rispondea: – eretico non sono, nè posso essere; peccatore sì, ma cattolico –.“ Vgl. auch Kap. V, S. 35; Kap. XVII, S. 59. 26 Ebd. Kap. XIX 61: „E alcuno gli dicea: – Sciagurato, tu ài il diavolo a dosso che ti tira– et e‘ rispondea: – Iddio me ne guardi –. E così, andando, rispondea di rado, e non rispondea se non alle cose che gli pareano di necessità, e rade volte alzando gli occhi altrui.“
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ihm:,Verleugne, verleugne, wolle nicht sterben!‘ Er antwortete: ,Christus starb für uns‘. Und einige sagten ihm: ,Du bist nicht Christus und brauchst nicht für uns zu sterben.‘ Er aber antwortete: ,Ich sterbe für ihn.‘ Und als einer ihm sagte: ,Du lebst nicht unter Heiden‘, antwortete er: ‚Ich sterbe für die Wahrheit‘ [...] Und einer, der ihm sehr zusetzte, sagte: ,Du stirbst verzweifelt‘. Doch er antwortete: ,Ich töte mich nicht selbst, sie bringen mich um‘. Der andere: ,weil du es eben selber so willst‘. Er hingegen: ,um nicht der Wahrheit zu widersprechen.‘ Da rief plötzlich eine fromme Frau aus der Menge: ,Bleib‘ stark, du Märtyrer Christi, bald wirst du die Krone erlangen‘. Ich weiß nicht, was er ihr geantwortet hat, aber es entstand ein großes Gerede. 27
Man sieht hier trotz aller Stilisierung zur Legende wiederum, wie die gewissermaßen stolze Demut oder „aggressive Passivität“ der Verfolgten in konkreten, hier kirchenpolitischen Konflikten die Blamage mächtigster Autoritäten herbeiführen konnte. *** Soweit zum beschämenden Schweigen. Ich komme an zweiter Stelle zum schamlosen Schweigen, wobei ich auf eine ganz andere, klar aktive, demonstrative, ja theatralische Form der imitatio Christi eingehen möchte, auf die gespielte Verrücktheit um Christi willen, das sog. Gottesnarrentum. Das Schweigen erscheint in diesem Zusammenhang gelegentlich auch als ein reduziertes, defizientes, arhetorisches, ja antirhetorisches Sprechen – insbesondere in der Form des unverständlichen Selbstgesprächs –, beruht jedoch stets wesentlich auf körpersprachlichem Symbolhandeln, durch das die Kommunikation mit der Umwelt sowohl abgebrochen wie fortgesetzt wird.28 Das Gottesnarrentum ist von Haus aus ein altchrist-
27 Ebd., Kap. XXVII, S. 65.: „E colui cominciò a dire: – voce di popolo, voce di Dio –. Ed e‘ disse: – la voce del popolo fece crucifiggere Cristo – […]“ Kap. XXX, S. 66f.: „[…] molti i quali dicevano: – niega, niega, non volere morire –. Et egli rispondeva: – Cristo morì per noi –. E alcuni dicevano: – o! tu non se‘ Cristo, e non ài a morire per noi, tu – et e‘ rispondeva: – e io voglio morire per lui –. E dicendo eglino: – o tu non se‘ tra pagani – et esso diceva: – Io voglio morire per la verità –. E dicendo eglino: – pogniamo che cotesta sia la verità, tu non debbi morire per ciò – et e‘ rispuose: – Per la verità morì santo Piero, e a santo Pagolo fu tagliato il capo –. E uno infra gli altri l’andava molto molestando, e dicea: – Tu muori disperato – e que‘ disse: – Io non mi uccido, ma e‘ m’uccidono costoro –. E que‘ disse: – perchè tu vuogli, tu stesso –. E rispondendo disse: – Per non dire contro alla verità – […]“ Kap, XXXII, 69: „[…] una fedele gli cominciò a gridare, dicendo: – State forte, martire di Cristo, che tosto riceverete la corona –. Non so che le si rispuose, ma nacquene uno grande favellìo.“ 28 Diesen Aspekt beleuchtet ausgezeichnet Uffelmann, Dirk: „Von der Rhetorik der tapeinosis bzw. humilitas über den Habitus des altrussischen Gottesnarren zu Dostoevskijs Christopoetik [Der Idiot]“. In: Rhetorik als kulturelle Praxis. Hg. v. Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi u. Susanne Strälting. München 2008, S. 151–164: Die Antirhetorik des Verkürzens, hässlichen Sprechens, Stotterns und anscheinend unfreiwilligen Ver-
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liches, von den syrischen und ägyptischen Wüstenvätern geprägtes, doch auch von der kynischen Philosophie und Lebensform mitbestimmtes Vollkommenheitsmodell.29 Es bildet die Fortsetzung und Steigerung des einsamen Wüstenlebens, die an Radikalität alles hinter sich lässt, was nach Max Weber unter „innerweltlicher Askese“ verstanden wird: Der Asket lässt sich nicht nur durch andere Asketen beschämen, wie dies Antonius als „exercice spirituel“ zur Erlangung kontemplativer Seelenruhe empfohlen hat, sondern macht sich selbst freiwillig zur Spottfigur einer weltlichen, meist städtischen Zuschauermenge und erreicht durch letzte Selbsterniedrigung vor der Welt die höchste, weil schwierigste Form der Askese.30 Durch eine spezifische hagiographische Kurzgeschichten- und Apophthegmen-Literatur, die in vielem die anekdotischen Formen des antiken Philosophen-Bios fortsetzte, wurde dieses Ideal des frühesten – noch vor allen Verfestigungen des institutionellen Mönchtums blühenden31 – charismatischen Asketentums weit und dauernd verbreitet, insbesondere weil Texte wie die Verba seniorum, Aphthegmata patrum, Vitas patrum, die Historia Lausiaca des Palladius oder die WüstenväterExempla Cassians oder Hieronymus‘ als monastische Hauptliteratur oder Pflichtlektüre gelesen und durch die Jahrhunderte überliefert wurden.32 stummens ist selbst eine Strategie allgemeiner Rhetorik oder rhetorischer Anthropologie, von der die bekannten schulrhetorischen Figuren der Aposiopese und Litotes gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs bilden. Renate Lachmann („Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis“. In: Unverwechselbarkeit. Hg. v. Peter von Moos. Köln 2004, S. 379–410, hier S. 395f.) sieht in dieser Form einer „kommunikativen Nicht-Kommunikation“ eine verbalsprachliche Parallele zur körperlichen Entblößung der Gottesnarren (vgl. auch unten Anm. 51, 60). 29 Zum kynischen Einfluss s. Krueger, Derek: „The bawdy and society. The shamelessness of Diogenes in roman imperial culture“. In: The Cynics. The cynic movement in antiquity and its legacy. Hg. v. R. Branham Bracht u. Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley 1996, S 222–239; Matton, Sylvain: „Cynicism and Christianity form the Middle Ages to the Renaissance“, ebd. S. 240–264; Kinney, Daniel: „Heirs of the dog. Cynic selfhood in medieval and Renaissance culture“, ebd. S. 294–328; Largier, Niklaus: Diogenes der Kyniker: Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1997; ders.: „Diogenes von Sinope – geistlich und weltlich. Zugleich ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Exempel und Novelle“. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hg. v. Chr. Huber, B. Wachinger u. H.-J. Ziegeler. Tübingen 2000, S. 291–304. 30 Knuttila, Simo: Emotions in Ancient and Medieval Philosophy. Oxford 2004, S. 139; Benz, Ernst: „Heilige Narrheit“. In: Kyrios 3 (1938), S. 1–55, hier S.7f.; Tschizewskij, D., „Heilige Narren“. In: Russische Heiligenlegenden. Hg. v. Ernst Benz. Zürich 1953, S. 424–434, hier S. 433: Schon nach der Antonius-Vita des Athanasius erscheint der einsame Kampf in der Wüste leichter als die Askese innerhalb der Welt. 31 Vgl. Elm, Kaspar: „Franziskus und Dominikus, Wirkungen und Antriebskräfte zweier Ordensstifer“. In: Saeculum 23 (1974), S. 127–147, hier S. 140. 32 Zum Quellenbereich vgl. Reitzenstein, Richard: Hellenistische Wundererzählungen. Leipzig 1906, bes. S. 55- 83; Bousset, Wilhelm: Apophthegmata. Zur Geschichte des älteren
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Dieser Herkunftsbereich sicherte auch christentumsweit die Geltung des Gottesnarrentums. Ich möchte hier einzig auf dessen wichtigste westliche Ausprägung eingehen, wie sie sich in den Legenden über die ersten Franziskaner des 13. Jahrhunderts manifestiert. Nur in Klammern sei angemerkt, dass die Gesamtgeschichte des Phänomens eines intensiv transdisziplinären Gesprächs bedürfte;33 denn sie ist keineswegs, wie man immer wieder lesen kann, ein Quasi-Monopol der frühen byzantinischen und der neuzeitlichen russischen Kirchengeschichte, sondern hat eine eigene Entwicklung im abendländischen Mittelalter.34 Vorausschicken Mönchtums. Tübingen 1923; Fuhrmann, Manfred: „Die Mönchsgeschichten des Hieronymus“. In: Christianisme et formes littéraires. Hg. v. Alan Cameron. Genf 1977, S. 41–100; Moos, Peter von: Geschichte als Topik. Hildesheim 1988, S. 172–187. Zur zentralen Bedeutung dieser Exempelliteratur für die mendikantische Bewegung s. Elm: „Franziskus und Dominikus“, S. 140; Boureau, Alain: „Vitae fratrum, Vitae patrum. L’ordre dominicain et le modèle des pères du désert.“ In: Mélanges de l’École française de Rome 99 (1987), S. 79–100; Schürer, Markus: Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jhs. Münster 2005, bes. S. 179–188; Benz: Russische Heiligenlegenden, S. 427; Wesjohann, Achim: „ut … stultus vel fatuus putaretur – Fehltritte‘ früher Franziskaner ?“ In: Der Fehltritt. Hg. v. Peter von Moos. Köln 2001, S. 203–234, bes. S. 212–215. 33 Dazu regt auch Jacques Berlioz nach einigen Vergleichen zwischen den östlichen und westlichen Ausprägungen an: „Métaphore, lieux communs et récit exemplaire: les images de la folie simulée dans la Vie du terrible Robert le Dyable (1496)“. In: Symboles de la Renaissance, Arts et langage, II, Paris 1982, S. 89–108, 231–236. 34 Zum östlichen Gottesnarrentum muss ich aus Raumgründen auf Literaturangeben verzichten; zum westlichen außerhalb der im Folgenden behandelten franziskanischen Variante vgl. vor allem Vandenbroucke, François: „Fous pour le Christ en Occident“. In: Dictionnaire de Spiritualité, V(1964), Sp. 761–770; Michel de Certeau: „Le Silence de l’Absolu, Folles et Fous de Dieu“. In: Recherches de Science Religieuse 67/4 (1979), S.525–546; Saward, John: Perfect Fools. Folly for Christ’s Sake in Catholic and Orthodox Spirituality. Oxford 1980; Laharie, Muriel: La folie au Moyen Age, XI–XIIIe siècles, préface de J. Le Goff. Paris 1991, 81–113; Fritz, Jean-Marie: Le discours du fou au Moyen Age. XIIe–XIIIe siècles. Etude comparée des discours littéraire, médical, juridique et théologique de la folie. Paris 1992, S. 305–327; Gagliardi, Isabella: Pazzi per Cristo. Santa follia e mistica della Croce in Italia centrale nel XIII e XIV secolo. Siena 1997; Bretel, Paul: Les ermites et les moines dans la littérature française du moyen age (1150–1250). Paris 1995, bes. S. 106ff.; Kappler, Claire u. Suzanne Thiolier-Méjean (Hg.): Les fous d’amour au moyen-âge. Paris 2007; Lassus, M. A.: „Romuald, le fou de Dieu“. In: La vie spirituelle 124 (1971), S. 206–18; Gelser, Erica: „Crucible to Antichrist: Early Medieval Depictions of the Fool in Commentaries on Proverbs“. In: Komik und Sakralität. Hg. v. Anja Grebe u. Nikolaus Staubach. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 32–40; Leclercq, Jean: „L’idiot à la lumière de la tradition chrétienne“. In: Revue d’ histoire de la Spiritualité 49 (1973), S. 288–304. Abgesehen von der diskursthereoretisch strengen und gerade darum stofflich etwas eingeschränkten Untersuchung von J.-M. Fritz kranken die meisten anderen Arbeiten an begrifflicher Unschärfe, weil sie das historisch bezeugte Gottesnarrentum als reale Lebensform mit literarischen, religiösen, hagiographischen, theologischen, mystischen Thematisierungen der Torheit um Christi willen vermengen. -– Das Verhältnis zwischen den ostkrichlichen und der westkirchlichen Ausprägungen ist seit je kontorvers. Extrempositionen, die eine ausschließlich byzantinisch-russische Erscheinung an-
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möchte ich außerdem, dass ich trotz des dafür geeigneten Rahmenthemas „Schamlosigkeit“ der Versuchung widerstehe, die bekannten, mehrfach erzählten Anekdoten zur Unterhaltung erneut aufzubereiten. Um dies in eine einzige lange praeteritio zu stecken, erzähle ich also nichts von den verwahrlosten, stinkenden, splitternackten, auf allen Vieren gehenden, in saubere Gastbetten ihre Bedürfnisse verrichtenden, brave Kirchgänger mit Steinen bewerfenden, demonstrativ mit Dirnen Umgang pflegenden, unverständliche Tierlaute oder ununterbrochen dasselbe einsilbige Stoßgebet von sich gebenden, alle Anstandsregeln ostentativ über Bord werfenden, für die Armen sogar Fleisch stehlenden oder sich als Sklaven verkaufenden Bettelmönchen. Ich beschränke mich auf eine Systematik der religiösen Inspirationsquellen und auf die Motivationen solch anarchisch anmutender Befremdlichkeiten. Wir sind bisher mehreren Möglichkeiten der Passions-Nachfolge bis zum Martyrium begegnet, die immer wieder das humiliatio-exaltatio-Paradox von Lucas 14,11 berühren: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, und wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden“, wobei die beiden Pole in nicht immer ganz durchsichtiger Weise so miteinander verschränkt werden, dass die Selbstdemütigung gewissermaßen die Fremddemütigung bewirkt und die wie immer geistlich gemeinte Dialektik letztlich doch dem Rahmen von Ehre und Schande semantisch verhaftet bleibt. Gerd Althoff hat kürzlich in anderem Zusammenhang auf diese Unklarheit das hier gut passende Nietzsche-Zitat bezogen: „Lucas 18, 14 verbessert. –Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden“.35 Genau diese heuchlerische Möglichkeit, durch Demut zu triumphieren, wird nun vom Gottesnarren-Paradigma radikal vernichtet, da damit sämtliche Begriffe gesellschaftlicher Geltung und Normalität und sogar moralische Leistungs- bzw. Tugendvorstellungen in einer umfassenden mise en abî-
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nehmen oder umgekehrt den russischen Jurodivyi völlig auf das franziskanischen Modell zurückführen, werden heute vermieden. Möglichkeiten eines gegenseitigen Austauschs erwägen etwa Burgarella, Filippo: „Francesco e il santo folle dell’agiografia bizantina“. In: Francesco d’Assisi fra Storia, Letteratura e Iconografia. Hg. v. F. E. Consolino. Soveria Mannelli 1996, S. 83–96; Pagani, Maria Pia: „I venerabili folli di Russia“. In: Ricerche di storia sociale e religiosa 56 (1999), S. 83–91. Althoff, Gerd: „Humiliatio – Exaltatio. Theorie und Praxis eines herrscherlichen Handlungsmusters“. In: Text und Kontext, Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Göttingen 2007, S. 39–52, hier S. 39: Nietzsche, Friedrich: Menschliches–Allzumenschliches, Bd. 2. Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, 2., durchges. Aufl. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino. München 1988, S. 87, Nr. 87. Zu diesem Thema vgl. auch Witthoft, Christiane: „…und swaz sich nidert, daz wirt wider gehoehet. Ein Bildwort als narratives Schema in der Literatur des Mittelalters“, ebd. S. 53–76.
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me verworfen werden, die selbst diese Verwerfung nochmals verwirft.36 Der Gottesnarr ist ein Heiliger unter der Tarnkappe, der bewusst alles unternimmt, was seinen guten Ruf ruiniert, bis hin zu vorgetäuschter, Anstoß erregender Sündhaftigkeit.37 Er ist in einem privativen Sinn durch „Scham-losigkeit“ definiert, nach der französischen Terminologie von Jean-Claude Bologne also als „a-pudeur“, nicht als „im-pudeur“.38 Er hat die Scham abgeschafft, befindet sich in einem transgressionslosen Jenseits von Gut und Böse, Ehre und Schande. Diese Schamlosigkeit verwirklicht sich meist auf drei Stufen einer ‚Öffentlichkeitsarbeit‘: Auffälliges Verhalten erzeugt Spott; allmählich entsteht eine geteilte Meinung, ein Teil der Umwelt nimmt die verborgene Heiligkeit wahr, bekehrt sich und beginnt den Gottesnarren zu verehren. Diese öffentliche Anerkennung aber treibt ihn in die Flucht und zu neuen, noch unverschämteren Provokationen.39 Der tiefste religiöse Grund für dieses Verhalten liegt in einer spezifischen Konsequenz aus der Kenosis. Renate Lachmann hat dazu die treffende Formel geprägt: Der Menschwerdung Gottes entspricht auf unterer Ebene die Narrwerdung des Menschen. So wie Christus seine göttliche Natur verleugnet hat und Fleisch geworden ist, so verleugnet der ihm bedingungslos Nachfolgende sein Menschsein und wird Narr. 40
36 Denn es gibt auch Hochstapler, die nicht die Verrücktheit, sondern das Gottesnarrentum selbst simulieren; dazu vgl. Tschizewskij: „Heilige Narren“, S. 434; Newman, Barbara: „Possessed by the Spirit: Devout Women, Demoniacs and the Apostolic Life in the Thirteenth Century.“ In: Speculum 73.3 (1998), S. 733–770, hier S. 753 zu Caesarius von Heisterbachs Kritik an betrügerischen Besessenen. Vandenbroucke: „Fous pour le Christ“, Sp. 761: Auf die Inversion der Inversion verweist ein im 12. Jh. beliebter Merkvers Hildeberts von Lavardin (?): Carmina miscellanea (PL 171), Sp. 1437 A: über die Selbstverachtung und Verachtung des Verachtetwerdens: „Spernere mundum, spernere sese, spernere nullum, / Spernere se sperni, Quatuor haec bona sunt.“ 37 Vgl. Berger, Peter L.: Redeeming Laughter: the comic dimension of human experience. Berlin u. New York 1997, S. 191. 38 Bologne, Jean-Claude: Histoire de la pudeur. Paris 1997, S. 19 u. 161 39 Laharie: La folie, S. 87f.; Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 128f. 40 Lachmann: „Der Narr in Christo“, S. 405; s. auch Berger: Redeeming Laughter, S. 187– 196; Welborn, Laurence L.: Paul, the fool of Christ. A Study of 1 Corinthians 1–4 in the comic-philospohic tradition. London 2005; Lüthi, Max: „Demut und Hochmut“. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3 (1999), Sp. 412f.; Uffelman („Von der Rhetorik der tapeinoos“, S. 141) betont, dass hinsichtlich der Kenosis die direkte imitatio Christi prekär wäre, „da niemand eine göttliche Natur abzulegen hat“, weshalb einzig die imitatio humiliationis Christi konsequent zum Gottesnarrentum führt; Benz: „Heilige Narrheit“, S. 7f., 40f. zur Kenosis einerseits als Legitimation der Verstellung zum Narren, da auch Christus die „Knechtsgestalt“ wie ein Demütigungskleid angezogen hat, andererseits als dämonologische Symbolik: „Wie sich Christus nach der uralten mythologischen Auslegung der Menschwerdung deswegen in Menschengestalt in die Welt einschleicht, um den Satan und den Tod zu täuschen und sich am Kreuz dem Tod hingibt wie ein gewöhnlicher
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Explizit findet sich diese Formulierung allerdings nirgends im franziskanischen Diskurs; sie lässt sich jedoch widerspruchslos auf die in den Legenden gegebenen Begründungen beziehen.41 Vor allem aber wird aus der Abstiegsanalogie: „vom Menschen hinab zum Narr“, deutlich, dass die Narrheit eine Form des Untermenschlichen, ja Tierischen darstellt. Jean-Marie Fritz hat dies in seiner Monographie über den mittelalterlichen ‚Verrücktendiskurs‘ aufgrund der polemischen Frage des Bischofs Marbod von Rennes an den zerlumpten, verwilderten Robert von Arbrissel, wo denn da noch der Mensch geblieben sei (Ubi est homo?), als eine besondere Form des Antihumanismus bezeichnet.42 Dass es dabei um mehr als eine Redensart geht, zeigt die Stellung Geistesgestörter in der mittelalterlichen Gesellschaft, die noch nicht in die von Foucault beschriebenen Exklusionsräume systematisch eingeschlossen wurden, weil es solche erst in der Neuzeit gab.43 Sieht man von gemeingefährlichen Verrückten ab, die auch im Mittelalter eingesperrt wurden, so tummelten sich alle Arten von stulti, vom Kretin und Dorftrottel bis zum Psychopathen und Besessenen auf Straßen und Plätzen mitten unter den sog. Normalen und machten sich auf ihre Weise auffällig. In dieser Promiskuität waren sie – so schockierend uns heute das Gelächter
Mensch; wie der Satan an diesen Köder anbeißt, aber an dem Bissen selber stirbt und der Tod den Tod selber tötet, so hat auch hier die Maske des Heiligen und das strenge Incognito die Bedeutung der Überlistung des Satans.“ 41 Laharie: La folie, S. 94f.; Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 92–111, 120–129 zum spezifisch franziskanischen Ideal der Selbstentleerung oder Selbstentäußerung (annihilatio). 42 Fritz: Le discours du fou, S. 315: „La folie est condamnée au nom d’un humanisme.“ Die Szene wird auch von Lachmann („Der Narr in Christo“, S. 404f.) in die Mitte gestellt. Vgl. Laharie: La folie, S. 91; Dalarun, Jacques: L’ impossible sainteté : la vie retrouvée de Robert d’Arbrissel (v.1045–1116) fondateur de Fontevraud. Paris 1985, S. 215–219 („L’excentricité de Robert“). Zum ästhetisierenden Prälaten-Humanismus Marbods und des sog. Loire-Kreises vgl. Steinen, Wolfram von den: „Humanismus um 1100“. In: Menschen im Mittelalter. Hg. v. Wolfram von den Steinen. München 1967, S. 196–214. Vgl. auch Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 41f. zu einem Parallelfall des 11. Jhs.: der Gottesnarr Heimrad im Verhör durch den Bischof von Paderborn. 43 Foucault, Michel: Histoire de la folie à l’ âge classique, 2. Aufl. Paris 1972 sowie ders.: Les anormaux (Cours au Collège de France 1974–75). Paris 1999. Einige allzu ‚makrohistorische‘ Übertreibungen werden zuechtgerückt durch Bernuth, Ruth von: Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheiten in den ‚Historien von Claus Narren‘. Tübingen 2009, S. 18–20, 270–272; Matejowski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996, S. 67–70; Mora, George: „The Mentally Ill in the Middle Ages“ (Sammelbesprechung). In: Journal of the History of Behavioural Sciences 31 (1995), S. 236–249. Über das Ziel einer differenzierten Foucault-Kritik hinaus schießt neuerdings hingegen Claude Quétel, Gründer der internationalen Gesellschaft für Geschichte der Psychiatrie, wenn er in seiner Histoire de la folie de l’Antiquité à nos jours, Paris 2009, behauptet, der Wahnsinn als Krankheit sei zu allen Zeiten klar von der Unvernunft im philosophisch-moralischen Sinn unterschieden worden.
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über Behinderte erscheint44 – ein beliebter Spott- und Amüsiergegenstand der Menge und die Zielscheibe für Gassenjungenstreiche. Der Weg von der Straße zur hohen Theologie ist manchmal nicht weit, erwägt doch Thomas von Aquin, ob dauerhaft Verrückte getauft werden dürfen, da man ja auch Tiere nicht taufe, und der Vernunftgebrauch wesentlich zum Mensch- und Christsein gehöre. Auch wenn er diese quaestio schließlich positiv entscheidet (in Analogie zur Kleinkindertaufe wider die Erbsünde), so bleiben die furiosi et amentes doch von den auf bewusster Zustimmung beruhenden Sakramenten (Ordination und Ehe) sowie vom Sterbesakrament kategorisch ausgeschlossen.45 Der von Geburt an für immer Verrückte (naturaliter stultus) hat im Unterschied zum Kleinkind nicht einmal die Disposition oder potentia spiritualis zum individuellen Gnadenempfang und zur sittlichen Verantwortung; er bleibt auf der Stufe eines animalischen Lebewesens, für immer unzurechnungsfähig und unschuldig zugleich. Doch zurück zur Lebenswelt: Anders als der – auch damals je nach seinem gesellschaftlichen Rang oft durchaus beklagenswerte und medizinisch betreute – Geistesgestörte, der seinen Verstand erst in späteren Jahren oder nur temporär verlor, gehörten die „natürlichen Narren“ zusammen mit Bettlern, Gauklern, Zwergen und „Monstren“ zur untersten Kategorie von Randgruppen und dienten in einem gewissen Sinn
44 Vgl. Bernuth, Ruth von: „Über Zwerge, rachitische Ungeheuer und blödsinnige Leute lacht man nicht. Zu Karl Flögels ‚Geschichte der Hofnarren‘ von 1789.“ In: Traverse 13.3 (2006), S. 61–72. und dies.: „From Marvels of Nature to Inmates of Asylums: Imaginnations of Natural Folly.“ In: Disability Studies Quarterly 26.2 (2006), online: http://www.dsq-sds.org (Copyright 2006 by the Society for Disability Studies). Mit Recht kritisiert Bernard Guenée zu diesem Punkt mediävistische Beschönigungen mittelalterlicher Grausamkeit in seinem kurzen, aber substantiellen Beitrag zur Geschichte des Wahnsinns: „Fous du roi et roi fou. Quelle place eurent les fous à la cour de Charles VI ?“ In: Académie des inscriptions et belles-lettres 146.2 (2002), S. 649–666, hier S. 661: „Aujourd’hui […] tout se passe comme si [les historiens] avaient à coeur que le Moyen Âge ne soit pas calomnié. Ils s’attachent à draper des théories plus ou moins convaincantes, pour la rendre acceptable, la cruauté du rire médéval.“ 45 STh.III q.68, a. 12.2:„Praeterea, homo bruta animalia superexcedit in hoc quod habet rationem. Sed furiosi et amentes non habent usum rationis et quandoque etiam in eis non expectatur, sicut expectatur in pueris. Ergo videtur quod sicut bruta animalia non baptizantur, ita nec tales furiosi et amentes debeant baptizari. – R: Respondeo dicendum.. videtur esse idem iudicium quod de pueris, qui baptizantur in fide Ecclesiae ut supra dictum est […]“ ( STh I–II q. 105 a 3.2). Vgl. auch Matejowski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 92–97; Fritz: Le discours du fou, S. 170f., 235f.; Müller, Alfons: Die Lehre von der Taufe bei Albert dem Grossen. München u. a. 1967, S. 202–216 (auch zu Thomas); Pickett, Colin: Mental Affliction and Church Law. Ottawa 1952, S. 29–60; Chaput, Bernard: „La condition juridique et sociale de l’aliéné mental“. In: Aspects de la marginalité au Moyen Age. Hg. v. Guy-H. Allard et al. Montréal 1975, S. 39- 47 (mit Diskussion S. 48–56).
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wie Haus- und Unterhaltungstiere46 der Belustigung und Begleitung der höheren Spezies Normalmensch. Von der Stadtöffentlichkeit gelangten sie im späteren Mittelalter zusehends als Kuriosa oder Prodigien auch an die Höfe und bildeten neben den traditionellen zu Hofnarren avancierenden ioculatores oder jongleurs47 eine Sonderklasse im Personal der höfischen Unterhaltungsbetriebs, wobei auch die viel ältere aus Theologie, Jurisprudenz und Medizin stammende Unterscheidung von natürlichen und gewordenen Verrückten übernommen und zum Doppelbegriff der Naturund Schalksnarren transformiert wurde.48 Diese kurze Abschweifung zur Geschichte des Wahnsinns soll einzig deutlich machen, dass es wohl kaum je Gottesnarren gegeben hätte, wenn die Verrückten nicht zu einer ausgesprochen verächtlichen und lächerlichen Menschensorte gehört hätten, die unter anderem gerade deshalb nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder tabuiert wurde, weil sie einem uns heute unanständig erscheinenden Neugier- und Belustigungsbedürfnis entgegenkam.49 Wie bei anderen Themen der mendikantischen Legendenbildung auch ist es für den Historiker unmöglich, aber vielleicht auch unerheblich, die Fakten von der erbaulichen Sicht der Hagiographen zu scheiden: Die Stilisierung weist auf ein Ideal; und Ideale sind auch ‚soziale Tatsachen‘. Die franziskanische Legitimation des Gottesnarrentums gründet auf folgen-
46 Unübersetzbar ist die von Guenée („Fous du roi“, S. 657) gewählte Bezeichnung für die natürlichen Hofidioten im Gegensatz zu den respektableren Hofnarren: „de petits humains de compagnie“ (in Analogie zum Haustier und „chien de compagnie“). 47 Die von den Mendikanten gelegentlich ebenfalls beanspruchte Rolle der ioculatores dei (s. unten Anm. 59, 83) ist darum auch unter dem Aspekt der früheren verachteten Stellung eines infamen Berufes zu sehen, der noch wenig mit dem des Hofnarren gemein hat. 48 Die hauptsächlich der Entwicklung des „natürlichen Narren“ vom Kuriosum zum Geisteskranken vom 16. zum 19. Jh. gewidmete und zu diesem Thema durchaus überzeugende Arbeit von Ruth von Bernuth, Wunder Spott und Prophetie (vgl. auch deren „From Marvels of Nature to Inmates of Asylums“), vernachlässigt leider diese mittelalterliche, seit Gratian vornehmlich im Kirchenrecht beheimatete Vorgeschichte der Differenz des natürlichen und künstlichen Narren. Vgl. dazu vor allem Guenée:„Fous du roi“, passim, und Fritz: Le discours du fou S. 7, 157, 174 u.ö. 49 Die soziologisch damit indizierte Wertungsambivalenz und Paradoxie ist schon oft bemerkt worden; vgl. Benz: „Heilige Narrheit“, S. 6: „Er [der Verrückte] wird aus den Arbeitsfunktionen des täglichen Lebens, aber nicht aus der Gesellschaft überhaupt ausgestoßen, ja er gehört auf eine eigentümliche Weise zu ihr […] man verhöhnt [die Verrückten], man schlägt sie, aber man gibt ihnen zu essen und zu trinken, man belustigt sich an ihnen, aber man verhindert, dass ihnen ein allzu großes Leid geschieht. Vor allem aber lässt man ihnen inmitten der bürgerlichen Gesellschaft die Freiheit, ihrer Verrücktheit, solange sie für die Öffentlichkeit ungefährlich ist, ungehindert nachzugehen: man lässt ihnen ihre Narrenfreiheit“. Ähnlich Chaput: „La condition juridique“, S. 42f: „Si le marginal est autant celui qui se trouve à la limite intérieure qu’à la limite extérieure des périphéries sociales, nous pouvons affirmer que ces fous-là étaient des fous intégrés, et, somme toute, ayant une place et un rôle à jouer dans les sociétés médiévales.“
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den Hauptmotiven, die hier, da sie ständig ineinander übergehen, nicht im Sinne einer hierarchischen Ordnung aufgezählt werden: Erstes Motiv: die gegenseitige Inversion der Werte von der törichten Weisheit dieser Welt zur weisen Torheit des Kreuzes, die Franz von Assisi mit seiner in holprigem Latein daherkommenden Selbstbezeichnung: unus novellus pazzus, „ein neuer, d. h. noch nie da gewesener, unerhörter Verrückter“ meinte und damit seiner Bewegung auch eine bewusst kulturkritische Stoßrichtung gab.50 Eine mildere Form dieser Umkehrlogik geht von der simplicitas der Kinder aus, nicht nur im Sinne der evangelischen Mahnung, wie die Kinder zu werden, sondern auch als Fortsetzung der pfingstlichen Glossolalie, bei der sich die bloße Stimme von der rationalen Sprache ablöst und das verbalsprachliche Schweigen im Lallen und Gebrabbel des Kleinkindes aufgeht.51 Zweites Motiv: die Nachfolge des in der Passion verspotteten, verhöhnten und als Karnavalskönig lächerlich gemachten Herrn, durch die Erzeugung immer wieder neuer Gelegenheiten zur derisio des Gottesnarren, was Carlo Ginzburg in einem viel tieferen Sinn als Bachtin die „Karnavalisierung der Religion“ genannt hat.52
50 Leo de Assisio: Le Speculum perfectionis ou Mémoires de frère Léon sur la seconde partie de la vie de Saint François d’Assise, c. 68 (Ende 13. Jh.), Bd. 1. Hg. v. Paul Sabatier. Manchester 1928, S. 196f: „Dixit mihi Dominus quod volebat me esse unum novellum pazzum in hoc mundo“. Vgl. Rusconi, Roberto: „Francesco d’Assissi un uomo nella storia“. In: Francesco d’Assisi, un „pazzo“ da slegare, Bd. 2. Asissi 1993, S. 50–69, bes.S. 50f.; Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 81–91; zum Kontext – Rede des Heiligen auf dem Generalkapitel gegen die institutionalistische ‚Zumutung‘ einer Regel durch den Kardinal von Ostia – s. Alberzoni, Maria Pia: „Unus novellus pazzus in mundo. Individualità e affermazione del carisma.“ In: Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum. Hg. v. Gert Melville u. Markus Schürer. Münster u. a. 2002, S. 269–302. 51 Vgl. Wesjohann: „ut … stultus“, S. 213; ders.: „Simplicitas als franziskanisches Ideal und der Prozess der Institutionalisierung des Minoritenordens.“ In: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Hg. v. Gert Melville u. Jörg Oberste. Münster 1999, S. 107–167. Benz („Heilige Narrheit“, S. 428f.) weist im russischen Raum auf die Heimatlosigkeit vieler Einsiedler-Jurodivyje, die aus der Fremde stammen und allein schon durch ihre Unkenntnis der russischen Sprache, die sie zwang, ihre Gedanken durch symbolische Handlungen auszudrücken, in den Ruf der Gottesnarren kamen. Vgl. dazu auch Lachmann: „Der Narr in Christo“, S. 395f.: „Das Schweigen ist die ,ideale Sprache‘ des Gottesnarren. […] [Es] entwickelt sich zu einem der wichtigsten Modi des Sichfremdmachens“ (vgl. auch oben Anm. 28). Zur Glossolalie vgl. Vecchio, Silvana: „Dispertitae linguae: Le récit de la Pentecôte entre exégèse et prédication.“ In: Zwischen Babel und Pfingsten–Entre Babel et Pentecôte. Hg. v. Peter von Moos. Münster u. a. 2008, S. 237–251. Zum Kindergebrabbel vgl. Certeau, Michel de: „Utopies vocales: glossolalies“. In: Oralità. Cultura, letteratura, discorso (Atti congr. di Urbino 1980). Hg. v. Bruno Gentili u. Giuseppe Paioni. Rom 1985, S. 611–34, bes. S. 624f. 52 Ginzburg, Carlo: „Folklore, magia, religione“. In: Storia d’Italia, Bd. 1, I caratteri originali. Turin 1972, S. 615f.; vgl. auch Casagrande, Carla u. Silvana Vecchio: „L’avventura
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Drittes Motiv: ostentative Akte der Zerstörung eigener Reputation insbesondere durch Nacktheit und Tiernachahmung, auch als Buße für alle möglichen Vergehen, insbesondere aber für frühere Eitelkeit, für den Stolz auf die angesehenen gesellschaftliche Stellung und für die einstige Eingebundenheit in das konventionelle Ehr- und Anerkennungssystem.53 Dabei spielt die Polysemie der Nacktheit eine zentrale Rolle, da sie sowohl als Instrument der Strafe wie als zu bestrafendes Fehlverhalten erscheint. Juniper, einer der ersten Weggefährten des Franziskus, dessen Vita mit der konzisen Charakteristik beginnt: „Er erreichte einen solch hohen Grad an Selbstverachtung, dass, wer nicht um seine Vollkommenheit wusste, ihn für blöd oder verrückt hielt“, 54 trat mehrfach nackt auf Marktplätzen auf, um sich verspotten und mit Dreck und Steinen bewerfen zu lassen. Damit provozierte er bewusst den Vorwurf der Skandalerregung und freute sich erst recht, wenn ihn andere Brüder gerade dafür bestrafen wollten, dass er den Orden lächerlich gemacht habe. Cupiebat vituperari. Gegen monastische Gehorsams- und Konventionsbegriffe irritierend gleichgültig, suchte er um jeden Preis Tadel und Strafe.55 Auf die Frage des Generalministers, welche Strafe er selber für sein würdeloses Verhalten vorschlage, antwortete er mit einem, wie gesagt wurde, „heiligen Witzwort“:56 Die ihm aufzuerlegende Strafe sei, dass er den Weg, auf dem er vom Platz zum Konvent gekommen sei, nochmals in umgekehrter Richtung nackt zurücklege. Franziskus selbst hat sich mehrfach nackt ausgezogen, nicht nur mit der berühmten, im Grunde überlegen-souveränen Geste der Rückgabe seiner Kleider und seines Namens an den leiblichen Vater Bernardone, sondern auch in Akten radikaler Verdemütigung, die zu Beginn seines
francescana: il predicatore giullare“. In: Contributo dei giullari alla drammaturgia italiana delle origini (Atti del II Convegno di studi sul Teatro Medievale e Rinascimentale, Viterbo 1977). Rom 1978, 2. Aufl. 1983, S. 243–250, hier S. 248. Vgl. auch die Beiträge der Sektion „De la dérision à la compassion“. In: La Dérision au Moyen Âge. De la pratique sociale au rituel politique. Hg. v. Élisabeth Crouzet-Pavan u. Jacques Verger. Paris 2007, S. 263–289. 53 Zum Identitätsverlust durch Nacktheit vgl. Grossel, M.-G.: „Suivre nu le Christ nu“. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Âge (XIIe–XIIIe s.), Actes du 25e coll. du CUER MA, Aixen-Pr. 2001, S. 165- 178; Moos, Peter von: „Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifi kationsmittel“. In: Unverwechselbarkeit. Hg. v. von Moos, S. 123–146; Lachmann: „Der Narr in Christo“, S. 398; zur Simulation der Verrücktheit als Buße s. Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 76f.; Laharie: La folie, S. 96.f. 54 La vita di frate Ginepro, (testo latino e volgarizzamento). Hg. v. Giorgio Petrocchi. Bologna 1960, c. 1, S. 3: „Ad tantum etiam sui contemptum pervenerat, ut ab eius perfectionem ignorantibus stultus vel fatuus putaretur“. 55 Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 107, 136 zu Jacopones Dictum: „Eine Beleidigung für Gott ertragen ist eine größere Gnade als hundert Arme speisen oder die eigenen Sünden von Morgen bis abends beweinen.“ 56 Gagliardi: ebd. S. 102, „sacra boutade“; vgl. Wesjohann: „ut … stultus“, S. 202–206.
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Wirkens bei der Umwelt alles andere als Bewunderung für das charismatische Auftreten erregten; vielmehr wurde auch er für verrückt gehalten, und darum verlacht, verspottet, und mit Dreck und Steinen beworfen, wie Thomas von Celano unzweideutig berichtet: Cuncti qui noverant eum...coeperunt illi miserabiliter exprobrare et insanum et dementem acclamantes, lutum platearum et lapides in ipsum proiciunt. Cernebant eum a pristinis moribus alteratum et carnis maceratione valde confectum, et ideo totum quod agebat exinanitioni et dementiae inputabant. 57
Selbst in der bekannten Rufinus-Episode reagiert das Volk zunächst aggressiv: Franz befiehlt diesem seinem Gefährten, als eine Bußübung in der Stadt nackt zu predigen. Dieser wird dabei, wie erwartet, verlacht. Franz, der ihm ebenfalls nackt nachgezogen ist, wird zusammen mit Rufinus verspottet. „Quem cum Assisates nudatum cernerent, velut fatuum deridebant putantes tam eum quam fratrem Rufinum propter poenitentiam insanire.“58 Erst nachdem er über die Weltverachtung und die Nacktheit des leidenden Christus gepredigt hat, werden die Zuhörer umgestimmt, und beginnen zu weinen. Er setzte sich der Lächerlichkeit bewusst aus, um ein Beispiel der Selbstverleugnung zu geben, und erreicht erst indirekt, durch seine Predigt den Wandel von der derisio zur contritio. Franz hat sich ausdrücklich mit einem Jongleur verglichen. Gegenüber diesem bekleideten Narren bedeutet das Nacktheitskleid der „natürlichen“ Verrückten eine gesteigerte Verdemütigung.59 Viertes Motiv: Die wortlose Predigt über die Umwertung aller Werte allein durch das schockierende Auftreten, die körpersprachliche Provokation zur imitatio Christi, so wie Thomas von Celano es vom poverello sagt:
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Vita prima. In: Legendae S. Francisci Assisiensis saeculis XIII et XIV conscriptae. Florenz 1926–41, S. 12. 58 Legenda trium sociorum. Hg. v. Th. Desbonnets. In: Archivum franciscanum historicum 67 (1974), S. 39–144, hier S. 117; Wesjohann („ut…stultus“, S. 208–210) spricht jedoch der Nacktheit des Franziskus aufgrund charismatischer Heiligkeits-Ausstrahlung solch negative Wirkungen ab und sucht sie mit den Nacktheitsepisoden der Gefährten zu kontrastieren, die er als eher peinliche ‚Fehltritte‘ wertet. 59 Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 92–95. Peter Sloterdijk (Du mußt dein Leben ändern. Frankfurt a.M. 2009, S. 79) hat solche Erscheinungen aktualisierend mit der Konversion Hugo Balls in Zusammenhang gebracht: „In dem Roman Flametti oder: Vom Dandysmus der Armen von 1918 versammelt er ein Pandämonium marginaler Gestalten aus dem Schausteller- und Zirkus-Milieu, über die er einen Vorsprecher erklären lässt: Diese Leute seien wahrhaftigere Menschen als die Bürger, denen es scheinbar gelingt, sich in der Mitte zu halten. Diese, gerempelten Menschen‘ sind es, die, vielleicht als einzige, noch authentisch existieren. In einer Zeit, in der die Normalen sich dem Wahnsinn verschrieben haben, erinnern sie sich, ihrer Gebrochenheit zum Trotz, an die besseren Möglichkeiten des Menschseins.[…] Dank ihnen wird der Zirkus zur unsichtbaren Kirche.“
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„er machte aus seinem ganzen Körper eine einzige Zunge.“60 Nicht umsonst inszeniert der Gottesnarr solch stumme Symbolhandlungen – gewissermaßen spontane Pantomimen – mit Vorliebe vor Familienmitgliedern und ehemaligen Standesgenossen, die er mit solcher ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ bewusst skandalisiert und gelegentlich geradezu in Panik versetzt, so etwa, wenn Jacopone da Todi nackt mit aufgeleimten bunten Vogelfedern die Hochzeitsfeier seines Bruders in Verwirrung bringt und platzen lässt.61 Das fünfte ist das subtilste Motiv; es durchdringt insgeheim alle anderen Beweggründe: die defensive Vortäuschung eines Wahnsinns, der Demut und Heiligmäßigkeit, vor ihren Verehrern schützen soll, um so der Versuchung zu Hochmut und Heuchelei zu entgehen. Von Franz von Assisi selbst hieß es, eines seiner größten Verdienste sei es gewesen, seine Heiligkeit verborgen zu haben.62 Seine weniger vollkommenen Nachfolger aber brauchten nicht nur Strategien der dissimulatio, sondern auch der simulatio. Lachmann hat treffend von einer „Inversion der Hypokrisie“ gesprochen, die den Heiligkeitsverdacht mit allen möglichen Verleugnungsstrategien zu zerstreuen erlaubt.63 Denn der sich selbst verachtende Gottesnarr scheut nicht einmal vor gespielter Rücksichtslosigkeit und zweideutigen bis amoralischen Verstößen gegen Anstand und bürgerliche Besitzrechte zurück.64 In der hagiographischen Darstellung tritt das Motiv der Verstellung gelegentlich gegenüber dem der Einfalt
60 Vita prima s. Francisci 2. 4. 97, S. 74: „de toto corpore fecerat linguam.“ 61 Le vite antiche di Iacopone da Todi. Hg. v. Enrico Menestò. Florenz 1977, S. 2–4 (aus „La Franceschina“). Vgl. Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 136–173; Nigg, Walter: Der christliche Narr. Zürich 1956, S. 63–111 („Jacopone da Todi“), bes. S. 77–79; Menestò, Enrico, „Che farai, fra Iacopone? Conferme e novità nella biografìa di Iacopone da Todi“. In: La vita e l’opera di Iacopone da Todi (Atti del Convegno di studio. Todi, 3–7 dicembre 2006). Hg. v. Enrico Menestò. Spoleto 2007, S. 1–38; Paoli, Emore: „L’agiografia iacoponica“, ebd. S. 39–62; Pozzi, Giovanni: „Jacopone poeta?“ In: Alternatim. Hg. v. Giovanni Pozzi. Mailand 1996, S. 73–92. 62 Zu der nächtlichen Szene mit dem Freund Bernardo, der sich bekehrt, als er entdeckt, dass der Heilige sich schlafend stellt, in Wirklichkeit aber betet; nach den Fioretti di San Francesco. In: Actus Beati Francesci et sociorum eius. Hg. v. Campbel. Assisi 1988, S. 115; Gagliardi: Pazzi per il Cristo, S. 120–127 u. a. auch zu dem sowohl bei den östlichen saloi als auch bei den Franziskanern verbreiteten Motiv des ‚Doppellebens‘: nachts im einsamen Gebet, tagsüber als Narr in der Öffentlichkeit; dazu vgl. auch Benz: „Heilige Narrhait“, S. 10–14. 63 Lachmann: „Der Narr in Christo“, S. 403; vgl. auch Wesjohann: „ut…stultus“, S. 175. 64 Juniper zeigt weder sog. franziskanische Tierliebe noch Respekt vor fremdem Eigentum, wenn er, um einem kranken Bruder köstliche Speise zu verschaffen, einem lebendigen Schwein die Füße abschneidet und damit den Bauern, dem es gehört, zur Weißglut treibt. Das erbauliche Ende – der Bestohlene lernt am Ende daraus eine Lektion der Nächstenliebe und schenkt den Brüdern den Rest des Schweins –, ändert nichts an der Zweifelhaftigkeit des Vorfalls. Wo möglich noch skandalträchtiger ist Junipers Diebstahl von Altarschmuck zum Zwecke der Wohltätigkeit (Vita di Genepro, Kap. 1, S. 2–13 u.
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und Herzensreinheit zurück, und insgesamt dürfte es auch zutreffen, dass die frühen orientalischen und byzantinischen saloi der maskierten Heiligkeit und vorgetäuschten Sündhaftigkeit größere asketische Bedeutung beimessen als die westlichen Gottesnarren. Eine Rolle mag dabei die rigorose durch Augustinus begründete moraltheologische Auffassung der Lüge gespielt haben, nach der (im Unterschied zu der wesentlich toleranteren ostkirchlichen Tradition) selbst das mendacium officiosum, die altruistische, heilsame Notlüge (sieht man von ganz wenigen Ausnahmen ab) als eigentliche Sünde gilt. So führt Thomas von Aquin unter den Sünden wider die Wahrheit die „Ironie“ (den Gegensatz zur iactantia oder Prahlerei) an, „mit der einer vorgibt, weniger zu sein, als er ist.“65 Dennoch wäre es verfehlt, den simulierten Wahnsinn aus der westlichen Tradition des Gottesnarrentums auszuschließen.66 Im Folgenden finden sich eindeutige franziskanische Beispiele für diese Verstellungskunst. Geradezu als Devise des weltweiten Gottesnarren lässt die im Dom zu Todi befindliche Grabinschrift auf Jacopone verstehen: „[Hier ruht] …der sich
Kap. 5, S. 36–43). Die Begründung ist in beiden Fällen allerdings nicht die Verstellung, sondern die Einfalt und Arglosigkeit des Minderbruders. 65 Godefroy, L: „Mensonge“. In: Dictionnaire de Théologie Catholique, Bd. 10, Sp. 560f. Die für die Nutz- und Notlüge tolerante Richtung wird in der Patristik vor allem durch Clemens von Alexandrien, Origenes, Johannes Chrysostomus und im Westen durch Hilarius und Cassian vertreten. Letzterer legitimiert nicht zufällig auch das Gottesnarrentum; vgl. Collationes 22–24 über das Thema: viele Heilige haben aus Demut gelogen. Im Mittelalter ragt als seltener Verteidiger des mendacium officiosum wohl auch nicht zufällig der Franziskaner Bonaventura hervor; vgl. Müller, Gregor: Die Wahrhaftigkeitspflicht und das Problem der Lüge: ein Längsschnitt durch die Moraltheologie und Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Tugendlehre des Thomas von Aquin und der modernen Lösungsversuche. Freiburg i. Br. u. a. 1962, S. 49–77 (Augustin), S. 78 (Cassian), S. 122–124 (Bonaventura), S. 125–176 (Thomas von Aquin). Zu letzterem s. STh. II–II, q. 112, a. 1–2: iactantia homo verbis se extollat.[…] quando de se supra se aliquid dicit[...] per [ironiam] aliquis de se fingit minora. Mit dem gutgeheißenen Zitat Augustins (Sermo ad pop., 181.4, PL 38, Sp. 981): „cum humilitatis causa mentiris, si non eras peccator, antequam mentieris, mentiendo efficeris.“ Denn man dürfe nicht eine Sünde begehen, um eine andere zu vermeiden. Zur gesamten komplexen Problematik vgl. vor allem Vecchio, Silvana: „Mensonge, simulation, dissimulation. Primauté de l’intention et ambiguïté du langage dans la théologie morale du bas Moyen Âge.“ In: Vestigia, imagines, verba. Semiotics and Logic in Medieval theological Texts (XIIIth–XIVth Cent.). Hg. v. Costantino Marmo. Turnhout 1999, S.117–132. 66 Diese wesentlich von F. Vandenbroucke („Fous pour le Christ“, Bd. 5, Sp. 761–770) bestimmte Auffassung wird häufig wiederholt, etwa von Berlioz („Robert le Diable“, S. 101–106), oder Wesjohann („ut…stultus“, S. 214f.). Widersprüchlich dazu stehen die von beiden angeführten Beispiele. So betont Berlioz (S. 92), dass Robert der Teufel, vom Einsiedler ausdrücklich angewiesen wird, als Buße, „den Verrückten zu spielen“ (contrefaire), und Wesjohann (S. 230) schreibt sogar zu dem Erzschalk Juniper: „Der Demütige kann das Problem, dass er für seine Demut bewundert werden kann, dadurch lösen, dass er versucht, nicht als das zu erscheinen, was er ist.“
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aus Liebe zu Christus durch einen neuen Kunstgriff närrisch stellend, die Welt täuschte und den Himmel erwarb.“67 Die moraltheologische Konfrontation von Wahrhaftigkeit und Täuschung zeigt eine prekäre Seite des mendikantischen Gottesnarrenkonzepts, die wohl niemand besser illustriert als ein Franziskaner der zweiten Generation: Salimbene von Parma. In seiner Chronik kommt er mehrfach auf Phänomene der gespielten Verrücktheit, insbesondere der NacktheitsOstentation zurück, bewertet sie aber in einer derart widersprüchlichen Weise, dass man den Eindruck einer ad hoc parteilich einsetzbaren Topik erhält. Auf der einen Seite schildert er unter dem sprechenden Titel: „Von zweien, die in heiliger Absicht Narrheit vortäuschten, um eitlem Ruhm zu entgehen“,68 die Geschichten von ausgesprochen unhöflichem Verhalten zweier im Ruf der Heiligkeit stehender „Väter“ – der Ausdruck dürfte auf die Wüstenväterliteratur als Quelle verweisen –: Einer von ihnen stößt einen ihn besuchenden Bewunderer, einen hohen Richter, vor den Kopf, indem er auf der Türschwelle sitzend Käse isst, ohne sich zur Begrüßung zu erheben, und damit in voller Absicht den Besucher für immer verscheucht. Die Moral aus dem Exempel lautet: stultitiam simulare prudentia summa est. Auf der andern Seite berichtet Salimbene fast dieselbe Geschichte von dem umstrittenen ersten Generalminister Elias von Cortona, der sich beim Besuch des Podestà von Parma nicht von seinem Sofa erhob und nicht einmal sein Barett zum Gruß vom Kopf nahm, wertet dies nun aber als rusticitas maxima, als eine Respektlosigkeit gegenüber einem ehrwürdigen Laien, ja als Verstoß gegen die christliche Nächstenliebe. Mit einigen Bibelstellen lässt er durchblicken, dass Elias sich gerade nicht aus Demut, sondern aus klerikalem Dünkel so rüpelhaft benommen habe.69 Nimmt man beide Anekdoten zusammen, so ergibt
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Ossa beati Iacoponi de Benedictis Tudertini fratris ordinis minoris qui stultus propter Christum nova mundum arte delusit et ***(caelum) rapuit; zitiert nach Menestò: „Che farai, fra Iacopone? “, S. 27; vgl. auch Nigg: Der christliche Narr, S. 110. 68 Salimbene de Adam: Cronica. Hg. v. Giuseppe Scalia. Bari 1966, Bd. 2, S. 216f.: „De duobus qui se stultos simulaverunt sancta intentione, ne vanam gloriam incurrere possent.[…] Et indutus sacco sedit super hostium celle et cepit comedere panem et caseum prima hora diei in sexta feria, ac si esset puerulus, nec iudici venienti assurgere voluit. Quod cum iudex vidisset, contempsit eum et recessit ab eo indignatus dicens:,Est iste ille heremita de quo mirabilia multa audivi? Magis videtur fatuus quam vir sapiens‘. Audientes hoc discipuli erubuerunt et dixerunt patri suo:,Pater, peccasti, quia et malum exemplum dedisti et te fatuum reputari fecisti‘. Quibus ipse respondit: ‚Ideo taliter feci, fi lii, ut me fatuum reputaret et ad me visitandum amplius non veniret‘.“ 69 Ebd. Bd 2, S. 136f,: „Qui sedebat in domo in qua hospites sive forenses comedunt, super lectum de culcidra et habebat ignem copiosum coram se et capellam Armenicam in capite suo; nec potestati intranti et se salutanti assurrexit nec de loco suo motus est, ut vidi oculis meis; que fuit rusticitas maxima reputata, cum dicat ipse Deus in divina
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sich offenbar auch, dass damit die scheinheilige Instrumentalisierung jenes typisch franziskanischen, im Ursprung gerade gegen Überheblichkeit gerichteten Verstellungstricks angeprangert wird. Doch so ganz sicher ist sich der Chronist seiner Beurteilung nicht, da er am Ende beiläufig an die Intransparenz des Fremdbewusstseins erinnert: difficile est iudicare alieni cordis occulta.70 Salimbene ist ein Gratwanderer zwischen mendikantischer Ehrverachtung und aristokratisch-klerikalem Lebensstil, zwischen provokanter rusticitas und dezenter curialitas.71 Dies zeigt sich am besten in seinem Kapitel über die sich apostoli nennende Sekte des später als Ketzer verbrannten Gerardus Segarelli (Segalelli). Diese Gemeinschaft empfindet er offenbar als Konkurrenz zum Franziskanerorden, da er ihr vor allem vorwirft, den echten Bettelmönchen ohne Gegenleistung die Almosen wegzustehlen. Seine als Aufzählung von zwölf stultitiae angelegte Polemik stellt eine einzige Parodie des Gottesnarrenmotivs dar, mit der die Sekte als billige Nachäffung der Franziskaner erwiesen werden soll.72 Die Pseudo-Apostel Segarellis brauchen sich nicht zu erniedrigen, da sie schon niedriger Herkunft sind, eine Herde ungebildeter Bauernlümmel und Wegelagerer, die nur das eine Wort „pater, pater, pater“ unentwegt vor sich herstammeln. Sie wollen „nackt dem nackten Christus folgen“,
Scriptura, Levitici XIX: Coram cano capite consurge et honora personam senis. Item Eccli III: Quanto magnus es, humilia te in omnibus et coram Deo invenies gratiam. Item Apostolus ad Ro. XIII: Reddite omnibus debita, cui honorem, honorem.[...] Verumtamen frater Helya implevit aliam Scripturam que dicit, Prov. XXVI: Sicut qui mittit lapidem in acervum mercurii, ita qui tribuit insipienti honorem [...] Sed processu temporis humiliavit eum Deus iuxta verbum quod scriptum est: Hunc humiliat et hunc exaltat […] unde illud: Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles.“ 70 Ebd. S. 181 nach einer langen Aufzähung aller möglichen Verfehlungen dieses archetypischen „schlechten Prälaten“. Zu Salimbene und Elias vgl. Sickert, Ramona: „Difficile tamen est iudicare alieni cordis occulta... Persönlichkeit oder Typus? – Elias von Cortona im Urteil seiner Zeitgenossen“. In: Das Eigene und das Ganze. Hg. v. Gert Melville u. Thomas Schürer, S. 303–338. Zum Motiv vgl. Moos, Peter von: „Herzensgeheimnisse (occulta cordis), Selbstbewahrung und Selbstentblößung im Mittelalter“. In: Schleier und Schwelle, Bd. I. Hg. v. Aleida Assmann u. Jan Assmann. München 1997, S. 89–109. 71 Casagrande, Carla u. Silvana Vecchio, „Cronaca, morale, predicazione: Salimbene da Parma e Jacopo da Varagine“. In: Studi Medievali 30 (1989), S. 749–696 (bes. 761–764); Vecchio, Silvana: „Valori laici e valori francescani nella cronica di Salimbene da Parma“. In: Salimbeniana (Atti conv. per il VII centenario di Fra Salimbene, Parma 1987–89). Bologna 1991, S. 254–265. Die Widersprüchlichkeit Salimbenes hat bereits Friedrich Baethgen vortrefflich analysiert in: Franziskanische Studien (Schriften der MGH 1), Bd. 2. Stuttgart 1960S. 319–362, bes. S. 324- 341. 72 Cronica, Bd. 2, S. 382–438, bes. S. 382f.; vgl. Brossard, Michèle: „Les pseudo-apôtres de Gérard Ségalelli, dans la Chronique de Salimbene de Adam: Mise en scène d’une déviance“. In: Conformité et déviances au Moyen Âge (Actes du 2e colloque international de Montpellier, Les Cahiers du C.R.I.S.I.M.A., 2). Montpellier 1995, S. 51- 63.
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und darum unterwerfen sie sich einem absurden Initiations-Ritual: Sie ziehen sich auf Befehl des Meisters alle nackt aus, –„nicht einmal die Geschlechtsteile bleiben bedeckt“–, und sie legen die Kleider in die Mitte des Raums. Damit meinen sie, in die Armut einzugehen. Dann verteilt eine Frau (mulier, caput peccati, arma diaboli) den nun arm Gewordenen die Kleider wieder, und sie leben weiter wie zuvor: Statt die Schweine zu hüten, ergreifen sie öffentlich das Wort ohne Auftrag und Kompetenz, schwätzen Unsinn, verführen junge Frauen und vagabundieren durch’s Land, ohne zu arbeiten und zu beten. Mit einem Wort: Segarelli „spielt vor ihnen den Verrückten und macht sie alle verrückt.“ Stultiçavit coram eis et fecit eos stultiçare. So sieht, auf eine Kurzformel gebracht, die Kehrseite des charismatischen Gottesnarrentums der ersten Franziskaner aus. Franziskus selbst hatte sich, wie gesagt, als „Jongleur des Herrn“ (ioculator domini) definiert. Bei Salimbene wird diese paradoxe Auszeichnung des Schauspielers wieder pejorativ. Denn Segarelli fecit fatuitates multas.[...] potius ioculator videbatur esse quam religiosus.73 Die seltsame Widersprüchlichkeit Salimbenes, der zwischen monastischen und höfischen Leitvorstellungen sich nicht recht zu entscheiden weiß, führt indirekt zur Frage, warum das Gottesnarrentum im abendländischen Westen nur eine relativ kurze Blütezeit gehabt hat, die sich im Grunde auf das 13. und 14. Jahrhundert beschränkt.74 Eine Erklärung möchte ich im Hinblick auf künftige Arbeit nur noch ganz kurz hypothesenförmig andeuten. Seit der klerikal-episkopalen Verhaltenslehre des Ambrosius in seiner Cicero-aemulatio De officíis, zieht sich eine gewissermaßen synkretistische Versöhnung zivilisatorischer römischer urbanitas und stoischer Tugenden wie der magnanimitas und vindicatio mit dem ganz anderen christlichen Lebensideal der Bergpredigt durch die Jahrhunderte. Das zentrale, unablässig wiederholte Schlüsselwort von De officiis heißt verecundia, ein unübersetzbarer Wert-, ja Tugend-Begriff, der ursprünglich „sakrale Ehrfurcht“ bedeutete, und den wir vielleicht am ehesten noch mit „Respekt“ oder „Takt“ umschreiben können. (Die gängigste
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Cronica, Bd. 2, S. 383. Anscheinend neuzeitliche Fortsetzungen (vor allem im spanischen 16. und im französischen 17. Jh.) sind im Wesentlichen erbauliche Thematisierungen des Motivs, nicht aber gelebte Praxis sich selbst tatsächlich der Lächerlichkeit aussetzender Gottesnarren. Ein Beispiel hierfür gibt Bernuth (Wunder, Spott, S. 224–236), wo ein Kapitel über die „Christusnarren“, keine sich wirklich im öffentlichen Raum herumtreibenden Asketen, sondern die historischen Figuren Simeon von Emesa und Jacopone von Todi einzig als Thema der Rezeption durch den Jesuiten Jacob Schmid und das geistliche Barockschauspiel behandelt; vgl. auch im vorliegenden Band S. – ihren Beitrag: „Das Schauspiel der Christusnarren“.
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Übersetzung heißt: „Scham“ oder „Scheu“.)75 Diese verecundia-Lehre hat sich sowohl gegenüber monastisch-asketischen Extremforderungen wie gegen die schlichte ritualistische Ehrenordnung des kriegerischen Adels auf die Dauer durchgesetzt. Mönche und Regularkanoniker übernahmen und verfeinerten im 12. Jahrhundert die darin angelegte Anstandslehre, und es ist ein mediävistischer Gemeinplatz, dass die sog. höfische Kultur den klerikalen disciplinae Wesentliches verdankt.76 In dieser Diskurstradition gilt grundsätzlich die normative Vorstellung der Interdependenz und gegenseitigen Beeinflussbarkeit von Innenleben und äußerer Erscheinung, homo interior und exterior, das Postulat der elegantia morum, weshalb das Priestermodell des Leviticus mit seinen Dezenz-Vorschriften über körperliche Integrität auch für den christlichen Bischof verbindlich blieb.77 Es war hingegen stets eine Überzeugung religiöser Aufbruchsbewegungen, dass das körperlich Sichtbare im Gegensatz zu den occulta cordis steht und dies gerade den Umkehrschluss vom ungepflegten Anblick des Asketen, Einsiedlers oder Gottesnarren auf die innere Reinheit und Gottgefällig75
Vgl. Benthien, Claudia: Tribunal der Blicke“. Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800. Köln/Weimar/Wien 2011, S. 38ff.; Moos, Peter von: „Einleitung“. In: Der Fehltritt (Norm und Struktur 15). Hg. von Moos, Peter von: Köln 2011, bes. S. 20–27. 76 Schmitt, Jean-Claude: La raison des gestes dans l’Occident medieval. Paris 1990; Knox, Dilwyn: „Disciplina: The monastic and clerical origins of European Civility“. In: Renaissance Society and Culture, [Festschrift] Eugene F. Rice, Jr. Hg. v. John Monfasani u. Ronald G. Musto. New York 1991, S. 107–135; ders.: „Disciplina. Le origini monastiche e clericali della civiltà delle buone maniere in Europa.“ In: Annali dell´Istituto storico italo-germanico in Trento 18 (1992), S. 335–370; ders.: „Disciplina. Le origini monastiche e clericali del buon comportamento nell Europa cattolica del Cinquecento ed del primo Seicento“. In: Disciplina dell’anima, disciplina del corpo. Hg. v. Paolo Prodi. Bologna 1994, S. 63–100; Schnell, Rüdiger: „Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik“. In: Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), S. 1–100; ders. (Hg.): Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne. Köln u. a. 2004; Jaeger, C. Stephen: The origins of courtliness. Philadelphia 1985 (allerdings auf deutsche Reichsbischöfe beschränkt ). 77 Schnell, Rüdiger: „Wer sieht das Unsichtbare? Homo exterior und homo interior in monastischen und laikalen Erziehungsschriften“. In: „anima“ und „sêle“. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter. Hg. v. Katharina Philipowski u. Anne Prior. Berlin 2006, S. 83–112 (das eigentlich klerikale und bischöfliche Modell wird allerdings zu wenig vom monastischen unterschieden). Zur körperlichen Integrität der Priester vgl. etwa Gratian, Decretum, D 55.1: „Corpore vitiati a sacris officiis prohibentur“, ebd. C VI: „non est ordinandus qui partem digiti sui volens abscidit“ (Friedberg, S. 215f.). Summa sancti Raymundi de Peniafort cum glossis Johannis de Friburgo, editio II, Avignon 1715, lb. III, 6–7, S. 385f.: „De pudicitia ordinandorum, De ornatu ordinandorum“; ebd.17–18, S. 423f.: „De servis non ordinandis, De corpore vitiatis: Quicumque culpa sua est vitiatus in corpore, repellitur, qui vero sine culpa, non repellitur, nisi scandalum timeatur ex nimia deformitate, vel periculum ex nimia debilitate.“ Zur Bedeutung des Levitikus vgl. Douglas, Mary: Purity and Danger: an analysis on the Concepts of Pollution and Taboo. London 1966, Kap. 3.
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keit erlaubt. Das Gottesnarrentum richtete sich nicht nur gegen die vom Priester verlangte körperliche Integrität, sondern benützte diese Norm sogar, um sich dem Priestertum ostentativ zu verschließen. So schnitt sich ein Laienbruder den Zeigefinger ab, um der Priesterweihe zu entgehen und auf der niedrigsten Stufe der Kirche bleiben zu können.78 Spätestens seit der konstantinischen Wende besteht ununterbrochen die Opposition zwischen einer klerikalen Ethik und Ästhetik der „Makellosigkeit“, des common sense oder wie es später hieß, des „guten Geschmacks“ und einer monastischen Ethik und Ästhetik des Hässlichen und Schamlosen. Es liegt auf der Hand, welche von beiden in der historischen Realität größere Chancen auf Dauer hatte. Man pflegt das mendikantische Gottesnarrentum als eine Reaktion auf die zunehmende Verweltlichung im Vorfeld der italienischen Renaissance–Stadtkultur zu verorten.79 Doch wenn dieser Bewegung keine lange Zukunft beschieden war, so lag dies u. a. auch am Sieg des klerikalen Reinigungs- und Reinlichkeitsideals, das die Übereinstimmung von äußerer Erscheinung und inneren Qualitäten forderte und den „Geruch der Heiligkeit“ sozusagen zum obligaten Standeszeichen erhob, völlig ungeachtet der zwei im Spätmittelalter akuten Arten von notorischer Dissonanz, einerseits der Scheinheiligkeit – „außen glänzend, innen faul“ –, andererseits des Gottesnarrentums – „außen abstoßend, innen strahlend“.80 Die Innen-Außen-Übereinstimmung wurde vollends zum erklärten Programm des Tridentischen Konzils, das im Konkurrenzkampf der Konfessionen um die geistlich überzeugendere Erscheinungsform die katholischen Priester von der Kleidung bis zu alltäglichen Einzelheiten (wie etwa der reinen, nicht dialektalen Aussprache) einem
78 Der Kartäuser Petrone Petroni von Maggio (14. Jh.), Seelsorger des berühmten Gottesnarren Johannes Colombini und möglicherweise auch Giovanni Boccaccios, schnitt sich so den Zeigefinger der linken Hand ab und begründete eine Kongregation, deren Mitglieder sich dem Priestertum grundsätzlich verschlossen; vgl. Gagliardi: Pazzi per Cristo, S. 175f. nach der Vita in den AASS Mai 7, S. 188–232. 79 Nigg: Der christliche Narr, S. 66f.; Benz („Heilige Narrheit“, S. 425) betont, dass die Gottesnarren meist, auch im späteren Russland in den großen Handelsstädten auftraten, wo die Verweltlichung in einem formalistisch-konventionellen Christentum vorangeschritten war. 80 Vgl. den wichtigen Beitrag von Giovanni Pozzi („Occhi bassi“. In: Alternatim, S. 93– 142) aufgrund zahlreicher frühneuzeitlicher Anstandslehren für den Klerus. Er verweist S. 103f. ausdrücklich auf die zunehmende Vorherrschaft der Konsonanz-Theorie, nach der das Gottesnarrentum nur noch als obszön und ekelhaft erscheinen kann. Schon Coulton, G. G. („Side-lights on the Franciscans“. In: Ten Medieval Studies. Hg. v. G. G. Coulton. Cambridge 1930, S. 42–55) hat anschaulich den Gegensatz gezeigt zwischen der kleinen Gruppe der ersten Franziskaner mit all ihren Auffälligkeiten und der nur 30 Jahre späteren Institutionalisierung, deren erstes Gebot die Skandalvermeidung geworden zu sein scheint (wobei die Konfrontation der Kernbegriffe „abstoßend“, „skandalös“ vs. „wohlanständig“, „wohlerzogen“ besonders ins Auge fällt).
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regelrechten Uniformierungs- und Toilettierungszwang unterwarf.81 Klerikaler Institutionalismus machte der charismatischen Religionskarnevalisierung im Westen gerade in dem Zeitpunkt den Garaus, als sich das Gottesnarrentum in der Ostkirche erst richtig zu entfalten begann und danach bis zu Dostojewskis „Idiot“ hinauf eine aufsehenerregende neuzeitliche Erfolgsgeschichte christlicher „Ent-schämung“ zeigte. Es ist auch kaum ein Zufall, dass in Westeuropa mit dem Verschwinden der Gottesnarren aus dem öffentlichen Raum gleichzeitig das „goldene Zeitalter“ einer profanen Unterhaltungs-, Hofnarren- und Fastnachtskultur beginnt. Beide Arten der „verkehrten Welt“ sind gerade wegen gewisser zum Verwechseln ähnlicher Ausdrucksformen nicht miteinander vereinbar.82 Die „heilige Narrheit“ der frühen Bettelmönche konnte die neue säkulare Welt der „Lachgmeinschaften“ nicht überleben.83
Abkürzungsverzeichnis AASS Acta Sanctorum (Bollandiana) CCCM Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis. Turnhout 1971ff. CCSL Corpus Christianorum, Series Latina. Turnhout 1954ff.
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Neben der erwähnten Studie von Pozzi s. vor allem das große Panorama der tridentinischen Reformen von Prosperi, Adriano: Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari. Mailand 1996, bes. S. 302–315 (Purifi zierungsprogramm), 320–323, 392–399 (Kampf gegen Karnavals-Brauchtum und mittelalterlichen „Aberglauben“). In der Diskussion über Norbert Elias und den Zivilisationsprozess der frühen Neuzeit wird der Einfluss der Priestererziehung auf die Laienausbildung über Jesuiten-Kollegien u. a. von Geistlichen geführte Gymnasien zu wenig beachtet (Pozzi: „Occhi bassi“, S. 95f.). 82 1482 behandelte eine Synode in Ulm die Anklage gegen Franziskaner, die als Frauen verkleidet durch die Straßen zogen. Wo die Fastnachtsnarren Ähnliches treiben wie die Gottesnarren – wie Tiere auf allen Vieren herumgehen, die Kirchgänger belästigen, sich ent- und verkleiden –, muss die Kirche unterschiedslos gegen alles Narrentum zu Felde ziehen. Zu diesem Vorfall vgl. Simon, Eckehard: „Carnival Obscenitites in German Towns“. In: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages. Hg. v. Jan M. Ziolkowski. Leiden u. a. 1998, S. 193–213, bes. 207f. 83 Vgl. Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten. Berlin 2005. Zur Inkompatibilität der beiden Narrenarten auch im östlichen Bereich vgl. Bernuth: Wunder, Spott, S. 228f.: „ Zwar nimmt der Christusnarr Elemente der Skomorochen auf, die vergleichbar mit Gauklern und Schalksnarren sind, doch während letztere Lachen erregen wollen, geht es den Christusnarren um Belehrung, die unter einer „Lach-Hülle„ verdeckt ist. […] Das den Narren misshandelnde, verspottende, verlachende Publikum beweist seine eigene Narrheit.“ Eine in diesem Zusammenhang vielleicht wichtige Neuerscheinung war mir noch nicht zugänglich: „risus sacer – sacrum risibile“. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Hg. v Katja Gvozdeva u. Werner Röcke. Berlin 2009.
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RUTH
VON
BERNUTH
Die spihlende Hand GOttes Schamlosigkeit und Christusnarrheit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Alexiuslegenden, Jacob Schmids Weiße Thorheit)
In der 1737 gedruckten Fassung seiner Antrittsvorlesung in Frankfurt/ Oder „VernFnfftige Gedancken von der Narrheit/ und Narren“ erzählt Salomon Jacob Morgenstern folgende Begebenheit: Denn […] da in einer Catholischen Paßions Comoedie ein Becker die HauptPerson vorstellen muste/ und unter seinem Creuz/ ein Verf uhrer des Volcks/ und dergleichen genennt wurde; litte er es mit Gedult und Großmuth: weil die Beschuldigungen der Persohn selbst nichts angiengen. Hingegen so bald einer schriehe: Mehldieb! Mehldieb! hub er das Creutz auf/ und schlug es dem Schreyer uber den Schedel! denn dadurch fand er sich getroffen.1
Die von Morgenstern beigegebene Erklärung, wonach hier illustriert werden soll, „ob einer nur eine allgemeine Pretension, oder ein ganz besonderes Stands- oder Eigenthums-Recht an die Narrheit/ und deren fleißigen Gebrauch habe,“2 verdeutlicht zwar, dass der den Jesus gebende Bäcker auf die Beschämung seiner Standesehre reagierte, klärt jedoch nicht ausreichend, weshalb und wie diese Erzählung als Witz funktioniert – zumindest als Witz in der Vormoderne. Eine Ehrverletzung und die gewalttätige Rächung derselben löst nicht zwangsläufig Gelächter aus. Auch das Herausfallen des Hauptdarstellers aus seiner Rolle erklärt allein nicht diese Begebenheit. Vielmehr ist mit der Übernahme der Jesusrolle eine bestimmte Erwartung sowohl der aktiv durch Zurufe eingreifenden Zuschauer des Passionsspieles wie auch implizit der Leser verbunden, die über die Theaterrolle hinausgeht, denn sie verweist auf die religiöse Pra1 2
Morgenstern, Salomon Jacob: Vernünfftige Gedancken von der Narrheit/ und Narren. Frankfurt a. d. O. 1737, S. 22. Ebd.
Schamlosigkeit und Christusnarrheit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
301
xis der imitatio Christi, die bildlich wie symbolisch in der Übernahme des Kreuztragens besteht. Diese religiöse Praxis wird als Narrheit bereits im Neuen Testament beschrieben, denn „das Wort vom Kreuz ist Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft“ (1Kor 1,18). Paulus unterscheidet im gleichen Korintherbrief zwischen der heimlichen und verborgenen Weisheit Gottes,3 die nur als göttliche Torheit wahrgenommen werden kann und dem umgekehrten Schluss, wonach die Weisheit dieser Welt zur Torheit bei Gott wird.4 Demnach kann der als Mehldieb beschimpfte Bäcker im Rahmen des Passionsspiels nur zwischen zwei Formen von Narrheit wählen, deren enge Verknüpfung im religiösen Kontext hier deutlich wird: Folgt er, wie erzählt, der weltlichen Logik und rächt seine Beschämung, wird er zum Narren vor Gott. Es wird über ihn gelacht, nicht nur, da er die ihm aufgetragene Rolle nicht ausfüllen kann, sondern auch, weil er damit die Nachfolge Christi ausschlägt. Träte er dagegen die Nachfolge – wozu der Korintherbrief explizit auffordert -5 an, dann hätte er sich bis zur Selbstaufgabe verspotten und verhöhnen und damit letztlich zum Narren machen lassen müssen. Deutlich wird hier, dass sowohl ein Leben in der Nachfolge Christi als ein permanenter Normbruch mit den weltlichen Normen verstanden wird, ebenso wie das Befolgen von weltlichen Normen wiederum einen Normbruch im Sinne der geistlichen Nachfolge darstellt. Das im Korintherbrief thematisierte Aufeinandertreffen dieser zwei inkommensurablen Systeme kulminiert bei Paulus in der Narrheit in Christo, die die Inversion der Opposition von Weisheit und Torheit vorführt. Die in dieser Formulierung liegende Paradoxie wird bei Paulus als Peristasenkatalog ausgeführt, wenn er über die das Leben der Apostel spricht: Denn wir sind ein Schauspiel geworden für die Welt, für Engel und Menschen. Wir sind Narren um Christi willen, ihr aber seid klug in Christus; wir schwach, ihr aber stark; ihr herrlich, wir aber verachtet. Bis auf diese Stunde leiden wir Hunger und Durst, sind dürftig gekleidet, werden geschlagen und haben keine feste Bleibe und mühen uns ab mit unsrer Hände Arbeit. Man schmäht uns, so segnen wir; man verfolgt uns, so dulden wir’s, man beschimpft uns, so reden wir freundlich. Wir sind der Abschaum der Menschheit geworden, jedermanns Kehrricht, bis heute. (1Kor 4, 9–13)
Auf dieses Zitat bauen alle Aufführungen der Narren in Christo auf, denn sie verstehen eine Nachfolge Christi im Sinne dieses Schauspiels und zwar
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1Kor 2,7. 1Kor 1,20 und 1Kor 3,19. 1Kor 4,16
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Ruth von Bernuth
wörtlich als eine Aufführung bzw. Inszenierung der Narrheit bei der die Christusnarren sich schamlos verhalten, gegen jegliche Normen verstoßen und dabei nicht nur die Inversion von Weisheit und Narrheit inszenieren, sondern auch zugleich die Inversion der Inversion, also eine „Inversion der Hypokrisie [...], d. h. die Verkehrung genau jenes Aspekts, der zur Verurteilung der Hypokrisie als moralischer Verfehlung geführt hat.“6 Um diese Form der Narrheit, die in Morgensterns Begebenheit mit dem Bäcker negiert wird, gleichwohl aber den Hintergrund des Witzes bildet, wird es mir im Folgenden gehen und dabei insbesondere um die im Rahmen religiöser Kommunikation stattfindenden Aufführungen der Christusnarren. Diese Darbietungen kann man nicht anders als schamlos bezeichnen. Oder wie würde man es sonst deuten, wenn jemand in der Kirche in Anwesenheit der Gemeinde die Kerzen auslöscht und vom Altar die Frauen mit Nüssen bewirft? Oder sich mit altem Spülwasser begießen lässt, ohne etwas dagegen zu unternehmen? Dafür wird derjenige verehrt und am Ende seines Lebens kanonisiert. Die Narrheit in Christo, die in Byzanz, in Altrussland, aber auch verstreut im deutschsprachigen Kontext zu finden ist, wurde in der Forschung bisher überwiegend mit Blick auf ihre historischen Wurzeln, also genetisch, untersucht. Nachgezeichnet wurde eine mehr oder weniger lückenlose Tradition des kulturellen Phänomens, das sich von den christlichen Anachoreten, den Kynikern über die byzantinischen und russischen Christusnarren bis zu den modernen Romanhelden wie Dostojewskis Idiot und Gerhard Hauptmanns Emanuel Quint erstreckt.7 Diskutiert wurde aber auch, ob die Narren in Christo
6 7
Lachmann, Renate: „Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis“. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hg. von Peter von Moos. Köln Weimar Wien 2004, S. 379–410, hier S. 403. Vgl. zu den byzantischen Narren und deren Tradition in der Ostkirche: Benz, Ernst: „Heilige Narrheit“. In: Kyrios. Vierteljahresschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte Osteuropas 3 (1938), S. 1–55; Hauptmann, Peter: „Die ,Narren um Christi Willen‘ in der Ostkirche“. In: Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde 2 (1959), S. 27–49; Ivanov, Sergey A.: Holy fools in Byzantium and beyond. Oxford, New York 2006; Lachmann: Der Narr in Christo. Zum Westen vgl.: Peter von Moos in diesem Band; Vandenbroucke, François : „Fous pour le Christ en Occident“. In: Dictionnaire de Spiritualité V (1964), Sp. 761–770. Zur westlichen Literatur insbesondere in Frankreich, wobei Jean-Marie Fritz die Christusnarrheit nur im Osten vermutet: Fritz, Jean-Marie: Le discours du fou au moyen âge. XIIe –XIIIe siècles. Étude comparée des discours littéraire, médical, juridique et théologique de la folie. Paris 1992, S. 187ff. Ein anderes Ergebnis präsentiert: Laharie, Muriel: La folie au moyen âge. XIe –XIIIe siècles. Paris 1991. Die Übermittlungsfunktion zwischen Ost- und Westkirche durch die irischen Mönche betont: Saward, John: Perfect Fools. Folly for Christ’s Sake in Catholic and Orthodox Spirituality. Oxford New York Toronto Melbourne 1980. Vgl. auch: Billington, Sandra: „The cheval fol of Lyon and other asses“. In Fools and folly. Hg. v. Clifford Davidson. Kalamazoo 1996, S. 9–33; Leonhardt-Aumüller, Jacqueline: ,Narren um Christi willen‘.
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ausschließlich in der Ostkirche zu verzeichnen wären und als religiöse Praxis in Westeuropa nicht existierten und inwieweit die Franziskaner als Teil dieser Tradition begriffen werden können.8 Trotz dieser verschiedenen Untersuchungen blieb das Phänomen rätselhaft und die Paradoxie des Begriffs ungeklärt. Ein Schlüsselpunkt in diesen Auseinandersetzungen in der Einteilung und Zuordnung der Narrheit in Christo liegt meines Erachtens in der Beurteilung ihrer Aufführungen. Dabei kann es nicht darum gehen, die verschiedenen Formen ihres devianten Verhaltens zu beschreiben, sondern es bietet sich vielmehr an, ihre paradoxen Darstellungen zu untersuchen und dabei genauer zu betrachten, wie sich das komplexe Zusammenspiel von Publikum und Christusnarren im Bezug auf die Scham und die Schamlosigkeit zusammensetzt. Im Mittelpunkt der Analyse soll also stehen, wie die immer öffentlich stattfindenden Auftritte der Narren in Christo auf das Publikum wirken und wie die Reaktionen des Publikums wiederum einen Einfluss auf die Christusnarren ausüben. Ein Grund für diese genaue Betrachtung liegt darin, dass die Erscheinung der Christusnarren nicht so einfach von dem Auftreten von den künstlichen und den natürlichen Narren unterschieden werden kann, zwei anderen in der Vormoderne verbreiteten Narrentypen. So ging man im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit davon aus, dass das andersartige – närrische – Verhalten den natürlichen Narren angeboren und ihnen der Normbruch unbewusst wäre, während sich die künstlichen Narren verstellten und bewusst Normen brechen würden. Das Schauspiel der Narren in Christo wird oft mit den Auftritten dieser anderen Narren verglichen. So wird davon ausgegangen, dass „dieser schauspielerische, mimische Charakter der Narren-Existenz praktisch darin zum Ausdruck [kommt], daß der Heilige, [...] den Verrückten spielt,“9 also den natürlichen Narren imitiert. Gleichwohl wird der Christusnarr auch in seinem Spiel mit dem künstlichen Narren gleichgestellt. Speisen sich die schamlosen Auftritte der Christusnarren sowohl aus den grenzverletzenden Aufführungen der künstlichen wie der der natürlichen
8
9
Eine Studie zu Tradition und Typologie des ,Narren in Christo‘ und dessen Ausprägung bei Gerhart Hauptmann. München 1993. Vgl. dazu: Wesjohann, Achim: „Simplicitas als franziskanisches Ideal und der Prozess der Institutionalierung des Minoritenordens“. In: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Hg. v. Gert Melville u. Jörg Berste. Münster 1999, S. 107–167; Gagliardi, Isabella: Pazzi per Christo. Santa follia e mistica della Croce in Italia centrale (secoli XIII–XIV). Siena 1998; von Moos, Peter: „Einleitung: Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen im Mittelalter“. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. v. Peter von Moos. Köln 2001, S. 1–96, hier S. 65f. und in diesem Band. Hauptmann: Die ,Narren um Christi Willen‘ in der Ostkirche, S. 12.
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Narren, dann stellt sich die Frage, ob und wie sich die Schamlosigkeit dieser beiden Narrentypen voneinander unterscheidet. Daher ist es zuerst einmal notwendig, die schamlosen Aufführungen der künstlichen sowie der natürlichen Narren zu untersuchen, bevor dem schamlosen Schauspiel der Christusnarren in der deutschsprachigen Überlieferung nachgegangen wird.
I. Schamlosigkeit in närrischen Auftritten der natürlichen und künstlichen Narren Närrisches Verhalten ist per definitionem transgressiv. Narrheit als eine institutionalisierte Form der Liminalität besetzt einen Raum der Tabubrüche, der im Gegensatz zu anderen Formen der Liminalität weder zeitlich noch örtlich getrennt von der Gesellschaft, sondern in ihr angesiedelt ist. Die Grenzverletzungen der Narren werden als schamlos angesehen, denn sie überschreiten ostentativ moralische, ethische und auch religiöse Normen, die durch Schamgrenzen markiert sind. Dabei lässt sich neben dem zuvor beschriebenen Verhalten, das aktiv schamlos agiert und Normen verletzt, eine weitere Facette der Schamlosigkeit beschreiben, das keinerlei Grenzen und damit keine Scham zu kennen meint. Letzteres hat Peter von Moos dabei Jean-Claude Bologne folgend als Schamenthobenheit bezeichnet: Wenn es besser ist, sich vor den Menschen zu blamieren, als im Herzen und vor Gottes Augen zu sündigen, so wird der Mangel an Scham zu einem Prinzip, nicht als Schamlosigkeit (impudeur), sondern als Schamenthobenheit (apudeur).10
Diese Schamenthobenheit, die die andere Seite der Schamlosigkeit darstellt, ist eher passiv. Während der aktiv schamlos agierende Narr zu einem Spötter wird, wird der passiv schamlose Narr zum Verspotteten. Der närrische Normbruch kann also zum einen als eine absichtliche Inszenierung, d. h. eine Verstellung, wie im Fall der Schalksnarren und zum anderen als ein unabsichtlicher Auftritt wie im Fall der natürlichen Narren sein, der zur Transgression erst in der Wahrnehmung des Publikums wird. Die Aufführungen der natürlichen wie künstlichen Narren können historisch nicht rekonstruiert werden, jedoch lässt sich durch überlieferte Texte wie Schwänke, Fazetien und Mären ein indirekter Zugang erschlie10
Peter von Moos: Einleitung: Fehltritt, S. 65.
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ßen. Die literarischen Zeugnisse dienen nicht allein als Informationsquelle, sondern sie geben überdies einen Einblick, wie diese närrischen Aufführungen verstanden und interpretiert wurden. Als Beispieltexte bieten sich hier zwei Schwankromane an, die jeweils um einen künstlichen bzw. natürlichen Narren gruppiert sind. Kann die Narrenfigur des um 1510/11 gedruckten Ulenspiegel exemplarisch als ein Schalksnarr gelten, dann versucht der Autor der 1572 erstmalig veröffentlichten Historien von Claus Narren Wolfgang Büttner gerade Claus Narr nicht nur als natürlichen Narren, sondern auch als ein Gegenbild zu Ulenspiegel zu etablieren, da er sein Werk über die Exordialtopik hinaus in der Vorrede von den „Eulenspiegelischen schanden“11 explizit abgrenzt.12 Demnach sollten sich bei einem Vergleich der Texte sowohl die Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede hinsichtlich der schamlosen Auftritte der beiden Narrentypen ergeben. Die 24. Historie des Ulenspiegel erzählt, wie der polnische König seinen Schalksnarren in den Wettkampf mit Ulenspiegel eintreten ließ und 20 Gulden sowie ein neues Gewand demjenigen versprach, der die „abentürlichste Narrei thut“.13 Ulenspiegel und der Schalksnarr des polnischen Königs beginnen daraufhin, sich mit Mimik und Gestik zu überbieten und „triben vil Affenspil mit krumen Mülern und seltzamß Reden“.14 Schließlich setzt Ulenspiegel „ein Huffen mitten in den Sal“,15 aß ihn zur Hälfte auf, bot dem anderen Narren davon an und forderte ihn auf, es ihm nachzutun. Dieser weigerte sich jedoch mit folgendem Ausspruch: „Nein, nit also! Daz thu dir der Tüffel nach. Solt ich all mein Lebtag nacken gon, ich iß von dir oder von mir nicht also!“16 Der klare Gewinner und damit der größere Narr ist damit Ulenspiegel, denn er überschreitet mit seiner Inszenierung die Scham- und Ekelgrenze des polnischen Nar-
11
12
13 14 15 16
Büttner, Wolfgang: Von Claus Narren. Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien. Feine schimpffliche Wort vnd Reden/ die Erbare Ehrenleuth Clausen abgemerckt/ vnd nachgesagt haben/ Zur BFrgerlichen vnd Christlichen Lehr/ wie andere Apologen/ dienstlich vnd f=rderlich. Mit lustigen Reimen gedeutet vnd erkl(ret. Frankfurt 1602, Bl. A v v. Zur Narrenkonfiguration beim Eulenspiegel siehe: Röcke, Werner: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987. Allgemein zu närrischen Aufführungen von künstlichen Narren: Velten, Hans Rudolf: „Komische Körper. Hofnarren und die Dramaturgie des Lachens im späten Mittelalter“. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 11 (2001), S. 292–317. Zu Claus Narr vgl.: Bernuth, Ruth v.: Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den ,Historien von Claus Narren‘. Tübingen 2009. Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Hg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1978, S. 72. Ebd. Ebd. Ebd.
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ren, die dieser in seiner Antwort durch die par excellence mit der Scham verbundenen Metapher des Nacktseins anzeigt. Damit erweist sich der polnische Narr zwar als vernünftiger in den Augen des Lesers, verliert jedoch die „Meisterschaft der büberei“.17 Ulenspiegels Taten sind Inszenierungen des Normbruchs, die er durch seine körperliche Präsenz und Aktion erzeugt. Eine Systematik seines Verhaltens lässt sich nicht erstellen, vielmehr sind seine Handlungen nur in der Logik der Devianz zu verstehen. Durch das ostentative Überschreiten der Grenze wird diese zugleich sichtbar gemacht. Auch das grenzverletzende Verhalten der natürlichen Narren lässt sich ebenfalls nicht anders als durch den Normbruch systematisieren. Als einer der bekanntesten natürlichen Narren im 16. Jahrhundert gilt Claus Narr von dem in einer Historie in den Historien von Claus Narren erzählt wird, er sei einmal „auff dem Narrenladlein“ im Wagen des Fürsten mitgefahren und, so die umschreibende Formulierung des Erzählers, „weiß nicht was jm in seinen Hosen entfiel“.18 Daraufhin habe der Fürst wetten wollen, dass „Clauß [...] in seine Hosen gethan [hat]/ das vnser keiner thun dorffte“. 19 Der Narr, der hier in seine Hosen macht, übertritt ebenso wie Ulenspiegel eine Schamgrenze, die mit der Defäkation verbunden ist, aber die Grenzverletzung an sich unterscheidet sich für die Zuschauer in nicht von der des künstlichen Narren, wohl aber durch die mit der Handlung verbundene Intention. Die Belohnung ist im Ulenspiegel als Preis im Wettkampf ausgesetzt, die für den Schalksnarren so verlockend ist, dass er im Stillen seine Gewinnchancen abschätzt: Ulenspiegel gedacht auch: „20 Guldin und ein nüw Cleid, das war fast gut. Ich wil darumb thun, das ich sunst ungern thät“, und sah wol, was des Künigs Meinung waz, das es ihm gleich gült, welcher under ihn den Breiß gewin.20
Diese Überlegungen stellen im Text ein retardierendes Moment dar, das den Leser auf den Höhepunkt des Schwanks vorbereitet und damit deutlich vorführt, dass der Narr diesen ostentativ vollzogenen Akt nicht nur als Grenzverletzung nach außen markiert, sondern dass diese närrische performance selbst gegen innere Widerstände in Szene gesetzt wird. Der künstliche Narr bricht also die Normen zielgerichtet und mit Vorsatz, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen.
17 18
Ebd. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 24, S. 71. Vgl. zur Druckgeschichte: Schmitz, Heinz-Günter: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr. Mit einem Beitrag zur Sprache der Eisleber Erstausgabe von 1572. Hildesheim Zürich New York 1990. 19 Ebd. 20 Ebd.
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Anders ist dagegen die Beschreibung im Fall des natürlichen Narren, denn im Gegensatz zu dem Schalksnarren übertritt Claus Narr die Grenze nicht bewusst und provokativ in einer Inszenierung, sondern diese Normverletzung passiert ihm unabsichtlich. Er plant sie nicht wie Ulenspiegel, der Kot entfällt ihm und in der Wette des Kurfürsten ist bereits eingeschlossen, dass der Narr eine Norm überschritten hat, deren Überschreitung keinem anderen erlaubt ist. Damit wird die Grenze hier doppelt gezogen, denn nicht nur die Grenzverletzung des Narren, sondern auch die sofort erklärte Ausnahme, die nur für den natürlichen Narren gilt, zeigt sie auf. Der Ausnahmestatus der natürlichen Narren, deren Anderssein in ihrer Natur angelegt ist, ließe sich anhand von naturphilosophischen und religiösen, aber auch anhand des juristischen Diskurses beschreiben. Die natürlichen Narren gehörten zusammen mit psychisch Kranken, Kindern, Witwen und auch Priestern zu denjenigen, die juristisch nur als beschränkt handlungsfähig angesehen wurden. Neben den Vormundschaftsregeln und den Erbschaftsregeln war ebenso die Haftung für vom Narren verursachte Schäden festgelegt, die in diesem Zusammenhang besonders interessieren, geht es doch um das grenzverletzende närrische Verhalten. Der natürliche Narr wurde als nicht strafmündig angesehen und war daher auch nicht zu bestrafen: „ouer rechten doren unde sinnelose lüde en scal men oc nicht richten. wenne se auer scadet ere uormünde scal dat gelden“.21 Die rechten doren, also die natürlichen Narren, sind – in der Illustration der Heidelberger Handschrift des Sachsenspiegels eindeutig durch wilde Haare und Glocken an der Kleidung identifizierbar – in der deliktischen Haftung nicht für den von ihnen verursachten Schaden strafbar, wenngleich die zivilrechtlichen Ansprüche über den Vormund zu regeln sind und damit als Schaden anerkannt werden. In Nürnberg wurde 1518 über den Fall eines „Vnsinnigen“ gestritten, der einen Kellner erschlagen hatte. Als Entschuldigung wurde die Straffreiheit von Kindern und Narren angeführt. Entleibe ein Narr Jemanden, so sei das anzusehen, als ob es von einem wilden Thier oder durch den Fall eines Ziegels vom Dach geschehen wäre, so dass ein Unbesinnter darum weder an Leib noch Leben zu strafen sei.22
21
Sachsenspiegel oder Sächsisches Landrecht, zusammengestellt mit dem Schwäbischen nach dem Cod. Pal. 167, unter Vergleichung des Cod. pict. 164, mit Uebersetzung und reichhaltigem Repertorium. Hg. von Carl Robert Sachße. Leipzig 1848, III, 3, S. 209. Vgl. die umfassende Ausarbeitung zum kanonischen Recht bei: Pickett, Colin: Mental Affliction and Church Law. Ottawa 1952. 22 Kirchhoff, Theodor: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege. Berlin 1890, S. 98.
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Die Straffreiheit, wie sie sich im Landrecht des Sachsenspiegels findet, galt nicht überall und daher lassen sich sowohl Belege in juristischen Texten als auch in historischen Quellen finden, die Bestrafungen zulassen.23 Zumindest aber wird die Bestrafung abgemildert, da angenommen wird, der Narr habe unabsichtlich gehandelt. Diese Praxis spiegelt auch der zuvor erzählte Schwank wider, wenn der Kurfürst Claus eine Handlung zugesteht, die, ausgeführt von jemand anderem am Hof, als ein Normbruch geahndet werden würde. Damit wird jedoch deutlich, dass nicht die Normverletzung an sich einen Narren zu einem natürlichen oder einem künstlichen macht, sondern dass die von außen unterstellte Intention erst darüber entscheidet. Vereint werden die Aufführungen der künstlichen und der natürlichen Narren im Gelächter, denn bei einer närrischen Aufführung ist es zunächst einmal irrelevant, ob der Normbruch absichtsvoll oder ohne Intention vollzogen wird. So sind in den in ihrer äußeren Darstellung markant voneinander abweichenden Narrenwagen im Triumphzug Kaiser Maximilian I. beigegebenen Sprüchen sowohl bei den künstlichen wie natürlichen Narren vermerkt, sie hätten „vil kurtzweil“24 oder „maniche kurtzweil gemacht so artlich das man Ir hat gelacht“,25 ohne dass zwischen dem lächerlichen Verhalten der beiden Narrentypen unterschieden worden wäre. Damit lässt sich also feststellen: Schamlos agieren alle Narren in ihrer körperlichen Präsenz. In jeder närrischen Handlung werden Grenzen überschritten – sei es im moralischen, im religiösen oder im ethischen Bereich. Die Transgression liegt also jedem närrischen Verhalten zugrunde und wird durch das Lachen angezeigt. Die kognitive Grenze, die sich „zwischen Sinn und Nicht-Sinn“26 auftut, wird im Lachen markiert und aktualisiert.27
23 Vgl.: Matejovski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996, S. 63; Amelunxen, Clemens: Zur Rechtsgeschichte der Hofnarren. Berlin New York 1991, S. 11: Aus den hier aufgezählten Beispielen wird nicht ersichtlich, welche Art Narren bestraft wurden. Die Erklärung von „Raufbolde[n], Rüpel[n] und Eisenfresser[n]“, die ihre Herren bedrohten und ermordeten, befriedigt nicht. Vielmehr ließe sich auch vermuten, die Straffreiheit sei aufgrund der Schwere der Tat aufgehoben worden. 24 Schestag, Franz: „Kaiser Maximilian I. Triumph“. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 1 (1883), S. 154–181, hier S. 160 über die Schalksnarren. 25 Ebd. 26 Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Bern 1950, S. 210. 27 Katja Gvozdeva u. Werner Röcke: „Performative Kommunikationsfelder von Sakralität und Gelächter.“ In: „risus sacer – sacrum risibile.“ Interaktionsfelder von Sakralität und
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Der schamlose Auftritt aller Narren ist eingebunden in einen breiteren Kontext, der aus komplexen Interaktionen besteht und der eine Vielzahl von Effekten aufweist, die die Aufführungen erzeugen können. Obgleich die schamlosen Auftritte bei den Schalksnarren, bei den natürlichen Narren und bei den Christusnarren identisch sein können, unterscheiden sie sich durch den Gewinn, den sie erzielen. Bei den Schalksnarren wie Till Ulenspiegel liegen die Folgen auf der Hand: Ulenspiegel setzt die schamlosen, weil grenzverletzenden Handlungen zur Gewinnoptimierung ein, die ihm einen persönlichen Vorteil erbringen – im vorhin zitierten Fall ein neues Gewand und 20 Gulden vom polnischen König. Somit schließt auch die Historie mit dem lapidaren Satz: „Und reit Ulenspiegel hinweg und bracht von dem Künig das Lob darvon“.28 Im Fall der unbewussten Körperausscheidungen des natürlichen Narren Claus Narr verhält es sich komplizierter, da der Text bereits dieser grenzverletzenden Aufführung des Narren eine Bedeutung zuweist, die auf die Unschuld des natürlichen Narren abzielt. Das wird in der Pointe dieses Schwankes deutlich, denn Claus rät dem Fürsten, der wetten wollte, dass Claus etwas getan habe, was kein anderer tun dürfte, mit folgenden Worten zum Abschluss der Wette: „Wette/ mein lieber Herr Friderich/ wette getrost/ vnd laß frisch gelten/ ich weiß so viel wie du wirst gewinnen.“29 Der schamlosen Handlung des natürlichen Narren wird in dem Schwank ein Verhaltensspielraum eingeräumt, der über den aller anderen hinausgeht. Für ihn gelten daher andere Grenzen. Vom Fürsten wird dies ausgesprochen, der sagt, dass Claus etwas getan habe, das kein anderer tun dürfte. Damit wird diese Ausnahme aktualisiert und die daraus resultierende Spannung wird in einem (mehr oder weniger sinnreichen) Witz aufgelöst, zu dessen Gelingen der natürliche Narr selbst beiträgt und damit auch noch einmal im Nachhinein seine Unbedarftheit bestätigt. Das heißt also, dass der inszenierten Schamlosigkeit der Schalksnarren oft ein persönlicher Gewinn folgt, während das schamenthobene Verhalten der natürlichen Narren genau dieses nicht zum Ziel hat. Die Wirkung ihrer Handlungen besteht gerade in ihrer Zweckfreiheit. Auch wenn die närrischen Aufführungen mit dem darin eingeschlossenen Gelächter des Publikums sich an sich nicht differenzieren lassen, so wird die Intention des Narren narrativ nachgereicht. Ist es bei Ulenspiegel die innere Abscheu vor seinem eigenen Kot, die er im Text im Selbstgespräch äußert und die damit zugleich deutlich macht, wie sehr der Schalksnarr Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Hg. von Katja Gvozdeva u. Werner Röcke. Bern 2009, S. 9–28, hier S. 14. 28 Dyl Ulenspiegel, S. 72. 29 Büttner: Historien von Claus Narren, V, 24, S. 71.
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seine eigenen Scham- und Ekelgrenzen übertritt, so ist es bei Claus Narr das Urteil des Fürsten, das dem Narren eine solche Ausnahmehandlung zugesteht und sie als unabsichtlich darstellt. Der närrische Normbruch kann zum einen eine absichtliche Inszenierung, d. h. eine Verstellung, wie im Fall der Schalksnarren, und zum anderen ein unabsichtlicher Auftritt, wie im Fall der natürlichen Narren sein, der zur Transgression erst in der Wahrnehmung des Publikums wird. Die Diskursivierung des närrischen Handelns kann dementsprechend auch unterschiedlichen Zwecken dienen, bei der zum einen die Freude am närrischen Vergnügen gesteigert oder zum anderen das närrische Verhalten didaktisiert wird. Fraglich bleibt allerdings, wie sich dazu eine weitere Form der Narrheit verhält, die als Narren in Christo oder Christusnarren bezeichnet werden. Zu überprüfen ist, in welcher Beziehung ihre Handlungen und Intentionen zu denen der natürlichen sowie der künstlichen Narren stehen und in welcher Form die Schamlosigkeit hier eine Rolle spielt.
II. Schamlosigkeit der Narren in Christo Christusnarren sind bis heute in Russland bekannt, da die jurodivye – das russische Wort für Christusnarren – ein fester Bestandteil der altrussischen Religion und Kultur sind und so stark verbreitet waren, dass hier ein reichhaltiges Material vorliegt, das einen breiten Zugang zu diesem Phänomen ermöglicht. Christusnarren – jurodivye – werden in Rußland bis heute verehrt, den Höhepunkt ihrer Verehrung und Verbreitung feierten sie jedoch im 15. und 16. Jahrhundert.30 Eine große Anzahl von Legenden über sie wurde erst seit dem 15. Jahrhundert erstmalig schriftlich gefasst in einer Zeit, in der viele von den Narren in Christo als Heilige kanonisiert wurden. Die Christusnarren wählen das Leben eines Narren meist freiwillig.31 Es ist eine Heldentat, nackt, arm und obdachlos zu sein. Ein wesentlicher Bestandteil sind die bei der Christusnarrheit normverletzenden und dabei oft obszön ausgeführten Handlungen in der Öffentlichkeit wie beispielsweise der von allen gesehene Besuch bei Prostituierten.
30 Vgl. dazu Lachmann: Der Narr in Christo; Pančenko, Aleksandr M.: „Lachen als SchauSpiel“. In: Die Lachwelt des alten Rußland. Hg. von Renate Lachmann. München 1991, S. 83–170; Tschizewskij, D.: „Die heiligen Narren („Jurodivye“)“. In: Russische Heiligenlegenden. Hg. von Ernst Benz. Zürich 1953, S. 424–434. 31 Es wird davon ausgegangen, dass auch psychisch Kranke und Behinderte als Christusnarren verehrt wurden, die also nicht am Ende ihres Lebens ihre wahre Identität enthüllten. Diese Phänomen müsste anhand der legendarischen Überlieferung noch eingehender untersucht werden.
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Desgleichen sind die Christusnarren nicht nur Akteure, sondern ertragen ebenso öffentliche Verunglimpfungen und Verspottungen. Die Christusnarren vereinen in sich sowohl Merkmale der natürlichen wie der künstlichen Narren. Ein Teil ihrer Aufführungen gleicht auf den ersten Blick derjenigen der Schalksnarren: durch beabsichtigte Normbrüche provozieren sie. Doch im Gegensatz zu den Schalksnarren, denen es um einen persönlichen Gewinn bei ihren Inszenierungen geht, nehmen die Christusnarren ihre Verstellung zum Narren als podvig,32 als Heldentat, auf sich, denn die „Legenden enthalten immer die Formeln: ‚er machte sich zum Narren‘.33 Sie fordern mit ihrem närrischen Verhalten außerdem heraus, dass sie wie die natürlichen Narren gedemütigt und gestraft werden. Die Entscheidung des Christusnarren, ein solcher zu werden, musste, so die typologisch geprägten Überlieferungen, vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden, um als Narr zu gelten. Um sein Vorhaben durchführen zu können, durfte er sein Spiel nur wenigen Vertrauten verraten, denn vor der Welt muss er schamenthoben wie ein natürlicher Narr erscheinen. In der Hagiographie wird daher oft davon berichtet, wie sich der Christusnarr tagsüber seiner Rolle hingibt, um nachts im Schutz der Dunkelheit zu beten. Doch wenn der Christusnarr als ein besonderes Vorbild gilt, warum empfindet er dann nicht eine besondere Scham bei seinen schamlosen Aufführungen? Der Narr in Christo entledigt sich seiner Scham in einem mühsamen Prozess, denn seine Aktionen sind darauf gerichtet, dass er seine Scham nicht zeigen darf, dass er sie dissimuliert, sie also so verbirgt, dass sie ihn nicht von seinem Vorhaben abbringt. Der Christusnarr versucht also, seine Scham zu überwinden, während er schamlose Handlungen vollbringt oder sich verspotten lässt. Dieses Anliegen ist bereits in dem koptischen Evangelium nach Thomas angelegt, denn hier fordert Jesus ausdrücklich zu seiner Nachfolge auf, die in dem Ablegen der Scham besteht: Log 37 1. Seine Jünger sprachen: an welchem Tag wirst du uns erscheinen, und wann werden wir dich sehen? 2. Jesus sprach: wenn ihr euch entkleidet, ohne euch geschämt zu haben, und eure Kleider nehmt und sie unter eure Füsse legt wie kleine Kinder und darauf trampelt. 3. Dann werdet ihr den Sohn des lebendigen sehen, und ihr werdet euch nicht fürchten.34
32 Tschizewskij: Die heiligen Narren. 33 Pančenko: Lachen als Schauspiel, S. 93. 34 Nordsieck, Reinhard: Das Thomas-Evangelium. Einleitung – Zur Frage des historischen Jesus – Kommentierung aller 114 Logien. Neukirchen-Vluyn 2004, S. 154f. Zur teilweise kontroversen Auslegung des Logions vgl. ebd., S. 155–159.
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Doch was ist der Effekt einer solchen Inszenierung in einem religiösen Kontext? Einbezogen werden in die Aufführungen der Christusnarren alle Zuschauer, denn sie werden zu Mitspielern einer besonderen Art. Analog zum Leidensweg Christi opfern die Narren ihren Körper der Welt. Sie fordern durch ihr Verhalten permanent Misshandlungen heraus, indem sie selbst mit Kot und Mist um sich werfen, in der Öffentlichkeit kopulieren, defäkieren, eine unverständliche Sprache sprechen und in lautes Lachen ausbrechen. Reagieren die Zuschauer so, wie es die Narrenperformance von ihnen erwartet, misshandeln sie den Narren, lachen über ihn und verachten ihn, dann beweisen sie damit die Narrheit der Welt und werden damit selbst zu Narren. Vom Zuschauer hängt es ab, die Heiligkeit des Narren zu erkennen. Die eigentliche schamlose Aufführung und das schamenthobene Verhalten ist didaktisch gedacht, denn sie soll beim Publikum Scham auslösen. Durch den Affekt der Scham sollen die Zuschauer zu einer Einsicht in ihr eigenes sündhaftes Leben herausgefordert werden. Die permanente Normübertretung der Christusnarren dient der Normenstabilisierung und -verinnerlichung, vorausgesetzt allerdings, dass die Heiligkeit des närrischen Zustands erkannt und dass daher das paradoxe Verhalten der Christusnarren als eine besondere Leistung anerkannt wird. Ist der Zuschauer in der Lage, die Oberfläche der närrischen Handlungen zu durchschauen, dann fordert die närrische Aufführung zur Scham heraus, die wiederum ein Einsehen in die Narrheit der Welt zur Folge hat. Der zu belehrende Zuschauer schämt sich und lässt sich belehren. Die Heiligen wiederum sind diejenigen, die die Christusnarren als solche nur erkennen können. Das heißt, hinter die schamlosen Aufführungen der Christusnarren können nur Erwählte schauen, wie der Einsiedler Daniel den heiligen Marcus erkennen kann: Daniel dieser heilige Einsidl begabe sich einstens aus seiner Claußen in Gesellschaft eines Jüngeren nach der Stadt Alexandria, alldorten den Patriarchen daselbst seinen Aufenthalt, und Wohn-Platz hatte, an seinem Festtag zu besuchen. Als sie nun in der Stadt bey dem Renn-Platz vorbey giengen, beobachteten sie unter den anderen närrischen Menschen, deren allda eine gute Zahl ware, auch einen, welcher schier gantz nackend unter denen übrigen, wie ein anderer Thor, und Aberwitziger (also nemlich wollte es GOtt von ihnen haben) herum lieffe, und sich verstellter Weiß als ein Narr tapffer tummlete: doch verspürte man an ihme, daß er von demjenigen, was ihme von denen frommen Leuthen geschencket wurde, den übrigen alles mittheilte, und sie gleichsam ernährte.35
35
Schmid, Jacob: Die weiße Thorheit. Erwisen Jn unterschiedlichen Heiligen/ Welche umb Christi Willen sich von der Welt als Thoren und Narren haben ansehen lassen. Augsburg Regensburg 1739, S. 46.
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Marcus, dieser von „jederman beglaubten Narren“,36 der sich als solcher verstellt, kann in seiner Weisheit nur von einem anderen Weisen erkannt werden, wie es die Legende erzählt: „Dann diser heilige Mann Daniel von GOtt erleuchtet, sahe gleich, daß was anders hinter dem Marxen steckte, und daß seine angemaßte Narrheit eine himmlische Klugheit wäre“.37 Ein Christusnarr ist jemand, der in seinem normverletzenden Verhalten eine Belehrung verbirgt. Seine schamlosen Handlungen fordern die Scham der Zuschauer heraus, die damit emotional in das Geschehen eingebunden und zur Einsicht und Umkehr angeleitet werden. Damit sind die Auftritte der Christusnarren paradox angelegt, denn in dem sie mit der Narrheit ihre Heiligkeit verdecken, soll durch die Dissimulation zugleich ostentativ auf menschliches Fehlverhalten verwiesen werden. Belegt sind Aufführungen von Christusnarren nur in größerer Anzahl in Russland, wobei sich Einblicke darüber verstreut in Reiseberichten finden. So berichtet Jerome Horsey von seiner 1572 unternommenen Reise nach Russland in seinem memoriall, dass Ivan der Schreckliche von dem russischen Christusnarren Nikola Salos, den er Mickula Sweat (Nikola Svjat) nannte und dessen Nachname bereits heilig bedeutet, gewarnt worden sei, Pskov zu zerstören, in dem er ihn einen „bloudsuccer, the devourer and eater of Christian flesh“38 genannt und damit zum Einhalten gebracht habe. Mikula sei ein Hochstapler und Zauberer gewesen, der aber von seiner Umgebung für ein „oracle“ und „holly man“39 gehalten worden sei.40 Diesen Mikula hat Horsey selbst gesehen: I saw this impostur or magicion, a fowll creature, went naked both in winter and sommer; he indured both extreame frost and heat; did many streinge things thorow ‚the‘ magicall illusions of the Divell; much followed, feared and reverenced, bothe of prince and people.41
Auch Gilles Fletcher berichtet von ihm und was er über ihn gehört hat. In seinen Ausführungen über die Christusnarren, die er in seinem Kapitel
36 Schmid: Die weiße Thorheit, S. 47. 37 Ebd. 38 Horsey, Jerome: „A relacion or memoriall. Abstracted owt of Sir Jerom Horsey his travells, imploiments, services and negociacions, observed and written with his owne hand; wherin he spent the most part of eighten years tyme.“ In: Russia at the close of the sixteenth century. Comprising the treatise „Of the Russe Commonwealth“ by G. F., and the travels of Sir J. Horsey, now for the first time printed entire from his own manuscript. Hg. v. Edward Augustus Bond. London 1856, S. 153–266, hier S. 161. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Horsey: A relacion or memoriall, S. 162.
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über die Organisation der Kirche aufnimmt, vergleicht er sie mit Eremiten und den als Gymnosophisten bekannten indischen Asketen: They use to go starke naked, save a clout about their middle, with their haire hanging long and wildely about their shoulders, and many of them with an iron coller or chaine about their neckes or middes, even in the very extremity of winter. These they take as prophets and men of great holines, giving them a liberty to speak what they list without any controulment, thogh it be of the very highest himselfe. So that if he reprove any openly, in what sort soever, they answer nothing, but that it is po græcum, that is, for their sinnes. [...] Of this kinde there are not many, because it is a very harde and colde profession to goe naked in Russia, specially in winter.42
Die beiden englischen Reiseberichte beschreiben die russischen Christusnarren und ihr Auftreten aus einer Distanz, die die Aufführungen der Narren als eine Form der Verstellung wie Scharlatanerie und Magie kritisiert. Diese Beurteilungen müssen in die religiösen Auseinandersetzungen in England dieser Zeit eingebettet werden in die beide Reisende einbezogen waren.43 Der österreichische Gesandte am russischen Hof hingegen, Freiherr von Herberstein, setzt die paradoxe Aufführung eines anderen Christusnarren mit der auch im Westen praktizierten Form von närrischen Inszenierungen gleich. Der Narr, den er gesehen habe, sei ein „morio“ oder „Schalchsnarr“44 gewesen. Obgleich die Aufführungen der russischen Christusnarren den westeuropäischen Reisenden unbekannt waren, so sind jedoch zumindest bei dem österreichischen Gesandten Muster aufgerufen worden, die er mit den ihm bekannten Narrentypen vergleicht. Diese Beschreibungen verdeutlichen zugleich die Problematik, beschäftigt man sich mit den Aufführungen der Narren in Christo. Die Texte legen Zeugnis von vormodernen Ritualen ab und zeichnen deren rituelle Struktur nach. Gleichzeitig kommentieren und bewerten sie bereits die Handlungen der Christusnarren und lassen den Leser die „himmli-
42 Fletcher, Giles: „Of the Russe Common Wealth. Or, Maner of gouernement of the Russe emperour, (commonly called the Emperour of Moskouia) with the manners, and fashions of the people of that countrey, London 1591“. In: Russia at the close of the sixteenth century. Comprising the treatise „Of the Russe Commonwealth“ by G. F., and the travels of Sir J. Horsey, now for the first time printed entire from his own manuscript. Hg. v. Edward Augustus Bond. London 1856, S. 1–152, hier S. 117. 43 Vgl. dazu: Holaday, Allan: „Giles Fletcher and the Puritans“. In: The Journal of English and Germanic Philology 54 (1955), S. 578–586. 44 Herberstein, Sigismund von: Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synoptische Edition der lateinischen und der deutschen Fassung letzter Hand Basel 1556 und Wien 1557. Hg. von Hermann Beyer-Thoma. Osteuropa-Institut München (Regensburg). München 2007, S. 235.
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sche Klugheit“45 hinter den närrischen Aufführungen beispielsweise durch andere heilige Personen erkennen. Die Überlieferungen zu den Christusnarren weisen weitere Besonderheiten auf. Sowohl die griechischen wie russischen aber auch deutschen Texte haben gemeinsam, dass sie das Leben der jeweiligen Narren meist mit einem langen zeitlichen Abstand aufzeichnen, so dass manchmal zwischen angeblicher Lebenszeit und der Aufzeichnung mehrere hundert Jahre liegen. Die Überlieferungen zu den Christusnarren folgen einem typologisch sehr engen Muster. Im Fall der russischen Narren geht es so weit, dass mit dem Aufkommen der jurodivye im 15. Jahrhundert bereits bestehende Heiligenlegenden so umgeschrieben wurden, dass aus dem Heiligen ein Narr in Christo wird, der sich durch öffentliche schockierende Auftritte auszeichnet. Dieser Vorgang macht deutlich, wie sehr die Christusnarrheit ein diskursives Moment besitzt, wenn sie erst später dazu erfunden wird. Analog zu der oben gezeigten Unterscheidung zwischen künstlicher und natürlicher Narrheit ist die Narrheit in Christo also in erster Linie ein textuelles Phänomen, das Modelle für die Aufführungen liefert. Diese Umkehrung, dass aus Texten Rituale werden, liegt vermutlich bereits in dem Ursprung der Christusnarrheit begründet. Alle Formen der Narrheit in Christo berufen sich auf die neutestamentlichen Paulusbriefe, die die Inversion der Opposition von Weisheit und Torheit vorführen, wie es im 1. Korintherbrief formuliert wird: „denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott“ (1Kor 3, 19). Der Peristastenkatalog des kanonischen Texts stellt somit ein textuelles Modell dar, an dem sich die Aufführungen der Christusnarren orientieren. Inwieweit dieses auch für deutschsprachige Texte der Vormoderne wirksam war, soll hier abschließend anhand der Alexiuslegende, an schamlosen Aufführungen von natürlichen Narren und anhand von bayerischen Legenden gezeigt werden. Im Folgenden werde ich mich exemplarisch mit vormodernen Text- und Bildtraditionen beschäftigen, an denen ich zu zeigen hoffe, in welch vielfältiger Art und Weise das Phänomen auch im deutschsprachigen Kontext zu finden ist. Dabei wird es nicht darum gehen, die Christusnarrheit genetisch darzustellen, sondern vielmehr auf sich überlappende, überschneidende, aber auch auf voneinander unabhängige Darstellungen hinzuweisen.
45
Schmid: Die weiße Thorheit, S. 47.
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III. Alexius, natürliche Narren und Heilige in Bayern Die Alexiuslegende eignet sich zur Diskussion der Christusnarrheit, da sie auf eine weitgestreute Überlieferung in Westeuropa verweisen kann und der Heilige zugleich in der Ostkirche als Christusnarr verehrt wird.46 Im folgenden wird es mir jedoch nicht um die Aufarbeitung der reichhaltigen Legendentradition gehen, sondern ich werde mich vielmehr auf einen Ausschnitt aus seinem Leben konzentrieren, das als Christusnarrheit verstanden werden kann, da es neben der Form der öffentlichen Askese zugleich eine Belehrung enthält.47 Der erste Teil der Legende, in der von Alexius erzählt wird, der ein von seinen Eltern langersehntes Kind war und in der Hochzeitsnacht beschloss, sein Elternhaus zu verlassen, um danach 17 Jahre in Edessa als Bettler zu leben, zeigt bereits in dieser freiwilligen Armut Elemente der Christusnarrheit, die im Unterschied zu anderen Formen radikaler Askese in der Öffentlichkeit gelebt wird. Der zweite Teil seines Lebens, den Alexius 17 Jahre unerkannt als Bettler bei seinen Eltern verbringt, stellt eine gesteigerte Form der Askese dar, die hier im Vordergrund stehen soll. Die verschiedenen Fassungen der Legende werden danach unterschieden, ob sich der Brief in der Hand des in seinem Elternhaus bereits tot aufgebahrten Alexius, in dem er seine wahre Identität enthüllt, von seiner Braut oder vom Papst aus der Hand lösen lässt. Diese nachträgliche Entdeckung findet sich in verschiedenen legendarischen Texten zu den Christusnarren. Alle volkssprachlichen Fassungen der Alexiuslegende, gleich ob der päpstlichen oder der bräutlichen Version angehörig, enthalten Elemente, die zur Topik der Narrheit in Christus gehören: Alexius flieht aus der Stadt, sobald seine Heiligkeit bekannt wird, er lebt an einem liminalen Ort wie auf der Schwelle oder in einer kleinen abseits gelegenen Kammer
46 Ivanov: Holy fools in Byzantium and beyond, S. 81–85. 47 Einen Überblick über die Überlieferung bietet: Decuble, Gabriel H.: Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Legende als literarische Gattung. Unter besonderer Berücksichtigung der Alexius-Legende. Konstanz 2002. In den vergangenen Jahren ist der Alexius vielfach untersucht worden, zuallererst von: Strohschneider, Peter: „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hg. v. Gert Melville u. Hans Vorländer. Köln Weimar Wien 2002, S. 109–147. Vgl. auch: Egidi, Margreth: „Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende“. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Peter Strohschneider. Berlin New York 2009, S. 607–657; Weitbrecht, Julia: „Keuschheit, Ehe und Eheflucht in legendarischen Texten: Vita Malchi, Alexius, Gute Frau“. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Julia Weitbrecht. Berlin New York 2010, S. 131–154.
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im Hause seiner Eltern, er wird verspottet und erst durch seinen Brief erfährt seine Familie von seiner wahren Identität. Der Heilige muss sich bei seiner Rückkehr nach Rom dem (Wieder)erkennen seiner Familie entziehen, denn nur dadurch kann seine Heiligkeit zu seinen Lebzeiten aufrecht erhalten werden: Es geht hier nicht allein um die Beobachtbarkeit des Heiligen für andere, sondern umgekehrt auch um diejenige Bedeutung, welche das Erkanntwerden durch die anderen für den Heiligen besitzt, nämlich die Bedeutung einer Gefährdung oder Unterbrechung des Weges aus der Immanenz in die Transzendenz. Teil einer Sphäre, die von der Welt der Unterschiede kategorial unterschieden ist, kann nur sein, was sich der Beobachtung – also ganz allgemein: Prozessen des Unterscheidens und Bezeichnens – entzieht.48
Im Hause seiner Eltern ist es nicht nur die von Alexius freiwillig gewählte Armut, die bereits in Edessa seinen Körper zur Unkenntlichkeit verändert und daher die Boten seines Vaters auf der Suche nach ihm unverrichteter Dinge umkehren lässt, sondern es ist ebenso der Spott, dem er ausgesetzt ist, der als Teil des Schauspiels eines Christusnarren begriffen werden kann. Die volkssprachlichen Fassungen des Alexius nennen alle diese Topoi und bauen sie verschiedentlich aus. Es sind meist die Diener und die Köche, die ihn nicht genug mit Essen versorgen und ihn unter der Treppe liegend mit Spülwasser begießen – ein Element, das auch in der bildlichen Verbreitung der Legende oft benutzt wurde und beispielsweise in den illustrierten Ausgaben der Heiligenleben verwendet wird.49 So hält Alexius in dem Text von Konrad von Würzburg „gotes dienste manege naht“50 und in dem in drei Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert überlieferten Alexius C betet er Tag und Nacht und kommt dabei nicht zur Ruhe: „sin ruowe was des tages kranc. / sin wachen was des nahtes lanc.“51 Doch, so fährt der Text fort, war das alles ein fröuden spil52 gegenüber dem, was er vom Hofgesinde erleiden musste. Auch bei Konrad nimmt die Schilderung der Verspottung einen breiten Raum ein, wobei er mit der
48 Strohschneider: Textheiligung, S. 132. Vgl. auch S. 110f. Die Suche nach Alexius durch Boten seines Vaters, die ihn bereits in Edessa nicht erkennen, lasse ich hier aus Platzgründen aus. 49 Vgl. zum Beispiel: Der Heiligen Leben. Sommerteil. Augsburg 1472, Bl. 82v. 50 Konrad von Würzburg: „S. Alexius“. In: Sanct Alexius Leben in acht gereimten mittelhochdeutschen Behandlungen nebst geschichtlicher Einleitung. Hg. v. Hans Ferdinand Massmann. Quedlinburg 1843, S. 86–104, hier S. 95, Z. 650f. 51 „Alexius C“. In: Sanct Alexius Leben in acht gereimten mittelhochdeutschen Behandlungen nebst geschichtlicher Einleitung. Hg. v. Hans Ferdinand Massmann. Quedlinburg 1843, S. 77–85, hier S. 81, Z. 217f, vgl. auch 213f. 52 „Alexius C“, Z. 219.
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in den meisten Fassungen enthaltenen Szene beginnt, bei der Spülwasser über den Heiligen verschüttet wird: die koche, die daz fleisch suten, swaz die von wazzer ald von labe gespuolten maneger schüzzel abe, daz wart üf in gegozzen. ditz leiter unverdrozzen gedulteclîchen alle zît.53
Ein bereits bei den byzantinischen Christusnarren wie Symeon von Eemesa wiederkehrendes Element, wonach die Narren von den Kindern der Stadt verspottet wurden, findet sich auch in einigen Fassungen des Alexius, wobei auch hier wieder Konrad eine ausführliche Schilderung vornimmt: diu kint begiengen wider strît an im dô grôzen ungelimpf. er was ir gamen unde ir schimpf alle frist und alle tac.54
Die hier geschilderte Szene, bei der die Kinder mit Alexius ihr Spottspiel treiben, kann nur in der Öffentlichkeit gedacht werden, genauso wie die Handgreiflichkeiten der Knechte, die das Leben des Alexius in seines Vaters Haus zu einer Qual machen: er wart vil dicke ûf sînen nac geslagen sunder lougen. man spîtem under ougen unt tete im allez ungemach. man schalt den süezen vnde sprach im dicke smæhelîche zuo. diz leit er spâte unde fruo mit willeclîchen muote.55
Der Alexius C steigert diese Szene noch dramatisch, indem der Asket nicht nur verspottet, sondern mit Tieren auf eine Stufe gesetzt und wie ein Schwein behandelt wird: si sluogen im ze spîse dar daz spüelech in der swine kar.
53 Konrad von Würzburg: „S. Alexius“, S. 95, Z. 688–693. 54 Konrad von Würzburg: „S. Alexius“, S. 95, Z. 694–697. 55 Konrad von Würzburg: „S. Alexius“, S. 95, Z. 698–705.
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si guzzenz im in sinen munt. si zugen in umbe als einen hunt. er lac nu dort, er lac nu hie, als obe er mensche wær worden nie.56
Der hier gebrauchte Vergleich von Alexius, der wie ein Hund behandelt wurde, ist ein bereits im byzantinischen Christusnarrentum zu findender Topos, der auf den kynischen Einfluss verweist, bei dem das Leben eines Hundes – țȣȦȞ – ein „emblematisches Vorbild“57 ist.58 Der Heilige, der hier einem Tier gleich wird, hebt sich damit nicht nur von seiner Umgebung und seinen Mitmenschen ab, er folgt vielmehr darin ebenfalls Christus, der mit seiner Menschwerdung sich seiner göttlichen Natur entäußerte.59 Der Alexius C vergleicht abschließend die Umstände, in denen der Heilige lebt, tatsächlich mit dem Leben eines Narren und evoziert so am deutlichsten von allen Alexius-Legenden diese Episode mit der Narrheit in Christo: sô lag er dort aleine. sin hete niemen keinen vlîz. er lac versmâht in tôren wîs.60
Im Alexius C schließt sich zugleich die Frage an, wie Alexius selbst auf diese Schmähungen reagiert: waz tet der hôchgeborne bar? swenne er nû des wart gewar daz si gemaches pflâgen und an ir ruowe lâgen,
56 „Alexius C“, S. 81, Z. 25–30. 57 Largier, Niklaus: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik. Tübingen 1997, S. 2. 58 Vgl. Kinney, Daniel: „Heirs of the Dog. Cynic Selfhood in Medieval and Renaissance Culture.“ In: Cynics. The Cynic Movement in Antiquity and Its Legacy. Hg. v. Robert Bracht Branham u. Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley Los Angeles London 1996, S. 294–328; Matton, Sylvain: „Cynicism and Christianity from the Middle Ages to the Renaissance“. In: The Cynics. The Cynic Movement in Antiquity and Its Legacy. Hg. v. Robert Bracht Branham u. Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley Los Angeles London 1996, S. 240–264. Zu Diogenes vgl. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. München 1979; Billerbeck, Margarethe (Hg.): Die Kyniker in der modernen Forschung. Aufsätze mit Einführung und Bibliographie. Amsterdam 1991; Largier: Diogenes der Kyniker. 59 Vgl. Phil. 2, 6–7. Zur Kenosis-Nachfolge vor allem Lachmann: Der Narr in Christo, S. 405 und Peter von Moos in diesem Band. 60 „Alexius C“, S. 81, Z. 238–240.
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sô stuont er ûf unt lobete got um daz leit und um den spot unt kurzliche umbe alles daz daz im den tac geschehen was.61
Der hier ausgesprochene Dank gilt einem Leben, das in der direkten Christusnachfolge besteht, die sich dem öffentlichen Spott aussetzt. Es zeigt zugleich auch die Verstellungsstrategien von Dissimulation und Simulation an: „Während erstere darin besteht, vorzugeben etwas nicht zu sein, was man ist, bedeutet die zweite etwas vorzugeben, was man nicht ist.“62 Alexius verbirgt seine Heiligkeit in seinem Elternhaus durch die Wahl seiner Wohnstatt und durch das Erdulden von Schmähungen, dadurch, dass er vortäuscht, ein „armer bilgerin“63 zu sein. Doch geht es hier nicht allein um die Verstellung, sondern vielmehr ist in seinem Verhalten auch immer zugleich ein didaktisches Anliegen verborgen, bei dem die Mitmenschen zur Umkehr und Einsicht aufgefordert werden. Kaum ein anderer hat diesen Vorgang so ausführlich beschrieben wie Konrad. Dabei ist dieser Vorgang zweigeteilt: Zum einen bedauern die Eltern, dass Alexius sich ihnen nie offenbart hat, und beschuldigen sich daher selbst, ihren Sohn nicht erkannt zu haben – „wir wâren leider alsô blint/ daz uns betrouc dîn bilde“.64 Zum anderen aber klagen sie und vor allem Alexius’ Mutter gleich mehrfach die Misshandlungen an, die der Heilige erfahren hat: dâ von dir unser knehte buten mange smâcheit; das vil gedultecliche leit dîn herze unt dîn heilec lîp.65
Der Vater spricht in diesem Zusammenhang gar von Verfehlungen: „von schulden mouz ich jehen ach/ unt wâfen schrien iemer“.66 Diese Konstellation, in der nicht nur der Heilige als heilig erkannt wird, wie es in dem ersten Zirkel der Erzählung in Edessa geschieht, steigert sich in Rom, da hier die Erniedrigung und Verspottung von Alexius in seinem Elternhaus stattfindet, in dem es nicht nur um die Dissimulation der wahren Identität als Heiliger gehen kann, sondern zugleich dazu führt, dass sich die Eltern und in einigen Fassungen auch die Braut sich ihres Umgangs 61 62 63 64 65 66
„Alexius C“, S. 81, Z. 241–248. Lachmann: Der Narr in Christo, S. 403. „Alexius C“, S. 80, Z. 69. Konrad von Würzburg: S. Alexius, S. 101, Z. 1139f. Konrad von Würzburg: S. Alexius, S. 101, Z. 1146–1149. Konrad von Würzburg: S. Alexius, S. 100, Z. 1062–63.
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mit dem vermeintlichen Bettler im Nachhinein schämen. So stiften im Alexius I die Eltern ihr gesamtes Vermögen zur Versorgung „den witiben waisen vnd den armen“.67 Die Verspottungen von Alexius in seinem Elternhaus können als schamenthobenes närrisches Verhalten verstanden werden, die in der Abfolge der Erzählung erst nach dem Tod für die Zuschauer – Eltern, Braut und Hofgesinde – sich als eine Form der religiösen Kommunikation erweisen. Auf der Textebene gestaltet sich das für den Leser allerdings komplexer, weiß er doch von Anfang an, wer sich hinter dem Bettler tatsächlich verbirgt. Doch dass gerade der Leser nicht nur die Beschämungen wahrnehmen, sondern Alexius darin nachfolgen soll, eröffnet der Prolog des Alexius K, der zugleich auf die hier zugrundeliegenden Strategien von Dissimulation und Ostentation verweist: Ich will ûch ein gedichte geven von des heiligen Alexius leven, wat er smâcheit leit und spot umb den vil minniclîchen got heimelîch und offenbâr.68
Der Autor nimmt diesen Faden auch noch einmal später auf, um eine Fürstenkritik zu formulieren und um an seine Leser zu appellieren: dô quâmen dick des hêren knappen unde dâden im manigen spot; dat leit er willichlîch durch got. der eine slôch in weder sîn backen, der andere an sînen nacken, der dridde roufte im ûz sîn hâr. dat leit er sibenzehen jâr. [...] wâ vindet man nu der hêren einen, (man vindet ir nu leider keinen) der it umb got wilde lîden? sie wellen lieber turnieren und strîden umb bejach und îdel êre, die leider gode sind unmêre.69
67
„Alexius I“. In: Sanct Alexius. Hg. von Wendelin Toischer. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 28 (1884), S. 67–72, hier S. 69, Z. 134. 68 „Alexius K“. In: Hans Friedrich Rosenfeld: Eine mittelhochdeutsche Alexiuslegende (K). In: Festschrift Walter Baetke. Hg. v. Kurt Rudolph. Weimar 1966, S. 284–297, hier S. 290, Z. 1–5. 69 „Alexius K“, S. 294, Z. 140–164.
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Auch wenn Alexius als ein Papierheiliger bezeichnet wurde, da er nur wenig in der rituellen Praxis verankert war, so ist jedoch gerade interessant, noch einmal die Aufführungsbedingungen anzuschauen, die zumindest für den französischsprachigen Raum belegt sind.70 Dort ist von einem iocolator als Erzähler die Rede, der die Legende öffentlich auf dem Marktplatz erzählt und damit eine Konversion bewirkt habe. Damit reinszeniert die Erzählung einen Teil der Handlung und lässt sie als religiöse Kommunikation wirksam werden, da Lachen und Sakralität sich in der Vormoderne nicht ausschließen.71 Eine Änderung tritt jedoch mit der Reformation ein, in deren Zuge Legenden bewusst neu oder umgeschrieben werden. Auch Alexius erfährt hier eine Neubewertung, wie sie sich in Andreas Hondorffs Calendarivm sanctorvm et historiarvm findet, der den Heiligen unter dem in der Westkirche üblichen Feiertag des 17. Juli listet. Nach Hondorff habe sich Alexius „selber ein Exilium erwehlet/ vnd siebenzehen Jar hin vnd wider gereiset/ vnd von dem Betteln sich erhalten/ mit dieser falschen meinung/ Gott einen dienst oder gefallen damit zu thun“.72 Damit ist auch nach Meinung des protestantischen Pfarrers der Spott durch die Diener seines Vaters gerechtfertigt „dieweil keiner sich so armselig hielt/ als er“.73 Das Mitleid gilt vielmehr den Eltern, die ruhelos Werke der Barmherzigkeit verrichten und denen daher die Sympathie im Sinne einer neuen Ethik des protestantischen Haushalts gilt.74 Ist die Verstellung in Hondorffs Augen in keinerlei Weise gerechtfertigt und tatsächlich ein Fehler, so ist jedoch fraglich, ob es nicht andere Formen der Narrheit in Christo auch bei den Protestanten gegeben hat. Trauen sie einer Verstellung im religiösen Kontext kein didaktisches Potential zu, lehnen damit jeglichen intendierten Normbruch und das Prinzip der freiwillig erlangten Schamenthobenheit ab, so sind jedoch die sich nicht verstellenden natürlichen Narren von diesem Vorwurf ausgenommen. In dieser Logik wird nur der unbeabsichtigten Normverletzung eine didaktische Funktion zugeschrieben wie sie 70
Kunze, Konrad: „Papierheilige. Zum Verhältnis von Heiligenkult und Legendenüberlieferung um 1400“. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/87), S. 53–65. Vgl. dazu Strohschneider: Textheiligung. 71 Vgl. dazu Katja Gvozdeva u. Werner Röcke: Performative Kommunikationsfelder, S. 14f. 72 Hondorff, Andreas: Calendarivm sanctorvm et historiarvm. Jn welchem nach Ordnung gemeiner Calender durchs gantze Jar alle Heiligen und Mertyrer mit ihrem Bekentnis und Leiden nach Ordnung der Tage beschrieben sampt zugethanen vielen aus Heiliger Schrift und andern Scribenten so sich auff gleiche Tage in denselben Monaten begeben. Leipzig 1573, Bl. 16r. 73 Ebd. 74 Die Legende endet ohne Heilungswunder mit folgendem Satz: „ist also nach seinem tode/ von seinen Eltern/ bey denen er 17. Jar gewesen/ aller erst erkandt worden/ das sie eine solche lange zeit/ jhren Sohn ernehret hatten.“
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in der protestantisch geprägten Literatur besonders von Claus Narr eingenommen wird, der bis zu Flögels 1789 erschienenen Geschichte der Hofnarren als ein natürlicher Narr per excellence gilt. Zu seiner Bekanntheit in der Frühen Neuzeit haben nicht zuletzt Wolfgang Büttners Historien von Claus Narren verholfen, die in 27 deutschen Auflagen zwischen 1571 und 1734 erschienen. Alle die über ihn gesammelten 626 Schwänke in Büttners Werk haben eine Lehre, die die moralischen Handlungsanweisungen aus dem närrischen Normbruch für den Leser in Reimen aufbereiten. So wird aus dem peinlichen Verhalten von Claus, der einmal beim Tanzen einen Wind fahren lässt und sich damit entschuldigt, dass er sagt: „Jch hatte es nit beym Zaume/ wie ich mein Pferd am Zaum halte/ vnd herum führe“75, die allgemeine Weisheit abgeleitet, dass der Mensch, der „nicht Tugend liebt/ fürwar auf Gottes Wort nicht gibt“.76 Aus dem in der Narratio erzählten Normbruch des Narren wird also eine allgemeine Verhaltensanweisung in der Moralisatio abgleitet. Dass dieses in einem besondern religiösen Rahmen erfolgt, wird im Schlussgebet des Autors deutlich, der die Narrheit von Claus Narr, die er als Simplicitet definiert, von der negativen Narrheit der „Stoliditet“ unterscheidet: Erbarm dich vnser HErre Gott/ Vns liebt/ du weist/ dein rein gebot/ Vns liebt die schlecht Simplicitet/ An vns klebt nur Stoliditet/ Das ist der Sünden last vnd st(rck. Nach Thoren art/ vnd Kinder weiß/ Steht vnser hertz/ sinn/ muth vnd fleiß.77
Die Rezeptionsgeschichte der Historien von Claus Narren lassen vermuten, dass die sich um den Narren rankenden Schwänke in einem didaktischen Rahmen gebraucht wurden, sind sie doch zahlreich in den Apophtegmensammlungen von Zincgref und Weidner teilweise zusammen mit der Lehre enthalten. Auch die stark moralisierende Fortsetzung des Faustbuchs durch Georg Rudolf Widmann enthalten einige Historien von Claus Narr und tragen damit besonders zur lehrhaften Unterweisung des Lesers bei. Wenn die natürliche Narrheit ein besonders in der protestantischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts beliebtes Exempel war, so weist doch auch die katholische Literatur dieser Zeit einige Beispiele auf. Bekannt sind hier vor allem Spiele und Legendensammlungen zu Christusnarren, die im Umfeld der Jesuiten im bayrischen Raum entstanden 75 Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 7, S. 60. 76 Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 7, S. 60f. 77 Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. k iiijv.
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und die vom späten 16. bis zum 18. Jahrhundert verbreitet waren.78 Zu diesen zu zählen ist die Legendensammlung Die weiße Thorheit des Jesuitenpaters Jacob Schmid, der darin verschiedentlich seine Leser vor den Aufführungen der Christusnarren warnt: Auf eine Zeitlang sich tobsinnig, zerritet, närrisch, und einfältig stellen, aus Antrib Gottes, oder um der Seelen Wohlfahrt willen, oder wegen Gott allein, oder der eytlen Ehr und Hoffahrt zu entgehen, und zu unterdrucken, das ist eine Wunders-würdige, eine löbliche Sach [...] Jedoch ist disem nit gleich zu folgen, es seye dann Sach, dass du auch mit eben solchem Geist, wie diese Heilige, darzu angetriben wirst.79
In der Warnung diskursiviert Jacob Schmid das skandalöse Auftreten der Christusnarren und schränkt es in seiner Funktion als imitatio ein. Gleichwohl enthalten seine Lebensbeschreibungen närrische Auftritte, die der doppelten Funktion der Dissimulation von Heiligkeit und dem didaktischem Anliegen zugleich gerecht werden. Dabei kann Symeon der Christusnarr, der auch außerhalb des Legendenkranzes in mindestens sechs Spielen aus dem 17. und 18. Jahrhundert im Mittelpunkt steht, als exemplarischer Fall gelten, den Schmid direkt auf die Narrheitskonzeption des Korintherbriefes von 1Kor, 1, 27 bezieht. Luther übersetzt 1545 folgendermaßen: „Sondern was toericht ist fur der welt, das hat Gott erwelet, Das er die Weisen zuschanden machet“. Schmid dagegen zitiert die Vulgata und bringt in seine Übersetzung zugleich die beschämende närrische Aufführung hinein: „Was auf diser Welt thorrecht ist, das hat GOtt erw(hlet, darmit die aufgeblasene Welt-Kinder zu beschämen“.80 Genau mit der Beschämung „auf der Schaubühne diser Welt“,81 das „ein immerwehrendes Schau-Spihl vor den Leuthen“82 sei, sollen die „irrende[n] Seelen dardurch in das Netz Christi gebracht“83 werden. Jacob Schmid erzählt daher nicht nur von dem Einzug des Christusnarren mit einem toten Hund, seinem lästerlichen Verhalten in und außerhalb der Kirche, sondern ebenso von Symeons erfolgreichen Bekehrungsversuchen, die in der Konversion von Häretikern, Prostituierten und Juden bestand. Die Wirkung des närrischen Schauspiels erklärt er im Fall von Johannes von Gott als einen direkten Eingriff Gottes: „Das ware bißhero ein seltsames Spihl unseres Johannes, oder vilmehr der spihlenden Hand GOttes in seinem
78 79 80 81 82 83
Vgl. dazu: Leonhardt-Aumüller: ,Narren um Christi willen‘. Schmid: Die weiße Thorheit. Schmid: Die weiße Thorheit, S. 8. Ebd. Schmid: Die weiße Thorheit, S. 28f. Schmid: Die weiße Thorheit, S. 8.
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Diener, den sie zu grosser Heiligkeit zu bef=rdern suchte“.84 Gleichwohl lässt Schmid einige obszöne Details aus den schamvollen Inszenierungen aus und reiht die närrischen Aufführungen bei einigen seiner Legenden in einen Prozess ein, der schließlich in ein Leben als Heiliger mündet. Im Endzustand als Heiliger verstellt dieser sich jedoch nicht mehr als Narr. Das ist ein markanter Unterschied zu den russischen Legenden, in denen die schockierenden Aufführungen der Christusnarren bis zu deren Tod andauern. Zusammen mit der mehrfach angebrachten Warnung an den Leser, diesem Beispiel nachzufolgen, also nicht unbedingt die imitatio anzutreten, folgen auch die jesuitischen Darstellungen in gewisser Weise der protestantischen Logik, wonach zu einem Christusnarren nur ein von Gott auserwählter Einzelner werden kann. Doch dass Narrheit als eine tatsächliche Nachfolge Christi verstanden wird, soll hier abschließend an zwei Holzschnitten gezeigt werden, die einem weit verbreiteten Muster in der Darstellung der Verspottung Christi folgen. Vom Meister E.S. stammt ein zwischen 1450 und 1467 entstandener Holzschnitt, bei dem Christus mit der Dornenkrone gekrönt wird, während einige Geißeler, die sich hier wie Narren gebärden, um ihn herum tanzen. Vor ihm sitzt mit entblößtem Kopf ein Narr, der als solcher durch seine Dreifachtonsur gekennzeichnet ist. Auch er scheint sich auf den ersten Blick an der Verspottung von Jesus zu beteiligen, wenn man seinen lächerlich aufgerissenen Mund anschaut. Er nimmt Jesus den Stab aus der Hand, doch lässt sich das auch anders deuten, vergleicht man dieses Bild mit einem weiteren Holzschnitt von Albrecht Dürer zum gleichen Thema. Hier kniet ein älterer Mann vor Jesus, der mit seinem gezaddelten Rock anderen Darstellungen von natürlichen Narren gleicht, und nimmt ebenfalls den Stab aus dessen Hand.85 Er hat in Demut seinen Hut gezogen und beteiligt sich nicht an der gewalttätigen Verspottung Christi. Vielmehr, so meine These, übernimmt er den Stab aus der Hand von Jesus und tritt so seine Nachfolge an. Beide Narren in den Holzschnitten scheinen auf den ersten Blick an der Verhöhnung teilzunehmen, ihre Handlungen sind, vor allem bei Meister E.S., fast identisch mit den anderen Spöttern. Doch beim genauern Hinsehen wird deutlich, dass sie sich von den oft als Narren dargestellten Geißlern unterscheiden. Dieser Bildaufbau macht zusammen mit Legendensammlungen und anderer moraldidaktischer Literatur deutlich, wie sehr das Phänomen der Narrheit in
84 Schmid: Die weiße Thorheit, S. 101. 85 Vgl. dazu: Bernuth, Ruth v.: „wer jm guotz thett dem rödet er vbel. Natürliche Narren im Gebetbuch des Matthäus Schwarz.“ In: Homo debilis. Behinderte–Kranke–Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Hg. v. Cordula Nolte. Korb Remstal 2009, S. 411–430.
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Christo im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit auch im deutschsprachigen und vermutlich europäischen Kontext insgesamt verbreitet war.
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JULIA WEITBRECHT
Entblößung, Scham und Heiligung in den Märtyrerinnenlegenden des Mittelalters und in Hugos von Langenstein Martina1 Agape, Thionia und Irene, die Mägde der heiligen Anastasia, sind allesamt schöne christliche Jungfrauen. Als solche sind sie den in der Märtyrerlegende üblichen Nachstellungen ausgesetzt und werden vom römischen Präfekten in eine Kammer gesperrt. Als dieser Anstalten macht, sich ihnen zu nähern, wird er mit Geistesverwirrung geschlagen, so dass er sich statt an den Mädchen an den in der Kammer aufbewahrten Töpfen und Kesseln vergeht. Dabei beschmutzt er sich derart, dass seine Diener ihn für einen Dämon halten und ordentlich verprügeln. Mit dieser Episode sind die Verfolgungen für die Jungfrauen allerdings noch nicht zu Ende: Nachdem der Präfekt nicht zum Ziel, sondern höchstens ‚zu Potte‘ gekommen ist, verlangt er, man möge die Jungfrauen entkleiden, damit er sich zumindest am Anblick ihrer nackten Körper delektieren könne. Hierin ähneln sich die Lebensbeschreibungen frühchristlicher Märtyrerinnen in frappierender Art und Weise: Im narrativen Überbietungsgestus der Legende erscheint das Märtyrerleben als schier nicht enden wollende Aufzählung von Demütigungen, Bedrohungen und physischen Kränkungen, bis schließlich der Märtyrertod die Erlösung, gleichsam auch die des Zuhörers, bringt und zum finalen Beweis der Überlegenheit des Christentums wird. Zusätzlich befinden sich die weiblichen Märtyrer stets in der Gefahr, ihre Keuschheit zu verlieren, und werden dabei auch zum Objekt der Sexualisierung und des Spottes.2 Dabei bewegen sich die 1
2
Den Zusammenhang von Heiligung und Entblößung in Märtyrerinnenlegenden habe ich bereits in einem früheren Beitrag untersucht, auf dem der erste Teil der vorliegenden Untersuchung basiert. Vgl. Weitbrecht, Julia: „Die magd nakint schowen / Ir reinen lip zerhowen. Entblößung und Heiligung in Märtyrerinnenlegenden“. In: „Und sie erkannten, dass sie nackt waren.“ Nacktheit im Mittelalter. Hg. v. Stefan Biessenecker. Bamberg 2008 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 1), S. 269–288. Kathryn Gravdal weist auf die Geschlechtsspezifi k dieses Motivkomplexes hin: „There is a sexual plot peculiar to the female saint’s legend. Rape, prostitution, seduction, and
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Märtyrerinnen in auffälliger Art und Weise zwischen den Kategorien: Zum einen wird in den Berichten ihrer Qualen stets deutlich gemacht, wie wenig die irdischen Beschwernisse sie in ihrem Heiligenstatus noch anfechten, ja die Inszenierung davon, wie den drastischsten Gräueln mit Nonchalance begegnet wird, bildet gleichsam ein Konstituens der Märtyrererzählung. Die herrschende Ordnung wird vorgeführt und in Frage gestellt, wenn die einzelne schwache Christin, das blœde frowelin Martina gegen das kaiserliche Aufgebot an Soldaten, Folterknechten und Richtern auf ihrer Weigerung beharrt, ihrem Gott abzuschwören: „Wer mohte frömders vinden / Daz ein so murwir lip / Ein maget niht ein wip / Den kaiser smahte / Und ze spotte brahte“! 3 Gleichzeitig und zum anderen ist auch die Heilige nicht über eine Empfindung erhaben, die den jungen Frauen, wenn man der mittelalterlichen Literatur Glauben schenkt, wesenhaft zu Eigen sein sollte, und den Ausweis ihrer Tugendhaftigkeit bildet: die Empfindung der Scham bzw. die Schamhaftigkeit.4 Während die heilige Barbara alle ihr zugefügten Demütigungen und Schmerzen geduldig erleidet, sich klaglos mit einem Hammer schlagen und schließlich noch die Brüste abschneiden lässt, gibt es lediglich einen Ausnahmefall, in dem sie um göttlichen Dispens bittet: ihre öffentliche Entblößung. Hie noch hies [der Richter] Ǖu blos mit groǕǕen Ǖtreichen fueren Ǖo wit daz lant was. Do Ǖach Ǖú úber Ǖich in den himmel vnd Ǖprach: ‚Herre Ǖit du den himmel mit wolken bedeckeǕt Ǖo bitte ich dich daz du mich nút furǕmoheǕt vnd die blœǕǕe mins libes bedeckeǕt daz ich iht zů Ǖpotte den vnmilten mannen werde.‘5
Anders als bei den ‚herkömmlichen‘ Martern ist die Heilige über diese öffentliche Zurschaustellung nicht duldsam erhaben, wie Barbaras Stoßgebet deutlich macht. In den meisten anderen Fällen ist es jedoch gar nicht nötig, dass die nackten Märtyrerinnen selbst um Hilfe bitten, denn wann immer sie sich davon bedroht sehen, dass man sie auszieht, werden
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forced marriage are the signal variations in this gendered plot.“ Gravdal, Kathryn: Ravishing Maidens: Writing Rape in Medieval French Literature and Law. Philadelphia 1991, S. 22. Hugo von Langenstein, Martina. Hg. v. Adelbert v. Keller. Stuttgart 1856 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 38), 148,20–24 (die Angaben werden im Folgenden in Klammern den Zitaten nachgestellt). Yeandle, David N.: „Schame“ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprachund literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung. Heidelberg 2001 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. xv. Von Ǖant Barbara, in: Die ‚Elsässische Legenda Aurea‘. Bd. 1 Das Normalkorpus. Hg. v. Ulla Williams u. Werner Williams-Krapp. Tübingen 1980 (Texte und Textgeschichte 3), S. 814–817, S. 816.
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sie davor bewahrt wie die drei Mägde der heiligen Anastasia: „Da blieben die Kleider an ihren Leibern so fest, daß man sie nicht von ihnen bringen mochte.“6 Oder die entblößten Körper werden schnell wieder verhüllt, sei es durch übernatürlichen Haarwuchs wie bei der heiligen Agnes7 oder durch eine Feuerwolke,8 welche die heilige Thekla den Blicken der Zuschauer in der Arena entzieht. Als der Richter sie daraufhin begnadigt und ihr Kleider geben lassen will, weist sie diese zurück, denn „[...] der mich mit dem glüenden wolken kleidete vnder den tieren. der Ǖol mich an dem JungǕten tage mit der eren vnn mit des heiles kleide bekleiden.“9 Auch die heilige Martina benötigt keine Kleider, denn an ihr vollzieht sich eine Art Autoillumination: Da geriet der Kaiser in Zorn und befahl, sie auszuziehen, und er befahl, sie rundum zu scheren. Die Diener aber taten [dies noch] schneller, als ihnen befohlen war. Die heilige Martina aber erschien so weiß wie Schnee. Ihr Körper glänzte, und der Glanz dieser Helle bewirkte, dass diejenigen blind wurden, die auf sie zurückblickten.10
6 Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. A. d. Lat. übs. v. Richard Benz. 9. Aufl. Heidelberg 1979, S. 57. – „Sed statim uestimenta sic earum corporibus adheserunt ut nullo modo exui ualerent.“ Iacopo da Varazze: Legenda aurea. Hg. v. Giovanni Paolo Maggioni. 2 Bde. 2. Aufl. Firenze 1998 (Millennio medievale 6; Testi 3), Bd. 1, S. 76 (im Folgenden: LA). 7 „Da gebot der Richter, daß man sie sollte bloß ausziehen und also nackt in der gemeinen Frauen Haus führen. Aber der Herr ließ ihr Haar so dicht wachsen, daß ihr Leib davon besser gedeckt war denn mit Gewand. Und da sie in das Haus der Schande kam, stand dort ein Engel, der gab ihr ein lichtes Gewand, und erfüllte mit seinem Glanz das ganze Haus. Also ward die Stätte der Schmach zum Ort des Gebets, und wer dem himmlischen Glanz Ehre gab, ging reiner von dannen, als er gekommen war.“ Legenda aurea, S. 134. – „Tunc prefectus iussit eam expoliari et nudam ad lupanar duci. Tantam autem densitatem capillis eius dominus contulit ut melius capillis quam uestibus teperetur. Ingressa autem turpitudinis locum angelum domini preparatum inuenit, qui locum claritate nimia circumfulsit sibique stolam candissimam preparauit. Sicque lupanar locus fit orationis, adeo ut mundior exiret quam fuisset ingressus qui immense lumini dabat honorem.“ LA I, S. 171. 8 „[e]in füeriges wolken“. Buoch von den heilgen megden und frowen. Hs. Licht. 69. Badische Landesbibliothek Karlsruhe (im Folgenden: BMF), 184va. Vgl. a. die apokryphen Acta Pauli et Theclae, in: Acta Apostolorum Apocrypha. Bd. 1 hg. v. Ricardus Adelbertus Lipsius, Hildesheim 1959 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1891), Kap. 34, S. 261. 9 BMF, 185ra. Vgl. Acta Pauli et Theclae 38, S. 264. Dort allerdings nimmt Thekla die Kleider (mit den gleichen Worten) an. Zu den Kleidern des Heils vgl. Jes 61,10: „Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit.“ 10 „Tunc iratus Imperator : iussit eam expoliari : et circumcinctam eam iussit incidi . Ministri uero eius fecerunt : quæ iussi sunt . Sancta autem Martina ostendebatur candida sicut nix : Cuius splendebat corpus : et nitor claritatis eius caligare faciebat respicientes in eam .“ Passio Sanctae Martinae virginis et martyris. In: Boninus Mombritius, Sanctuarium seu vitae sanctorum. 2 Bde. Paris 1910, S. 246–256, S. 249.
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Wie diese Beispiele aus verschiedenen mittelalterlichen Märtyrerinnenlegenden zeigen, ist die öffentliche Entblößung stabiler Bestandteil von Märtyrerleben seit Beginn ihrer Aufzeichnung und Weitererzählung. Hans Jürgen Bachorski und Judith Klinger weisen ihr einen festen Platz unter den Marterpraktiken bzw. im Ensemble legendarischer Erzählbausteine zu:11 Entblößung als Demütigung und Auftakt zur Vergewaltigung, als Strafe für widerspenstiges Verhalten und Verweigerung der Opfer, und im Kontext der römischen Spieltradition als Teil des Schaukampfes in der Arena. Die öffentliche Entblößung gehört damit zum hinreichenden, wenn auch nicht zum notwendigen Motivbestand der Märtyrerinnenlegende. Die Tatsache, dass die Märtyrerin während der Folter auch entkleidet wird, erscheint in einigen Texten, ebenso wie in Legenden männlicher Märtyrer, als Element der Marter ohne besonderen narrativen Status.12 In den hier vorgestellten Beispielen jedoch scheint dem Motivkomplex von Entblößung und Verhüllung eine Bedeutung zuzukommen, die auf die Rolle von Scham und Öffentlichkeit für die Narrativierung des Heiligungsprozesses verweist: Der weibliche Körper wird in diesen Beispielen als Objekt der Begierde öffentlich zur Schau gestellt, dann aber schamhaft verhüllt, und erst dadurch als entsexualisierter und heiliger Körper legitimiert. Die Scham als Reaktion fungiert zum einen als Beweis der überlegenen Tugend und Keuschheit der Märtyrerinnen, zum anderen als Lackmustest der Zuschauer: Lehnen sie diese schamlose Zurschaustellung ab, handeln sie unwissend bereits als barmherzige und züchtige Christen. Entblößung und Verhüllung stehen somit in einem erzählerischen Zusammenhang, in dem Heiligkeit als Heiligungsprozess inszeniert und im öffentlichen Raum erst produziert wird. Gerade an der oben eingeführten legendarischen Überlieferung zur Heiligen Martina aber lässt sich wiederum auch zeigen, dass dieser Erzählkomplex (in einem singulären und isolierten Fall) auch ganz anders
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Vgl. Bachorski, Hans-Jürgen u. Judith Klinger: „Religiöse Leitbilder und erzählerisches Spiel. Zur mittelalterlichen Legende“. In: Literatur als religiöses Handeln? Hg. v. Karl E. Grözinger u. Jörg Rüpke. Berlin 1999 (Religion, Kultur, Gesellschaft 2), S. 99–133, S. 112. 12 In den Martyrien männlicher Heiliger erscheint Nacktheit als qualitativ nicht unterschiedener Teil der Folter, wenn etwa der Heilige nackt in einen kalten Kerker geworfen oder vor dem Auspeitschen entkleidet wird. Der entblößte Körper scheint dabei auch nicht sexualisiert zu werden. Der in diesem Zusammenhang häufig angeführte Heilige Sebastian ist m. E. lediglich für bildliche (und spätere) Zeugnisse von Bedeutung, da in den Legendentexten zwar beschrieben wird, wie Sebastian mit Pfeilen beschossen wird, bis er „einem Igel“ gleicht (Legenda aurea, S. 131), nicht aber, ob er dabei nackt oder bekleidet ist.
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behandelt wird. In einer selbständigen deutschen Bearbeitung der ansonsten eher unbekannt gebliebenen Martinalegende,13 der Martina Hugos von Langenstein von 129314 wird er in einem allegorischen Bezugsrahmen aktualisiert, in dem die Scham vielmehr dazu dient, die Heiligkeit Martinas ostentativ auszustellen. Entsprechend gliedert sich diese Untersuchung in zwei Teile. In einem ersten Schritt wird an einigen Beispielen der Zusammenhang von Entblössung, Scham und Heiligung entwickelt, wie er sich in den Märtyrerleben als Motivkomplex findet und so auch die lateinische Passio Martinae geprägt hat. Zugrundegelegt werden dabei frühe lateinische Märtyrerlegenden und -viten, die in den Acta Sanctorum gesammelt sind, es werden aber auch weitere Beispiele aus den spätmittelalterlichen deutschen Legendaren herangezogen, die bei aller Reduktion der Legendentexte die Narrationen weitgehend erhalten. In einem zweiten Teil wird die Allegorisierung dieses Erzählkomplexes in der Martina Hugos von Langenstein untersucht.
1. Entblößung, Scham und Heiligung Nacktheit steht nicht für sich. Die Märtyrerinnen in der Arena oder vor dem Richter sind nie ‚bloß nackt‘ – ich gehe vielmehr davon aus, dass wir es in den Legenden mit einer „Inszenierung der Entblößung“,15 einem „Spiel mit Ver- und Enthüllungen“16 zu tun haben, für die Scham und Öffentlichkeit eine Rolle spielen, denn die Brisanz der Entblößungsszenarien liegt darin, dass der Kontrast des nackten Individuums zur bekleideten
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Martina wird zwar in den Martyrologien des Ado und Usuard (9. Jh.) genannt, doch ist die Passio Martinae nur selten überliefert. Als Vorlage für Hugos Martina gilt eine der Passio Sanctae Martinae virginis et martyris im Sanctuarium des Boninus Mombritius (s. Anm. 10) nahe Fassung. Auch in: Acta Sanctorum. Ianuarii I. Antwerpen 1643, S. 11–19 (im Folgenden: AASS). Die Martinalegende erscheint erst spät in einigen mittelalterlichen Legendaren, etwa im Buoch von den heilgen megden und frouwen, 109ra–114rb ; vgl. Williams-Krapp, Werner: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte 20), S. 441. S. a. Meindl-Weiss, Jutta: Eine vergessene Heilige. Studien zur Martina Hugos von Langenstein. Frankfurt/M. u. a. 2002, S. 13. S. Anm. 3. Überliefert in cod. B VIII 27 (Basel, Universitätsbibliothek), 1ra–292vb. Vgl. zu Hugo und zum Entstehungskontext der Martina Meindl-Weiss, Vergessene Heilige, S. 9f. Gernig, Kerstin: „Bloß nackt oder nackt und bloß? Zur Inszenierung der Entblößung“. In: Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Hg. v. Kerstin Gernig. Köln/ Weimar/Wien 2002 (Literatur – Kultur – Geschichte 17), S. 7–29, S. 7. Ebd., S. 25.
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Menge Scham hervorruft. In solchen Scham-performances17 indiziert die schamhafte Reaktion der Heiligen, dass im Akt der Entblößung religiöse, politische und Geschlechterdifferenzen aufgedeckt werden: Die gewaltsame Entkleidung fungiert als Körperstrafe der weltlichen Machthaber den Christen gegenüber, weil diese nicht an den Opfern teilnehmen. Spezifisch für die Legenden von heiligen Frauen, sämtlich Jungfrauen, die sich für ein keusches Leben in Christo entschieden haben, ist zudem die damit in Zusammenhang stehende Sexualisierung des weiblichen Körpers. Der theologisch problematische Status des weiblichen Körpers als Auslöser von Begierde wird also gerade an den heiligen Frauen vorgeführt, aber auch umgehend wieder zurückgenommen: Der entblößte weibliche Körper wird bedeckt und als Objekt der Augenlust neutralisiert.18 Diese schamhafte Verhüllung der Körper der Heiligen aber scheint dem Vorgang des Martyriums in paradoxer Weise entgegengesetzt, denn dieses ist die ultimative und geradezu schamlose Ausstellung des Körpers, des wahren „Helden der Legende“:19 Der Weizen kann – so erklärt es die heilige Agatha ihrem Richter – nämlich nicht in die Scheune gebracht werden, wenn die Kapsel nicht tüchtig gedroschen und zu Spreu zerkleinert ist. So kann auch meine Seele nicht mit der Palme des Martyriums in das Paradies eingehen, wenn du nicht dafür sorgst, daß mein Leib von den Henkersknechten gepeinigt wird.20
Im Martyrium geht es also um die Transformation des Körpers, eine Befreiung von seiner Triebhaftigkeit und um die Rückführung in einen
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Es geht hier somit um das performative Potential von Scham, nicht aber um die Frage, ob es sich dabei um ein Phänomen kultureller Verfasstheit oder um eine anthropologisch konstante, nur ‚allzu menschliche‘ Regung handelt. Die Forschung zu diesem Thema ist umfangreich, für eine Zusammenfassung der Duerr-Elias-Debatte aus geschichtswissenschaftlicher Sicht s. etwa Schwerhoff, Gerd: „Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht“. In: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 561–605, bes. S. 564–566. 18 „Because a woman can never escape her body, her achievement of sanctity has to be through the body.“ Robertson, Elizabeth: „The Corporeality of Female Sanctity in The Life of Saint Margaret“. In: Images of Sainthood in Medieval Europe. Hg. v. Renate Blumenfeld-Kosinski u. Timea Szell. Ithaca/London 1991, S. 268–287, S. 269. 19 Vgl. Kasten, Ingrid: „Gender und Legende. Zur Konstruktion des heiligen Körpers“. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. v. Ingrid Bennewitz u. Ingrid Kasten. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 199–219, S. 202. 20 Übersetzung aus: Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Lat./Dt. Ausgew., übers. u. hg. v. Rainer Nickel. Stuttgart 1988 (RUB 8464), S. 173. – „Non enim potest triticum in horreum poni, nisi theca eius fuerit fortiter conculcata et in paleas redacta. Sic anima mea non potest intrare in paradisum cum palma martyrii nisi diligenter feceris corpus meum a carnificibus attrectari.“ LA I, S. 258.
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Zustand der Einheit mit Gott.21 Erst die Zerstörung und Auslöschung des Körpers ermöglichen diese Transformation. Als ‚Held der Legende‘ wird der Körper von den Zuschauern andererseits aber erst dann identifiziert, wenn die Martern folgenlos bleiben oder die Zerstörung des Körpers wieder rückgängig gemacht wird. In diesem Schauprozess der Heiligung, also indem der heilige Körper dem Publikum wieder heil und ganz, als lebender Beweis der Auferstehung präsentiert wird, wird er zum Träger von Heiligkeit. Deshalb werden die Martern eben nicht durch ein Wunder verhindert, sondern vielmehr gnadenlos durchexerziert, um anschließend wieder rückgängig gemacht zu werden. Martina etwa wird nach den Folterexzessen auf wundersame Weise soweit wieder hergestellt, dass sie selbständig zurück in den Kerker gehen kann.22 Die Wunden der Heiligen Agatha heilen über Nacht, ihre verstümmelten Brüste wachsen wieder nach. Der Körper geht transformiert aus den Martern hervor, geheilt und geheiligt, „auf paradoxe Weise identisch und nicht-identisch.“23 Zugleich wird aber am gewaltsam entblößten Körper Heiligkeit auch dadurch demonstriert, dass er verhüllt und somit den Blicken entzogen wird. In der Enthüllung wird der weibliche Körper also erst als Objekt der Begierde vorgeführt und nicht, wie bei den übrigen Foltern, systematisch unschädlich gemacht. Der Körper wird, indem er daraufhin verhüllt und als menschlicher und potentiell attraktiver Leib den Blicken der impudici oculi, der schamlosen Augen, entzogen wird, gleichzeitig als heiliger Körper transzendiert und, nunmehr von jeglichem Verdacht befreit, erneut präsentiert. Dies scheint in den Mitteln der Verhüllung auf, die meist in irgendeiner Form mit Licht zu tun haben. Als Agnes von einem römischen Richter ins Bordell gebracht wird, erscheint sie von einem blendenden Licht umgeben, „so dass niemand sie aufgrund des Glanzes berühren oder sehen konnte.“24 Diese parallele Formulierung deutet darauf hin, dass der Blick auf den nackten Körper eine ähnlich große Kränkung darstellt wie seine Antastung. Der Kirchenvater Ambrosius thematisiert dies in seiner Schrift De virginibus im Zusammenhang mit der beispiel21
Vgl. Clark, Gillian: „Bodies and Blood: Martyrdom, Virginity and Resurrection in Late Antiquity“. In: Changing Bodies, Changing Meanings. Studies on the Human Body in Late Antiquity. Hg. v. Dominic Montserrat. London u. a. 1998, S. 99–115, S. 108. 22 Martina, 168d,105 – 169,10. 23 Bachorski, Hans-Jürgen u. Judith Klinger: „Körper-Fraktur und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden“. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hg. v. Otto Langer u. Klaus Ridder. München 2000, S. 309–333, S. 323. 24 „ita vt nullus posset eam prae splendore nec contingere nec videre;“ AASS, Ianvarii II (Antwerpen 1643), S. 352.
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haft keuschen Thekla. Als sie den Löwen vorgeworfen wird und diese ihr, statt sie zu zerfleischen, zahm ergeben die Füße lecken (eine ähnliche Szene findet sich auch in der Passio Martinae),25 heißt es: „[Die Löwen] wurden [...] Lehrer der Keuschheit, indem sie der Jungfrau nur die Füße kosten, die Augen gleichsam aus Schamhaftigkeit zur Erde gesenkt, daß nichts Männliches, und wäre es auch tierischer Art, die entblößte Jungfrau anblickte.“26 Indem der Körper der Heiligen den schamlosen Blicken entzogen wird, wird die Heiligung sichtbar vor Zeugen vollzogen und Heiligkeit gleichsam mit theatralen Mitteln hergestellt. Dieser ‚Vorher-Nachher-Effekt‘ zielt auf das Publikum und macht das Martyrium zur Angelegenheit nicht zuletzt auch des ‚sozialen Körpers‘, zur sozialen und politischen Veranstaltung. Dieser Zusammenhang ist für die Entblößungserzählungen von besonderer Bedeutung, denn hier wird neben der wundersamen Verhüllung auch die Wirkung der beschämenden Entblößung auf die schamhaft und mitleidig reagierende Öffentlichkeit vorgeführt, der die nackte Heilige präsentiert wird. Dieses ‚Fremdschämen‘ wirkt sich auf die Machtkonstellationen in der Märtyrerlegende aus, die von Beginn an von einem extremen Ungleichgewicht der Kräfte bestimmt ist. Die Repräsentanten weltlicher Macht werden in einzelnen Texten zwar personalisiert, erscheinen strukturell aber als Masse von männlichen, heidnischen, mit der Souveränität des römischen Staates ausgestatteten Aggressoren, die die Christinnen zum Beischlaf, zur Ehe und zum Abfall vom Christentum zwingen wollen. Dieses Ungleichgewicht wird durch die Entblößung des Opfers verschärft. Strafpraktiken zielen in der Vormoderne auf die Einschreibung von Machtverhältnissen in den Körper – permanent durch Verstümmelungen oder Tätowierun-
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„Erat autem leo immanissimus : qui comedebat quadraginta libras carnis quotidie : et de pane mundo libras uiginti et octo : in potu eius tysanas decimatas octo . Hic non comederat per dies triginta : ut deuoraret beatam . […] Imperator autem iussit absoluere leonem : ut deuoraret eam . Erat enim leo rugiens in cubili suo : ut omnes terreret . Venator uero qui eum nutriebat aperuit leoni : et egressus leo rugiit super sanctam : non terrorem ostendens sed delectationem . Et pro ea dolorem insinuans agitabat uultum faciei suae, dilectionem demonstrans . Et cursum arripiens ambulauit ad sanctam : et inclinans se adorabat pedes eius : Sancta autem dixit : fulges uirtutibus tuis deus .“ Passio Martinae, S. 253, S. 24–47. 26 „Docuerunt etiam castitatem, dum virgini nihil aliud nisi plantas exosculantur, demersis in terram oculis, tamquam verecundantibus, ne mas aliquis vel bestia virginem nudam videret“. Ambrosius von Mailand: De virginibus II, 3, 20. In: Patrologia Latina, Bd 21. Hg. v. Jacques-Paul Migne. Paris 1845, Sp. 187–231, Sp. 212. Dt. Übers.: Des Heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften, Bd. 3 Pflichtenlehre und ausgew. kleinere Schriften. Übs. v. Joh. Ev. Niederhuber. Kempten/München 1917 (Bibliothek der Kirchenväter 32), S. 352f.
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gen, aber auch temporär durch Entblößen und öffentliche Präsentation der Straftäter.27 Mit der Entblößung wird der Straftäter seiner sozialen Identität entkleidet, die Kränkung liegt nicht zuletzt im beschämenden Kontrast zu den bekleideten Zuschauern. Hierin liegt auch die politische Brisanz der Märtyrerinnenlegende, denn im Beziehungsgeflecht von weltlichem Souverän, Heiliger und transzendenter Macht werden Strafe, Demütigung und die zuvor demonstrierten Machtverhältnisse effektvoll verkehrt. Für die Erzählstruktur der Märtyrerlegende, in der die einzelnen Christen den vielen Heiden gegenüberstehen, bildet dabei die Tradition der kaiserzeitlichen Spiele (der ludi) in wirkungsvoller Weise den Hintergrund. Ihre unterschiedlichen Elemente – religiöses Zeremoniell, strafrechtliche Exekution und politische Repräsentation – werden im Medium der Legende für die christliche Identitätsbildung instrumentalisiert und umgedeutet. An dieser Stelle sollen nicht die historischen Christenverfolgungen rekonstruiert werden, sondern vielmehr die produktive Aneignung ludischer Kommunikationsformen für die Kommemoration in der Märtyrerlegende betrachtet werden.28 Bei den Spielen exekutierte man in Zusammenhang mit Opferfesten und Memorialveranstaltungen Sklaven, Verbrecher und andere Außenseiter in unterschiedlichen Kampfinszenierungen.29 Diese spectacula wurden von ihren Veranstaltern, Adel oder Kaiser, zu politischen und zu Repräsentationszwecken genutzt. Laut der jüngeren Forschung zu den rituellen und performativen Aspekten dieser Spiele besaßen sie eine zweifache gesellschaftliche Funktion: Zum einen wurde hier die Exklusion von Personen betrieben, welche die herrschende Ordnung gefährden, mit dem Ziel, diese Ordnung zu bestätigen.30 Zum anderen aber erhielten diese Außenseiter dabei die Gelegenheit, sich über die Be-
27 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des neuzeitlichen Gefängnisses. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2001, sowie Bachorski u. Klinger, Körper-Fraktur, S. 313–316. 28 Vgl. Castelli, Elizabeth: „Persecution and Spectacle. Cultural Appropriation in the Christian Commemoration of Martyrdom“. In: Archiv für Religionsgeschichte 7 (2005), S. 102– 136; Diefenbach, Steffen: „Jenseits der ‚Sorge um sich‘. Zur Folter von Philosophen und Märtyrern in der römischen Kaiserzeit“. In: Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter. Hg. v. Peter Burschel, Götz Distelrath u. Sven Lembke. Köln/ Weimar/Wien 2000, S. 99–131. 29 Eine Unterscheidung der einzelnen Spieltypen ist schwierig und vor allen Dingen historisch kaum zu fi xieren. Ich spreche im Folgenden von der Arena (als pars pro toto des Amphitheaters) und beziehe mich auf die Untersuchungen zu den spectacula der Kaiserzeit, ohne genauer zwischen munera, ludes, spectacula (gladiatores) und venationes zu unterscheiden. Vgl. Hönle, Augusta: „Munus, Munera III. Gladiatorenspiele“. In: Der Neue Pauly 8 (2000), Sp. 486–494. 30 Vgl. Diefenbach, Sorge um sich, S. 118.
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währung im Kampf wiederum in die Gesellschaft einzugliedern.31 Im Integrationsraum des Amphitheaters, das alle gesellschaftlichen Gruppen der Stadt versammelte, wurden die Spiele, so Egon Flaig, zur „Institution sozialer Kontrolle und Medium einer der erfolgreichsten Sozialdisziplinierungen der Weltgeschichte.“32 Es waren „Konsens-Rituale“,33 die gerade nicht die plebs sedierten und entpolitisierten, wie es Juvenal im berühmten Diktum von panem et circenses kritisierte.34 Die Spiele sollten vielmehr eine symbolische Einheit im Wissen um die Überlegenheit Roms schaffen. Es handelte sich somit um komplexe politisch-sakrale Veranstaltungen, um die „ständige Aktualisierung eines Normenkonsenses zwischen Herrschern und Beherrschten [...], die herrschaftssichernde Bedeutung hatte.“35 In solch einem Prozess der Herrschaftsstabilisierung sind alle beteiligten sozialen Gruppen voneinander abhängig. Adel oder Kaiser stellen zwar ihre Souveränität unter Beweis, bedürfen aber zugleich der Bestätigung durch das Volk: „The person providing the entertainment had to share his power with the crowd.“36 Diese Inszenierung weltlicher Macht, sichtbar vollzogen an den Körpern der Straffälligen, wird jedoch sabotiert und muss scheitern, wenn – wie in der Märtyrerlegende – ihre Terrorwirkung ausbleibt: wenn die Wunden der Heiligen wieder heilen oder Milch bluten, wenn die Blöße bedeckt wird und die halbverhungerten Löwen sich wie Kätzchen zu Füßen der Heiligen niederlassen. Das Strafspektakel in der Arena wird unterlaufen: Gegeben wird stattdessen eine Art „Christian counter-spectacle“,37 und die Stimmung im Publikum verkehrt sich wie in der Passio Martinae jäh zugunsten der Heiligen: „Und alle riefen, wie mit einer Stimme sprechend: Rette, Kaiser, diejenige, die Gott und die wilden Bestien verschonen [...]“.38
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Vgl. Barton, Carlin A.: „Savage Miracles: The Redemption of Lost Honor in Roman Society and the Sacrament of the Gladiator and the Martyr“. In: Representations 45 (1994), S. 41–71. Flaig, Egon: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich. Frankfurt a. M./New York 1992 (Historische Studien 7), S. 58f. Ebd., S. 46. „[...] einst verlieh [das Volk,]/Befehlsgewalt, Rutenbündel, Legionen, alles sonst, jetzt hält es/sich zurück und wünscht ängstlich nur zwei Dinge,/Brot und Zirkusspiele.“ Juvenal: Satiren 10, 81. Lat./Dt. Hg., übers. u. mit Anm. versehen v. Joachim Adamietz. München/Zürich 1993, S. 209. Diefenbach, Sorge um sich, S. 117. Potter, David: „Performance, Power, and Justice in the High Empire“. In: Roman Theater and Society. Hg. v. William J. Slater. Ann Arbor 1996, S. 129–159, S. 131. Castelli, Persecution and Spectacle, S. 105. „Et omnes clamauerunt uoce magna dicentes : Salua Imperator quam deus et ferae miserantur […];“ Passio Martinae, S. 254, 13f.
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Dieses Scheitern imperialer Machtdemonstration angesichts der Leidensfähigkeit, der patientia, der christlichen Außenseiter wird zum Kern christlicher Kommemoration und Selbstdeutung in der legendarischen Erzähltradition. Der Vorgang lässt sich mit Alois Hahn als Interdependenz von Norm und Transgression verstehen:39 Die Grenzüberschreitung, also die Verweigerung der gemeinschaftsstiftenden Opfer durch die Christen, wird öffentlich geahndet, um die Norm zu vergegenwärtigen und zu revitalisieren. Dies führt beim Publikum zu einem Zustand der Efferveszenz, einem Überkochen der moralischen Erregung. Würde das Konsens-Ritual im Sinne seiner Veranstalter gelingen, dann müsste sich diese Erregung gegen die Grenzverletzer, also die Christen richten – wie es in anderen Zusammenhängen auch überliefert ist, etwa in der Passionsgeschichte mit Pontius Pilatus. Indem aber hier der inszenierte Machtkampf zugunsten der Märtyrerinnen ausgeht, wird ebenfalls Sozialdisziplinierung betrieben, denn die (nicht zuletzt auch durch Scham markierte) Grenzverletzung schafft Raum für etwas Neues: Das Martyrium erscheint als Form der ‚innovierenden‘ Transgression,40 die eine kollektive Erregung angesichts der als ungerecht empfundenen Bestrafung auslöst, und in der die Norm also nicht stabilisiert, sondern vielmehr verflüssigt und damit verhandelbar wird: Die unkalkulierbare Menge solidarisiert sich gegen die schamlos handelnden Machthaber mit den nackten Außenseitern. Wenn etwa die heilige Christina durch die Stadt getrieben wird, kippt die Stimmung zugunsten der Heiligen und die kollektive Empörung richtet sich gegen den Richter: Da befahl der Richter, dass sie, nachdem ihr das Haupthaar abgeschnitten worden war, völlig kahl geschoren und nackt durch die Öffentlichkeit getrieben werde. Als die Frauen dies erblickten, erhoben sie ein lautes Geschrei und riefen: ‚Ungerecht urteilst du und entstellst das Geschlecht der Frauen.‘ 41
Der Anblick wirkt offenbar so radikal, dass das Publikum die Seite wechselt: Indem es sich mit der Märtyrerin ‚fremdschämt‘, wandelt sich die Masse geifernder Voyeure zur empathischen Kongregation christlicher Nächstenliebe. Die Heiligung der Märtyrerin erscheint somit als öffentlicher Prozess, in dem ihr Körper eine Reaktion provoziert: In der
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Hahn, Alois: „Transgression und Innovation“. In: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren v. Ulrich Schulz-Buschhaus. Hg. v. Werner Helmich, Helmut Meter u. Astrid Poier-Bernhard. München 2002, S. 452–465. 40 Vgl. Hahn, Transgression und Innovation, S. 456. 41 „Tunc judex jussit eam ablatis crinibus decalvari, & nudam per publica trahi. Hæc videntes mulieres clamabant, dicentes: Injuste judicas & confundis genus mulierum.“ AASS, Iulii V (Antwerpen 1727), S. 495–534, S. 527.
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Entblößung als Objekt der Begierde und der Scham, in der Marter verwundet und mitleiderregend, und schließlich in wiederhergestellter und transformierter Form, heil, geheiligt und schamhaft verhüllt.
2. Der Mantel der schame. Ostentation von Heiligkeit in der Martina Hugos von Langenstein Die narrative Struktur etlicher Märtyrerinnenleben ist durch den genannten Konnex von Entblößung, Scham und Heiligung geprägt. In der Bearbeitung der Passio Martinae durch Hugo von Langenstein, einen Deutschordenspriester aus dem Schwäbischen, wird dieser zwar aufgenommen, doch stehen Nacktheit und Scham hier in einem ganz anderen Zusammenhang, der mit der idiosynkratischen Darstellungsweise Hugos in Verbindung steht. Seine Martina entstand vor 1293 und beschreibt in 32.588 Versen zwar die aus der Vorlage vorgegebenen elf Martern der heiligen Martina, ihren Tod und ihre Aufnahme in den Himmel. In der Kompendientradition des Deutschen Ordens stehend42 fügt Hugo aber auch umfangreiche „exegetische Digressionen“43 zu geistlichen Themen ein und stellt dabei sein „theologisches und spirituelles Wissen (Trinität, Heilsgeschichte, Erlösung, Tugendlehre, Antichrist, Letzte Dinge, Naturdinge, Allegoresen)“44 unter Beweis. Gerade auf diese Abweichungen oder Hinzufügungen Hugos gegenüber seiner lateinischen Vorlage bezieht sich die Forschung zur Martina in ihren harschen Verurteilungen: Die Martina sei ein „überbordendes Wortund Versgeflecht“,45 ein monströser,46 „unglaublich lange[r] und ziemlich
42 Vgl. zur „heilsgeschichtlichen Totalität“ der Deutschordenliteratur Wyss, Ulrich: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik. Erlangen 1973, S. 326. Zum Gebrauchszusammenhang der Martina vgl. Horn, Martina: „Zu Hugo von Langensteins ‚Martina‘.“ In: Ergebnisse der 22. und 23. Jahrestagung des Arbeitskreises „Deutsche Literatur des Mittelalters“. Greifswald 1990, S. 130–140. S. a. Helm, Karl u. Walther Ziesemer: Die Literatur des Deutschen Ritterordens. Gießen 1951 (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 94). 43 Feistner, Edith: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 120. 44 Steer, Georg: Art. „Hugo von Langenstein“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4. Begr. v. Wolfgang Stammler. Fortgeführt v. Karl Langosch. Hg. v. Kurt Ruh. Berlin 1983, Sp. 233–239, Sp. 236. 45 De Boor, Helmut: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, 1. Teil 1250–1350. 5. Aufl, neubearb. v. Johannes Janota. München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begr. v. Helmut de Boor u. Richard Newald 3,1), S. 463. 46 Wyss, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, S. 283.
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verworrene[r]“47 Text, und „hinsichtlich ihrer Komposition […] eines der schlechtesten mittelhochdeutschen Gedichte“.48 Hugo bewege sich in „allzu großer Redseligkeit“49 immer wieder von der Legendenhandlung weg, um „gewaltige Arabesken und Girlanden aus Worten [zu] flechten“.50 So sei die Martina überhaupt „kein Legendenepos im eigentlichen Sinn, sondern ein Kompendium der christlichen Lehre“.51 Selbst Martina Horn muss in ihrem Versuch der Ehrenrettung, wenn sie die Martina in die Gebrauchszusammenhänge des Deutschen Ordens (also Erbauung durch Tischlesung) einordnet, schließlich vor der schieren Textmasse kapitulieren: „Dieser Absicht wirkt [sic] allerdings die Weitschweifigkeit und Geziertheit seines Stils sowie der enorme Umfang entgegen.“52 An dieser Stelle kann nicht auf die gesamte Martina eingegangen werden und es soll auch kein Versuch gemacht werden, narrative Kohärenz (und sei es auf der Ebene einzelner Motivkomplexe) nachzuweisen, wo im konventionellen Sinne keine vorliegt. So kommt auch Ulrich Wyss in seiner Untersuchung zur Legendenepik letztlich zu dem Schluss, dass epische Analysekategorien für einen Text wie die Martina gar nicht geeignet sind.53 Im Folgenden soll daher lediglich der Konnex von Entblößung, Scham und Heiligung noch einmal von einem anderen Winkel her betrachtet werden, der auch im Hinblick auf die Struktur der Martina aufschlussreich ist. Um Kohärenz auf der Ebene der Narration, wie sie explizit oder implizit letztlich allen Interpretationen zugrundeliegt,54 geht es hier nämlich gar nicht: Zwar wird Martina im Zuge ihrer dritten und
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Steeb, Dorothee: „Entgrenzung und Erlösung. Die ‚Martina‘ des Hugo von Langenstein“. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. v. Ingrid Bennewitz u. Ingrid Kasten. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 221–231, S. 221. 48 Dold, Paul: Untersuchungen zur Martina Hugos von Langenstein. Diss. Straßburg/Mühlhausen 1912, S. 76. 49 Rosenfeld, Hellmut: Legende. Stuttgart 1961 (Sammlung Metzler 9), S. 54. 50 De Boor, Die deutsche Literatur, S. 462. 51 Bumke, Joachim: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2), S. 400. 52 Horn, Zu Hugo von Langensteins „Martina“, S. 138. 53 „Die Episierung ist nur scheinbar, die in der Ausführlichkeit der Szenen liegt; Entepisierung kommt als Verzicht auf die Strukturierung des Erzählverlaufs zustande. Das Kontinuum der Vita wird zersprengt;“ Wyss, Theorie der Legendenepik, S. 301. 54 Eine Ausnahme bildet Dorothee Steeb mit ihrer Deutung der „symbolischen Metastruktur“ (S. 222) der Martina. Sie begreift die Martina als „Aufzählung verschiedener Erlösungs- und Transsubstantiationsgeschichten“: „Im Grunde hat Hugo ein gigantisches soteriologisches Kompendium geschaffen.“ Steeb, Entgrenzung und Erlösung, S. 231. Eine solche rein additive (oder aggregative) Logik geht m. E. aber an Hugos Verfahren eines ‚meditativen Umkreisens‘ vorbei, mit Hilfe dessen er unterschiedliche Ebenen und sprachliche Register verbindet; vgl. dazu S. 18.
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vierten Marter ebenfalls öffentlich entkleidet und greift Hugo in diesem Entblößungsszenario55 alle erzählerischen Elemente der Passio Martinae auf (also die Foltern, die gewaltsame Entkleidung, das Lichtwunder, den gezähmten Löwen, die wundersame Heilung der Wunden), doch der dramatisch-prozesshafte Zusammenhang von Entblößung, Scham und Heiligung scheint hier zugleich mit dem Handlungszusammenhang aufgehoben zu sein.56 Stattdessen erscheinen Nacktheit und Scham in allegorisierter Form und machen die Heiligkeit Martinas augenfällig, ohne dass diese linear entwickelt und in der Inszenierung ihrer öffentlichen Produktion – im Prozess von Entblößung und Verhüllung – nachvollziehbar gemacht würde.57 Die Frage nach der Funktion der Scham verweist somit auch auf ein spezifisches Problem der Poetik der Martina, die sich hermeneutischen Operationen wie Sinnstiftung durch Narrativität weitgehend, aber eben auch nicht vollständig entzieht.58 Auch in Hugos Martina nämlich zeugen die Elemente epischer Handlung vom zähen Ringen zwischen Martina und Kaiser Alexander, der sie dazu bekehren will, Apollo zu opfern. Durch ihre Leidensfähigkeit und Unerschrockenheit versetzt Martina ihn immer aufs Neue in Rage, was stets darin mündet, dass er neue, noch schrecklichere Martern in Auftrag gibt, die immer wieder zum selben Ergebnis führen. Schließlich führt ihre Verweigerungshaltung auch dazu, dass er sie ausziehen lässt, „zelaster und zeschande“ (93d,100). Angesehen-werden und Angetastet-werden erscheinen auch bei Hugo parallelisiert und werden in Beziehung zur Präsenz einer Öffentlichkeit gesetzt:
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Der Begriff der ‚Textpassage‘ wäre angesichts der Digressionen hier bereits zu voraussetzungsreich. 56 Jutta Meindl-Weiss schlägt für die Martina so auch den Begriff Kohäsion vor, da er sich auf Zusammenhänge auf formaler Eben beschränke; Meindl-Weiss, Vergessene Heilige, S. 156f. 57 „Die Dichtung gewinnt […] an statischem Profi l – nicht die Darstellung dynamischer Handlungsprozesse, sondern die einer universalen (Heils)Ordnung scheint im Vordergrund zu stehen.“ Meindl-Weiss, Vergessene Heilige, S. 43. 58 Die Frage nach der Poetik des Textes kann an dieser Stelle – wenn überhaupt – nicht geklärt werden. Einen konventionellen Ansatz bietet mit dem Verweis auf die Allegorisierung der Legende und ihrer Handlungsträger in der Tradition der Psychomachia Jutta Meindl-Weiss, Vergessene Heilige, S. 115. Um allerdings eine reine Dichotomie von allegorisch-zyklischen vs. narrativ-linearen Darstellungsverfahren zu umgehen, wäre sicherlich auch Peter Strohschneiders Programm einer „historische[n] Kulturwissenschaft vom Text“ (S. 34) fruchtbar zu machen, vgl. Strohschneider, Peter: „Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens“. In: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 33–58. Dies betrifft insbesondere die hier genannten Desemantisierungseffekte etwa von „Litaneien, lyrischen Klangkaskaden oder Katachresen“ im Kontext einer „von der phänomenalen Gegenwart des Zeichenmaterials (ganz oder teilweise) blockierte[n] Textualität“ (S. 36).
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[Er] hiez enblœzin ir lip / Die reinen maget niht wip / Vnd gebot den helle kinden / Die gemahel cristes binden / An fuozen vnd an henden / Uor den lvten schenden / Zespotte mit vngelinpfe / Dem volke da zeschimpfe / Die magd nakint schowen / Ir reinen lip zerhowen (93d,105 – 94,2)
Diese öffentliche Kränkung und Beschämung Martinas wird hier im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen allerdings nicht umgehend im Wunder wieder zurückgenommen.59 Vielmehr nimmt Hugo die Beschreibung der von Alexander entblößten Martina zunächst zum Anlass, ausführlich zu erklären, wie man die Frauen behandeln sollte – so nämlich nicht: „Hœrent vmbe den verschampten / In sunden den erlampten / Der valsche der vnmilde / Der eines wibes bilde / Hiez vor im enblozen / Vnd vor sinen genozen!“ (94,9–14) Im Folgenden wird die nackte Martina gleichsam zum Standbild eingefroren, denn Hugo verlässt immer wieder den Erzählfluss, um verschiedene Heilstatsachen und anderes Wissenswertes zu behandeln. Dies kann als Zeichen seines digressiven und assoziativen Stils genommen werden, doch kehrt Hugo stets auch wieder zu Martina zurück, die noch immer lediglich bekleidet ist mit „ir fleisches hömede / Ich meine ir blanken hut“ (102,82–85). Der Anblick der nackten Martina bildet einen festen Bezugspunkt in Hugos Ausführungen, und mehr noch: Er betrachtet und beschreibt ihren nackten Körper, der dabei zu keinem Zeitpunkt als theologisch oder moralisch bedenklich erscheint oder als unbekleideter Frauenkörper problematisiert werden muss: Der megde lip wart snewis / Als ein blankes helfenbein / Dvrluhteclich ir leip schein / Von nature was si clar / Ir lip ir goltvarwes har / Als ich vor han veriehin / Dar vber sante liehtis prehin / Got ander megde hut / Siner minneclichen brvt / Der alse rehte vaste / Uon ir libes glaste (95d,102 – 96,6)
Dass hier, wie schon in den Beispielen aus den Märtyrerleben, ein erotisierender Subtext mitläuft, der diese Texte durchaus als „pious pornography“60 oder „gore-nography“61 lesbar macht, steht dabei auf einem anderen Blatt. Diese Ambivalenz des schönen Märtyrerinnenkörpers
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Ganz handlungslogisch argumentiert hier Martina Horn: „Ungewöhnlich ist insgesamt, daß Gott seine ‚auserwählte Braut‘ nicht vorbeugend gegen diese Entehrung schützt bzw. sie verhindert. Will Hugo die Kraßheit der Marter hervorheben und die Heiden damit moralisch disqualifi zieren, oder wird bewußt das sexuelle Moment betont?“ Horn, Zu Hugo von Langensteins ‚Martina‘, S. 136. 60 Kay, Sarah: „The Sublime Body of the Martyr“. In: Violence in Medieval Society. Hg. v. Richard A. Kaeuper. Woodbridge 2000, S. 3–20, S. 4. 61 Clark, Gillian: Christianity and Roman Society. Cambridge u. a. 2004, S. 44. Im geschützten Raum transzendenter Legitimierung lässt die Legende eine zweite, erotische Lesart zumindest zu: „Hagiography affords a sanctioned space in which eroticism can flourish
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gerade in seiner Ästhetisierung als heiliger Körper wird in der Hagiographie nicht expliziert.62 Auf der Handlungsebene jedoch wird die Gefährlichkeit solcher Darstellungen für einen unlauteren Betrachter schon darin deutlich, dass von Martinas leuchtendem und reinem Körper nunmehr ein so heller Schein ausgeht, dass jeder, der sie mit unkeuschen Augen ansieht, erblindet. Obwohl Martina von Alexander mit der exakt selben Intention öffentlich entblößt wird, die auch die lateinische Passio Martinae und die übrigen Beispiele auszeichnet, nämlich als Strafexekution und öffentliche Bloßstellung, hat dies hier nichts Beschämendes für die Heilige, sondern straft die ‚Entsender‘ der schamlosen Blicke auf diesen Körper in einer buchstäblich spiegelnden Strafe mit Blindheit: 63 Von des glastes prehen / So got an sine lieben streich / Da von in allen entweich / Div craft ir ovgen gesiht / Die da wollten haben pfliht / Boeser vnreiner begirde / […] Davon die reinen frowen / Die got wolde betowen / Mohte nakint gekiesen / Er muose alda verliesen / Siner ougen glast, / An den liehtis in gebrast (102,86–102)
Martinas nackter Körper wird daher auch nicht schamhaft bedeckt (wie etwa der von Agnes), sondern beginnt vielmehr zu leuchten – er ist also in seiner Nacktheit gleichzeitig sichtbar und nicht sichtbar, wird dabei aber (vordergründig) nicht zum Objekt von Sexualisierung.64 Vielmehr ist diese Entblößung, wie Hugo weiter ausführt, Teil der imitatio Christi im Martyrium, denn im Verlauf ihrer vierten Marter
and in which male voyeurism becomes licit, if not advocated.“ Gravdal, Ravishing Maidens, S. 24. 62 Sie wird zwar in der Legendenforschung immer wieder benannt, ist m. E. systematisch aber eher zum Gegenstand kunstgeschichtlicher Forschung geworden. Einer bildlichen Darstellung nackter Tatsachen kann sich der Betrachter denn auch kaum entziehen, wie Pia Holenstein Weidmann für mittelalterliche Lukrezia-Darstellungen feststellt: „Dank dem Selbstmord, der sie zu einer Art vorchristlicher Märtyrerin macht, konnten sich die Maler legitimiert sehen, einen möglichst schönen Frauenkörper nackt darzustellen. Zusammen mit der unmißverständlichen Andeutung einer vorangegangenen Vergewaltigung und mit bevorstehendem Tod offeriert sich eine pikante Kombination. Die Gewißheit des Todes erst ermöglicht die erotische Darstellung.“ Weidmann, Pia Holenstein: „Passionierte Tugend: Lukretia“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 1–21, S. 2 (meine Hervorhebung). 63 Zur Blendung als Scham-Stigma vgl. den Beitrag von Claudia Benthien in diesem Band. 64 Nicht für eine Dissimulation des Körpers, sondern vielmehr für seine Ausstellung in der Vernichtung argumentiert Dorothee Steeb im Zusammenhang mit Praktiken der Entgrenzung im Martyrium: „Das Entblößen der Heiligen beispielsweise stellt eine Vorstufe zum späteren Öffnen der Haut dar.“ Steeb, Entgrenzung und Erlösung, S. 227. Die gilt möglicherweise (wenn die Entblößung gelingt) für die oben genannten Märtyrerinnenlegenden, aber gerade nicht für die Darstellung des heiligen Körpers bei Hugo von Langenstein in der Entblößung. Vgl. zur Öffnung des Körpers allerdings die neunte Marter; Martina 185,58–82.
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wird Martina erneut entkleidet und auf vier Pfähle gespannt (108,106– 109,86). Dies nimmt Hugo zum Anlass, sie gerade aufgrund der gewaltsamen Entblößung mit Jesus gleichzusetzen: „Svz wart si enblœzit / Ir gemahil genœzit / Dem vil süezin gaste / Jhesu der an dem aste / Des crucis nakint hienc“ (109,19–23). An dieser Stelle erfolgt auch ein Verweis auf die „vil richen cleider“, die Jesus Martina gegeben hat.65 Diese Kleider aber hat Hugo bereits zu Beginn des Textes, noch vor den Martern, in einer ausführlichen Tugendallegorie beschrieben. Martina hat sie von Jesus erhalten,66 doch es handelt sich dabei nicht um konkret-dingliche Kleidungsstücke, die der Heiligen wundersam überreicht werden, um ihre Blöße zu bedecken, wie die oben erwähnten „Kleider des Heils“ der Heiligen Agnes und Thekla. Martinas Kleider dagegen sind „gemachit harte fremede“ (15c,72) und werden in ihrer allegorischen Bedeutung von Hugo wortreich ausgelegt: Das Hemd ist die kvschekeit, der Rock die miltekeit, das Obergewand (die sûckenîe) die gerehtekeit, der Mantel ist gewurkit vz gedult. Die Gewandspange ist die minne und der Gürtel die stetekeit. Martinas Kranz ist mit sechs Blumen geschmückt, die da sind demuot, triuwe, mezekeit, erbermherzekeit, gehorsami und schließlich wisheit. Martinas Ring ist ihr gelovbin und der darin eingelassene Stein die zvoversiht.67 Von Interesse für den Zusammenhang von Nacktheit und Scham aber ist insbesondere das Futter, mit dem Martinas Mantel der Geduld versehen ist: Der mantel was wol vnderzogen / Mit einer vedir vnbetrogen / […] Daz was div minneclichiv scham / Div nie von megden gerne kam / Wan si ir kiuschi dahte / Uor blickin vnd vor brahte / Ir muot darzvo ir sinne gar / Daz si der welte niht neme war (52c,81 – 52d,90)
Im Verhältnis von Nacktheit und Heiligkeit erscheint schame bei Hugo somit als ein Schutzmantel (bzw. Schutzmantelfutter) und –schild vor der Welt, denn sie kann „div wilden ovgen zamen“ (19d,111).68 Schame ist somit keine Reaktion auf das schamlose Verhalten der Zuschauer, sondern sie ist von vornherein in der Lage, diese zu entschärfen: „Wan si ir kiuschi dahte uor blickin“. Dieser Funktionswechsel der Scham gegenüber der 65
„Div lie sich handelon / Nackent vnde wandelon / An ir wibes ere / Nach ir friedels lere / Der ir vil riches cleider / Sit zelone an sich sneider“ (109,33–38). 66 „Gap ir […] ein so minnecliches cleid / Von dem iv wirt ein teil geseit“ (15c,67–70). 67 Martina 15c,71 – 53d,87. Vgl. zur Kleidermetaphorik in der Martina allgemein MeindlWeiss, Vergessene Heilige, S. 127–130, zu Martinas Kleidern die Übersicht S. 99; s. a. Feistner, Historische Typologie, S. 120. 68 Vgl. a. Hugo zu den Farben des Panthers, bzw. Christi Tugendkleid: „Div vierzehinde was schame / Div wildiv herzen machet zame“ (98b,29f.).
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lateinischen Vorlage steht somit mit einem poetischen Verfahren Hugos in Verbindung, das man als allegorische Überblendung bezeichnen könnte, als „meditative[s], nur durch wechselnde Bilder variierte[s] Umkreisen des immer Gleichen“.69 In seinem Lobgesang auf Martina wechselt Hugo immer wieder zwischen den Registern und überblendet sie derart kunstvoll, dass der Mantel der schame nicht nur auf der allegorischen Ebene ihre Keuschheit bedeckt, sondern auf der Ebene des Konkreten auch ihre physische, schiere Nacktheit zu verhüllen im Stande ist. Daher ist Martina während ihres Martyriums auch in der Entblößung nie wirklich nackt, sondern stets reich gekleidet in ihre Tugenden: „Si truoc der tugende hæze / Div wan ir wol gemæze“ (221,19f.). Schame dient also nicht als performativer Operator, der die grenzverletzende Schamlosigkeit des Kaisers offenlegt und die Öffentlichkeit zu einer Entscheidung zwingt. Als allegorisches Mantelfutter hat die schame diese Dynamik verloren, sie ist hier kein Affekt, sondern erscheint materialisiert als Tugend und zu einer Haltung verfestigt, die einen von vornherein wirksamen Schutz gegen jede Kränkung bietet. Die für die vorgestellten Märtyrerinnenlegenden konstitutive narrative Bewegung von Entblößung, Verhüllung und Heiligung findet somit bei Hugo nicht statt; Martinas nackter Körper ist ungefährlich, da allegorisch überformt und selbst schon Ausweis ihrer Tugend und Heiligkeit. Auch und gerade in ihrer Nacktheit ist sie über jeden Zweifel erhaben, ja die Entblößung legt die Heiligkeit ihres Körpers offen und stellt sie ostentativ, in Lichtwunder, Milcherguss und süßem Duft, aus.70 Eine Solidarisierung der Betrachter als öffentlicher Prozess der Heiligung ist somit gar nicht nötig. Anders als in den Beispielen aus den Märtyrerleben geht es also bei Hugo nicht um eine Narrativierung von Heiligung, sondern vielmehr um die Ostentation von Heiligkeit. Die Entblößung und gleichsam eingefrorene Zurschaustellung Martinas hat daher auch nichts Beschämendes, denn sie enthüllt lediglich etwas, das von Beginn an nie in Zweifel stand: ihre Heiligkeit.
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Feistner, Historische Typologie, S. 120. Diese Körper-Wunder erscheinen in der knappen Fassung des BMF direkt gekoppelt: „Der key_er / wart noch grymmer. vnn det _ie / nacket vß ziehen . vnn dete sie / vmmbinden vnn jren lip zer_nyden / dz ge_chach . vnn det got der / megde zu eren dru zeichen. / Eines wz . da _ie nacket _tunt / wart _ie wy__er dan der _nee. / dz man _ie von wider gle_tende. / nit wol mochte ge_ehen. dz ander / da ir lip zur_niden wart. da goß / er milche vor bluot. dz dritte / es ging von ir der _uße_te ge= / _mack der yeme befund wart“ (BMF 110 vb).
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NIKLAUS L ARGIER
Das Phantasma der Nacktheit: Sexualität, Häresie und Beichte. Eine Skizze Seit ihren Anfängen bei den Kirchenvätern ist die christliche Häresiologie und die Identifikation häretischer Lehren und Gruppen begleitet von einem spezifischen Phantasma. Es ist das Phantasma der Nacktheit, der von Gemeinden nackter Menschen vollzogenen Liturgie, und des nahtlosen Übergangs dieser liturgischen Zelebration in einen Zustand rauschhaften sexuellen Verkehrs, den wir heute als Orgie oder freie Sexualität bezeichnen würden. Dieser Topos häresiologischer Identifikation, die Figur der Libertinage und der Überschreitung aller Tabus und aller Scham, begegnet in der Geschichte christlicher Sekten von den Anfängen bis hin zu letzten Ausgaben einschlägiger Sektenhandbücher. Es kann kein Zweifel bestehen, dass darin einerseits aufgenommen wird, was schon im Alten Testament, etwa bei Jeremia und Hosea, von den Propheten in ihrer moralischen Anklage vollzogen wird, nämlich die Verbindung von falschem Glauben, Götzendienst, Dekadenz, sexueller Transgression, und Verlust aller Scham. Dabei – und vielleicht im Unterschied dazu – wird der Gestus häretischer Absonderung und Auflehnung nun jedoch gleichzeitig als eschatologische Auflösung aller Ordnung sozialen und familialen Lebens gesehen, in der eine spirituelle Freiheit und ein antinomistischer Libertinismus das Verschwinden aller sexuellen Tabus mit sich bringen sollen, und eine Rückkehr ins Paradies hier und heute antizipiert wird. So werden denn von den Kirchenvätern Formen der Heterodoxie mit einem schamlosen Kult des Genusses jenseits von Gesetz und Natur gleichgesetzt und es wird eine Denkfigur geschaffen, die bis in die Frühe Neuzeit Gültigkeit behält und zur Identifikation derer dient, die in ihren Praktiken vom orthodoxen Pfad abweichen. In meiner vorliegenden Skizze möchte ich mich nicht mit der – an sich natürlich ebenfalls durchaus reizvollen – Frage nach der historischen Faktizität, also mit dem Problem beschäftigen, ob solche Formen organisierter rebellischer Libertinage in der Gestalt von Sekten wirklich existiert haben oder ob es sich hier – wie ich annehme – in der Regel um
inkriminierende Topoi eines inquisitorischen Diskurses handelt. Betrachten wir die Überlieferung in häresiologischen Traktaten des Epiphanios, Augustinus, Johannes von Damaskus, und Theodoret, so sind wir angesichts der Quellenlage wohl eher geneigt, von einem Phantasma religiöser Moralisten und Autoritäten und von einem Topos der Häresiologie zu sprechen, wie ich das im Titel meines Essays tue.1 Ich werde auch nicht dem genuin romantischen Stil folgen, den wir im 19. Jahrhundert etwa bei Jules Michelet und noch im Werk vieler Sozialhistoriker finden, die solche Formen freigeistiger Libertinage mit sozialen Bewegungen identifizieren und darin oft auch Erinnerungsspuren heidnischer Relikte, Fruchtbarkeitskulte, und dionysischer Praktiken erkennen wollen, die von der Kirche unterdrückt wurden. Worauf ich mich konzentrieren möchte, ist vielmehr der spezifische Status und die Funktion solcher häresiologischer Geschichten, wie wir sie im Spätmittelalter erzählt hören. Was mir dabei auffällt, lässt sich kurz folgendermaßen beschreiben: Während die Erwähnung ritueller Nacktheit und orgiastischer Ausschweifung bei den Kirchenvätern als rhetorische Figur, als Topos und Bild dient, häretische Bewegungen im Blick auf ihren antinomistischen Charakter und ihre eschatologische Frivolität zu identifizieren, in der sich Libertinage mit paradiesischer Unschuld paart, verwandelt sich im Laufe des Spätmittelalters diese rhetorische Figur in eine Form konkreter Beschreibung, die angeblich auf Beichte und Geständnis abgestützt ist, und darin ihren realen Wahrheitsgehalt besitzt. Mit anderen Worten: Wir dürfen von der diskursiven Produktion und einer zunehmenden Literalisierung sprechen, in der ein häresiologischer Topos, der bei den Kirchenvätern immer derselbe ist, in eine deskriptive Instanz verwandelt wird, die nicht mehr bloß der Häretikeridentifikation dient, sondern angeblich eine soziale Realität beschreibt und so als Projektion eines literarischen Topos die frühmoderne Welt radikaler Schamlosigkeit produziert. In dieser Literalisierung der topischen Identifikation 1
Darin folge ich Kurt-Victor Selge („Adamiten“. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl. Bd. 1. Tübingen 1998, S. 111), der im Blick auf die sogenannten „Adamiten“ von einem „Ketzertopos altkirchlicher Schriftsteller“ spricht, „dem keine historisch fassbaren Personen entsprechen.“ Vgl. dagegen ältere Darstellungen, etwa die lebendige Schilderung bei Hergenröther, Joseph: „Adamiten“. In: Kirchenlexikon oder Enzyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften. Bd. 6. Freiburg 1882, S. 215–218. Einschlägige Textstellen sind nachgewiesen bei: Schütte, Heinz: „Adamiten“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Bd. 1. Freiburg 1993, S. 142–143. Für das Spätmittelalter siehe: Töpfer, Bernhard: „Hoffnungen auf Erneuerung des paradiesischen Zustandes (status innocentiae) – ein Beitrag zur Vorgeschichte des hussitischen Adamitentums“. In: Eschatologie und Hussitismus. Hg. v. Alexander Patschovsky u. Frantisek Smahel. Prag 1996, S. 169–184. Schweitzer, Franz-Josef: Europäische Texte aus der Hussitenzeit (1410–1423). Adamiten, Pikarden, Hussiten. Dresden 2009.
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von Libertinage und Häresie, von Heterodoxie und Genuss jenseits von Scham und Gesetz finden wir, wie ich meine, Anhaltspunkte für eine Vorgeschichte dessen im Spätmittelalter, was wir heute Sexualität nennen. Ist darin ohne Zweifel der Foucault’schen Unterton meiner These zu erkennen,2 soll es sich auch um den Versuch handeln, auf dieser Basis weiter zu fragen, wie wir uns die Vorgeschichte der ‚Sexualität‘ angesichts ihrer Erfindung oder Rekonfiguration in der Neuzeit denken sollen. Ich möchte dazu einen bescheidenen Beitrag leisten, wenn ich hier über die Literalisierung des Topos oder des Phantasmas der Nacktheit und der Libertinage spreche, das seinen Ursprung im häresiologischen Diskurs hat. Wie ich meine, vollzieht sich diese Literalisierung im Rahmen zweier konstitutiver Bereiche, einerseits der Beichtpraxis, andererseits der Praxis der sogenannten Unterscheidung der Geister,3 die beide im Spätmittelalter spezifische Veränderungen durchmachen, die ich hier unter dem Begriff der Literalisierung fasse, jedoch nur in Ansätzen skizzieren kann. Diese Veränderungen führen dazu, dass die rhetorischen Figuren häretischer Libertinage, der Überwindung aller Scham, wie auch die im Auge der Neuzeit oft anstößigen und als hysterisch bezeichneten mystisch-erotischen Praktiken der Verkörperung, die uns etwa in den Visionen Hadewijchs von Antwerpen begegnen, in etwas Neues verwandelt werden. Das Neue daran ist, dass diese Figuren nun als buchstäbliche Verkörperung, als körperliche Praktiken gelesen und gesehen werden, die auf der einen Seite etwa bei Pietro Aretino in libertin-pornographischer Form entfaltet, oder auf der anderen Seite, etwa bei Martin Luther, als verborgener obszönunnatürlicher Kern aller katholisch-asketischen Praxis kritisiert werden. Dabei werden Scham und Schamlosigkeit, wie man vielleicht sagen darf, erstmals in ihrer modernen Entgegensetzung fassbar – bei Aretino und in der daran anschließenden pornographischen Literatur als Programm libertiner Schamlosigkeit, bei Luther als Postulat natürlicher Schamhaftigkeit, die in ihrer modernen Entwicklung neben der Natürlichkeit des Ehebetts letztlich auch den Nudismus als natürliche Form zu akzeptieren vermag, wo er von der libertinen Vision eschatologisch-paradiesischen Vergnügens abgekoppelt ist. In beiden Fällen hat die Nacktheit dabei die rhetorische Schärfe und den phantasmatisch-herausfordernden Charakter verloren, die sie im häresiologischen Diskurs besaß – und den der Marquis de Sade, wenn man so will, zu rekuperieren sucht. Was folgt, möchte erläutern, wie es dazu kam. 2 3
Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. 3 Bde. Paris 1976–1984. Vgl. Largier, Niklaus: „Rhetorik des Begehrens. Die ‚Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität.“ In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Martin Baisch. Königstein 2005, S. 249–270.
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I. Häretische Geissler Eine Fallgeschichte vermag diesen spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Übergang zu illustrieren. Es handelt sich um die Verfolgung der sogenannten Kryptoflagellanten. Diese Sekte, deren Mitglieder sich – nach verschiedenen spätmittelalterlichen Verboten der Geißlerzüge durch die kirchliche und weltliche Obrigkeit – im Geheimen und in kleinem Kreis rituell gemeinsam auspeitschten, sollen besonders in Thüringen verbreitet gewesen sein. Ihren Namen hat Ernst G. Förstemann in seinem Buch Die christlichen Geisslergesellschaften von 1828 geprägt.4 Dabei stand im Vordergrund, dass diese Geißler im Verborgenen gewirkt haben sollen, bis sie von der Inquisition aufgedeckt wurden. Man darf aufgrund der erhaltenen Inquisitionsdokumente von einzelnen Gruppen und Sekten ausgehen, die im Anschluss an Geisslerbewegungen oder doch in entfernter Verwandtschaft damit die Geißelung pflegten und damit eine konkrete Ablehnung des kirchlichen Monopols der Heilsvermittlung verbanden. Anstelle der kirchlichen Hierarchie stand hier, wie bei einigen Theologen und Häretikern des frühen Christentums, die pneumatische Gemeinschaft, die Gemeinde asketisch-enthusiastischer Heiliger im Vordergrund. Eine dieser Gruppen wurde 1369 in Nordhausen vom Dominikaner Walter Kerlinger entdeckt, der seit 1364 in Erfurt als päpstlicher Inquisitor tätig war. Dieser hatte sich bereits durch die Verurteilung des Erfurter Begarden Hartmann, der 1367 verbrannt wurde, und durch die Verbannung von 200 Beginen einen Namen gemacht. Man muss in diesem Zusammenhang von einer eigentlichen Verfolgungswelle sprechen, die von bestimmten Häretikerbildern ausging, in deren Zug auch die Geißler ‚entdeckt‘, verfolgt und schließlich abgeurteilt wurden. Über die Kryptoflagellanten informieren mehrere Dokumente: die Prophetica ihres angeblichen Anführers Konrad Schmid, ein Dokument der Inquisition über den Fall von Nordhausen 1369, eines über Sangerhausen in der Diözese Halberstadt 1414, eines über die Sondershausener Verfolgung und eines über die Nordhausener Inquisition von 1446.5 In 4 5
Förstemann, Ernst G.: Die christlichen Geißlergesellschaften. Halle 1828. Älteste Ausgabe der Texte: Stumpf, Augustinus: „Historia flagellantium, praecipue in Thuringia“. Hg. v. Heinrich A. Erhard. In: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historischantiquarischer Forschungen 2 (1835), S. 1–37. Reifferscheid, Alexander (Hg.): „Articuli, quos tenuerunt et crediderunt heretici capti in Sundirshausen et combusti“. In: Neun Texte zur Geschichte der religiösen Aufklärung in Deutschland während des 14. und 15. Jahrhunderts. Festschrift der Universität Greifswald 1905. Greifswald 1905, S. 37–40. Reifferscheid, Alexander (Hg.): „Articuli, quos tenuerunt et crediderunt heretici Zangerhusene“. Ebd., S. 32–36. Wo Zitate nicht einzeln nachgewiesen sind, beziehe ich mich auf die Ausgaben von Stumpf und Reifferscheid.
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Sangerhausen wurden am 15. Januar 1414 unter dem Vorsitz des Erfurter Theologen Heinrich Schönfeld vierunddreißig Männer und Frauen vor den Ketzerrichter gebracht. Einunddreißig widerriefen, drei taten es nicht und wurden verbrannt. Wir kennen das Protokoll ihrer Ansichten.6 Am 21. März wurden nochmals fünfzig Leute verhört, über deren Schicksal jedoch weiter nichts bekannt ist. Es ist anzunehmen, dass es sich um eine nicht unbeträchtliche Zahl von Leuten handelte, die den sogenannten Kryptoflagellanten angehörten oder zugerechnet wurden, auch wenn unklar bleibt, wie homogen die Bewegung war und in welcher Beziehung sie zu den Häretikerverfolgungen etwa in Mülhausen im Jahre 1420 stand. Indizien sprechen dafür, dass die Sekte der Kryptoflagellanten oder eine ähnliche Gruppe auch um 1446 in Toba bei Sangerhausen wieder auftauchte. Ebenfalls 1446 trat sie in Nordhausen bei einer Untersuchung durch den Inquisitor Friedrich Müller zutage, und 1454 war sie an einer ganzen Reihe von Orten erneut der Verfolgung durch die Inquisition ausgesetzt. Aus Dokumenten der Nordhausener Inquisition von 1446, während der fünf Männer und acht Frauen verhaftet und verhört wurden, kennen wir die folgenden von der Inquisition ermittelten Fakten und Ansichten: dass man sich am Karfreitag, ja generell am Freitag geißle, dass allein durch die Geißelung alle Sünden gebüßt, dass seit den Geißlerzügen die Bluttaufe anstelle der Wassertaufe getreten sei und alle kirchlichen Sakramente abgelöst habe. Die Inquisitionsprotokolle sind zudem immer auch Verführungsgeschichten, bei denen die Praxis des Geißelns für eine konspirative Haltung steht, die in den Anschauungen zum Ausdruck kommen soll. So lautet eine Stelle aus dem Protokoll in der Paraphrase Förstemanns: Gertrud Becke bekannte, dass sie seit vierzehn Jahren an einem Freitage jedes Morgens sich geissele. Ihr Mann hatte gesagt, nicht die Hostie, welche bei der Messe in die Höhe gehoben wird, sondern die Hand des Priesters, der sie in die Höhe hebe, sey das Fleisch und Blut. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, statt aller Sakramente an die Geisselung zu glauben, dann auch Heinrich Rebening. Dieser verführt die Leute zu dieser Ketzerei und gibt ihnen Anleitung darin. Er erhält dafür Geschenke, und steht in grossem Ansehn. Am zweiten Ostertage
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„Articuli, quos tenuerunt et crediderunt heretici Zangerhusene“. Ebenso in: Stumpf, „Historia flagellantium“, S. 26–32. Zu den Kryptoflagellanten vgl. weiter: Hoyer, Siegfried: „Die thüringische Kryptoflagellantenbewegung im 15. Jahrhundert“. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 2 (1967), S. 148–174. Erbstösser, Martin: Sozialreligiöse Strömungen im späten Mittelalter. Geißler, Freigeister und Waldenser im 14. Jahrhundert. Berlin 1970. Kieckhefer, Richard: „Radical Tendencies in the Flagellant Movement of the Mid-Fourteenth Century“. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 4 (1974), S. 157–176.
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dieses Jahres hatte die Becke sich mit ihrem Manne und mit der Hemelstoss gegenseitig gegeisselt, weil sie zum Schein wie andere Menschen zum Abendmahle gegangen waren. Von ihrer Grossmutter hatte sie gehört, der Gottesdienst der Geistlichen sey Raserei und Abgötterei. Christian Wayner erklärte, er habe sich, durch seine Eltern verleitet, von Jugend auf alle Festtage gegeisselt. Er hatte mit Johann Trockenbach über die Geisselung gesprochen, und beide hatten eingestimmt, dass die Sünden durch dieselbe allein abgebüsst werden könnten.
Es sind kurze exemplarische Geschichten einer Reihe verhörter Personen, die uns hier begegnen und deren Namen sich zum Bild eines Geflechts von Personen fügen, in dem die Geißelung als Kern der Verführung zur Häresie eine wichtige Rolle spielt. Sie ist das entscheidende Moment, welches die Sektenmitglieder offenbar als Befreiung von einer fehlgeleiteten kirchlichen Praxis der Sakramente begriffen. Erst durch die Geisselung kann demnach die von der Kirche verstellte Unmittelbarkeit zum Göttlichen wieder hergestellt werden. Dass die Befragten oft geantwortet haben sollen, dank der Geisselung würden sie nach ihrem Tod unmittelbar zu Gott zurückkehren, bestätigt diesen Befund.7 Im Laufe dieser Verfolgungswelle, die eine große Zahl anderer Thüringischer Städte und Landstriche umfasste, wurden mehrere hundert Leuten verhört, verurteilt, und schließlich ein Teil von ihnen der weltlichen Gewalt übergeben und verbrannt. Die letzten Fälle sind aus den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts bekannt, und der Name Konrad Schmids, des sogenannten Propheten der Kryptoflagellanten, blieb weithin berüchtigt. Er ist noch Martin Luther geläufig, der ihn als abschreckendes Exempel verwendet. Trotz der angesichts dieser Quellenbelege scheinbar recht großen Tragweite der Bewegung wissen wir jedoch nicht sehr viel über die wirklichen Ansichten der Betroffenen. War die gesamte Geißlerbewegung seit ihren Anfängen stark vom Engagement der Laien geprägt, trat in der Figur des Konrad Schmid offenbar ein eigentlicher Laienprophet in den Vordergrund. „Ihr sollt“, so der Prophet, „nur denen dienen, die selbst keine Herren über sich haben.“ Das heißt, dass sich die Menschen direkt dem Engel, „der Trona heisst“ und der beim letzten Gericht ihr Anwalt ist, unterstellen und – wie die Glosse anmerkt – damit den zehnten Engelchor formen sollen. So bilden denn die Flagellanten die Gruppe der engelgleichen Menschen, die in eschatologischer Perspektive den gefallenen Engelchor ersetzen und die ursprüngliche kosmische Harmonie wieder etablieren.
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Vgl. das bei Förstemann, Die christlichen Geißlergesellschaften, S. 174–177 und 278–291 abgedruckte Instrumentum.
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Wie andere mittelalterliche und frühneuzeitliche Ketzer, die nach ähnlichen Frageschemata verhört wurden, sollen auch die Geißler nicht nur die Gültigkeit der Sakramente bestritten, sondern die Transsubstantiation, die Beichte, das Fegefeuer, die Bilder und den Eid abgelehnt haben. Zudem hält eine zweite Handschrift, die die Artikel der Sonderhausener Untersuchung von 1454 überliefert, fest, dass sich die Gruppen in Kellern trafen und dass dort Schwestern mit Brüdern, Väter mit Töchtern und Mütter mit Söhnen geschlechtlich verkehrten.8 Dies stimmt mit anderen – wiederum typologisch bis in die Häresiologie der Spätantike zurückreichenden – Berichten überein, in denen mittelalterlichen Ketzern regelmäßig unterstellt wurde, dass sie sich heimlich versammelten, schließlich die Lichter löschten und in angeblich paradiesischer Nacktheit jede beliebig mit jedem, jeder Mann ohne Hemmung mit Mutter, Schwester oder Tochter verkehrte. Man hat die Erscheinung solcher Sekten, bei denen letztlich eine eschatologische Enthemmung, paradiesische Nacktheit, und orgiastischer Genuss das Ziel der Liturgie bildeten, immer wieder mit dem Verweis auf sogenannte ‚Adamiten‘-Bewegungen erklärt, von denen Augustin schreibt, dass sie in Erinnerung an die paradiesische Nacktheit und in Antizipation ihrer Rückkehr „nackt die Liturgie feierten, nackt der Schriftlesung folgten, nackt die Sakramente empfiengen, und glaubten, ihre Kirche sei das Paradies“ und im Anschluss daran denn auch die „schamlosesten Rituale“ vollzogen.9 Wie eingangs gesagt, lässt sich diese Beschreibung von den frühesten christlichen Texten bis in die Neuzeit verfolgen. Orgiastischen nächtlichen Festen soll sich – nach ihnen feindlich gesinnten Quellen – auch eine Sekte von Taboriten oder ‚Nikolaiten‘ – ein Nebenzweig der Hussiten – 1421 auf einer Insel des Flusses Luschnitz bei Neuhaus hingegeben haben. Auch hier waren angeblich alle nackt, auch hier soll man sich beliebig vermischt und Frauen wie Güter gemeinsam besessen haben. Ein Chronist berichtet: Sie gingen alle nackt, Männer und Frauen. Sie gruppierten sich dann, legten sich zusammen nieder, tanzten nackt miteinander. Unter ihnen waren schöne Frauen und Jungfrauen. Und sie begründeten ihr Gesetz mit dem Schriftwort vom Zöllner: ‚Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen‘ (Matth. 21, 31). Deshalb nahmen sie keinen in ihre Gemeinschaft auf, der nicht ein Zöllner (Sünder) oder eine Hure war, und selbst das kleinste Mädchen, das sie aufnahmen, musste entjungfert sein und mit ihnen Unzucht treiben.
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Haupt, Herman: „Zur Geschichte der Geißler.“ In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 9 (1888), S. 114–119. Augustinus, Aurelius: „De haeresibus“. In: Patrologia Latina. Bd. 42, S. 21–50, hier c. 31.
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Es wurde, so lautet der Vorwurf, kein Unterschied zwischen Herr und Knecht, keiner zwischen Priester und Laie, keiner zwischen Blutsverwandten und anderen gemacht. Auch diese Bewegung scheint zum Teil von der Erwartung bestimmt gewesen zu sein, „dass in einigen Tagen das Jüngste Gericht anbrechen werde“. Nach zeitgenössischen Quellen gingen die Sektierer davon aus, dass die Kirche in solcher Unschuld erstehen werde, dass die Menschen auf Erden wie Adam und Eva im Paradies leben würden und sich keiner vor dem anderen mehr zu schämen brauche: Daher begannen einige bereits nackt zu gehen, Männer sowie Frauen. Auch sagten sie, dass alle als Brüder gleich sein sollten, dass es keine Herren gäbe und dass niemand dem anderen untertan sei. Daher nannten sie sich Brüder. Abgaben und Zinsen hörten auf und es gäbe niemanden, der sie dazu zwingen könne, Steuern zu zahlen. Sie sagten, dass die Frauen ihre Kinder ohne Trübsal und Schmerzen gebären werden. Kirchliche Kulthandlungen wurden für überflüssig gehalten, man verbrannte die Bücher, randalierte und plünderte umliegende Dörfer in der Nacht. Und man erfand eigene Riten. Dies zumindest berichten zeitgenössische Quellen: Alle Männer und Frauen entkleideten sich und tanzten um ein Feuer, wobei sie die zehn Gebote singend vortrugen. Dann blieben sie plötzlich stehen, blickten sich gegenseitig an, und hatte ein Mann einen Lendenschurz an, so rissen ihn die Frauen ab, während sie sagten: ‚Verlasse dein Gefängnis, gib mir deinen Geist und empfange den meinen‘, worauf jeder mit jeder und jede mit jedem sündigte. Vorher entbrannten sie in sodomistischer Gier. Dies nannten sie göttliche Liebe und göttlichen Willen. Danach badeten sie im Fluss und liessen sich von Moses, ihrem Anführer, trauen. Sie kannten keine Scham und lagen alle in einer Hütte zusammen. Sie mordeten nachts und trieben tags Unzucht, fürchteten weder Kälte noch Hitze und hofften, über die ganze Erde nackt wie Adam und Eva im Paradies wandern zu können.10
II. Überschreitung der Scham Wir befinden uns hier nicht allzu weit von frühneuzeitlichen pornographischen Fantasien, letztlich auch nicht weit entfernt von Elementen in Sades Philosophie dans le boudoir11 und in seinen Vorläufern, etwa Thérèse philosophe12 oder, worauf ich bereits hingewiesen habe, Pietro Aretinos
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Deutsche Übersetzung der tschechischen Quellentexte bei: Büttner, Theodora, und Ernst Werner: Circumcellionen und Adamiten. Zwei Formen mittelalterlicher Häresie. Berlin 1959, S. 79–83. 11 Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de: Die Philosophie im Boudoir, oder Die lasterhafte Lehrmeisterin. Köln 1995. 12 Argens, Marquis d’: Thérèse philosophe. Eine erotische Beichte. Aus dem Französischen von Heinrich Conrad. Mit 38 Illustrationen, einem Aufsatz von August Kurtzel, einer
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Ragionamenti.13 Was die Texte verbindet, ist das Votum für eine gewissermaßen gnostische Schamlosigkeit, die in der Entblößung ihren Ort hat und darin auch – bei aller Ambivalenz – die Restitution paradiesischen Vergnügens in irdischer Präsenz findet. Eine Ironie der Geschichte mag man hier darin erkennen, dass die Genealogie dieses Phantasmas der Nacktheit und Schamlosigkeit eine geradezu typische Inversion beinhaltet. Waren es zunächst die Häresiologen, Inquisitoren, und Beichtväter, die das Bild häretischer Verführer produzierten, welche Gesetz, Ordnung, und Tabu hinter sich ließen, um sich nackt und schamlos vermeintlich paradiesischer Lust hinzugeben, sind es nun die Inquisitoren, Beichtväter und Nonnen, die von Aretino bis Sade als Agenten nackter Schamlosigkeit in den Vordergrund treten. In den Augen der Pornographen sind sie es, die als verkleidete Satyre den Verlust der Scham initiieren. Nun handelt es sich dabei, wie ich meine, keineswegs nur um ein ironisches Spiel, bei dem eine rhetorische Figur häresiologischer Diskurse zur buchstäblichen Bühne fleischlichen Vergnügens wird, sondern um die von den frühneuzeitlichen Pornographen bewusst in Szene gesetzte Konsequenz, die den Bogen vom Beicht- oder Inquisitionsgeständnis zur diskursiven Produktion schamloser Szenen und zur Libertinage spannt. Ich komme damit zu meiner eingangs aufgestellten These zurück, dass sich im Spätmittelalter ein Prozess vollzieht, der als Literalisierung des Topos libertiner Häresie zu sehen ist. Wie gesagt, spielt die Beichtund Inquisitionspraxis dabei eine wichtige Rolle. Was die Dokumente, die ich angeführt habe, auszeichnet, ist das Faktum, dass Geständnis und Beichte eine wichtige, ja nun die herausragende Rolle bei der Produktion der Bildes der Libertinage spielen. Dies heißt nicht nur, dass wir es mit einer besser organisierten und besser dokumentierten Form inquisitorischer Verfahren zu tun haben, die vollständiger zu erfassen vermag, was sich hinter geschlossenen Türen abspielt. Es bedeutet vielmehr, dass die Produktion der libertinen Szenen von der Institution der Beichte und der inquisitorischen Topik direkt abhängig ist, und zwar, wie ich meine, nicht so sehr in der von Foucault identifizierten Form der „Geständnisse des Fleisches“,14 sondern als Ort der imaginativen Exploration und
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Erzählung von Carl Felix von Schlichtegroll, sowie Auszügen aus den Prozeßakten und Notaten der Herausgeber. Hg. v. Farin, Michael u. Seifert, Hans-Ulrich. München 1990. Aretino, Pietro: Ragionamenti. Hg. v. Larivaille, Paul u. Giovanni Aquilecchia. 2 Bde. Paris 1998–1999. Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. Bd. 1: La volonté de savoir. Paris 1976. Der vierte und letzte Band von Foucaults Geschichte der Sexualität hätte den Titel Les aveux de la chair („Geständnisse des Fleisches“) tragen sollen.
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Evokation möglicher Transgressionen und möglicher Vergnügen außerhalb des Gesetzes. Der Topos der Libertinage, den die Beichtväter und Inquisitoren aus der Häresiologie erben, wird dabei, wie ich meine, in den Raum der Beichtinvestigation projiziert, wo er das Feld möglicher Transgressionen bereichert und in der Imagination nicht nur exploriert, sondern amplifiziert und realistisch angereichert wird. 15 Der imaginative Raum, in den die Figur der libertinen Schamlosigkeit eingeführt wird, wird so zum Raum eines Realismus der Möglichkeiten, eines Literalismus der Imagination, die stärker als je zuvor kontrolliert werden muss und dabei der Scham und der Schamlosigkeit neue Konturen verleiht. So wird denn auch das Bild der Schamlosigkeit konkreter und deutlicher artikuliert. Von einer Welt häretischer Dissidenz, sündhafter Akte und korrelierter Bußen bewegen wir uns in eine Welt möglicher Sünden, rigoroser Beschreibung solcher möglichen Sünden, und neuer Formen der sogenannten Unterscheidung der Geister, die sich als explizite Semiotik des Begehrens, der Träume, Visionen, und Erfahrungen artikuliert.16 Mit anderen Worten, die alten Topoi häresiologischer Identifikation werden zu Ereignissen, in denen erstmals literarisch Gestalt annimmt, was als Programm der Überschreitung der Scham in der frühen, libertinen Pornographie in den Vordergrund tritt. Setzt diese dabei den Beichtvater oder Inquisitor als Vollzugsperson ein, tut sie es daher zu Recht, ist es doch die Institution der Beichte, die dem häresiologischen Phantasma der nackten und als eschatologische Befreiung gesehenen Schamlosigkeit den kritischen Realitätsraum eröffnet, in dem allein die Libertinage sinnvoll zu existieren und Möglichkeiten der Überschreitung der Scham zu explorieren vermag. Ob es die Kryptoflagellanten und ihre Orgien je gegeben hat, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist allein, dass die Texte von ihren Beichten erzählen und damit den Realitätsraum schaffen, in dem Schamlosigkeit als Möglichkeit der Subversion positiver Ordnung und Normativität, wie sie noch Georges Batailles porträtieren wird,17 und nun auch frei von Eschatologie, denk- und machbar wird.
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Vgl. dazu meine ausführlichere Darstellung in: Lob der Peitsche. München 2001, Kap. IV u. V. Vgl. dazu auch: Largier, Niklaus: „Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation“. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hg. v . Peter Strohschneider. Stuttgart 2009, S. 953–968. Siehe etwa: Bataille, Georges: Das obszöne Werk. Reinbek b. Hamburg 1977.
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Literaturverzeichnis Aretino, Pietro: Ragionamenti. Hg. v. Larivaille, Paul u. Giovanni Aquilecchia. 2 Bde. Paris 1998–1999. Argens, Marquis d’: Thérèse philosophe. Eine erotische Beichte. Aus dem Französischen von Heinrich Conrad. Mit 38 Illustrationen, einem Aufsatz von August Kurtzel, einer Erzählung von Carl Felix von Schlichtegroll, sowie Auszügen aus den Prozessakten und Notaten der Herausgeber. Hg. v. Farin, Michael u. Hans-Ulrich Seifert. München 1990. Augustinus, Aurelius: „De haeresibus“. In: Patrologia Latina. Bd. 42, S. 21–50. Bataille, Georges: Das obszöne Werk. Reinbek bei Hamburg 1977. Büttner, Theodora, und Ernst Werner: Circumcellionen und Adamiten. Zwei Formen mittelalterlicher Häresie. Berlin 1959. Erbstösser, Martin: Sozialreligiöse Strömungen im späten Mittelalter. Geißler, Freigeister und Waldenser im 14. Jahrhundert. Berlin 1970. Förstemann, Ernst G.: Die christlichen Geißlergesellschaften. Halle 1828. Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. 3 Bde. Paris 1976–1984. Haupt, Herman: „Zur Geschichte der Geißler.“ In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 9 (1888), S. 114–119. Hergenröther, Joseph.: „Adamiten“. In: Kirchenlexikon oder Enzyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften. Bd. 6. Freiburg 1882, S. 215–218. Hoyer, Siegfried: „Die thüringische Kryptoflagellantenbewegung im 15. Jahrhundert“. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 2 (1967), S. 148–174. Kieckhefer, Richard: „ Radical Tendencies in the Flagellant Movement of the MidFourteenth Century“. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 4 (1974), S. 157–176. Largier, Niklaus: „Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation“. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hg. v. Peter Strohschneider. Stuttgart 2009, S. ?. Largier, Niklaus: „Rhetorik des Begehrens. Die ‚Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität.“ In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Martin Baisch. Königstein 2005, S. 249–270. Largier, Niklaus: Lob der Peitsche. München 2001. Reifferscheid, Alexander: „Articuli, quos tenuerunt et crediderunt heretici capti in Sundirshausen et combusti“. In: Neun Texte zur Geschichte der religiösen Aufklärung in Deutschland während des 14. und 15. Jahrhunderts. Festschrift der Universität Greifswald 1905. Hg. v. Alexander Reifferscheid. Greifswald 1905, S. 37–40. Reifferscheid, Alexander (Hg.): „Articuli, quos tenuerunt et crediderunt heretici Zangerhusene“. In: Neun Texte zur Geschichte der religiösen Aufklärung in Deutschland während des 14. und 15. Jahrhunderts. Festschrift der Universität Greifswald 1905. Hg. v. Alexander Reifferscheid. Greifswald 1905, S. 32–36. Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de: Die Philosophie im Boudoir, oder Die lasterhafte Lehrmeisterin. Köln 1995. Schütte, Heinz: „Adamiten“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Bd. 1. Freiburg 1993, S. 142–143.
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Schweitzer, Franz-Josef: Europäische Texte aus der Hussitenzeit (1410–1423). Adamiten, Pikarden, Hussiten. Dresden 2009. Selge, Kurt-Victor: „Adamiten“. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl. Bd. 1. Tübingen 1998, S. 111. Stumpf, Augustinus: „Historia flagellantium, praecipue in Thuringia“. Hg. v. Heinrich A. Erhard. In: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 2 (1835), S. 1–37. Töpfer, Bernhard: „Hoffnungen auf Erneuerung des paradiesischen Zustandes (status innocentiae) – ein Beitrag zur Vorgeschichte des hussitischen Adamitentums“. In: Eschatologie und Hussitismus. Hg. v. Patschovsky, Alexander u. Frantisek Smahel. Prag 1996, S. 169–184.
K ATJA GVOZDEVA
Spielprozess und Prozess der Zivilisation. Emotionales Rätsel in Italien und Frankreich zwischen 1479 und 1638 „Mi vergogno di dir qual nome m’abbia …“ (Straparola II, 5).
I. Rätsel, Emotion und Transgression Als Agon,1 „aggressives Spiel“,2 bei dem es mehr um das Lösen als um die Lösung3 geht, ruft jedes Rätselspiel bei seinen Teilnehmern polarisierte Emotionen hervor. Unter den negativen Gefühlen,4 die dabei auftreten können, hat die Scham einen prominenten Platz. Sie bemächtigt sich unser, wenn wir keine bzw. eine falsche Lösung gegeben und damit das Gesicht im Rätselwettbewerb verloren haben. Die Affinität zwischen dem Schamgefühl, das „unser ganzes Selbst umfasst“,5 und dem Rätselspiel, das „von uns Besitz ergreift“,6 ist darin zu erkennen, dass beide uns ganz in Anspruch nehmen und dass beide mit einem Gewaltpotential ausgestattet sind, das der Begriff „Halsloserätsel“ zum Ausdruck bringt: „[…] wo das Rätsel seine tiefste Bedeutung erreicht, geht es an das Leben […]
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Dazu Huizinga: „Rätsel als Gesellschaftspiel bleibt „ein wichtiges agonales Element des gesellschaftlichen Verkehrs“. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod. Hamburg, 21. Aufl. 2009, S. 126. Zur Spielklassifi kation vgl. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen: Maske u. Rausch. Aus dem Franz. von Sigrid von Massenbach. München 1966. Roy, Bruno: „Introduction.“ In: Devinettes françaises du Moyen Âge. Hg. v. Bruno Roy. Montréal, Paris 1977, S. 13. „ […] die Lösung an sich nicht der eigentliche Zweck des Rätsels ist, sondern das Lösen“. Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen, 6. Aufl. 1982, S. 135. Vgl. Kolnai, Aurel: Ekel – Hochmut – Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt a. M. 2007. Lewis, Michael: Scham. Annäherung an ein Tabu. Hamburg 1993, S. 12. Jolles: Einfache Formen, S. 126.
Unser Einsatz sind unsere Knochen.“7 Unser Leben und Tod sind auch gewissermaßen der „Einsatz“ im Schamgefühl, das uns im Erdboden versinken lässt. In meinem Beitrag möchte ich die liminale Gattung des Rätsels8 nicht nur in ihrem Bezug auf das liminale Schamgefühl betrachten, das die Grenzverletzung in Erfahrung bringt,9 sondern auch ihre Bezüge zur Schamlosigkeit als Kehrseite der Scham ausarbeiten. Als Objekt der Untersuchung dieses Doppelbezugs dient mir eine besondere Rätselart, die im Rahmen der funktionalen Klassifikation als emotionales bzw. als erotisches Rätsel und im Rahmen der strukturellen Definition als Rätsel mit doppelter Lösung bezeichnet wird.10 Bei der Betrachtung dieser Rätselart in unterschiedlichen Kontexten und auf unterschiedlichen Etappen ihrer Kultur- und Literaturgeschichte wurde bisher der performative Zusammenhang zwischen erotischer Emotion und „transgression amusante“ ausgearbeitet.11 Doch das emotionale Rätsel, so meine Ausgangsthese, ist nicht zuletzt als gesellschaftliches Spiel mit der Schamgrenze anzusehen. Die Schamreaktion ist bei diesem Spiel vorprogrammiert. Sie markiert nicht nur seinen Endpunkt und beschränkt sich nicht auf die schmerzliche Anerkennung der intellektuellen Insuffizienz und Niederlage im Kräftemessen, sondern wird gezielt bereits am Ausgangspunkt der Interaktion als Körperscham bzw. sexuelle Scham provoziert: die Rätselaus-
7 Ebd., S. 133. 8 „Riddles are the liminal genre par excellence, since they make a point of playing wich conceprional borderlines and crossing them for the pleasure of showing that things are not quite so stable as they appear“. Vasvári, Louise O.: „Fowl play in my lady’s chamber. Textual Harassment of a Middle Englisch Pornitological Riddle and Visual Pun.“ In: Obscenity. Social control and artistic creation in the European Middle Ages. Hg. v. Jan M. Ziolkovski. Leiden u. a. 1998, S. 108–135, hier S. 113. 9 Vgl. dazu die Einleitung in diesen Band. 10 „Avant tout, il faut établir une distinction fonctionelle entre les énigmes émotionnelles, intellectuelles et d’information. Les premières concernent le sexe, ou plus exactement consistent à évoquer une athmosphère teintée d’érotisme en offrant des images dont le but est de provoquer des réponses sexuelles « erronnées »“. Köngäs-Maranda, Elli: „Structure des énigmes.“ In: L’Homme 9 (1969) H. 3, S. 5–48, hier S. 11; Huizinga: Homo ludens, S. 127: „Rätsel mit doppelter Lösung, von der die eine, die obszön ist, am meisten auf der Hand liegt“; Todorov, Tzvetan: „La devinette.“ In: Les genres du discours. Paris 1978, S. 223–245, hier S. 238; Scafoglio, Domenico: „L’indovinello erotico in Europa.“ In: Il corpo e la festa. Universi simbolici e pratiche della sessualità popolare. Hg. v. Piercarlo Grimaldi. Roma 1999, S. 61–80; Roy: Devinettes; Lövkrona, Inger: „Gender and sexuality in pre-industrial society: Erotic riddles.“ In: Fabula, 34 (1994) H. 3–4, S. 270–279; Vasvári: Fowl play. 11 „L’énigme à double sens porteuse de transgression amusante“. Roy, Brüno: « Des devinettes aux énigmes. Les premières séries de Questions énigmatiques.“ In: L’ énigmatique à la Renaissance : formes, significations, ésthétiques. Hg. v. Daniel Martin u. a. Paris 2008, S. 155–171, hier S. 159.
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sage präsentiert sich als aggressiver Sprechakt, der diejenigen Körperteile rhetorisch-suggestiv entblößt, deren man sich in der Öffentlichkeit schämt und der die menschlichen Aktivitäten ans Tageslicht bringt, die seit Adam und Eva die Dunkelheit der Nacht verhüllt. Die Schamemotion und die Rätselsprache treffen sich hier in ihrer Paradoxie sowie in der Dynamik des Verhüllens und Enthüllens. Indem das Rätsel mit doppelter Lösung in seiner schamlosen Aussage die ,richtige‘ Antwort verhüllt (verschlüsselt), enthüllt es als Fragehandlung suggestiv die Körper der Teilnehmer, sexualisiert diese und sendet einen erotischen Appell. Indem sich aber die vom Rätselsteller meistens selbst verbalisierte ‚richtige‘ Lösung als völlig unschuldig erweist, wird beim Erratenden, der in diesem Moment sich in seinen Gedanken ganz bei der ,falschen‘ im sexuellen Bereich angesiedelten Lösung befindet, eine neue Schamreaktion, nach dem Motto: „Honni soit qui mal y pense“, ausgelöst. Das emotional-transgressive Rätsel, das als spezifisches Kommunikationsdispositiv der Grenzüberschreitung und der performativen Herstellung von Emotionen anzusehen ist, wäre gleichzeitig weniger als fester Gattungstyp zu begreifen, sondern vielmehr als eine der doppeldeutigen Rätselsprache inhärente Tendenz.12 Diese Tendenz ist sowohl vom Grad der Transparenz der erotischen Allusion als auch von den Schamgrenzen der Spielteilnehmer abhängig und kann somit je nach Kommunikationssituation hervor- oder zurücktreten.13 Solche Dynamiken möchte ich im Folgenden in historischer Perspektive betrachten und an einem Abschnitt der Rätselgeschichte untersuchen, der für die Elias’sche These des „Vorrückens der Schamschwellen“ relevant ist. Somit soll diese von Dürr heftig angegriffene,14 jedoch aus den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen
12 Diesen Begriff verwende ich hier im Freudschen Sinne, aufbauend auf den Bezügen zwischen Witz und Rätsel, die Freud an mehreren Stellen ausgearbeitet hat. Vgl. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Frankfurt a. M., 7. Aufl. 2004. Das erotische Rätsel kann dabei als eine dialogisierte Form des tendenziösen Witzes begriffen werden. 13 Mit Gaignebet, Todorov und Vasvári kann man sich fragen, ob auch diejenigen Rätsel, die uns heutzutage ‚unschuldig‘ zu sein scheinen, in der Zeit ihrer Entstehung bzw. in spezifischen Gebrauchskontexten nicht erotische Repräsentationen entfaltet haben. Vgl. Todorov, Devinette, S. 239; Gaignebet, Claude: „Le chauve au col roulé“. In: Poétique 8 (1971), S. 442–446; Vasvàri: Fowl play, S. 116: „The ambiguity inherent to any riddle may be so empirical and culturally oriented that it remains a closed book to the outsider“. Vgl dazu auch Kaivola-Bregenhøj, Annikki: „Riddles and their Use.“ In: Untying the knot. On Riddles and Other Enigmatic Modes. Hg. v. Galit Hasan-Rokem und David Shulman. New York, Oxford 1996, S. 10–36, hier S. 14. 14 Vgl. Schwerhoff, Gerd: „Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht“. In: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 561–605.
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nicht vollständig ausgregrentzte These im Spielraum des Rätsels auf ihre Gültigkeit überprüft werden.
II: Transgressives Spiel und „harmonisch wirkende Gesellschaft“15 Als „Frage, die eine Antwort heischt“, ist das Rätsel im Unterschied von anderen „einfachen Formen“16 unabhängig von seiner sprachlichen Gestalt auf eine dialogische Kommunikationssituation angewiesen.17 Diese dialogisch-spielerische Kommunikationsform gehört zum breiten Repertoire der Gesellschaftsspiele, die seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts eine besondere Verbreitung und Entwicklung in gebildeten höfischen und städtischen Kreisen fanden.18 Wird den Gesprächsspielen in der Periode vom Spätmittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine zivilisatorische Funktion, oder anders gesagt, eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung von Normen für den geselligen Umgang zugewiesen,19 so ist zu fragen, ob und wie sich das emotional-transgressive Rätsel in die höchstgeregelte Spielwelt der „harmonischen geselligen Unterhaltung“,20 des Respekts gegenüber Frauen, der „Tabuisierung alles Obszönen“ im Redeverhalten,21 des „rücksichtvollen, disziplinierten Scherzen[s] zwischen Männern und Frauen“.22 integrieren lässt. Worin bestünde seine spezifische Leistung und welche Veränderungen lassen sich in der Rätselkommunikation auf dem Wege der Entwicklung europäischer Eliten von der spätmittelalterlichen
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Vgl. Schnell, Rüdiger: „Einleitung.“ In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Hg. v. Rüdiger Schnell. Kölln u. a. 2008, S. 16. 16 Jolles: Einfache Formen, S. 128. 17 „The riddle image is always conceptually a question, be it syntactically interrogative or not“. Köngäs-Maranda, Elli: „The Logic of Riddles.“ In: Structural Analysis of Oral Tradition. Hg. v. Pierre Maranda und Elli Köngäs-Maranda. Philadelphia 1971, S. 189–232, hier S. 196. 18 Vgl. Margolin; Jean-Claude: « Les jeux à la Renaissance. Rapport de synthèse. » In: Les jeux à la Renaissance. Hg. v. Philippe Ariès und Jean-Claude Margolin (Actes du XXIIIe colloque international d’études humanistes, Tours, Juillet 1980). Paris 1982, S. 661–690, hier S. 673–677. 19 Dazu Margolin: Les jeux, S. 673–674 : „le jeu comme facteur d’acculturation et de civileté. […] Quand je dis ,le jeu‘, il faudrait tout de suite en préciser la nature […] jeux d’esprit, jeux de langage, jeux de mots, jeux de sons et de sens, jeux d’énigmes […]“. Vgl. auch Schnell: Konversationskultur, S. 16. 20 Schnell: Einleitung. In: Konversationskultur, S.16. 21 Ebd., S.19. 22 Schnell, Rüdiger: „Männer unter sich – Männer und Frauen im Gespräch.“ Geschlechterspezifische Aspekte der Konversation. In: Konversationskultur, S. 403
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courtoisie zur honestà der im Cortegiano entworfenen Idealwelt der brigate des Cinquecento und ihrer civile conversazione, bis hin zur Galanterie und Preziosität des französischen Salons des 17. Jahrhunderts feststellen?23 Ins Zentrum der Betrachtung stelle ich die italienische Rätselkultur des 16. Jahrhunderts wegen ihrer prominenten Stelle im Vergleich zu ihren Nachbarländern sowie ihres Einflusses auf diese. Für die Rekonstruktion der Rätselinteraktionen bieten sich drei Textsorten an, die Zugänge zu den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen riddling communities24 auf unterschiedliche Weisen verschaffen und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten: – die Rätselsammlung, die sich retrospektiv oder prospektiv auf die Kommunikationssituation bezieht, in der das Rätsel eingesetzt wird. Während sich an den Strategien der Auswahl von Rätseltexten die gesellschaftlichen Schamgrenzen ablesen lassen, werden in den Paratexten die Konturen der Spielgesellschaften sichtbar; – Spieltraktat und Verhaltenstraktat, in denen die Normen für männliche und weibliche Rollen im Gesprächsspiel reglementiert werden; – literarische Inszenierungen, die zum einen eine Vielzahl von vollständigen Rätseltexten integrieren und damit auch als für den gesellschaftlichen Gebrauch bestimmte Rätselsammlungen anzusehen sind und die zum anderen das Rätselspiel in actu darstellen und sich damit als Reflexionsformen der zeitgenössischen Normen des Spielverhaltens und ihrer Überschreitung betrachten lassen.
III. Spätmittelalterliche Spielräume des emotionalen Rätsels Das vormoderne Rätsel wird in unterschiedlichen ritualisierten face-toface Interaktionen gebraucht, was diese einfache Form tief im Gruppenleben verankert und ihr ein soziales Wirkungspotential und eine kulturelle Bedeutung verleiht, die dem heutigen Rätsel abhanden gekommen ist.25
23 Dieser Abschnitt der Sozialgeschichte des Rätsels wird ausgehend von der Fragestellung des Bandes nach dem Verhältnis zwischen Scham und Schamlosigkeit nur unter diesem Aspekt betrachtet und kann hier nur skizzenhaft dargestellt und stichprobenartig untersucht werden. 24 Ich verwende diesen in der englischsprachigen Rätselforschung gängigen Begriff (vgl. z. B. Kaivola-Bregenhøj: Riddles, S. 11), dessen Äquivalent ich in der der deutschsprachigen Forschungsliteratur nicht finden konnte. 25 Vgl dazu Jolles: Einfache Formen, S. 126–149; Huizinga: Homo ludens, S. 124–128; Tomasek, Tomas: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994.
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Der spezifische ritualisierte Kommunikationsrahmen, in dem das Rätselspiel im 16. Jahrhundert seine Blütezeit erlebt, lässt sich deutlich an einer 1479 im französischen Sprachraum entstandenen ersten gedruckten Sammlung erkennen, die den aussagekräftigen Titel Adevineaux amoureux 26 trägt. Der anonyme Kompilator verweist in einem Teil seiner Sammlung auf die spielerischen Dialoge zwischen jungen Männern und Frauen während der langen winterlichen Nächte, die sowohl in Form von in der höfischen Liebeskasuistik verankerten Minnefragen (demandes d’amour) als auch im Medium des Rätsels („adevinaille“) erfolgen: Et pour ce que du temps passé je me suis trouvé […] en plusieurs et diverses compaigniez, aussy bien en moiennes et basses d’estat comme nobles et hautes, je vueil maintenant reciter plusieures demandes et adevinailles que soloient faire les jones compaignons de mon temps aux matrones et filles es assembleez qu’ilz faisoient es longues nuis d’yver aux seriez pour passer plus joyeusement icelles.27
Der Kompilator enthüllt in dieser Einführung dem Leser die in der Sammlung enthaltene „chose un pou grasse“ (ein wenig obszönes Ding): „Et s’il y a chose un pou grasse, il me soit pardonné, car c’est ouvrage et devises de nuit.“28 Somit gibt er zu, zusammen mit den Junggesellen seiner Zeit die gesellschaftlichen Schamgrenzen, darunter vor allem diejenigen der obenerwähnten Frauen und Mädchen, zu verletzen. Gleichzeitig verschleiert er den Blick des Lesers auf die Grenzüberschreitung, indem er seine Entschuldigung dafür mit der nächtlichen Dunkelheit begründet, die dem erotischen Rätselgespräch zwischen Männern und Frauen Schutz bietet. In der mediävistischen Literatur- und Kulturwissenschaft wurde die „amüsante Transgression“,29 die mithilfe der obszönen Rätselsprache im Rahmen der spätmittellalterlichen courtoisie stattfindet, oft psychologisch als Kompensation der Frustration erklärt, die ein Mann in seiner Minnerolle des „amant transi“ empfunden haben muss.30 Aus enthnologischer Sicht betrachtet, lässt sich der im Vorwort zur Rätselsammlung entworfene Spielraum als derjenige der traditionellen winterlichen veillée identifizieren, der aber auf die ,Volkskultur‘ nicht reduziert werden darf.
26 Die Sammlung wurde auf der Basis von zwei Manuskripten aus den 60-er Jahren des 15. Jh. erstellt und 1479 unter dem Titel Adevineaux amoureux in Bruges von Colart Mansion gedruckt. Vgl. Roy: Devinettes, S. 22. 27 Amorous Games. A critical edition of Les Adevinaux amoureux. Hg. V. James Woodrow Hassell, Austin and London, 1974, S. XIX. 28 Ebd. 29 Vgl. Roy: Des devinettes, S. 159. 30 Vgl. Daumas, Maurice: Au bonheur des mâles. Adultère et cocuage à la Renaissance. Paris 2007, S. 270; Roy: Devinettes, S. 21–22.
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Von den Historikern der Vormoderne werden diese in der (vor)karnevalesken Periode in allen Gesellschaftsschichten (vgl. oben: „aussy bien en moiennes et basses d’estat comme nobles et hautes“) stattfindenden Jugendversammlungen vor allem als Raum der Geschlechterannäherung und Heiratsanbahnung identifiziert. Dem Rätselspiel als einer ritualisierten agonalen Form des Geschlechtergesprächs kommt dabei eine zentrale Rolle zu.31 Der Spielraum des erotischen Rätsels erscheint dabei als Ort der ritualisierten Grenzverletzung.32 Der Paratext der französischen Sammlung erlaubt es, die ritualisierte Kommunikationssituation, um die es mir hier gehen wird, paradigmatisch zu beschreiben und die kulturellen Wurzeln der italienischen galanten Rätselkommunikation anzuzeigen. Im Folgenden wird er aber auch dazu dienen, um die signifikanten Veränderungen im Übergang zur Frühen Neuzeit aufzudecken.
IV. Literarisches Rätsel in Italien und giuochi di veglie 1. Rätselsammlungen Die zahlreichen italienischen Dichter des 16. Jahrhunderts haben zur literarischen Geschichte des Rätsels in ganz Europa wesentlich beigetragen, indem sie seine traditionellen Formen in eine breite Vielfalt von damals aktuellen Versformen (vor allem sonett und ottava rima) gekleidet haben.33 Trotz des hohen Grades der Literarisierung waren diese Rätseltexte nicht für die einsame Lektüre, sondern für den gesellschaftlichen interaktiven Gebrauch bestimmt. Die ausführlichen Titel der italienischen Sammlungen erlauben es, denselben traditionellen Kommunikationsraum der veillée, veglia auf Italienisch, zu rekonstruieren, in dem die oben betrachtete französische Sammlung angesiedelt ist. Dabei wird sowohl die zwischengeschlechtliche Konfiguration der Rätselkommunikation, als auch ihr heiterer karnevalesker Charakter ersichtlich,34 und in diesem Sinne wird die 31
„Le principal attrait des veillées était de susciter ou de favoriser des relations courtoises entre jeunes gens et jeunes fi lles ». Varagnac, André: Civilisation traditionnelle et genres de vie.“ Paris 1948, S. 97. 32 Als Form der ritualisierten Obszönität deutet das erotische Rätsel auch Domenico Scafoglio in Ahnlehnung an Victor Turner. Vgl. Scafoglio: Indovinello, S. 63–64. 33 Vgl. De Fipippis, Michele: The literary riddle in Italy to the End of the sixteenth century. Berkeley, Los Angeles 1948; Rossi, Giuseppe Aldo: Enigmistica. Il gioco degli enigmi dagli albori ai nostri giorni. Milano 2001, S. 65–101. 34 Hier einige Beispiele, zit. nach De Fipippis: The literary riddle: L’Accademia d’Enigmi in Sonetti die Madonna Daphne di Piazza agli Accademici Fiorentini suoi amanti, Venedig,
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spätmittelalterliche Tradition der Adevineaux amoureux fortgesetzt. Die neuen Aspekte, die im 16. Jahrhundert hinzukommen und an denselben Titeln ablesbar sind, betreffen die Assoziation des Rätsels, das zu einer literarischen Gattung geworden ist,35 mit dem Begriff accademia sowie das Verständnis des Rätselspiels als delectatio onesta: „onesto trattenimento“, „onorata compagnia“, „onorata conversatione“ sind die Schlüsselbegriffe dieser neuen Rätselepoche der Ehrenhaftigkeit. Im Unterschied zum spätmittelalterlichen Kompilator, der vor uns seine „chose un pou grasse“ enthüllt, um sie anschließend in der nächtlichen Dunkelheit teilweise zu verbergen, lehnen nun die italienischen Autoren ostentativ jeden Verdacht der Obszönität ab. Ihnen scheint es im Gegenteil darum zu gehen, jede Dunkelheit aufzuheben: „levare l’oscurità“. So wendet sich etwa Angiolo Cenni (Il Risoluto), Gründer der Congrega, später Accademia dei Rozzi in Sienna und einer der bekanntesten Rätseldichter des Jahrhunderts, im Vorwort zu seiner Rätselsammlung, die auch Texte von anderen Rozzi beinhaltet, an den Leser, um ihm deutlich zu machen, dass seine Rätselsonette die Grenzen der onestà nicht überschreiten. Sollte der Leser daran zweifeln, wird er es, so der Autor, nach guter Überlegung selbst erkennen: Appresso se in esse ti paresse alcuna volta narrazione di cose vituperose e inoneste, per levarti quella oscurità ti affermo come prima non ci esser alcuna cosa se non onestissima, e quando ben l’harai considerate, che sia così da te lo confesserai.36
Wie kann man aber diese Rätsel als onestissima cosa begreifen, wenn die meisten von den von Angiolo Cenni und anderen Enigmatografen seiner Zeit gesammelten bzw. eigenständig verfassten Rätseltexte uns heute viel obszöner erscheinen, als die „chose un pou grasse“ der Adevineaux amoureux? In Bezug auf die Frage nach dem „Vorrücken der Schamschwellen“
Stefano de Alessi, 1552; Indovinelli ….parte in prosa, e parte in rima…Opera molto piacevole, e bella da indovinare, e far ridere nelle veglie per passarsi tempo; Ludovico Valenti: Nuovi indovinelli curiosi et allegri per trattenimento di ogni onorata conversazione, massimo in tempo di Carnevale, Bologna[ ohne datum]; Rime di diversi authori … e nel fine alcuni Enimmi per onesto trattenimento di qual si voglia onorata compagnia, Pavia, Eredi di Jerinimo Bartoli, 1593. 35 „From the 16th century on, when riddling became an art, and the enigma, as literary genre, winning popularity and importance, made its way to the printing press, the palace, the academy, where it was read and heard by men and women.“ De Filippis: The literary riddle, S. 17. 36 Sonetti del Risoluto de Rozzi da lui ricorretti, et alquanti de novi aggiunti, non più impressi. Nuovamente stampati in Sienna per Francesco di Simione et Compagni a dì 3 ottobre 1547. Zit nach De Filippis: The literary riddle, S 16. De Filippis verweist auf den großen Erfolg dieser Rätsel, bezeugt durch viele Editionen zwischen 1538 und 1757.
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ist es nicht uninteressant, sich mit der Haltung der Rätselforschung des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Der Überblick der Rätselgeschichte des 16. Jahrhunderts von Michele de Philippis präsentiert sich als eine Schamszene: De Filippis schämt sich für die angesehenen Autoren, an der ersten Stelle für den Kardinal Pietro Bembo (der uns im zweiten Teil der Untersuchung als literarische Figur des Teilnehmers eines Rätselspils begegnen wird) und seine sieben obszönen Versrätsel. De Filippis schämt sich auch, diese Rätsel der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Schau zu stellen: „Why reproduce here his salacious riddles?“, „we cannot reproduce them here […] we might be violating a cardinal virtue“37 und beurteilt die Edition dieser Texte, die im 19. Jahrhundert erfolgte, 38 als schamlose Geste: „Vittorio Cian, who lacked apparently, the timidity and the prudence which prevent us from printing them“.39 Der Beschluss lautet: „As a matter of fact, one of the most pronounced characteristics of Italian riddles are their obscenity.“40 Somit sind die Fragen, die die Forschung in Bezug auf die Versrätsel des 16. Jahrhunderts und ihren Gebrauch im aristokratisch-akademischen Gesellschaftspiel beschäftigen, weniger mit ihrer literarischen Gestalt, sondern vielmehr mit ihrer Schamlosigkeit verbunden, die mit der Idealwelt des Cortegiano unvereinbar zu sein scheint. Die vorgeschlagenen Antworten sind widersprüchlich und erstrecken sich von der Vermutung, dass die heute pornographisch aussehenden Rätsel im 16. Jahrhundert die Schamgrenze gar nicht verletzt, sondern nur leicht berührt und das höfisch und städtisch gebildete Publikum gar nicht schockiert, sondern nur amüsiert haben,41 bis hin zur Behauptung einer zielgerichteten Subversion.42 Die
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Ebd., S. 6. Cian, Vittorio: I Motti inediti e sconosciuti di Pietro Bembo. Venezia 1888. De Filipis: The literary riddle, S. 6. Ebd., S. 13. Vgl. Ebd., S. 15. Diese m.E. problematische Einsicht wird in der Forschung noch viel stärker in Bezug auf an eine andere uns heute schockierende vormoderne Gattung verbreitet, die fabliaux, deren Sprache in einigen mediävistischen Arbeiten als schamenthobene Sprache der „normalen“ Sexualität begriffen wird: „Much of fabliaux diction we might now consider obscene might not have been so obscene in its own time. The fabliaux language of sexuality, is much of the time surprisingly free of impudence. It often sounds like normal language, the unreflective language of a culture that was relatively free of linguistic taboos, but took pleasure of various kinds in the direct verbal evocation of sexuality. It must have been the contemporaneous emergence of courtly norms of diction, in 12–13 cent., that created a new sense of obscene or vulgar language“. Muscatine, Charles: „The fabliaux, courtly culture, and the (re)invention of vulgarity.“ In: Obscenity. Social control and artistic creation in the European Middle Ages. Hg. v. Jan M. Ziolkovski. Leiden u. a. 1998, S. 281–292, hier S. 281. 42 Redondo, Augustin: „Le jeu de l’énigme dans l’Espagne du XVIe siècle et du début du XVIIe siècle. Aspect ludique et subversion.“ In: Les jeux à la Renaissance, S. 445–458, hier S. 449.
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Einbettung des Rätselspiels in der karnevalesken Periode wird allgemein festgestellt und auch reflektiert, dabei versucht niemand heutzutage mehr, das karnevaleske Rätselspiel aus der Perspektive der Volkskultur zu erklären.43 Der Platz des Rätsels innerhalb aristokratischer veillées und giuochi di veglie wird entweder qualitativ mit karnevalesker Freiheit und Lizenz erklärt44 und als „fundamentale Inversion“ begriffen, die die zivilisierte Gesellschaft auf den Kopf stellt, 45 oder quantitativ mit „homöopatischen Dosen“ bemessen,46 in denen die Obszönitäten in die vornehme Unterhaltung eingefügt werden, ohne die guten Manieren der Gesellschaft in Frage zu stellen. Die Anwendung des Gender-Ansatzes hat in der letzten Zeit zu einer differenzierten Sichtweise geführt: Die schamlose Rätselsprache gehöre in die maskuline Ordnung und sei weniger eine männliche Lizenz oder Privileg als eine männliche Rolle im zwischengeschlechtlichen Spiel; Frauen wird dabei eine passive und zuneigende Rolle zugewiesen, die in der Schamreaktion zum Ausdruck kommt.47 Gegen die Radikalität dieser Meinungen wäre einzuwenden, ohne sie dabei ganz zu verwerfen, dass man erstens angesichts der weiten Verbreitung von Rätselsammlungen im Medium des Buchdrucks und ihrer überwältigenden Obszönität wohl kaum von homöopathischen Dosen sprechen kann; zweitens, dass die Disziplinierung des aristokratischen
43 So noch Thomas Frederick Crane in seinem umfangreichen und in vielen Hinsichten hilfreichen Überblick der Gesellschaftsspiele des 16. Jh. und ihrer Literarisierungen. Vgl Crane, Thomas Frederick: Italian social customs of the sixteenth century and their influence on the literatures of Europe. (1920) New York 1971, S. 291. Vgl. Margolin: Jeux à la Renaissance, p. 675: « Ce serait une erreur de vouloir mettre certaines devinettes grivoises au compte de divertissement de caractère populaire » 44 „[…] most of the extant collections of riddles […] specifically state that their object is to amuse the reader and to make him laugh, especially in the long winter nights of Carnival time, when freedom and a certain lubricity in speech were both granted and tolerated“. De Filippis: The Literary riddle, S. 15. 45 „Il était […] une période au cours de laquelle le jeu de l’énigme était particulièrement prisé. Il s’agit de la période carnavalesque, comme André Varagnac et Mikhail Bakhtine l’ont souligné. Dans une athmosphère carnavalesque, on proposait des énigmes souvent fort ambiguës […] parce que les festivités carnavalesques permettaient une mise en cause des valeurs établies, provoquaient des inversions fondamentales, rendaient possible un autre regard jeté sur le monde“. Redondo: Le jeu de l’énigme, S. 449–450. 46 Vgl. Margolin: Les jeux à la Renaissance, S. 675. 47 „Ces jeux de société impliquent une répartition des rôles […] les devinettes, où la demande et la réponse sont faites par la même personne, sont réservées aux hommes. […] La langue grasse et les propos „joyeux“ (c’est à dire grivois) appartiennent à l’ordre masculin. Il ne s’agit pas […] d’un privilège, mais de l’adéquation du discours à la répartition des rôles: à l’homme l’expression brutale du désir […] à la femme l’humilité, l’admiration, la contemplation, le consentement. Comment imaginer que les deux partenaires puissent parler le même langage? La vergogne interdit aux femmes d’emprunter le discours libre […]“. Daumas: Au bonheur des mâles, S. 271.
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Verhaltens keine Ausnahmen für die karnevaleske Periode macht; und drittens, dass diese Disziplinierung sowohl die Frauen-, als auch die Männerrollen im Spiel betrifft. 2. Spiel- und Verhaltenstraktat Diese Thesen und die damit verbundenen Komplexitäten lassen sich am Dialogo de’ giuochi von Girolamo Bargagli48 veranschaulichen, einem 1564 im akademischen Kontext entstandenen und 1572 gedruckten Text, der zum einen als Thesaurus der Gesellschaftspiele, zum anderen als Verhaltenstraktat gilt.49 Dieser Dialog entfaltet sich im Zeichen des Cortegiano (1528),50 dessen unmittelbarer und nachhaltiger Erfolg kaum zu überschätzen ist51 und deutlich macht, „wie sehr eine neue Gesellschaftsstruktur nach Normen und Ratschlägen suchte.“52 Das von Castiglione entworfene und in die Form eines Gesellschaftspiels als Gedankenfigur gegossene „Zivilisationsmodell, dessen Grundbestandteile – Witzwort, Spiel, Gesprächskunst und Frau – eine Szene des Höflichkeitsdiscurses darstellen,“53 wird von Bargagli in Bezug auf eine Vielzahl von konkreten Spielformen angewandt und reflektiert, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in der gebildeten Gesellschaft Sienas im Umgang waren. Die Position Bargaglis wird mich hier zum einen in Bezug auf die Formulierung von allgemeinen Verhaltensregeln, die für jedes Spiel gelten, zum anderen in Bezug auf seine Rätseldefinition interessieren. Giuochi di veglia, die zum Objekt seiner Betrachtung werden, sind vorwiegend für die karnevaleske Unterhaltung54 der gesitteten gemischt48 Materiale Intronato [Girolamo Bargagli]: Dialogo de’ giuochi che nelle vegghie sanesi si usano da fare. Siena 1572. Im Folgenden zitiere ich den Text nach folgender Ausgabe: Girolamo Bargagli: Dialogo de’ giuochi che nelle vegghie sanesi si usano da fare. Hg. v. Patrizia D’Incalci Ermini mit Einleitung v. Riccardo Bruscagli. Siena 1982. [zit. n. Seite]. 49 Vgl. dazu Bruscagli, Riccardo: „Les Intronati „a veglia“: L’ académie en jeu.“ In: Les jeux à la Renaissance, S. 201–212; Marchetti, Valerio: „Le désir et la règle. Recherches sur le „Dialogo dei giochi“ de Girolamo Bargagli (1572).“ In: Les jeux à la Renaissance, S. 163–183; Mugheddu, Francesco: „Die civile conversazione des Decameron und ihre Nachfolger.“ In: Schnell: Konversationskultur, S. 259–312. 50 Das Original wird im Folgenden nach folgender Ausgabe zitiert: Castiglione, Baldesar: Il libro del cortegiano. Torino 1965; die deutsche Übersetzung zitiere ich nach: Castiglione, Baldesar: Das Buch vom Hofmann. Übersetzt von Fritz Baumgart. Bremen 1960 [zit. n. Buch, Kap. und Seite] 51 Zuletzt dazu Schnell: Konversationskultur. 52 Mugheddu: Die civile conversazione, S. 260–261. 53 Ebd., S. 261. 54 Das wird sowohl aus vielen von Girolamo Bargagli selbst im Dialogo verstreuten Verweisen auf karnevaleske Belustigungen der raffinierten Gesellschaft ersichtlich, als auch
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geschlechtlichen Gesellschaft bestimmt, die im Dialogo als „nobile brigata“ (S. 148) bezeichnet wird. In seinen Unterweisungen an männliche und weibliche Spieler zeigt Girolamo Bargagli keine Originalität, sondern versucht, durch das Paraphrasieren von bekannten Stellen aus dem Traktat von Castiglione die städtische Realität des Gesellschaftspiels an die höfische Idealwelt des Cortegiano anzupassen.55 In seinem strengen Verbot der Obszönitäten („del poco onesto e de l’osceno“) nicht nur im Zusammenhang mit der Spielauswahl, sondern auch in Bezug auf das Reden über das Spiel zwischen züchtigen Frauen („oneste donne“) und gesitteten jungen Männern („ben costumati giovani“) erkennt man den zivilisatorischen Impetus von Castiglione, der diejenigen Männer „aus der Gemeinschaft der Edelleute verjagt […], die gemein und schmutzig im Reden sind und in Gegenwart von Frauen keinerlei Rücksicht nehmen und kein anderes Vergnügen zu kennen scheinen, als sie vor Scham erröten zu lassen, und nach diesbezüglichen Worten und Einfällen suchen“. 56 Genau so wie in diesem modellhaften Text ist das Verbot bei Bargagli nicht so eindeutig, wie es formuliert wird. In allen seinen Gesprächsspielen kann man Medien erotischer Kommunikation erkennen.57 Weibliche und männliche Rollen werden so modelliert, dass dem „Eros, der Wort wird“58 eine sprachliche Möglichkeit bleibt, in Erscheinung zu treten. Während der galantuomo im Spiel seine „anmutige Virilität“ zeigen und sich der Spielpartnerin als „treuer und leidenschaftlicher Liebender“ präsentieren soll,59
am Beispiel der Umsetzung dieser „teorica“ der Spiele in literarische „pratica“ im monumentalen Werk seiner jüngeren Bruders Scipione, der seine idealisierte Darstellung von den „onesti, e dilettevoli giuochi“ zwischen „vaghe donne e da giovani uomini“ in der Karnevalszeit des Jahres 1555 situiert. Vgl. I Trattenimenti di Scipion Bargagli ; dove da vaghe donne e da giovani uomini rappresentati sono onesti, e dilettevoli giuochi, narrate novelle, e cantate alcune amorose canzonette. Venezia 1587. Vgl. dazu Laura Ricco: L’Invenzione del genere, S. 373–398. 55 Vgl. Dazu Bruscagli, Riccardo: Introduzione. In: Bargagli: Dialogo, S. 28–33. 56 „[…] la prima avvertenza, che ’l rettor del giuoco aver debba, si è di non eleggere e di non proporre giuoco alcuno, che abbia in sé del poco onesto e de l’osceno, non dico solamente nel giuoco stesso, ma nelle parole ancora che nello spiegare dir si convenga. Perciò che, come sapete, non è cosa che generi maggior fastidio e che in nobili e oneste donne e in ben costumati giovani dispiacere apporti, che atti e parole che poca onestà abbiano in loro.“ (Bargagli: Dialogo, S. 161). Castiglione: Hofmann, S. 197. Cortegiano, II, 68, S.177: „[…] quelli che son osceni e sporchi nel parlare e che in presenza di donne non hanno rispetto alcuno, e pare che non piglino altro piacer che di fare arrossire di vergogna, e sopra di questo vanno cercando motti e arguzie“. Vgl. Bruscagli: Introduzione, S. 28–33. 57 Vgl. Marchetti: Le désir. 58 Mugheddu: Die civile conversazione, S. 284. 59 „graziosa virilità“ (S. 145), „fedele e sviscerato amante“ (S. 146) , „gli uomini hanno da mostrarsi tutti accesi e infervorati nel parlar loro, così le donne potranno talora essere schiave e acerbette, con una certa doclezza mescolata“ (S. 212).
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dürfen „die edlen und züchtigen Frauen“,60 von denen generell „professione d’onestà“ (S. 482, 476, 478) verlangt wird, dabei nicht als „Marmorstatuen“ mitten im Spiel stehen,61 sondern auf die gelegentlichen leichten Unzüchtigkeiten mit genau so leichtem Erröten antworten62 und sich auch verbal an der Interaktion beteiligen.63 Somit verlangt Bargagli von der Frau als Spielpartnerin dasselbe „schwierige Mittelmaß“ („mediocrità difficile“),64 das Castiglione in seinem Traktat in Bezug auf die Rolle der donna di palazzo im Geschlechtergespräch entwickelt. Kommt es im Spiel dazu, dass eine Frau ihre Liebe gestehen muss, ist ihr die Schamröte als Zeichen der Züchtigkeit sowie der unfreiwilligen Grenzüberschreitung vorgeschrieben.65 Der Kompromiss zwischen Eros und Ehrenhaftigkeit (honestà) erfolgt über eine verdeckte und doppeldeutige Rede, die zum „dissimulativen Artikulationsmodus des Begehrens wird“.66 Bargagli verurteilt also nicht das Vermitteln von sexuellen Inhalten und Intentionen an sich, sondern den ostentativen, sprich schamlosen Modus dieses Vermittelns.67 Er plädiert für verdunkeltes und doppeldeutiges Sprechen („coperto e doppio parlare“ S. 158) bzw. für eine „verhüllte Allegorie“ („coperta allegoria“ S. 150). Für alle Gesprächsspiele angesagt, scheint der mit dem Begriff der dunklen Allegorie bezeichnete spielerisch-verhüllende Diskurs der Liebe,
60 „nobili und virtuose donne“(S. 57). 61 „stanno come statue di marmo“ (S.142). 62 „La donna nel ragionare e nel proceder suo non dovesse mostrar d’amare, ma sì bene di non essere schifa di lasciarsi amare […] non vorrei che nel giuoco occorressero ragionamenti un poco lascivi, che fosse così spigolistra [ipocrita], che volesse torsi di quivi, ma sì bene che con un poco di rossore gli ascoltasse e alcuna volta di non intendere fingesse quello che sotto coperto e doppio parlare si dicesse da qualcuno. […] A me non piace che una garbata donna faccia, come ad alcune poco manierose fare ho veduto, che subito cominciano a dire: „Io non volgio innamorati! Io non voglio che mi ami altri che il mio marito. Anzi loderei sempre che l’accettasse con una cera modesta accortezza“ (Bargagli: Dialogo, S. 128). Cortegiano, III, V, S. 220 : „Non deve dunque questa donna, per volersi far estimar bona ed onesta, esser tanto ritrosa e mostrar tanto d’aborrire e le compagnie e i ragionamenti ancor un poco lasivi, che ritrovandovisi se ne levi […] I costumi cosi selvatici son sempre odiosi“. Vgl. Bruscagli: Introduzione, S. 28–33. 63 „bellezza non deve esser mutola, ma congiunta con un accorto e grazioso parlare.“ (S. 142). 64 Cortegiano, III, V, S. 220; Hofmann, S. 246. 65 „[…] parole vorrebbero essere accompagnate […] con un certo rossore di vergogna [] poi che sono state dette, che facesse fede come poco sia avezza colei che le dice a parlare in quella maniera, e che la necessità dell’ubidire col bello ingegno insieme ha fatto forza alla sua natura.“(S. 216). 66 Vgl. dazu den Beitrag von Albrecht Dröse in diesem Band. 67 „giuochi [che] hanno troppa scoperta succidezza e sono indegni delle nobili orecchie“ (S. 80).
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sich ganz in der Nähe vom Rätsel (ainigma) zu befinden.68 Die enge Assoziation zwischen dem Begehren und dem Erraten lässt diese Nähe spüren.69 Doch das einzige Spiel im Thesaurus Bargaglis, das diesem verhüllenden Régime des Begehrens nicht entspricht, ist paradoxerweise ausgerechnet das Rätselspiel. Zwar verankert der Spieltheoretiker die Gattung des Rätsels in der gelehrten Tradition und verweist auf ihre aktuelle versifizierte Form, definiert aber die Rätselaussage im Gesellschaftsspiel seiner Zeit als etwas Unehrliches: „qualche cosa di poco onesto“ (S. 62). Damit kann wohl nichts anderes gemeint sein als die Thematisierung von Genitalorganen von Männern und Frauen und die Beschreibung von sexuellen Akten, die die zeitgenössischen Rätselsammlungen kennzeichnet. Dabei figuriert das Rätselspiel nicht in seinem „Verzeichnis verbotener Spiele“ („indice de’ giuochi proibiti“ S. 84), wie Bargagli den Teil seines Traktats bezeichnet, wo obszöne und auch blasphemische Spielarten beurteilt werden, sondern nimmt einen ehrenhaften Platz in der langen Reihe von Spielen ein, die der raffinierten Gesellschaft empfohlen werden. Um die Paradoxie dieses Diskurses aufzulösen und seine historische Spezifik aufzudecken, lohnt sich zunächst der Vergleich zwischen der Rätseldefinition von Bargagli mit derjenigen, die Tzvetan Todorov im 20. Jahrhundert in Bezug auf das erotische Rätsel formuliert.70 Strukturell gesehen sind beide identisch, indem sie auf dem Kontrast zwischen Obszönität der Rätselaussage (qualche cosa di poco onesto) und völlig unschuldiger Lösung (convenevol cosa) basieren. Doch die Akzente werden unterschiedlich gesetzt. Während Todorov die verbalisierte ‚richtige‘ Lö-
68 Im Rahmen des grammatisch-rhetorischen Tropenkatalogs (bei Aristoteles, Cicero, Quintillian, Donatus. u. a.) wird aenigma als Mittel der verhüllenden Ausdrucksweise mithilfe der Figuren der Metapher und der Allegorie definiert. Vgl. zusammenfassend dazu Tomasek: Rätsel, S. 73–76. 69 Giuoco De’ Desideri : „Mi ricordo bene, che dicendo un giovane a questo giuoco: „Il mio desiderio sarebbe che la mia donna fosse indovina, acciò ch’ella sapesse per se stessa quello che io non ardisco di dirle“, gli fu da una donna risposto: „Egli è segno, che quello che vorreste dirle non è onesto, poiché temete di palesarlo.““ (S. 65). 70 „La même description s’applique à deux objets radicalement ditincts […] Ce mécanisme est fréquemment exploité dans les devinettes érotiques (dites encore „équivoques“). Le symbolisé majeur est l’acte sexuel, ou les organes sexuels de l’homme ou de la femme, etc. ; le symbolisé mineur, qui est la ‹ vraie › réponse, est un objet tout à fait innocent. Le devineur pense immanquablement au terme érotique et hésite à le nommer ; il en est pour ses frais en apprenant la réponse. On frôle ainsi l’interdit sans s’exposer au blâme qu’entraînerait sa transgression.“ Todorov: Devinette, S. 238. Giuoco 5 degl’Indovinelli : „Nel quale, acciò che maggior sia il diletto, sapete che si propongono dubbi in rima e che nel primo aspetto loro mostrino qualche cosa poco onesto di significare, acciò che maggiore il piacere poi si renda nel sentire che convenevol cosa e da quel che sonava lontana in sé contenevano“. Bargagli: Dialogo, S. 62.
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sung in Anführungszeichen setzt, dem Sexuellen den Status des „symbolisé majeur“ verleiht und das Vergnügen, das dieses Spiel den Teilnehmen bereitet, in der Ermöglichung einer verhüllten Transgression ersieht, identifiziert Bargagli im Gegenteil das Vergnügen (piacere) in der Enthüllung der „convenevole cosa“. Jedes Spiel verläuft laut Bargagli in drei Schritten: Proposition, Prozess bzw. Aktion und Befriedigung: „Il giuoco […] ha tre parti, proposizione, azzione o processo del gioco […] e sodisfazzione“ (S. 77). Die Befriedigung, die das Rätselspiel seinen Teilnehmern bringen soll, wird von Bargagli nicht erotisch, sondern zivilisatorisch begriffen und in den normativen Diskurs der onestà integriert. Vor dem Hintergrund der Rätseldefinition Bargaglis versteht man auch besser die oben zitierte Aussage von Angiolo Cenni im Vorwort zur seiner Sammlung. Diese dient nicht der Rechtfertigung des Autors angesichts der Obszönität seiner Rätsel, sondern der Beschreibung des Spielprozesses. Dabei geht es ihm weniger um die transgressiv-erotische Tendenz, sondern um die transformative im Dienst der onestà stehende Intention, die sich nicht im Rätseltext, sondern im Rätselspiel verwirklicht. Diese spezifische paradoxe Prozessualität des Rätselspiels sowie seine reintegrative Finalität sind im karnevalesken Diskurs verwurzelt und negativdidaktisch zu begreifen, also als extreme Hervorhebung dessen, wovor es zu warnen und wovon es sich zu trennen gilt. In der Vormoderne folgen der Logik der Negativdidaxe viele unterschiedliche sowohl performative als auch textuelle Formen der karnevalesken Kultur, die dazu dienen, über öbszöne und groteske körperliche und sprachliche Zurschaustellung der Sexualität das Publikum „vor den Gefahren der Liebesnarrheit zu warnen und […] dazu aufzufordern, den Prozess der Zivilisation an sich selbst zu vollziehen“.71 Der Gebrauch von emotional-transgressiven Rätseln im Rahmen der bürgerlichen Congrega/Accademia dei Rozzi sowie ihre Theoretisierung im Rahmen der aristokratischen Akademie der Intronati zeigt die Verankerung dieser literarischen Männervereinigungen in der karnevalesken Logik der Negativdidaxe. Dem Rätselspiel kommt somit ein besonderer Status innerhalb der aristokratischen Spielkultur des Cinquecento in ihrer zwischengeschlechtlichen Konfiguration zu. In allen „Liebesgesellschatsspielen [werden] die beiden Geschlechter nur als erotische Wesen thematisiert“.72 Die Mehrzahl dieser Liebesspiele erfüllen ihre zivilisatorische Funktion dadurch, dass sie das transgressive Begehren in die „dunkle Allegorie“ verhül-
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Röcke, Werner: Kap. Literarisierungen, in: „Arbeitsgruppe „Ritual“: Differenz und Alterität im Ritual, Eine interdisziplinäre Fallstudie.“ In: Paragrana, 13 (2004), H. 1, S. 212. 72 Schnell: Konversationskultur, S. 194.
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len, sublimieren und den fortschreitenden Prozess der Entschärfung von Spannungen zwischen den Geschlechtern in die Richtung einer harmonischen Idealgesellschaft in Gang setzen.73 Das Rätsel stellt im Gegenteil dazu die Transgressivität des Begehrens auf der Ebene des Signifi kanten schamlos zur Schau, um im Endeffekt dieselbe disziplinierende Funktion zu erfüllen. Das Rätselspiel warnt vor dem gefährlichen Signifikat und transformiert es im ritualsierten Spielprozess in ein anderes, gesellschaftlich annehmbares Signifikat. Die karnevalisierte Obszönität des Rätselspiels kann man somit mit Freiheit und Lizenz nicht abtun, allerdings kann man sie auch nicht auf die Negativdidaxe reduzieren.74 Da jede konkrete Rätselperformanz vor einer freien Interpretation des Publikums nicht geschützt ist, kann man vermuten, dass unabhängig von der diskursiven Intention der Enigmatographen und Spieltheoretiker des 16. Jahrhunderts die Zeitgenossen und vielleicht auch die Autoren selbst das ostentative Ausstellen sexuellen Begehrens genießen und an ihm nicht nur den Zivilisationsprozess, sondern auch dieses Begehren mimetisch vollziehen konnten.75 Zwischen der Spielpraxis der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, an die sich Bargagli in seinem Dialog erinnert, und der Spieltheorie, die er darauf aufbauend in der zweiten Jahrhunderthälfte formuliert, liegen einige Jahrzehnte. Symptomatisch für die historischen Veränderungen, die ich hier zu verfolgen versuche, ist die Abwesenheit von Beispielen des Rätselspiels im Dialogo, wobei andere Spiele exemplarisch in Szene gesetzt werden. „Qualcosa di poco onesto“ existiert für Bargagli im Unterschied
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Vgl. Muggheddu: Civile Conversazione. „In der neueren Forschung ist die Diskussion darüber, ob der Karneval des Mittelalters als Befreiung von moralischen oder sozialen Zwängen oder aber als Negativdidaxe zum Zwecke religiöser Ermahnung und Erbauung zu lesen sei, inzwischen beendet. An ihre Stelle ist die Einsicht getreten, dass die karnevaleske Kultur des MA deswegen besonders interessant ist, weil in ihren Spielformen Brüche und Spannungen der Gesellschaft, aber auch ihre Lösung sichtbar werden , die für den Bestand der städtischen Gemeinwesens von größter Bedeutung sind. Damit ist aber die Funktion der karnevalesken Spielformen gänzlich verändert: sie dienen weder der Überwindung moralischer Tabus, noch im Gegenteil der Einübung gläubiger Unterwerfung, sondern sie inszenieren Situationen, die als problematisch oder bedrohlich für Stadt und Dorf anzusehen sind, zeigen zugleich aber auch praktische Perspektiven, wie diesen Bedrohungen begegnet werden kann. Insofern liegt die Besonderheit der karnevalesken Festformen vor allem darin, dass sie die Brüche und Spannungen der Gesellschaft vorführen, im Vollzug des Spiels aber ausgleichen und überwinden. Dabei wirken die karnevalesken Festformen exklusiv und inklusiv zugleich“. Röcke, Werner: „Literarische Gegenwelten. Fastnachtsspiele und karnevaleske Festkultur.“ In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. [Hanser Sozialgeschichte der Literatur Bd.1]. Hg. v. Werner Röcke und Marina Münkler. München 2004, S. 420–445, hier S. 422. Vgl. Arbeitsgruppe „Ritual“: Differenz, S. 187- 249.
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zu Cenni nur in seiner persönlichen Erinnerung und wird in seinem Traktat dem Lesepublikum nicht präsentiert, sondern nur konzeptuell erfasst. Auch Scipione Bargagli, indem er eine Reihe von im Dialogo enthaltenen Spielen in Trattenimenti literarisch in Szene setzt (s. oben), verzichtet auf die Umsetzung in pratica der gefährlichen Rätseldefinition von seinem älteren Bruder. Es lässt sich also eine Diskrepanz zwischen dem karnevalesken Spielprozess und dem Zivilisationsprozess vermuten, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts spürbar wird. Die Frage, wie tatsächlich der Rätselspielprozess während der karnevalesken veglie abgelaufen ist, muss leider ohne Antwort bleiben. Eine andere Frage, und zwar, wie die Zeitgenossen Bargaglis diesen Prozess in der kurzen, aber durch signifi kante Verschiebungen markierten Zeitspanne von dem Moment, in dem der Akademiker seine Erinnerung an die Spielpraktiken situiert, also bis in die 50er Jahre, bis zum Moment, in dem er seine teorica in den 70er Jahren auf den Markt bringt, reflektiert haben, lässt sich an zwei literarischen Inszenierungen der giuochi di veglie erörtern, die solche erotisch-transgressiven Rätselspiele enthalten. 3. Literarisierungen der guiochi di veglia Die erste und bekannteste literarische Darstellung von einer aristokratischen riddling community gehört der Feder von Giovan Francesco Straparola und bildet den integralen Bestandteil seiner zweibändigen zwischen 1550 und 1553 in Venedig erschienenen Sammlung Le piacevoli notti. 76 Die darin enthaltenen favole interessieren die Forschung wesentlich mehr als die darin enthaltenen Rätsel.77 Unter dem Blickwinkel des Rätselspiels, das im Laufe der ganzen dreizehn karnevalesken Nächte in der Rahmenerzählung inszeniert wird, wurde dieser heterogene Text kaum betrachtet. Im 16. Jahrhundert genoss Straparola einen großen Erfolg und Le piacevoli notti sind in Italien zwischen 1550 (Editio princeps des ersten Teils) und 1613 nicht weniger als in 32 Ausgaben erschienen. Die Sammlung wurde in dieser Periode auch vollständig ins Französische und
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Der Text wird nach folgender Ausgabe zitiert: Giovan Francesco Straparola: Le piacevoli notti. Hg. v. Donato Pirovano, 2 Bde. Rom 2000 [zit. n. Seite]. 77 Straparolas Rätsel wurden von De Filippis nicht im Gesamtgefüge der Piacevoli notti, sondern als Einzelttexte in Bezug auf ihre Ursprünge und Einflüsse auf die europäische Rätseldichtung erforscht. Die öbszönen Texte wurden dabei nicht beachtet. Vgl. De Filippis, Michele: „Straparola’s riddles“. In: Italica, 24 (1947) H. 2, S. 134–146; De Filippis: „The Nights at home and abroad“. In: The literary riddle, Kap. III, S. 30–71.
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Spanische übertragen.78 Der Titel der spanischen Übersetzung – Honesto y agradable Entretenimiento de Damas y Galanes – erscheint besonders aussagekräftig vor dem Hintergrund der Zensur, der die Sammlung wenige Jahrzehnte später aufgrund ihrer Obszönität unterworfen wird und der nachfolgenden europäischen Rezeption Straparolas, deren Intensität im 17. Jahrhundert gewaltig sinkt. Die dargestellte ‚ehrenhafte‘ aristokratische Unterhaltung hat anscheinend die Schamgrenzen des Lesepublikums des 17. Jahrhunderts verletzt, was zur Ablehnung der ganzen Sammlung bzw. zur Ausgrenzung dieser Unterhaltung aus der Sammlung führte.79 Konzentriert man sich auf die spielerische Interaktion der „onesta compagnia“ (S. 242) in der cornice, so erkennt man in Le piacevoli notti einen Vorläufer bzw. eine embrionale Form der litterarischen Gattung der veglia, deren Entstehung die Forschung mit dem akademischen Umkreis von Bargagli verbindet und somit in einem späteren Abschnitt des 16. Jahrhunderts situiert. Diese Gattung konstituiert sich im Doppelbezug auf die soziale Realität der karnevalesken „giuochi di veglie“80 und auf zwei literarische Modelle des gesellschaftlichen Konversationsspiels, Decameron und Illibro del Cortegiano81. Entsprechend dieser Mischung der sozialen Realität und der literarischen Fiktion begegnen wir in Le Piacevoli notti einer gemischtgeschlechtlichen brigata, die sich aus Staparolas Zeitgenossen, vorwiegend Litera-
78 Der erste Teil der Piacevoli Notti wurde von Jean Louveau wortgetreu übersetzt und 1560 unter dem Titel Facetieuses Nuicts de Straparole in Lyon veröffentlicht. Der zweite Teil wurde viel freier von Pierre de Larivey übertragen und erschien erstmals 1572 in Lyon. Die spanische Übersetzung gehört Francisco Truchado. Vgl. dazu Senn, Doris: „Le Piacevoli notti (1550/1553) von Giovan Francesco Straparola, ihre italienischen Editionen und die spanische Übersetzung „Honesto y agradableEntretenimiento de damas y galanes“ (1569/81).“ In: Fabula 43 (1993) H. 1–2, S. 45–65. 79 An nachfolgenden Editionen und Übersetzungen kann man sehen, dass nicht das Rätselspiel, sondern in den meisten Fällen nur eine Auswahl von favole, herausgenommen aus der Rahmenerzählung, den Leser erreicht. Vgl. Ebd. 80 Diese Spiele wurden sowohl von den aristokratischen Akademien („honesti intrattenimenti comunemente ne la città die Siena giuochi da veggie addimantate“, Scipione Bargagli: Lodi delle Academie, 1569) als auch von bürgerlichen literarischen Vereinigungen wie die Rozzi in der Karnevalszeit („ne’tempi carnevaleschi, a giuochi di veglie“) für die Damen und Mädchen veranstaltet. Zit nach Riccò, Laura: „L’invenzione del genere „Veglie di Siena“.“ In: Passare il tempo. Le letteratura del gioco e dell’ intrattenimento dal XII al XVI secolo. Atti di Convegno di Pienza 10–14 settembre 1991. Hg. v. Enrico Malato. Roma 1993, S. 373–398, hier S. 373, S. 383. 81 Am besten durch die Intrattenimenti von Scipione Bargagli illustriert, ist dieses Gattungsmodell auch in Cento giuochi liberali et d’ ingegno von Innocenzio Ringieri (1551), Giuoco piacevole von Ascanio de’Mori (1575), Civile Conversazione von Stefano Guazzo (1574), Piazza universale von Garzoni (1586) und einer Reihe von anderen Texten der Epoche auf unterschiedliche Weisen spürbar. Vgl. Ricco: Invenzione del genere, S. 373– 398. Vgl. dazu auch Mugheddu: Die civile conversazione.
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ten (Pietro Bembo, Benedetto Trevisano, Bernardo Cappella, Antonio Burchiella) und fiktionalen zeichenhaften Mädchenfiguren zusammensetzt, die nur aus zwei für das Spiel relevanten Facetten bestehen, Schönheit und Tugend. Die Entstehung der brigata an einem abgesonderten Ort, im Palazzo auf der Insel Murano, der zum locus amoenus stilisiert wird, ist in der historischen Realität der Flucht von Ottaviano Maria Sforza und seiner Tochter Lucrezia von Milan verwurzelt und evoziert gleichzeitig den orrido cominciamento Boccaccios.82 Die harmonisch wirkende onesta compagnia versammelt sich zum Zeitvertreib und Spiel83 während der karnevalesken Periode der giocchi di veglia, die, laut Bargagli, ohne Frauen unvorstellbar, weil reizlos wären.84 Wie es für verschiedene Formen der spielerischen Konversationskultur der Zeit festgestellt wurde, erfolgt auch Straparolas Spiel „im Zeichen des Weiblichen“.85 Dieser Aspekt scheint aber von vorneherein bei unserem Autor etwas überspitzt zu sein, wenn man seine literarische Strategie vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer und literarischer brigate des Conquecento betrachtet. Um es mit Muggheddù zu formulieren, übernimmt die Frau, in unserem Fall Madonna Lucrezia, die zu signora del gioco wird, „eine kulturelle Führungsrolle“ nicht nur „indem sie die Spielregeln festlegt“,86 sondern auch indem sie die Männer – angesehene Literaten – im literarischen Gesprächspiel kaum zu Wort kommen lässt, sondern alle Rollen zwischen Mädchen verteilt.87 Denn nicht nur werden die Rätsel von Mädchen gestellt, sondern auch ihre Lösungen werden in den meisten Fällen von denselben bzw. anderen Mädchen gegeben. Den Männern kommt (mit wenigen okkasionellen Ausnahmen aus dieser für alle dreizehn Nächte geltenden Regel) eine passive Rolle der Zuhörer und Kommentierenden zu. Vor dem Hintergrund der Traktate von Castiglione 82 Vgl. Cottino-Jones, Marga: Il dir novellando: modello e deviazioni. Roma 1994. S. 21, S. 32–33, S. 136–144. 83 Ich erlaube mir hier, die narrativen Aspekte des Gesellschaftspiels (das bei Bargagli als „giocco del novellare“ bezeichnet wird, vgl. Bargagli: Dialogo, S. 71), die für meine Fragestellung nicht relevant sind, auzublenden und die spielerischen Bezüge, die dabei zwischen favole und Rätseln entstehen, nicht zu betrachten. 84 „Onde fra’ piú ingegnosi e dotti uomini del mondo, se non vi si ritrovasser donne, non si farebbe mai altro che giuochi sciapiti e insipidi, e fra donne e uomini ancora, dove non sia qualche scintilla d’onesto ardore, i giuochi con freddezza e con malinconia passeran sempre.“ Bargagli: Dialogo, S. 104. 85 Vgl. Mugheddu, S. 290. 86 Ebd. 87 „La Signora, vedendo esserle tal carico imposto, rivoltasi verso la grata compagnia, disse: […] io per me vorrei che ogni sera, insino a tanto che durerà il carnesale […] ciascheduna de cinque damigelle a cui verrà la sorte debba qualche favola raccontare, ponendole nel fine uno enimma da essere da tutti noi sottilissimamente risolto; e ispediti tai ragionamenti ciascuno di voi se ne anderà alle loro case a posare.“ (S. 11.).
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und Bargagli, die nie so weit in ihrer Philogynie gehen würden, um auf die aktive Rolle des Mannes im Konsversationsspiel zu verzichten,88 erscheint diese Rollenverteilung als Inversion des Genderverhältnisses. Welche Funktion diese Inversion für den literarischen Spielprozess hat, werde ich im Folgenden an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Zur aktiven Rolle im Spiel werden bei Straparola ausgerechnet diejenigen weiblichen Wesen aufgefordert, die in der Kultur der Vormoderne am meisten mit der Schamhaftigkeit – verecundia – assoziiert werden, d. h. die unverheirateten jungen Mädchen (damigelle). Indem sie die führende Rolle übernehmen, verlieren sie diese weibliche Eigenschaft nicht, sondern demonstrieren ihre Schamhaftigkeit im Gegenteil an unterschiedlichen Etappen des Spiels, angefangen von dem Moment der Aufforderung zum Sprechen durch die Signora. Diese Aufforderung wird durch das Errören markiert und projiziert die Schamröte auf die darauffolgende Rede als Zeichen ihrer Tugendhaftigkeit: 89 „Arianna […] vergognosamente cosí incominciò“ (S. 177); „Eritrea […] arrossita come matutina rosa […] così incominciò“ (S. 232). Der processo del giocco bei Straparola zeigt folgende Dynamik: Die Rätsel, die während der ersten Nacht gestellt werden, beinhalten keine erotischen Anspielungen, weswegen das Spiel sich zunächst als eine geistreichwitzige intellektuelle Unterhaltung entwickelt. Erst gegen das Ende der zweiten Nacht, nachdem dem Leser genügend Beispiele der harmonischen intellektuellen Rätselinteraktion innerhalb der „ingeniosa compagnia“ (S. 61) vorgeführt wurden, kommt es zum ersten erotisch-transgressiven Ausbruch. Das Rätsel wird von Vicenza gestellt, die im Proemio als ein Mädchen präsentiert wird, das die guten Manieren kennt und sich zu verhalten weiß.90 Ihre Rezitation entfaltet sich aber als eine äußerst schamlose Beschreibung eines Dings („cosa“), in der jeder die weiblichen Genitalien, in actu vorgeführt, nicht nur erkennen kann, sondern auch muss. Dabei tritt das Mädchen aus ihrer Rolle der Schamhaften nicht heraus, son-
88 „Dem weiblichen Geschlecht bleibt dabei […] nur eine marginale Rolle, doch entscheident ist, dass sich das Reden der Männer vor und unter den Augen von Frauen vollzieht und deshalb bestimmten Regeln unterworfen ist“. Mughedu: Civile Conversazione, S. 293. 89 „If over the past two millennia one particular class of people has conventually embodied modest speech in western Europe, that class has been young women and especially young virgins. One common measure of the propriety or impropriety of a given word or topic has been to see if it brings a blush to the cheeks of an innocent girl.“ Ziolkovski, Jan M.: „The obscenities of old women. Vetularity and vernacularity.“ In: Obscenity. Social control and artistic creation in the European Middle Ages. Hg. v. Jan M. Ziolkowski. Leiden u.a .1998, S. 73–89. hier S. 74. 90 „Vicenza, di costumi lodevoli, bella di forma e di maniera accorta“ (S. 7).
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dern drückt verbal das Schamgefühl aus, das mit dem Entblößen dieses Körperteils in der Öffentlichkeit bzw. dem Aussprechen seines Namens verbunden ist: Mi vergogno di dir qual nome m’abbia sí son aspra al toccar, rozza al vedere Gran bocca ho senza denti o rosse labbia, negro d’intorno e più presso al sedere; l’ardor spesso mi mette entro tal rabbia, che fammi gittar spuma a piú potere. Certo son cosa sol da vil fantesca Ch’ognun a suo piacer dentro mi pesca. (S. 160–161)
Die ganze weitere Darstellung des Spiels zeigt, dass es der Gesellschaft und Straparola, der sie in Szene setzt, nicht um die Lösung im intellektuellen und auch nicht um das Lösen im agonalen Sinne geht, sondern nur um die Frage, wie man gesellschaftlich mit der sexuellen Grenzüberschreitung umgeht. Die Scham spielt eine zentrale Rolle in dieser Szene und zeigt ihre verschiedene Facetten und Funktionen, zugleich als Medium der erotischen und der sozialen Verhandlung der Grenzen: – Die Rätselaussage löst bei anwesenden Frauen die Scham und bei den Männern das Lachen aus. Wenn die Männer lachen, tun sie das vor allem, weil die anwesenden Frauen sich spektakulär schämen, indem sie ihre Köpfe im Schoß vestecken. Indem sich die Frauen schämen, ziehen sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich und lächeln ihnen verdeckt zu.91 Auf diesem Wege wird die Grenze zwischen Mann und Frau überschritten und die erotische Vereinigung verwirklicht sich substitutiv im Zusammenspiel der Affekte: Scham und Lachen.92 Zugleich findet hier diejenige zivilisierte Art von Geschlechterkommunikation statt, von der Castiglione und Bargagli träumen: Es sind nicht die Männer, die parole sporche ausgesprochen haben, um das Frauenpublikum zu schockieren. Deswegen zeigt die Signora in ihrer „kulturellen Führungsrolle“ Respekt gegenüber den gentiluomini.93 Aus demselben Grund lehnen die Mädchen die Unzüchtigkeiten nicht ab,
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„Non si potevano gli uomini dalle risa astenere, quando videro le donne ponersi il capo in grembo e sorridere alquanto.“ (S. 160) 92 Der unmittelbare Effekt der Rätselaussage, die „wie eine Entblößung der sexuell differenten Person“ fungiert und sich damit kaum von der Zote unterscheidet, auf die beiden Geschlechter ist mit Freud als „Lustgewinn“ zu verstehen. Während das männliche Lachen wie eine indirekte sexuelle Aggression agiert und die sexuelle Erregung zum Ausdruck bringt, ist die weibliche Scham „nur als eine Reaktion gegen ihre Erregung und auf diesem Umwege als Eingeständnis derselben“ zu verstehen. Freud: Witz, S. 110–111. 93 „rispetto a questi gentigluomini“ (S. 160).
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sondern nehmen das nonverbale männliche Kommunikationsangebot an, indem sie sich der angesagten Strategien der mediocrità difficile bedienen: Scham und zuneigendes, aber diszipliniertes Lächeln.94 Innerhalb des zivilisierten Rahmens der Geschlechterkommunikation haben die Männer, die nicht durch das Schild der Schamhaftigkeit gegen Öbszönitätsverdacht geschützt sind, keine andere Möglichkeit, erotische Inhalte zum Ausdruck zu bringen, als über eine indirekte metaphorisch-allusive Rede. Ein aussagekräftiges Beispiel liefert an einer anderen Stelle der Piacevoli notti die Kaskade von Metaphern und Sprachspielen, über die Pietro Bembo versucht, die sexuelle Lösung eines ähnlich schamlosen Rätsels (in dem die männlichen Genitalien ausgestellt werden), zu formulieren und damit auch die Frau, die das Rätsel stellt, erotisch zu affizieren. Diese suggerierte Lösung erweist sich im Spielprozess als falsch und in der richtigen, von der Frau gegebenen Lösung werden die männlichen Genitalien zu einer unschuldigen Kerze.95 Die Benutzung von Frauenfiguren als Rätselstellerinnen im Text kann hier als narratives Mittel begriffen werden, das literarische Rätselspiel erotisch aufzuladen, wobei die weibliche Scham als Verhüllungstrategie der erotischen Grenzüberschreitung benutzt wird. Im zweiten Stadium des Spiels geht es in unserem Beispiel wie in allen anderen von Straparola dargestellten Szenen des Rätselspiels, in denen die Schamgrenzen berührt werden, weniger um die erotisch besetzte Grenze zwischen Mann und Frau, sondern um die soziale Verhandlung der Grenze zwischen onestà und disonestà für die ganze Gemeinschaft.96 Die weibliche Scham wird hier zum performativen
94 In dieser Interaktion kann man ein Anfagsstadium der „Verdrängungsarbeit der Kultur“ ersehen, einen Prozess, den Freud an der Entwicklung der Zote in den obszönen Witz veranschaulicht. Vgl. Freud: Der Witz, S. 110–116. 95 „Il vostro enigma, signora Eritrea, alstro significa che dar l’anima al diavolo, ma vardate che non si metta il diavolo nell’inferno [sexuelle Metapher], perche s’abbruscerà – disse il Bembo. –Io non ho paura – rispose Eritrea – perciocché il mio enigma nin è di quella maniera che voi pensate.“ (S. 658). 96 „Ma la signora, a cui l’onestá molto piú che la disonestá aggradiva, guattò con rigido e turbato viso Vicenza e dissele : – Se io non avesse rispetto a questi gentiluomini, io ti farei conoscere quello che importa il sozzo e disonesto dire […] Vicenza, tutta arrossita come mattutina rosa e vedendosi sÍ sconciamente improperare, […] rispose: – Signora mia, se io avesse detto parola veruna che offendesse l’orecchie vostre e di queste onestissime madonne, io veramente sarei degna non pur di riprensione, ma di apro castigo. Ma perché le parole mie sono state semplici e pure, non meritano questa acra riprensione. E che questo sia il vero, la interpretazione dell’enimma, malamente da voi inteso e considerato. Dimostrerà la innocenza mia. Lo enimma dunque altro non significa, eccetto che la pentola, che d’ogn’intorno è nera, e dal fuoco fieramente riscaldata bolle e gitta d’ogni parte la spuma. Ella ha la bocca grande ede senza denti e tutto ciò che dentro se
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Operator der Wiederherstellung der sozialen Ordnung. Von der Signora der Schamlosigkeit beschuldigt, errötet Vicenza, nicht im Zeichen der Anerkennung ihrer Schuld, sondern weil ihre unantastbare Tugend durch den schlimmen Verdacht verletzt wird. Ihre Scham ist schön wie die Morgenröte. Das Bild eines tugendhaften errötenden Mädchens ist mit Unzüchtigkeit in der Rede nicht zu vereinbaren, deswegen wird auch ihre „onesta interpretazione“ des Rätsels von allen Spielteilnehmern enthusiastisch angenommen. Wenn die Verbalisierung der Lösung die obszöne weibliche „cosa“ in einen sozial annehmbaren Kochtopf verwandelt, verwandelt das tugendhafte Erröten der Rätselstellerin sowie das kollektive Beschämen der Signora für ihr falsches Urteil die dishonestà in onestà. Die harmonische Gemeinschaft, deren Fundament die onestà bildet, die das transgressive Rätsel in Frage gestellt hat, wird zur Freude aller Beteiligten wiederhergestellt, indem die „cosa“ disambiguiert wird. Das karnevaleske Rätselspiel der onesta compagnia lässt sich somit nicht als zeitweises Aufheben von Schamgrenzen und Befreiung von alltäglichen Zwängen simplifizierend begreifen. Mit Don Handelman, der die Parallellen zwischen Rätsel und Ritual ausgearbeitet hat,97 lässt sich die Affinität zwischen der liminalen Gattung des Rätsels und der liminalen Karnevalsperiode im Jahreszyklus über die spezifische rituelle Prozessualität und ihren gesellschaftlichen Effekt begreifen. Das Rätsel als sprachliche Struktur enthält in sich die Grenze als Paradox oder Widerspruch98 (in unserem Fall sind es onestà und disonestá), die aber im Spielprozess aufgelößt werden. Als Frage, die in sich die Anwort enthält,99 ist das Rätsel damit auch eine intentionale Struktur.100 Ist das Rätsel durch die Möglichkeit unterschiedlicher Lösungen gekennzeichnet, wird es im Spielprozess zum „device […] for cultural exploration and innovation“.101 Der Ausgang dieses Prozesses führt aber immer zu einer Disambiguierung.102 Die Rätsel-
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glipone abbraccia e ohni vil fantesca dentro vi peasca, quando si ministrano le vivande […].“(S. 160–161). Vgl. Handelman, Don: „Traps of Trans-formation: theoretical convergences between riddle and ritual.“ In: Untying the knot. On riddles and other enigmatic modes. Hg. v. Galit Hasan-Rokem und David Shulman. New York, Oxford 1996, S. 37–61. Vgl dazu Todorov: Devinette, bei dem diese Struktur aus linguistischer Sicht deutlicher ausgearbeitet ist, als bei Handelman. „The riddle image is a question which contains the answer.“ Köngäs-Maranda: The logic of riddles, S. 192. „The riddle image is an interrogative that contains its own goal.“ Handelman: Traps, S. 42. Ebd., S. 54. „device for exploration and disambiguiation“. Ebd., S. 54.
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interaktion stellt sich somit als ein performativer Transformationsprozess, der zwar an einem vom Alltag abgehobenen Spielort stattfindet, wo nur die Spielregeln gelten, damit aber zum „experiential, reflexive device“ des Übergangs zur neuen kulturellen Ordnung der onestà werden kann.103 Dieser Übergang wird bei Straparola in der interpretativ-rechtfertigenden Rede Vicenzas auch dadurch indiziert, dass sie im konjunktiven Modus mit einer negativen Konzeption ihres eigenen Verhaltens operiert, das eine harte soziale Strafe verdienen würde, hätte es sich tatsächlich als schamlos („disonesto“) erwiesen. Somit wird das disziplinierende performative Potential des Rätselspiels im literarischen Text negativdidaktisch aufgenommen und in Begriffen diskursiviert, die in die Richtung des strafrechtlichen Verfahrens hinweisen, wie „riprensione“ und „apro castigo“. Mit Handelman kann man auch den redundanten Charakter der Rätselinteraktion bei Straparola als eine iterativ-rituelle Handlung verstehen, die die onestà in jeder einzelnen Rätselinteraktion performativ herstellt, dabei aber keine lineare Entwicklung der riddling community in die Richtung der honestà im Laufe der dreizehn Nächte mit sich bringt. Laut Handelman hat die Transformation, die ein Rätsel ermöglicht, im Unterschied zum Ritual der trans-formation keinen kumulativen langhaltigen Effekt für die Spielteilnehmer,104 sondern muss immer wieder interaktiv hergestellt werden. Dazu dienen unzählige dramatische Schamszenen bei Straparola, die nicht nur von der onesta compagnia, sondern auch vom Leser „Besitz ergreifen.“ Den „Zivilisationsprozess“, der sich im Spielprozess abspielt, muss der Leser immer wieder an sich selbst mimetisch nachvollziehen. Straparola arrangiert aber sein Rätselspiel mit dem Leser auf eine listige Weise. Nicht alle im Text verstreuten Rätselaussagen sind obszön und nicht alle obszönen Rätselsaussagen führen zu den Schamszenen in den Inszenierungen des gesellschaftlichen Spiels. In einem Moment des Spiels lässt sich die Signora durch die Tugendhaftigkeit der errötenden Frauen überzeugen und erlaubt, den Mädchen alles zu sagen, was sie wollen.105 Die Eliassche These der Transformation des Fremdzwangs in Selbstzwang scheint hier zu gewinnen. Aber der Text erlaubt es nicht, irgendeine Evolution im Verhalten der Rätselstellerinnen festzustellen und auch die Rede103 „First, riddles may have performative, rehearsal functions, socializing their users into the logics of trans-formation that also informs certain rituals. Second, related to this, such riddles simulate the turning of paradox (and its function of boundary maintenance) into more linear relationship of cause and effect. Third, within ritual, such riddles may act on the participants as experiential, reflexive devices, either to remind them of processes at work elswhere...“ Ebd., S. 51. 104 Ebd, S. 50. 105 „La signora, udita e intesa l’ottima interpretazione del ridicoloso enigma, s’acquetò e concesse che ciascaduna dicesse quello le paresse senza aspettare ripressione alcuna.“(S. 451.).
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lizenz hat keine Kraft, denn die Signora hört nicht auf, sich zu empören. Im Kontext der folgenden obszönen Rätseltexte, die keine Schamreaktion bei den Spielteilnehmern auslösen, wird die Erlaubnis der Signora doppeldeutig und der Text wirkt verwirrend. Der Leser gerät an vielen Textstellen in eine schwierige Situation. Das Ausbleiben der Schamreaktion wird hier zu einer literarischen Strategie, die eine aktive Partizipation des Lesers erfordert und eine performative Lektüre in Gang setzt. Der Leser soll selbst spüren und entscheiden, ob das Rätsel die Schamgrenzen überschreitet oder nicht. Damit kann er die Scham als Verhaltensregulativ in sich selbst bei der Lektüre einüben und somit den Übergang zur onestà performativ vollziehen. Es lässt sich also vermuten, dass die literarische Inszenierung Straparolas in der kurzen Zeit ihres großen Erfolgs für seine Zeitgenossen nicht im absoluten Sinne transgressiv war. Die Beliebtheit dieses Buchs sowie die Beliebtheit des Rätsels in der Gesellschaft auf dem Wege zur Selbstdisziplin kann man aus der besonderen Leistung dieses anscheinend schamlosen Spiels in der Auseinandersetzung mit der onestà als leitendem Begriff der noch nicht festen, sondern auszuarbeitenden kulturellen Ordnung erklären. Es lässt sich schwer sagen, ob die Effekte der in den oberen Gesellschaftsschichten verlaufenden Disziplinierungsprozesse oder der Sieg der Kirche in ihrem langen Kampf gegen die karnevaleske Kultur zur Ausgrenzung des erotischen Rätsels aus der offiziellen gesellschaftlichen und literarischen Kommunikation geführt haben. Auf jeden Fall gerät Straparola 1605 auf den Index librorum prohibitorum und wird dort von einem Enigmatographen aus einem späteren Zeitabschnitt gefolgt, den De Filippis als „simply unprintable today“ bezeichnet, Tommaso Stigliani (1545–1625).106 Niemand in dieser Zeit, höchstwahrscheinlich auch nicht der Autor selbst, glaubt an seine Verteidigungsrede angesichts der Beschuldigung der „poca onestá“, die seine Rime 1605 begleitet.107 Zwar erkennt man in seinem Versuch, zu erklären, dass seine Verse nur scheinen, obszön zu sein, es aber nicht sind, die Spuren des karnevalesken Rätseldiskurses, der bei Cenni, Straparola und Bargagli noch lebendig ist, aber man erkennt auch den obsoleten Charakter dieses Diskurses. Die Evozie-
106 De Filippis: The literary riddle, S. 15, S. 17. 107 „[…] perciocché alcuni danneranno la collocazione de’ componimenti burlevoli fra i gravi, ed altri la poca onestà. Ai primi ella risponderà, che essendo la poesia lirica capace di tutti i suggetti, viene per conseguenza a essere capace di tutti gli stili. Ai secondi dirà che poema scostumato è quello in cui l’interna elezzione dello autore si conosce viziosa, ma nel vero sentimento degli enimmi e delle altre composizioni essa non si conosce tale“. Rime… distinte in otto libri…, Venezia, G. B. Ciotti, 1605, S. 229–230.
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rung des performativen Spielprozesses wird zu einem rhetorischen Topos, angewandt nicht nur an der liminalen Gattung des Rätsels, sondern auch an alle in der Sammlung enthaltenen poetischen Gattungen. Deswegen werden 1623 auch nur sieben moralisch unanfechtbare Rätsel in die neue Ausgabe seiner Rime aufgenommen.108 Wie es De Filippis zeigt, wird die Rätseldichtung seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit Girolamo Musici, Ascanio De Mori, Giulio Cesare Croce und anderen Enigmatographen, die sich zwar von ihren Vorgängern inspirieren lassen, immer dezenter. Dieser Prozess der Rätseldisziplinierung spielt sich auch in vielen anonymen Rätselsammlungen ab.109 Welchen Platz das erotische Rätsel in der Gesellschaft im letzten Drittel des Jahrhunderts haben kann, welche Funktion es erfüllt und wie es in den akademisch-aristokratischen Spielräumen beurteilt wird, kann an einer weiteren literarischen Inszenierung von giuochi di veglie veranschaulicht werden, dem Giuoco piacevole von Ascanio de Mori (1575).110 Der Autor, Mitglied der literarischen Akademie der Invaghiti und am Hof der Gonzaga in Mantua lange Jahre in unterschiedlichen Funktionen tätig, beschreibt die Unterhaltung einer raffinierten Gesellschaft, die sich aus Mitgliedern seiner Akademie und aristokratischen Damen zusammensetzt. Die Gesellschaft versammelt sich in der letzten Karnevalsnacht 1566 im Palazzo der signora Beatrice Gambara in Brescia, die zur signora del Giuoco piacevole wird. Im Rahmen dieser literarischen veglia werden zwei Gesellschaftsspiele aus dem Thesaurus Bargaglis in Szene gesetzt, Giuoco dell’Osteria o vero delle lettere und Giuoco degl’Indovinelli.111 Dieser Text wird mich hier nur kurz in Bezug auf quantitative und qualitative Veränderungen beschäftigen, die im Rätselspiel im Vergleich mit Le Piacevoli notti festzustellen sind. Die literarische Darstellung dieser Unterhaltungsart ist durch die Entwicklungstendenz geprägt, die Mugheddu generell für die galanten Gesprächspiele feststellt und folgendermaßen formuliert: „Das literarische Wort hat die Oberhand über den eros.[…]. Die unterschwelligen Konflikte zwischen den Geschlechtern haben sich zu manie-
108 Stigliani, Tommaso: Il Canzoniero…, dato in luce da Francesco Balducci, distinto in otto libri…, purgato, accresciuto e riformato dall’autore stesso., Roma, per l’erede di B. Zanetti, 1623. Vgl. Dazu Rossi: Enigmistica, S. 91–92. 109 De Flippis: The Literary riddle, S. 72–135. 110 Ich beziehe mich auf folgende Ausgabe: de’ Mori, Ascanio: Giuoco piacevole. Hg. v. Maria Giovanna Sanjust. Roma 1988 [zit. n. Seite]. 111 Für die detaillerte Analysen dieses Textes vgl Sanjust, Maria Giovanna. „Introduzione“. In: de’Mori Ascanio: Giuoco; sowie Dies. „Il „gioco giocato“ die Ascanio de’ Mori da Ceno“. In: Passare il Tempo. La letteratura del gioco e dell’ intrattenimento dal XII al XVI secolo. Bd. 2, S. 769–776.
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rierten Formen kristallisiert, gewissermassen sterilisiert“.112 Jede Spur von Obszönität verschwindet aus den Rätselaussagen, die De’ Mori sowohl den Frauen- als auch den Männerfiguren zuordnet. Wir finden nur eine Stelle, an der das Rätsel aus moralischer Sicht als fragwürdig erscheint113 und die Schamgrenze in Erscheinung tritt. Sie tut es aber im Medium des doppelten Schweigens: wir wissen, dass die Frauen bei diesem Spiel anwesend sind, aber sie schweigen und Erzähler thematisiert dieses Schweigen nicht. Die ganze verbale Rätselinteraktion, die sich vor den Frauen vollzieht, geschieht zwischen den Männern. Von Signor Tranquillo vorgetragen, ruft das Rätzel witzige Männerkommentare hervor.114 Da die Frauen schweigen, muss signor Tranquillo die unschuldige Interpretation seines Rätsels – Schwimmer im Wasser – selbst geben und noch dazu den schlechten Geschmack („cosi guasto il gusto“, S. 154) seiner Männerfreunde tadeln. Damit setzt diese einzige im ganzen Buch vorhandene Inszenierung der Überschreitung die Grenzen der galanten Geschlechterkommunikation fest, indem sie deutlich macht, dass die erotischen Rätsel, die Frauen zu ihrem Objekt haben, die aristokratischen Männer nur unter sich genießen dürfen. Sie gehören nun in den Bereich des Männlichen nicht im Sinne der liebeswerbenden obszönen Performanz der Rätselsprache im Rahmen der spätmittelalterlichen veillée, als die jungen Männer die Frauen direkt angesprochen haben, sondern in den Bereich des Männerwitzes, der sich hinter für die Frauen geschlossenen Türen vollzieht.115
112 Mugheddu: Civile conversazione, S. 306–307. 113 Vgl. De Filippis: The literary riddle, S. 91, Sanjust: Introduzione, S. 32. 114 Ma non v’incresca d’ascoltare ancora il mio enimma: D’una nuda nel sen nudo mi metto e tutto pien d’ardor io me l’abbraccio, e mi prendo di lei tanto diletto che seco poù d’un tratto me ne giaccio, bench’al partir la schiena, il ventre, il petto, e stanca e molle e freddo come ghiaccio spesso m’avisin con mio grave danno ch’egl’è breve il piacer, lungo l’affanno. […] Questo – disse il signor Orsino – era per aventura il pensiero che occupava il signor Tranquillo. Ben gli doveva parere in efetto d’essere così abbracciato con una nuda ch’ha detto, come n’ha caldo l’animo. (S. 153–154) 115 Vgl. zu Obszönitäten unter Männern Schnell: Männer, 398–403.
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V. Abschied vom schamlosen Androgyn und präziöses Rätselspiel Die französische Konversationskultur des präziösen Salons in ihrer Auffassung der gestreich-witzigen Unterhaltung, die ohne Frauen unvorstellbar ist und in der die Frauen die kulturelle Führungsrolle überhehmen, schließt an die italienische Gesprächsspielkultur des 16. Jahrhunderts „nahtlos“ an.116 Als neues literarisches Gesellschaftspiel, wird das Rätsel im Februar 1638 vom damals noch jungen abbé Cotin, zukünftigen Mitglied der Académie Française, im Hôtel Rambouillet eingeführt. Die neue Mode verbreitet sich genau so schnell wie andere literarische Spiele (rondeau oder métamorphoses) in vielen ruelles der französischen Hauptstadt.117 Der gelehrte Charles Cotin ist sehr gut über die ganze Tradition des literarischen Rätsels von der Antike bis zu den italienischen Enigmatographen des 16. Jahrhunderts informiert.118 Die italienischen Rätsel sind ihm nicht nur im Original zugänglich, sondern liegen auch in vielen Übersetzungen vor. Unter den italienischen Namen, die auf diesem Wege die Sprachgrenzen überschritten haben, muss an der ersten Stelle Straparola erwähnt werden, wegen des Erfolgs der Facétieuses Nuits119 und auch wegen der Diffusion seiner Rätsel im Rahmen anderer Sammlungen, wie etwa in Cinquante Aenigmes françoises von Alexandre Sylvain (Paris 1582). Wenn der esprit grivois von Pierre de Larivey 1572 den Obszönitätsgrad bei der Übersetzung nur erhöht,120 verhüllt Sylvain die obszönen Rätsel in seiner Widmung an „Royne Elisabeth Doüairiere de France“. Zwar gibt er (anscheinend nur theoretisch) zu, dass die Rätsel von der Spannung zwischen „apparence lascive ou deshonneste“ und einer „ganz anderen Bedeutung“ leben, will er es als Mann, der im Medium der Widmung mit einer aristokratischen Frau in die Rätselinteraktion tritt, vermeiden, dass
116 Schnell: Einführung, S. 16. 117 Vgl. Vuilleumier-Laurens, Florence: „Introduction. La poétique de l’énigme.“ In: Cotin, Charles: Les énigmes de ce temps. Texte établi, présenté et anoté par Florence VuilleumierLaurens. Paris 2003, S. IX–X. 118 Vgl. Cotin, Charles: „Discours sur les enigmes.“ In: Ders.: Lés énigmes de ce temps. Hg. v. Florence Vuilleumier-Laurens. Paris, 2003, S.15–29. 119 Vgl. Jeannet, Paul: „Préface“. In: Les facétieuses nuits de Straparole. Traduites par Jean Louveau et Pierre de Larivey, Paris 1858, Bd. 1. S. XII. 120 Ughetti, Dante: „Larivey traduttore delle «Piacevoli notti» di Straparola.“ In: La nouvelle française à la Renaissance. Hg. v. Lionello Sozzi mit Einführung v. V.L. Saulnier. Genève 1981, S.481–504, hier. S. 502.
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sie bei der Lektüre erröten muss.121 In der Tat entsprechen aber viele Rätsel Sylvains, insbesondere diejenigen, die im spanischen Gewand im zweiten Teil der Sammlung auftreten, der traditionellen karnevalesken Auffassung des erotischen Rätsels.122 Der Zweck Cotins besteht darin, das Rätsel in die gesellschaftlichen Rituale der französischen Salonkultur einzubetten, in der die Frau herrscht und an die Ästhetik der Galanterie anzupassen, die sich in dieser Zeit in einer ganzen Reihe von spielerisch-literarischen Gattungen verbreitet. Als Material hat er aber entweder gelehrte Rätselformen, deren Obskurität für die spielerische Salonkommunikation nicht geeignet ist, oder karnevaleske Rätsel mit doppelter Lösung, die aus einem anderen Grund sich für die Versammlungen nicht eignen, deren „besten und illustren Teil die Frauen bilden“: sie sind obszön.123 Damit das Rätsel zum Medium des distanzierten und intellektualisierten „badinage amoureux“124 werden kann, benutzt er, wie sein Discours sur les enigmes zeigt, zwei Intrumente: Die Desambiguierung und die Scham. Die italienische Rätseldichtung ist die unmittelbare Quelle seiner Rätselsonette, Cotin schätzt sie und will sich nur von ihren sozusagen parties honteuses trennen. Diese Trennung erfolgt auf dem Wege der Beschämung des Spielprozesses, der das Rätsel mit doppelter Lösung kennzeichnet. Die sexuelle Lösung, in der Invektive Cotins durch die Figur des hässlichen und schamlosen Androgyns emblematisiert, wird verjagt und das Rätsel in seiner gereinigten Form in die galante Unterhaltung integriert.125 Diese Beschämung erfolgt aus weibli121 „Je n’ignore pas que plusieurs estiment que La beauté des AEnigmes consiste en ce qu’en apparence elle soit lascive ou deshonneste, et que la signification soit tout autre : Mais je sçay qu’aux yeux clairvoyans et aux tres-chastes aureilles de vostre Magesté, ne se doibt presenter chose aucune que les Princesses, et toutes personnes tres-chastes ne peussent oüyr et lire sans rougir.“ Cinquante aenigmes françoises, d’Alexandre Sylvain, avec les expositions d’icelles. Ensemble quelques aenigmes espagnolles dudict Autheur, et dautres. Le tout dédié à la Royne Elisabeth, Doüairiere de France. À Paris, Chez Gilles Beys, MDLXXXII, S.4. 122 Vgl. McGrady, Donald: „Notas sobre el enigma eròtico, con especial referencia a Los cuarenta enigmas en lengua española“. In: Criticon 27 (1984), S. 71–108. 123 „ […] des assemblées, dont les Dames sont souvent la plus belle et la plus illustre partie“. Cotin: Discours, S. 26. 124 Vgl. Vuilleumier-Laurens: Introduction, S.XXXIX. 125 „Il me semble que le Poëte doit principalement s’estudier à laisser de belles images et ne pas faire comme ceux qui ont représenté leurs sujets d’Enigme sous des fi gures si infames et si honteuses, que l’imagination en est d’abord infectée. Les premieres impressions sont violentes, soit pour le bien, soit pour le mal : et bien que l’on reconnoisse apres, que si le discours de ces Poètes estoit lascif, leur pensée ne l’estoit pas, on a toujours de la peine à s’en pouvoir purifier ; et si l’ame n’en est corrompue, au moins elle en est altérée. Ce qui soit dit en passant contre ces expeces d’allegories, dont quelques faiseurs de vers de-là les monts violent la dignité de la langue. […] C’est une stérilité et une honte de n’avoir eternellement qu’une sale façon de s’exprimer comme ceux qui n’employent en tous leurs
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cher Perspektive der Rezipientinnen der Rätsel Cotins im Salon, deswegen wird auch das galante Rätsel dieser Epoche weiblich (une énigme)126 und in seinem Kommunikationsangebot des „badinage amoureux“ schamhaft, im Unterschied zum männlichen karnevalesk-schamlosen Rätsel des 16. Jahrhunderts (un énigme). Man kann aber in Bezug auf die Sozialgeschichte dieser Gattung nicht vom absoluten Vorrücken der Schamgrenze und vom Verschwinden der Schamlosigkeit des erotischen Rätsels sprechen, sondern nur von ihrer Verschiebung in männliche Räume der inoffiziellen literarischen und außerliterarischen Kommunikation.127 Diese Verschiebung erfolgt nicht reibungslos. Zu seiner Lebzeit musste Cotin nach Hilfe rufen, um sich von der unerwünschten „société honteuse“ der schamlos-männlichen Rätseln zu befreien, die die Grenze zwischen der Außenwelt und der Idealwelt seiner galanten Sammlung verdeckt unter seinem Namen überschreiten, um die Gesellschaft der weiblichen énigmes zu suchen.128
Literaturverzeichnis Primärtexte Bargagli, Girolamo: Dialogo de’giuochi che nelle vegghie sanesi si usano da fare. Hg. v. Patrizia D’Incalci Ermini mit Einleitung v. Riccardo Bruscagli. Siena 1982. Castiglione, Baldesar: Il libro del cortegiano. Torino 1965. Castiglione, Baldesar: Das Buch vom Hofmann. Übersetzt von Fritz Baumgart. Bremen 1960. Cotin, Charles: Les énigmes de ce temps. Hg. v. Florence Vuilleumier-Laurens. Paris 2003. Cotin, Charles: „Discours sur les enigmes.“ In: Ders.: Les énigmes de ce temps. Hg. v. Florence Vuilleumier-Laurens. Paris, 2003, S.15–29.
écrits que la metaphore, l’hyperbole et l’antithèse, ou qui n’auroient jamais rien à dire s’ils estoient obligez de parler toujours honnestement. Et certe quelque mystere ou sens caché qu’il y ait sous le voile des paroles dont l’Enigme est composé, il faut toujours qu’il soit pur et chaste. Et peu de personnes modestes louent l’Androgyne de Platon, quelque rares secrets que ses admirateurs y cherchent, pource que l’image sous laquelle les hautes veritez, que l’on s’y figure, y ont esté représentées, n’est ny assez belle, ny assez honneste.“ Cotin: Discours, S. 23–24. 126 Vgl dazu Vuilleumier-Laurens: Introduction, S. LXVIII. 127 Vgl. Scafoglio: L’indovinello, S. 61–80. 128 „Les copies mal corrigées, que sans mon consentement l’on a donné aux Imprimeurs, la violence de certaines gens qui vouloient estre sans ma volonté maistres absolus de mes ouvrages […] employer des mains illustres pour me délivrer de la société honteuse que plusieurs vers infames avoient faites malgré moy avec les miens“. Cotin: Discours, S. 29.
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HELMUT PFEIFFER
Reue und Scham Selbstbeobachtung und ethische Emotion bei Montaigne
1. Verworfene Reue Mit dem Essay Du repentir, dem zweiten des dritten Buchs der Essais, betritt Montaigne erkennbar theologisches Terrain, neben Des prières ist er der Einzige, der im Titel explizit ein zentrales Thema des christlichen Glaubens aufscheinen lässt. Für die Tradition der literarischen Selbstdarstellung im Horizont christlicher Theologie, von den Confessiones des Augustinus bis zu Petrarcas Secretum, hatte das Schema von Verirrung und Umkehr, Sünde und Buße, Unwissen und Einsicht konstitutive Bedeutung, seine Einlösung mochte gelingen oder nicht. Unter der Voraussetzung eines von der Reue induzierten Umschlags konnte jede Verfehlung in die Gewissheit transzendent garantierter Selbsterkenntnis und Rettung umgemünzt werden. Das achte Buch der Confessiones formuliert den locus classicus des Umschlags. In dem Augenblick, als der Sünder seiner Verworfenheit inne wird, bricht ein Tränenstrom aus seinen Augen, dem er unter einem Feigenbaum freien Lauf lässt. Die bange Frage, wie lange Gottes Zorn gegen ihn noch währen möge, macht einer verheißungsvoll singenden Stimme Platz, die Augustinus just in dem Moment vernimmt, als die Reue sein Herz ganz erfüllt, amarissima contritione cordis mei.1 Mit der Einführung der obligatorischen jährlichen Beichte auf dem 4. Laterankonzil von 1215 hatte die Kirche sich ein effizientes Mittel fortlaufender Beobachtung sündhafter Regungen und Antriebe der Gläubigen geschaffen. Bereits vorher zu beobachtende Tendenzen zur regelmäßigen Beichte werden damit vereinheitlicht, zugleich etabliert sich die priesterliche Absolutionsformel für den reuigen Sünder: ego te absolvo. In der Hand des Priesters befindet sich nun die Schlüsselgewalt, der damit ein 1
Opere di Sant’Agostino. Le confessioni (Nuova biblioteca Agostiniana). Hg. v. Michele Pellegrino. Rom 1965, (8, 12, 29), S. 248.
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wirksames Mittel der Kontrolle in der Hand hat, namentlich im Blick auf die Differenz echter und oberflächlicher Reue. Zum anderen führt die Regelung des Konzils zu einer massiven Nachfrage nach modellhaften Lösungen in Bezug auf den Inhalt der Beichte und die Funktion der Reue. Sie haben sich in der weitverbreiteten Literatur der Beichthandbücher niedergeschlagen.2 Im Zeitalter der Reformation sieht sich die römische Kirche genötigt, in den Verhandlungen des Tridentinum auf die protestantische Kritik an ihrer Buß- und Reuelehre Unterscheidungen und Präzisierungen vorzunehmen, die in den einschlägigen Sessionen VI (De justificatione) und XIV (De sacramento poenitentiae) formuliert werden. So wird nicht nur der Dreischritt von contritio, confessio und satisfactio bekräftigt, sondern auch die Absolution als „Art einer richterlichen Tätigkeit, in der der Priester als Richter den Richterspruch fällt“.3 Dass Montaigne mit theologischen Fragen vertraut war, muss angesichts seiner Übersetzung der Theologia naturalis des Raimundus Sabundus nicht eigens betont werden. Dass er bei aller dogmatischen Zurückhaltung in den Essais4 die theologischen Kontroversen der Zeit intensiv verfolgte, belegt vor allem sein Journal de voyage en Italie, par la Suisse et l’Allemagne en 1580 et 1581, das auch Kontakte zu deutschen Theologen dokumentiert, mit denen sich Montaigne in Lindau, Isny oder Kempten über Deutungsprobleme der Lutherschen und Melanchthonschen Schriften oder über das reformatorische Abendmahlsverständnis und seine Varianten unterhält.5 Auch Louis de Saint-Gelais, der 1562 französischer 2
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Aus der umfangreichen Literatur zu dem Thema seien genannt: Michaud-Quentin, Pierre: Sommes de casuistique et manuels de confessions au Moyen Age. Louvain 1962; Tentler, Thomas N.: Sin and Confession on the Eve of the Reformation. Princeton 1977; Delumeau, Jean: Le péché et la peur. La culpabilisation en Orient (XIIIe–XVIIIe siècles). Paris 1984; Benjamin Nelson (Der Ursprung der Moderne. Frankfurt a. M. 1984) vertritt die griffige These, dass „das eigentümliche westliche Bild des menschlichen Handelns und der Welt im zwölften und dreizehnten Jahrhundert eine dramatische Veränderung erfuhr. Kollektives Bewusstsein trat hinter individuelles Gewissen zurück, um das herum sich umfangreiche Logiken der Meinung, des Glaubens und des Handelns bildeten.“ (S. 52f.) Neuner, Josef u. Heinrich Roos: Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündung. Regensburg 1971, S. 654. So heisst es in Du repentir ausdrücklich: „Que je parle enquerant et ignorant, me rapportant de la resolution, purement et simplement, aux creances communes et legitimes.“ Montaigne nennt das, mitten im Zeitalter religiöser Bürgerkriege, eine „naïfve et essentielle submission.“ Die Essais werden nach der von Jean Balsamo, Michel Magnien und Catherine Magnien-Simonin besorgten neuen Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade zitiert: Montaigne: Les Essais. Paris 2007, S. 846 (im Folgenden abgekürzt mit Seitenzahl im Text). Vgl. dazu die einschlägigen Stellen in Michel de Montaignes Œuvres complètes, hg. v. Albert Thibaudet u. Maurice Rat. Paris 1962, S. 1145ff. So heißt es über den Besuch von Isny im Allgäu, eine „petite ville impériale et très plesammant disposée“: „M. de Mon-
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Botschafter am Konzil von Trient gewesen war, zählte er zu seinen Bekannten. Ganz zweifellos sind die theologischen Kontroversen des 16. Jahrhunderts ein Gegenstand von Montaignes curiositas. Aber damit ist noch nicht die Dimension benannt, in der sich seine Auseinandersetzung mit der Theologie der Reue vollzieht. Sie beobachtet nicht nur theologische Dispute, sondern projiziert sie auf einen eigenen Diskursraum. In den Essais steht gerade nicht das kirchliche Kontrollinstrumentarium der Beichte im Vordergrund, sondern seine Rückseite: die Verinnerlichung der institutionellen Kontrolle in einer Struktur fortlaufender Selbstkontrolle. Selbstreferenz als Selbstkorrektur – insofern damit autoritäre institutionalisierte Verfahren etabliert wurden, mussten solche heteronomen Vorgaben mit Montaignes durchaus nicht unbescheidenem Anspruch auf souveränes Expertentum des Selbstbezugs kollidieren.6 Die Herausforderung musste sich an der zentralen Neuorientierung des Konzils entzünden. Das alte Modell der Tarifbeichte hatte für sündhaftes Handeln Kompensation durch gute Werke verlangt. Sie hielt sich damit in einer Sphäre der ‚Äußerlichkeit‘ auf, der – mit Montaigne gesprochen – reformations externes, bei denen es auf die Intention des Sünders, die Verfehlungen und die Reformation seines Willens kaum ankam. Die augustinische Formel, Sünde als aversio a Deo, conversio ad creaturam, Reue hingegen als conversio ad Deum, aversio a creatura7 zu verstehen, hatte sich in einer kirchlichen Beichtpraxis niedergeschlagen, die in der äußeren Äquivalenz von Verfehlung und Wiedergutmachung das sündhafte Individuum von permanenter Selbstkontrolle entlastete. Das 4. Laterankonzil steht demgegenüber mitten im Prozess einer unerhörten Verschärfung fortlaufender Selbstbeobachtung der Regungen des Willens und der Begehrlichkeiten. Für Petrus Abelardus ist die Sünde ein consensus des Willens, und damit ein Dei contemptus.8 In der Kasuistik der
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taigne, comme estoit sa coustume, alla soudein trouver un docteur théologien de ceste ville, pour prendre langue, lequel docteur disna avec eux. Il trouva que tout le peuple estoit lutérien, et vit l’église lutérienne qui a usurpé, comme les autres qu’ils tiennent ès villes impériales, des églises catholiques. Entr’autres propos qu’ils eurent ensamble sur le sacrement, M. de Montaigne s’avisa qu’aucuns calvinistes l’avoient averty en chemein que les Lutériens mesloient aux antiennes opinions de Martin plusieurs erreurs étranges, comme l’ubiquisme, maintenant le corps de Jésus-Christ estre partout com’en l’hostie, par où ils tomboient en mesme inconvéniant de Zuingli, quoi que ce fût par diverses voies […].“ (S. 1047ff.) Vgl. Essais, S. 845: „Aumoins j’ay ceci selon la discipline, que jamais homme ne traicta subject, qu’il entendist ne cogneust mieux, que je fay celui qu j’ay entrepris: et qu’en celuy là je suis le plus sçavant homme qui vive.“ Augustinus: Contra Faustum, XXII, Kap. 27 (Patr. Lat., XLII, Sp. 418). Zur für diesen Zusammenhang zentralen Bedeutung der Theologie des Petrus Abelardus, vor allem von Sic et non und der Ethica, vgl. Nelson, Benjamin: „Self-Images and
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Beichtspiegel des 16. Jahrhunderts schlägt sich diese neue Struktur massiv nieder. Stephan von Landskrons Himmelstrasse von 1510 belehrt etwa den Leser, der Mensch begehe selbst dann eine Todsünde, wenn er etwas tut, was an sich keine Todsünde ist, vorausgesetzt er lebt in der Annahme, es sei eine solche. Ebenso begeht man eine Todsünde, wenn man sie – oder etwas, was man dafür hält – begehen will, unabhängig vom tatsächlichen Vollzug.9 Wie man sieht, gewinnt die Kontrolle der Intentionen und Willensregungen eine unerhörte Dringlichkeit. Die Theologie liefert opportune Anschlussunterscheidungen zum Begriff der Reue, vor allem mit der Differenzierung mehr oder weniger vollkommener Formen der Reue, von attritio und contritio, eine Aufgabe, der sich auch das Tridentinum mit großer Energie widmet.10 Jedenfalls ist die Reue seit dem 13. Jahrhundert, wie Montaigne sagen wird, eine desdicte de nostre volonté, eine opposition de nos fantasies (S. 848), sie betrifft elementar die Ressourcen der Selbstreferenz und Selbstkorrektur des Einzelnen. Du repentir scheint die durch den Titel geweckten Erwartungen zunächst nicht einlösen zu wollen. Die Rede ist nicht von Sünde, Reue und Buße, sondern von der Form und Formlosigkeit des Menschen, von der Möglichkeit und Wünschbarkeit der Menschenformung, verbunden mit der Frage nach der eigenen Form oder Missgestalt, ihrem Werden und ihrer Verfestigung. Montaigne diskutiert die Möglichkeiten ihrer Darstellung, ihrer peinture, gerade angesichts der Instabilität aller irdischen Dinge, welche auch den Gegenstand des Schreibens betrifft: „Le monde n’est qu’une branloire perenne […] Je ne puis asseurer mon objet: il va trouble et chancelant, d’une ivresse naturelle.“ (S. 844) Es sind zuallererst aristotelische Formbegriffe, die Montaigne auf eine Welt der Fortuna projiziert und damit einem unerhörten Kontingenzdruck aussetzt. Die berühmte Eingangspassage des Essays lässt Montaignes Schreibprojekt in expliziten Gegensatz zu jeder reformerischen, ‚bildnerischen‘ Absicht treten. Normative Bildung des formbaren ‚Stoffes‘ Mensch und Darstellung, Zeichnung der individuellen Abweichung bilden die Pole der Opposition:
Systems of Spiritual Direction in the History of European Civilization“. In: The Quest for Self-Contra. Classical Philosophies and Scientific Research. Hg. v. Samuel Z. Klausner. New York 1965, S. 49–103; Hahn, Alois: „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess“. In: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Hg. v. Alois Hahn. Berlin 2000, S. 197–236. 9 Vgl. dazu Tentler: Sin and Confession, S. 152ff. 10 Zu Einzelheiten vgl. den Artikel „pénitence“ im Dictionnaire de théologie catholique, Bd. 12,1. Hg. v. Alfred Vacant u. Joseph-Eugène Mangenot. Paris 1903–1950, S. 722– 1138.
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Les autres forment l’homme, je le recite: et en represente un particulier, bien mal formé: et lequel si j’avoy à façonner de nouveau, je ferois vrayement bien autre qu’il n’est: meshuy c’est fait. (S. 844)
Provokativ setzt Montaigne dem Formanspruch der ‚anderen‘ – und gemeint sind sicher auch die humanistischen ‚Autoren‘, die, exemplarisch in Pico della Mirandolas Oratio de hominis dignitate, den Menschen als plastes et fictor seiner selbst gegenüber den anderen Lebewesen ausgezeichnet hatten – den defizitären Charakter der eigenen Form, seine ‚Missgestalt‘ entgegen.11 Der normativen Teleologie des humanistisch begriffenen Formens steht eine defizitäre Formgeschichte des kontingenten Individuums gegenüber, die indessen eigenes Gewicht zu besitzen scheint, jedenfalls Möglichkeiten der Scham, einer notwendigen ‚Reform‘ oder gar der Konversion nicht in den Blick geraten lässt. Das Ich besitzt nicht immer schon eine eigene Form, es erwirbt sie erst, im Prozess der accoustumance. In der doppelten Darstellungsperspektive von Narration (reciter) und Porträt (representer) präsentiert sich Montaigne als Form gewordenes Subjekt, dessen Abweichung von der Norm jene Negativität ausmacht, die den Antrieb zur Selbstdarstellung liefert. Diese wird dadurch erschwert, dass das zur Form gewordene Individuum keineswegs der Instabilität der Welt entzogen ist. Ganz im Gegenteil: Seine Bewegungen unterliegen einer doppelten Kontingenz – der Welt der Fortuna wie der mangelnden Konstanz der eigenen Antriebe wie der Wechselfälle des Lebens, der Erfahrung wie ihrer Beobachtung.12 So werden die Essais zu einer contrerolle de divers et muables accidens, et d’ imaginations irresolues (S. 845) – formlose Manifestationen einer in Frage stehenden Form als Gegenstand der Darstellung. Aber ausgerechnet dieser Gestus der Selbstverkleinerung schlägt nun unvermittelt in provokative Exemplarität um. Gerade als Ort doppelter Kontingenz wird die verpfuschte Form zur Signatur der Conditio humana, welche die humanistischen Menschenformer sowohl verkennen wie ver-
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Zu den Verästelungen der self-deprecating posture in den Essais vgl. v. a. Regosin, Richard L.: The Matter of my Book. Montaigne’s ‚Essais’ as the Book of the Self. Berkeley Los Angeles 1977, S. 124ff.; Friedrich, Hugo: Montaigne. Bern 1949, S. 410, der von „heuristische(r) Selbsterniedrigung“ spricht. Zur Rhetorik der verpfuschten Form vgl. auch insgesamt Screech, Michael A.: Montaigne and Melancholy. The Wisdom of the Essays. London 1983. – Aus der verzweigten Literatur zu Du repentir seien zumindest, gerade wegen ihrer divergierenden Interessen, genannt: Brody, Jules: „Lecture philologique de l’essai ‚Du repentir‘ (III, 2)“. In: Ders.: Nouvelles lectures de Montaigne. Paris 1994, S. 37–72; Supple, James: „‚Du repentir‘: Structure and Method“. In: Montaigne in Cambridge. Proceedings of the Cambridge Montaigne Colloquium, 7/9 April 1988. Hg. v. Phillip Ford u. a. Cambridge 1989, S. 69–86. Vgl. S. 805: „Je ne peinds pas l’estre, je peinds le passage […] Je pourray tantost changer, non de fortune seulement, mais aussi d’intention […].“
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einseitigen. Chaque homme porte la forme entiere, de l’ humaine condition. (S. 845) Kaum ein anderer Satz Montaignes hat ähnlich viele Lesarten wie dieser auf sich gezogen. Aber elementar, in seinem Kontext, sagt er zweierlei: Jedes menschliche Leben, ob niedrig oder hochgestellt, trägt in sich die ganze menschliche Form. Und um sie geht es, nicht um einzelne Verfehlungen oder schuldhafte Handlungen, wie sie zum Gegenstand der Beichte geworden sind. Jede normative Menschenformung lässt an die Stelle der universellen menschlichen Natur, des estre universel, die Äußerlichkeit des fremden Zeichens, der marque speciale et estrangere (S. 845) treten. Die Autoren, die den Menschen formen, erscheinen ihren Lesern nicht als individuelle Form, sondern nur über äußerliche und heteronome Zeichen ihrer jeweiligen Disziplin, die des Grammatikers, Dichters oder Juristen. Die niedrige und glanzlose Form des Lebens, die vie basse et sans lustre, hingegen lebt das menschliche Leben conformément à sa naturelle condition, und das sei, wie Montaigne hinzufügt, eine schwierigere, zugleich allgemeinere wie auch legitimere Wissenschaft als die der welterobernden großen Tat.13 Denn die ‚natürliche‘ Lebensform verwirklicht, wo sie denn gelingt, ein exemplarisches Ethos der ‚Konformität‘ von Natur und Leben. Diese gilt es gegen heteronome Ansprüche in einer eigenen Sprache zu profilieren. Das einfache Leben, in der doppelten, inneren und äußeren, Kontingenz, besitzt, gerade weil es sich nicht an die fremden Zeichen und ihren autoritären Anspruch verliert, seine eigene Souveränität. Diese ist ein Datum der inneren Erfahrung (experience), der Selbstreferenz eines nach innen gewendeten Hörens: Il n’est personne, s’il s’escoute, qui ne descouvre en soy, une forme sienne, une forme maistresse, qui lucte contre l’institution: et contre la tempeste des passions, qui luy sont contraires. (S. 851)
Montaigne, der, wenn es um das fremde Wort und seine Autoritätsprätention geht, dem Hören durchaus skeptisch gegenüber steht, empfiehlt das innere Ohr, die Paradoxie eines Hörens der Form, der eigenen Form als einer forme maistresse. Dieses Verhalten zeichnet exemplarisch die science und exercitation des Sokrates aus, und es steht in äußerstem Gegensatz zu den reformations externes, mit denen die Zeitgenossen, und Montaigne meint, wie der Kontext deutlich erkennen lässt, vor allem auch die Partei-
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Montaigne erläutert diesen Gegensatz an der topischen Opposition von Sokrates und Alexander: „[…] la vertu d’Alexandre me semble representer assez moins de vigueur en son theatre, que ne fait celle de Socrates, en cette exercitation basse et obscure.“ (S. 850)
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gänger der Reformation, ihre tief verwurzelten Laster kaschieren.14 Aber auch darüber hinaus: Die vices naturels consubstantiels et intestins (S. 851) sind die Zeichen eines siecle si gasté (S. 847), das den fremden wie den eigenen Blick scheut. Montaignes anthropologische Metapher der eigenen forme maistresse fungiert im Weiteren als bewegliche Berufungsinstanz gegen die Zumutungen einer Theologie der Reue. Als Modell einer im Binnenraum des Subjekts sich vollziehenden Selbstvermittlung und -kontrolle besetzt sie das Terrain, welches die Theologen seit dem 4. Laterankonzil in immer neuen Distinktionen nachhaltig kartographiert hatten. Der Anspruch selbstreferentieller Souveränität wird indes bei Montaigne nicht theoretisch-konzeptuell, sondern metaphorisch und exemplarisch eingelöst. Das heißt aber auch, wie ein prominentes Beispiel schnell zeigt, dass er nicht umstandslos auf die Essais insgesamt ausgedehnt werden kann.15 Wenn etwa Montaigne erzählt, in Situationen heftiger und plötzlicher Emotionen hätte sich gegen lange Gewohnheit die Muttersprache des Lateinischen in seinen Äußerungen durchgesetzt, so ist damit auf die Darstellung in De l’ institution des enfans verwiesen, wo er berichtet, dass er dem Wunsch seines Vaters folgend das Lateinische vor dem Französischen gelernt habe, durchaus als eine Art Muttersprache, allerdings in einem hochartifiziellen Arrangement, das die ganze Familie unter Einschluss der Dienerschaft und unter der Ägide eines deutschen Hauslehrers dazu zwang, mit dem Kind zu jargonner, um den ‚Natureffekt‘ einer lateinischen ‚Muttersprache‘ zu erzeugen. Immerhin erläutert ein anderes Exemplum anschaulich, wie sich Montaigne selbstreferentielle Souveränität vorstellt. Es geht um die Geschichte eines Diebs, die Montaigne kürzlich von ihrem Helden selbst gehört haben will. Die Biographie des larron, der sich in seiner Jugend durch Diebstahl bereichert hatte, weil er nur so der Armut seines bäuerlichen Standes entkommen konnte, und der dafür im Alter gewissenhaft Wiedergutmachung leistet, unterstreicht die Fähigkeit des individuellen Urteilsvermögens, sich auch von der Unmoral des Handelns nicht identifizieren zu lassen. Der Dieb behandelt sein Vergehen, de laquelle il se
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S. 851: „Ceux qui ont essaié de r’aviser les mœurs du monde, de mon temps, par nouvelles opinions, reforment les vices de l’apparence, ceux de l’essence, il les laissent là, s’ils ne les augmentent […].“ Das gilt allerdings auch für die konzeptuelle Dimension des Essays Du repentir. Insbesondere De la presumption und De la vanité erörtern Probleme intransparenter und unhintergehbar gebrochener Selbstreferenz. Die presumption ist eine „affection inconsiderée, dequoy nous nous cherissons, qui nous represente à nous mesmes, autres que nous ne sommes“. (S. 669)
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confesse ouvertement (S. 852), als ein äußerliches Handeln, welches die Identität des entendement und des Willens nicht berührt. Er vermeidet die negative ‚Konformität‘ mit der Äußerlichkeit eines aufgezwungenen Tuns als Konformitätssicherung der forme maistresse. So verkörpert der Dieb die Figur einer Inversion der frühneuzeitlichen Theologie der Reue, er bereut nicht seine Intentionen, sondern nur die äußere Tat, die er nach dem alten Modell der Wiedergutmachung behandelt, „s’en repent bien simplement, mais en tant qu’elle estoit ainsi contrebalancée et compensée, il ne s’en repent pas“ (S. 853). Die Korrekturen des Handelns demonstrieren die Korrekturunbedürftigkeit der Intentionen und die Souveränität der eigenen Form. Ihr metaphorisches Äquivalent findet die forme maistresse im Raumbild der naifve assiette. Gelingende Selbstvermittlung setzt ein Verhältnis der Nähe voraus. Die eigene Form zu vernehmen heißt, den Anrufungen der Ferne zu widerstehen. Grenzziehung und Vermeidung von Grenzüberschreitung sind allerdings bei Montaigne nicht unbedingt eine Leistung, sondern Konsequenz des eigenen ‚Gewichts‘, einer Art naturhafter Schwere, die von innerer Zentrifugalität entlastet: „[…] je me trouve quasi tousjours en ma place, comme font les corps lourds et poisans […] mes desbauches ne m’emportent pas fort loing“ (S. 851f.). Später, in Sur des vers de Virgile, wird Montaigne aus der Perspektive des Alters diese Nähe allerdings als eine Form der Erstarrung beklagen, der er mit imaginären Ausschweifungen, desbauche, par dessein (S. 882), begegnet. In Du repentir aber zielt die Metaphorik der Form und des Ortes explizit gegen jene Praktiken des amendement, der penitence, die er bei seinen Zeitgenossen, der commune façon de nos hommes (S. 852), beobachtet. Ihre Reue ist infiziert von der Verderbnis ihrer Form, sie vernehmen sich selbst nicht, und wenn sie es tun, dann verkennen sie das Elend der Binnenwelt ihres Inneren, die ordure, die laideur, welche ihre retraicte auszeichnet. Die Form braucht die Pflege, und die Pflege braucht die Form. Das ist der Zirkel der Selbstsorge, den Montaigne in Du repentir konturiert, und den er gegen die Praktiken der Zeit in Stellung bringt, deren Reuerituale einen falschen Zirkel beschreiben. Es ist weniger die Einmaligkeit der Sünde, die péchez impetueux, prompts et subits, auf die er zielt, sondern der Habitus der Sünde, die pechez de complexion (S. 853) – ein Redehabitus, der auch die Übergänglichkeit des moralphilosophischen Laster- und des theologischen Reuediskurses, die Montaigne wie selbstverständlich praktiziert, organisiert. Erstere, die aktuellen Sünden, betreffen nicht die Form des Einzelnen, letztere, die habituellen, sind auch und gerade nicht durch die obligatorische, regelmäßige Wiederholung von Geständnis, Beichte und Reue zu beheben, weil die Instanz der Absolution der Selbstreferenz des Individuums hete-
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ronom ist.16 Montaigne hingegen lebt aus einer Einheit, die das Handeln wie die Selbstbeobachtung betrifft, in einer Kopräsenz von Selbstvollzug und Selbstthematisierung: Je fay coustumierement entier ce que je fay, et marche tout d’une piece: je n’ay guere de mouvement qui se cache et se desrobe à ma raison, et qui ne se conduise à peu près, par le consentement de toutes mes parties […]. (S. 853)
Dieser Anspruch greift an die Fundamente dessen, was der Titel des Essays thematisiert. Seit Augustinus steht die Reue im Zusammenhang einer Konversion. Altes und neues Ich verhalten sich diskontinuierlich zueinander. Zweck der Reue ist im Kern nicht Identitätssicherung, sondern Identitätsverwerfung: „Ego non sum ego […] Self-revelation is at the same time self-destruction.“17 Der periodische Vollzug von Reue und Buße gibt diesen Anspruch nicht gänzlich auf, er transformiert ihn allerdings in das lebenspraktisch Handhabbare und Durchsetzbare. Die Theologie der Reue zeichnet in einer Art temporaler Remythisierung des Glaubenslebens jenen privilegierten Zeitpunkt (Ostern) aus, zu dem die Seele der Gläubigen sich der transzendenten Wahrheit öffnen soll, welche die Pönitenten in der gottesfernen Sündhaftigkeit des unerleuchteten Alltags zu vernachlässigen pflegen. Sie lebt vom Gegensatz habituell defizitärer und punktuell gelingender, weil extern instruierter Selbstreferenz. Auch Montaigne bezieht sich auf das Schema der Konversion, lässt es aber nicht durch die christliche Theologie, sondern die Lehre der Pythagoräer vertreten, wonach die Menschen beim Anblick der simulacres des Dieux eine neue Seele erwerben können. Umso deutlicher kann die Distanzierung ausfallen. Die neue Seele ist und bleibt eine fremde, bloß geliehene, wie es in scharfem metaphorischem Kontrast zum Bild der eigenen Form heißt.18 Zwar kennt auch Montaigne den Grenzwert einer Tiefe der Reue, die zur Verwerfung der eigenen Form führt, aber dieser öffnet sich bei ihm gerade nicht auf die andere, neue Form. Offen bleibt, ob er ihre qualvolle Möglichkeit kennengelernt hat oder sie nur ins Auge fasst.19 Sie hat jedenfalls
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So heißt es in klarer Polemik gegen das 4. Laterankonzil und das Tridentium: „Et le repentir qu’il se vante luy en venir à certain instant prescript, m’est un peu dur à imaginer et former.“ (S. 853) Die Jansenisten von Port-Royal, und nicht nur sie, reagieren darauf schockiert: Montaignes paroles horribles über seine Reuelosigkeit zeigen eine „extinction entière de tout sentiment religieux.“ (Logique de Port-Royal, III, xix, 6) Foucault, Michel: „Technologies of the Self “. In: Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault. Hg. v. Luther H. Martin, Patrick H. Hutton u. Huck Gutman. Amherst 1988, S. 16–49, hier S. 43. S. 853: „[…] il faut bien qu’elle soit estrangere, nouvelle, et prestée pour le temps […].“ Vgl. S. 854: „Je ne cognoy pas de repentance superficielle, moyenne et de ceremonie. Il faut qu’elle me touche de toutes parts, avant que je la nomme ainsin: et qu’elle pinse
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nichts mit den Institutionen oberflächlicher und peripherer Reuerituale zu tun, jenem amendement chaffourrée oder der pénitence malade (S. 852), das der Sünde so nahe steht, die sie vorgeblich austreibt. Die absolute Grenze der Selbstverwerfung aber kann keine Option für einen particulier bien mal formé sein, der in kontinuierlicher Selbstvermittlung mit seiner forme maistresse lebt und deren exemplarische Souveränität in der Sphäre der Repräsentation wiederholt. Die eigene forme maistresse auszustellen bedeutet, gegen die Regeln öffentlicher Rede zu verstoßen, eine Kühnheit, eine schamlose indiscretion de parler de soy (S. 846), zu deren Rechtfertigung Montaigne sich auf die Lizenz beruft, die man dem Alter einräumt.20 Sich auszustellen aber setzt Darstellbarkeit voraus. Das Gemälde braucht einen farbigen Gegenstand. Das Selbstporträt wird für Montaigne möglich, weil das Ich nicht nur Form, sondern auch Farbe ist, es besitzt eine teinture universelle (S. 854), die ihm Sichtbarkeit verleiht und seine Gestalt begrenzt. Und noch einmal zeigt sich, dass die Metaphorik nicht unschuldig ist, weil sie in Opposition zum Reuediskurs gebracht werden kann. Die Homogenität der Färbung steht im Gegensatz zur punktuellen Heterogenität des ‚Fleckens‘, der isolierten macheure. Die Metaphorik der Färbung und des Fleckens besitzt durchaus eine antitheologische Stoßrichtung, ruft sie doch das Thema des Sündenhabitus auf. Vor allem aber erlaubt sie, kontingente Individualität in einem Raum jenseits der Theologie zu konturieren. Montaigne malt die Färbung eines particulier bien mal formé. So blickt er auf ein konkretes Individuum, eine homogene Gestalt, welche die Selbstwahrnehmung intensiviert, aber den Wunsch der Selbstverwandlung sistiert. Sie blockiert die Zumutung der Reue, gerade weil sie die Kontingenz der homogenen eigenen Gestalt hervor treibt. Sie ermöglicht die Vorstellung des anderen in dem Maße, wie sie bei sich selbst bleiben kann und will. Die anderen, wo sie nicht – wie die Zeitgenossen – fremdbestimmt sind, besitzen eigene Formen und Färbungen, die man anschauen oder vorstellen kann. Eine solche Perspektive betrifft natürlich insbesondere Montaignes Umgang mit den Gestalten und Autoren der Antike, gerade dort, wo er sie bewundert. Aber man sollte diesen Affekt nicht mit einem Antrieb zur Selbsttransformation verwechseln. Man kann bedauern, nicht ihre
mes entrailles, et les afflige autant profondement, que Dieu me voit, et autant universellement.“ 20 S. 846: „Je dis vray, non pas tout mon saoul: mais autant que je l’ose dire: Et l’ose un peu plus en vieillissant: car il semble que la coustume concede à cet aage, plus de liberté de bavasser […].“ Montaigne nimmt das Alter zum Anlass kühner Rede und gerade nicht als Vorwand eines „accidental repentir que l’aage apporte“ (S. 856), in dem jene Verfehlungen der Jugend bereut werden, die dem Alter ohnehin nicht mehr möglich sind.
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Größe und Tugend zu erreichen. Dieses Bedauern ist indes keine Reue: regretter heißt nicht repentir. Es ist kontemplativ, nicht reformatorisch. Das Malen der eigenen und das Vorstellen der fremden Form lassen die farbigen Gestalten der Individuen wie sie sind, weil sie fremdes Handeln nicht nachahmen wollen: „Si l’imaginer et desirer un agir plus noble que le nostre, produisoit la repentance du nostre, nous aurions à nous repentir de nos operations plus innocentes […].“ (S. 854) Der Wunsch, ein anderer, ein Engel oder der tugendhafte Cato zum Beispiel, zu sein, ist keine Reue. Nichts hindert mich daran, infinies natures plus hautes et plus reglées que la mienne (S. 854) vorzustellen. Die admirative Vergegenwärtigung ändert nichts an meinen Fähigkeiten. Die eigene Form und ihre Färbung sind, wenn sie denn dem Zirkel der Selbstsorge gehorchen, rechtfertigungsunbedürftig. Weil Du repentir alle Konversionsansprüche auf Distanz hält, kann in den Essais umso plastischer alles Fremde zum Gegenstand folgenloser Vorstellung werden. In der Distanz, die das Ich darin zu sich selbst gewinnt, werden die anderen gegenwärtig und bleiben zugleich eigentümlich konsequenzlos. Die vorgestellte Vollkommenheit erzeugt keinen Druck, auf den die eigene ‚Missgestalt‘ durch Scham, Selbstverbergung oder Selbstveränderung zu reagieren hätte. Warum sollte sie das angesichts ihrer souveränen Selbstvermittlung auch tun? Eines ist es, die Größe fremder Gestalten zu bewundern; ein anderes, die Exemplarität der eigenen vie basse für die humaine condition zu gewärtigen und auszustellen. Der kontinuierliche Zirkel der Selbstsorge schließt die Notwendigkeit periodischer ‚Reformationen‘ aus. Zugleich erlaubt er ungebrochenen Selbstgenuss, eine esjouyssance naturelle angesichts der tesmoignages de la conscience.21 Darin manifestiert sich das Paradigma einer ebenso unerschöpflichen wie ungebrochen immanenten Ökonomie des Selbst, „le seul payement qui jamais ne nous manque“. (S. 847)
2. Das Terrain der Scham Von Scham ist in Du repentir nicht die Rede. Das muss nicht überraschen, meint doch Reue eine Reaktion, die sich auf eigenes Fehlverhalten richtet. Sie bezieht sich also auf eine Sphäre, in der es – um eine eingespielte 21
S. 847. ‚Gewissen‘ hat hier nicht theologische, sondern selbstreferentielle Bedeutung: die conscentia steht im Gegensatz zur approbation d’autruy. Wie eine andere Passage deutlich macht, ist conscience für Montaigne häufig identisch mit jugement, vgl. S. 846: a) „Excusons ce que je dy souvent, et que je me repens rarement, et que ma conscience se contente de soy […]“; b) „Il n’est vice veritablement vice, qui n’offence, et qu’un jugement entier n’accuse […]“.
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Opposition aufzugreifen – eher um Schuld als um Scham geht, um die Verletzung von Gesetzen, moralischen Normen oder Geboten Gottes. Ein solcher Verstoß schlägt sich häufig in Handlungen nieder, die dann Sanktionen nach sich ziehen, weil sie von anderen beobachtbar sind, aber er kann auch unter entsprechenden normativen Regimes der Selbstbeobachtung die Form anstößiger Wünsche oder Willensregungen annehmen. Die zehn Gebote beziehen sich bekanntlich nicht nur auf Handlungen, sondern auch auf Begehrlichkeiten. Jedenfalls ist mit Schuld traditionell die Vorstellung eines punktuellen Aktcharakters verbunden. Jon Elster resümiert eine gängige Distinktionspraxis, wenn er Scham als characterological oder global apostrophiert, während Schuld behavioral oder specific sei. „In shame, one thinks of oneself as a bad person, not simply as someone who did a bad thing […] Conversely, guilt attaches to specific actions rather than to one’s character as a whole.“22 Dieser Handlungsbezug der Schuld begründet, warum der Versuch der Wiedergutmachung selbst die Form einer Handlung annehmen kann. Mit der guten Tat macht man, wie Montaignes larron, die böse ungeschehen, das Ganze der Person kann unbetroffen bleiben. Bei der Scham ist dieser Ausweg wegen ihrer personalen Referenz meist versperrt. Ihr Terrain ist das, was in Montaignes Sprache forme maistresse heißt. Auch Montaigne selbst bewegt sich in Du repentir gelegentlich in jener Sphäre, wo es um schuldhaftes Handeln geht. Er kann das umso beiläufiger tun, als er sich – wie die Redewendung lautet – keiner Schuld bewusst ist: Qui me verroit jusques dans l’ame, encore ne me trouveroit-il coupable, ny de l’affliction et ruyne de personne: ny de vengeance ou d’envie, ny d’offence publique des loix: ny de nouvelleté et de trouble: ny de faute à ma parole […]. (S. 847)
Es ist eine lange Liste, die der Autor hier vorträgt, in der Form jener Negationssequenzen, die Montaigne zur Selbstprofilierung gerne verwendet. Gleichwohl ist sie durch zwei Aspekte im vorliegenden Kontext bemerkenswert. Zum einen ignoriert sie die Differenz von inneren Regungen und äußeren Handlungen, auch wenn letztere dominieren – aber gemeint
22 Elster, Jon: Alchemies of the Mind. Rationality and the Emotions. Cambridge 1999, S. 151f. Ähnlich Nussbaum, Martha C.: Hiding from Humanity. Disgust, Shame and the Law. Princeton 2004, S. 207: „[…] whereas shame focuses on defect or imperfection, and thus on some aspect of the very being of the person who feels it, guilt focuses on an action (or a wish to act), but need not extend to the entirety of the agent, seeing the agent as utterly inadequate.“ Es überrascht nicht, dass aus Nussbaums liberaler Position eine Pädagogik und Politik der Schuld fast durchgängig vergleichbaren Schampraktiken vorzuziehen ist.
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ist doch der Neid ebenso wie die Rache, die Emotion wie die Tat. Zum andern imaginiert Montaigne einen über die Parataxe der Liste organisierten Blick in die Seele, der die einzelnen Dimensionen potentieller Verfehlungen zur metonymischen Hinsicht auf das Ganze der Seele oder der Person werden lässt. Die in ihrer Allgemeinheit evozierten und negierten Optionen der Schuld zielen auf das Ethos Montaignes insgesamt, sie meinen ihn als Person oder Charakter, und nicht als Urheber punktueller Handlungen oder Verfehlungen. Die Punktualität der Negationen verweist indirekt auf die Einheit der Form und ihrer ‚Färbung‘. Mit anderen Worten: Kaum hat Montaigne das Feld der Schuld, die Handlungen, aufgerufen, transformiert er es in das Terrain der Scham, auf dem es um die Person und ihr Ethos geht. Es liegt nun allerdings nahe zu vermuten, dass die Theologie der Reue, zu der Montaigne doch so entschieden Distanz einnimmt, ihm dieses Manöver erheblich erleichtert hat. Denn mit der Interiorisierung der Sünde, mit dem Anspruch einer fortlaufenden Beobachtung und Kontrolle der Regungen der Seele, inklusive der Transformationsmodelle der ‚Reform‘, ja der Konversion, hatte die Theologie eben jenen Schritt vollzogen, den Montaigne voraussetzt, weil die Sünde nun kein isolierter Akt mehr ist, sondern Manifestation einer beklagenswerten Verfassung der Person. Letztere verlangt daher nicht nur okkasionelle, sondern permanente Selbstzuwendung. Oder, anders gesagt: Sie verlangt die Möglichkeit einer fundamentalen, auf das Ganze zielenden Scham, damit die Selbsttransformation eingeleitet werden kann. Montaigne bewegt sich in diesem Horizont einer Zumutung der Scham, dem die Person insgesamt, zwischen Natur und Habitus, ausgesetzt ist, aber er verweigert jedes Projekt der Verwandlung, jede Intention der Veränderung der eigenen Form. Und er bewegt sich selbst dann in diesem Horizont, wenn – wie in Du repentir – die Ausgangsthematik zunächst auf die Dimensionen äußeren und inneren Handelns zielt. Bezeichnenderweise ist der prononcierte Selbstdarstellungsimpetus des Essays geradezu eine Inversion der Tendenz der Scham, nicht mit Veränderung, sondern mit Verbergen und Verschwinden zu reagieren.23 Montaigne setzt auf Sichtbarkeit im Gemälde, an die Stelle der Flucht, der Vermeidung oder der Verhüllung tritt die offensive Provokation des fremden Blicks. Man hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Schuld – im Gegensatz zum vorrangig optisch konnotierten Dispositiv der Scham –
23 Vgl. dazu auch Nussbaum: Hiding from Humanity, v. a. S. 172ff.
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mit der Sphäre des Hörens verbunden ist.24 Man hört die Stimme Gottes oder auch die des eigenen Gewissens. Auf sie kann man hören, notfalls aber auch mit ihnen argumentieren, die Verfehlung erklären oder gar entschuldigen. Dem Blick hingegen, der die Scham heraustreibt, entgeht man nicht, er lässt sich nicht auf Verhandlungen ein – und selbst der Versuch, sich zu verbergen, ist unendlich schwierig, weil der Andere, vor dem man sich zu verbergen trachtet, zugleich als internalisierter Anderer im eigenen Ich sich aufhält.25 Es ist diese doppelte Unmöglichkeit der Antwort im Handeln und des Entzugs durch Verschwinden, welche letztlich dafür sorgt, dass, wie Elster bemerkt, „the burning feeling of shame is more intensely painful than the pang of guilt.“26 Aber gerade deshalb ermöglicht sie in der Inversion auch den Triumphalismus schamloser Selbstausstellung. Du repentir bereitet diesem Anspruch das Terrain vor. Der Essay gehört nicht zu denen, die den Leser mit der Ausstellung privater und intimer Details ihres Autors unterhalten. Eher erteilt seine konzeptuelle Metaphorik Instruktionen, wie deren anderweitige Vorführung aufzufassen sei, denn der Essay modelliert ja sowohl die über eine Metaphorik des Hörens artikulierte Kontinuität der Selbstvermittlung wie die über eine Metaphorik des Sehens transportierte Vorstellung der ‚Färbung‘, deren postulierte Homogenität jeden Flecken, jede macheure, überdeutlich sichtbar werden ließe. All dieses ist in dem Konzept der forme maistresse gebündelt, dessen Komplexität auch noch jene antiken Virtuosen der Selbstausstellung überbietet, deren spektakuläre Aktionen Montaigne beifällig zitiert.27 Und Montaigne etabliert damit den schärfsten Gegensatz zu den geläufigen Praktiken der Selbst- und Fremdverbergung, die seinen Zeitgenossen vorzuhalten er nicht müde wird. Die Verzerrung beginnt dort bereits bei jener fremden Instanz, die zum internalisierten Anderen wird. Montaigne muss sie deshalb resolut kassieren und in eigene Regie übernehmen. Diese Souveränität des eigenen Blicks 24 Vgl. z. B. Williams, Bernard: Shame and Necessity. Berkeley u. a. 1999, S. 89: „The most primitive experiences of shame are connected with sight and being seen, but it has been interestingly suggested that guilt is rooted in hearing, the sound in oneself of the voice of judgement […].“ 25 Zu einer aufschlussreichen Diskussion der Struktur des internalized other vgl. ebd., S. 84. Es sei eine falsche Alternative anzunehmen „that the other in ethical thought must be an identifiable individual or a representative of the neighbours, on the one hand, or else be nothing at all except an echo chamber for my solitary moral voice. The internalized other is indeed abstracted and generalised and idealised, but he is potentially somebody rather than nobody, and somebody other than me“. 26 Elster: Alchemies, S. 154. 27 Vgl. S. 849 das von Plutarch stammende Beispiel: „On remarque avec honneur l’usage d’Agesilaus, de prendre en voyageant son logis dans les Eglises, affin que le peuple, et les dieux mesmes, vissent dans ses actions privées.“
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scheint es nun auch möglich zu machen, Dimensionen der eigenen Intimität anzugehen, welche anders als die Beispiele in Du repentir mit jenen tief sitzenden, vielleicht anthropologisch verwurzelten Schamgrenzen zu tun haben, welche die eigene Nacktheit und die Sexualität betreffen.28 Und es wird sich zeigen, dass auch Montaigne dann nicht mehr, wie in Du repentir, eine gelassene Rhetorik des Malens und der Selbstausstellung im Porträt durchhalten wird.
3. Alter und Scham Sur des vers de Virgile, der fünfte Essay des 1588 erstmals publizierten dritten Buchs der Essais, gehört zusammen mit De la vanité und dem abschließenden De l’experience zu den umfangreichsten Texten nicht nur des Schlussbuches, sondern der Essais insgesamt, von der Apologie de Raimond Sebond abgesehen, in der neuen Pléiade-Ausgabe nimmt er immerhin sechzig Seiten ein. Anders allerdings als alle übrigen Essays des dritten Bandes, deren Titelkonzepte durchgängig einen moralphilosophischen, theologischen, technischen oder gesellschaftlichen Themenzusammenhang annoncieren – vom Verhältnis des Nützlichen und des Ehrenhaften bis zur Reue, von den Kutschen und ihren kulturellen Verwendungen bis zum Haushalt des Willens – ist Sur des vers de Virgile ein Essay (der einzige des dritten Buchs), der sich ostentativ in die Tradition des Kommentars oder der Glosse stellt. An seinem Ende wird Montaigne selbst in charakteristischer Selbstverkleinerung von einem notable commentaire sprechen, der ihm wie ein flux impetueux par fois et nuisible (S. 941), ein ungestümer und schädlicher Sprachfluss, entwischt oder entwichen sei. Man sieht: An die Stelle der Metapher des Selbstporträts ist der Rekurs auf das Genre des Kommentars getreten, der sich auf einen autoritativen Prätext bezieht, und der Gestus des Malens scheint einem kaum kontrollierten Redefluss Platz zu machen. Montaignes Kommentatoren haben mit dem vorgeblichen VergilKommentar des Essays ihre Schwierigkeiten gehabt und haben sie immer noch. Trotz seines Umfangs ist er sehr viel weniger Gegenstand der Interpretation geworden als Du repentir. Die Benennung eines konzeptuellen oder metaphorischen Zentrums fällt nicht leicht, allzu sehr scheint er von
28 Williams (Shame and Necessity, S. 78) weist darauf hin, dass das griechische Wort aidoia, welches die Genitalien bedeutet, von dem Wort für Scham, aidós, abgeleitet sei. Ähnliches gelte für andere Sprachen.
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zentrifugalen Impulsen bewegt.29 Insbesondere konnte die Beiläufigkeit des titelgebenden Vergil-Zitats im Textzusammenhang von Sur des vers de Virgile kaum einen zureichenden Antrieb der Herstellung thematischer Kohärenz darstellen. Dieser Crux begegneten bereits Montaignes erste Leser. Etienne Pasquier moniert 1616 in einem Brief sowohl die liberté de sauter d’un propos à l’autre als auch die licence extraordinaire des Essays, seine rhetorische Freiheit wie seine thematische Freizügigkeit.30 Sur des vers de Virgile praktiziert demnach im Gewande des Kommentars eine doppelte, rhetorische wie thematische, Grenzüberschreitung. Wie es scheint, entspricht der sprunghaften Textorganisation eine unerhörte, skandalöse Schamlosigkeit des Inhalts, zumindest der Passagen, die von Liebe und Sexualität, aber auch vom Alter handeln. So behilft sich Pasquier damit, den Essay in die Tradition des coq-à-l’ âne zu stellen, das heißt in den Rahmen einer seit dem 15. Jahrhundert populären, burlesken oder satirischen Gattung spielerischer Inkohärenz und Diskontinuität. Damit entschärft er eine Provokation, die seinem Wunsch, den Autor der Essais zu bewundern, sichtlich im Wege steht. Andere sehen die Sache als gravierender an: In einer frühen, postumen Genfer Ausgabe von 1595 ist der Essay gar nicht erst vertreten. Montaigne ist zu dem Zeitpunkt, als er Sur des vers de Virgile schreibt, Mitte der achtziger Jahre, gut fünfzig Jahre alt, die Zeit als Bürgermeister von Bordeaux liegt hinter ihm. Daran zu erinnern, mag nicht überflüssig sein, weil der Autor seine Lizenz, über Sexualität ohne Respektierung gesellschaftlich eingespielter Schamgrenzen zu reden, auch aus den conditions de la vieillesse (S. 882) begründet, in denen er sich befindet. Die Koketterie mit Alter und Hinfälligkeit ist zwar ein rekurrentes Motiv der Essays, aber es wird hier neu funktionalisiert, gegen die Tradition ausgespielt und zugleich anthropologisch dynamisiert. Die Schamlosigkeit seiner Rede, behauptet Montaigne, sei durch die Autorität des Aristoteles legitimiert. Dort heiße es, Schamhaftigkeit, das estre honteux, diene der Jugend zur Zierde, dem Alter aber werfe man es vor (S. 890): servir d’ornement à la jeunesse, mais de reproche à la vieillesse. Und er, Montaigne, orientiere sich lieber an der escole ancienne als an der Schule der Modernen. Nun sagt allerdings Aristoteles im 4. Buch der Nikomachi-
29 Mit schematisierender Verkürzung kann man vielleicht sagen, dass die einschlägigen Interpretationen zu Kohärenzbildungen tendieren, deren Basis entweder ethisch (Starobinski, Jean: Montaigne en mouvement. Paris 1982, S. 223–256), rhetorisch (Cave, Terence: The Cornucopian Text. Oxford 1979, S. 284–297) oder poetologisch (Supple, James: „Les images comme moyen de persuasion: ‚Sur des vers de Virgile‘“. In: Rhétorique de Montaigne. Hg. v. Frank Lestringant, Paris 1985, S. 175–189) orientiert ist. 30 Zit. nach Essais, S. 1736.
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schen Ethik (1128b) zwar durchaus, dass die Scham, die wie die Furcht ohnehin eher ein Affekt als eine Tugend sei, nur für das jugendliche Alter tauge, weil sie jene Fehler verhindern könne, die man unter dem Einfluss der Leidenschaft zu begehen drohe. Bei einem alten Mann aber sei Schamhaftigkeit schon deshalb nicht zu loben, weil der Tugendhafte in fortgeschrittenem Alter ohnehin zu keinen tugendwidrigen Verkehrtheiten mehr neige, wenn aber doch, so sei der Begleitaffekt der Scham keine Tugend, auch nicht deren Rettung.31 Montaigne aber wendet das Argument der inopportunen Scham des Alters um: Die Überschreitung kulturell gesetzter – und damit relativer, kontingenter Schamgrenzen32 – ist einerseits Teil einer Lebenskunst, mit der das Alter, um die Nähe des Todes wissend, in ein Verhältnis zu sich selbst und seinen naturhaften Bedingungen tritt, und das Individuum einen späten Triumph der Selbstsorge, noch gegen die Natur, als lucte, de l’art contre la nature (S. 883), zu erringen vermag, ein schwacher zwar, aber in seiner List doch wirksamer Einspruch der Lebendigkeit des Geistes gegen die Zumutungen der Natur im Alter. Sie ist andererseits Teil einer transgressiven Praxis des Schreibens und Lesens, der es um das Verhältnis von skandalösem Geständnis und erotischer Imagination, von schamlosem Text und poetischer Präsenz geht. Im Zeichen der Selbstentblößung wird Sur des vers de Virgile zur meditativ-ungestümen Exploration der Grenzen von Körper und Ethos, von erotischem Ritual und imaginärer Fülle. Drei Hinsichten stehen im Blick auf die anthropologische Paradigmatik des Alters im Vordergrund, Montaigne spielt sie frei von pädagogischen Absichten durch:33 1) Mit seiner ausgeprägten Asymmetrie von (hinfälligem) Körper und (wachem) Geist exemplifiziert das Alter einen fundamentalen Symmetrie- und Harmoniemangel der condition de l’ homme, welcher unablässig korrigierende oder balancierende Interventionen aus dem Arsenal der Vermögen, vom Willen über die Urteils- bis zur Einbildungskraft, provoziert. Unter anderen konzeptuellen Voraussetzungen 31
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Aristoteles ergänzt daher: „Wenn es eine Schlechtigkeit ist, unverschämt zu sein und ohne Scham und Scheu Schimpfliches zu tun, so ist es darum noch keine Tugend, bei solchen Handlungen Scham zu empfinden.“ (Nikomachische Ethik. Nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearbeitet von Günther Bien. Hamburg 1995, S. 99) Den kulturellen Differenzen im Blick auf Nacktheit und Sexualität, ihrer Ritualisierung und Symbolisierung, widmet sich Montaigne ausführlicher, von der Antike bis zur Gegenwart, mit Seitenblicken auf die Indianer Südamerikas, vgl. v. a. S. 900ff. Schließlich handelt es sich um eine „matiere infuse par tout“, „un centre ou toutes choses regardent“ (S. 900). Vgl. hierzu ausführlicher Pfeiffer, Helmut: „Selbstentblößung und poetische Präsenz. Montaignes ‚Sur des vers de Virgile‘“. In: Moralistik. Hg. v. Rudolf Behrens u. Maria Moog-Grünewald. München 2010, S. 47–82. Ich übernehme daraus im Folgenden einige Gedanken.
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formuliert Montaigne an der dezentrierten Situation des Alters exemplarisch einen Sachverhalt, den Helmuth Plessner später auf den Begriff der exzentrischen Positionalität des Menschen bringen wird.34 Dass das Alter der Tugend und Weisheit förderlich sei, gehört zu den Topoi der antiken Philosophie, Ciceros Cato maior hat ihre Motive gebündelt. Montaigne betrachtet diese Diskurstradition dezidiert von außen, nicht als Wahrheitsrede, sondern als Symptomausdruck. Die Weisheit des Alters ist selbst eine Form des Exzesses, Reaktion auf eine fortschreitende Verschiebung und Gewichtsverlagerung, im Verhältnis der Vermögen zueinander wie auch in der Beziehung von Seele und Körper. So heißt es kategorisch: „La sagesse a ses excez, et n’a pas moins besoing de moderation que la folie.“ (S. 882) Die Operation der Unterscheidung von Vernunft und Wahnsinn, deren Genese Michel Foucault im Zeitalter der Klassik situiert, greift noch nicht, die Weisheitsprätention des Alters erscheint vielmehr als Abdankung des lebendigen, erotischen Individuums angesichts der conditions de la vieillesse (S. 882). 2) Die reaktiven Manöver, mit denen der Einzelne auf die unabweisbare Erfahrung der Dezentrierung antwortet, können selbst vielfältige und heterogene Formen annehmen, von Maßnahmen der Selbstdisziplinierung bis zur Substitution der aktivierten Vermögen, von der Selbstkontrolle bis zur listigen Selbsttäuschung, vom Pathos der Aufrichtigkeit bis zur undurchdringlichen Umwegigkeit des gauchir oder des destourner, des Verziehens und Verbiegens der eigenen Wahrnehmungen und Antriebe.35 Insgesamt wird man sagen können, dass Sur des vers de Virgile Modi der Kompensation in den Vordergrund spielt. Wenn etwa der Körper im Alter die Ausschweifung (desreiglement) flieht, dann muss die Seele gegenläufig mit pensemens folastres beschäftigt werden. So wird die naturhafte Erstarrung und Erkaltung des Körpers durch schamlose Ausschweifung der Imagination, desbauche, par dessein, kompensiert, der Körper dadurch selbst mobilisiert: […] à un corps abattu, comme un estomach prosterné, il est excusable de le rechauffer et soutenir par art: et par l’entremise de la fantaisie, lui faire revenir l’appetit et l’allegresse, puis que de soy il l’a perdue […]. (S. 936)
34 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1976, S. 56ff., z. B. S. 61: „Personalität ist offenbar zunächst ein formaler Grundzug unserer leibhaften Existenz, welche zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, dieses körperliche Sein zu beherrschen, das heißt es zu haben, einen Ausgleich finden muss.“ 35 Vgl. S. 883: „Je gauchis tout doucement, et desrobe ma veue de ce ciel orageux et nubileux que j’ay devant moy.“
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Die Heiterkeit en fantaisie et en songe überlistet (destourner par ruse) den chagrin de la vieillesse (S. 883). Jedenfalls ist das Alter ein paradigmatischer Ort der Selbstreferenz als Selbststeuerung, deren Telos nicht die Wahrheit, sondern die gelingende Lebensführung ist. 3) Die Revitalisierung im Imaginären und durch die mobilisierte Vorstellung braucht geeignete Medien, Bilder zumal, vor allem aber Texte, erotische Literatur. An ihr partizipiert Montaigne in doppelter Hinsicht: als Leser, Sur des vers de Virgile entdeckt in den Versen Vergils und Lukrez’ eine unerhörte imaginäre Präsenz der Liebe; als Autor, der mit seinem Essay einen Verführungstext produzieren will, auf dass den Essays auf dem Papier die Essays, en chair et en os (S. 885) folgen mögen. Das rhetorische oder ästhetische Medium ist in dieser Zirkulation des poetischen Imaginären und der erotischen Praktiken gerade deshalb unabdingbar, weil es die Lösung eines vertrackten double bind ermöglicht, mit dem das Alter Montaigne konfrontiert. Wie soll mit den Mitteln der Selbststeuerung, ja der Selbstdisziplin jene Dimension der Ausschweifung und des Kontrollverlusts hergestellt werden, deren Wesen gerade in der Unmöglichkeit der Steuerung liegt? Die Antwort lautet: indem man sich dem Sog, ja dem Taumel überlässt, den der erotische Text erzeugt. In ihrer Lektüre ist jene Souveränität suspendiert, welche die Selbstvermittlungen, von denen Du repentir und andere Essays handeln, auszeichnet.
4. Geständnis und Anerkennung So zeichnet sich ein diskursiv-poetischer Ort von Sur des vers de Virgile ab, für den die aufgerufene Kommentartradition eine doppelt negierte Folie markiert. Die institutionelle und sprachliche Ausgrenzung der Sexualität im Zeichen der Scham, das Tabu, das auf der Rede über die parties honteuses und die action génitale liegt, bildet die eine Seite eines Rahmens, auf den der Essay durch Transgression antwortet: Er benennt das Unbenennbare, indem er eine Lizenz der Schamlosigkeit beansprucht. Die Rede von den parties honteuses hält sich nicht im Allgemeinen, sondern präsentiert die eigenen Geschlechtsteile, jetzt, im Alter und im Augenblick des Schreibens, als proprement honteuses (S. 921). Der imaginäre Eros der Poesie markiert die andere Seite, ihn vermag die essayistische Geständnisrede nicht zu erreichen, ihn kann sie nur besprechen und glossieren, um doch in ihrem Kommentar zugleich die Unerreichbarkeit der Wirkung erotischer Poesie deutlich zu machen, die gerade nicht in der Direktheit der Benennung, sondern in der Mobilisierung der Imagination gründet. Davon aber muss der Essay schon deshalb handeln, weil er sich nicht in schamloser Selbstausstellung erschöpfen, sondern zugleich als Appell
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funktionieren will. Denn zu Montaignes listiger Politik des Alters gehört es, keine occasion de plaisir (S. 883) mehr auszulassen. Der Essay Sur des vers de Virgile will einerseits skandalöse Wahrheitsrede mit allen Konsequenzen der Übertretung gesellschaftlicher Verbote sein, in seiner provozierenden Schamlosigkeit ist das nur denkbar als eine gewissermaßen exterritoriale, durch die Nähe des Todes sanktionierte Form der Selbstentblößung, Montaigne nimmt, wie er sagt, Abschied von den Spielen der Welt, indem er deren Spielregeln verletzt und das stumme Funktionieren des gesellschaftlichen Schammechanismus spektakulär sichtbar werden lässt. Der Text präsentiert sich aber andererseits auch als performative Verführungsrede, Zelebration der ‚letzten Umarmungen‘ (dernieres accolades), Appell an zukünftige erotische Interaktion, deren vergangene Vielfalt der Essay im Modus anonymer Pluralität evoziert: S’il y a quelque personne, quelque bonne compagnie, aux champs, en la ville, en France, ou ailleurs, resseante, ou voyageuse, à qui nos humeurs soient bonnes, de qui les humeurs me soyent bonnes, il n’est que de siffler en paume, je leur iray fournir des Essays, en chair et en os. (S. 885)
Wenn nur die humores kompatibel sind, sollte der Rest auch unter den Bedingungen des Alters kein Problem sein. Das ist die essayistische Kontaktanzeige des Schlossherrn von Montaigne, Ehemann und Vater, der ansonsten von seiner vorbildlichen Erfüllung der officia des Ehestandes zu berichten weiß, obwohl man ihn allgemein für tout licencieux (S. 894), ausschweifend und schamlos, halte,36 und der umstandslos einräumt: „Jamais homme n’eut ses approches plus impertinemment genitales.“ (S. 934) Sur des vers de Virgile modelliert ein dreifach schamloses Begehren: Sein Autor ignoriert die ethischen Normen des Alters, die Verpflichtungen von Ehe und Familie, die Indirektheit erotischer Codes. Der Essay drängt über die Sphäre der Repräsentation, des Porträts hinaus, er präsentiert sich als Annonce eines disponiblen erotischen Begehrens, das mit der Verkürzung der Lebensperspektive rechnet und daraus seine Dringlichkeit ableitet. Allerdings kann er die Reziprozität des Begehrens nicht als überwältigende imaginäre Präsenz des Eros im Bewusstsein des Lesers erzeugen. Dieses Vermögen besitzen nur die Fiktionen der (alten) Dichter. Der Essay des Schreibens, der die erotischen Aventüren der Vergangenheit und zugleich die gegenwärtige Disponibilität publiziert, möchte den Essay in Fleisch und Blut vorbereiten. Dazu muss er allerdings zu seiner bisherigen Praxis in ein distanziertes Ver-
36 Vgl. S. 894: „Et tout licencieux qu’on me tient, j’ay en verité plus severement observé les loix de mariage, que je n’avois ni promis ni esperé.“
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hältnis treten, er muss sein rhetorisches Register transformieren, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Montaignes Arbeit am experimentellen Genre schlägt sich nicht nur in der vieldiskutierten Praxis des allongeail nieder, welche der Chronologie der Essais Relief geben und eine Gedankenentwicklung dokumentieren. Sie bedarf auch der Reflexion ihres Sitzes im Leben ihrer Leser. Montaigne ist sich über diese Notwendigkeit umso massiver im Klaren, als die Publikation der ersten beiden Bücher der Essais seit 1580 den Autor mit unerwarteten und unerfreulichen Grenzen ihrer Wirkung konfrontiert. Ihre Zirkulation beschränkt sich nämlich nach der Beobachtung des Autors auf eine spezifisch öffentliche Sphäre. Schon lange störe es ihn, merkt Montaigne deshalb an, dass die Damen der Gesellschaft seine Essais als Haus- oder Salonmöbel (S. 899: meuble comun, meuble de sale) verwenden, als Gegenstand des täglichen Gebrauchs oder als Ornament öffentlicher Räume. Sur des vers de Virgile will über diese Platzierung hinaus in den Raum der Intimität des Lesers (der Leserin), und kassiert damit zugleich jene Sphäre vorgängiger Vertrautheit von Autor und Leser, welche der Avis au lecteur der Essais als Lektüremodell propagiert hatte. Dort hatte Montaigne erklärt, er suche, indem er sich in seiner Natürlichkeit male, nicht die Gunst der Welt (faveur du monde), sondern schreibe für die Bequemlichkeit seiner Freunde und Verwandten, damit sie nach seinem Tod den vertrauten Umgang mit ihm fortsetzen könnten. Allerdings mit der Einschränkung, die Rücksicht auf die Öffentlichkeit (reverence publicque) habe ihn davon abgehalten, sich ganz, und ganz nackt, darzustellen. Man lebe schließlich nicht mehr in der douce liberté des premieres loix de nature (S. 27). Nun, in Sur des vers de Virgile, und das heißt: nach der Erfahrung der Rezeption des eigenen, gedruckten Buches, ist Schluss mit solchen Rücksichten: ce chapitre me fera du cabinet (S. 889).37 Der Essay mag nicht mit der Poesie rivalisieren können, aber er mutet dem Leser eine Lektüreerfahrung jenseits der öffentlichen Kommunikation zu. Das heißt auch, dass sich seine Funktion nicht in Umarbeitung kurrenter Semantiken erschöpft, sondern auf Wirkungen setzt, deren sprachliche Artikulation unzulässig, wenn nicht unmöglich ist.
37 Dieses Thema wird in De la vanité ausgespielt: „Plaisante fantaisie: plusieurs choses, que je ne voudroy dire au particulier, je les dis au public. Et sur mes plus secrètes sciences ou pensées, renvoye à une boutique de Libraire, mes amis les plus feaux.“ (S. 1011) Es ist nicht die vorgängige und alltägliche, auf Wiedererkennen angelegte Vertrautheit, sondern die anonyme Situation der Lektüre, der Leser oder die Leserin im cabinet, welche Selbstentblößung möglich macht – und damit, wie in Sur des vers de Virgile durchgespielt wird, das Verhältnis zum Leser verwandelt.
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Sur des vers de Virgile wird Montaigne den Zugang zum cabinet seiner Leser eröffnen, er nimmt an dessen Ritualen teil, die Essais werden dort, und nicht mehr im Salon, gelesen werden. Die Opposition wird entschieden markiert. Was aber ist das cabinet? Inwiefern ist damit ein veränderter Modus der Lektüre angezeigt? Bevor das Wort sich seit dem 17. Jahrhundert in die Bedeutung von einerseits Abstellkammer, im Plural auch Toilette, und andererseits Arbeitszimmer für Freiberufler oder die Ministerrunde von Regierungen aufspaltete, vereinigt es zur Zeit Montaignes drei exemplarische Bezüge, deren Übergangscharaktere wie in einem Brennspiegel Dimensionen des Essays fokussieren: 1) das cabinet ist nicht das Schlafzimmer, aber es grenzt an dieses an, es dient der Sorge um den Körper, seiner Reinigung und Ornamentierung, dem An- und Entkleiden; 2) es versammelt die Preziosen und Kuriositäten des Hauses, als Ort seltener und wertvoller Objekte, vor allem bildhafter Darstellungen, die man nicht im Salon zeigen kann oder will; 3) es ist ein Ort der intimen und verschwiegenen Konversation, vom erotischen Abenteuer bis zur politischen Verschwörung.38 Im cabinet sind offensichtlich die Grenzziehungen der öffentlichen Kommunikation suspendiert. Es handelt sich um einen Freiraum, aus dem der gesellschaftliche Schamdruck ausgeschlossen bleibt, weil in ihm das Individuum seiner Neugier und seinen Regungen unabhängig von der vermeintlich normativen Instanz des internalisierten Anderen nachgeht. Diese Struktur der Entlastung eröffnet Freiräume des Begehrens und des Wollens, von der Sexualität bis zur politischen Macht. Stellt sich das cabinet als eine Welt des Übergangs und des Imaginären dar, getragen von den Objekten der Kunst und der Distanz zu eingespielten Rollenerwartungen, so besetzt Montaigne allerdings seine Offenheit für Inszenierungen und neuverhandelte Reziprozität mit einem ethischen Horizont, der sich radikal von den Fälschungen der Sprache und der Falschmünzerei der Sitten der Zeit absetzt. Er ethisiert jene Sphäre, die aus dem Ethos der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Wenn er Letzterer vorhält, eine konformistische Oberfläche zu präsentieren, um in ihrem Schutz das Gewissen der Mitspieler der Gesellschaft ins Bordell zu schicken, so flieht er demgegenüber mortellement die Gefahr d’estre pris en eschange, verwechselt, verkannt zu werden. Unter den Bedingungen der öffentlichen Kommunikation vermag kein Name das vray estre zu garantieren, weil es in einer Maske erscheint und erscheinen muss, welche 38 So liest man bei Donneau de Visé (1638–1710): „ce que l’on appelle cabinets, chez les grands, sont des anti-chambres où plusieurs personnes se peuvent, en divers endroits, entretenir de leurs affaires les plus privés.“ (zit. nach: Grand Larousse de la Langue française. Paris 1971–1978, Bd. 1, S. 552).
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die Einheit, besser: die restlose Übersetzbarkeit von Denken, Reden und Handeln zerschneidet. Wer sich stets in der Maske der sozialen Interaktion präsentiert, mag sich schließlich auch mit gefälschter Anerkennung, fausses approbations, abfinden. Mehr noch, die Maske mag, wie es Stanley Cavell einmal im Blick auf King Lear formuliert hat, von der Motivation getragen sein „to avoid recognition, the shame of self-exposure, the threat of self-revelation.“39 Dass Shakespeares Lear in der Abdankungsszene das falsche Spiel seiner beiden älteren Töchter provoziert, nicht durchschauen will und mitspielt, und die sprachlose Liebe Cordelias deshalb verwerfen muss, um sich den anderen und sich selbst nicht erkennen geben zu müssen, diese Tragik einer existentiellen, wie Cavell formuliert, avoidance of love umgeht Montaigne – ihn nennt Friedrich Nietzsche das „Vorbilde“ Shakespeares40 – in einer aggressiven Rhetorik der Selbstentblößung, die den Essay an seine Grenze treibt, weil sie nicht nur aus dem Anspruch des Selbstporträts, sondern zugleich der Anerkennung durch den anderen lebt, und die unhintergehbare Verzahnung beider ausstellt: Wer sich vor den anderen verbirgt, verbirgt sich auch vor sich selbst.41 Zunächst aber produziert die im Blick auf das cabinet suspendierte Opposition von Maske und Wahrheit einen Essayismus der Tiefenexploration, der Selbstausstellung als Blick in die Tiefe des Inneren, der ‚Innereien‘: „[…] moy, qui me voy […] me recherche jusques aux entrailles […].“ (S. 889) Die Formel erfasst, was im 17. Jahrhundert eine Grundfigur moralistischer Denunziation gesellschaftlicher Schamkultur werden wird: die optisch-haptische Erschließung und Entblößung verborgener Tiefe. Was aber in der Moralistik der Klassik den Charakter einer Denunziation von Negativität annimmt, ist bei Montaigne positiv als Ethos der eigenen Form besetzt. Mit seiner Ausstellung entfernt er sich weit von der Leitmetaphorik des Porträts oder auch des Registers. Es geht ihm um eine Tiefendimension, die ein souveräner eigener Blick erschließt, der gerade keinen internalisierten Anderen repräsentiert, sondern gegen diesen nach außen drängt, in die Konstitution einer Art Gegenöffentlichkeit, die ihren eigenen Raum beansprucht.
39 Cavell, Stanley: Must we mean what we say? Cambridge/Mass. 1968, S. 286. 40 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Kritische Studienausgabe, Bd. 2. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 15 Bde. München 1999, S. 161. 41 Vgl. dazu Merleau-Ponty, Maurice: Signes. Paris 1960, S. 334ff.: „Le plus propre de Montaigne est peut-être dans le peu qu’il nous a dit sur les conditions et les motifs de ce retour au monde […] Le même auteur qui voulait vivre selon soi a passionnément éprouvé que nous sommes, entre autres choses, ce que nous sommes pour les autres, et que leur opinion nous atteint au centre de nous-mêmes.“
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„The basic experience connected with shame is that of being seen, inappropriately, by the wrong people, in the wrong condition. It is straigthforwardly connected with nakedness, particularly in sexual connections“, so formuliert Bernard Williams in seiner Analyse der griechischen Schamkultur.42 Das moy Montaignes, das nicht zufällig den Reim auf Sehen ausbeutet, moy, qui me voy, ich, der ich mich sehe, präsentiert sich als ein in die Tiefe gestaffeltes optisches Beobachtungsfeld, dessen Kern, die ‚Eingeweide‘, erst durch Manipulation, durch Freilegung des vorderhand der Beobachtung Unzugänglichen zugänglich wird. Diese optisch-haptische Selbstexploration und -entblößung ist sowohl radikal als auch autonom, personne ne m’aide (S. 917), nicht aus Hybris (présomption), sondern aus Mangel an Modellen und Vorbildern, deshalb exactement mien, ohne heteronome Färbung und Fälschung. Daran ändert für Montaigne auch die Tatsache nichts, dass er das Detail des Geständnisses des Öfteren – nach dem Geschmack mancher Leser vielleicht zu oft – einem lateinischen Autor überlässt, mit einem Zitat, das überdies nicht den Kontext der Selbstrede, sondern häufig der satirischen Sozialbeobachtung aufruft.43 Aber der fremde Text ist unverzichtbar, wie sich zeigen wird, nicht nur als poetischer Appell an die Imagination. Und trotzdem: Nichts garantiert, dass dem Anerkennungsbegehren des exzentrischen Autors angesichts der eingespielten Falschmünzerei der gesellschaftlichen Kommunikation entsprochen würde. Die fausses appprobations sind die gängige Münze öffentlicher Anerkennung. Montaigne erhellt eine fundamentale Verlegenheit seines Unternehmens, wenn er kritisch auf die Rezeption der ersten Ausgaben der Essais blickt. Man wird die Bemerkung, die Leser(innen) hätten die Essais als meuble de sale betrachtet, so verstehen können, dass sie dem (seiner selbst vielleicht erst verspätet bewussten) Anerkennungsanspruch des Autors nicht gefolgt sind, vielmehr die Essais umstandslos in die Zirkulation maskenhafter Kommunikation eingespeist haben. Das vray estre, das nur im Blick in die Tiefe der Eingeweide sich erschließt, verwandelt sich in die indiffe-
42 Williams: Shame and Necessity, S. 78. Williams zitiert zustimmend die kleine Anekdote, die sich in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft findet: „‚Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?‘ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: ‚aber ich finde das unanständig‘ – ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.“ (Zit. Ausgabe, Bd. 3, S. 352) 43 Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in der essayistischen Rede ist ein eigenes Thema von Sur des vers de Virgile – aber Montaigne glaubt, sich vom ‚Geruch‘ der fremden Rede frei geschrieben zu haben: „[…] de mes premiers Essays, aucuns puent un peu l’estranger“. Insgesamt aber gelte jetzt: „J’ay faict ce que j’ai voulu: tout le monde me recognoist en mon livre, et mon livre en moy.“ (S. 918)
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rente Münze maskierter Reziprozität, wenn es als repräsentatives Möbel behandelt wird. Die transgressive Rhetorik von Sur des vers de Virgile hat in der Erfahrung einer nivellierenden, oberflächlichen Lektüre der Essais ihr Ausgangsmotiv. Sie will einen anderen Ort der Rezeption erzwingen, den der Verborgenheit und der Freisetzung des Imaginären, das cabinet. Montaignes Pathos der Wahrheit speist sich aus einem dreistelligen ethischen Anspruch, der Abbildbarkeit von Denken, Reden und Handeln, oser dire tout ce que j’ose faire, Veröffentlichung der pensées mêmes impubliables (S. 886) gegen den Schamdruck der Gesellschaft. Selbstvermittlung und Öffentlichkeitsbezug werden damit in eine Komplementarität gezwungen. Die Sorge um die Dissoziation von Denken, Reden und Handeln ist natürlich nicht neu, ihren Ort zu benennen gehört zu den klassischen Aufgaben des ethischen Diskurses.44 Aber nun gilt es, ihren Anspruch gegen die als kontingent denunzierten und in ihren Konsequenzen desaströsen Schamgrenzen durchzusetzen. Montaignes kühne Grenzüberschreitung, die hardiesse de la confession, lebt aus dem Impetus, der Markierung der Grenze eine Figur restloser Übersetzbarkeit entgegenzusetzen, denn nur so lässt sich die zirkuläre Verstrickung von Selbst- und Fremdverbergung verhindern.45 Anachronistisch formuliert könnte man geradezu von einem Phantasma der Verdrängung reden, aus dem sich in Sur des vers de Virgile eine polemische Aggressivität speist, welche sowohl äußere wie innere, soziale wie psychische Sichtbarkeit ins Visier nimmt. Die Denunziation der Falschmünzerei der öffentlichen Kommunikation geht einher mit einem skandalösen, mehrfach in drastischer Metaphorik formulierten Anspruch der Selbstentblößung: Il faut rebrousser ce sot haillon qui cache nos mœurs. (S. 888) Je suis affamé de me faire cognoistre. (S. 888)
Der Überbietungsanspruch des Essays zitiert von den Confessiones des Augustinus bis zu dem reformatorisch-gegenreformatorischen Streit über Status, Umfang und Ort der Beichte epochal virulente Geständnismodelle, denen er eine Souveränität der Selbstrede entgegensetzt, ohne ihre Fragilität, zwischen den aggressiven Gesten der Selbstentblößung und einer umwegigen Textpraxis des Aufschubs des Geständnisses, zu ver-
44 So zitiert Montaigne aus Ciceros De finibus die Ermahnung: „Non pudeat dicere, quod non pudeat sentire.“ (S. 886) 45 Vgl. z. B. S. 887: „Il faut voir son vice, et l’estudier, pour le redire: ceux qui le cachent à autruy, le celent ordinairement à eux-mesmes : et ne le tiennent pas assés couvert, s’ils le voyent. Ils le soustroyent et desguisent à leur propre conscience.“ (S. 887)
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bergen.46 Fraglos indiziert die Faktur des Textes, dass die Transgression des Geständnisses nicht nur fremde, heteronome, sondern auch eigene Grenzen betrifft. Mit dem Anspruch spektakulärer Selbstentblößung, der Selbstreferenz und gesellschaftliche Öffentlichkeit verklammert, greift Montaigne offenkundig auf antike Modelle zurück. Michel Foucault hat sie in seinen letzten Vorlesungen am Collège de France unter dem Titel der parrhesia zum Thema gemacht. Die im Februar und März 1984, wenige Monate vor seinem Tod, gehaltenen, mit großer Verspätung schließlich 2009 veröffentlichten Vorträge, kreisen in ihren Interpretationen um einige zentrale Texte der griechischen philosophischen Tradition, in denen es um das Verhältnis von Individuum und Polis, von Selbstsorge und politischer Herrschaft geht. Hatte sich Foucault vorher in seinen Vorlesungen insbesondere um Fragen der Biopolitik, den gouvernement des vivants, bemüht, so kehrt er mit Le courage de la vérité 47 zu jenen Fragen der Selbstsorge, des souci de soi, der epimeleia, die im Zentrum des zweiten und des dritten Bandes der Histoire de la Sexualité stehen, zurück.48 Den Übergang von politischer Herrschaft zum Ethos des Individuums macht Foucault nun am antiken Konzept der parrhesia fest, jener Form der offenen, Schamgrenzen ignorierenden Rede, die Foucault als einen spezifischen, irreduziblen Modus der Wahrheitsrede (véridiction) auszeichnet, der von konkurrierenden Modalitäten der Wahrheit wie der prophetischen Rede, dem Weisheitsanspruch oder auch technischem Wissen zu unterscheiden sei. Die Texte, an denen Foucault den Umschlag von der politischen zur ethischen parrhesia rekonstruiert, beginnen bei Euripides und reichen bis in die Patristik. Die zentrale Schaltstelle der Umbesetzung des Konzepts, von der vorrangig politischen zur ethischen Bedeutung, bilden allerdings die Dialoge Platons, in erster Linie der sogenannte cycle de la mort des Sokrates, von der Apologie bis zum Phaidon. Hier vollzieht sich der Umschlag von der Sorge um die Polis in die Sorge um das eigene Selbst. Aber Foucault interessiert sich auch für moderne Reprisen der parrhesia, in der Literatur des 19. Jahrhunderts, bei Baudelaire oder Dostojewski beispielsweise, und für
46 Die Opposition gegen die metaphorische Isotopie der falschen Zeichen rekurriert insbesondere auf eine gegenläufige Isotopie des Hungers und der nährenden Speise, eine von biblischen Resonanzen gesättigte, vielleicht auch Rabelais’ mœlle substantifique ins Spiel bringende Rede. 47 Michel Foucault: Le courage de la vérité. Le gouvernement de soi et des autres II. Hg. v. Frédéric Gros. Paris 2009. 48 Foucault, Michel: L’usage des plaisirs. Histoire de la sexualité II. Paris 1984; Foucault, Michel: Le souci de soi. Histoire de la sexualité III. Paris 1984.
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sie, wie auch für Montaigne, sind jene Formen spektakulärer, schamloser Selbstentblößung virulent, wie sie von den Zynikern praktiziert wurden. Wenn Foucault vom Mut zur Wahrheit redet, so sind damit sowohl das Beispiel des Sokrates wie die zynische Selbstinszenierung gemeint. Die parrhesis reicht von der gelassenen Wahrheitsrede angesichts des Todes bis zu Formen fast schon ludischer Inszenierung der Selbstgefährdung. Bei Sokrates steht sie sowohl politisch wie ethisch im Zeichen des drohenden, aber auch des angenommenen Todes. Die Wahrheitsrede der parrhesis, so zeigt sein wirkungsmächtiges Beispiel, ist riskant, sie führt das Risiko des Ostrazismus oder des Todes mit sich, weil sie die Aggression jener provoziert, die sich der politischen und ethischen Wahrheit nicht stellen wollen. Die Gewaltförmigkeit der Reaktion hat damit zu tun, dass die parrhesia nicht nur Kritik übt, sondern den gemeinsamen Boden der Verständigung thematisiert, um ihn in Frage zu stellen, zumindest was das Selbstverständnis der Beteiligten betrifft. Für die sokratische Maieutik ist dies zweifellos ein konstitutives Prinzip, aber es kennzeichnet auch jene skandalösen Selbstausstellungen der eigenen Nacktheit in ihrer Animalität, wie sie die Zyniker praktizieren. Zugleich wird hier die parrhesia zu einer Wahrheitsrolle, die man im Interesse der Provokation kopieren kann. Die ostentative Schamlosigkeit der Zyniker ist dafür das beste Beispiel. Sie kann als massive Herausforderung funktionieren, weil die parrhesia anders als die Rhetorik unter der Prämisse steht, dass der Sprecher sich mit der Wahrheit des Gesagten identifiziert, weil er seine eigene Wahrheit, den Anspruch seines ethos, zur Geltung bringt.49 Montaigne ruft in Sur des vers de Virgile nicht nur die ethische parrhesia des Sokrates auf, an der er sich auch in anderen Essays orientiert. Vielmehr bringt er nunmehr auch die zynische Radikalisierung ins Spiel, die Theatralisierung der Selbstausstellung und die Schamlosigkeit in der Präsentation der eigenen Körperlichkeit und Sexualität. Er setzt damit zugleich eine Differenz zu jener im Zeichen des Malens, der eigenen Form und der Färbung stehenden Selbstausstellung, deren Paradigma durch Du repentir formuliert ist. Die parrhesia ist ein Modell, auf das Montaignes experimentelle Essayistik zurückgreift. Aber es wird schnell deutlich, dass die Rhetorik der Exploration der Tiefe und des provokativen Begehrens, erkannt und anerkannt zu sein, die ethische Wahrheitsrede der Antike nicht einfach wiederholen kann und will. Nicht zufällig legt der Essay bereits mit dem Titel eine Spur, welche nicht nur eine Mystifi kation darstellt, sondern am Paradigma des kanonischen Intertexts nach dem
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Vgl. Foucault: Le courage de la vérité, S. 25: „[…] le parrésiste met en jeu le discours vrai de ce que les Grecs appelaient l’êthos.“
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Verhältnis des Erotischen und des poetischen Imaginären fragt. Wenn man den spezifischen Ort von Montaignes Essay in den „pratiques du dire-vrai sur soi-même“50 ausmachen will, dann muss man darüber hinaus die Spannung im Verhältnis von Ethos und Scham sichtbar machen, die Montaignes Rhetorik der Selbstentblößung zwar nicht explizit formuliert, in der umwegigen Bewegung des Essays wie im Spiel von eigenem und fremden Text aber anzeigt.
5. Imaginäre Fülle und körperlicher Mangel Kurz nach der Ankündigung, er wolle in dem Essay von der action génitale (S. 889) handeln, schiebt Montaigne das dem Essay seinen Titel gebende Vergil-Zitat ein, eine Passage aus dem 8. Buch der Aeneis, die eine Liebesszene zwischen Venus und ihrem Ehemann Vulkan evoziert. Wegen ihrer dramatischen Prägnanz ist sie häufiger Gegenstand der Malerei geworden, Anthonis van Dyck hat ihr zwei große Bilder gewidmet und noch 1757 malt François Boucher ein heute im Louvre hängendes Bild, das zeigt, wie Vulkan Venus die Waffen für Aeneas gibt. Ihren poetischen Effekt gewinnt die Szene bei Montaigne nicht nur durch die ungewöhnliche Länge des Zitats (vv. 378–392, 404–406), sondern auch durch die Auslassung zweier Zwischenpassagen, die von der List (dolus) der Göttin, welche ihren Gatten zum Waffenschmieden für ihren unehelichen, mit Anchises gezeugten Sohn Aeneas überreden möchte, und von Vulkans kriegsrelevanter Schmiedekunst handeln. So kann sich Montaignes Leser der Vorstellung überlassen, wie Venus mit ihren schneeweißen Armen den Mann umfasst, Hitze durchfährt seine Glieder wie der Blitz, der die Wolken zerreißt, um sich schließlich auszumalen, wie Vulkan nach den (o)ptatos […] amplexus friedlich im Schoß der Göttin einschläft. Gegen den Text Vergils stellt Montaigne die Kontinuität der Liebesszene her und macht Vergil damit zum erotischen Dichter – zumindest für die bewegte Einbildungskraft seiner Leser. Hinter der Textmanipulation steht ein präziser poetologischer Zweck. Montaigne bereitet die Zitatcollage mit der programmatischen Bemerkung vor, die forces et valeurs der Liebesgöttin fänden sich lebendiger und intensiver, plus vifves et plus animées, in der Darstellung der Dichtung (en la peinture de la poësie) als in ihrem eigenen Wesen (en leur propre essence) (S. 891). Die Liebe ist wirklicher und gegenwärtiger in den Versen des römischen Dichters als in dem, was, wie auch immer, ihr eigenes Wesen 50 Foucault: Le courage de la vérité, S. 5.
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ausmacht. Dieses bleibt hinter dem, was die Poesie im Leser erzeugt, zurück. Das Imaginäre der Poesie wird für den Leser zu einer Wirklichkeit, der er sich nicht entziehen kann, weil sie ihm die Souveränität des distanzierten Urteils nimmt. Montaigne hatte das Thema der poetisch erzeugten und nur im Medium der Poesie erfahrbaren Wirklichkeit bereits in dem Essay Du jeune Caton behandelt, es ging dort allerdings nicht um Liebe, sondern um Tugend, genauer: um ihre für die Modernen schon gar nicht mehr vorstellbare, geschweige denn praktizierbare Verkörperung in der Gestalt des jüngeren Cato. Auch dort werden römische Dichter zitiert, kulminierend wiederum in einem Zitat aus dem achten Buch der Aeneis. Im Zentrum von Montaignes Konzeption großer, wirkungsmächtiger Dichtung steht die These, dass der poetische Text in seiner eindringlichsten Form, wo er dem Leser eine unverfügbare Wirklichkeit imaginär gegenwärtig werden lässt, die Urteilskraft, das jugement, außer Kraft setzt, also genau jenes Vermögen, als dessen ‚Versuch‘ (essai) sich die Essais immer wieder verstehen. Montaigne greift dabei erkennbar auf Motive der platonischen Enthusiasmuslehre (fureur) zurück, es geht ihm indes gerade nicht um die Herstellung der Dichtung, sondern um ihre Wirkung, und diese wird so modelliert, dass sie als die Überwältigung, ja Verwüstung des Urteilsvermögens erscheint: „Elle (i.e. la poésie) ne pratique point notre jugement: elle le ravit et le ravage.“ (S. 237) Die alliterative Verdopplung (ravir/ravager) bündelt, was für Montaigne zu den prägendsten Erfahrungen gehört: Seit seiner Kindheit habe die Dichtung die Wirkung gehabt de me transpercer et transporter. Und nicht zufällig kehren in den beiden Verben das rhetorische Konzept des acumen und die Trope der Metapher wieder. Beide indizieren eine massive Inanspruchnahme des Lesers, als Läsion und als forcierte Bewegung. Sur des vers de Virgile greift diese poetologischen Reflexionen auf, lässt aber zugleich ihre Einschlägigkeit für den rhetorisch-poetischen Status des Essays selbst sichtbar werden. Die nackte Venus sei nicht so schön, lebendig, haletante, wie die der Poesie, und das, obwohl der Autor der Aeneis zum Erstaunen Montaignes eine Venus maritale wählt. Diese Verwunderung arbeitet er in einer längeren, dezidiert prosaisch-distanzierten Erörterung der officia des Ehestands ab. Gefragt ist hier in Montaignes Expertise das kühle Urteil im Interesse des Oikos, nicht das Feuer der Leidenschaft. Die überwältigende Wirkung der Dichtung Vergils, jenes je ne sçay quel air, plus amoureux que l’amour mesme, wird daher in ihren Implikationen erst später entfaltet, im Blick auf Lukrez. Die ehebrecherische jouyssance desrobée von Venus und Mars, die im ersten Buch von De rerum natura (vv. 32–34, 36–40) evoziert wird, bildet sowohl ein thematisches Gegenstück wie eine poetische Parallele zu dem Text Vergils. Unter dem Blickwinkel des Urteils, welches auf das Verhältnis von Ehe und Liebe zielt,
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geht Lukrez offenkundig „plus sortablement“ vor als Vergil. Unter dem Aspekt der imaginären Wirklichkeit der Poesie aber wiederholt Lukrez die Wirkung der Aeneis. Man weiß mittlerweile genauer, dass Montaigne seit den sechziger Jahren Lukrez intensiv gelesen hat, seine vielfältigen Notizen zu De rerum natura hat Michael Screech 1998 herausgegeben – die in Sur des vers de Virgile zitierte Passage ist in Montaignes eigenem Exemplar angestrichen. Auch weiß man, dass Montaigne die Geschichte von Mars und Venus, einem klassischen Paradigma des Ehebruchs, sich für seine eigenes cabinet hat malen lassen. Offenbar hat er sich als Ehemann und Hausherr gerne mit Alternativszenarien beschäftigt. Es überrascht daher auch nicht, dass Montaigne im Anschluss an Lukrez nicht auf Distinktionen zu Liebe und Ehe zurückkommt, sondern auf das Thema des Geständnisses, der Selbstdarstellung, der Anerkennung. Es scheint, als modelliere für ihn Vergils poetisches Ingenium das Unwahrscheinliche, die erotische Intensität einer Venus maritale, Lukrez hingegen das zwar Erwartbare, wegen seiner häufig desaströsen Konsequenzen für die Betroffenen aber zugleich Traumatische und Unauslöschliche: „Le charactere de la cornardise est indelebile“ (S. 912).51 Wie auch immer: In der Rollenwirklichkeit der Ehe oder des Ehebruchs ist der Eros immer institutionell gerahmt. Eine unausweichliche Wirklichkeit sui generis, die weder im Erleben der Akteure noch in den Reaktionen der Beobachter adäquat repräsentiert ist, wird er durch die Einbildungskraft des Dichters, ihre gaillardise und deren Wirkung auf den Leser. Der spezifische Kontext von Sur des vers de Virgile, das Geständnis der eigenen Sexualität vor dem Hintergrund einer hypostasierten Agonalität der Geschlechter, führt konsequent zu einer Neuzentrierung poetischer Fülle, in der Metaphorik einer ‚männlichen‘ auktorialen Intensität, die sich in der vigueur naturelle et constante (S. 913) der Diktion niederschlägt. Sie zirkuliert zwischen dem Autor und seinem Text, als das Phantasma einer überwältigenden Körperlichkeit, die im Ingenium (pectus) des Autors wurzelt und Worte produziert, die ihrerseits de chair et d’os (S. 916) zu sein scheinen. Man erkennt die Inversion: Montaigne schreibt einen Essay, um ihn vor dem Hintergrund des Alters und der Erkaltung des Körpers in der erotischen Praxis, en chair et en os, zu überschreiten; der Dichter produziert selbst Worte von unerhörter körperlicher Intensität, welche jede Praxis hinter sich lassen.
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So zitiert Montaigne zustimmend die Praxis der von Reisen zurückkehrenden Römer, die Ehefrauen durch Boten von der Ankunft zu informieren. So verhindert man vielleicht nicht die Untreue, aber – was entscheidend ist – das Wissen davon: „Il faut estre ingenieux à eviter cette ennuyeuse et inutile cognoissance.“ (S. 912)
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Sowohl bei Vergil wie bei Lukrez geschieht die poetische Überwältigung im Modus der Indirektheit, als Zeigen im Verbergen, Verbergen im Zeigen. Die Verse der beiden Dichter handeln reservément et discrettement de la lascivité (S. 923). Sie inszenieren deren Entdeckung, ihr Sichtbarwerden, ihre Realisierung in der Lektüre. Sie machen den Rezipienten zum Produzenten der erotischen Gestalt. Dadurch machen sie die lascivité zum Ereignis für den Leser, anders als jene Autoren, wie etwa Martial, welche die nackte Venus direkt und unvermittelt zeigen wollen und damit nur Überdruss erzeugen. Das diskrete Verfahren allusiver Indirektheit mobilisiert die Einbildungskraft, eröffnet eine belle route à l’ imagination. So verstanden, markiert die poetische Enargeia aber zugleich eine Grenze, die der Autor Montaigne in seinem Essay aufbaut, um diesem eine doppelte Differenz einzuschreiben. Die moralistische Geständnisrede von Sur des vers de Virgile ist gerade kein Beispiel poetischer Intensität in dem dargestellten Sinne. Häufig überlässt Montaigne einem lateinischen Text oder Autor die schamlose Benennung des Tabuierten und praktiziert selbst einen Diskurs der Erotik, der sie als ethisches Thema behandelt. Der Essay feiert am Beispiel von Vergil und Lukrez die Kunst poetischer Indirektheit als Königsweg der Mobilisierung des Imaginären, der Verwandlung durch Überwältigung, er selbst bewegt sich allerdings zwischen der schamlosdirekten ‚Materialität des Geständnisses‘ und einer ethischen Überschreibung des erotischen Rituals, die in der Intaktheit des Urteils gründet. Nicht imaginäre Einheit heißt seine Strategie, sondern Transgression und Aufschub, Substitution und Kompensation. Zwei Forderungen stellt der Autor Montaigne an seinen eigenen Text: Er solle ihn in der Wahrheit des Eigenen, exactement mien, und zugleich in seiner Lebendigkeit, vivement (S. 918), darstellen. Die Gefahren, dieses doppelte Ziel zu verfehlen, sind selbst zweifach: die Neigung zur Nachahmung zunächst, die Montaigne im Blick auf die Werke der Dichter und Philosophen vor allem an seinen frühen Essays diagnostiziert, und die er überaus drastisch am Beispiel der imitation meurtrière (S. 918) jener bedrohlichen Affenart verdeutlicht, die Alexander der Große durch listige Ausnutzung ihres Nachahmungszwangs erfolgreich zur Selbstfesselung verführt habe. Die enthusiastische Lektüre der erotischen Dichter droht die sexuelle Wahrheit Montaignes zu infizieren und ihre Differenz aufzuzehren. Die gegenläufige Tendenz neigt dazu, eine vermeintlich schlichte und einfache Rede, das parler materiellement et simplement (S. 920), mit der eigenen Wahrheit zu verwechseln. Wenn die Dichter die Erfahrung des Eros in die imaginäre Verwandlung transponieren, so reicht die ‚materielle‘ Rede an ihn nicht heran. Montaigne identifiziert in dem Rededuktus, der die Venus als Lust an der Entleerung der einschlägigen Körpergefäße entzaubert (S. 920: plaisir à descharger ses vases),
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einen Habitus aggressiver, satirischer Selbstverkleinerung. Die Denunziation des Menschen als einer sotte production, welche seine sexuelle Ausstattung und das Zeugungsgeschehen als action honteuse und als parties honteuses, also als Gegenstand der Scham verwirft, ist ihm Reflex einer Theologie der corruption originelle (S. 931), nicht Wahrheitsrede, sondern Präjudiz der Selbstverwerfung. Die Bücher beiseite zu lassen, laissant les livres à part (S. 920), in der Absicht, eine einfache, ‚materielle‘ Rede zu führen, mobilisiert die fremde Rede ebenso wie die condition singeresse et imitatrice (S. 918), in beiden wuchert die Selbstverfehlung. Die verfügbaren Schemata der Rede machen das erotische proprium unerreichbar. Die schamlose Ausstellung der eigenen Tiefe droht zwischen der Macht der poetischen Imagination und der denunziatorischen Rede materieller Direktheit sprachlos zu bleiben. So bleibt nur der Umweg als Weg, die Anzeige des Eigenen über und in der Differenz. Indem Montaigne den eigenen Eros zwischen dem Körper und dem Ethos situiert, greift er auf die den Essay eröffnenden Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Seele zurück. Und deren unruhige Dynamik wiederholt er in einer Struktur der Kompensation, die zur Signatur des eigenen Eros wird. Montaigne modelliert seine Differenz einerseits im Blick auf den Körper und seine Sexualität als Prozess gegen die Natur, andererseits im Blick auf die erotische Interaktion als Kritik an den gesellschaftlich eingespielten Üblichkeiten und als ethische (Neu-) Besetzung. Die Natur, beklagt Montaigne zunächst, habe ihn ungerecht, illégitimement et incivilement (S. 931), behandelt, indem sie ihm eine körperliche lésion énormissime zugefügt hat. Die Präzisierung des Schadens überlässt er dem fremden Text, einem (leicht veränderten) Zitat aus den Diversorum veterum poetarum in Priapum lusus (Venedig 1517), es geht um mangelnde Länge und geringen Umfang der mentula. Montaigne verwendet den Begriff der Läsion, der im 16. Jahrhundert vorrangig noch die juristische Bedeutung eines Unrechts oder einer Schädigung hat, obgleich die medizinische Bedeutung der Verletzung bereits etabliert ist. Der Autor der Essais lebt also im Zeichen einer juristisch-medizinischen Verletzung an zentraler Stelle, dort, wo er proprement homme ist, sexuell an seinem Körper identifizierbar. Gesteigert wird die Wirkung dieses Defekts noch durch die für Montaigne unselige Praxis priapeischer kultureller Symboliken, von der Kleidermode über die Dichtung bis zur bildenden Kunst, die unangebrachte, weil übersteigerte Erwartungen auslösen und zu einem cruel mespris (S. 902) unserer ‚natürlichen Reichweite‘ (portée naturelle) führen. Hinzu kommen im Falle Montaignes funktionelle, halb natürliche, halb kulturell verstärkte Defekte, er ist vicieux en soudaineté (S. 924), und laboriert, wie es scheint, an ejaculatio praecox. Der Körper, den die Renaissance, exemplarisch in Leon Battista Albertis Della famiglia, em-
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phatisch als ein proprium aneignet, ist bei Montaigne nicht nur durch das ererbte, in seinen Anfällen unkalkulierbare Leiden der Nierensteine enteignet, sondern auch durch die unzureichende Ausstattung und heikle Funktionalität seiner Sexualität. Aber gerade wenn der Körper zum Eigenen der Person wird – und nicht mehr nur wie in der Stoa der erste Fremde – ist seine Ausstellung, und insbesondere die Präsentation seiner Defekte, ein kardinaler Verstoß gegen die gesellschaftlichen Schamgrenzen. Die Verletzung Montaignes ist umso gravierender, als das Naturverhältnis der Geschlechter nach seiner eigenen Analyse ein agonales, von riotte und brigue geprägtes, darstellt. Montaigne macht durchaus deutlich, dass die tradierten Regulierungen und Ritualisierungen der Geschlechterbeziehungen von Männern gemacht sind, allerdings aus einer Position der Schwäche heraus, die Frauen seien in den effets de l’amour von Natur aus ungleich ausdauernder und brennender. Das hat verschiedene Gründe, anatomische (die Lust des Mannes ist körperlich sichtbar, die der Frau im Inneren des Körpers verborgen), physiologische (die Frau ist im Gegensatz zum Mann jederzeit sexuell erregbar), an einschlägigen Beispielen herrscht kein Mangel, mit dem Montaigne intrigierenden Beispiel der Messalina an erster Stelle. Und umso mehr scheint eine Praxis des körperlichen Scheins angebracht, und nicht die der schamlosen Selbstenthüllung.
6. Ethos und Scham Auf diese Situation des Mangels antwortet Montaigne nun mit einer komplexen Inversionsstrategie, welche die ethische Seite des Eros betrifft. Diese hat utopischen Charakter dort, wo es um eine Rollenumkehrung geht, die an die Stelle naturhafter und symbolisch verstärkter Geschlechteragonalität eine Wunschphantasie der zwanglosen erotischen Promenade setzt, ein Spiel hedonistischer Verstetigung, metaphorisch mit einem Gang durch die cabinets oder palais magnifiques der Kunst gleichzusetzen, „par divers portiques, et passages, longues et plaisantes galleries, et plusieurs destours“ (S. 924), Heilung all jener Läsionen der Natur und der Kultur, welche den Ausgangsbefund bilden. Die Utopie der erotischen Promenade entwirft das Bild des geheilten Antagonismus der Geschlechter. Diesem prospektiven Phantasma korrespondiert retrospektiv eine summarische Rekapitulation der erotischen Biographie des Autors, in der die naturhafte, in den kulturellen Ordnungen verstärkte Agonalität der Geschlechter suspendiert ist. Auf dieser Ebene spielt sich zugleich die zentrale Kompensation jener Läsion ab, welche Montaignes Streit mit der Natur motiviert, und zwar in einer durchgehenden Ethisierung der erotischen Relation. Sie macht die andere Seite von Montaignes erotischem proprium aus, sie unterscheidet
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ihn von den mythischen Figuren erotischer Gewalt wie von der riotte im Geschlechterverhältnis seiner Zeitgenossen.52 Nicht mehr um imaginäre Überwältigung geht es, sondern um eine normative, ethische Praxis des Eros. An die Stelle der Poesie tritt der Diskurs. Sur des vers de Virgile evoziert eine erotische Praxis, deren Rahmen durch eine Reziprozität des Willens der Beteiligten gesetzt ist, in dem die Agonalität aufgehoben ist. „C’est la volonté qu’il faut servir et practiquer. J’ai horreur d’imaginer mien, un corps privé d’action.“ (S. 925) Der Schrecken, den Montaigne meint, verkörpert sich in Beispielen, wo an die Stelle der Reziprozität und des Einverständnisses die wahnhafte erotische Besetzung des Anderen, als Statue beispielsweise, wie bei der Venus des Praxiteles, oder in der Umarmung des toten Körpers der Geliebten getreten ist. Aber der Taumel, der Rausch und der Wahn sind Grenzsituationen, vor denen Montaignes erotische Praxis innehält. Seine Liebesbeziehungen stehen demgegenüber unter der Prämisse eines marché consciencieux, als Austausch ohne Fälschung, in der Gewissheit der Zeichen, von denen sie getragen werden. Bereits in der Diskussion der officia des Ehestandes war die Tendenz zur ethischen Überschreibung und damit zur Personalisierung der institutionellen Ordnung des Oikos zu beobachten. Jetzt aber geht es um Verhältnisse, die durch naturhafte Agonalität und symbolische Rivalität charakterisiert sind, gerade in ihnen bringt Montaigne normative Reziprozität zur Geltung. Der defizitäre sexuelle Körper der action genitale wird zwar schamlos, wenn auch im fremden Wort, ausgestellt; zugleich wird die Läsion durch ein Ethos des Verhaltens kompensiert, an dem Montaigne auch dann festhält, wenn das Gegenüber dem Anspruch nicht zu entsprechen vermag. Das Stiefkind der Natur wird damit zum ethischen Souverän. Oder, in der Bildlichkeit des Textes: Da die Liebe eine convention libre darstellt, in der es keine verbindlichen Vorgaben oder Vorschriften gibt, weil sie als ein freier Handel unvermeidlich durch Falschmünzerei bedroht ist, können die Schulden, das Defizit der Natur, durch Wahrhaftigkeit der Zeichen, Aufrichtigkeit der Rede, Gerechtigkeit der Liebesgaben getilgt, ja in ein Guthaben verwandelt werden. Montaigne hat den Handel der Liebe, so weit dessen Natur es zulässt, aussi consciencieusement qu’autre marché betrieben, avec quelque air de justice; Affekte und Leidenschaft habe er nur in dem Maße bezeugt (tesmoigné), wie er sie empfunden habe. Aus dem Blickwinkel des usage moderne sei das natürlich sottement consciencieux (S. 933), anachronistische Quijotterie in einer ethisch entleerten Welt. Aber der Habitus der Zeitgenossen sprengt in der Dissoziation von Denken, Reden und Handeln
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Vgl. dazu: Starobinski, Jean: Montaigne en mouvement. Paris 1982, S. 238ff.
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ohnehin jenen Kern, der für Montaigne die Einheit des Ethos ausmacht: von der Verpflichtung des gegebenen Wortes – „J’ay observé ma parole“ –, über die Repräsentation des Gedankens – „representé naïfvement“ –, bis zur ethischen Kontrolle des Handelns – „Je n’ay jamais rompu avec elles, tant que j’y tenois, ne fust que par le bout d’un filet“ (S. 933). Und in diesem Triumphalismus des Ethos ist jede schamlose Ausstellung der Defekte des Körpers kompensatorisch aufgefangen. Montaignes parrhesia lebt aus dem Wechselspiel von Überschreitung gesellschaftlicher Schamgrenzen und ethischer Modellierung der erotischen Relation. Sur des vers de Virgile kartographiert das Terrain der Sexualität und der erotischen Relation in einem Raum, wo der Natur ihre Verbindlichkeit genommen ist. Die sozialen Regulierungen der Geschlechterbeziehungen reproduzieren nach Montaignes Beobachtung deren naturhafte Gewalt, indem die Gesetze der Männer die natürliche Überlegenheit der Frauen kassieren und in das Gegenteil verwandeln wollen. Montaigne besetzt dieses Terrain mit einem Phantasma der erotischen Promenade und kompensiert das Defizit der Natur durch die ethische Rahmung der erotischen Relation. Über die Reaktionen und Erfahrungen, die er damit provoziert hat, wissen wir allerdings weniger als über die faktischen Wechselfälle der action génitale, von denen er berichtet. Ihr Fehlen lässt allerdings auch sichtbar werden, warum Montaigne auf die Fiktionen der Dichter zurückgreifen muss, um gewärtigen zu können, was ihm die Wirklichkeit des Eros als Einheit im Imaginären ist. In der Zangenbewegung, die über körperliche und ethische Differenz den eigenen Eros einkreist, bleibt seine ‚Wirklichkeit‘ unweigerlich ein blinder Fleck. Denn diese wird als eine Überwältigung erfahren, in der die Souveränität des Individuums ausgelöscht ist. Bereits in Au lecteur erklärt der Autor der Essais, er hätte sich tout entier, et tout nud (S. 27) gezeigt – wenn man noch in der Freiheit der ersten Natur leben würde. In der Gegenwart sei eine Rücksicht auf die reverence publique unvermeidlich. Jedenfalls ist es nicht die Schamhaftigkeit des Autors, von der keine Rede ist, welche Nacktheit und Selbstausstellung begrenzt, sondern es sind die Imperative der Gesellschaft. Auch in Sur des vers de Virgile ist die Scham ein Gebot der Kultur, dessen Kontingenz Montaigne sichtbar macht, um es entschieden hinter sich zu lassen. Schamlose Selbstausstellung kommt einem Autor zu, der die Nichtigkeit der Schamgebote denunziert und der keinen Grund hat, sich zu schämen. Die parrhesia triumphiert in der virtuosen Ausstellung von naturhaften Gegebenheiten und ethischen Kompensationen. Aber dieser explizite Befund auktorialer Schamlosigkeit deutet implizit selbst seine Grenzen an. Nicht zufällig steht das in Sur des vers de Virgile ausgestellte aggressive Begehren, erkannt und anerkannt zu werden, im Gegensatz zu jenen Mo-
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di gelassener Selbstdarstellung, mit der Au lecteur die Essais eröffnet, und auf die Montaigne bis zu Du repentir und De l’experience immer wieder rekurriert. Auch ist das fremde poetische Wort in Sur des vers de Virgile nicht nur auf die imaginäre Fülle Vergils und Lukrez’ beschränkt, es wird, wie man sah, auch zur kommentarlosen Anzeige der eigenen Defizite eingesetzt. Montaigne präsentiert weniger die Einheit eines Ethos, das sich in einer philosophischen Lebensführung verbürgen und in riskanter eigener Rede ausstellen würde, als ein unruhiges Spiel von Fremd- und Eigentext – eine Spaltung, die umso auffälliger ist, als das Eigene des Textes selbst ein Thema des Essays darstellt. Und schließlich und vor allem: Die so auffällig mit der, durch das Verfahren der Zitatcollage verstärkten, narrativen Linearität des poetischen Textes kontrastierende Diskontinuität des Essays, seine schon von Pasquier monierte Sprunghaftigkeit, die mit Figuren des aufgeschobenen Geständnisses, der Selbstenthüllung im fremden Text, der kompensatorischen Logik des eigenen erotischen Ethos operiert, manövriert den Leser in die Position einer zweiten Lektüre, die sich eher aus einer Hermeneutik des Verdachts als aus dem Nachvollzug spektakulärer Transgression kultureller Schamgrenzen speist. Sie nimmt die Rede als Symptom für etwas, was der Autor nicht wissen kann oder will. Man kann allerdings davon ausgehen, dass auch diese doppelte Lektüre durchaus Montaignes Programm ist, er selbst liefert ein markantes Indiz.53 Wiederum ist es nicht die eigene Rede, sondern der fremde Autor, welcher eintritt, und zwar mit einer Szene, die den Charakter einer Spiegelung besitzt. Am Ende von Sur des vers de Virgile schiebt Montaigne ein längeres Catull-Zitat ein. Das Gedicht des römischen Dichters (LXV, vv. 19–24) evoziert das Bild eines jungen Mädchens, dem „der Apfel des Liebsten, den er ihr heimlich gesandt hat, / Aus dem züchtgen Schoß plötzlich […] entrollt […] Und wie die Mutter erscheint, springt sie empor, und er fällt, / Und er kugelt nun jäh in eiligem Lauf hinunter“, und deren Gesicht daraufhin von Schamröte überzogen wird, tristi conscius ore rubor.54 Die Scham, so scheint es, tritt schließlich doch noch auf, im fremden Text, als verhüllend-enthüllende Anzeige einer Heimsuchung mitten in
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Auch wenn die Essais keiner narrativen Teleologie folgen – Montaigne praktiziert, und zumal im Modus des Zitats, Formen der Endmarkierung, er besitzt, was Frank Kermode den sense of an ending genannt hat. Das spektakulärste Beispiel ist natürlich das De l’experience (und damit die Essais insgesamt) abschließende Horaz-Zitat. Vgl. Kermode, Frank: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction. London Oxford New York 1966. 54 Zit. nach Catull: Gedichte. Lat.-dt. von Rudolf Helm. Darmstadt 1963, S. 118f. Helm übersetzt allerdings: „Übers erschreckte Gesicht zieht ihr ein schuldbewusst Rot.“ So tritt an die Stelle der Scham die Schuld – eine Übersetzungsentscheidung von beträchtlicher Reichweite und Resonanz.
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der schamlosen Selbstentblößung des Essayisten. Der Essay, jener flux de caquet (S. 941), der dem Autor entschlüpft, ist wie der Apfel, der aus dem Schoß des Mädchens heraus rollt und dessen Scham im Erröten anzeigt. Die Scham des Autors Montaigne indessen bleibt unsichtbar, es sei denn, man entziffert sie in der indirekten Umwegigkeit der Textbewegung und in der Spiegelung des zitierten Carmen.
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H ARTMUT BÖHME
Nacktheit und Scham in der Anatomie der Frühen Neuzeit
1. Der Blick auf den toten Christus In Basel kann man ein außergewöhnliches Gemälde des 24jährigen Hans Holbein sehen: Der lebensgroße Leichnam Christi im Grabe (1521; Abb. 1).
Abb. 1: Hans Holbein d.J. (1497–1543): Der tote Christus im Grab. 1521. Öl auf Holz, 200 × 30,5 cm. Kunstmuseum Basel.
Es weist das Extremformat von 200 mal 30,5 cm auf: der Blick fällt ins Innere des seitlich geöffneten Sarges auf den toten Körper Christi. Im Sammlungsinventar des Basilius Amerbach ist vermerkt: „cum titulo Iesus Nazarenus rex J(udaerum)“.1 Holbein präsentiert den toten Christus als ausgemergeltes menschliches Fleisch: der erniedrigte Gott. Der Körper trägt die Spuren seines Leidens und seiner Folterung. Das Gemälde ist vermutlich keine Predella,2 also nicht eingefügt in eine Bildfolge, die
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Boerlin, Paul H. (Hg.): Das Amerbach-Kabinett. Bd. 1: Die Gemälde. Basel 1991, hier: S. 19; Christian Müller (Hg.): Das Amerbach-Kabinett. Bd. 2: Zeichnungen alter Meister. Basel 1991. Zu den Basler Jahren Holbeins vgl. Müller, Christian und Stephan Kemperdick (Hg.): Hans Holbein der Jüngere. Die Jahre in Basel 1515–1532. München 2006. Doch hat man auch vermutet, dass das Gemälde zum Altarretabel des Hans Oberried für den Dom von Freiburg/Br. gehören könnte (so z. B. Schmidt, H. A.: „Hans Holbein d. J“
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meistens im erhöhten Christus triumphans endet. Vermutlich war es mit der Osterliturgie verbunden. In zahlreichen Kirchen gibt es ein heiliges Grab meist mit einer vollplastischen Leiche Christi, bei der am Karfreitag Hostie und Kelch bestattet wurden.3 Dann wurde die plastische Leiche entfernt, das leere Grab gezeigt als Zeichen der Auferstehung. War das Bild vielleicht der Deckel zu einem liturgischen Grab, das nur von Karfreitag bis Ostern geöffnet wurde? Dann wäre das Bild ein Sargdeckel und zeigte stellvertretend das Corpus Christi. Der demonstrative Charakter wird durch weitere Elemente unterstrichen: das Bahrtuch fällt in sauberer Anordnung über den Rand des Sarges; die struppigen Haare, die rechte Hand und der rechte Fuß ragen über den Sargrand hinaus. Dies sind illusionistische trompe l’œil-Effekte, wie sie gerade auch im Sakralbereich entwickelt wurden. Allerdings kann es sich nicht um den präsentisch beschworenen Augenblick der ersten Sargöffnung handeln. Denn im Sarginneren hat Holbein sich selbst mit der Sigle „HH“ und dem Jahr „MDXXI“ inskribiert, durch die Inschrift über dem linken Fuß. Wenn also die Gegenwart des toten Christi präsenzästhetisch beschworen wird, so wird sie zugleich als gemaltes Werk ausgestellt und autorisiert. All dies sind Hinweise darauf, dass hier ein künstlerisches Arrangement vorliegt, bei dem an eine liturgische Bühne zu denken ist, wo das, was wir hier in seiner Einmaligkeit sehen – Jesus am tiefsten Punkt seiner profanen Leiblichkeit –, in Wahrheit ein Element ritueller Wiederholungen ist. Immer wieder dringt unser Blick in die Enge des Sargs und umstreicht den toten Körper Christi, haftet an den klaffenden Wunden, dem ausgezehrten Gesicht, dem gebrochenen Blick, dem niemand die Lider schloss, verharrt am geöffneten Mund mit seiner Zahnreihe, am Bauchnabel, streicht über das Leichtuch mit seiner Erhöhung über dem Geschlecht, berührt die angeleuchtete, schon mit Zeichen beginnender Verwesung versehene Haut um die asketisch dürren Glieder. Wer nur hat die todesklamme Hand so arrangiert, dass der ans Sargbrett geklemmter Mittelfinger die Hand so hält, dass wir die heilige Wunde immer und immer wieder sehen müssen? Es ist wahrlich eine ungeheure Szene, bei
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In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 10, 6 (1941–1942), S. 249–290). Eine Kopie des Gemäldes hängt im Prachtsaal der Stiftsbibliothek von St. Gallen. Das Gemälde findet auch eine prominente Erwähnung in Fjodor M. Dostojewskis „Der Idiot“ (1868/69). Vgl. Fister, Barbara: On the Threshold of Representation. The Function of the Holbein Christ in The Idiot. http://homepages.gac.edu/%7Efister/ThresholdofRepresentation.html (Stand: 7.5.2010). Der spanische Bildhauer Gregorio Fernández (um 1576–1636) fertigte zu liturgischen Zwecken ikonologisch sehr ähnliche, vollplastische Figuren des aufgebahrten toten Christus an. Francisco de Zurbarán (1598–1664) wiederum malte ähnlich veristische Bilder des gekreuzigten Christus in trompe l’œil-Manier.
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welcher der tote Christus als Schauobjekt fungiert auf der Bühne eines frommen Wissens, das immer wieder rituell befestigt wird. Und dieses Wissen wird über Blickoperationen des Eindringens erzeugt. Der Blick wird eigentümlich haptisch. Das Einmalige dieses Gemäldes nimmt indes an zwei bedeutsamen kulturellen Gesten teil: zum einen verweist der schamlos erniedrigte Körper auf die elementare Erlösungsbedürftigkeit der Menschen selbst. Dies gehört ins Zentrum der christlichen Heilsdramaturgie, aber auch in die Praxis des Reliquienkultes. Und zum anderen zeigt sich hier etwas neues: ein realistischer, ja experimenteller Blick auf die Leiche, die ihre Ansicht nur freigibt, indem wir zu Mitspielern eines ‚Eindringens‘ und einer ‚Freilegung‘ werden, hier einer Sargöffnung, die den Körper aus dem Geheimnis des Todes ins Licht der Betrachtung rückt. Gibt es einen Zusammenhang von Christologie, Reliquienkult und Anatomie? Unmittelbar erinnern die Grabtücher, das Holz des Sarges an Reliquien; die Wunden erinnern an die überall als Heiltümer verehrten Kreuznägel, an das Kreuzholz selbst, an die Lanze, die Marterwerkzeuge. Die sorgfältig herausgearbeiteten Körperpartien von Gesicht, Hand und Füßen verweisen darauf, dass Kopf-, Hand- und Fußreliquien von besonderem Wert waren. Der geöffnete Mund mit seinen Zähnen mahnt an die vielen Geschichten, wo fromme Kirchenmänner heiligen Leichnamen die Zähne heraus brachen; und die über den Rand fallenden Haare sind mit dutzenden von Überlieferungen assoziiert, bei denen Haarreliquien durch Abschneiden gesichert wurden. Mit einem Mal sind wir in einer anderen Szene, die ein moderner Blick leicht übersieht. Der ins Sarginnere eindringende, gleichsam leichenschänderische Blick, die Motive der Körperöffnungen, die Tücher, die Zurschaustellung der Leiche in einem öffentlichen Ritual – es sind, hier bei Holbein, die Anzeichen einer befremdlichen Praxis im Christentum von Syrien bis Nordirland, einer Praxis, die zur meist übersehenen Vorgeschichte der Anatomie gehört. Es ist der Reliquienkult, bei welchem der Leichnam bzw. ein diesen stellvertretendes Fragment im Mittelpunkt steht.4 Christus-Kult und Heiligenverehrung sind hier fusioniert. Für Je4
Zum folgenden vgl. Beissel, Stephan: Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland im Mittelalter. Darmstadt 1983 [zuerst 2. Bde. 1890/92]; Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München1994; Diedrichs, Christoph L.: Vom Glauben zum Sehen. Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar. Ein Beitrag zur Geschichte des Sehens. Phil. Diss. Berlin 2000; Brown, Peter: Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in der lateinischen Christenheit. Leipzig 1991; Bresc-Bautier, Geneviève: „Reliquiare. Das Fragment des heiligen Körpers“. In: Das Fragment. Der Körper in Stücken. Hg. v. Schirn Kunsthalle,:Frankfurt a. M. 1990, S. 47–50; Legner, Anton: Reliquien in Kunst und
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sus wie für die Märtyrer gilt, dass sie erst als hingerichteter Verbrecher heilig werden. Erinnern wir uns, dass die Anatomie-Leichen zumeist Hingerichtete waren, wenn sie nicht durch Grabschändung geraubt wurden. Hochrangige Theologen konzeptualisierten ein neues Verbrechen: die „andächtige Beraubung“, nämlich Grabräuberei, Reliquien-Diebstahl, Leichenschändung. Gräber werden heimlich geöffnet, Körperteile entwendet, abgeschnitten, abgeschabt, ja abgebissen, berührt und geküsst, beleckt und gestreichelt, wo immer dies möglich ist: kaum eine bedeutende Leiche, die nicht völlig vernutzt und anatomisiert wäre, längst bevor es Anatomie gibt. Wer heilig lebt und dies weiß, vermacht schon zu Lebzeiten eigene Körperteile an Freunde fern und nah. Im toten Opfer-Körper kreiert sich das heilige Wissen. Auch bei den Leichen der Anatomie sind Opfer und Verbrechen eng fusioniert – und erst dadurch erringt der Anatom seine Würde. Bei der Sektion der erniedrigten Leiche, die im Schwellenraum zwischen gewaltsamem Tod und Verwesung zum Objekt einer dem Heil dienenden Erkenntnisprozedur wird, erzeugt er ein wahrlich ungeheures Wissen, das an das göttliche Schöpfungsgeheimnis rührt.
2. Selbstansichten Albrecht Dürers Ein weiteres musste hinzukommen, damit im 16. und 17. Jahrhundert die Anatomie auf die Bühne treten konnte. Ihr kultureller Hintergrund ist auch die veränderte Einstellung zur Natur, zum Körper und zur Nacktheit. Der Blick auf die Dinge der Natur und die Körper der Menschen organisierte sich neu, so dass ästhetische Präsentation, rituelle Inszenierung und rationale Erkenntnis konvenierten. Hierzu wählen wir die wohl nach 1514 entstandene Zeichnung Dürers Selbstbildnis als nackter Mann zum Ausgang (Abb. 2). Man hat allerhand an dem Bild herumgedeutet. Ist es eine Situationszeichnung, die Dürer in einer Badestube zeigt, worauf das Haarnetz deutet? Ist es die Studie für einen gefesselten Christus an der Martersäule, wofür Dürer seinen eigenen Körper zum Modell genommen hat?
Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995; Dinzelbacher, Peter: „Die ‚Realpräsenz‘ der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen“. In: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Peter Dinzelbacher, Ostfi ldern 1990, S. 115–174; Kötting, Bernhard: Die Anfänge der christlichen Heiligenverehrung in der Auseinandersetzung mit Analogien außerhalb der Kirche. In: Dinzelbacher: Heiligenverehrung, S. 67–81; Graus, Frantisek: „Mittelalterliche Heiligenverehrung als sozialgeschichtliches Phänomen“. In: Dinzelbacher: Heiligenverehrung, S. 86–103.
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Abb. 2: Albrecht Dürer (1471–1528): Selbstbildnis als nackter Mann. Nach 1514. Feder und Pinsel, 29 × 15 cm. Schlossmuseum Weimar.
Andere bemühen das Aussehen des Geschlechtsteils für die Datierung des Bildes oder fragen, ob Dürer vielleicht Syphilis hatte. Dies alles ist ebenso unzutreffend wie gleichgültig. Die Zeichnung ist eine Inkunabel der Entblößung (ähnlich wie bei Holbein). Sie ist durch kein Schamregime bestimmt. Vielmehr dokumentiert sie einen neuen Rang der curiositas, die rückhaltlos, präzise, aber auch reflexiv ist. Hier entsteht ein neuer Blick auf den Menschen, dessen Erscheinung nicht mehr an der antikisierenden Körperästhetik orientiert ist. Denn es geht nicht um ideale Schönheit, sondern veristische Treue, also um Erkenntnis des Körpers. Dieser hat nichts mit den Proportions- und Symmetriestudien zu tun, mit denen Dürer versuchte, dem Geheimnis der menschlichen Schönheit auf die Spur zu kommen. Es ist ein Körperbild jenseits auch der idealischen
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Körper italienischer Kunst, die Dürer bestens kannte. Es ist auch kein Körper in den üblichen Haltungen, die zur Rhetorik des Nackten gehören. Zwar fällt kein anatomischer, aber doch ein analytischer Blick auf das durch Alterung, durch Wulste und Faltungen in seiner Sterblichkeit gezeichnete Fleisch. Nacktheit, so wissen wir aus ethnologischen Studien,5 wird selbst getragen wie ein Kleid. Nacktheit unterliegt Regeln der Haltung, der Inszenierung, der Körperausdrucks – wie umgekehrt die Nacktheit vom Betrachter Regeln der Diskretion des Blickes abfordert. All dies sind Momente des unsichtbaren Kleides, das gewöhnlich die Nacktheit umhüllt. All dies gilt hier nicht. Arme und Beine sind amputiert: damit ist dieser Körper gänzlich um sein Handeln und seine Selbstbeweglichkeit gebracht und umso radikaler dem Anblick ausgesetzt und die Nacktheit betont. – Die Haare, die sonst bei Selbstporträts Dürers eine fast zeremoniöse Rolle spielen, sind rigoros verborgen. Der Maler wird wegen seiner Extravaganz in Nürnberg als der „haarig partet maler“ beleumdet.6 Hier ist der Bart wahrlich kein männlicher Schmuck. Das halbschräge Gesicht, hager, fast ausgemergelt, wird mit harten Strichen fixiert in allen Merkmalen des Alters. Den dicken, unklaren Mund rahmt der struppige Bart. Die unregelmäßigen, unruhigen Striche haben keine andere Funktion, als die Runzeln, Wulste, Höcker, knochigen Wölbungen und Hautfaltungen plastisch herauszuarbeiten. Diese Haut ist nicht die schimmernde, zeitlose Fläche, deren Inkarnat den Glanz des Schönen wiedergibt, sondern es ist Haut, in die das Leben sich eingegraben hat bis zur Entstellung. Weder Physiognomie noch Haut tragen den Schein des Göttlichen, nicht einmal des Geistdurchwirkten oder etwa der saturnischen Melancholie. Die verkrümmte Haltung des Körpers steht jedem aufrechten Stolz, die knöcherne Schlankheit jedem Heroismus fern. Aufs sorgfältigste sind die Geschlechtsteile herausgearbeitet, ohne die gebotene Dezenz, ohne die übliche Verkleinerung. Sie springen ins Auge; d. h. sie sind gerade in ihrer Betontheit obszön, das Schamgefühl verletzend. Zwischen Gesicht und Geschlechtsteilen teilt sich die Aufmerksamkeit des Betrachters. Es ist unmöglich, zum Gesicht einen ruhigen
5
6
Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1: Nacktheit und Scham. Frankfurt a. M. 1988. – Duerr attackiert hier besonders die Ausführungen von Norbert Elias über den von Schamprozessen begleiteten europäischen Zivilisationsprozess (Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen; 2 Bde., 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1980; Elias, Norbert: „Was ich unter Zivilisation verstehe. Antwort auf Hans Peter Duerr“. In: Die Zeit 25 (1988). Anzelewsky, Fedja: Dürer. Werk und Wirkung. Stuttgart 1980, S. 93.
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Augenkontakt herzustellen. Dies ist ein Effekt davon, dass die beiden Augen auf verschiedenen Blickachsen liegen, also leicht schielen. Das rechte Auge sieht den Betrachter konzentriert an; das linke Auge ist schräg nach unten über den Bildrand hinausgerichtet. Diese Blickirritation, zusammen mit den unruhigen Strichführungen und dem fast flackernd auf dem Körper liegenden Licht, lässt den Betrachter nicht in Ruhe. Dass man sich nicht an den Augen, nicht am Gesicht Dürers halten kann, lässt den Blick immer wieder zu den knolligen Geschlechtsteilen wie zu einem zweiten Gesicht herunterspringen. Und dadurch entsteht eine von Unruhe erfüllte Kommunikation zwischen Gesicht und Geschlecht im Medium des Betrachterblickes. Wir können dies als die ästhetischen Zeichen einer ruhelosen Selbstbefragung Dürers begreifen. Dieses Blatt ist ein einzigartiges Dokument der anthropologischen Selbstreflexion und der neuzeitlichen Entdeckung des Körpers. Es ist seinem Range nach vergleichbar den anatomischen Studien Leonardos, mit denen es den wahrhaft experimentellen Blick teilt. Wie die Studien Leonardos ist auch dieses Blatt niemals für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Das Private ist der Schutz einer Selbstenthüllung, die um 1500 weiter nicht zu treiben war. Die Selbstenthüllung ist jedoch mehr als privat, insofern sie ein Moment des epochalen Bewusstwerdens von Subjektivität darstellt. Sie ist auch deswegen nicht privat – und das unterscheidet sie von Leonardo –, als das Blatt szenisch organisiert ist: der dargestellte Körper, Objekt eines Blicks, blickt selbst den Betrachter an, ist mithin Subjekt des Blickes. Die rücksichtslose Nacktheit demonstriert, dass Selbstreflexion nur radikal sein kann – oder gar nicht. Insofern stellt dieses Blatt nicht nur einen Epochensprung in der ästhetischen Selbstaneignung des Körpers dar, sondern es setzt zugleich die unhintergehbare Norm aller, auch der philosophischen Reflexivität. Diese hat wahrhaftig auf den Grund, nämlich den Körper zu gehen: Selbstreflexion ist ein Vorgang der Enthüllung (für diese Gleichung bietet der „König Ödipus“ des Sophokles das erste Modell). Die vibrierende Unruhe des Betrachter-Blickes zeigt das Prozessuale dieses Vorgangs: es geht nicht um den Gewinn eines (statischen) Bildes, das als Selbstbild anzueignen fortan Identität sicherte. Die Unruhe, die der polaren Spannung von Gesicht und Geschlecht geschuldet ist, zeigt vielmehr, dass Selbstreflexion sich in allen Widersprüchen und Hinfälligkeiten entwickelt. Im letzten stößt das Subjekt im Prozess seiner Selbstbegegnung auf das Rätsel seiner bloßen, entblößten Gegebenheit in diesem Augen-Blick. Die Bildstruktur ist dabei mitnichten monologisch und auch darum nicht privat. Wer immer auch dieses Blatt ansieht, wird in einen intensiven Dialog von Ich und Anderem gezogen. Alle diese Faktoren gehören zur Entdeckung der leiblichen Kontingenz und zu den Voraussetzungen der Anatomie.
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Abb. 3: Albrecht Dürer (1471–1528): Adam und Eva. 1507. Öl auf Holz. Jeweils 209 × 81 cm. Museo del Prado, Madrid.
Nie wieder werden wir andere Selbstporträts Dürers und andere Darstellungen des Nackten mit gleichen Augen ansehen. Deutlich fallen nun die neuplatonischen Züge der Idealisierung z. B. des Urmenschen-Paares auf (1507; Abb. 3). Wir erkennen jetzt, dass in der typologischen Festlegung des Genres, im Anschluss an Formideale antiker Skulpturen, in der Suche nach Gesetzmäßigkeit der Bildung von Körpern, in der Suche nach Proportion und Harmonie –, wir erkennen, dass in dieser Ästhetik dem christlichen Scham-Gebot Tribut geleistet wird. Dieser Scham entwächst ein Bedürfnis nach Dezenz, nach Verhüllung und Distanz. Dies ist die Verhüllung der Nacktheit durch Schönheit. Schönheit ist der Versuch, ein Stück des Paradieses zu retten – wenigstens im Medium der Kunst. Das Selbstbildnis Dürers dagegen ist radikal nachparadiesische Kunst. Die Zeichnung wirkt dabei paradox: einerseits mobilisiert sie die Scham, andererseits weckt sie beinahe gewaltsam die Einsicht, dass Erkenntnis nur
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Abb. 4: Albrecht Dürer (1471–1528): Frauenbad. 1498. Feder. 231 × 226 mm. Kunsthalle Bremen.
möglich ist in einer neuen Schamlosigkeit, die nichts mehr mit dem Status der Unschuld gemein hat. Es ist nicht die Schamlosigkeit des Nochnie-Verhüllten, sondern die Schamlosigkeit des rücksichtslos Enthüllten. Wir erkennen jetzt auch, dass eine Zeichnung wie das Frauenbad von 1496 (Abb. 4) weder etwas mit der angeblichen Schamlosigkeit des Mittelalters noch mit männlichem Voyeurismus zu tun hat. Es ist vielmehr ein Blatt, das ähnlich wie das Selbstporträt abzielt auf die Erfahrung unverstellter Nacktheit im Medium der Selbstreflexion. Diese wird hier dadurch präsent, dass auf dem Betrachter die Augenpaare zweier Frauen liegen, wodurch dieser selbst zum Betrachteten, d. h. vor die Frage gestellt wird: wer er denn angesichts dieser Frauenkörper ist. Voyeurismus dagegen ist an die Bedingung geknüpft, dass das Sehen nicht selbst wieder ge-
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Abb. 5: Albrecht Dürer (1471–1528): Selbstporträt im Alter von 26 Jahren. 1498. Öl auf Holz, 52 × 41 cm. Museo del Prado, Madrid.
sehen wird. Der Voyeur ist immer voller Scham. Auf diesem Blatt werden dagegen wechselseitig die Augen geöffnet – d. h. es wird gerade nicht das Schamlose, sondern der Augenblick erwachender Scham, der Augenblick also des Bewusstseins geschildert. Ganz anders steht es mit dem repräsentativen Selbstporträt (Abb. 5). „1498/ Das malt ich nach meiner gestalt/ Ich was sechs und zwenzig jar alt./ Albrecht Dürer/ AD“, vermerkt der Maler. In gelassener Haltung sitzt ein Elegant in Halbschräge am Tisch, nicht in der dunklen Kleidung eines nürnbergischen Stadtbürgers, sondern in der reichen Tracht eines venezianischen Edelmanns, die Hände in feinen Wildlederhandschuhen. Prächtig gelocktes, goldblondes Haar rahmt das schmale, hellhäutige Gesicht. Inständig und doch distant, leidenschaftslos, fast gleichmütig liegt der Blick auf dem Betrachter: die Tugend der Ataraxía, der Seelenruhe, ausdrückend. Wir haben es mit einem ebenso eleganten wie selbstsicheren, umfassend vermögenden und moralisch gefestigten Mann zu tun. Der Innenraum öffnet sich zu einem Ausblick auf eine weite Landschaft
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bis zu den schneebedeckten Alpen. Die Augen Dürers liegen oberhalb der Horizontlinie: wir werden daran erinnert, dass dieser Maler auch hinter die Alpen geschaut hat: er ist Italienkenner, ein Mann auf der Höhe der Zeit. In Bezug auf das Thema des schamlosen oder schamhaften Körpers zeigt dieses Porträt, dass das, was den Körper umgibt, nicht einfach Stoffe und Umgebungen ist, sondern vor allem Repräsentationsmodi, Selbstinszenierungen, Zeichen und Codes. Der makellose Schimmer der Haut ist im Zeitalter der Blattern nicht selbstverständlich. Die Kleidung markiert den Reichtum und den erlesenen Geschmack des Trägers. Alles ist erfasst vom Willen zur selbstbewussten Inszenierung, zur Repräsentation des Ich. Hier ist nichts mehr nackte Natur des Leibes, nichts ist Blöße, Preisgabe, nichts Beschämendes. Alles ist überführt in Darstellung, Haltung, überlegenen Ausdruck – kurz: das Gemälde handhabt virtuos die Semiose von Körper und Kleidung, von Physiognomie und Habitus – und darin ist das Gemälde ein Gegenstück zum Weimarer Blatt des nackten Dürer. Es wäre zu kurz gegriffen, verstünde man das Gemälde als Verhüllung und die Zeichnung als Enthüllung. Das Gemälde verhüllt nichts und die Zeichnung enthüllt nicht den wahren Kern unter den Hüllen gesellschaftlicher Codierung. Es geht nicht um den Gegensatz von Sein (Zeichnung) und Schein (Gemälde). Beide Bilder sind wahr. Sie sind beide perfekte Wiedergaben dessen, dass der Mensch sowohl beschämbares Leibwesen in ausgesetzter Endlichkeit wie selbstgewisses Subjekt kultureller Semiosen ist. Beide Register des Daseins aber sind primär über visuelle Lektüre zugänglich, weil beide auf den Grundgegebenheiten der Scham, der unausweichlichen Blöße wie der unausweichlichen Verhüllung des Ich beruhen. So bereitet die Körper-Ästhetik die neue Wissenschaft der Anatomie vor. Die Unheimlichkeit und Hybris, den menschlichen Körper zu öffnen, um an ihm das Geheimnis der Schöpfung zu studieren, verbindet sich schon bei Leonardo mit Fragen der Ästhetik, besonders der Skulptur, deren Oberflächengestaltung der Widerschein der darunter gelagerten physiologischen Verhältnisse zu sein hatte – das reicht bis zu Goethes Ideen einer „plastischen Anatomie“.7 Umgekehrt zeigt die Geschichte der anatomischen Abbildungen und plastischen Präparate, dass sie bis ins 19. Jahrhundert durch die Körperästhetik von Skulpturen und Gemälden geprägt bleiben.
7
Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: „Der vollständige Torso und die verstümmelte Venus. Zur Rezeption antiker Plastik und plastischer Anatomie in Ästhetik und Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts“. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 2 (1998), S. 361–373.
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Abb. 6: Albrecht Dürer (1471–1528): Selbstporträt. 1521. Kolorierte Federzeichnung, 127 × 117 mm. Kunsthalle, Bremen. – „Do der gelb fleck ist und mit dem finger drawff do ist mir we“.
Wie sehr bei Dürer christologische wie medizinische Momente die Körper(selbst)darstellung bestimmen, demonstrieren zwei späte Zeichnungen (Abb. 6). Die erste zeigt Dürer, der während seiner holländischen Reise schwer erkrankte. Die nüchterne Selbstdarstellung, durchaus im Stil des Weimarer Blattes, steht ganz im medizinischen Interesse. Vielleicht wurde das Blatt sogar einem Arzt zugesandt, von dem der inständige Blick eine Diagnose erhofft (Abb. 7). Das zweite Blatt, wenig nach der Krankheitsphase entstanden, ist christlich stilisiert, als stünde Dürer mit seinem medizinisch-profanen Leiden in der Nachfolge Christi. Der Verzicht auf jede Körperidealisierung zeigt aber auch eine wichtige Legitimierungsstrategie, wie sie in Medizin und Anatomie häufig auftauchen wird: die moralisch prekäre Kunst eines von aller Scham befreiten Blicks auf den Körper ist immer dann gerechtfertigt, wenn sie in die christliche Heils-Metaphysik eingelassen ist. Das Verhältnis von Christentum und New Sciences wird damit strukturanalog organisiert wie im Mittelalter das Spannungsverhältnis von paganer Antike und christlichem Glauben:
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Abb. 7: Albrecht Dürer (1471–1528): Selbstporträt als Schmerzensmann. 1522. Federzeichnung, 408 × 290 mm. Kunsthalle Bremen (im 2. Weltkrieg zerstört).
nämlich gemäß dem von Erwin Panofsky herausgearbeiteten „Principle of disjunction of meaning and form“.8 So wie immer dann eine antike Form verwendet werden durfte, wenn sie einen christlichen Gehalt gefunden hatte; oder wie umgekehrt eine nicht-antike Form gefunden werden musste, wenn ein heidnisch-antiker Stoff zur Darstellung kam –: so konnten anatomisch-medizinische Bilder und Praktiken am ehesten dann akzeptiert werden, wenn sie christlich semantisiert werden konnten. Eine weitere Strategie zur Legitimierung der Anatomie war es, hochrangige antike Skulpturen in Ecorchés oder anatomische Schnitte zu verwandeln, um zu demonstrieren, dass die vorbildliche ästhetische Gestalt der antiken Plastiken auf einer genauen Kenntnis der anatomischen Verhältnisse von
8
Vgl. Hoffmann, Konrad: „Panofskys ‚Renaissance‘“. In: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992. Hg. v. Bruno Reudenbach. Berlin 1994, S. 139–144; Panofsky, Erwin: Renaissance and Renascenses in Western Art. Stockholm 1960.
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Skelett und Muskelaufbau beruhen muss: antike Künstler, so wurde suggeriert, haben bereits Anatomie studiert, wie dies in den Kunstakademien seit dem 17. Jahrhundert dann auch zum Bestandteil der Künstler-Ausbildung wurde. Überall in den anatomischen Atlanten erkennt man den Einfluss der antikisierenden Skulpturen-Ästhetik: und eben auch dadurch wurde das blutige Handwerk der Anatomen nobilitiert, die lange Zeit in einem schattenhaften Niemandsland hart an der Grenze des Obszönen, der moralischen Tabus, wenn nicht des Verbrechens arbeiteten.
3. Marsyas und die Anatomie Eine weitere wichtige Quelle der Legitimation besteht darin, die Anatomie an hochrangige antike Figurationen anzulehnen. Ein Beispiel dafür ist die Marsyas-Ikonologie (Abb. 8).9 Im Mythos besteht kein Zweifel, dass Marsyas in der Schindung seine Hybris büßt und von Apoll zu Recht bestraft wird. Erstmals bei Ovid (Met. VI, 382–400) tauchen Züge eines Leidens von Marsyas auf, die es später rechtfertigen, in Marsyas ein betrogenes Opfer maßloser und gewalttätiger Götter-Willkür zu sehen. Ovid leiht dem Marsyas noch während der Schindung einen sprachlichen Selbstausdruck und präsentiert den Enthäuteten bereits wie ein viviseziertes anatomisches Präparat: ‚Was ziehst du mir ab von mir selber! Weh! Mir ist’s leid! O weh! Soviel ist die Flöte nicht wert!‘ So schrie er, doch ward ihm die Haut von allen Gliedern geschunden. Nichts als Wunde war er. Am ganzen Leibe das Blut quoll. Bloßgelegt offen die Muskeln; es schlagen die zitternden Adern Frei von der deckenden Haut. Die Geweide konntest du zucken Sehen und klar an der Brust die einzelnen Fibern ihm zählen.
9
Wind, Edgar: „Die Schindung des Marsyas“. In: Ders.: Heidnische Mysterien der Renaissance. Frankfurt a. M. 1981, S. 198–204; Sawday, Jonathan: „The Fate of Marsyas: Dissecting the Renaissance Body“. In: Renaissance Bodies. The Human Figure in English Culture c. 1540–1660. Hg. Von Lucy Gent u. Nigel Llewellyn (Hg.).London 1997, S. 111–136; Renner, Ursula u. Manfred Schneider (Hg.): Häutungen. Lesarten des Marsyas-Mythos. München 2004; Baumstark, Reinhold u. Peter Volk (Hg.): Apoll schindet Marsyas. Über das Schreckliche in der Kunst. Adam Lenckhardts Elfbeingruppe. Ausstellungs-Katalog Bayerisches Nationalmuseum München. München 1995; Marano, Katia: Apoll und Marsyas. Ikonologische Studien zu einem Mythos in der italienischen Renaissance. Frankfurt a. M. 1998; Wyss, Edith: The Myth of Apollo and Marsyas in the Art of the Italian Renaissance. An Inquiry into the Meaning of Images. Newark, Del. u. London 1996; Seemann, Luise: Marsyas und Moira. Die Schichten eines griechischen Mythos freigelegt mit Hilfe der archäologischen und literarischen Quellen ausgehend von zwei antiken Sarkophagen. Marburg 2006.
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Abb. 8: Melchior Meier (nachweisbar 1572–1582): Apoll mit dem geschundenen Marsyas und das Urteil des Midas. 1581. Kupferstich, 23,2 × 31,3 cm. München, Staatliche Graphische Sammlung.
Auf dieser Linie wurde die Anatomie als ein Ritus inszeniert, in welchem die schamlose Zergliederung von Leichen zu einem Opfer wurde, das dem höheren Wissen in Übereinstimmung mit der christlichen HeilsLehre diente. – Bei dem in Florenz arbeitenden Kupferstecher Melchior Meier sehen wir die antike Erzählung schon so gestaltet, dass Marsyas zu einem typischen anatomischen Exponat geworden ist, dem sog. Muskelmann oder Écorché. Ihn wird man in sämtlichen Anatomietheatern und Sammlungen Europas wiederfinden. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass im 16. Jahrhundert die Leichensektion zum öffentlichen Spektakel werden konnte.10 Es entstand
10
Zur Geschichte der frühneuzeitlichen Anatomie allgemein: Hodges, Devon L.: Renaissance Fictions of Anatomy; Amherst 1985; Lemire, Michel u. Bernhard Faye: Artistes et Mortels. Paris 1990; Roberts, Kenneth B. u. J. D. W. Tomlinson: The Fabric of the Body. European Traditions of anatomical illustrations. Oxford 1992; Lanza, Benedetto u. a. (Hg.): Le Cere Anatomiche della Specola; Florenz 1979; Petherbridge, Deanna u. Ludmilla Jordanova: The Quick and the Dead. Artists and Anatomy. Berkeley Los Angeles
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eine charakteristische Mischung aus wissenschaftlichem Interesse, Sensationsästhetik und heiliger Handlung in einem. Die Gefühle, die sich um Tod, Leichen, Hinfälligkeit, Opfer und Heilung rankten, gingen aufs Theater. Das Eintritt zahlende Publikum formierte sich im Theatrum Anatomicum zur einer ‚Gemeinde‘. Über der Leiche kreuzten sich die Blicke der Zuschauer und es liefen Prozesse der Selbstvergewisserung als Individuum und Kollektiv ab. Dies ist eine neuartige Katharsis, welche die Traditionen des Theaters wie der Liturgie zugleich beerbt. Daneben entsteht eine neue Form der curiositas,11 die zum Habitus der Naturforscher wird. Neugier ist nicht länger Sünde, sondern geadelt als welterschließende Geste. Die Anatomie siedelt mithin im Grenzraum zwischen Unheimlichkeit, hybridem Sakrileg, Märtyrertum und New Sciences. Es gibt keine Grenzen mehr. Wo curiositas zur Tugend wird, endet die Epoche der Scham, dort herrscht grenzenlose Wissensausdehnung, die Eroberung des Unsichtbaren unter der Haut sowie im Mikro- und Makroraum. Bei Juan de Valverde de Amusco (1525–87), einem gnadenlosen Plagiator besonders von Andreas Vesalius, erfährt Marsyas eine weitere Metamorphose, nämlich zu dem enthäuteten Muskelmann, der sich, in der Haltung antiker Skulpturen, präsentiert, als habe er sich selbst ecorchiert – das Messer in der Hand und seinen Hautsack triumphal hochhaltend (Abb. 9).12 Er ist Subjekt und Objekt zugleich des anatomischen Prozesses. Der Vergleich mit einer antiken Statue (Abb. 10) zeigt, dass in diesem Darstellungstypus Apoll und Marsyas verschmolzen werden. Der anatomisierte Leichnam ist Marsyas und Apoll zugleich. Das Fleisch kommt gewissermaßen seiner anatomischen Ostentation freiwillig entgegen. Damit sind alle Spuren der Hinrichtung, der Gewalt, des Sakrilegs getilgt. Aus dem Opfer ist ein Selbstopfer geworden. Titelbilder wie das folgende (Abb. 11) begegnen oft: der Hautsack des Marsyas ist zum zentralen Schaustück geworden, gleichsam zum Pergament, das die Schrift der Anatomie aufnimmt. Zugleich sehen wir in den Attribut-Figuren Hiob
London 1997; Sawday, Jonathan: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London New York 1995; Ferrari, Giovanna: „Public Anatomy Lessons and the Carnival. The Anatomy Theatre of Bologna“. In: Past and Present 117 (1987), S. 50–106. 11 Krüger, Klaus (Hg.): Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 2002; Locher, Elmar: „Curiositas“ und „Memoria“ im deutschen Barock;. Wien 1990. – Ferner die klassische Studie: Blumenberg, Hans: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a. M. 1973. 12 Zu diesem Darstellungstypus vgl. Benthien, Claudia: „Anatomie im mythologischen Gewand. Kunst und Medizin in Schindungsdarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts“. In: Künste und Natur in Diskursen der frühen Neuzeit. Hg. v. Laufhütte, Hartmut u. Barbara Becker-Cantarino. Wiesbaden 2000, S. 334–353.
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Abb. 9: Ecorché, die eigene Haut präsentierend. Aus: Juan de Valverde de Amusco (1525–87): Historia de la composicion del cuerpo humano. Roma: Ant. Salamanca & Antonio Lafrery 1560, S. 64. Folio: 31 cm. Kupferstich. Zeichner: Gaspar Becerra; Stecher: Nicolas Béatrizet)
und Lazarus das Alte wie das Neue Testament aufgerufen. In der unteren Kartusche wird die endzeitliche Auferstehung figuriert, so wie oben das flammende Kreuz und der Palmzweig an die richtende und friedenbringende Verheißung des Christentums gemahnen. Gewissermaßen ist Marsyas und damit die Anatomie in den christlichen Heils-ordo aufgenommen.
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Links: Abb. 10: Kupferstich der antiken Statue des Apoll, sog. Apollo Giustiniani. Mit späteren Ergänzungen. Rom, Slg. Torlonia. Aus: Montfaucon, Bernhard de: L’antiquité explicée et représentée en figures, I: Les dieux Grecs et Romains, première Partie. Paris 1719, Tafel 54. Rechts: Abb. 11: Frontispiz aus: Thomas Hafenreffer (1587–1660): Nosodochium, in quo cutis, eiqe adhaerentium partium, affectus omnes, singulari methodo, et cognoscendi et curandi fidelissime traduntur. Ulm: B. Kühn, 1660
Dies konnte umso leichter bewerkstelligt werden, als das Martyrium des heiligen Bartholomäus mit dem Marsyas-Mythos ikonologisch fusioniert wurde (Abb. 12). Oft präsentiert der Heilige selbst das Messer und den Hautsack zugleich, als sei das Martyrium sein eigenes Werk gewesen. Der Unterschied zur Marsyas-Ikonologie ist nur der, dass das integre Gesicht des Bartholomäus zweimal erscheint: er ist gänzlich wiederhergestellt, also erlöst und erhoben in den Status des im Vollsinn fleischlich auferstandenen Heiligen. Wie die Anatomie so ist erst recht die Erlösung ein Zustand jenseits der Scham. Die Makel des Verbrechens, der Erniedrigung,
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Abb. 12: Le Gros, Pierre d.J. (1666–1719): St. Bartholomaeus. 1708–18. Marmor, Höhe 425 cm. San Giovanni in Laterano, Rom.
des Schmerzes, der Gewalt, des schrecklichen Opfers, deren Anblick mit Dezenz und Idealisierungen umhüllt werden muss, sind völlig getilgt. Aus Ansichten des Ekels, des Schreckens und der Scham, wovon der Blick sich abwenden möchte, hat sich – wie in der christlichen Martyrologie – so auch in der Anatomie eine neue Ästhetik gebildet, die gar nicht genug an Fürchterlichkeiten bekommen kann, die einst – etwa bei Augustin – zum Sündigen und Verworfenen einer schändlichen und schamlosen Augenlust (concupiscentia oculorum13 und vana curiositas) gehörten. 13
Vgl. dazu von dem hauptsächlich in Lille tätigen Jesuiten François (Francisco) Bellegambe die noch traditionelle kirchliche Auffassung der Augenlust: Concupiscentia oculorum consideratione seria elanguescens, es sacris Litteris, Patribus, aliisque Scriptoribus Ecclesiasticis.... Insulis [= Lille]: Typis Francisco Fievet 1683. – Drei Jahre später schrieb
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4. Von der Diana visa zur Venus secta Einen parallelen Prozess der Nobilitierung der Anatomie finden wir bei derjenigen mythischen Figur, die das Zentrum einer neuen Bild-Gattung bildete, nämlich Venus.14 Der Münchner Meister MZ schildert eine nackte Venus mit wehendem Lockenhaar (Abb. 13).
Abb. 13: Meister MZ: (aktiv 1500–1510): Vanitas (Memento Mori). 1502–03. Kupferstich, 183 × 131 mm. Museum of Fine Arts, Budapest
14
Bellgambe nach demselben Schema der Kompilation und Kommentierung biblischer und kirchlicher Schriften noch das Werk „Concupiscentia carnis“. Der Diskurs über die Concupiscentia oculorum et carnis, die beide in der ambitio saeculi kumulieren, wird regelhaft zurückgeführt auf Augustinus: Confessiones, Lib. II und III, vgl. auch X, 35,54. Die biblische Quelle ist 1. Johannesbrief 2,16: quoniam omne quod est in mundo concupiscentia carnis et concupiscentia oculorum est et superbia vitae quae non est ex Patre sed ex mundo est. Auf diese Stelle bezieht sich Augustinus ausdrücklich in: De vera religione, cap. XXXVIII. – Zur Rezeption vgl. Bös, Gunther: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin. Paderborn München 1995. Zum Typus der Venus arbeitet unter der Leitung von Peter Seiler das Teilprojekt B3 (Wissen und Imagination: Venus-Bilder der Renaissance) des SFB 644: Transformationen der Antike, Humboldt-Universität zu Berlin.
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Abb. 14: Memling, Hans (ca. 1440–1494): Triptychon der irdischen Vanitas und der himmlischen Erlösung. ca. 1485. Öl auf Holz, 22 × 15 cm (je Flügel). Musée des Beaux-Arts, Strasbourg.
Das vom Kopftuch herab fallende Band wird vom Wind schamhaft über den Schoß gefaltet. Venus wird mit christlichen Emblemen gewissermaßen entmächtigt. Unsicher ist ihr Stand auf dem runden Totenschädel – im Gegensatz zu den aufrecht stehenden Bäumen und Pflanzen, die fest in der Erde verwurzelt sind. Venus steht deutlich unter der Herrschaft der Vergänglichkeit (die Sonnenuhr) und des unbeständigen Glücks (Fortuna-Kugel). Nur darum darf sie nackt erscheinen;15 sie ist der Inbegriff sündiger Unbeständigkeit. Ähnlich ist es auch mit der Venus/ Vanitas von Hans Memling (ca. 1485; Abb. 14), die vom Tod und der Hölle flankiert wird. Auf der Vorderseite dieses privaten Andachtsaltars erscheint Christus als Weltenherrscher und der Hiob-Vers XIX, 25/2616 verweist auf die Vergänglichkeit des Fleisches und die Aussicht auf eine Erlösung post mortem. Derart ins christliche Narrativ eingeordnet darf die gänzlich nackte, mit Spiegel, Diadem und Hunden attribuierte Venus einen ephemeren Auftritt haben, der vor allem ihre nichtswürdige, indes verlockende Schamlosigkeit erweist. 15 16
Neben diesem Fall der Nacktheit als Index der Sünde darf auch nackt erscheinen, wer völlig unschuldig ist, wie Eva vor dem Sündenfall oder Susanna im Bade; natürlich auch die in ihrem Fleisch Auferstandenen, die vor das Endgericht treten. Umgeschrieben heißt der Hiob-Vers auf dem Altar, direkt unterhalb des Totenschädels:“ ...et in novissimo die de terra surrecturus sum; rursum circumdabor pelle mea, et in carne meae videbo Deum Salvatorem meum“.
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Abb. 15: Tiziano, Vecellio (1490–1576): Diana und Actaeon. 1556–59. Öl auf Leinwand, 185 × 202 cm. National Gallery of Scotland, Edinburgh.
Dass die heidnischen Göttinnen jedoch eine eigene Scham kennen, wird an der Interpretation des Actaeon-Mythos durch Tizian sichtbar (Abb. 15). Den vielfach überlieferten Mythos erzählt am schönsten Ovid in den Metamorphosen (Met. III, 131–252). In der Mittagsstille, in der alles ruht, und der Königssohn mit seinen Genossen die Jagd unterbricht, gerät Actaeon „ziellosen Schrittes“ in eine weglose Waldgegend, deren geheime Zeichen er nicht erkennt. Absichtslos nähert er sich einer natürlichen Grotte „im letzten Grund“, die „von keiner Kunst gearbeitet war“, wo vielmehr umgekehrt „die Natur in ihrem Ingenium die Kunst nachgeahmt hatte“ („arte laboratum nulla; simulaverat artem/ ingenio natura suo“).17 Es ist ein heiliger Ort der Diana, die hier mit ihren Be17
Diese Formulierung ist der kunsttheoretische locus classicus für alle Kunstauffassungen, die „ars“ nicht als Naturnachahmung, sondern umgekehrt Natur als Nachahmung der
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gleiterinnen von der Jagd ausruht. Diana hat sich ihrer Waffen und Kleider entledigt und badet im frischen Quellwasser. Diese Szene erblickt Actaeon: die nackte Göttin vor des Sterblichen Auge.18 Scham durchjagt aufschreckend die Nymphen der Diana und schützend umringen sie die Göttin, um ihren nackten Leib mit ihren Leibern zu verhüllen. Zu spät. „Purpurglut ... färbte Dianas Gesicht, da sie ohne Gewand sich erschaut sah“. Die beschämte Göttin, ohne ihren Bogen schutzlos, schöpft mit der Hand Wasser und besprengt das Gesicht Actaeons, dessen Leib sich daraufhin in den Körper eines Hirsches verwandelt. Den Beschämenden erreicht nun die Scham: nicht wagt er, der Hirsch, sich in die Nähe der Menschen, noch wagt er, der Mensch, sich in die Nähe der Tiere. Der Tierkörper, sein Menschensein verhüllend, hindert ihn, sich als Mensch zu verkörpern: so wird er, von seinen Hunden, als Tier identifiziert und erjagt. Den Ausruf „Actaeon ego sum“, Ausruf ursprünglichster Selbstidentifikation, erstickt ausdruckslos im stummen Tierkörper. Während die Hunde ihn in Stücke zerreißen, entringt sich der Tierkehle der Zwielaut seines Schmerzes, weder Menschenton noch Tierschrei, und „stumme Blicke“ lässt er, Rettung suchend, kreisen im Augenblick seines Todes.19 Vermutlich geht diese Szene auf archaische Zerreißungsopfer zurück, die ihre Spuren etwa auch in den Bakchen des Euripides hinterlassen
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Kunst interpretiert haben. Vgl. dazu: Fondermann, Philipp: Kino im Kopf. Zur Visualisierung des Mythos in den „Metamophosen“ Ovids. Göttingen 2004, S. 171ff. (bes. Kap. 4.3: Kunst, und 4.3.7.: Natur ahmt Kunst nach, S. 187–89). – Zur Actaeon-Mythe vgl. auch: Cancik, Herbert: „Die Jungfrauenquelle. Ein religionswissenschaftlicher Versuch zu Ovid, Metamorphosen III, 138–255“. In: Ders.: Verse und Sachen. Kulturwissenschaftliche Interpretationen römischer Dichtungen. Hg. v. Faber, Richard u. Barbara Reibnitz. Würzburg 2003, S. 113–141; Leonhardt, Jürgen u. Katharina Krause: „Poesie und Bild. Die Actaeon-Geschichte in Ovids ‚Metamorphosen‘“. In: Brandt, Reinhard u. Steffen Schmidt (Hg.): Mythos und Mythologie. Berlin 2004, S. 147–167; Davis, Walter R.: „Actaeon in Arcadia“. In: Studies in English Literature 1500–1900 2, 1 (1962), S. 95–110. – Zu Diana vgl. auch Schmitzer, Ulrich: „Strenge Jungfräulichkeit. Zur Figur der Göttin Diana in Ovids Metamorphosen“. In: Wiener Studien 114 (2001), S. 303–321. Die Variante, dass Actaeon die Göttin versehentlich nackt erblickt, ist spezifisch für Ovid. Nur Kallimachos erzählt es ähnlich. In anderen Mythen-Varianten wird Actaeon für frevelhafte Gewalthandlungen bestraft – für die Vergewaltigung der Semele (so bei Hesiod und Apollodor), für die versuchte Vergewaltigung der badenden Artemis, ausgerechnet in derem Heiligtum (Diodor); oder er prahlt damit, ein besserer Jäger als Artemis zu sein (ebenfalls Diodor, der beide Varianten überliefert; sowie Euripides). Diese Konstellation entspricht derjenigen von Marsyas und Apoll, wenn ersterer sich als den besseren Musiker darstellt: diese hybride Herausforderung wird jeweils mit schrecklichem Tod bezahlt. Giordano Bruno gibt der Actaeon-Mythe eine völlig neue Deutung, vgl. dazu Böhme, Hartmut: Die Naturphilosophie des Giordano Bruno. In: Gernot Böhme (Hg.): Klassiker der Naturphilosophie. München: C.H. Beck 1989, S. 117–136.
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haben.20 Hier kommt es auf das Tabu an, Gott zu sehen, zumal nackt: göttliche Präsenz ist für den Menschen unerträglich. Nicht ohne Grund fügt Ovid der Actaeon-Mythe die Erzählung von Semele an (Met. III, 253–309). Semele, die Geliebte Jupiters, wird von der eifersüchtigen Juno, die sich in die Gestalt der Amme verhüllt, auf den verhängnisvollen Wunsch gebracht, Jupiter in jener Gestalt sehen zu wollen, in der er gewöhnlich mit Juno den göttlichen Beischlaf vollzieht. Ahnungslos erbittet Semele damit ihren Tod; schuldlos-schuldiges Opfer wird sie wie Actaeon. Denn Jupiter, der durch Schwur an die Erfüllung des Wunsches gebunden ist, verbrennt im Präsentwerden seiner Göttlichkeit instantiell den sterblichen Leib seiner Geliebten. Noch Schiller ist der Stoff, der das Motiv des Verhüllens und Enthüllens auf die Begegnung von Mensch und Gott hinüberspielt, wichtig genug, um daraus ein Libretto zu machen, während er das uralte Thema der Wahrheit, die sich offenbart nur als tödlicher Schrecken, im Gedicht Das verschleierte Bild zu Saís aufnimmt.21 Tizian scheint den Vorhang in die Bildszene eingeführt zu haben, um auf diesen Zusammenhang hinzuweisen: das Göttliche und die Wahrheit sind nicht unmittelbar zu schauen, es sei denn um den Preis des Todes.22 Ähnlich ergeht es dem Helios-Sohn Phaeton, der des göttlichen Lichtes des Sonnengottes teilhaftig zu werden begehrt, und, beinahe einen Weltenbrand (Ekpyrosis) auslösend, dafür mit seinem Tode zahlt.23 Denn das ist der Kern jener Geschichten, in denen eine hybride Sehnsucht nach Gottesunmittelbarkeit im Menschen brennt, die ihn verzehrt. In den biblischen Erzählungen gilt ein ähnliches Tabu: das Verbot, den Namen Jahwes auszusprechen, oder die Situationen, in denen Jahwe sich nur indirekt in einer Wolke oder durch seine Stimme anzeigt, haben ihren Grund auch darin, dass Gott, visuell unmittelbar werdend, den Menschen vernichtet. Die Verhüllung hat die schützende Funktion, Gött-
20 Vgl. dazu Burkert, Walter: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin New York 1972; Kott, Jan: Gott-Essen. Interpretationen griechischer Tragödien. München 1975. 21 Friedrich Schiller: „Semele. Operette in zwei Szenen. 1782“. In: Sämtliche Werke, Bd. 2. Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1968, S. 1033–1052. 22 Zu Tizians Gemälde vgl. Tanner, Nancy M.: „Chance and Coincidence in Titian’s ‚Diana and Actaeon‘“. In: Art Bulletin 56 (1974), S. 535–550; Ginzburg, Carlo: „Tizian, Ovid und die erotischen Bilder im Cinquecento“. In: Ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin 1983, S. 173–192; Clark, Kenneth: The Nude. A Study of Ideal Art. London 1956; Keller, Harald: Tizians Poesie für König Philipp II. von Spanien. Wiesbaden 1969; Willemsen, F.: „Aktaion-Bilder“. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 71 (1956), S. 29–58. 23 Dazu jetzt: Hölkeskamp, Karl-Joachim u. Stefan Rebenich (Hg.): Phaëthon. Ein Mythos in Antike und Moderne. Stuttgart 2009; Böhme, Gernot und Hartmut Böhme: Feuer Wasser Erde Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996, S. 74–90.
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liches und Menschliches zu trennen, weil ihre Vermischung zerstörerisch ist. Eindrucksvoll ist dies noch am Julius-Grabmonument Michelangelos zu studieren, wo das Tuch, welches über das rechte Bein des Moses fällt, der Verhüllung des Hauptes diente, als er vom Gesetzesberg zum Volk zurückkehrte: denn auf seinem Antlitz lag noch der vernichtende Widerschein Gottes. Dies gilt nicht nur für die biblische Tradition, sondern auch für den griechischen Kulturraum. Hier ist es Prometheus, der eine radikale Trennung zwischen der Sphäre der Götter und der Welt der Menschen einführt: diese Trennung ist eine heilsame Schonung des Menschen.24 Nicht nur aber auch deswegen gibt es im Verkehr zwischen Mensch und Gott eine notwendige Scham, welche über die Trennung der Sphären wacht und ein Verhältnis der Indirektheit sichert. Ähnlich steht es mit der Wahrheit. Der Schillersche Jüngling zu Saís, nachdem er – trotz aller Warnung – in seiner Wissensbegier den Schleier vor der Wahrheit aufzuheben wagt, um dieser unmittelbar ansichtig zu werden, wird mit Ohnmacht und Stummheit geschlagen wie Actaeon.25 Das heißt nicht etwa, dass der eingeweihte Weise schweigt. Sondern es scheint eine Scheu im Verkehr mit dem Wahren zu geben, die seine Unmittelbarkeit ins Verhüllte mäßigt – so, als wäre die direkte Berührung des Signifikats nicht nur unmöglich, sondern furchtbar. Darum hat die Einkleidung der Bedeutung ins Spiel der Signifikanten zwar zur Folge, dass das Signifikat auf immer entzogen ist – es kann kein Symbolon geben –: doch ist es eben der Signifikant, der in der Sprache die Funktion des Vorhangs oder des Schleiers übernimmt, der in den Szenen der Gottesbegegnung den Menschen vor dem coup de foudre hüllenloser Offenbarung schützt.26
24 Vgl. dazu Böhme, Hartmut: „Hesiod und die Kultur. Frühe griechische Konzepte von Natur, mythischer Ordnung und ästhetischer Wahrnehmung“. In: Musner, Lutz unf Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 137–160. 25 Schiller, Friedrich: „Das verschleierte Bild zu Saís (1795)“. In: Sämtliche Werke (wie Anm. 21), Bd. 1. Gedichte, Dramen I, S. 224–226. – Zu Schillers Interesse an Mysterienkulten, zur Moses-Figur (vgl. ders.: „Die Sendung Moses“. In: Sämtliche Werke, Bd. 4. Historische Schriften, S. 783–804) sowie zu seiner Beziehung zu Karl Leonhard Reinhold (und dessen Schrift über „Die hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, 1787, zuerst lat. 1788) vgl. Assmann, Jan: Moses der Ägypter. München 1998, S. 173–210. 26 Zu den religions-, kunst- und gendergeschichtlichen Zusammenhängen des Schleiermotivs, bei dem oft zu Korrelation zur Scham übersehen wird, vgl. Assmann, Aleida und Jan Assmann (Hg.): Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1996; Wolf, Gerhard: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. München 2002; Endres, Johannes, Barbara Wittmann u. Gerhard Wolf (Hg.): Ikonographie des Zwischenraums: Der Schleier als Medium und Metapher. München 2005.
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Um den Gott und die Wahrheit gleichermaßen legt sich eine Hülle von Scham und Geheimnis, welche der Begegnung mit dem Nackten entstammt und sich den religiösen, philosophischen und sprachlichen Beziehungen aufprägt. Darin steckt auch ein Trost: an den Zeichen des Gottes und der Wahrheit, an ihrer indirekten Präsenz haben wir genug – so noch Goethe. Im Auftritt „Anmutige Gegend“, der den Faust II eröffnet, erlebt Faust einen grandiosen Sonnenaufgang, dessen blendendes Licht ihm „Augenschmerz“ verursacht, so dass er sich abwenden muss („So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!“), um dann in der Tropfengischt eines Wasserfalls (einem ‚anderen‘ Schleier) das Urphänomen des Regenbogens zu beobachten: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ (Faust, 4679–4727). Dieses für Goethes Naturästhetik überaus charakteristische Diktum entspricht der Wendung Goethes hin zur phänomenalen Welt, nachdem er in seiner Jugendzeit den Schleier der Erscheinungen zu durchdringen und das Mysterium unmittelbar zu schauen suchte. Auch nur den Erdgeist unmittelbar von Angesicht zu Angesicht zu erblicken, übersteigt indes das Fassungsvermögen Fausts („Schreckliches Gesicht! ... Weh! Ich ertrag’ dich nicht!“, Faust 483–85). Darin spiegelt sich die Abwendung von der hermetischen Metaphysik.27 Den nackten Gott oder die nackte Wahrheit zu sehen (oder auszusprechen oder zu bilden) – das gehört, wie das philosophische Gold, zwar zum Kern des menschlichen Begehrens, übersteigt jedoch das Maß dessen, was zu ertragen der Mensch vermag. Sich in die sinnliche Maßstäblichkeit der erscheinenden Welt zu fügen, und damit jene Dezenz walten zu lassen, welche die schamlose Wissensbegier begrenzt: dies ist die weisheitliche, durchaus pagane Weltsicht des späteren Goethe. Ungefährlicher und ins Idealische gemäßigt sind die Verhältnisse in der Geburt der Venus (ca. 1485; Abb. 16) von Botticelli, die eben deswegen auch ohne religiöse Warnungen ins Bild treten darf – als Venus pudica ihren graziösen, doch eigenartig empfindungslosen Leib mit dem einzig Exzessiven an ihr, der Haarpracht, bedeckend. Hier herrscht, was Didi-Huberman als erster auszusprechen wagte, die marmorne und desexualisierte Statuarik einer heidnischen Antike, die derart depotenziert im christlichen Umfeld eine Lizenz zum Auftritt hat.28 Das ist anders bei Giorgones Gemälde, dessen Titel Schlafende Venus (Abb. 17) selbst schon ein Feigenblatt ist, um durch die nobilitierende 27 Vgl. Schöne, Albrecht: „‚Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.‘ J. W. Goethe ‚Faust II‘, Vers 4679–4727“. In: Elsner, Norbert (Hg.): Bilderwelten. Vom farbigen Abglanz der Natur. Göttingen: 2007, S. 9–26. 28 Didi-Huberman, Georges: Venus öffnen. Nacktheit, Traum, Grausamkeit. Zürich Berlin 2004.
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Abb. 16: Boticelli, Sandro (1445–1510): Die Geburt der Venus. ca. 1485. Tempera auf Leinwand, 172.5 × 278.5 cm. Galleria degli Uffi zi, Firenze.
Abb. 17: Giorgione (1477–1510): Schlafende Venus. ca. 1510. Öl auf Leinwand, 108,5 × 175 cm. Gemäldegalerie, Dresden.
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Abb. 18: Tiziano, Vecellio (1490–1576): Venus von Urbino. 1538. Öl auf Leinwand. 119 × 165 cm. Galleria degli Uffi zi, Firenze.
Antiken-Allusion Erfordernissen der Scham gelinde entgegen zu kommen. Denn nichts ruft hier irgendein mythisches Narrativ auf. In einem höchst künstlichen Arrangement wird die namenlose Schöne auf feine Kissen und Decken inmitten eine gänzlich unheroische, nicht einmal arkadisch stilisierte Landschaft gelagert. In ihrer Haltung den Betrachter einladend, schließt die Schöne widerstandslos ihre Augen, um desto mehr unseren Blick über die leuchtenden Hügel der Körperlandschaft streifen zu lassen. Scheint die linke Hand der Scham Tribut zu zollen, so zeigen die abgewinkelten Finger doch überdeutlich an, dass es dieselbe Hand ist, die schamvoll zudeckt und doch lustvoll erregt. Zwar sind die Brüste überaus dezent gehalten, doch die Art, in der uns die haarlose Achselhöhle demonstriert wird, gibt zu verstehen, dass dieser (gemalte) Leib für nichts da ist denn für lustvolles Angeschautwerden. Ganz anders als die Boticellische Venus ist diejenige Giorgiones die Projektion erotisierter Phantasie. Tizians Schöne, die Venus von Urbino (Abb. 18), ist ein deutliches Giorgone-Zitat. Doch sie hat die Augen geöffnet: mit ihrem eigentümlichen, nichts preisgebenden Blick versucht sie unseren Blick festzuhalten, der doch ausweicht, um über ihren Leib hinzuwandern und insbesondere an der Hand zu verharren, die, wie bei Giorgone, den Schoß ebenso behütet wie zärtlich berührt. Festgehalten ist ein erregender Augenblick, der nicht
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Abb. 19: Diego Velazquez (1599–1660): Venus mit dem Spiegel. ca.1644–1648. Öl auf Leinwand. 122,5 × 177 cm. National Gallery, London.
währen wird: Denn schon sind die Dienerinnen mit der Auswahl der Kleidung beschäftigt, die den Anblick der Nackten entziehen wird. Noch aber präsentiert sich die Schöne auf dem zerwühlt scheinenden Bett und hat sich doch schon ins Distante zurückgezogen, während der ‚Schoßhund‘ von allen Qualen und Lüsten menschlicher Erotik unberührt in animalischem Schlaf verharrt. Velasquez’ Venus (Abb. 19) dagegen zeigt einen extrem erotisierten Rückenakt. Die narzisstische Geschlossenheit sich selbst bespiegelnder Schönheit, in die einzudringen nicht gelingt, wird ebenso angespielt wie gebrochen, indem im Spiegel das Gesicht der Schönen erscheint, die den Betrachter gelassen anschaut. Dadurch wird das Gemälde zu einem Hin und Her zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen, von Rücken und Gesicht, von Begehren und Entzug, Intimität und Ausgeschlossenheit, Voyeurismus und Exhibitionismus. Es ist eine Etüde der Selbstreflexion über die Malerei und ihr Objekt. Der Maler sucht das Objekt ganz in seinen Bann zu ziehen; und doch entgeht es ihm noch in den Momenten der äußersten Intimität. Spielen alle drei Gemälde mit den Grenzen der Scham und des Schamlosen, wobei es immer auch um Frage der Zurückhaltung und der Penetration (des Blicks), um Dezenz und Verletzung geht, so offenbart die Anatomie-Geschichte der Venus, schon lange vor Didi-Hu-
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Abb. 20: Schwangere Frau mit geöffneter Gebärmutter und Fötus ‚in Situ‘; Kolorierter Mezzotinto aus: Jacques Gautier D’Agoty (1710–1781): Exposition anatomique de la structure du corps humain. Marseille u. a. 1759.
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bermans Buch, dass der wie immer auch umspielte schöne Schein der erotischen Oberflächen durchbrochen werden soll und das Weibliche sich noch in seinem Innersten preiszugeben hat. Die antikisierend präparierte Venus des Malers und Stechers Jacques Gautier d’Agoty (Abb. 20), der mit dem Anatomen Joseph-Guichard Duverney zusammenarbeitete, steht schon am Ende einer längeren Tradition, in der das Innere zumal der schwangeren Frau ans Licht gebracht, ausgebreitet, wenn nicht ausgeweidet wird. Dabei zeigt auch hier die Frau jene Geste der freiwilligen Selbstdemonstration, mit der sie sich dem anatomischen Wissensbegehren darstellt und wie wir sie schon aus der Marsyas-Tradition kennen. Der Uterus ist wie ein Blumenkelch geöffnet, um den Blick auf den Fötus freizugeben. In der Abbildung aus den Tabulae anatomicae (1741; Abb. 21) von Pietro [Berrettini] di Cortona (1596–1669), dessen Stiche durch den Arzt und Verleger Gaetano Petrioli publiziert wurden, hält die Tote ihre Bauchdecke auseinander, um ihr inneres Theater zu demonstrieren – als sei sie aus freien Stücken in die Rolle dessen getreten, die in der frühneuzeitlichen Anatomie der demonstrator innehatte. In der Wachs-Anatomie drängen die anatomisierten Frauenkörper aus der Zweidimensionalität in den skulpturalen Raum: und hier mischen sich aufs eindrücklichste anatomische Wissenschaft und Schauder erregendes Spektakel, ein
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Abb. 21: Weibliche Bauchhöhle und isolierter Fötus ‚in situ‘; Kupferstich von Pietro [Berrettini] di Cortona (1596–1669) in: Gaetano Petrioli: Tabulae anatomicae ... Rom, 1741.
Theater der Schamlosigkeit. Berühmt war die der mediceischen Venus nachgebildete sog. Perlenvenus aus dem Josephinum in Wien (Abb. 22), unter der Regentschaft Joseph II. als militärisch-chirurgische Akademie gegründet, doch nach einem begeisterten Besuch des Kaisers im berühmten Anatomie-Museum La Specola des Anatomen Felice Fontana (1730–1805) zu einer Art Dependance der Florentiner WachsanatomieKünstler ausgebaut.29 Die Venus wird mit echtem Haupt- und Scham29 Skopec, Manfred, Edith Almhofer u. Alexander Koller: Anatomie als Kunst. Anatomische Wachsmodelle des 18. Jahrhunderts im Josephinum in Wien. Wien 2002.
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Abb. 22: Clemente Susini (1754–1814): Sog. Mediceische Venus, auch „Perlenvenus“. Spätes 18. Jh. Wachsanatomie Josephinum Wien.
haar, geschminktem Gesicht und fein bewimperten Augen aufs feinste hergerichtet. Aus ihrem geöffneten Inneren konnte der Besucher die Organe entnehmen bzw. zurückordnen, die Bauchdecke schließen und sich so zwischen dem aufreizenden Anblick der Schönen auf weichem Bett und der zergliederten Leiche hin und her bewegen, zwischen Eros und Thanatos. Das mag eine Erfahrung der überwiegend männlichen Besucher disponieren, die mehr über die Austauschbeziehungen zwischen Wissenschaft und Schauderlust, zwischen Penetrationsbegier und Ekel, zwischen schambesetzten Tabus und seltsamer Enttabuisierung aussagt als über die Frau. Eine derartige nekroerotische Dissonanz treiben die italie-
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Abb. 23: Clemente Susini: Offene Venus: Kreislauf der Arterien, Venen und Lymphsystem. Wachsplastik, spätes 18. Jh. Museo de la Specola, Florenz.
Abb. 24: Felice Fontana (1730–1805): Offene Venus, liegend. Wachsplastik, spätes 18. Jh. Josephinum Wien.
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Abb. 25: André Pierre Pinson (1746–1828): Frauenkopf mit freigelegtem Hirn und Frauenkörper, präparierter Bauchraum. Ceroplastik, spätes 18. Jh. Muséum National d’Histoire Naturelle, Paris.
nischen Wachsanatomen Felice Fontana (Abb. 23) und Clemente Susini (1754–1814, Abb. 24) auf die Spitze – noch die lackierten Fingernägel, das verlockend drapierte Haar oder die Fransen an der Matratze stehen im Dienst dieser schrillen Kontrastästhetik. In der letzten Abbildung (Abb. 25) des wachsanatomischen Künstlers André Pierre Pinson (1746–1828) zeigt sich indes, dass die Scham nicht zu extinktieren ist. Die sitzende Frau, deren Leibeshöhle dem penetrierenden Blick geöffnet ist, ist in eine Haltung von Abwehr und Abwendung gebracht: als wollten noch die Toten unserer eindringenden, schamlosen Neugier entfliehen. Es ist, als spiegelte sich in der Abwehr der Frau die Scham, die wir vor unserem eigenen Handeln empfinden.
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Hartmut Böhme
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EXPLICIT
K LAUS-PETER KÖPPING
Ostentative Schamlosigkeit in japanischen rituellen und ästhetischen Performances im Kulturvergleich
1. Verwobene Diskursfelder: Ehre und Verschmutzung Wenn wir von Schamlosigkeit sprechen, kommen wir im konzeptuellen Denkfeld kaum umhin, den Grundbegriff der Scham und seine Ableitungen mitzudenken. Zwar ließe sich Scham als psychologische Grundstimmung oder sogar körperliche Reaktion auf eigenes oder fremdes Handeln bestimmen, jedoch werden dadurch die Vieldeutigkeiten kultureller und sozialer Kodierungen wie linguistischer Verschiebungen zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften kaum eindeutig fassbar. So gibt es bereits bei der Übersetzung ins Englische das Problem, dass die Wurzel von ‚Scham‘, kognat übersetzt als ‚shame‘, weniger mit einer inneren Eigenschaft des psychischen Reaktionsapparats zu tun hat als mit der Idee einer Verletzung von Rollen- oder Gruppenstatus, das im Deutschen als ‚Schande‘ oder ‚Beschämung‘ oder sogar als ‚Besudelung‘ zum Ausdruck gebracht wird. Nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern auch der wissenschaftliche Diskurs bewegt sich dabei über einen breiten semantischen Fächer, der je nach Interessenlage und Perspektive sehr verschiedene Bedeutungsfelder, Ähnlichkeiten und Oppositionen zum Vorschein bringt. Dabei spielen solche Gegensatzpaare wie ‚Schande‘ versus ‚Ehre‘ (die ‚shame versus honour‘-Debatte der mediterranen Ethnographien)1 eine andere Rolle als in dem Diskurs, in dem das Problem ‚Scham- versus Schuldkulturen‘ in den Mittelpunkt gerückt wird.2
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Für eine Zusammenfassung vgl. Herzfeld, Michael: „Honour and Shame. Problems in the Comparative Analysis of Moral Systems.“ In: Man 12 (1980) H. 2, S. 339–351. Eine Debatte über meist ostasiatische Kulturräume; vgl. dazu zuerst Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, New York 1946; für das klassische Griechenland vgl. Dodds, E.R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley, Los Angeles 1951.
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Hinzu kommt ein dritter Diskurs, der auf die Körperlichkeit rekurriert, der also auf den Begriffen und Gleichsetzungen von Schande als Ehrverletzung von sozialer Person oder kollektiver Gruppe durch körperliche Verunreinigungen aufbaut (wobei die öffentliche Debatte hier eher mit dem Begriff der ‚Besudelung der Ehre‘ und dem Konzept der Blutfehde und des Ehrenmordes den Bogen zum mediterranen Diskurs herstellt, nicht so sehr zu den Körperkosmologien). Hier war sicherlich die Arbeit von Mary Douglas über Purity and Danger von 1966 mit dem Untertitel An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo wegweisend.3 Douglas macht damit zwei Jahre vor der englischen Veröffentlichung von Bachtins Rabelais and his World 4 auf das Phänomen der sozialen Relevanz des Schmutzes („dirt is a matter out of place“), insbesondere der Tabuisierung der Körpersäfte, die sie mit Sartre als Kategorie des ‚Klebrigen‘ bezeichnet (Blut, Tränen, Speichel, Nasenschleim und Samenerguss), aufmerksam. Diese ‚verschmutzenden‘ Agenten werden generell insofern als gefährlich eingestuft, so argumentiert Douglas, weil sie nicht in die konzeptuellen Ordnungsschemata aller Gesellschaften passen, die zur Handlungssicherheit klare Grenzziehungen von Kategorien und Gruppen (als Solidarisierungsmechanismen) brauchen. Obwohl das ‚Klebrige‘ in einer Art Körpersäftelehre eine beinahe universale Gültigkeit zu haben scheint, ist nicht in jeder Kultur dasselbe als durch Ambivalenz gefährlich angesehen: So gibt es, wie Douglas auf der Grundlage vieler ethnographischer Zeugnisse zeigen kann, nur in einigen Gesellschaften die Vorstellung, dass Zwillinge gefährlich, weil nicht einfach klassifizierbar sind. Der eine Ausweg, den nach Douglas viele Gesellschaften wählen, ist u. a. eine ‚Umkategorisierung‘ des Gefährlichen, indem man z. B. Zwillinge zur Klasse der Nilpferde zählt und sie im Fluss ertränkt.
2. Ähnliche Begriffe/divergierende Perspektiven: Nussbaum, Bachtin, Greenblatt, Bataille Auf der Grundlage der Analysen von Mary Douglas sind auch in der Rechtswissenschaft inzwischen vor allem durch Martha Nussbaum Versuche unternommen worden, das ‚Unreine‘ als das ‚Eklige‘ insoweit in den Griff zu bekommen, dass es als Kategorie für Gesetze gegen Obszönität
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Douglas, Mary: Purity and Danger, Harmondsworth 1966 (dt. Reinheit und Gefährdung, Berlin 1985). Bakhtin, Michael: Rabelais and his World, Cambridge 1968 (dt. Rabelais und seine Welt. Frankfurt a. M. 1987).
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in Einklang z. B. mit dem Verfassungsgrundsatz der Verletzung der Menschenwürde zu bringen wäre. Leider bricht Nussbaum den komplexen Ansatz von Douglas auf die einfache Freud’sche Formel der zivilisatorischen Leistung der Sauberkeit und des kompensatorischen Resultats der Verdrängung oder Verschleierung der animalischen Triebhaftigkeit des Menschen herunter: [...] it should not surprise us that in all known cultures an essential mark of human dignity ist he ability to wash and to dispose of waste“, und weiter: „the human being has broken away from this animalistic world of excrement, smell, and sexuality, and has raised its nose on high […].5
Hier legt natürlich sofort ein anderer, multidisziplinärer Diskurs seinen Widerspruch ein: Nicht nur Mary Douglas, auch Michail Bachtin, Stephen Greenblatt und George Bataille würden kritische Fragen stellen. So verweist Mary Douglas auf den von der Ethnologin Monika Wilson berichteten rituellen Akt der Koprophagie bei den Nyakyusa,6 der zu Zeiten der Trauer über verstorbene Verwandte stattfindet, mit der Begründung der Informanten gegenüber der Feldforscherin, dass man diese Sitte ausführe, die sonst nur Wahnsinnige vollführten, um nicht aus Trauer wahnsinnig zu werden (ein schönes Beispiel zur mimetischen Anverwandlung von dem, was einen zu überwältigen droht). Hier zeigt sich die andere, die dunkle Seite, wie Douglas sie nennt, von Ritualhandlungen: „In painting such dark themes, pollution symbols are as necessary as the use of black in any depiction whatsoever. Therefore, we find corruption enshrined in sacred places and times“;7 eine ähnliche Ambivalenz beherrscht ja auch den mythischen Raum des Heiligen, der als sacrum auch den ausgestoßenen Teil mit beinhaltet.8 Es ist ja nicht so sehr das ‚Eklige‘ an sich, von dem Nussbaum mit Recht sagt, dass nicht alles Anomale eklig sei, sondern dass, wie Douglas argumentiert, das Hineinnehmen des ‚Gefährlichen‘ in den sonst als ‚rein‘ vorgestellten rituellen Raum diesem seine besondere Potentialität des Schöpferischen gibt, wie wir es auch von klassischen Gottheiten kennen, sei es Dionysos oder Shiva, die zugleich weltenschöpferisch als auch zerstörerisch agieren können. Ähnlich hat Bachtin argumentiert, dass die rituellen Zeiten eben solche sind, in denen die Welt auf den Kopf gestellt
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So in Bezug auf den aufrechten Gang des homo sapiens, vgl. Nussbaum, Martha : Hiding from Humanity. Disgust, Shame and the Law, Princeton 2004, S. 90. Wilson, Monica: Rituals and Kinship among the Nyakyusa, Cambridge 1957. Douglas: Purity and Danger, S. 179. Vgl. dazu Rudolph Ottos bahnbrechende Einsicht zuletzt wiederholend Schrott, Raoul: „Die Politik des Heiligen“. In: Lettre International 88 (2010), S. 7–12.
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wird, um mit den konkreten körperlichen Performanzen des sonst völlig Tabuisierten ein Aufbegehren gegen die normale Ordnung der hierarchisierten Welt zu kennzeichnen, und durch genau die Verwischung und Überlagerung von Symbolen aus den Grenzbereichen, ja der Substituierung in der Doppeldeutigkeit belassen werden (das Ersetzen der Augen oder des Mundes durch den Anus, des Mundes durch die Vagina, der Nase durch den Penis usw., typisch nicht nur für den Volkswitz, sondern auch für jede symbolische Handlung oder Repräsentationstechnik, die ein assoziatives Begehren kreieren soll, ohne dass es zu einem Tabu-Bruch kommt). Dies geschieht nicht nur, so führt Bachtin aus, um die Grenzziehungen eines Innen und Außen zu transgredieren, wie auch Douglas es für eine Sozio-Kosmographie zur Grundlage macht, sondern auch, um die kreative Fruchtbarkeit an Orten der Verwesung, also die existentielle Nähe von Geburt und Tod zu markieren. Stephen Greenblatt hingegen argumentiert in seiner kleinen Arbeit über Schmutzige Riten,9 wie stark Europa sich von dem Rest der Welt zur Zeit der Entdeckungen dadurch abgrenzen wollte, dass es dem Fremden eklige Rituale unterschob (und ein Ähnliches kann bei den Chinesen in den Quellen gefunden werden, die für alle als ‚barbarisch‘ geltenden Randvölker, vor allem im Süden Chinas, der seit dem 12. Jahrhundert erst sinisiert wurde, Ideogramme für eklige Kriech- und Krabbeltiere einsetzten). Greenblatts Arbeit ist auch eine Referenz zu dem Sammelsurium von weltweiten Obszönitäten durch jenen Captain Bourke, der als Indianerschlächter in die Geschichte eingegangen ist, aber auch als jener, der bei seiner Beobachtung der fäkalischen rituellen Performanzen der sogenannten ‚mud-clowns‘ bei den Hopi Indianern nicht merkte, dass sie eigentlich ihn ‚anpissten‘.10 Bourke hatte die erste Auflage mit der Freud’schen Fehlleistung als „scatological“ drucken lassen (was Freud jedoch richtigstellend mit „Unrat“ übersetzte). Gleichzeitig zeigt Greenblatt, ähnlich wie Elias, dass es seit der Renaissance und der Gegenreformation einen Puritanismus-Schub in Europa gab, der eine immer stärkere Stringenz des Schicklichen und Einengung jener Körperlichkeit, die als ‚natürlich‘ galt, stattfand (während sich die Reformatoren noch die Obszönitäten um die Ohren schlugen, wie der Schriftverkehr von Luther und Thomas Morus beweist). Auf der anderen Seite steht der Diskurs von Bataille über ‚Abfall‘ und seine Verwandtschaft zum ‚Überfluss/Überschuss‘ (excès) (auf deutsch u. U. als „Ausschuss versus Überschuss“ übersetzbar), also einer Beziehung
9 Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten, Berlin 1991. 10 Bourke, J.G.: Das Buch des Unrats, Frankfurt a. M. 1891 (ND 1992).
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zwischen einer moralischen und einer wirtschaftlichen Ökonomie, wobei der Tabubruch für ihn11 ein definitorisches Kriterium für die ‚Festzeit‘ ist; jedoch, so schränkt er die Aussage Freuds, dass Tabus dafür da seien, gebrochen zu werden, dahingehend ein, dass er den Tabubruch nur für Herrscher und in Ritualen als erlaubt, wenn nicht sogar erforderlich, ansieht (damit voll im Einklang mit der Ethnologie Gluckmans, die von Victor Turner fortgesetzt wird).12 Callois hatte für die ‚liminale‘ Zeit nach dem Tode eines Häuptlings in Fidschi erwähnt, dass es zu normalerweise unerhörten Untaten wie Mord, Plünderungen und Vergewaltigungen kam. Eine der schönsten bildlichen Hymnen über die Doppelwertigkeit von Abfall hat uns dann Agnes Varda in ihrem liebevoll gestalteten Film Les glaneurs et la glaneuse (Die Ährensammlerinnen) von 2000 geliefert, in welchem sie den Bogen vom Clochard über das erlaubte Sammeln von Feldfrüchten nach den Ernten bis zum Antiquitäten-Sammler und zum Bild von Courbet über jene sprichwörtlichen Ährensammlerinnen spannt,13 während die Surrealisten in der Kunst noch mit dem Tabubruch des Abfeierns der parts maudites, der verfemten Teile des Körpers, in ihren Transgressionen beschäftigt waren.
3. Die konkrete globale Herausforderung der Verschmutzungsmetaphorik Trotz vieler kritischer Punkte bleibt die Analyse von Douglas bahnbrechend auch für eine internationale Rechtsprechung, die mit den Tatbeständen von Ostrazismus von ganzen Bevölkerungsgruppen oder dem Genozid an Fremd- und Eigenminoritäten zu Rande kommen will (bisher wohl eher vergeblich). Wie Douglas, die von den Speisetabus des jüdischen Gesetzes ausgeht, zeigen konnte, scheint eine metaphorische Beziehung zwischen der Körperkosmologie und dem Imaginären der eigenen Gesellschaft zu bestehen: Man tabuisiert gewisse Nahrungsmittel als gefährlich für den konkreten Leib, genauso wie man den Gesellschaftskörper vor
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Mit Hinweis auf die vorherigen Sammelarbeiten von Roger Caillois über ethnographische Berichte zu Ritualen, Festen und Spielen vgl. Caillois, Roger: L’ homme et le sacré, Paris 1950 und Bataille, Georges: Der heilige Eros, München 1979. Gluckman, Max: „Rituals of Rebellion in South-East Africa“. In: Order and Rebellion in Tribal Africa. Hg. v. M. Gluckman, New York 1952. Als Kommentar über die Konsumgesellschaft sicherlich ebenso interessant und weitaus konkreter als Batailles komplexer Verweis auf Ökonomien der Verschwendung im vorkapitalistischen Kulturen, wie dem auf den Werte vernichtenden Potlatch der Kwakiutl, oder auf den männlichen Überschuss aufsaugenden Tibetischen Buddhismus.
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inneren oder äußeren ‚Eindringlingen‘ oder ‚Giften‘, ‚Schädlingen‘ (oder im medizinischen Jargon ‚Bakterien‘ und ‚Viren‘) bewahrt (dabei variieren nach Douglas natürlich die Gesellschaftsbilder als entweder mehr geschlossene oder innerlich differenzierte oder gar segmentierte Formen, z. B. nach Kasten, Klassen, Berufs- oder Geschlechtergruppen). Die beinahe universale Relevanz dieses analytischen Ansatzes kann über die letzten Jahre in verschiedenen Entschuldigungs- oder Begründungsstrategien von genozidalen Praktiken beobachtet werden: Immer werden die anderen, die man ausgrenzt (wie u. a. noch immer Homosexuelle in vielen afrikanischen Gesellschaften, wie in der Lehre katholischer Bischöfe) oder ausmerzt, als ‚Beschmutzungen‘ qua performativer Designation wirksam bezeichnet, wie sich im Ruanda-Konflikt zeigte oder in dem vor einigen Jahren stattfindenden Abschlachten von Zehntausenden von Angehörigen der Stammesgruppe der Ndebele durch den noch amtierenden Schlachthofvorsteher von Zambia, Mugabe, der seine in Nordkorea ausgebildeten Elite-Killer-Soldaten mit dem Spruch „weg mit dem Dreck“ (guku rahundi) zur Metzelei antrieb. Der konzeptuelle Irrsinn solcher Gräuel, die mit den Reinheitsmetaphern (von Rasse, Ethnie, Klasse oder Kaste) erfolgreich betrieben wird, lässt sich erst erahnen, wenn man den Berichten aus dem Bosnien-Konflikt von Opfern und Tätern Aufmerksamkeit schenkt, wo es zu Vergewaltigungen der Frauen der jeweiligen Feindgruppe mit der Begründung kam, dass man damit seine eigene ‚Rasse/Ethnie‘, sein eigenes kollektives ‚Blut‘ weitergebe. Es kommt dieser irren Logik anscheinend nicht zum Bewusstsein, dass man sich selbst ja doch ebenfalls ‚verunreinigt‘, indem man das Eigene mit dem Fremden zu einer neuen Einheit vermischt, und nicht nur, wie man argumentiert, das Andere auslöscht, indem das Eigene in der neuen Form dominiert. Aber rassenideologischer Reinheitswahn hat wenig mit argumentativer Logik, geschweige denn mit Genetik etwas zu tun. Diese Formen verweisen indirekt jedoch auf eine sehr kulturspezifische Sicht der Geschlechter-Hierarchie, die man auch als archaisch-verquer bezeichnen könnte, wäre sie nicht weiter verbreitet als nur im südosteuropäischen Raum: Das Männliche ist hier das sich aktiv Tradierende, während das Weibliche nur noch als empfangendes Gefäß deklariert wird.14
14
Diese Sicht, so scheint mir, ist jedoch Welten entfernt von der mythischen Imagination, z. B. der Pandora/Prometheus-Geschichte, die jedoch von einigen Autoren ebenfalls als misogyn interpretiert wurde.Vgl. dazu Detienne, M.: The Gardens of Adonis, Hassocks 1977.
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4. Ein Abstecher zu Montaigne In den Essais von Montaigne gibt es die auch bei diesem gewieften Rhetoriker für den Leser leicht überraschende vulgäre Äußerung, die an die Fäkalien-Groteskerien seines älteren Zeitgenossen Rabelais erinnert, indem er ironisch bemerkt, dass „uns die eigene Scheiße meist angenehm“ rieche. Dies erinnert natürlich stark an die Anfangsszenen von Rabelais, als sich Gargantua über die Intelligenz seines frühreifen Söhnchens freut, der eine Analyse vom Arschwischen vorgenommen hat.15 Bei Montaigne ist jedoch dieser auf das Fäkalische gerichtete Hinweis nicht wie bei Rabelais ein Abfeiern der Widerständigkeit der unteren Körperzonen (mit einem satirischen Seitenhieb auf die scholastische Differenzierungswut von Dingen in der Welt); es ist bei Rabelais ein Abfeiern von Fruchtbarkeit, Sexualorganen und Verwesung, die, wenn wir Bachtin folgen wollen, eine Form der Körperkosmologie, wie sie im Festlichen der Volkskultur bis zum ausgehenden Mittelalter vorhanden war, widerspiegelt, und die, wiederum mit Bachtin, sich zu einem Bildnis der Weltumkehrung durch eine vertikale Umstrukturierung des Körpers und als solche zu einem Werkzeug der kollektiven Imagination für die (zeitlich begrenzte) Unterwanderung von aktuellen Hierarchien umbildet. Bei Montaigne geht die erwähnte Volksweisheit eher nicht in die Richtung der Auflösung, als eher der Widerspiegelung von Selbst und Anderem, dem Thema der Selbsterkenntnis durch Wahrnehmung von Fremdheit, dem er sich in vielen Teilen der Essais von 1580 widmet. Mit dem konkreten Hinweis auf Körperausscheidungen und unsere Eigenwahrnehmung verweist er metaphorisch auf die in allen Kulturen und sozialen Schichten als normal erscheinende Vorurteilsstruktur, dem Fremden jedes Fehlverhalten als eine Schuld oder Schande zuzurechnen, das man für die eigene Gruppe zu verschleiern bemüht ist, das man bei sich selbst (kollektiv gesprochen) eher ‚entschuldigt‘, negiert oder beschönigt, oder, wenn es aufgedeckt wird, als ‚Nestbeschmutzung‘ bezeichnet und entsprechende ‚Aufklärer‘ in ihrer eigenen Reputation zu beschädigen oder durch institutionelle oder informelle Ostrazismus-Praktiken an den Rand der Gemeinschaft zu drängen versucht.
15
Montaigne, in seinen „Essais“, 3. Buch, Kapitel 8, als sein Zitat aus Erasmus’ „Adagia“ wiederholt: stercus cuique suum bene olet. S. 320 in der Übersetzung von Arthur Franz, Reclam Verlag, Stuttgart 1996.
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5. Der gegenwärtige politische Diskurs in Japan zwischen Schuld und kollektiver Gesichtsbewahrung Um hiermit einen Einstieg in die Thematik der ostentativen Verweise auf eigene Tabuisierungen von Verhaltensformen in Japan zu machen, finden wir in der politischen Landschaft im Verhältnis der japanischen Regierungsinstitutionen und ihrer Reaktion auf Vorwürfe aus dem Ausland ein interessantes Beispiel des Verschleierns, das auch nach innen wirksam gemacht wird. So weigern sich japanische Premierminister seit Jahrzehnten, die ‚Schuld‘ Japans an den Gräueln gegen Zivilisten bei der Eroberung von Nanking zu erwähnen oder anzuerkennen oder sich dafür zu entschuldigen. Die kontinuierliche Weigerung, die 1937 verübte kollektive Grausamkeit (bei der bis zu 300 000 Zivilisten umgebracht wurden) als eine Kriegsschuld anzuerkennen, hat die meisten ausländischen Beobachter, insbesondere verschiedene chinesische Regierungen, immer wieder irritiert. Jedoch bleiben die japanischen Politiker dabei, dies nicht als ‚Schuld‘ zuzugeben, vielmehr findet sich bis heute in den Geschichtsbüchern für Schulen nur der Hinweis auf einen ‚Zwischenfall‘ von Nanking. Ähnlich reagierte die japanische Regierung mit Nichtwahrnehmen der Klagen von noch überlebenden koreanischen Frauen, die eine Delegation schon mehrmals nach Japan geschickt hatten, um Reparationen oder zumindest den Opferstatus für ihre im Krieg von den Japanern durchgeführte Verschleppung und Versklavung zu Militärprostituierten einzufordern. Als weitere Irritation gingen seit den 90er Jahren die Premierminister ostentativ zum Yasukuni-Schrein, in dem die Seelen aller im Krieg gefallenen Soldaten (darunter auch deklarierter Kriegsverbrecher) verehrt werden. Die Dissimulation der japanischen Regierung bestand darin, diese Besuche als ‚private‘ zu deklarieren, was weder die Japaner noch die Chinesen für bare Münze nahmen. Der Bezug zu Montaignes Äußerung für die Negierung der Schuld lässt sich über die Idee des Verbergens, Vergessens oder Verschleierns herstellen, da Gräuel nicht als moralisch zu verwerfende Handlungen, sondern als Spiegel für die ‚Schande‘ der japanischen Armee zu verstehen wären. Es ist in der Tat eine Art ‚Verschmutzung‘, die nicht alleine auf Japans Reaktion beschränkt werden kann: Zum einen versuchen die chinesischen regierungsgesteuerten Medien zwar die Japaner anzuschwärzen, negieren aber ihre eigenen Gräuel des noch kürzlich geschehenen Massakers auf dem Tien An Men-Platz an Tausenden von Demonstranten und Studierenden. Andererseits sprach der französische Staatspräsident Chirac noch oder erst 50 Jahre nach dem Ereignis des Abtransportes von Juden aus der Pariser Velorennbahn als von „jenen schwarzen Stunden, die auf immer unsere Geschichte beschmutzen“. Er deklarierte die Tat also nicht
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unbedingt als schuld- oder sündhaft, sondern als ‚Schande‘ oder ‚Befleckung‘ der Ehre der französischen Nation (die Dichotomisierung hat hier ihre Grenzen, da ja die Schande doch auf einem ‚falschen‘, also den Normen nach ‚schuldhaften‘, zumindest die Regeln der jeweiligen Institution brechenden Verhalten beruht, das man nicht unbedingt in die Rubrik des Tabu-Bruchs einordnen kann). Die japanische Reaktion ist eine des Negierens von schuldhaftem Handeln. Einen dem christlichen Ideenkreis verwandten Begriff der ‚Sünde‘ findet man sowieso nicht, da als tsumi, Sünde, nur verunreinigende Verfehlungen, beabsichtigt oder ungewollt, gelten, also die sogenannten „abominations“ des Buches Leviticus, die Mary Douglas zum Ausgangspunkt nahm, hier in Form alter Ritualhandbücher aus dem 9. Jh. auf solche Phänomene wie Albinos hinweisen oder das absichtliche Verschmutzen von Reisfeldern durch Fäkalien. Es kann vielmehr so argumentiert werden, dass das Zugeben eines Verschuldens eine ‚Schande‘ für die Nation wäre, also eine Befleckung der kollektiven Ehre. In der Tat fand die Ethnologin Takie Lebra, die sich lange mit dem Paradigma der Dichotomie von ‚Scham- versus Schuldkulturen‘ beschäftigt hat,16 durch empirische Umfragen, dass Japaner im allgemeinen wohl ‚Schuld‘ nur denjenigen gegenüber empfinden, zu denen eine ‚Pflicht-Beziehung‘ (on oder giri) besteht, wobei dies fast 70 Prozent ihrer Befragten gegenüber der Mutter empfanden, deren Hingabe man eben ‚nie zurückzahlen‘ könne. Für alle anderen Beziehungen, insbesondere solche körperlicher oder emotionaler Zurschaustellung spezifisch zwischen Männern und Frauen (auch und vor allem natürlich gegenüber den Augen Fremder) gilt die Kategorie der ‚Schande‘, des ‚Sich-Schämens‘ (hazukashii). Hierfür gibt Lebra das leicht jederzeit beobachtbare Beispiel, dass eine Frau sich beim Anblick eines Plakats mit einer halbnackt gezeigten Frau hinter dem Rücken ihres männlichen Begleiters versteckt. Lebra sieht einen kollektiven ‚Soziokult‘ in einem nach wie vor virulenten Prozess, der mit der wirksamen Vermittlung von ‚Gesicht‘ von Selbst und Gegenüber zu tun hat, der, so argumentiert Lebra, bei Japanern zu einem regelrechten Nationalkult geworden ist, und zwar aufgrund einer relativ geschlossenen ethnohistorischen und linguistischen Gruppenwahrnehmung.17
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Von Ruth Benedict zuerst 1946 in ihrem Werk The Chrysanthemum and the Sword angesprochen, wie Anm. 2. Vgl. Lebra, Takie: „The Social Mechanism of Guilt and Shame: The Japanese Case“. In: Anthropological Quarterly 44 (1971) H. 4, S. 241–255.
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6. Schamloses Handeln zwischen Binnenmoral und Exposure Wie passen in dieses Schema dann meine eigenen Beobachtungen des Zurschaustellens von beschämenden Teilen des Körpers, von Genitalorganen von Männern und Frauen? Hier gibt es u. a. Beispiele wie das sogenannte ‚Rettich-Fest‘ (tenteko-matsuri), das ich in einem kleinen Dorf etwa hundert Kilometer südlich von Nara beobachten konnte, bei dem Männer mit umgeschnallten Rettichen in zu musikalischen und Trommelrythmen wippenden Hüftbewegungen unter laut kommentierender lachender Teilnahme der Frauen des Dorfes den Beischlaf mimetisch darstellten? Oder jene Feste in den Schreinen nicht weit von Nagoya, dem Tagata-jinja und Ogata-Jinja, an dem einmal im Jahr junge mit festlichen Kimonos geschmückte Frauen riesige Phallen vor sich her tragen und andere Festteilnehmer, meist Frauen, die im Schrein aufbewahrte, aus einem Baum geschnitzte Vulva umschreiten (als Schwangerschaftsmagie), um dann einen Phallus aus Messing (in allen Größen) als Talisman mit nach Hause zu nehmen? Interessant ist hier die von vielen Beteiligten gemachte Äußerung, dass man sich eigentlich erst zu schämen angefangen hat, als Tausende von Touristen, vor allem auch Hundertschaften amerikanischer Soldaten aus nahegelegenen U-Boot-Stützpunkten mit ihren obszönen Bemerkungen bei dem Fest auftauchten. Hier begegnen wir dem bekannten Phänomen, dass Scham als Sich-Beschämtfühlen etwas mit der In- und Außengruppen-Zugehörigkeit zu tun hat, dass, wie Goffman bereits klar formulierte, das Beschämtsein die öffentliche ‚Aufdeckung‘ (exposure) unabdingbar beinhaltet.18 Solange man es mit der Binnengruppe, also der eigenen Dorfgemeinschaft zu tun hat, muss man sich nicht schämen. Ähnlich wird von Lebra darauf aufmerksam gemacht, dass Japaner sich im Ausland in verschüchternd wirkenden Gruppen zusammentun, um ja nicht aufzufallen oder ins Fettnäpfchen zu treten oder zugeben zu müssen, dass sie keine Fremdsprache sprechen. Eine ähnliche ‚Puritanisierung‘ ist bei den Festen, die ich im kontextuellen Detail im folgenden beschreibe, zu beobachten: Sobald Fernsehund Zeitungsteams bei den ‚exotischen‘ (eine japanische ‚Binnenexotik‘) Festen auftauchen, lässt man die allzu freizügigen Tanzpassagen und mimetischen Referenzen zu den generativen Organen aus dem Spiel.19
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Vgl. Goffman, Erving: The presentation of self in everyday life. Garden City 1959. Dagegen besitzen wir Berichte darüber, wie vor Jahrzehnten die Teilnehmer dieser Feste sich noch nackt auszogen und in verschiedene Formen von Orgien eintauchten, während
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Es passt auch hierzu, dass seit vielen Jahrzehnten die klassischen Volkstheater, die in Form von dörflichen Kagura-Tänzen (einer als heilig und heiligend geltenden volksreligiösen Tanzform) die Schöpfungsmythen der sexuellen Begegnung des Urpaares Izanagi und Izanami derart in Szene setzen, dass man hinter den prunkvollen Kleidern und den abstrahierten Bewegungen der Tänzer die Bedeutungsebene der ersten menschlichen sexuellen Begegnung nicht mehr erahnt.
7. Schamlosigkeiten in Kunst und Medien in Japan Die folgenden Beispiele meiner Ausführungen betreffen dann auch die Frage nach der Möglichkeit der Verallgemeinerung von Handlungserwartungen über Schamhaftigkeit, wenn wir die rituellen Formen mit jenen vergleichen, die im Alltag Gültigkeit haben, und diese wiederum mit der Domäne der ostentativen künstlerischen Darstellung von Formen der Sexualität. So gelten auf der einen Seite noch die öffentlichen Standards von Tabus für angemessenes Verhalten von Formalität und Hierarchie, von Distanz und Höflichkeit. Andererseits gibt es kaum noch Domänen, in denen nicht alle Tabus gebrochen werden: Dies sind weniger die rituellen als vielmehr die künstlerischen Darstellungen, aber auch die Verhaltensweisen, die Japaner (meist die männlichen Mitarbeiter als Gruppen von Firmen, aber auch sich aus derselben Firma solidarisierende Frauengruppen) nach der Arbeit an den Tag legen, wenn sie sich, wie in den folgenden Filmbeispielen besprochen, in pornophiler Weise ausleben. Es ist diese wiederum ritualisierte Form des Feierabend-Verhaltens, die, solange keine Fremden (Nichtjapaner) dabei sind, in ihrer vulgären Zurschaustellung wie im Sich-Selbst-Zum-Affen-Machen kaum überboten werden können, immer jedoch unter der konventionellen Voraussetzung, dass niemand je im normalen Arbeitsalltag die Person auf diese beschämenden Verhaltensweisen aufmerksam machen würde (das wäre dann wirklich Gesichtsverlust). Ähnliches gilt für die Produktionen in verschiedenen Massenmedien wie im künstlerischen Bereich. So werden, im Gegensatz zur normalen Angst von Japanern, sich falsch zu verhalten, in vielen Fernsehsendungen Erniedrigungen und Peinlichkeiten zum Volksspektakel erhoben, allen voran u. a. geleitet von
dieselben Feste wegen ihrer ‚obszönen‘ und ekstatischen Erscheinungsform seit den Erlassen des Meiji-Tenno im Gefolge einer ‚Modernisierungskampagne‘ um 1880 in einem Regierungserlass als ‚schädliche Sitten‘ deklariert wurden, die mit Haftstrafen belegt wurden.
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dem weltbekannten Filmregisseur Takeshi Kitano. Aber weder er, noch sein ebenfalls weltbekannter Regiekollege Takashi Miike reklamieren für sich in irgendeiner Form eine gesellschaftskritische Absicht, die noch der Altmeister der vorhergehenden Generation, Shohei Imamura einnahm, dessen Werk ich im folgenden näher behandele.20 Vielmehr schießen sich die meisten ‚Entertainer‘ auf eine Mischung von Erotik und grotesker Vulgarität ein, der einem ganzen Genre von Performanzen, vor allem filmischen Produktionen, den Titel Ero-Guro (erotische Groteske) eingetragen hat, vom Filmwissenschaftler David Desser im Englischen mit dem Buchtitel Eros plus Massacre treffend umschrieben.21 Es gibt keine Abscheulichkeit, die hier nicht produziert und in verschiedenen Umgebungskontexten gezeigt wird, ohne jegliche sozialsatirische Komponente. Ähnlich operiert in dieser sonst so zugeknöpften Gesellschaft von Anzug- und Schlipsträgern, die wie programmierte Roboter sich in den Großstädten zu Millionen sehr ‚höflich‘ und ‚korrekt‘ bewegen (und selbst in Massensardinen-Verkehrsbedingungen nicht einmal verbal ausrasten), der Photograph Nobuyoshi Araki, der es bis in die großen Ausstellungszentren der Welt wie dem Barbican geschafft hat. Mit seinen Bildern von nackten Bondage-Frauenkörpern und von Aufnahmen über das Hinsiechen des Körpers seiner Geliebten, sowie provozierenden Filmausschnitten, in denen er im Nachtleben die Frauen des Bargewerbes mit obszönen Sprüchen anmacht oder seine Hand ihre Oberschenkel hinauffahren lässt, findet er ein enthusiastisches japanisches wie Weltpublikum. Die Aufzählung solcher Beispiele medialisierter Peinlichkeiten ließe sich unendlich verlängern. Kurz: Es gibt ein Nebeneinander von Prüderie, Normalität und Angepasstheit an strikteste Konventionen bei gleichzeitiger Enthemmung in den künstlerischen Produktionen wie im hoch-ritualisierten Nachtleben. Wir haben es hier mit Paradoxien von zumindest drei Lebensdomänen zu tun, wenn wir die Ritualebene noch hinzuziehen, die sich theoretisch nicht leicht auf eine Dichotomie zwischen Schamlosigkeit und Ehrenhaftigkeit auseinanderdividieren lassen.22 Es handelt sich in Japan ganz klar um eine Gesellschaft, in der verschiedene Tabu-Zonen und Enttabuisie20 Imamura wurde zweimal in Cannes ausgezeichnet, einmal u. a. für ein den realen Umständen des harschen Lebens bei Bergbauern des 19. Jahrhunderts nachempfundenes Dokudrama Narayama, in dem alte Leute als überzählige und unproduktive Esser in der Wildnis von ihren Söhnen zum Sterben ausgesetzt werden. 21 Vgl. Desser, David: Eros plus Massacre. An Introduction to the Japanese New Wave Cinema, Bloomington 1988. 22 Es sei denn, man inkorporiere die Kunstproduktionen in den Rahmen des Heiligen als dessen Fortführung im säkularisierten Leben, wozu die Metapher vom Kunst-Tempel immerhin Anlass gibt.
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rungsformen nebeneinander und miteinander existieren. Es ist der Punkt, an dem der Kunsttheoretiker und Jurist Anthony Julius seine an Mary Douglas anschließende Frage für westliche oder globale Kunstproduktionen und ihr transgressives Potential im Vergleich mit der ostentativen Schamlosigkeit des rituellen Raums ansetzt, auf die schon Max Gluckman mit seinem Begriff der „rituellen Rebellion“ aufmerksam machte.23 Während die „rituelle Rebellion“ dem Bachtinschen karnevalesken Fest entspricht, insofern sie in allen bekannten Gesellschaften sozusagen als Ventil fungiert, um den Druck abzulassen, der sich durch häufig widersprüchliche und beengende Konventionen und Konflikte zwischen Status- und Machtgruppen in hierarchischen Strukturen ansammelt, unterliegt die Domäne ‚Kunst‘ keinen solch konventionellen Restriktionen, denn ihre Transgressionen sind nicht auf einen kleinen Zeitraum rituell beschränkt, nach dem dann die Normalität wieder einsetzt. Julius schreibt dazu: Vielleicht sei es die Abschaffung von Tabus in unserer Gesellschaft – damit meint er jedoch augenscheinlich religiös legitimierte Tabus –, die zu einer völligen Entgrenzung führe, die aber nicht mehr überboten werden könne.24 Er bezieht sich damit auf die von Mary Douglas bereits angedeutete Hypothese, dass wir mit Tabus besetzte und durch diese geregelte Gesellschaftsformen finden, und solche, die, wie Europa nach der Einführung des Christentums, insbesondere nach der Reformation, eine eher innengeleitete Werte-Orientierung postulieren, sich auf das persönliche, individuelle Gewissen beziehen und auf die damit zusammenhängende Schuldzuschreibung für Verfehlungen („Sünden“), anstatt auf die theatrale performative Strategie der katholischen Kirchenrituale oder der jüdischen Speise-Tabus rekurrieren. Schon Stephen Greenblatt hatte auf den Streit in England zwischen katholischer und anglikanischer Kirche verwiesen, in der die Befürworter der letzteren den Katholiken vorwarfen, Theater zu spielen und damit gottwidrig zu handeln. Julius sagt dazu: Since Christianity’s rejection of the laws of uncleanness, the prohibitions these laws encompass have only rarely, and never adequately, taken legal form. (They have, as Mary Douglas observes, been relegated to the kitchen and the bathroom and the municipal sanitation.) But to abolish the law is not to abolish the taboo. [...] In rejecting Jewish purity laws, Christianity may be said to have rejected the principle of taboo itself, which of course then returned, violated, in a certain
23 Vgl. Gluckman, Max: Rituals of Rebellion in South-East Africa. Manchester 1954. Für ethnographische Vorläufer und neuere Erklärungsansätze vgl. dazu Köpping, K. P.: „Obszönität“. In: Handbuch Historische Anthropologie. Hg. v. C. Wulf. Weinheim 1997, Sp. 568–585. Julius, Anthony: Transgressions: The Offences of Art, London 2002. 24 Julius: Transgressions, S. 191f.
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kind of transgressive art. This art is thus, in a certain sense, taboo’s protest at its repression.25
Dies sind schwerwiegende Argumente, und sie lassen für die folgenden Fallstudien die Frage nach der Vergleichbarkeit mit den japanischen Verhältnissen offen. Die vorläufige Antwort darauf wäre vielleicht, zu argumentieren, dass dissonante Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen in allen Gesellschaftsformationen auftauchen. Vielleicht ist dies wiederum ein universales Merkmal aller Kulturen, die zwischen Amnesie und Anamnese ihrer eigenen Geschichte, des dauernden Erinnerns und Vergessens von Traditionen und ihrer verflochtenen, aber keiner kulturellen ‚Logik‘ gehorchenden selektiven Wiederaneignung und Verleugnung derselben Traditionen bei gleichzeitiger Anverwandlung an selektive globale Einflüsse, was man sich als eine prozessuale Kulturdynamik vorstellen könnte.26
8. Japanische Matsuri als Formen des Bauchgefühls Wie zu allen jahreszeitlichen Umbrüchen des traditionellen Bauern-Kalenders (wie bei Brüchen im Lebenszyklus bei Individuen von Geburt über Heirat bis zum Tode) finden festliche Veranstaltungen in allen Teilen Japans, auch in den Großstädten, statt, die als Matsuri (Feste), bezeichnet werden, auch wenn die direkten Bezüge zu landwirtschaftlichen Zyklen für die meisten modernen Japaner nur noch symbolisch vermittelt und wahrgenommen werden (wie z. B. das Kirschblütenfest). Obwohl die Feste je nach Zweck und intendierter Bedeutungsaufladung sehr stark variieren, zeigen sie doch allgemein Verhaltensweisen von Darstellern und Zuschauern auf, die von dem sonst zu beobachtenden Normalverhalten des Alltags durch Auflösung von hierarchischen Strukturen und generelle Ausgelassenheit erheblich abweichen und eher an die karnevaleske Stimmung westlicher Festlichkeit erinnern. In den Dörfern der alpinen Regionen der zentraljapanischen Provinzen spielen sich jedes Jahr sogenannte ‚Blumenfeste‘ (hana-matsuri) oder ‚Frostmonatsfeste‘ (shimotsuki-matsuri) zwi-
25 Ebd, S. 192. 26 Diese Kulturdynamik entspräche nicht unbedingt einem exakten Feedback-Prozess im naturwissenschaftlichen Sinne, sondern eher einer Unendlichkeitsschleife, die sich immer wieder sowohl zurückwindet, aber auch wie bei Escher, immer verschiedene Oberflächen vorzeigt oder zum Vorschein bringt; nicht unähnlich dem von Greenblatt und Bourdieu postulierten Auftauchen und teilweisen, aber unvorhersehbaren, Verschwinden von ‚kulturellen Repertoires‘ oder kulturellem ‚Kapital‘, das man sich auch als immer neu gelesenes Palimpsest vorstellen kann, das je nach Anwendung verschiedener Tinkturen verschiedene Schichten zur Lesbarkeit bringt.
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schen Dezember und Februar ab, die mit einer zentralen, in ganz Japan verbreiteten generischen Gottheit dieser Region, dem Bergott (yama-nokami) traditionell eng verbunden sind, der im volksreligiösen Verständnis (einer Mischung verschiedener religiöser Praktiken und Vorstellungen aus Shinto-Naturverehrung, buddhistischer Esoterik und taoistischen Symboliken) mit der Fruchtbarkeit von Land, Tier und Mensch verbunden ist (und dabei eine sanfte wie eine rauhe Charakterseite aufweist). Während dieser Feste, die in der interkalendarischen Zeit zwischen Ernte und Aussaat stattfinden, werden von den verschiedenen Alterskohorten der Dörfer bis zu dreißig Stunden ununterbrochen zum Klang von Flöte und Trommel mehrere Dutzend komplexer Tanzformen aufgeführt. Diese finden zum Teil mit Paraphernalien wie Schwertern und Rasseln und mit über 30 verschiedene Gottheiten darstellenden Masken um das Zentrum eines Tanzsaales (früher in privaten Häusern, die durch das überschäumende Fest fast völlig zerstört wurden) herum statt, an dem ein Heißwasserkessel aufgestellt ist, unter dem das erste Feuer mit Feuersteinen entzündet wird und dessen heißes Wasser, in welches die Kräfte aller Gottheiten des Landes während der Veranstaltung rituell hineinbeschworen werden, am Ende über alle Teilnehmer verspritzt wird (mit dem erklärten Ziel von Gesundheit und Fruchtbarkeit für das kommende Jahr).
9. Obszönität und Exzess Ohne auf die komplexen symbolischen Bezüge dieses Festes oder seine ausgefeilte liturgische Ritualität weiter einzugehen, fallen doch jedem Besucher die ausgelassenen Verhaltensformen auf, die sich während dieses reichlich von Reiswein getränkten Festes entwickeln: Maskenträger gerieren sich im Laufe der Tänze immer wilder und unkontrollierter, die Zuschauer fallen in die Tanzrhythmen ein und verhalten sich ebenfalls höchst ausgelassen (wenn dies nicht passiert, ist es ein Zeichen für eine ‚verfehlte Aufführung‘), und sowohl im liturgischen Ablauf der Inszenierung wie im spontanen Reagieren werden obszöne sexuelle Gesten und Anspielungen verwendet. So legt der Darsteller einer Maske der mythischen Gründergottheit Japans, der Sonnengöttin, die wie alle Masken nur von Männern getragen wird, eine Performance vor, in der er mit einem anderen männlichen Dorfbewohner sexuellen Beischlaf inszeniert, unter dem röhrenden Gelächter aller Anwesenden, die natürlich beide ‚Figuren‘ in ihren realen alltäglichen Rollen kennen. Bei anderen Gelegenheiten tanzen meist ältere Frauen im Status von Großmüttern mit den Darstellern von Fuchs- oder anderen Naturgottheiten (wie dem mit einer überdimensionalen Nase ausgestatteten Grenzgott Tengu) in eindeutig
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erotischen Anspielungen und körperlichen Performances, und man ruft sich dabei aufreizende Schlüpfrigkeiten zu. Obwohl diese obszönen Spiele inzwischen durch die Aufmerksamkeit, die diese Feste als ‚Wiedererfindung‘ typischer ‚urjapanischer‘ Festformen und durch die Erhebung durch japanische Kulturministerien zu ‚Kulturgütern‘ (oder ‚nicht-materiellen nationalen Kulturschätzen‘) bei der japanischen Bevölkerung hervorgerufen haben – mit entsprechenden photographischen Touristenströmen –, von den gröbsten Späßen durch Selbstzensur gesäubert sind, ist die gesamte Stimmung der Ausgelassenheit immer noch durchschlagend. Es besteht außerdem kein Zweifel daran – und die strikte ‚liturgische‘ Abfolge ritueller Handlungen weist darauf hin – dass es sich immer noch um ein höchst ‚heiliges‘ Fest handelt. Das Exzessive – um Bataille zu folgen – dieser Feste lag und liegt nicht nur in der von Laien inszenierten Anrufung und Darstellung der göttlichen Präsenz (ohne Priester-Hierarchie!), sondern gerade in jener Ausgelassenheit, die unter dem Einfluss alkoholischer Getränke, von Musik, Rhythmen und sich berührenden Körpern (sonst ein öffentliches Tabu) zur konkreten wie performativ-gespielten Anti-Struktur der Persiflage der Gottheiten, des obszönen Innuendo und vor allem der Zerstörung des Hauses, in dem die Feste stattfinden, führt. Symbolisch werden von den Laien-Priestern am Ende alle Dekorationen (die mit göttlichen Kräften aufgeladen wurden) zerrissen, zerstreut und von den Anwesenden als segenbringende Gegenstände mitgenommen. Das Tohuwabohu der Endsequenzen wird allerdings wieder gerahmt durch gesetzte Rituale, die zu einer ‚Befriedung‘ der Elemente und zu einer Reinigung des Tanzplatzes führen, indem alle eventuell eingedrungenen ‚bösen Geister‘ gebannt werden. Dies sind Merkmale einer Ökonomie der Verschwendung, die den normalen ökonomischen Akkumulations- und Sparmassnahmen einer rationalisierten Planung für die Zukunft zuwiderlaufen. Darin liegt die gerahmte Transgression der Konventionen, ob bäuerlicher oder modern industrialisierter Arbeitsgesellschaft (wobei in letzterer die Idee der Verschwendung wohl eher zum Konsum als zu direkten Zerstörungen wie in der Potlatch-Gesellschaft der nordamerikanischen Indianer der Nordwestküste tendiert).
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10. Körperkosmologie und Semiotisierung des Gesellschaftskörpers: ‚Gesicht‘ versus ‚Triebe‘ Die Faszination dieser Feste besteht in ihrer Beziehung, die die Ausführenden dem Ausleben eines inneren Grundgefühls und der Freisetzung eines sonst hinter den Konventionen des alltäglichen Verhaltens verborgenen, eines durch das höfliche Gesichtbewahren und Gesichtgeben sozusagen ‚maskierten‘ Begehrens und damit der Notwendigkeit einräumen, die Konventionen einmal im Jahr zu brechen, um mit diesem Ausleben einem basic instinct (natürlich in kultureller Kodierung) auch der Intersozialität Ausdruck zu geben. Dieses Begehren und das von den Ausübenden damit implizierte ‚allgemein-menschliche‘ Bedürfnis nach Freisetzung des ‚wahren inneren‘ Kerns des Menschseins (der damit eben nicht animalischer Instinkt ist, obwohl in volkstümlichem Denken die kulturelle und die biologische Konditionierung oft nicht so klar unterschieden werden) wird mit dem Begriff des ‚Bauchhabens‘ umschrieben, wozu eben Ausgelassenheit und das Ausleben der ‚Triebe‘ gehören: Essen, Trinken, Sexualität sind damit genauso gemeint wie das körperliche wilde Agieren, das aus dem geregelten und rituellen Tanzen heraus sich vor allem bei den mitagierenden Zuschauern einstellt. Es ist hierbei interessant anzumerken, dass im japanischen traditionellen semantischen Körperbild genau diese Unterscheidung zwischen ‚Oberfläche‘ (omote), die auch die Vorderseite eines Hauses bedeutet, und der ‚Rückseite‘ (ura), die auch die inneren Gemächer von Wohnungen bezeichnet, als Metapher für Verhaltensweisen Verwendung findet, die das Öffentliche vom Privaten trennt. Eine andere überlappende semantische Schiene, die dieselben Endpunkte aufweist, wird mit den Begriffen von Tatemae (öffentliches Handeln), also dem Gesichtbewahren durch höfliche und distanzierte, hierarchisierte Interaktionsschemata, und Honne (innere Attitüde), also dem individuellen Denken, das verborgen wird, aufgemacht (man erinnert sich an den schönen Aphorismus von Pascal, dass ein Herrscher von einem verlangen könne, höflich zu sein, aber das Denken des Subalternen frei sei).27
27 Hier liegen wohl auch die Wurzeln des Nicht-Verstehens von Ausländern, die bereits mit den ersten Besuchen im 16. Jahrhundert (durch portugiesische Seefahrer und JesuitenMissionare, später durch holländische Kaufleute im Quarantäne-Hafen der Insel Deshima bei Nagasaki) bemerkten, dass ihnen die Japaner unheimlich seien, da man ihre Mimik nicht lesen könne, also nicht wisse, was sie denken (ein Teil jener typischen ScheuklappenSicht, die das eigene europäische Verhaltensmuster als an der Oberfläche sichtbar annahm, was man ja nun bestimmt mindestens seit den Barockzeiten als hinterfragbar ansehen darf, einer Zeit, in der das In-Szene-Setzen der Person durch Performanz einen Höhepunkt erreichte. Auch wir tragen unsere Herzen nicht auf den Gesichtsfalten! Aber das ist eine
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*** Die Welt der japanischen Feste, die oben beschrieben wurde, zeichnete sich dadurch aus, dass sie über die Konkretisierung und inszenierte Performanz zur Konsonanz der Gemeinschaft über eine ausgesprochene Betonung von Körperlichkeit gelangte. Dabei handelte es sich um von Dorfbewohnern ohne die Hilfe von Priester-Hierarchien organisierte Vergegenwärtigung des Göttlichen und zugleich durch die Tanzperformanz herbeigeführte ausgelassene Körperlichkeit, die sich von der körperlichen Distanz der konventionellen Interaktion abhebt. Das Herbeiführen des Bauchgefühls wird durch die Präsenz des Göttlichen, das man aktiv herbeiführt, in die Wege geleitet und führt zu Formen von Obszönität und Transgression, die nicht nur enge körperliche Berührungen zulassen, sondern eben auch die ‚unteren‘ Körperteile in den Vordergrund rücken und damit die so verstandenen ‚menschlichen Bedürfnisse“‘ zum Ausdruck bringen: Trinken und Trunkenheit, Festbankette, Tanz und ausgelassene Körperlichkeit als Gegenwelten zur Welt der Arbeit und der Konventionalität des sozialen Lebens, um dadurch eine Nicht-Differenzierung im Allgemein-Menschlichen und damit auch eine Kritik an der hierarchischen Differenzierung des Gesellschaftlichen an sich zum Ausdruck zu bringen.
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