Sakralität und Macht 3515121617, 9783515121613

In welcher Verbindung stehen Heiligkeit und Macht? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehen dieser Frage anhand vo

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German, English Pages 257 [262] Year 2019

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
(Klaus Herbers / Karin Steiner)
Sakralität und Macht. Zur Einführung
(Hans Joas)
Eine historische Skizze zur Macht des Heiligen
I. HEILIGE ORTE UND MACHT
(Andreas Berndt)
The Sacred within the Profane and the Profane within the Sacred.
On the Functions of the Temples of Jinlong si dawang
in Late Imperial China
(Daniel F. Schley)
Zwischen Himmel und Erde. Bemerkungen zur mittelalterlichen
Herrschaftskosmologie in Japan
(Mariëlla Niers)
Non obliviscebamur illius urbis, quae sanguinem nostrum acceperat:
Felix und Regula als Verteidiger ihres Märtyrerortes
(Alexander Pierre Bronisch)
Heiliger Krieg zwischen Weltanschauung und Propaganda am Beispiel
der christlichen iberischen Reiche (6.–11. Jh.)
(Jörg Bölling)
Vorbild oder Vorschrift? Zur Papstliturgie der Renaissance
(Larissa Düchting)
Etablierung und Negierung von Sakralität in christlichen Grenzregionen
des Hohen Mittelalters
II. HEILIGE PERSONEN UND MACHT
(Karin Steiner)
Die Śaṅkarācāryas und das Śarannavarātrī-Fest von Śṛṅgerī.
Zur Performanz von Sakralität und Macht in einer südindischen Tradition
(Matthias H. Ahlborn)
„Entsagung ist das Bewusstsein von Macht“. Erlösung und Macht
im Advaita-Vedānta und seinen Interpretationen
(Adam Yuet Chau)
Efficacy. The Immediate-Practical Modality of Doing Religion
III. HEILIGE DINGE UND MACHT
(Roger Thiel)
Warum können Dinge (nicht) mächtig sein?
(Miriam Czock)
Macht, Materialität und Sakralität. Sakrale Objekte und die Beziehung
zwischen Gott und Mensch im frühmittelalterlichen Kirchweihritus
(Andreas Nehring)
Das Heilige und die Macht. Die Macht des Heiligen. Zusammenfassung
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN
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Sakralität und Macht
 3515121617, 9783515121613

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Sakralität und Macht Herausgegeben von Klaus Herbers, Andreas Nehring und Karin Steiner

Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Hagiographie 22

Klaus Herbers / Andreas Nehring / Karin Steiner (Hg.) Sakralität und Macht

Beiträge zur HagiograpHie herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein Band 22

Sakralität und Macht Herausgegeben von Klaus Herbers, Andreas Nehring und Karin Steiner

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12161-3 (Print) ISBN 978-3-515-12164-4 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Klaus Herbers / Karin Steiner Sakralität und Macht. Zur Einführung ............................................................

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Hans Joas Eine historische Skizze zur Macht des Heiligen .............................................

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I. HEILIGE ORTE UND MACHT Andreas Berndt The Sacred within the Profane and the Profane within the Sacred. On the Functions of the Temples of Jinlong si dawang in Late Imperial China ....................................................................................

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Daniel F. Schley Zwischen Himmel und Erde. Bemerkungen zur mittelalterlichen Herrschaftskosmologie in Japan......................................................................

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Mariëlla Niers Non obliviscebamur illius urbis, quae sanguinem nostrum acceperat: Felix und Regula als Verteidiger ihres Märtyrerortes ......................................

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Alexander Pierre Bronisch Heiliger Krieg zwischen Weltanschauung und Propaganda am Beispiel der christlichen iberischen Reiche (6.–11. Jh.) ................................................

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Jörg Bölling Vorbild oder Vorschrift? Zur Papstliturgie der Renaissance ............................ 127 Larissa Düchting Etablierung und Negierung von Sakralität in christlichen Grenzregionen des Hohen Mittelalters .................................................................................... 145

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Inhaltsverzeichnis

II. HEILIGE PERSONEN UND MACHT Karin Steiner Die Śaṅkarācāryas und das Śarannavarātrī-Fest von Śṛṅgerī. Zur Performanz von Sakralität und Macht in einer südindischen Tradition .... 171 Matthias H. Ahlborn „Entsagung ist das Bewusstsein von Macht“. Erlösung und Macht im Advaita-Vedānta und seinen Interpretationen ............................................ 187 Adam Yuet Chau Efficacy. The Immediate-Practical Modality of Doing Religion ..................... 203 III. HEILIGE DINGE UND MACHT Roger Thiel Warum können Dinge (nicht) mächtig sein? ................................................... 219 Miriam Czock Macht, Materialität und Sakralität. Sakrale Objekte und die Beziehung zwischen Gott und Mensch im frühmittelalterlichen Kirchweihritus.............. 231

Andreas Nehring Das Heilige und die Macht. Die Macht des Heiligen. Zusammenfassung ...... 249

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................ 255

SAKRALITÄT UND MACHT Zur Einführung Klaus Herbers / Karin Steiner I. Wer oder was ist heilig? Beim Studium der Presse in den Nachwehen der sogenannten „Lutherdekade“ könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Reformator des 16. Jahrhunderts zum Höhepunkt seines Jubiläums in einer Art dargestellt wurde, die Parallelen zu Sakralisierungsprozessen aufweist. Dies war politisch von immensen Fördermitteln für Ausstellungen, Events und anderem begleitet, auch um die sogenannten Neuen Bundesländer stärker in den politischen Diskurs einzubinden. Der Nachklang in der öffentlichen Wahrnehmung – sieht man zum Beispiel auf Besucherzahlen der Ausstellungen – blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück. Erfolge und Misserfolge solcher Annäherungen von Sakralität und Macht hängen offensichtlich von zahlreichen Faktoren ab. Bleibt Sakralität somit bis heute ein Phänomen, das auch zeitgebundenen Meinungen und historischen Narrativen unterworfen ist? Ebenso wie historische Akteure erschließen also auch Zeitgenossen, Kommentatoren und Nachlebende Projektionsflächen und Bezugspunkte für Sakralisierungsprozesse. Doch stehen nicht nur Personen im Fokus, wenn es um Macht und Heiligkeit geht. In der sogenannten Lutherdekade gewannen Orte wie Wittenberg oder Eisenach, aber auch das legendäre Tintenfass eine fast sakrale Aura. Insofern sind nicht nur Personen betroffen, sondern auch Orte und Dinge können durch Zuschreibungen und Rezeption sakral aufgeladen werden. Die Prozesse, wie es zu dieser Verbindung von Sakralität und Macht kommen kann, sind aber vielfältig und oft kompliziert, sie bieten bis heute Möglichkeiten zu einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Das Thema bleibt offenkundig aktuell und ist dennoch ein Klassiker. Dieser Tagungsband der Erlanger Forschergruppe stellt den Abschluss eines Forschungsprojektes dar, welches sich über sechs Jahre dezidiert mit Sakralität beschäftigte. Er versucht, die drei oben genannten Manifestationspunkte – Ort, Person und Ding – in den von ihnen durchdrungenen Einflusssphären zu kontextualisieren und zu hinterfragen. Dass mit diesem Projektabschluss aber kein Ende der Fragen zu Sakralität und des Diskurses um sie einhergeht, ist evident. Vielmehr ergeben sich für die einzelnen Disziplinen – wie sie im Forschungsprojekt der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ vertreten waren1 – weiterführende Fragen 1

Indologie, Kunstgeschichte, Lateinische Philologie, Mittelalterliche Geschichte, Christliche Archäologie, Germanistische Mediävistik, Sinologie und Religionswissenschaft.

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Klaus Herbers / Karin Steiner

und Überlegungen, welche die Wirkmächtigkeit von Sakralität im religiösen, machtpolitischen, kulturellen und historischen Kontext hervorheben. Unbestritten stellt dieser Tagungsband, neben den bisherigen gemeinsamen Publikationen, auch einen Rückblick auf das Geleistete einer Forschergruppe, die im Vergleich der Kulturen Aufschlüsse über Sakralität und vor allem über Sakralisierungsprozesse gewinnen wollte, dar. Zahlreiche interdisziplinäre Aktivitäten förderten Ergebnisse und Fragen gleichermaßen zu Tage, die fachübergreifend deutlich machen, wie sehr auch in Zukunft Forschungsergebnisse der je eigenen Disziplin relativiert, eingeordnet und kritisch beleuchtet werden müssen. Es genügt eben nicht, die vielen Götter des Hinduismus einfach mit der Vielfalt der Heiligen zu vergleichen, wenn nicht zugleich über Zeit, Inkarnation, Erlösung oder über die verschiedenen Brechungen religiöser Vorstellungen nachgedacht wird. Der vorliegende Tagungsband führt vor Augen, wie viele Fragen auch nach sechs Jahren gemeinsamer Arbeit noch bleiben. Mit ihm werden also nicht nur die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit präsentiert, sondern zugleich erwachsen aus den einzelnen Beiträgen Problemstellungen, die in Zukunft – in welchen Konstellationen auch immer – von den einzelnen Fächern wie auch in einem interdisziplinären Rahmen weiter zu erörtern sind. Die schon zu Beginn formulierten Ziele der Forschergruppe geben Aufschluss darüber, wie sehr Sakralität als scheinbar nicht fassbares Phänomen den öffentlichen Raum bestimmte und bestimmt und nur in Aspekten erkannt und operationalisierbar gemacht werden kann: In vormodernen Gesellschaften Europas und Asiens wurde der sakrale Charakter von Handlungen, Objekten, Räumen und Personen immer wieder behauptet, aber auch bezweifelt und abgelehnt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Sakralität selten klar definiert, sondern vielmehr höchst umstritten gewesen ist, mithin also stets aufs Neue ausgehandelt wurde, fragt die Forschergruppe nach dem Umgang mit dem Sakralen in Europa und Asien in der Vormoderne […] und danach, wie sich Konzeptionen von Heiligkeit […] in Texten und Bildern, in Architektur und Raumgestaltung, in Personenkulten und Herrschermodellen oder in performativen Akten niederschlagen.2

Im Zentrum des Forschungsvorhabens stand die Frage, wie sich Heiligkeit konstituiert. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass Sakralisierung als ein Zuschreibungs- und Inszenierungsprozess zu begreifen ist, der sich je nach Kontext höchst unterschiedlich gestaltet. Von besonderem Interesse für das Projekt waren daher Bezüge zwischen verschiedenen Medien, der Zusammenhang von Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung von Heiligkeit sowie die Spannung zwischen individuell legitimierter und kollektiv verbindlicher, religiöser Lehre. Der methodische Zugriff des interkulturell und intermedial angelegten epochenübergreifenden Vergleichs ermöglichte es, Sakralität sowohl in ihrer historischen Wandelbarkeit als auch systematisch zu untersuchen. Vor allem die im Projekt anvisierte Gegenüberstellung von den christlich bestimmten Kulturen Europas mit Indien und China schärfte den Blick für strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede über Epo2

Klaus Herbers, Antrag für eine Forschergruppe „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“, bei der DFG eingereicht am 29.10.2009, 9.

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chengrenzen und die Grenzen von Religionen bzw. Denominationen hinweg. Dies brach eine eurozentrische Sichtweise auf und aus der neuerwachsenen Perspektive konnten innovative Ansätze verfolgt werden. Sieben Untersuchungsfelder – von denen im vorliegenden Tagungsband besonders das vierte vertiefend vorgestellt wird – konnten die inhaltlichen Punkte miteinander verklammern: 1. Historische Dynamik (Transformationen, Kontinuitäten, Diskontinuitäten), 2. Spatialität, 3. Evidenz und Zuschreibung, 4. Sakralität und Macht, 5. Medien, Kommunikation, Performanz, Verausgabung, 6. Diskursinterferenzen (Literarisierung, Symbolisierung, Diskursivierung, Historische Semantik) und 7. Kulturinterferenzen und Vergleiche. Losgelöst vom einzelnen Forschungsvorhaben konnten so nicht nur zentrale Konzepte religiöser Vervollkommnung – asketische, kontemplative und mystische Praktiken, philosophisch-theologische, soziologisch-ethnologische und herrschaftspolitische Modelle, literarische, ikonographische und architektonische Entwürfe – kultur- und epochenübergreifend erschlossen werden; vielmehr ließen erst die Querschnitte fächerübergreifend die historisch-kulturelle Spezifik deutlich sichtbar werden. „Sakralität und Macht“ war als eine von sieben Klammern der verschiedenen Disziplinen konzipiert. Das Begriffspaar eignet sich jedoch auch, um weitere Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit ins Licht zu rücken. Die vorliegenden Beiträge fügen neben einer abschließenden Einordnung auch neue Diskussionspunkte hinzu und zeigen damit, dass gerade die Positionierung von Sakralisierung und Macht zueinander einer ständigen Neujustierung bedürfen, um Prozesse, Wahrnehmungen und Zuschreibungen in Aspekten erkennbar zu machen und Verhältnismäßigkeiten aufzuzeigen. Zu Beginn der Projektlaufzeit wurden Fragestellungen entwickelt und Begriffe etabliert, die in der Folgezeit immer häufiger in der Forschung präsent waren, insbesondere betrifft das die dynamischen Aspekte von Sakralität, die wir als „Sakralisierung“ bezeichnet haben. Wenn Sakralisierung einen Prozess des Heraushebens, der Alleinstellung bezeichnet, dann wird dies inzwischen in vielfältiger Hinsicht aufgegriffen, wie an Projekten deutlich wird, mit denen die Forschergruppe in regem Austausch stand. Zu nennen wäre hierfür beispielsweise der Freiburger Sonderforschungsbereich 948 „Helden, Heroisierungen, Heroismen“. Und wenn 2016 die „Mélanges de la Casa de Velázquez“ über Heroisierungen und beispielsweise die „sacralización“ der heroischen Figur von Francisco Morazán zwischen 1842 und 1942 berichten3, dann könnte man fast befürchten, dass der Begriff der Sakralisierung inzwischen so verbreitet ist oder sogar banalisiert wird, dass damit die begriffliche Schärfe verlorenzugehen droht. Die Problematik bei der Bedienung vom vermeintlichen Allgemeinplatz „Sakralität“ kann nicht nur durch interkulturelle Vergleiche, sondern eben auch an der Ausdifferenzierung und Schärfung von Begrifflichkeiten behandelt werden. Das Ringen um Definitionen wird bei der Wahl der Buchtitel der Publikationen, die aus Ringvorlesungen, Tagungen oder Workshops des Forschungsprojektes entstanden sind, nachvollziehbar: Nach der Pilotpublika3

Catherine Lacaze, Sacralización de la figura heroica de Francisco Morazán en América Central (1842–1942), in: Mélanges de la Casa de Velázquez 46,2 (2016), 39–56.

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tion im Vorfeld von 2007 zu „Sakralität zwischen Antike und Neuzeit“ folgten 2013 „Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen“, 2014 „Wege zum Heil/ Heiligen. Sakralität und Sakralisierung in hinduistischen Traditionen“, 2015 „Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis“, ebenfalls 2015 „Saints and the City. Beiträge zum Verständnis urbaner Sakralität in christlichen Gemeinschaften“, 2017 „Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen“ und 2019 sodann der vorliegende Tagungsband „Sakralität und Macht“. Im Druck befinden sich derzeit die Bände zu Heiligen Namen und (un-)heiligen Krankheiten. Allein diese Titel führen vor Augen, dass die Vielschichtigkeit und die Ausprägungen von Sakralität bestimmend für den Forschungsdiskurs sind und diesen weiter beleben werden. Die jahrelange Diskussion und Frage danach, was „Sakralität“ und „Sakralisierung“ bedeuten könnten – sowie das daraus resultierende Desiderat einer allgemeingültigen Definition – muss für diesen Tagungsband zwangsläufig zu der Frage führen, was unter „Macht“ verstanden werden kann, da sich einander beeinflussende oder bedingende Phänomene nicht in eine hermetische Abgeschlossenheit münden. Von der Vielzahl der Facetten der Macht kann eine für die hier angestellten Überlegungen vielleicht von besonderer Wichtigkeit sein. Demnach kann Macht als die Gesamtheit der Mittel und Kräfte, die jemandem oder einer Sache anderen gegenüber zur Verfügung stehen, verstanden werden. Dies bezieht sich vor allem – aber nicht nur – auf Personen, sondern es wird auch von der „Macht der Verhältnisse“ gesprochen; Macht kann aber diffus werden – man denke nur an Redensarten wie „dämonische, geheimnisvolle Mächte“, „himmlische Mächte“, eine „höhere Macht“ oder sogar die „Mächte der Finsternis“. Die Ausübung von Herrschaft gehört natürlich in diesen Diskurs, der vor allem von soziologischer Seite untersucht wird. Aus mediävistischer Sicht sei hier nur kurz auf die feine Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas verwiesen, die mittelalterliche Quellen immer wieder trafen: Auctoritas galt als Macht und Herrschaft, die sich aus dem Ansehen der „Beherrschten“ mitlegitimierte und meist einer Person zugeschrieben wurde, während der stärker institutionell gesehenen potestas diese zusätzliche Legitimationsebene eher fehlte. Wenngleich nicht alle der sieben wesentlichen Untersuchungsfelder im Rahmen der Erlanger Tagung „Sakralität und Macht“ in schriftliche Fassungen für diesen Band eingeflossen sind und berücksichtigt werden konnten, eignet sich die Klammer „Sakralität und Macht“ doch in besonderem Maße, um Ergebnisse und Fragen der Thematik zu bündeln. Das Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, dass sich Macht eben nicht nur mit Personen verbindet, sie vielmehr den Wirkraum und das Umfeld der handelnden Menschen auflädt und mitbestimmt. Zugleich bewegen sich die einzelnen Beiträge aber in verschiedenen sakralen Systemen. Dass die Übergänge zwischen den einzelnen Sektionen fließend sind, sich bedingen und limitieren, ist offenkundig. So muss bei der Lektüre eine Dimension berücksichtigt werden, die als Abstraktum gleichsam ein Bindeglied zwischen Person, Ort und Ding darstellt und sich in einer dynamischen und diffundierenden Vergegenwärtigung von Sakralität zeigt. Im Einzelnen seien aber hier wesentliche Anliegen der Beiträge einleitend kurz hervorgehoben.

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II. Der Artikel des Sinologen Andreas Berndt handelt von zwei heute nicht mehr bestehenden Tempeln der Fluss- bzw. Wassergottheit Jinlong si dwang in Shanghai. Der Verfasser untersucht aus diachroner Perspektive, wie die beiden Tempel in ihre aquatische Umwelt eingebettet waren, sowie die politischen, ökonomischen und sozialen Funktionen und Verflechtungen von Betreibern, Sponsoren und Gläubigen. Die wichtigsten Quellen zu diesen Fragestellungen sind historische und moderne Gazeteers sowie Legendensammlungen. Die historischen Gazeteers wurden von kaiserlichen Beamten und Offiziellen für ihren internen Gebrauch verfasst und bieten über das eigentlich Geographische hinausgehend umfangreiche Informationen zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der betreffenden Lokalität oder Region. Der Bezug zu Fragen von „Sakralität und Macht“ ergibt sich auf zwei Ebenen: (1) die Tempel in ihrer Funktion als Kanzlei, als Sitz von teilweise bedeutenden Beamten, also von Mächtigen oder genauer regionalen Repräsentanten königlicher oder staatlicher Macht, die die Tempel unterstützten und deren Infrastruktur zur Kontrolle über Flussschifffahrt, Wasserbau und -versorgungstechnik nutzten; (2) die Wirkmacht (ling) der Gottheit Jinlong si dwang selbst. Andreas Berndt unterstreicht die grundlegende Bedeutung des Konzepts ling für das Verständnis chinesischer Religion und deren Begriff des „Heiligen“. Ling sei das zentrale Element, in dem die vielfältigen Funktionen der Gottheit und ihrer Tempel zusammenliefen. Die hierzu passende japanologische Untersuchung von Daniel F. Schley behandelt die Entwicklung von Konzepten vormoderner Herrschaft in Japan und damit einhergehend die Frage nach dem Verhältnis zwischen nominellen Königen mit priesterlichen Funktionen und eigentlichen Machthabern. Daniel F. Schley wendet sich gegen das häufig vertretene Stereotyp, welches besagt, dass die Könige, deren Nachfahren auch heute noch das Amt der „himmlischen Herrscher“ (tennō) innehaben, die eigentlichen Machthaber einsetzten und durch ihre überragende religiöse Autorität legitimierten. Hof, Herrscher und höfische Elite sowie das Reich insgesamt werden dabei mit dem klassischen Ausdruck „Götterland“ bezeichnet, was als Konzept für das Nahverhältnis zwischen dem Tennō, dessen Dynastie göttlich auserwählt ist, und himmlischen Mächten stehe. Von modernen Historikern Japans inspiriert, zeigt Schley durch einen neuen Blick auf verschiedene Quellen, u. a. die mittelalterlichen historiographischen Werke des Jien, Chikafusa und Jihen, dass die Entwicklung der Herrschaftskonzeption weit differenzierter und kontroverser verlief als die oben genannte „monolithische“ Auffassung nahelegt. Das GötterlandKonzept ist, wie die Quellen zeigen, etwa unter Auseinandersetzung mit konfuzianischen Vorstellungen über ideale Regentschaft durch einen tugendhaften Herrscher Gegenstand der Aushandlung. Die Herrschersakralität wird insbesondere von buddhistischen und konfuzianischen Gesichtspunkten aus kritisch bewertet. Ab dem 13. Jh. zeige sich, dass sich die Auffassungen über Herrschaftskosmologie unter Einfluss unterschiedlicher Quellen chinesischer, indischer und japanischer Herkunft zu dem eingangs zitierten Modell entwickle. Daniel F. Schley macht deutlich, dass die extreme Konzentration auf die Vorstellung vom Götterland als legitimierendes Moment des Tennō erst das Ergebnis dieser kritischen Auseinan-

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dersetzung mit dessen Position darstellt. Doch trotz aller Kritik an diesem Modell verstärkt sich in der Folge in traditionellen japanischen historiographischen Werken die Überzeugung, dass Japan, als Götterland, mit einer kontinuierlichen Thronfolge aus einem göttlich erwählten Geschlecht gesegnet sei, was dann zum Alleinstellungsmerkmal der königlichen Ordnung wurde. In ihrem Beitrag zu Felix und Regula als Verteidiger ihres Märtyrerortes trägt Mariëlla Niers zur Sektion „Heilige Orte und Macht“ bei und erläutert die Kontinuität der Schutzfunktion der Zürcher Heiligen für die Stadt. Frühe Spuren kann sie ab dem 8. Jahrhundert nachweisen, denn schon die erste Passio der Stadtheiligen ist mit verschiedenen Wundern durchsetzt. Aufschlussreiche inhaltliche Informationen geben vor allen Dingen konkrete Ortsangaben in den verschiedenen Versionen der Passionsberichte. So wird beispielsweise in einem mit den Märtyrern in Verbindung stehenden Passionsbericht das Zürcher Großmünster erstmals im 10. Jahrhundert erwähnt. In diesem Zusammenhang gewinnt auch Karl der Große eine wichtige Rolle und tritt als Gründer des Großmünsters in Erscheinung. Der zweite Teil des Aufsatzes beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Konstruktion der Patrone als Verteidiger Zürichs und der Multiplikation von Kirchen als Märtyrerorten, die sich mit Regula und Felix verbinden. Näher beleuchtet Mariëlla Niers in ihrem Aufsatz den Zürcher Chorherren Felix Hemmerli (gestorben 1458), der die Heiligen als moralische Wärter der Stadt konzipiert und ihre Rolle in der Kriegsverteidigung in ganz besonderer Weise in seinen Schriften hervorhebt. In diesen Zusammenhängen werden weitere Heilige, wie der Heilige Jakobus, eingebunden. Wichtig ist die abschließende Bemerkung, dass die Reformation keine strikte Zäsur für den Kult der Heiligen bedeutete, ein Befund, der an frühere Überlegungen des Forschungskollegs anknüpft. Alexander Pierre Bronisch stellt die Konzeptionen des Heiligen Krieges (zwischen Weltanschauung und Propaganda) am Beispiel der christlichen iberischen Reiche vom 6. bis zum 11. Jahrhundert vor. Der Beitrag beginnt mit einer ausführlichen Sichtung der bisherigen Interpretationen zum Themenkomplex „Heiliger Krieg“. Hierbei wird vor allem auf die These einiger Gelehrter eingegangen, diese Art des Krieges sei ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Nach dem Referat der verschiedenen Positionen beklagt der Verfasser eine fehlende Definition und möchte das Konzept „Heiliger Krieg“ eher in den Bereich der Weltanschauung einbetten, die sich gegen Konzeptionen von Ideologien abgrenze. Im Hauptteil des Artikels werden die verschiedenen christlichen Reiche chronologisch vorgestellt: vom Westgotenreich, über das asturisch-leonesische Reich bis hin zum Reich von Pamplona/ Navarra. Die Grundlegung erfolgte laut Bronisch vor allen Dingen in der westgotischen Zeit, denn durch byzantinische Einflüsse wurde hier das Volk Gottes des Alten Testamentes zu einer wichtigen Orientierung. Die Kriegsordines dieser Zeit thematisierten insofern den altisraelitischen König und das Volk Gottes, und machten diese so zu wichtigen Bezugsgrößen für die Westgoten. Insgesamt folgert der Verfasser, dass das „Bild“, welches man sich im Westgotenreich über das Zusammenspiel und die Bedeutung der vier das Reich konstituierenden Elemente König, Kirche, Volk und Land machte, einen „eminent altbiblischen Charakter“ besaß. Diese Orientierung blieb grundsätzlich im Reich von Asturien-Leon bestehen, hier

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dominierten aber die Bestrebungen, Buße für Fehler zu begehen, und der Versuch, die verlorene Gnade Gottes aufs Neue zu erlangen. Dies arbeitet der Autor aus Chroniken aus der Zeit Alfons’ III. und dem Bericht über die Schlacht von Covadonga (721?) heraus. Diesem Bericht misst Bronisch entsprechend auch eine besonders große Rolle bei der Wertung der Zeugnisse ebenso wie dem sogenannten „Testament“ Alfons II. von 812 bei. Dass solche Vorstellungen nicht nur auf Asturien-Leon beschränkt waren, sondern auch im navarresischen Reich von Pamplona aufgegriffen wurden, zeigt sich nicht zuletzt an der Überlieferung der einschlägigen Texte. Insofern war das alte westgotische Konzept (mit Rückgriff auf das Alte Testament) in allen christlichen Reichen des Nordens im frühen Mittelalter in unterschiedlicher Weise präsent und wurde dort aufgegriffen. Das Konzept selbst verknüpfte sich aber auch mit heiligen Orten, die durch militärische Aktionen den Muslimen wieder entrissen werden sollten. Jörg Bölling thematisiert die Papstliturgie der Renaissance und zentralisiert damit einen wichtigen Ort der westlichen Christenheit. Die Liturgie erzeugt durch jeweilige Aktualisierung Sakralität und Macht in verschiedenen Formen: Performanz, Schrift und Bild, so der Verfasser im ersten Kapitel. Die Papstliturgie, wie sie in der Sixtinischen Kapelle gefeiert wurde, war entsprechend ein Abbild von Kirche, Hof, Stadt und Kirchenstaat Diese Funktionen gehen auf frühere stadtrömische-liturgische Traditionen zurück und verdichteten sich dann in der Papstliturgie der Renaissance. Schriften konnten diesen Prozess unterstützen (Kapitel I.2), dies umso mehr nachdem wichtige liturgische Bücher gedruckt worden waren, wie Bölling in einem eigenen Unterkapitel erläutert. Insbesondere untersucht er den Fall des Paris de Grassis. So wie Aufführung, Schrift und Druck die Sakralität von heiligen Orten machtvoll zum Ausdruck bringen konnten, so konnten auch Performanz, Schrift und Druck Sakralität zerstören (Kapitel II). Dies gilt in den Wirren der Reformation ebenso wie der umgekehrte Schluss, dass die Erhaltung von Sakralität und Macht, beispielsweise durch das Tridentinum, weiter Bestand sicherte. Insofern unterstreicht Bölling in seiner Zusammenfassung einen Dreischritt: die Erzeugung von Sakralität und Macht durch viele verschiedene Medien in Form der Papstliturgie, die Zerstörung durch die Reformation und schließlich die Erhaltung von Sakralität und Macht durch das Konzil von Trient (1545–1563). Larissa Düchting bietet in ihrem Beitrag zur christlichen Grenzregionen des hohen Mittelalters eine Untersuchung der Orte des sogenannten „Heiligen Landes“, eine Bezeichnung, die erst seit Alexander III. in der Mitte des 12. Jahrhunderts gebräuchlich wurde. Ihr geht es darum zu zeigen, wie durch die Kreuzzüge und die Etablierung von Kreuzfahrerherrschaften neue Ortssakralisierungen die Eroberungen stützen und begleiten konnten. Deshalb sichtet sie nach einer kurzen Skizzierung der allgemeinen Auswirkungen der Kreuzzüge jede einzelne der vier Kreuzfahrerherrschaften in dieser Hinsicht: Jerusalem, Edessa, Antiochia und Tripolis. Ihre Analyse führt zu dem Ergebnis, dass die Nutzung von sakral „aufgeladenen“ Gebäuden durch die Kreuzfahrer in der Regel fortgeführt wurde. Allerdings konnte man die eigene Macht durch die Nutzung dieser Orte weiter ausbauen. Es schien aber nicht geplant gewesen zu sein, vorhandene Kulte durch neue zu ersetzen. Dennoch lassen sich jeweils besondere Entwicklungen beobachten: in Edessa zum Bei-

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spiel die Nutzung der dort verehrten Objekte, in Antiochia die Verstärkung des Petrus-Kultes (Münzprägungen). In Tripolis bleibt die Quellenlage allerdings zu spärlich, um gesicherte Aussagen zu treffen. Insgesamt spielte der Kult des Erzengels Michael in den Kreuzfahrerherrschaften eine wichtige Rolle, ansonsten scheinen aber kaum Heiligenkulte und Patrozinien von West nach Ost exportiert worden zu sein. Insofern dürfte die Sakralität von Orten gerade in Gebieten, die durch andere christliche Denominationen bereits sakralisiert worden waren, einen Sonderfall für die Frage von heiligen Orten und Sakralität bedeuten. Anhand einer indologischen Fallstudie widmet sich Karin Steiner der Frage nach der Erzeugung und Etablierung von Macht und Sakralität am Beispiel südindischer religiöser Würdenträger, der Śaṅkarācāryas von Śṛṅgerī. Eine wesentliche Rolle spielen dabei verschiedene Faktoren wie Protokoll und Etikette, normative Vorstellungen im Rahmen einer indigenen Theorie der Macht, Qualifikation und göttliche Auserwähltheit des Aspiranten, ununterbrochene Sukzession und eine majestätische Ästhetik, wie sie insbesondere in einem jährlich stattfindenden Festritual zum Ausdruck kommt. Durch diese werden in einem kontinuierlichen Prozess „Macht“ sowie „Sakralität“ immer wieder erneuert und aufrechterhalten. Wirksam werden diese Faktoren, indem sie in Handlungen, Wort, Bild und Schrift live und in Medien durch öffentliche Performanz, sichtbar gemacht werden. Zu dieser Sichtbarmachung gehören nicht nur performative Akte in Sinne von Ritual- oder Zeremonialhandlungen, sondern jede Art von Information, mit der die Öffentlichkeit der Gläubigen in Berührung gebracht wird, und alles, was aus jeglicher Form von Weitergabe und Vervielfältigung erwächst. Karin Steiner betont dabei die Dynamik zwischen diesen expressiv-performativen Aspekten von Macht und Sakralität, die von den Machthabern und Offiziellen ausgehen, und dem „Sich-Ergreifen-Lassen“, der ästhetisch-emotionalen Ergriffenheit auf Seiten der Gläubigen/Rezipienten. Karin Steiners Interpretation enthält Berührungspunkte mit klassisch-indischer ästhetischer Theorie sowie der Bhakti-Theologie. Die Machtfaktoren und ihre besondere Ästhetik werden während des Śarannavarātrī-Festrituals in kondensierter Form sichtbar, weshalb eine eingehendere Analyse eines Teils dieses Festes im Zentrum des Artikels steht. Die Untersuchung stellt ein deutliches „Aber“ zu den kritischen Ausführungen über das Verhältnis der Philosophie des Advaita Vedānta und Macht in Matthias H. Ahlborns Beitrag dar. Vidyāraṇya, der Autor der von Ahlborn diskutierten Textquellen, wird als der 12. Śaṅkarācārya in der Sukzessionsfolge von Śṛṅgerī geführt. Er gilt in der Tradition als Begründer der majestätischen Amtsführung dieser Würdenträger und ihrer teilweise historisch gut belegten Verbindungen zur politischen Macht und den Mächtigen der jeweiligen Zeit. Der Beitrag des Indologen Matthias H. Ahlborn befasst sich mit zwei philosophischen Abhandlungen des Vidyāraṇya (14. Jh.), die der Tradition des Advaita (Nicht-Dualismus) angehören. In diesen Texten geht es um das Konzept der „Erlösung zu Lebzeiten“, das im Rahmen der Forschergruppe als eine Ausdrucksform personaler Heiligkeit behandelt wurde. Schlussendlich untersucht Ahlborn die Beziehung zwischen diesem Konzept, wie es in den Quellen vorgestellt wird, und „Macht“. Im ersten Teil des Artikels setzt sich Ahlborn mit der Rezeptionsgeschichte der Advaita-Texte des 14. Jh. im weitesten Sinne auseinander, sowohl im Rahmen „west-

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licher“ Forschung als auch indisch-nationalistischer Ideologie. Er erteilt vor allem Rezeptionen und Interpretationen, die unter Anwendung kulturwissenschaftlicher Theorien die reiche vedāntische Textproduktion des 14. Jh. als (macht-)politisches Projekt sehen, eine Absage, da die Textquellen selbst politische und gesellschaftliche Fragen von Macht nicht verhandeln bzw. sich explizit vom Politischen abgrenzen. Im zweiten Teil des Artikels wird das Konzept von Macht vorgestellt, wie es in den Quellen Berücksichtigung findet. Macht ist hier eine Eigenschaft, die der Lebend-Erlöste errungen hat bzw. nach der der Adept in einem interiorisierten Machtkampf gegen die eigenen Leidenschaften und schlechten Gewohnheiten strebt, die ein Hindernis auf dem Weg zur Erlösung darstellen. Die Methoden, dies zu erreichen, legen einen innerlichen Rückzug aus der Welt nahe. Bei aller berechtigten Kritik an bestimmten Rezeptionen der Werke der Autorengruppe um Vidyāraṇya ist aber zu berücksichtigen, dass die Texte sehr wohl in einem bestimmten historischen Umfeld entstanden sind, das trotz schwieriger Quellenlage ungefähr fassbar ist. Der von Ahlborn vertretenen Auffassung, die Träger der in Rede stehenden Tradition seien als Asketen und Entsager von der politischen Macht nicht abhängig, sind u. a. die Ausführungen zum Spannungsfeld zwischen Askese und gleichzeitiger majestätischer Machtäußerung in dem Artikel von Karin Steiner entgegenzuhalten. Adam Yuet Chau befasst sich mit zeitgenössischer chinesischer Religion aus ethnologischer Perspektive. Der Bezug zur Macht in seinem Beitrag ergibt sich aus der zentralen Bedeutung von ling „efficacious/efficacy“, die auch er, wie Andreas Berndt, diesem Konzept beimisst. Die Wirkmacht einer Gottheit ist eine soziale Tatsache, die dadurch entsteht bzw. konstruiert wird, dass Menschen sie als Antwort auf ihre religiöse Praxis erfahren und diese Erfahrung weitergeben. Um chinesische Religion jenseits doktrinärer Kategorisierungen entlang großer skripturaler Traditionen zu erfassen, schlägt Adam Yuet Chau ein Modell der religiösen Praxis vor, das auf fünf „modalities of doing religion“ beruht: „discursive/scriptural“ (1), „personalcultivational“ (2), „liturgical/ritual“ (3), „immediate/practical“, die Modalität, die am unmittelbarsten auf die Wirkmacht einer Gottheit ausgerichtet ist (4), sowie „relational“ (5). Adam Yuet Chau widmet sich insbesondere der „immediate/practical“ Modalität, für die er einige Beispiele aus seiner Feldforschung anführt. Die Praktiken zielen auf unmittelbare Ergebnisse bzw. Antworten oder Reaktionen der Gottheiten mittels einfacher, wenig elaborierter Rituale, für die teilweise nicht einmal „religiöse Spezialisten“ notwendig sind. Dazu gehören Divination, das Erhalten von göttlichen Heilmitteln, Zaubersprüche und Besessenheits-Séancen mithilfe von Medien. Diese Form religiöser Praxis ist beliebt, weit verbreitet, keineswegs auf ländliche Regionen beschränkt und widersteht seit jeher Versuchen staatlicher Unterdrückung und der Brandmarkung als „rückständig“. Das an der religiösen Praxis orientierte Modell bietet sich auch für andere Kulturräume an, die traditionell multireligiös, wenig institutionalisiert und von starken Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Ebenen von Religiosität und Religion geprägt sind. Dies gilt etwa für Südasien, insbesondere da Etikettierungen wie „Volksreligion“ oder die so häufig nicht angemessene Dichotomie sakral/profan vermieden werden. Der Komparatist und Philosoph Roger Thiel betrachtet die „Kultur der gemachten Dinge“ entlang einer Kette von Fragen, deren erste lautet, ob Dinge mäch-

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Klaus Herbers / Karin Steiner

tig sein können und falls ja, wie diese Macht beschaffen sein könnte. Zunächst untersucht er das „Ding“ selbst. Was sind Dinge, wie kommen sie in die Welt, besitzen sie so etwas wie eine Identität, wie können wir diese erfassen? Was ist der Anlass zur Herstellung der Dinge? Wie, wodurch und warum wird etwas hergestellt? Was ist Erzeugung? Ausgehend von diesen Fragen skizziert Roger Thiel grundlegende Parameter, die an der Erschaffung der Dinge beteiligt sind, insbesondere auf der Grundlage der Arbeiten von Alfred Sohn-Rethel und Elaine Scarry. Der zweite Teil des Aufsatzes beginnt mit der Frage, was Macht sei. Über die Kombination der Ausführungen von Scarry und Michel Foucault gelangt Roger Thiel zu der vorläufigen Aussage, Macht sei die Vorstellung, die zu ihrer Sichtbarkeit und Herrschaft Dinge produziere. Und schlussendlich konstatiert er, dass Dinge per se weder mächtig noch ohnmächtig sein können, sondern lediglich als Medien für Macht oder Ohnmacht der an ihrer Hervorbringung Beteiligten figurieren. Abschließend wird gefragt, ob Dinge mächtig sein können, wenn sie als „heilig“ ausgezeichnet seien. Basierend wiederum auf Scarry und vor allem auf den Charakterisierungen „heiliger Dinge“ durch Karl-Heinz Kohl, wird festgestellt, dass der Sakralisierungsprozess, den diese Objekte durchlaufen, mit dem „Glauben an die Seele der Dinge“ zu tun habe. Die letzte Frage lautet folglich, wie die Seele in die Dinge komme. Den entscheidenden Unterschied zwischen einem „profanen“ und einem „heiligen“ Ding macht der Glaube an diesen aus. Den Herausgebern bleibt abschließend der Dank an alle Beteiligten der Tagung für die Bearbeitung ihrer Beiträge. Besonders Herr Thomas Kieslinger, M. A., Frau Magdalena Berkes, B. A., Frau Dr. Claudia Alraum, Frau Dr. Petra Schmidl und Frau Dr. Carola Föller haben den Band redaktionell betreut. Auch ihnen sei herzlich gedankt.

EINE HISTORISCHE SKIZZE ZUR MACHT DES HEILIGEN1 Hans Joas Die Sakralisierung von Königen oder anderen Herrschergestalten scheint der offensichtliche Ausgangspunkt für eine historische Skizze des Verhältnisses von Macht und Heiligkeit. Unumstritten ist nämlich die globale Verbreitung dieses Phänomens. Obwohl es gewiß für die spezifische Ausprägung dieses Phänomens in unterschiedlichen Gesellschaften Einflüsse von außerhalb gegeben hat, scheint die Entstehung von Herrschersakralität selbst jeweils nicht einfach kulturelle Übernahme gewesen zu sein. Der vielleicht ehrgeizigste Versuch zu einer universalhistorischen, freilich aufs Christentum beschränkten Religionssoziologie in der Generation nach Max Weber und Émile Durkheim setzt deshalb mit diesem Phänomen ein und erklärt diesen Sachverhalt – daß der König „zugleich als höchster der Menschen und niedrigster der Götter“ anzusehen sei und ein „Bindeglied zwischen der Sphäre der Sterblichen und der Sphäre der Unsterblichen“ darstelle – zum notwendigen Ausgangspunkt eines solchen Versuchs2. Doch läßt dieses Vorgehen offen, wie wir das Verhältnis von Sakralität und Macht vor der Entstehung des Königtums zu denken haben. Wie sollen wir uns dieses Verhältnis in nichtstaatlich organisierten Gesellschaften, bei geringem Machtgefälle unter den Mitgliedern, eigentlich vorstellen? […] Wenn, wie schon der oberflächliche Blick zeigt, in der Achsenzeit des letzten vorchristlichen Jahrtausends auch in den Kulturen, die von den neuen religiösen und philosophischen Ideen beeinflußt wurden, kein definitiver Bruch mit der Sakralisierung von Herrschern einsetzte, ist zu fragen, welche Kompromisse zwischen den neuen Konzeptionen und den tradierten Machtformen gefunden wurden oder ob sogar neue Rechtfertigungschancen für Macht und Herrschaft aus den transzendenzbezogenen Religionen abgeleitet wurden. Zwei weitere Sakralisierungen treten in den Blick, da in ihnen zumindest das Potential steckt, eine Alternative zur Sakralisierung eines Herrschers zu werden: die Sakralisierung des Volkes und die Sakralisierung der Person im Sinne einer universalen Menschenwürde, also einer Qualität jedes menschlichen Individuums. Wie sich zeigen wird, ist die Sakralisierung vor der Entstehung der Herrschersakralität am besten als kollektive Selbstsa1

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Abschnitt ausführlicher erschienen in Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017, 446–465. Der auszugsweise Abdruck der Passagen, die teilweise als Einleitung der Tagung „Sakralität und Macht“ dienten, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags. Die Rede ist von Werner Stark. Siehe Ders., Grundriß der Religionssoziologie, Freiburg 1974, 11. Dieses einbändige deutsche Werk ist eine vom Autor erstellte Kurzfassung seiner in englischer Sprache erschienenen fünfbändigen historischen Religionssoziologie: Ders., The Sociology of Religion. A Study of Christendom, 5 Bde., New York 1966–1974.

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kralisierung zu kennzeichnen. Im Folgenden wird der Blick auf die anderen Formen – Herrschersakralität vor und nach der Achsenzeit, Sakralisierung des Volkes und Sakralisierung der Person – von der Frage geleitet, inwiefern diesen Formen des Verhältnisses von Macht und Sakralität eine Überwindung der kollektiven Selbstsakralisierung oder doch wenigstens eine Gegenkraft zu dieser innewohnt. Bei Aussagen über Gesellschaften vor der Entstehung staatlicher Strukturen ist größte Vorsicht geboten. Da die Schrift jeweils im Zusammenhang mit der Entstehung staatlicher Strukturen (etwa der Abgabenregistratur) aufgekommen zu sein scheint, kann es nicht verwundern, daß solche Gesellschaften keine schriftlichen Selbstzeugnisse hinterlassen haben. Einsichten, die aus der ethnologischen Erforschung zeitgenössischer schrift- und staatsloser Gesellschaften gewonnen wurden, dürfen selbstverständlich nicht einfach so in die Geschichte übertragen werden, als enthüllten sie uns die Vergangenheit staatlich organisierter Gesellschaften an anderen Orten. Zudem sind Gegenwartsgesellschaften immer schon in eine Welt eingeschlossen, in der die staatlichen Strukturen anderer sich auf sie in massivster Weise auswirken. Auch der positive Beschreibungsbegriff „Stammesgesellschaften“ ist mit der Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus sowie der zivilisatorischen Abwertung als „wild“ oder „primitiv“ historisch so verknüpft, daß viele von seinem Gebrauch abraten. An der Bedeutung des Rituals für solche vor- oder nichtstaatlichen Gesellschaften kann, bei aller Unsicherheit unseres Wissens im Einzelnen, prinzipiell allerdings kein Zweifel sein. Wenngleich Durkheims klassischer Analyse neben vielen empirischen Mängeln in theoretischer Hinsicht ihre ausschließliche Betonung kollektiver Erfahrungen und ein ungenügender Sinn für die Frage nach der Artikulation solcher Erfahrungen vorzuwerfen war, ist doch anzuerkennen, daß seine Einseitigkeiten ein erfreuliches Gegengewicht bilden gegen die Tendenz, den Individualismus moderner Kulturen in die Geschichte zurückzuprojizieren. Es wäre in der Tat völlig anachronistisch, die individuellen Erfahrungen einer Spannung zwischen Idealen oder zwischen Ideal und Wirklichkeit auch in diesen Gesellschaften für wesentlich zu halten. Weil Ideale eine Abstraktion von Heiligkeitserfahrungen sind, kann das Maß dieser Abstraktion variieren. Wenn die Abstraktion gering ausfällt, heißt das, daß die Heiligkeitserfahrung ihre situative Bindung stark beibehalten hat. Entsprechend wird dann die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit nur gering ausfallen oder kaum vorhanden sein. Wenn die heiligkeitskonstitutive Erfahrung eine kollektive ist, dann kann es auch sein, daß die Zuschreibung von Heiligkeitsqualitäten an bestimmte Individuen ganz unterbleibt. Diese theoretische Erschließung des Charakters von Sakralität unter Bedingungen geringer Individualisierung scheint sich in Forschungen zu den australischen Aborigines, die nach Durkheim und in kritischer Distanz zu ihm unternommen wurden, und in Untersuchungen zu anderen nichtstaatlichen Gesellschaften zu bestätigen3. Stellen wir uns exemplarisch, der Beschreibung von William Stanner 3

Zu Australien wichtig die Arbeiten von William E. H. Stanner, Religion, Totemism and Symbolism, in: Aboriginal Man in Australia. Essays in Honour of Emeritus Professor A. P. Elkin, hg. v. Ronald M. Berndt / Catherine H. Berndt, Sydney 1965, 207–237; Ders., The Dreaming

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folgend, Gruppen von nomadischen Jägern und Sammlern vor, die nichts anbauen oder bauen und nirgends für lange Zeit verweilen, obwohl die Routen ihres Ortswechsels sehr wohl einem bestimmten Muster folgen und auf genauer Kenntnis der jahreszeitlichen Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und Wasser beruhen. Diese nomadischen oder halbnomadischen Gruppen von zehn bis sechzig Personen, die nur in geringem Maße Habe mit sich führen, fühlen sich durch Sprache und Sitten mit bestimmten anderen ähnlichen Gruppen eng verbunden, mit denen sie aber nur zu herausgehobenen Anlässen zusammenkommen. Das können große Feste sein, Initiationsriten, Konfliktaustragungen oder anspruchsvolle, eine große Zahl Beteiligter erfordernde Jagdexpeditionen. Die dabei stattfindenden organisierten oder sich spontan ergebenden Rituale ermöglichen intensive Erfahrungen, die sich vom Alltag des Lebens in kleinen Gruppen in der Tat deutlich unterscheiden. Das strukturierte Leben des Alltags wird unterbrochen. Wenn diese Unterbrechung in der Analyse hervorgehoben werden soll, bietet sich der Begriff „Anti-Struktur“4 an; wenn betont werden soll, daß es nicht nur um eine Auflösung von Strukturen geht, sondern um die Erfahrung einer kontrollierten Umwelt, in der Idealzustände erlebbar gemacht werden, die nach Rückkehr in den Alltag im Gedächtnis bleiben, scheint ein Begriff wie „alternative Struktur“5 besser geeignet. Da diese Rituale an festen Orten stattfinden, laden sich diese Orte mit besonders großer Bindungsenergie auf. Die Sakralisierung von Orten scheint in der Lebensweise der Angehörigen solcher sozialen Ordnungen zentral zu sein, wobei die Orte eben gerade durch ihre Sakralität nicht als bloße neutrale Schauplätze für ein sakrales Geschehen gedacht werden dürfen, sondern Ort und Geschehen in der Vorstellung eine schwer auflösbare Ganzheit bilden. Als gewissermaßen kleinste Einheit des Deutungssystems erweist sich unter diesen Umständen etwas, das in den Forschungen als „rhythmed events“ oder „abiding events“ bezeichnet wird – als Ereignisse zwar, nicht aber als einmalige Bestandteile einer irreversiblen zeitlichen Kette von Ereignissen, sondern als konstitutive, in ihrer Wirkung anhaltende, periodisch wiederkehrende Ereignisse am sakralen Ort6. Vieles von dem, was in der Literatur über die australischen Aborigines seit den Forschungen von Spencer und Gillen, die schon die wichtigste Quelle für Durkheim waren, als „Traumzeit“ bezeichnet wurde und große Verständnisschwierigkeiten bereitet, wird damit durchschaubar. Es geht um das Ineinander einer mythischen Ursprungserzählung mit der Vorstellung, daß der Ursprung der Welt nicht in einer unwiederholbaren Vergangenheit liege, sondern sich immer wieder ereigne und ein alle Gegebenheiten durchziehendes Ordnungs-

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(1956), in: Cultures of the Pacific. Selected Readings, hg. v. Thomas G. Harding / Ben J. Wallace, New York 1970, 304–315. Zur weiteren Forschung v. a. Robert N. Bellah, Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge, Mass., 2011, 117–174. So Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur (1969), Frankfurt a. M. 1989. So im Anschluß an die Forschungen von Ellen Basso über die brasilianischen Kalapalo Bellah, Religion in Human Evolution (wie Anm. 3), 141. Vgl. Ellen Basso, A Musical View of the Universe. Kalapalo Myth and Ritual Performances, Philadelphia 1985, 253, wo die kreativen und heilenden Wirkungen von Ritualen hervorgehoben werden. Bellah, Religion in Human Evolution (wie Anm. 3), 147, im Anschluß an Tony Swain, A Place for Strangers. Towards a History of Australian Aboriginal Being, Cambridge 1973, 22.

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prinzip enthalte7. In diesem Ordnungsprinzip aber sind Wirkliches und Mögliches nicht oder kaum voneinander unterschieden. Das führt Stanner dazu, das Leben unter diesen Bedingungen als „one-possibility thing“ zu bezeichnen8, als das einzig mögliche, als alternativlos. Das Ideale hat sich vom Realen noch nicht getrennt oder kaum über dieses erhoben. Die Intensität der Sakralisierung von Orten und Ereignissen strukturiert ein Weltbild, ohne die Welt als veränderbare im Licht eines idealen Zustands zu präsentieren. Von einem Gefälle der Macht unter den Mitgliedern einer solchen Gesellschaft ist in diesem Fall nur in zwei Hinsichten zu sprechen: Ältere haben Macht über Jüngere, Männer über Frauen. Ältere Männer sind diejenigen, die die größte Chance haben, Einfluß auf kollektive Entscheidungen zu nehmen. Selbstverständlich führen überlegene Fähigkeiten, Kräfte oder Einfallsreichtum oft zu Respekt und Folgebereitschaft. Es gibt aber keine formellen Ämter, um deren Besetzung gerungen werden könnte9. […] So richtig es ist, gegen ein hobbesianisches Bild vorstaatlicher Gesellschaften als eines Kampfes aller gegen alle auf die Schönheit und Würde, auch die schöpferischen und genießerischen Züge des Lebens unter diesen Bedingungen hinzuweisen10, so wenig darf dieses romantisiert oder idyllisiert werden. Dagegen sprechen zwei Gründe. Der erste Grund besteht darin, daß das Fehlen eines ausgeprägten Machtgefälles nicht mit der Abwesenheit von Macht gleichgesetzt werden darf. In den Arbeiten von Stanner wird dieser Punkt nur dort sichtbar, wo er davon spricht, daß das System der weitgehend egalitären sozialen Ordnung bei den von ihm untersuchten Aborigines sich selbst schützt und erneuert: Der entscheidende Punkt ist hier, daß die checks and balances nahezu perfekt zu sein scheinen und wirklich niemand die Art von Befriedigung zu wollen scheint, die von einer Position der Vorherrschaft über andere kommen könnte.11

Obwohl dies hier nicht ausgesprochen wird, scheint doch klar zu sein, daß der fehlende Wunsch nach Macht und Beherrschung anderer nicht auf angeborene Güte oder verinnerlichte Moral zurückzuführen ist. Wenn diese vorhanden wären, bräuchte es ja auch keine „checks and balances“ und wäre es falsch, von einem „self-protective system“ zu sprechen. Wir müssen uns statt dessen soziale Mechanismen vorstellen, mit denen individuelle Machtsteigerungsversuche durch kollektive Macht unterbunden werden. Das Fehlen eines Machtgefälles zwischen den Individuen deutet eben nicht notwendig auf die Abwesenheit von Macht hin, sondern auf die Stärke kollektiver Macht gegenüber den Individuen. Das ist auch heute in allen Ordnungen zu beobachten, die sich an Gleichheitsnormen orientieren. […] Zu den Machtmitteln, mit denen dort die Entstehung eines Machtgefälles verhindert wird, gehören die verschiedensten Formen sozialer Sanktionierung von der Verspottung des Selbstbewußten bis zu seinem Ausschluß. Eines dieser Machtmit7 8 9 10 11

Stanner, The Dreaming (wie Anm. 3), 305. Ebd., 307, 312. Ebd., 314. Ebd. Ebd.

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tel ist auch die Macht des Heiligen in ihrer kollektiven Form: Rituale können nämlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit so stärken, daß Individuen freiwillig auf Durchsetzungsansprüche verzichten; sie können auch vorhandene Machtgefälle zeitweise „karnevalistisch“ außer Kraft setzen und ihnen damit ihre Selbstverständlichkeit im Alltag nehmen12. Der andere Grund, warum die ritualgestützte und relativ egalitäre soziale Struktur der beschriebenen Gesellschaft nicht geeignet ist, als Gegenstand der Sehnsucht aufgefaßt zu werden, liegt in der Beschränkung der Sakralitätswirkungen auf die Mitglieder des Kollektivs, das am Ritual teilhat. Ohne die Abstraktion eines Ideals entsteht, wie beschrieben, zunächst einmal nur die Idealisierung eines bestimmten besonders gelungenen Zustands des Kollektivs selbst. Die Sakralisierung ist ursprünglich immer auch eine Selbstsakralisierung des Kollektivs. Die geteilte Erfahrung an bestimmten Orten und Zeitpunkten, die einen Teil der Welt als „heilig“ hervorhebt, strahlt unmittelbar auf die aus, die diese Erfahrung teilen – läßt aber andere, die nicht beteiligt sind, dadurch als weniger heilig oder unheilig, als „Schattenkreaturen“13 erscheinen. Es ist natürlich eine empirische Frage, inwiefern die Nichtsakralisierung von Außenstehenden eine Rolle in Konflikten spielt und Umgangsweisen erlaubt, die gegenüber Zugehörigen verboten sind. Keinesfalls sollte die bloße Tatsache der Beschränkung der Sakralisierung auf ein bestimmtes Kollektiv als hinreichender Grund für entgrenzte Feindseligkeiten betrachtet werden. Aber mit der in die Konstitution von Heiligkeit eingelassenen kollektiven Selbstsakralisierung14 kommt ein Problem in den Blick, das mir für das Verständnis der weiteren Geschichte der Macht zentral zu sein scheint. Jeder Schritt der Machtbildung über das beschriebene elementare Niveau hinaus wird im Horizont dieser Selbstsakralisierung des Kollektivs erlebt werden. Konkreter gesprochen heißt das, daß damit den Alten oder den Ritualexperten tatsächliche Macht zuwächst, ebenso wie umgekehrt bewährten Jägern oder Kämpfern eine größere Erfülltheit von sak12 13 14

Dieser Absatz stützt sich auf Christopher Boehm, Hierarchy in the Forest. The Evolution of Egalitarian Behavior, Cambridge, Mass., 1999. Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution (wie Anm. 3), 175–182. Stark, Grundriß der Religionssoziologie (wie Anm. 2), 19. „Kollektive Selbstsakralisierung“ ist der Sache nach in der Religionstheorie Émile Durkheims gemeint; ich bin mir aber keiner Stelle bewußt, an der er diesen Begriff tatsächlich verwendet. Ich selbst habe in meinem Buch zur Geschichte der Menschenrechte (Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 234) zwar die universalistische Sakralisierung der Person von der „Selbstsakralisierung des privaten Individuums“ unterschieden, ohne aber den Begriff der kollektiven Selbstsakralisierung zu benutzen. Bei verschiedenen Autoren ist von der „Selbstsakralisierung der Nation“ oder der „Selbstsakralisierung imperialer Macht“ die Rede. Auch der Begriff „kollektive Selbstsakralisierung“ findet sich, aber ohne Hinweis auf einen Urheber. Zu Nation: Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914, München 2008, 625; zu Imperien: Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, 135; zur Verwendung des Begriffs: Mischa Meier, Krisen und Krisenwahrnehmung im 6. Jahrhundert v. Chr., in: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, hg. v. Helga Schölten, Weimar/Wien 2007, 111–125, hier 123.

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ralen Kräften zugeschrieben werden kann. Damit aber sind es nicht nur Zustände des Kollektivs, in denen dieses als ganzes sich gehoben fühlt, die wir als soziale Formen der Sakralität betrachten müssen. Es gibt dann die machtgestützte Sakralität einzelner und deren als sakral erlebte Macht. In der historischen Wirklichkeit gibt es natürlich keinen Sprung vom geschilderten relativen Egalitarismus und der damit verbundenen kollektiven Selbstsakralisierung zum Despotismus archaischer Staatlichkeit In den Gesellschaften ohne Staat vor und erst recht nach Seßhaftwerdung und Entwicklung landwirtschaftlicher Produktionsformen lassen sich eine Fülle von institutionellen Formen identifizieren, bei denen von beträchtlichem internen Machtgefälle sowie von Fusionen von Sakralität und Macht gesprochen werden kann. Ein Indiz für solche Fusionen liegt dort vor, wo das sakralitätskonstitutive Ritual sich spaltet in Formen, zu denen nicht jeder und jede Zugang hat, und solche, die weiterhin als quasiegalitäres Kollektivereignis stattfinden. Es scheint mir besser, von einer solchen Spaltung zu reden15, als von einer einlinigen Entwicklung hin zu hierarchisierten Formen des Rituals, da wir mögliche Gegenkräfte zur Machtkonzentration, die aus weiterbestehenden egalitären Formen des Rituals hervorgehen können, nicht ignorieren sollten. Aber die Aufmerksamkeit auf Gegengewichte und -tendenzen darf umgekehrt auch nicht davon ablenken, die enormen Machtdifferenzen innerhalb von Kollektiven, die auf dem Weg zur Staatlichkeit festgestellt werden können, zu bagatellisieren. Zur Veranschaulichung geeignet ist hier die von allen traditionellen polynesischen Gesellschaften vielleicht am besten ethnologisch erforschte die auf der kleinen Insel Tikopia. Von einem Staat kann dort noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts – so die Beschreibungen – nicht gesprochen werden, ebensowenig jedoch von ursprünglichem Egalitarismus. Verwandtschaft ist hier ein wesentliches Strukturierungsprinzip, doch gibt es innerhalb und zwischen Verwandtschaftsgruppen ein deutliches Statusgefälle. Es gibt Häuptlinge der einzelnen Clans und Prozeduren zu deren Bestimmung, die man Wahlverfahren nennen könnte, obwohl in diese Verfahren „dynastische“ Elemente – etwa: Sohn des früheren Häuptlings zu sein – machtvoll hineinspielen. Einen Häuptling für alle Clans gibt es nicht, wohl aber die Vorstellung, daß der Häuptling des Clans mit dem größten Ansehen als Repräsentant aller – nicht als Herrscher – angesehen werden dürfe. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Sakralität und Macht ist der wichtigste Punkt, daß Häuptlinge nach ihrer Wahl in einem festen Ritual „tabuisiert“, das heißt geweiht oder sakralisiert werden. In diesem Ritual, in dem ausdrücklich von der Verleihung von Sakralitätsqualität durch das Kollektiv die Rede ist, wird die bisher profane Person in ein Objekt verwandelt, für das all das gilt, was auf heilige Gegenstände zutrifft. Unaufgeforderte Berührung ist von da ab ausgeschlossen. Die körperliche Haltung ihm gegenüber ist eine der Verehrung, ausgedrückt durch Verbeugung und Niederknien. Der Häuptling besucht niemand von sich aus, sondern gibt Audienzen, und ißt nicht in der Gegenwart anderer, weil dies den Eindruck, den er macht, ins Profane verschieben würde. So schwach ausgeprägt die 15

Bei Robert Bellah fand ich den Ausdruck „ritual bifurcation“, der mir diesen Gedanken gut zu bezeichnen scheint (Bellah, Religion in Human Evolution [wie Anm. 3], 570).

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Macht dieser Art von Häuptlingen ist, so deutlich erkennbar ist ihre herausgehobene priesterliche Rolle. Diese Rolle aber ist nicht etwa unerheblich für das physische Wohlergehen der ihm anvertrauten Menschen, als würde dieses in einer säkularen ökonomischen, politischen oder militärischen Sphäre gesichert. Im Gegenteil hängt dieses Wohlergehen wesentlich vom Wohlwollen übermenschlicher Kräfte und Wesen ab, mit denen umzugehen nun die vornehmste Aufgabe des Häuptlings und Oberpriesters ist. Nur er opfert Speise und Trank für die machtvollen Wesen, sofern er nicht andere damit beauftragt, ähnlich zu handeln. Die Menschen müssen Abstand halten, wenn die heilige Opferhandlung zwischen ihm und den machtvollen übermenschlichen Wesen stattfindet; sie kennen die rituellen Formeln nicht, die gesprochen werden, und können sie nicht hören. Nach Abschluß aber dürfen sie mit Gesang, Tanz und geselligem Schmaus so feiern, wie es bei den alten Kollektivritualen üblich war16. Auch dieses Bild sollte ebensowenig wie das der relativ egalitären nichtstaatlichen Ordnungen ohne feste Häuptlingsstrukturen idyllisiert werden. In die geschilderte Form religiös-politischer Ordnung sind mindestens drei Konfliktherde eingebaut, aus denen sich Auseinandersetzungen um Macht, aber auch Machtsteigerungstendenzen ableiten lassen. Erstens ist ja die Frage unvermeidlich, was eigentlich geschieht, wenn das durch Opfer herbeigesehnte Wohlwollen der übermenschlichen Wesen ausbleibt, wie es etwa bei Unwettern oder Mißernten der Fall ist. Dann kann der Häuptling und oberste Priester versuchen, durch größere Opfer dieses Wohlwollen zu erzwingen; er kann aber auch von denen, die ihn ins Amt gebracht und sakralisiert haben, als Versager betrachtet, abgesetzt oder gar getötet werden. […] Ein […] Konfliktherd liegt in den Umverteilungswirkungen von Ritualen, die in ihrer Durchführung vom Häuptling und Priester monopolisiert werden. Für Opferrituale sind Gaben nötig, auch und erst recht für die anschließenden kollektiven Festivitäten. Diese Gaben müssen eingesammelt und aufbewahrt, oft auch eigens produziert werden. Obwohl der Häupling und Priester nicht machtvoller und wohlhabender als andere sein muß, gibt ihm doch seine Rolle in der Koordination der ritualbezogenen Aktivitäten zumindest eine bessere Chance zur Aneignung von Gütern für sich und die Seinen. Es scheint durchaus immer fließende Übergänge von solcher bloßen Koordination zur wirtschaftlichen Besserstellung und Macht gegeben zu haben17. Damit aber kommt in die fallweise Verknüpfung von Sakralität und Macht eine selbststabilisierende Dynamik hinein. Es entstehen Interessen an der Aufrechterhaltung einer ungleichen Verteilung und Mittel zu deren Durchsetzung. 16

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Meine Darstellung, für deren empirische Gültigkeit im Falle Tikopia ich nicht bürgen will, stützt sich hier im Wesentlichen auf die Forschungen von Raymond Firth und deren theoretische Verarbeitung bei Bellah (Raymond Firth, Rank and Religion in Tikopia. A Study in Polynesian Paganism and Conversion to Christianity, London 1970; Bellah, Religion in Human Evolution [wie Anm. 3], 182–191 und 570). Bellah, Religion in Human Evolution (wie Anm. 3), 194, in Anschluß an Marshall Sahlins, Stone Age Economics, Chicago 1972, 140.

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[Ein weiterer] Konfliktherd ist damit verbunden. Wenn der Häuptling und Priester vornehmlich oder ausschließlich mit den machtvollen Wesen kommuniziert, dann nimmt er zunächst nur situativ Züge von diesen Wesen an; schon seine Tabuierung macht daraus etwas Dauerhaftes, allerdings nichts Unverwirkbares. Diese dauerhafte Sakralität kann aber, wie alles Sakrale, andere und anderes „infizieren“, etwa die Angehörigen des Häuptlings und Priesters oder alle Mitglieder des betreffenden Clans. Diese sich ausbreitende Sakralität kann als bedingungslose, mit den physischen Bedingungen gegebene, empfunden oder gedacht werden. Dann gilt eine bestimmte Abstammung als fundamental höherwertig als eine andere. Im Herkunftsstolz und Heiratsverhalten von Aristokratien wie in der Rede von ihrem edlen Geblüt haben sich solche Vorstellungen bis in unsere Zeit erhalten. Weil die Sakralisierung ganzer Clans sich in einem Macht- und Interessenfeld abspielt, können genealogische Kenntnisse vorgeschrieben oder verboten, können genealogische Linien manipuliert werden – mit beträchtlichen Konsequenzen für Ansprüche auf Landbesitz und Landnutzung18. Zwei Begriffe habe ich in der knappen Veranschaulichung sozialer Ordnungen, die noch keinen Staat kennen, aber auch nicht mehr strikt egalitär sind, bisher vermieden: König und Gott. Statt von Königen war von Häuptlingen die Rede, die zugleich oberste Priester sind, statt von Göttern von machtvollen Wesen und Kräften. Grund für die Meidung beider Begriffe war, daß sie vor der Herausbildung des Staates noch nicht ganz passend sind. Nun ist hier gewiß nicht der Ort, um die Frage zu klären, was genau einen Staat ausmacht und inwiefern eine Begrifflichkeit, die von europäischen Phänomenen seit der frühen Neuzeit abstrahiert ist, überhaupt auf ältere Phasen der europäischen Geschichte und auf archaische außereuropäische Formen der Macht angewendet werden kann. Hier genügt die Kennzeichnung, daß sich an einzelnen Orten und Zeitpunkten eine Form der Machtkonzentration und Machtdifferenzierung herausgebildet hat, für die Verwandtschaft und Abstammung nicht mehr als dominantes Organisationsprinzip behauptet werden können. Über dieses ältere – nicht verschwindende – Organisationsprinzip schiebt sich ein anderes, neues, das wesentlich aus einem arbeitsteilig handelnden Organisations- und Zwangsapparat besteht. Eine kleine Gruppe erhält damit die Chance, Überschüsse aus der landwirtschaftlichen Produktion zu verbrauchen, kollektive Arbeiten (etwa der Errichtung und Pflege eines Bewässerungssystems) arbeitsteilig zu organisieren, Auseinandersetzungen autoritativ zu entscheiden, innere und äußere Feinde mit Gewalt zu unterdrücken und in demonstrativem Luxus zu leben. Mit dieser Kennzeichnung ist keine Behauptung einer Zwangsläufigkeit der Entwicklung hin zum Staat verbunden19; es gibt viele Beispiele für einen Abbruch oder eine Umkehr solcher Entwicklungstendenzen. Allerdings ändert sich die Lage dort, wo die Entwicklung zum Staat stattfindet, da das überlegene Organisationspotential sich in erfolgreichen Expansionsbestrebungen niederschlagen und deshalb bei den Nach18 19

Zu Beispielen aus dem vorkolonialen Hawaii: Bellah, Religion in Human Evolution (wie Anm. 3), 197–209. Mit guten Gründen argumentiert gegen eine solche Unterstellung: Michael Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1990, 112–123.

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barn zu defensiven Reaktionsbildungen ähnlichen Charakters führen kann. Am bekanntesten sind hier die Schilderungen des Alten Testaments20, vor allem im Ersten Buch Samuel, bezüglich des Wunsches der Juden, auch wie die Nachbarvölker einen König zu haben, und die widerstrebende Erfüllung dieses Wunsches durch Gott. Nicht zwangsläufig also, aber doch häufig wurde dieser Weg der Staatsbildung beschritten, teils in Nachahmung benachbarter und bedrohlicher Staaten, teils aber auch völlig ohne den Einfluß von Vorbildern als immer neue, aber überaus ähnliche Kreation. Niemand wird die Staatsbildung in China auf die des antiken Orients zurückführen wollen oder umgekehrt, und die der Maya und der Inka sind offensichtlich nicht mit den anderen verbunden. Überall aber findet sich die Herausbildung eines sakralen Königtums. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das sich von frühen Agrargesellschaften bis in unsere Gegenwart hinein findet, wobei die genaueren ökonomischen Bedingungen und religiösen Vorstellungen weit voneinander abweichen. Für die Frage nach den Verknüpfungen von Sakralität und Macht ebenso wie für die nach den Gestalten kollektiver Selbstsakralisierung liegt hier ein Gegenstand von allerhöchster Bedeutung. Die klare Konturiertheit dieses Phänomens bei Variabilität seiner Bedingungen spricht gegen die Neigung, in ihm ein bloßes Resultat bestimmter ökonomischer Bedingungen und entsprechend in Gottesvorstellungen die bloße Projektion der Königsidee auf übermenschliche Kräfte zu sehen. Es scheint vielmehr zur gemeinsamen Herausbildung beider Vorstellungskomplexe oder vielmehr eines Vorstellungskomplexes mit diesen beiden Seiten gekommen zu sein21. Dem muß die Rekonstruktion desjenigen Prozesses der Machtbildung Rechnung tragen, welcher die kollektive Selbstsakralisierung vorstaatlicher Ordnungen in die Gestalt der enormen Sakralisierung des einen, alles beherrschenden und gegenüber den übermenschlichen Kräften repräsentierenden Königs transformiert. […] Für uns heute scheint mir die Sakralisierung des Herrschers angesichts der Erfahrungen mit dem Hitler- oder Stalin-Kult leicht nachvollziehbar, nicht aber die Divinisierung, wenn wir unter dieser die Erhebung eines Herrschers oder Priesters in den Stand der Göttlichkeit selbst verstehen. Das liegt daran, daß auch noch die säkularsten Zeitgenossen einen anspruchsvolleren Gottesbegriff stillschweigend 20 21

Vgl. 1 Samuel 8–12. Bellah, Religion in Human Evolution (wie Anm. 3), 212. Neben Bellahs Darstellung (210– 264) sind für meine folgenden Überlegungen vor allem wichtig: Francis Oakley, Kingship. The Politics of Enchantment, Oxford 2006; Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006 (darin 34–88 zur Entwicklung vom Alten Orient zur römischen Spätantike); Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume, hg. v. Ders., Berlin 2002; Ders., Herrschersakralität. Ein Essai, in: Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen, hg. v. Andrea Beck / Andreas Berndt, Stuttgart 2013, 15–32; aus der Soziologie außer Bellah auch Stark, Sociology of Religion (wie Anm. 2), Bd. 1, 7–68. Eine separate Auseinandersetzung mit den einzelnen, vornehmlich an Webers Begrifflichkeit orientierten Werken wie dem von Stefan Breuer, Der charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft, Darmstadt 2014, will ich hier nicht führen.

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unterstellen, als es unter Bedingungen archaischer Staatlichkeit der Fall gewesen zu sein scheint. Die Vorstellung der Zeugung eines Herrschers oder des Stammvaters einer Herrscherdynastie durch einen Gott oder des Übergangs eines Herrschers in einen Gott im Augenblick seines Todes setzt eine Durchlässigkeit zwischen dem Irdisch-Menschlichen und dem Göttlichen voraus, das Fehlen einer metaphysischen Kluft, so daß zwischen der Ordnung des Kosmos und der des Staates nicht nur eine Analogie, sondern wirkliche Einheit bestehen konnte. Unter den Bedingungen von Staatlichkeit konnten die organisatorischen Ressourcen, die für die verschiedensten staatlichen Aufgaben mobilisiert wurden, auch in Handlungen und Projekte wie den Bau von Tempeln und Grabstätten der Herrscher (Pyramiden) einfließen, die auch den Nachgeborenen imponieren, selbst wenn sie von diesen als unverständliche Verausgabung empfunden werden sollten. Unverständlich sind sie aber nur, wenn rückblickend die Intensität der Selbstsakralisierung einer sozialen Ordnung in der Gestalt der Herrschersakralität nicht mehr nachvollzogen wird. Dann bleiben vor allem die gewaltsamen Aspekte dieser Kulturen in Erinnerung. Unsere Phantasie ist bis heute von Bildern durchsetzt, die auf diese Gewaltförmigkeit zurückgehen: die Menschenopfer der Azteken, der Verschleiß menschlicher Arbeitskräfte im Pyramidenbau der Pharaonen, die Grausamkeiten des Nebukadnezar – wobei dahingestellt bleiben soll, was von diesen Bildern historischer Wirklichkeit oder feindlicher Greuelpropaganda entsprang. Wir sollten gewiß das faktische Vermögen despotischer Herrscher, die von ihnen beherrschten Gesellschaften zu durchdringen und die von ihnen getroffenen Entscheidungen „logistisch zu implementieren“, nicht überschätzen22. […]

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In Anlehnung an Michael Manns wichtige Unterscheidung von „despotischer“ und „infrastruktureller“ Macht, die er eben im Zusammenhang einer Erörterung der vergleichenden Untersuchung archaischer Imperien einführt (vgl. Ders., Geschichte der Macht [wie Anm. 19], 278 f.).

I. HEILIGE ORTE UND MACHT

THE SACRED WITHIN THE PROFANE AND THE PROFANE WITHIN THE SACRED On the Functions of the Temples of Jinlong si dawang in Late Imperial China Andreas Berndt INTRODUCTION In a still important article published in the Encyclopedia of Religion and Ethics from 1913 Nathan Söderblom stated: Holiness is the great word in religion; it is even more essential than the notion of God. Real religion may exist without a definite conception of divinity, but there is no real religion without the distinction between holy and profane.1

Many other famous contemporary or later scholars in the field of religious studies shared his opinion and published similar ideas, for instance Émile Durkheim2 or Mircea Eliade3, to name just two of the classics. Several further names may be easily added4. Although all of them dealt with the sacred from different angles, their basic argument on the nature of the religious may be summed up in a dichotomy between the realm of the sacred and the realm of the profane. However, if we go into detail it is, of course, not that simple. Despite the deep impact of Nathan Söderblom’s idea to look for the very core of every religion not by defining it by a “notion of God”, but by the just mentioned couple of the sacred and the profane, the study of religions did not come to its final point, but opened up to numerous new 1

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Nathan Söderblom, Holiness (General and Primitive), in: Encyclopædia of Religions and Ethics, Vol. VI (Fiction–Hyksos), ed. by James Hastings, Edinburgh 1913, 731–741, here 731. On the same page Söderblom goes on: “The idea of God without the conception of the holy is not religion (F. Schleiermacher, Reden über die Religion, Berlin 1799). Not even the mere existence of the divinity, but its mana, its power, its holiness, is what religion involves.” See for instance Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt a. M./Leipzig 1998 and Mircea Eliade / Eva Moldenhauer, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen (Insel-Taschenbuch 2242), Frankfurt a. M. 1998; Mircea Eliade, The Sacred and the Profane. The Nature of Religion. New York 1956 and Mircea Eliade, Patterns in Comparative Religion, London 1958. See for instance Émile Durkheim / Ludwig Schmidts, Die elementaren Formen des religiösen Lebens [Reprint] (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1125), Frankfurt a. M. 2005 and Émile Durkheim, The Elementary Forms of the Religious Life, London 71971. For a first reading in this broad field the numerous introductions into religious studies published during the last years may be helpful, e. g., Carsten Colpe, The Sacred and the Profane, in: The Encyclopedia of Religion, Vol. 11, ed. by Mircea Eliade, New York 1993, 511–526. For a collection of some basic articles see Die Diskussion um das “Heilige”, ed. by Carsten Colpe (Wege der Forschung 305), Darmstadt 1977.

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tracks to be followed. With this in mind the present paper is intended to present some observations on two former temples in Shanghai dedicated to the deity of Jinlong si dawang 金龍四大王 and it will connect them with some results from previous works accomplished within the research group “Sacrality and Sacralization in the Middle Ages and the Early Modern Age. Intercultural Perspectives in Europe and Asia” based at Friedrich-Alexander University Erlangen-Nürnberg (FAU)5. However, before going into details it may be good to start in Datian Road, Datian lu 大田路, a small alley in Jing’an District, Jing’an qu 靜安區 within the city of Shanghai. Above one of the numerous tiny shops there (at house number 500) one may find a stone with an inscription that reads “dawangmiao 大王廟” or “Great King Temple” and that is probably the very last remaining part of a temple that today can still only be found in historic documents. Actually, there have been two Great King Temples in this area under different names called Temple of the Tongji Dragon King (Tongji longwangmiao 通濟龍王廟) or Old Sluice Great King Temple (Laozha dawangmiao 老牐大王廟) on the one hand, and New Sluice Great King Temple (Xinzha dawangmiao 新閘大王廟) on the other. These temples – once sacred places – have been torn down some decades ago6, but it is still helpful to visit the original places and to experience a bit of their surrounding areas – the space “in front of the temples”, the “pro-fanum”, the profane as one may say, in order to get a feeling of how the temples may have been nestled into their environment and how the realms of the sacred and the profane in this very case have been interconnected in geographical, political, economic, and social terms. The following pages attempt to find answers to this question. The paper will start with a short overview of the general setting, namely the city of Shanghai 上海 and the greater Jiangnan 江南 area in late and post imperial times. It will then provide a closer discussion of the temples mentioned above in terms of their architectural history, the people connected to these temples, and the presumed purposes for veneration of the great king(s) and other deities within them. Finally, a short conclusion will sum up the results of this paper. The study is based on a combination of different materials, especially historical and modern local gazetteers and local legends.

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Andreas Berndt, Der Kult der Drachenkönige (longwang) im China der späten Kaiserzeit, Dissertation, Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften, Universität Leipzig, Leipzig 2014; Andreas Berndt, Heiligkeitskonzeptionen im spätkaiserzeitlichen China. Die Drachenkönige (longwang) im Spiegel zweier Werke der traditionellen Literatur, in: Sakralität und Sakralisierung: Perspektiven des Heiligen, ed. by Andrea Beck / Andreas Berndt (Beiträge zur Hagiographie 13), Stuttgart 2013, 141–175, esp. 170–175. For more information about this group see their homepage: http://www.sakralitaet.uni-erlangen.de. This is the result of inquiries by the author on March 1st, 2016 with some elderly people living in this area who could still remember the temples from their youth.

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THE GENERAL SETTING The temples were situated in late imperial Shanghai, a place that today is widely known as being one of the biggest, most exiting and most vibrant cities worldwide. In earlier centuries, however, the situation was very much different and Shanghai7, literally the place “upon the sea”, was not much more than a small fishing town and one of the numerous minor local centres within the Jiangnan area8. Jiangnan as such, on the other hand, has been one of the most important areas of imperial China at least since the Song 宋 dynasty (960–1278) in terms of economic wealth, cultural refinement, and population numbers. The two major cities of Jiangnan – the name means “south of the [Changjiang 長江] river” – at these times were Hangzhou 杭州 and Suzhou 蘇州9. As Linda C. Johnson pointed out, the emergence of Shanghai started somewhere between 1685 and 184010, after the local centre of these times, the nearby Qinglongzhen 青龍鎮, declined due to silting of the Huangpu river, Huangpujiang 黃浦江, and the Suzhou creek, Suzhouhe 蘇州河11, and after Ming 明 dynasty (1368–1644) prohibitions on maritime traffic had been reversed12. The real rise of this city, however, was strongly connected to the second half of the Qing 清 dynasty (1644–1911). In this period a “dramatically increasing commercialization”13 demanded a well-operating harbour in the economically important Jiangnan area, 7

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Obviously even contemporary people of the late Qing dynasty recognised the big changes of their city. Cf. for instance the statement of the local gazetteer of the Tongzhi era: “It has been said, that the Shanghai of today is not the Shanghai of the former days.” – Shanghai xianzhi 上 海縣志 (Tongzhi 同治 11 [1872/73]), Zhongguo fangzhi congshu 中國方志叢書 (Huazhong difang 華中地方), Vol. 169, Taipei 台北: Chengwen chubanshe 成文出版社, reprint Minguo 民國 64 [1975], xu 序, 3a, reprint 5: “或曰今之上海非昔之上海也.” Linda C. Johnson, Shanghai. An Emerging Jiangnan Port, 1683–1840, in: Cities of Jiangnan in Late Imperial China, ed. by Linda C. Johnson (SUNY Series in Chinese Local Studies), Albany 1993, 151–181, here 154 (cf. also 156). Of course, one may also add the city of Nanjing 南京 that served as the capital of the Chinese state in early Ming and during the Republican era. Johnson, Shanghai (see footnote 8), 180. Ibid., 155. See also Mark Elvin, Market Towns and Waterways. The County of Shang-hai from 1480 to 1910, in: The City in Late Imperial China, ed. by G. William Skinner (Studies in Chinese Society), Stanford, CA 1977, 441–473, here 441. Johnson, Shanghai (see footnote 8), 155–156. Ibid., 180. According to Roland Altenburger the rise of Shanghai was also very strongly stimulated by the influence of western powers during the 19th and 20th century: “Die Britische und die Französische Konzession entstanden in dem unbesiedelten Gebiet nördlich der ummauerten Stadt, das östlich durch den Huangpu-Fluss und nördlich durch den Suzhou-Fluss begrenzt war. Durch die aus heutiger chinesischer Sicht «ungleichen» Verträge wurde ab 1843 die Basis für die Gründung ausländischer Konzessionen geschaffen, die während rund eines Jahrhunderts Bestand hatten. Sie bildeten die Voraussetzung für die Entwicklung der Stadt Schanghai zu einer Metropole mit weltweiter Ausstrahlung und zur Speerspitze der chinesischen Moderne.” – Roland Altenburger, Die Freiheit fremder Herren. Das Image von Abenteuer und Verruchtheit – Shanghai im Jahrhundert der Konzessionen, 1843 bis 1943, in: Neue Züricher Zeitung 253 (October 10, 2010), 62.

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which consequently lead to the development of Shanghai into the world-renowned port city of today. One of the main factors for the economic strength of the Jiangnan area that by now has been lasting for approximately half a millennium is its highly complex hydraulic system of bigger and smaller waterways within the delta of the Changjiang or Yangzi river, Yangzijiang 揚子江. As George B. Cressey once wrote: “The Yangtze Plain is a land of rivers and canals”14. The river system of the area indeed strongly resembles a fisher net that has been thrown over the landscape and “provided a splendid highway through the length of the region”15. Thus, it may be no wonder that a river deity like Jinlong si dawang who actually is the Great King mentioned in the beginning became an important figure within the local pantheon, and so in Shanghai as well as in other places of this area temples dedicated to him can be found16. THE TEMPLES The temples of Jinlong si dawang, or the Old respectively the New Sluice Great King Temple, were situated at the banks of the Wusong river, Wusongjiang 吳淞江, which is also known as Suzhou Creek. In the local gazetteer of Shanghai issued in the 19th year Jiaqing 嘉慶 [1814/15] we may read: The Tongji Dragon King Temple: Today it is called the Great King Temple; it is situated at the Old Sluice of Wusong […] There is another temple: a great one east of the New Sluice of the Wusong.17 14 15 16

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George B. Cressey, China’s Geographic Foundations. A Survey of the Land and its People, New York, London 1934, 283. Ibid., 283. Jinlong si dawang was an important river deity of Ming and Qing dynasty along the major river systems of the Yellow River or Huanghe 黃河 and the Changjiang river as well as the Grand Canal connecting the Jiangnan area with the imperial capital of Beijing 北京. Literature on Jinlong si dawang in western languages is rather sparse. One of the very few works is Dodgen, Randall A., Hydraulic Religion: ‘Great King’ Cults in the Ming and Qing, in: Modern Asian Studies 33,4 (1999), 815–833. For examples of the more abundant Chinese works see Chu Fulou 褚福樓, Ming Qing shiqi Jinlong si dawang xinyang dili yanjiu 明清時期金龍四大王 信仰地理研究: Research on Geography of the Jin Long Si Da Wang Diffused Religion in Ming and Qing Dynasties, Shuoshi xuewei lunwen 碩士學位論文 [Master thesis], Ji’nan Daxue 暨 南大學, Guangzhou 廣州 2010; Shen Hao 申浩, Jin shi Jinlong si dawang kao 近世金龍四大 王考: Guanmin hudong zhong de minjian xinyang xianxiang 官民互動中的民間信仰現象, Shehui Kexue 社會科學, 4 (2008), 161–190; Wang Yuanlin 王元林 / Chu Fulou 褚福樓, Guojia jisi shiye xia de Jinlong si dawang xinyang, in: 國家祭祀視野下的金龍四大王, in: Ji’nan Xuebao 暨南學報 Journal of Ji’nan University (Zhexue shehui kexue ban 哲學社會科 學報 Philosophy and Social Sciences), 2 (2009), 209–214; Wang Yun 王雲, Ming Qing shiqi Shandong yunhe quyu de Jinlong si dawang chongbai 明清時期山東運河區域的金龍四大王 崇拜, in: Minsu yanjiu 民俗研究, 2 (2005), 126–141 and Zhang Xiaohong 張曉虹 / Cheng Jiawei 程佳偉, Ming Qing shiqi Huanghe liuyu Jinlong si dawang xinyang de diyu chayi 明清 時期黃河流域金龍四大王信仰的地域差異, in: Lishi dili 歷史地理, 25 (2001), 238–257. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Jiaqing 嘉慶 19 [1814/15]), juan 7 (tanmiao 壇廟), 8b–9a: “通濟 龍王廟今稱大王廟在吳松老牐[…]又別廟一大吳松新牐東.”

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Thus, both temples obviously have been built near the local waterways at sluices that as such probably have been crucial places for boats passing these points18. Local gazetteers of modern times Shanghai even provide the addresses of the former Old and New Sluice Great King temple. For the first temple one may read: It is situated at today’s No. 7 Xiamen Road, Xiamenlu 廈門路. It faces the Wusong river (at the southern ramp of Fujian Road Bridge, Fujianluqiao 福建路橋, at Suzhou creek).19

For the second temple there is the following entry: It has been moved from the north of the sluice to today’s No. 1037 Chengdu North Road, Chengdubeilu 成都北路, within the area of [Xinzha distict].20

Thus, it is still possible to find both temples on a map of present-time Shanghai. Unfortunately, since they were closed down during the first decades of the People’s Republic of China, the actual temples do not exist anymore. Several local gazetteers, however, at least provide some basic information about the architectural history of both temples and although the time of the very first temple built for a river deity in this area remains unknown, it can at least be maintained that presumably there was a temple as early as the 10th century. The Jiaqing gazetteer records a short historical overview on the Old Sluice Great King Temple: Tradition has it that when the Qian 錢 clan had a state a temple already existed to which this land was granted. […] In the 5th year Jingyou 景祐 of the Song [1038?], when Ye Qingchen 葉 清臣 dredged the Panlonghui 盤龍匯 he prayed to the deity and there was a response. It [= the temple] has been renovated and the oration text had been carved into stone. During Longqing 隆慶 of the Ming 明 [1567–1573], when the loyal and determined Hai Rui, Hai zhongjie Rui 海忠介瑞, built the sluice he [also] rebuilt the temple and dedicated it to Jinlong si dawang 金 龍四大王. […] In the 2nd year Shunzhi 順治 of the present dynasty [1645/46] the title xianyou tongji 顯祐通濟 had been added. There is another temple: It has been built east of the sluice during the time when the sluice had been constructed. In the 18th year Jiaqing 嘉慶 [1813/14] the persons Wu 吳, He 何, Pan 潘 and Xu 徐 initiated donations and moved [the temple] to the west of the sluice.21

This first sentence probably refers to the state of Wuyue 吳越, ruled by the house of Qian 錢 in the 10th century. Around one century later, probably in the year 1038, 18

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Cf. the depiction of the New Sluice Great King Temple from the early 20th century in: Shanghai zhi jianzhu 上海之建築: Jinlong si dawangmiao 金龍四大王廟, [Tuhua ribao 圖畫日報, (1909)], Fragment taken from “Li Yunkun de boke 李雲昆的博客”, http://blog.sina.com.cn/s/ blog_73e9bf320100ubjr.html (Accessed October 1, 2016). However, it cannot be verified if the temple indeed looked the way it is drawn in this paper. Huangpu quzhi 黃浦區志, ed. by Shanghai shi Huangpu quzhi bianzuan weiyuanhui 上海市黃 浦區志編纂委員會, Shanghai 上海 1996, 1116: “在今廈門路7號,面朝吳淞江(蘇州河福 建路橋南堍)”. Jing’an quzhi 靜安區志, ed. by Qu Jun 瞿鈞 and Shanghai shi Jing’an quzhi bianzuan weiyuanhui 上海市靜安區志編纂委員會, Shanghai 上海 1996, 824: “從閘北移至境内今成都北 路1037號).” Shanghai xianzhi 上海縣志 (Jiaqing 嘉慶 19 [1814/15]), juan 7 (tanmiao 壇廟), 9a: “相傳錢 氏有國已廟食茲土[…]宋景祐五年葉清臣濬盤龍匯禱神有應重新之刻祭文於石明隆慶問 海忠介瑞筑牐時重建奉金龍四大王[…] 國朝順治二年加顯祐通濟封號又別廟一大吳松 新牐東筑牐時建嘉慶十八年吳何潘徐姓等倡捐移建牐西.”

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the temple was rebuilt or at least underwent a major repair22. What is important about these data is that they not only provide some hints on the question since when a temple dedicated to a river deity has been existing at this place, but also ascertain that this temple even existed long before the downfall of the Song dynasty and thus long before the lifetime of a person named Xie Xu 謝緒 who according to later legends is said to be the historical figure behind Jinlong si dawang23. Thus, the temple at this early time has probably been that of a local water deity called the Dragon King, longwang 龍王24, while the suffix tongji 通濟 that was added to his name means something like “crossing the river”25. The next entry in this timeline is recorded for the second half of the 16th century when the local official Hai Rui 海瑞 did not only repair the sluice of this place, but now also dedicated the temple to Jinlong si dawang26. Hai Rui actually is a promi22

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Shanghai xianzhi 上海縣志 (Jiaqing 嘉慶 19 [1814/15]), juan 7 (tanmiao 壇廟), 9a. The given year of 1038 is problematic since it refers to the “5th year Jingyou 景祐 of the Song”. Although Jingyou was one of the era names of emperor Renzong 仁宗 (reign 1022–1063) it actually lasted for only four years. In 1038 the era name has been changed into Baoyuan 寶元. Xie Xu (died 1276) is said to be a native of Anxi 安溪 and a nephew of a Song dynasty empress of the same surname. According to legend, as an upright and loyal scholar of the Song he committed suicide in the Tiao 苕 river when he realized that the dynasty was about to collapse in the face of the Mongol invasion but later suddenly appeared as a river deity during a battle of the future Ming emperor Zhu Yuanzhang 朱元璋 helping him to fight the fleet of the Yuan 元 troops. Thus, he enjoyed imperial favours during the Ming and Qing dynasty and amongst others was granted the title of Jinglong si dawang. – For a very short biography see Giles, Herbert A., A Chinese Biographical Dictionary, London, Shanghai 1898, 291 (No. 734) and Zhongguo renming dacidian 中國人名大辭典, ed. by Zang Lihe 臧勵龢, Taibei 臺北 Minguo 66 [1967], 1683 f. His legend is recorded in many places, for instance in Kangxi Qiantan xianzhi 康熙錢塘縣志, in: Zhong Xuelu 仲學輅 (comp.), “Jinlong si dawang cimu lu 金龍四大王 祠墓錄”, juan 卷 1 (zhuanzhi 傳志), 1a–3a, online: http://ctext.org/wiki.pl?if=gb&chapter=88 529#%E5%BA%B7%E5%9D%80%E9%8C%A2%E5%A1%98%E7%B8%A3%E5%BF%97 (Accessed April 26, 2017) which is collected as juan 卷 21 in Wulin zhanggu congbian 武林掌 故叢編 compiled by Ding Bing 丁丙 a scholar and bibliophile from late Qing dynasty Qiantang 錢塘, the city of Hangzhou of present times. Huangpu quzhi (see footnote 19), 1116. For tongji 通濟see Zhongwen da cidian 中文大辭典 The Encyclopedic Dictionary of the Chinese Language, Vol. 33, ed. by Chang Chi-yun 張其昀, Taipei 臺北 Minguo 57 [1968], 14365.3 (No. 39739.346). For the term ji 濟 refer to ibid., Vol. 20, 8580/1–8580.3 (No. 18893), esp. 8580.2, which states as one possible meaning “渡也)” (to cross [a river or a ford]). For the term tongji see also Victor C. Xiong, Emperor Yang of the Sui dynasty. His Life, Times, and Legacy (SUNY Series in Chinese Philosophy and Culture), Albany 2006, 86–89. According to him tongji was the name of one of the four canals built by emperor Yangdi 煬帝 of the Sui 隋 (569–618, reign from 604) that later became to be known as the Grand Canal, dayunhe 大運河. The Tongji canal connected the Sui capital of Luoyang 洛陽 with the region of the river Huaihe 淮河. The Sui dynasty existed only about one century after the time to which the records for the oldest known temple refer. The fact that Hai Rui combined his construction work at the river with the erection (or at least rebuilding) of a temple in honour of Jinlong si dawang has been common practice in late imperial China and can be found in many places along the rivers and waterways of this time. – Dodgen, Hydraulic Religion (see footnote 16), here 829–830. Cf. Zhang/Cheng, Ming Qing shiqi Huanghe liuyu Jinlong si dawang xinyang de diyu chayi (see footnote 16), 245: “Apparently,

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nent figure of Ming dynasty. He was sent to prison by the Jiajing 嘉靖 emperor [1522–1567] due to his open criticism of the emperor and was released only after the reign came into the hands of the succeeding Longqing 隆慶 emperor. Hai Rui thus became a paramount figure of an honest and sincere Confucian official who even may risk his own life in order to fulfil his duty correctly. The local gazetteers report that even during the lifetime of Hai Rui a shrine to his honour had been built not very far away from the Great King Temple27. In the beginning of the 19th century, in the year 1813/14, the temple had been moved to its new location28 and thus probably became what later is known as the New Sluice Great King Temple. Unfortunately the statements in the sources remain slightly vague in this respect. Further records of late imperial times probably relate to renovations and extensions of the New Sluice Great King Temple in the years of 1872/73, 1890/91 and 1893/9429. Modern local gazetteers provide some last information about how the temples of the Old and New Sluice Great King ceased in their existence: After the year 1949 the [number of] incenses and candles [of the Old Sluice Great King Temple] declined. In 1959 the temple building had been converted to another usage.30 In 1958 the religious activities [of the New Sluice Great King Temple] came to an end.31

Today both temple buildings do not exist anymore. At their original places one may today find a factory building32 and a public park. THE CLIENTS Of course, historical sources like local gazetteers do not present the whole picture of those who visited the Great King Temple for whatever possible reason. Local gazetteers are sources written by imperial officials and their staff for their internal usage, and unfortunately these are more or less the only people that handed down the written documents to depend on today33.

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because river conservancy of the Yellow river flowing though the section of Henan 河南 [province] was extremely arduous, in many cases officials did not consider conservancy works as just being [based on] human strength, but even more as being merit [achieved by] the help of divine powers.” (可見, 由於流經河南段的黃河河防任務極為艱巨, 因此官員們多將河防不僅視為 人力所為,更看作是神靈佑助之功). Shanghai xianzhi 上海縣志 (Tongzhi 同治 11 [1872/73]) (see footnote 7), juan 卷 10 (cisi 祠 祀), 23a, reprint 751. The shrine was called Hai gong shengci 海公生祠. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Jiaqing 嘉慶 19 [1814/15]), juan 7 (tanmiao 壇廟), 9a. Shanghai xianxuzhi 上海縣續志 (Minguo 民國 7 [1918]), juan 卷 12 (cisi 祠祀), 10a–10b, in: Shanghai xianxuzhi 上海縣續志 (Minguo 民國 7 [1918]). Zhongguo fangzhi congshu 中國方 志叢書 (Huazhong difang 華中地方). Bd. 14. Taipei 台北: Chengwen chubanshe 成文出版 社, reprint Minguo 民國 59 [1970], 753–754. Huangpu quzhi (see footnote 19), 1116: “1949年后香火衰落,1959年廟屋移作他用.” Qu, Jing’an quzhi (see footnote 20), 824: “1958年停止宗教活動.” Compare Shanghai shi Huangpu qu dimingzhi 上海市黃浦區地名志, ed. by Shanghai shi Huangpu qu renmin zhengfu 上海市黃浦區人民政府, Shanghai 上海 1989, 510. Cf. Berndt, Der Kult der Drachenkönige (see footnote 5), 21–26.

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As it can be extracted from the local gazetteers, there have been local or regional officials that obviously had connections to the later Great King Temples at least as early as Song dynasty. It is important to point out that in Song dynasty even an inscription had been carved containing the oration text of a local official named Ye Qingchen 葉清臣. This is quite uncommon. In many cases local gazetteers do not include similarly precious sources for such rather secondary temples. However, Ye Qingchen34 must have been a renowned official who succeeded in river engineering and management at this time and perhaps this was the reason for including his inscription into the later local gazetteers35. The second person connected to the Old Sluice Great King Temple known with his full name and biography is the already mentioned Hai Rui36 who served as an official in this area, namely as provincial governor of Yingtian, Yingtian xunfu 應 天巡撫, from 1569 to 1570 when he was forced into retirement. Thus, amongst other things he was in charge of the waterways and the temples when this region

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For a short biography see Ye Qingchen 葉清臣, in: Zhongguo lidai renming dacidian 中國歷 代人命大辭典, ed. by Zhang Huizhi 張撝之 / Shen Qiwei 沈起煒 / Liu Dezhong 劉德重, Shanghai 上海 1999, 407–408 and Zhongguo renming dacidian (see footnote 23), 1304. Ye Qingchen (1000–1049) who was born in Song dynasty Changzhou 長洲 (today part of Wuxian 吳縣) near Suzhou 蘇州 got his jinshi 進士 degree in 1024/25 later made a career by holding several posts in the Jiangnan area. One of his duties was to dredge the Panlonghui 盤龍匯, and the seaport at the mouth of the Hudu 滬瀆 river. Later he was in charge of many river construction projects and thus also managed to irrigate larger portions of arable fields. Cf. for instance the numerous titles mentioned in the beginning of his oration text. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Tongzhi 同治 11 [1872/73]) (see footnote 7), juan 卷 10 (cisi 祠祀), 21b, reprint 748. There are several biographical entries on Hai Rui included into the relevant encyclopaedias. For a start see Chaoying Fang, Hai Rui 海瑞, in: Dictionary of Ming Biography 1368–1644, Vol. I (A–L), ed. by Luther C. Goodrich / Chao-ying Fang, New York, London 1976, 474–479 (including suggestions for further reading), Hai Rui 海瑞, in: Zhongguo lidai renming dacidian 中國歷代人命大辭典, ed. by Zhang Huizhi 張撝之 / Shen Qiwei 沈起煒 / Liu Dezhong 劉 德重, Shanghai 上海 1999, 2043–2044 and Zhongguo renming dacidian (see footnote 23), 816: Hai Rui (1513–1587) was a native of the island of Hainan far in the south of Ming dynasty China who succeeded in gaining a juren 舉人 degree in 1549 but failed in the higher examination in Beijing. Later he assumed several offices in southern China and became an advocate for an incorrupt, diligent and strictly law-abiding way of working and living who did not avoid conflicts with fellow colleagues he considered to be bad officials. He even dared to criticize the emperor himself in a memorial submitted in 1565. For this he was thrown into prison and only escaped execution because of the death of the Jiajing emperor. Later Hai Rui had been pardoned and restored to his former offices. In 1570 he dredged the Wusong river and later took also care of other water construction projects in this region. For this and for his prudent way of ruling he was highly praised by the common people but also disapproved by some officials. Later Hai Rui has been forced into retirement and died several years later just after having returned to office again for a short time. Interestingly enough his mother was a born Xie 謝 and thus bore the same surname as Xie Xu who was venerated as Jinlong si dawang since Ming dynasty. It actually was Hai Rui who dedicated the former Tongji Dragon King Temple to Jinlong si dawang after the construction of the sluice at this place and he probably had been aware of the similarity of both surnames.

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suffered from a severe flood37. The sources maintain that he built a sluice at the river nearby and also rebuilt or at least repaired the adjacent temple38. But Hai Rui was not only a common local official doing just his usual duty here. As it is known from his biography he must have had connections up to the imperial throne as it is said that after his imprisonment he was pardoned by the Longqing emperor himself39. Thus, at least indirectly it can be assumed that the temple gained lots of prestige if it had been repaired by such a high ranking official (and/or had already been famous before). Other sources even give the impression that Hai Rui was considered to be very closely connected to Jinlong si dawang himself. Thus, in the Jiaqing gazetteer of Shanghai it can be read: The pre-mortem shrine, shengci 生祠, of His Honour, Mr. Hai, Hai gong 海公, is situated in the Temple of Jinlong si dawang. […] Since [emperor] Longqing 隆慶 of the Ming the loyal and determined Hai Rui, Hai zhongjie Rui 海忠介瑞, has been venerated [here].40

The high standing prestige of Hai Rui and consequently of the temple may very well have lasted for a long time (perhaps even until the end of the Chinese empire), as a passage from the modern Huangpu qu dimingzhi 黃浦區地名志 still states for the Old Sluice Great King Temple: „Although this temple is not big in size, but it is considerably wide in its impact“41. The next thing to be said about Hai Rui is that during his own lifetime he probably may have been highly renowned in this area since the nearby shrine dedicated to him had been built even before his own death. This practice must be seen as a particular way to honour him by local people that presumably did not belong to the imperial administration42. Thus, Hai Rui was not only a person who gained his prestige by his official post but probably also by some kind of personal charisma43. 37 38 39 40 41 42

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Fang, Hai Rui (see footnote 36), 476. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Tongzhi 同治 11 [1872/73]) (see footnote 7), juan 卷 10 (cisi 祠 祀), 21b, reprint 748. At least it is known that the decision to bring Hai Rui into prison came by the Jiajing emperor (cf. Fang, Hai Rui [see footnote 36], 475) and thus his release must at least have been with consent of the succeeding Longqing emperor. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Jiaqing 嘉慶 19 [1814/15]), juan 7 (tanmiao 壇廟), 14a: “海公生 祠在金龍四大王廟[…]明隆慶建祀海中介公瑞.” Shanghai shi Huangpu qu dimingzhi (see footnote 32), 510: “此廟雖規模不大,但影響頗 廣.” For a discussion of the phenomena of pre-mortem shrines in Ming dynasty see the article by Sarah Schneewind, Beyond Flattery. Legitimating Political Participation in a Ming Living Shrine, in: The Journal of Asian Studies 72, 2 (2013), 345–366, esp. 346–347. In her paper the term shengci is equally translated as pre-mortem shrine and living shrine. It describes shrines that have been built for certain officials even before their own death as a special way to pay respect and sometimes even in opposition to the official appraisal of a certain person. On the other hand pre-mortem shrines have also been abused as a measure of sycophancy and selfaggrandizement when their establishment was launched by the person to honour itself or his close dependants. However, in the case of Hai Rui it is more likely that his pre-mortem shrine indeed was a sign for public gratitude. In this respect a rather stimulating reading is the chapter on “World Religions, Elite, and Popular Religion” in Stephen Sharot, A Comparative Sociology of World Religions. Virtuosos,

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But what about those people on the other scale of the social ladder – the great majority of imperial Chinese population? From the oration text by Ye Qingchen, who by the way for himself claims to be enjoying courtly favour (tao bei chao en 叨被朝恩)44 and thus obviously belonged to the upper class, one may extract that the local peasant population highly depended on the grace of the river deity and thus we may assume that although the oration for which this text had been written was conducted by Ye Qingchen and his staff, local common people may also have attended this event and belonged to the frequent visitors of the temple. However, at least for this early time there is no evidence for the use of this temple by travellers on the river. Records about this kind of clients can only be found in sources written as late as the 20th century. While for the Old Sluice Great King Temple the statement exists that during the dragon boat races of the duanwu-Festival, duanwujie 端 午節, “crowds of visitors came together” (guanzhong yunji 觀衆雲集)45 the local gazetteer on the district of Jing’an 靜安 maintains in the case of the New Sluice Great King Temple: Among the followers that came to the temple those boat people form Jiangsu have been in the majority.46

And a slightly different passage on the same temple reads: [In the temple people] venerated Jinlong si dawang 金龍四大王; a majority of those who came to venerate and to make sacrifices were boat people from Jiangsu coming to and leaving from Shanghai.47

Traffic along the water ways in this area must have been quite intense in later times as the traditional dragon boat races of the Duanwu festival did not continue to be held at the Old Sluice Great King Temple after the end of the Republican Era due to too many boats travelling on the river:

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Priests, and Popular Religion, New York, London 2001, 3–19. Especially his general remarks on the relation between two kinds of elites (here he draws on Max Weber’s distinction between religious virtuosos and hierocracy) and their impact on an understanding of popular religion but also on the connection of religious elites and those of other backgrounds (like e. g., political elites) provide precious insights (see pages 10–12). Hai Rui seems to have covered several spheres of eliteness: As an official he did not only belong to the political and social elite of this area but was also responsible for religious affairs which – in the Weberian vocabulary – made him a part of the hierocracy. On the other hand through his personal charisma he may also be interpreted as a kind of religious virtuosos. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Tongzhi 同治 11 [1872/73]) (see footnote 7), juan 卷 10 (cisi 祠 祀), 21b, reprint 748. Huangpu quzhi (see footnote 19), 1116: “進香信徒以江蘇船民居多.” Qu, Jing’an quzhi (see footnote 20), 824. Shanghaitong wangzhan 上海通網站: Shanghai shi diqing ziliaoku 上海市地情資料庫.” Zhuanye zhi 專業志, Shanghai zongjiaozhi 上海宗教志, Di er pian daojiao 第二篇道教, Di yi zhang changsuo 第一章場所, Di er jie qita daoguan 第二節其他道觀, ed. by Shanghai shi difangzhi bangongshi 上海市地方志辦公室, http://www.shtong.gov.cn/Newsite/node2/node2245/ node75195/node75201/node75252/node75262/userobject1ai91089.html (accessed February 21, 2017): “祀金龍四大王,祀奉者多數是江蘇往來上海的船民.”

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After the end of the Republic due to the boats frequently travelling to and fro on the Wusong river, Wusongjiang 吳淞江, the custom of dragon boat competitions did not flourish again.48

Although it is of course not clear whether this is the only reason for the end of the dragon boat races or not, one may however conclude that at least in later times boat people and travellers along the numerous water ways also belonged to the common visitors of the temple and to the worshippers of Jinlong si dawang. This assumption can be further supported by a legend about the “Great King Temple” which says: At this time there had been a smart person within the Temple of the Great King at Xinzha bridge and according to traditions from all four directions there had been a clay figure of a white horse and a venerable father, but this venerable father with the horse, malaoye 馬老爺, was remarkably efficacious. Without distinguishing day and night he patrolled with his horse in the Suzhou creek and in case a boat got into wind and waves and had capsized the venerable father with the horse came to the rescue […]. Thus, year after year much incense had been burnt for the venerable father in the temple and there had been not a few boat men that organised the arrangement of large temple banquets which they brought to the Temple of the Great King as a sacrifice. […] During the first years of the Republic when the weather had been dry for a long time and no rain fell many people of course came one after another to the Temple of the Great King to pray for rain. […] At this day […] just as myriads of people moved over the Sanbanchang bridge (today’s Hengfeng-Road Bridge) the wooden railing broke because too many people had been on the bridge to visit the temple festival so that quite a few people precipitated into the creek and although rescue came immediately, still more than 10 people drowned.49

The collapse of the bridge is also mentioned in another legend with the same title50. It is noteworthy that contemporary newspapers from Shanghai indeed do report a bridge accident in the context of a procession at a “Dawangmiao” for the year 190751. An article in The North-China Herald published some years later and dealing with bridge building in Shanghai in general summarizes this incident:

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Ibid.: “民國以后,由於吳淞江中船隻往來頻繁,競賽龍舟之風俗不再興盛.” Excerpt from the legend “Dawangmiao 大王廟” in: Zhongguo minjian gushi quanshu 中國 民間故事全書: Shanghai 上海, Jing’an juan 靜安卷, ed. by Bai Gengsheng 白庚勝 / Shi Wenbin 施文斌 / Zhang Aihua 張愛華 (Zhongguo minjian wenhua yichan qiangjiu gongcheng 中 國民間文化遺產搶救工程), Beijing 北京 2011, 114–115: “當時,新閘橋大王廟裡有個聰 明的家伙,四處傳說大王廟門前,塑有一匹白馬和馬老爺,而這位馬老爺十分靈驗, 他不分晝夜騎著白馬在蘇州河內巡邏,倘若有船隻遇風浪而翻船,馬老爺會相 救,[…]. 因此,大王廟連年香火旺盛,甚者也有不少船家備為辦酒席來到大王廟裡上 供. […] 民國初年,因天氣久旱無雨,當然人紛紛到大王廟求雨. […] 隻見那天 […] 當 隊伍行至三板廠橋(即現在恆豐路橋)時,由於看廟會的人太多,擁擠到橋面上,竟 將木欄杆擠倒,落水的人不少,雖經搶救最后還有溺死了十余人.” See Zhongguo minjian gushi quanshu 中國民間故事全書: Shanghai 上海, Huangpu juan (shang) 黃浦卷(上), ed. by Bai Gengsheng 白庚勝 and Fang Ka 方卡 (Zhongguo minjian wenhua yichan qiangjiu gongcheng 中國民間文化遺產搶救工程), Beijing 北京 2011, 368– 369. Catastrophe in Sinza. Many Lives Lost, in: The North-China Herald and Supreme Court & Consular Gazette (1870–1941), Vol. LXXXVIII, No. 2078 (May 3, 1907), 283–284 and David Landale, The Municipale Council. Ta Wang Temple Procession, in: The North-China Herald and Supreme Court & Consular Gazette (1870–1941), Vol. LXXXIV, No. 2083 (July 12, 1907), 76–77.

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Andreas Berndt The oldest bridge across the Soochow Creek within many miles of Shanghai is the old ‘Stone Bridge’ at Sinza, now an interesting, but extremely inconvenient, ruin. It will be remembered that during a procession in connexion with the Dawangmiao, in 1907, a number of natives were precipitated into the creek in consequence of a portion of the parapet giving way, and about sixty people were drowned.52

As could be seen from local legends as well as from official texts, the temples of Jinlong si dawang attracted people from very different social backgrounds. They served as a link between local population, (local) officials and travelling boat people and merchants – all of them connected by the fact of being related to the rivers and canals in one way or the other53. THE PURPOSES OF THE TEMPLE According to the oration text by Ye Qingchen the temple originally had been built in honour of a river deity (who at this time still was different from Jinlong si dawang), because this deity proved to be capable of granting protection or at least relief from natural disasters, especially from floods caused by bad dikes and silted channels. Given the distinct character of the later Jinlong si dawang, there furthermore are reasons to believe that this function did not change until the end of imperial China or perhaps later. Thus, similar purposes of the temple are mentioned in later local gazetteers as well: In this temple [the Old Sluice Great King Temple] Jinlong si dawang had been venerated as the main [deity] to guard against and to control the waters of the Wusong river, Wusongjiang 吳淞 江 and [for the purpose] that there will be not disasters.54

But the purposes for veneration of this river deity have been even more than just the hope for magical protection. As the text states, the efficacy of the deity also included its help in setting up suitable measures of human river conservancy constructions. The deity obviously had been believed to be helpful in building and sustaining dikes, channels, and the like,55 and it should also be remembered that in later times when the temple finally was dedicated to Jinlong si dawang by Hai Rui, this happened in the context of building a new sluice at this place. Unfortunately, the purpose for building the sluice remains unknown. It may have been in order to manage a better river control, for reasons of irrigation, for improving the navigabil-

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Bridge Building in Shanghai. Some Records and Expectations, in: The North-China Herald and Supreme Court & Consular Gazette (1870–1941), Vol. C, No. 2296 (August 12, 1911), 418–419. See also Chu, Ming Qing shiqi Jinlong si dawang xinyang dili yanjiu (see footnote 1), 49. Shanghaitong wangzhan (see footnote 46): “該廟主要祀金龍四大王, 以鎮治吳淞江水,不 致為患.” A similar opinion is advocated in Zhang/Cheng, Ming Qing shiqi Huanghe liuyu Jinlong si dawang xinyang de diyu chayi (see footnote 16), 245.

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ity of the river or in terms of flood protection56. However, temples have not only been used for helping in terms of granting divine technical support but also to serve administrational tasks. From a local gazetteer compiled under the Guangxu 光緒 emperor, probably in the 6th year Daoguang 道光 [1826/27], one may learn that the Jiangsu [province] Sea Transport Bureau, Jiangsu haiyun ju 江蘇海運局, had been established within the Hall of the Wind Deity, fengshendian 風神殿, which itself was part of a Dragon King Temple, longwangmiao 龍王廟57. Although this source is not precise in its statement, this Dragon King Temple may be the one of the Tongji Dragon King discussed before. Setting up an office in charge of transport by sea seems to be very practical at this place, since the dragon king (as an important water deity) and the wind deity do combine the very two elements crucial for every maritime shipping. And it has been quite common practice to use temples, which themselves are something like the official seat of a deity in the bureaucratic-like Chinese pantheon,58 for the purpose of establishing offices for local authorities, as can be seen in numerous other examples59. As another aspect, it was probably believed that while taking care of these river constructions the deity also managed to turn marshes into arable land. Thus, it gave an opportunity to the local peasants to make their living by cultivating and harvesting fields and thus to pay taxes which amongst other things could be used to maintain engineering works along the many waterways in this region. Thus, the river deity of this (and probably other) temples played a crucial role in upholding not only river-related constructions, but also the political, economic and social order of the whole Jiangnan area – one of the core areas during the entire second half of imperial China. 56

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The Chinese character for sluice that in later times became part of the temple’s name is actually rather picturesque. While earlier sources do use the version zha 牐, later sources normally choose the variant 閘 showing as frame the character men 門 (door) that with a little phantasy easily can be identified as depicting some kind of a two-wing door. Within these two wings we find another character, namely jia 甲 which does not only serve as a phonetic marker but also strongly resembles some kind of gate that can be moved up and down in order to open or close the sluice. Songjiang fuxuzhi 松江府續志 (Guangxu 光緒 9 [1883/84]). Zhongguo fangzhi congshu 中國 方志叢書 (Huazhong difang 華中地方). Bd. 143. Taipei 台北: Chengwen chubanshe 成文出 版社, reprint Minguo 民國 63 [1974], juan 卷 10 (jianzhi zhi 建置志), tanmiao 壇廟, 14a, reprint 995. See Berndt, Der Kult der Drachenkönige (see footnote 5), 181; Andreas Berndt, Pilgrimage in the Chinese Province. Rituals of Fetching the Water (qushui) in Late Imperial Shanxi, in: Unterwegs im Namen der Religion, Bd. 2 / On the Road in the Name of Religion, Vol. 2: Wege und Ziele in vergleichender Perspektive – das mittelalterliche Europa und Asien / Ways and Destinations in Comparative Perspective – Medieval Europe and Asia, ed. by Klaus Herbers / Hans-Christian Lehner (Beiträge zur Hagiographie 17), Stuttgart 2016, 277–293, here 292 and Yuan Li 苑利, Huabei diqu qiyu huodong zhong qushui yishi yanjiu 華北地區祈雨活 中動取水儀式研究, Minzu yishu 民族藝術, 2 (2001), 96–121, here 97. Cf. Dodgen, Hydraulic Religion (see footnote 16), here 830. See also Iwo Amelung, Der gelbe Fluß in Shandong (1851–1911). Überschwemmungskatastrophen und ihre Bewältigung im China der späten Qing-Zeit (Opera Sinologica 7), Wiesbaden 2000, 208 f.

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Last but not least the temples have been used by travellers on the wide range of waterways in the Jiangnan area, especially boat people. Although this group of people is hard to be caught in traditional sources like local gazetteers, there is evidence for their veneration of Jinlong si dawang in the legends cited earlier in this article. For instance the venerable father with the horse is depicted as a divine rescuer for those who met calamities during their voyage along the rivers and thus became an important figure for attracting visitors to the temple of Jinlong si dawang60. But there are other sources, too, that provide information about these people61. By comparison with temples of Jinlong si dawang from other places it can be extrapolated that the main purpose of venerating this deity was the hope that it may protect the boat people from the numerous dangers along the rivers62. SUMMARY AND CONCLUSION This paper argues that the two places of the Old and New Sluice Great King Temple have been interconnected to their environmental setting in various respects: Geographically they have been related to the nearby Wusong river and thus Jinlong si dawang as the main deity of both temples has been ascribed responsibility for this river. The political interconnection to this area has been established by important regional or local officials63 who took care of the temples and deployed them for supporting their purposes with regard to river control and river engineering64. Economically the temples have been used to gain divine protection for important constructions such as the sluice at the Wusong river, which were intended to help controlling the river as an important transport route in late imperial times as well as to secure the fields along the rivers from floods and thus to support agriculture in this very fertile area of China. Finally, in social terms the temples did obviously serve the itinerant boat people along the rivers. Here, they could pray to the deity of Jinlong si dawang in order to ask for protection, but they could also use temples like those discussed here as a stopover on their journeys as well as a place to organise gatherings like the temple festivals mentioned before that also attracted many people from this area itself and thus played an important role in the course of a year and the local social life. All these functions have been made possible by some kind of power the deity possessed. This (magical) power or efficacy is called ling 靈 in the 60 61 62

Zhongguo minjian gushi quanshu: Shanghai 上海, Jing’an juan (see footnote 49), 115. Cf. Qu, Jing’an quzhi (see footnote 20), 824 and Shanghaitong wangzhan (see footnote 47). Cf. for instance Chu, Ming Qing shiqi Jinlong si dawang xinyang dili yanjiu (see footnote 16), 48 and Wang, Ming Qing shiqi Shandong yunhe quyu de Jinlong si dawang chongbai (see footnote 16), 127–128. 63 For a general discussion of the relation between local officials and a certain region see Anne Gerritsen, Ji’an Literati and the Local in Song–Yuan–Ming China (China Studies 13), Leiden 2007. 64 For the special case of officials serving as river engineers in Qing dynasty see Randall A. Dodgen, Controlling the Dragon. Confucian Engineers and the Yellow River in Late Imperial China. Honolulu 2001.

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Chinese language. It is one of the fundamental concepts for understanding Chinese religion as well as the notion of the sacred in the Chinese context and thus it may help to contextualize and to understand basic ideas behind the function of the temples and the very deity in this article65. The term ling in the context of the temples discussed here has been mentioned as early as in the oration text by Ye Qingshen where he wrote: Because the deity is efficacious, ling 靈, […] he [Ye Qingchen] dared to announce that there will be no wind and snow and there will be no plague or scrofula.66

It was also this ling-power that helped the Temple of the Tongji Dragon King / the Old Sluice Great King Temple to flourish during the following centuries by gaining the attraction of so powerful people like Hai Rui, but also by attracting so many visitors that legend even tells the story of a collapsing bridge railing during a procession because of too many visitors having been on their way to a temple festival. And by the way: The legend about the Great King Temple ends with the following explanation concerning the decline of the temple in the 20th century: The whole case worried the Jade Emperor, Yuhuang dadi 玉皇大帝. The Jade Emperor blamed the Great Dragon King No. 4 of the Eastern Sea, Donghai si dalongwang 東海四大龍王, for the disaster during the arrangement of the festival and dispatched someone to detain the Great King No. 4 of the Eastern Sea, Donghai si dawang 東海四大王, and to imprison him in the

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For some literature on the term ling the following titles should be sufficient for a first reading: Adam Y. Chau, Miraculous Response. Doing Popular Religion in Contemporary China, Stanford CA 2006; Philip Clart, Die Religionen Chinas (Studium Religionen 3260), Göttingen 2009, 178; Paul S. Sangren, History and Magical Power in a Chinese Community, Stanford CA 1987 (the entire book is a thorough interpretation of this term) and Paul S. Sangren, History and the Rhetoric of Legitimacy: Ma Tsu Cult of Taiwan, in: Comparative Studies in Society and History 30, 4 (1988), 674–697, esp. 683–686; on page 684 Sangren writes: “Sometimes likened by observers to the once widely discussed idea of mana, ling is one of the key concepts uniting Chinese culture and religion. In brief, ling is a kind of magical efficacy attributed to supernatural entities of all sorts – gods, ghosts, ancestors, and so forth. Moreover, it is a relative quality: Some gods and ghosts are more ling than others. […] Ling can change over time; some deities lose their ling, while that of others increases”. According to Sangren valid parameters for the ling quality of a certain deity, temple etc. are the numbers of visitors and the amount of donations they are able to accumulate. For the work of Adam Chau see page 2 of his book: “At the core of Chinese popular religion is the concept of magical efficacy (ling), which is conceived of as a particular deity’s miraculous response (lingying) to the worshiper’s request for divine assistance (granting a son, granting magical medicine, bringing rain, resolving a dilemma through divination, granting prosperity, etc.). However, these miraculous responses are socially constructed: it is people and their actions that enable the establishment of human-deity relations and interactions.” However, the present paper only is intended to give a short overview on a small case study. In no way it is suited to present broader generalizations. Nevertheless, it is the hope of the author that the cases of the New and Old Sluice Great King Temple may provide some preliminary insight into how to understand notions of the sacred within the field of late imperial Chinese popular religion. Shanghai xianzhi 上海縣志 (Tongzhi 同治 11 [1872/73]) (see footnote 7), juan 卷 10 (cisi 祠 祀), 22a, reprint 749: “神果有靈主斯蓄洩敢告無風雪無瘥癧.”

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Andreas Berndt foundation of the Xinzha bridge. Since these times the bodhisattvas of the Great King Temple are no longer efficacious and incense gradually stopped burning.67

Thus, according to legend, today the two Great King Temples do not exist any more. Their temple buildings have been torn down decades ago and no remains have been left – nothing except for the stone mentioned in the very beginning. GLOSSARY OF CHINESE CHARACTERS Anxi 安溪 Baoyuan 寶元 Beijing 北京 Changjiang 長江 Chengdubeilu 成都北路 Daoguang 道光 Datian lu 大田路 dawangmiao 大王廟 dayunhe 大運河 Ding Bing 丁丙 Donghai si dalongwang 東海四大龍王 Donghai si dawang 東海四大王 duanwujie 端午節 fengshendian 風神殿 Fujianluqiao 福建路橋 Guangxu 光緒 guanzhong yunji 觀衆雲集 Hai gong shengci 海公生祠 Hai gong 海公 Hai Rui 海瑞 Hai zhongjie Rui 海忠介瑞 Hangzhou 杭州 He (surname) 何 Henan 河南 Huaihe 淮河 Huanghe 黃河 Huangpu qu dimingzhi 黃浦區地名志 Huangpujiang 黃浦江 Hudu 滬瀆 jia 甲 Jiangnan 江南 Jiangsu haiyun ju 江蘇海運局 Jiaqing 嘉慶 Jiaqing 嘉慶 Jing’an qu 靜安區 Jingyou 景祐 67

Jinlong si dawang 金龍四大王 jinshi 進士 juan 卷 juren 舉人 Laozha dawangmiao 老牐大王廟 ling 靈 Longqing 隆慶 longwang 龍王 longwangmiao 龍王廟 Luoyang 洛陽 malaoye 馬老爺 men (door) 門 Ming 明 Nanjing 南京 Pan (surname) 潘 Panlonghui 盤龍會 Qian 錢 Qing 清 Qinglongzhen 青龍鎮 Renzong 仁宗 Shanghai 上海 shengci 生祠 Shunzhi 順治 Song 宋 Sui 隋 Suzhou 蘇州 Suzhouhe 蘇州河 tao bei chao en 叨被朝恩 Tiao (river) 苕 Tongji longwangmiao 通濟龍王廟 tongji 通濟 Wu (surname) 吳 Wulin zhanggu congbian 武林掌故叢編 Wusongjiang 吳淞江 Wuyue 吳越 Xiamenlu 廈門路

Zhongguo minjian gushi quanshu: Shanghai, Huangpu juan (shang) (see footnote 49), 369: “這 樁事體驚動了玉皇大帝, 玉皇大帝責怪東海四大龍王為了出會闖出這場窮禍,就派人將 東海四大王捉起來,鎖在新閘橋的橋基上, 從此以后, 大王廟的菩薩就不靈了, 香火也慢 慢冷落了”.

The Sacred within the Profane and the Profane within the Sacred xianyou tongji 顯祐通濟 Xie (surname) 謝 Xie Xu 謝緒 Xinzha dawangmiao 新閘大王廟 Xu (surname) 徐 Yangdi 煬帝 Yangzijiang 揚子江

Ye Qingchen 葉清臣 Yingtian xunfu 應天巡撫 Yuan 元 Yuhuang dadi 玉皇大帝 zha (sluice) 牐 zha (sluice) 閘 Zhu Yuanzhang 朱元璋

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ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE Bemerkungen zur mittelalterlichen Herrschaftskosmologie in Japan Daniel F. Schley 1. VORSTELLUNGEN SAKRALER HERRSCHAFT IM MITTELALTERLICHEN JAPAN Wer eigentlich im mittelalterlichen Japan herrschte, was Herrschaft ausmachte und wie diese wahrgenommen wurde, wird in letzter Zeit in und über Japan hinaus wieder kontroverser diskutiert1. Das ältere Schema, demzufolge die nominellen Könige, deren Nachfahren heute weiterhin das Amt der „himmlischen Herrscher“ (天 皇 tennō, auch sumera mikoto)2 besetzen, die eigentlichen Machthaber einsetzten und durch ihre ideelle, das heißt vor allem religiöse Autorität legitimierten, hat lange Zeit Beschreibungen von vormoderner Herrschaft in Japan bestimmt3. Die Dynastie wusste sich auf göttliche Ahnen zurückzuführen und wies eine Genealogie vor, die in den ersten beiden erhaltenen Geschichtswerken, den „Aufzeichnungen alter Begebenheiten“ (古事記 Kojiki, 712) und der Chronik Japans (日本書紀 Nihon shoki, 720) bis auf die mythischen Ursprünge der kosmischen Bildung Japans schriftlich fixiert worden war. Von dieser Dynastie allein durfte den Herrschaftsmythen nach das Königsamt besetzt werden, wodurch dem Reich und seinen Menschen Wohlstand und übernatürlicher Schutz zukam. Nur ihnen hatte die Ahnengottheit Amaterasu (天照大神) den Segen und das Versprechen gegeben, für alle Zeit den Fortbestand Japans zu garantieren. Der klassische Ausdruck dafür, wie er in der höfischen Selbstwahrnehmung und historiographischen Werken vorkommt, bezeichnete den Hof mit seinen Herrschern und im weiteren Sinne das Reich insgesamt als ein Götterland (神国 shinkoku / kami no kuni). In dieser allgemeinen Fassung war er Ausdruck für das Nahverhältnis, in dem sich die Tennō und mit ihnen die höfische Elite zu den göttlichen 1

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Zur neuen Forschung stellvertretend Kond ō Shigekazu, Kamakura jidai seiji kōzō no kenkyū, Tōkyō 2016, Uejima Susumu, Nihon chūsei shakai no keisei to ōken, Nagoya 2010. Auch sei hier auf die laufende Forschung des Bonner SFB 1167 zu vormodernen Phänomenen von „Macht und Herrschaft“ in transkultureller Perspektive verwiesen, an dem die Japanologie mit einem Teilprojekt zum Mittelalter vertreten ist. Im Folgenden steht Tennō für den amtierenden Herrscher, „König“/„Herrscher“ allgemein, also auch für die abgedankten aber weiterhin politisch aktiven ehemaligen Tennō oder die adeligen Regenten und Shōgune. Historisch waren während des Mittelalters andere Titel gebräuchlich. Die heutige Übersetzung mit „Kaiser“ ist m. E. ungeeignet für das historische Amtsverständnis in Japan. Dazu bereits George Sansom, A History of Japan to 1334, London 1958, 150 f.

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Mächten selbst sah. Ihnen oblag die wichtige Funktion, nicht allein durch eine von den Tang übernommene bürokratische Verwaltung das Reich zu beherrschen, sondern zugleich durch diverse zeremonielle Aktivitäten für Frieden und Wohlstand zu sorgen. Im Fall von Katastrophen sollten Gebete und Gaben an die Tempel und Schreine die Ahnen- und Schutzgottheiten (神 kami) sowie die buddhistischen Wesen (Buddha, Bodhisattva) versöhnen, damit die kosmische Ordnung wieder ins Gleichgewicht komme. Herrscher und Hofadel bildeten das sakrale Zentrum im Reich, indem sie Erde und Himmel miteinander vermittelten. Die Peripherie der entfernteren Provinzen galt demgegenüber als unrein und von Dämonen bevölkert4. Zusammengefasst beriefen sich die Tennō auf ihre göttliche Abstammung, verstanden sich als Repräsentanten übernatürlicher Mächte und erfüllten priesterähnliche Funktionen. Weiter noch zeichneten sie sich durch den Besitz heiliger Herrschaftszeichen aus, sie waren Regeln zur Vermeidung kultischer Verunreinigung (穢 kegare) unterworfen und sie inszenierten sich als Beschützer religiöser Gemeinden und Bewahrer der kosmischen Ordnung. Unter den weltweit bekannten Beispielen sakraler Herrschaftskonzeptionen ist das Königtum der Tennō so besehen keine Ausnahme5. Allerdings darf man für Japan gleichfalls davon ausgehen, dass in der hier betrachteten Epoche durch die grundsätzliche Durchdringung aller Lebensbereiche mit religiösen Vorstellungen und Aktivitäten einer sakral verstandenen und ausgestalteten Herrschaft doch so etwas wie eine „gewisse Selbstverständlichkeit“ zukommt, wie Ludger Körntgen vor geraumer Zeit zum ottonisch-salischen Königtum bemerkte6. Herrschaftsformen und Praktiken waren grundsätzlich ebenso mit religiöser Bedeutung versehen und in einen übergeordneten Symbolzusammenhang eingebettet. Macht und die Mächtigen waren eng mit dem Göttlichen verbunden. Ob nun aus der „Struktur religiösen Denkens“ her logisch notwendig, wie Günter Dux es einmal herausstellte, oder doch sozialhistorisch wie kulturell kontingent, sei dahingestellt7. Eine in diesem Zusammenhang oft genannte Schwierigkeit betrifft den Nachweis königlicher Sakralität aus den materiellen und sprachlichen Zeugnissen. Das ist bereits für die Verhältnisse im mittelalterlichen Europa nicht leicht und gerät bei der Betrachtung einer nicht allein zeitlich sondern auch kulturell anderen Gesellschaft umso problematischer. Allein die immer wieder aktualisierten Diskussionen 4 5 6 7

Zum sakralen Zentrum Murai Shōsuke, Ajia no naka no chūsei Nihon, Tōkyō 1988, 112 f., ergänzend David Bialock, Eccentric Spaces, Hidden Histories. Narrative, Ritual, and Royal Authority from the Chronicles of Japan to The Tale of the Heike, Stanford 2007, 52 f., 120 f. Zu den Bedingungen von Herrschersakralität in globaler Perspektive, siehe Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, 17 f., 29 f. Ludger Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade, Berlin 2001, 27 f. Insgesamt gleichwohl anregend, Günter Dux, Die Genese der Sakralität von Herrschaft. Zur Struktur religiösen Weltverständnisses, in: Franz-Reiner Erkens (Hg.), Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 49), Berlin/New York 2005, 9–21, hier 9 f., 14.

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um Frazers Konzeption eines Sakralkönigtums oder die beunruhigende Doppeldeutigkeit von sacer sind von ihren religionshistorischen wie etymologischen Voraussetzungen allein schon zu strittig, um sie kurzerhand auch für andere Weltregionen wie Japan fruchtbar machen zu wollen8. Hier ist jedoch nicht der Ort, um näher zu bestimmen, was Sakralität in den verschiedenen Gesellschaften bedeuten kann und wie zum Zwecke einer geschichtswissenschaftlichen Analyse mittelalterlicher Herrschaftsvorstellungen mit diesem Begriff umzugehen ist. Stattdessen sei auf Überlegungen an anderer Stelle verwiesen und im Folgenden die Gültigkeit von Religion, und darin eingebettet die Zuschreibung bestimmter Erscheinungen, Handlungen und Personen als sakral, für Japan vereinfachend vorausgesetzt9. Interessanter wird es im Fall Japans, wenn es darum geht, die unterschiedlichen religiösen und nichtreligiösen Zuordnungen gemäß dem damaligen Verständnis zu betrachten und zu prüfen, in wie fern die Zeitgenossen diese selbst zu differenzieren wussten. So trennte man am Hof durchaus buddhistische Rituale von denen zur Verehrung der kami, während parallel Buddha und kami synkretistisch verbunden verehrt wurden. Ebenso hat die Forschung auf einen Wandel im Sakralcharakter der Tennō ab dem 9. Jahrhundert hingewiesen. Buddhistische Schutzriten oder Reinigungsrituale von kami Spezialisten sicherten das sakrale Zentrum um den Tennō, wohingegen die Herrscher vor der Dominanz buddhistischer Lehren noch vorwiegend selbst als Priester in Erscheinung getreten waren10. Ob aber bis zum Mittelalter von einer Verstärkung königlicher Sakralität in Kompensation für den Rückzug aus der Öffentlichkeit des politischen Alltagsgeschäfts oder ob im Gegenteil die Ausbreitung buddhistischer Jenseitsvorstellungen die Sakralität des Herrscheramtes vielmehr verringerte, bedarf weiterer Einzelentscheidungen.11. Nur hat der unleugbar religiöse Charakter des königlichen Amtes andererseits bereits dazu geführt, darin eine durch die Zeiten präsente religiöse Autorität der Tennō zu sehen und in ihr den ausschlaggebenden Grund für den Fortbestand der Dynastie trotz ihrer politischen Machtlosigkeit auszumachen. Weil die Tennō nicht 8

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Dazu schon Otto Hiltbrunner, Die Heiligkeit des Kaisers. Zur Geschichte des Begriffs sacer, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968), 1–30, hier 16 f. Auch dazu und zur Abgrenzung einer weniger spezifizierten sakralen Herrschaft vom Sakralkönigtum, Erkens, Herrschersakralität (wie Anm. 5), 28, 80 f. Für die Aktualität von Frazer in der Kulturanthropologie siehe stellvertretend die Beiträge in Declan Quigley (Hg.), The Character of Kingship, Oxford/New York 2005; Darin beispielsweise Luc DeHeusch, Forms of Sacralized Power in Africa, ebd., 25–37, 33. Vgl. die Überlegungen von Andreas Berndt, Heiligkeitskonzeptionen im spätkaiserzeitlichen China. Die Drachenkönige (longwang) im Spiegel zweier Werke der traditionellen Literatur, in: Andrea Beck und Andreas Berndt (Hg.), Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen, Stuttgart 141–175, 153 f. Allgemein Kawajiri Akio, Yureugoku kizoku shakai (= Nihon no rekishi 4), Tōkyō 2008, 68 f. So auch das Fazit zum „Gottkaisertum“ bei Nelly Naumann, Die einheimische Religion Japans. Teil 1. Bis zum Ende der Heian-Zeit, Leiden 1988, 186. Joan Piggott, The Emergence of Japanese Kingship, Stanford 1997, 11,17, 28, 39. Gegen den damaligen Forschungsstand argumentierte Sat ō Hiroo, Kami, hotoke, ōken no chūsei, Kyōto 1998, 226 f., für eine sakrale Abwertung und keine Erhöhung der mittelalterlichen Tennō.

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nur selbst religiös unverzichtbare Funktionen ausübten sondern ebenso von den Menschen als kulturelles Identifikationszentrum Japans verehrt worden wären, habe sich keiner aus Adel und Kriegergeschlechtern jemals selbst zum neuen Tennō erhoben12. Moderne Erklärungen zum Doppelcharakter königlicher Herrschaft zwischen Politik und Religion geben sich oft den Anschein, auf ältere Vorstellungen aufzubauen, wie sie im historischen Ausdruck matsurigoto greifbar zu werden anmuten, da sprachlich damit sowohl die politische Regierung wie religiöse Zeremonien gemeint sind. Im 20. Jahrhundert sprach man in nationalistischer Absicht auch von der Einheit von Kult und Regierung (祭政一致 saisei itchi) und feierte darin unter nationalistischen Vorzeichen eine von Anfang an Japans Kultur bestimmende Autorität der Tennō als sakrales Zentrum der modernen Nation. Artikel 3 der Meiji Verfassung definierte den Tennō entsprechend auch als „heilig und unantastbar“13. Dass diesem Verständnis trotz gegenteiliger Versicherung damaliger Propaganda keine historische Praxis entsprach, hat wiederum der Politikwissenschaftler Maruyama Masao in seiner Kritik solcher modernen Mythen gezeigt14. Nun spielte gerade während der 1930er Jahre ein mittelalterliches Geschichtswerk aus dem 14. Jahrhundert eine entscheidende Rolle für die modernen Auslegungen der religiösen Autorität der Herrscher. Der buddhistisch geschulte Hofbeamte Kitabatake Chikafusa hatte in seinem „Bericht über die wahre Linie der Götter und Herrscher“ (神皇正統記 Jinnō shōtōki, 1339–1343) die verbindliche Formulierung der Herrschaftsvorstellungen vorgegeben, auf die sich spätere Nationalisten berufen sollten: Unser Großjapan ist göttliches Land. Die himmlischen Ahnen schufen es und die Sonnengöttin gab es ihrem königlichen Enkel zur ewigen Herrschaft. Nur in unserem Land gibt es dies. In anderen Ländern gibt es nichts Vergleichbares. Deshalb nennt man [Japan] das Götterland.15

Im weiteren Verlauf gab Chikafusa noch mehrfach Anlass, in seinem Gebrauch von shinkoku eine neue Intensität festzustellen, mit der die Heiligkeit Japans und seiner Bewohner, inklusive deren Überlegenheit gegenüber anderen Ländern, wortgewandt präzisiert wurde. Chikafusa hatte 1339 in Zeiten politischer und militärischer Eskalation mit seiner Herrschergeschichte, die mit der mythischen Entstehung Japans ansetzte, für seine Zeit bereits anachronistisch die Funktion der Tennō für das 12 13

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Für einen Überblick siehe Ben-Ami Shillony, Enigma of the Emperors. Sacred Subservience in Japanese History, Folkstone 2005. Der Bedarf an historischer Vertiefung und Kritik insbesondere der mittelalterlichen Jahrhunderte aber bleibt bestehen. Siehe Nelly Naumann, Die einheimische Religion Japans. Teil 2. Synkretistische Lehren und religiöse Entwicklungen von der Kamakura- bis zum Beginn der Edo-Zeit, Leiden/New York/ Köln 1994. 49 f., Klaus Antoni, Shintō und die Konzeption des japanischen Nationalwesens (Kokutai). Der religiöse Traditionalismus in Neuzeit und Moderne Japans, Leiden/Boston/Köln 1998, 134 f., 276 f. Der Ausdruck für „heilig“ ist der moderne Begriff shinsei 神聖. Maruyama Masao, The Structure of Matsurigoto. The Basso Ostinato of Japanese Political Life, in: Themes and Theories in Modern History, hg. v. Sue Henny / Jean-Pierre Lehmann, London 1988, 27–43. Jinnō shōtōki, in: Nihon Koten Bungaku Taikei (= NKBT) 87, hg. v. Iwasa Masashi, Tōkyō 1965, 41. Vgl. Hermann Bohner, Jinnō-shōtō-ki. Buch von der wahren Gott-Kaiser-Herrschafts-Linie, Tōkyō 1935, 191: „Japan (Oho-Yamato) ist Gottheits-Reich (shinkoku).“

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Reich hervorgehoben. Größere Wirkung erzielte er auch erst in den folgenden Jahrhunderten, in denen Gelehrte wie Motoori Norinaga (本居宣長 1730–1801) oder Hirata Atsutane (平田篤胤 1776–1843) die ewige Dauer einer ungebrochenen Erbfolge göttlich entstammter Monarchen für ihre Kritik am Shōgunat der Tokugawa nutzten und modernen Nationalisten eingängige Argumente für ihre Propaganda lieferten16. Die modernen Tennō waren als präsente Gottheiten (現御神arahitogami) zu verehren, bis nach dem Pazifischen Krieg der Tennō (Hirohito) zum Neujahrstag 1946 auf diese Form der Sakralisierung verzichte. Die wissenschaftliche Behandlung königlicher Herrschaft aber blieb auch danach noch längere Zeit schwierig. Mit Kuroda Toshio, Nagahara Keiji, Sat ō Shinichi und den folgenden Historikergenerationen unter Amino Yoshihiko begann in den 1970ern eine Neubewertung der mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse, in denen die Tennō aber weiterhin im Zentrum standen. Heute geht man indes nicht mehr automatisch von einem unter den amtierenden Königen geeinten Reich aus, in dem die wechselnden Machthaber bei aller politischen Stärke weiterhin nur durch die Tennō legitimiert gewesen wären17. Vielmehr hat eine alternative Beschreibung an Zuspruch gewonnen, mit der die von Minamoto no Yoritomo (源頼朝 1147–1199) ab den 1180er Jahren aufgebaute und seinen Nachfolgern den Hōjō umfassend erweiterte Kriegerregierung in ihrem eigenen Recht und als ein in vielen Aspekten vom Hof in Kyōto weitgehend unabhängiges und anders strukturiertes Königtum erscheint18. Im 13. Jahrhundert bis zum Sturz der Hōjō 1333 existierten nach dieser Lesart zwei Königtümer mit ihrer jeweils eigenen Herrschaftspraxis und einem diese stützende ideelle Absicherung. So nutzte die Kriegerregierung einerseits die höfische Ämterstruktur, zu der auch der Titel des Shōgun gehörte, andererseits baute sie auf einer von derlei Prestigetiteln unabhängigen personellen Beziehung zwischen Shōgunat und Gefolgsleuten auf, die oft als eine Form der Vasallität in Anlehnung an die Verhältnisse im mittelalterlichen Europa gedeutet wird19. Die Quellenlage lässt aber auch andere Schlüsse zu, weshalb das Modell der ideellen Legitimierung der wechselnden Machthaber durch ihre amtierenden Könige weiterhin Zuspruch erhält. Der Mediävist K ō chi Shōsuke kommt auf der Grundlage seiner Lektüre von Jien, Chikafusa und anderen Chronisten zu dem Schluss, dass sowohl die Politik von Kyōto wie von Kamakura im Wesentlichen 16 17 18

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Michale Wachutka, A Living Past as the Nation’s Personality. Jinnō shōtōki, Early Shōwa Nationalism, and Das Dritte Reich, in: Japan Review 24 (2012), 127–150, 132 f. Naumann, Einheimische Religion 2 (wie Anm. 13), 50. Kritik daran schon von Nagahara Keiji, Rekishiteki sonzai toshite no tennō oyobi tennōsei. Sono jakkan no ronten ni tsuite no oboegaki, 1989, neu abgedruckt in: Nihon chūsei no shakai to kokka. Chūseishi no sōten (= Nagahara Keiji chosaku senshū 7), Tōkyō 2008, 156–183, 163. Daniel F. Schley, „Nicht zwei Könige sind in einem Reich“. Herrschaft und Königtum zwischen Anspruch und Wirklichkeit im frühmittelalterlichen Japan, in: Japan im ostasiatischen Kontext in der Vormoderne, hg. v. Klaus Vollmer (= Dhau Bd. 1, hg. v. Christoph Marx u. a.), Berlin 2016, 133–160. Näher dazu Detlev Taranczewski, Der frühe Feudalismus, in: Geschichte Japans, hg. v. Josef Kreiner, Stuttgart 2010, 94–148, hier v. a. 130–137.

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daraus bestand, die für legitim erachtete Erbfolge der Tennō-Dynastie zu erhalten20. Diese Idee findet sich bei Chikafusa klar formuliert, der die schon im Titel genannte „richtige Erblinie“ (正統 shōtō) von der bloßen Thronfolge (代 dai) unterschied und diese Unterscheidung auch im Grad der Sakralität konturierte. Dahinter steht die oft wiederholte Frage, weshalb niemand die Tennō Dynastie ersetzte, wie es Hofadeligen und Kriegern aus chinesischen Geschichtswerken geläufig war. Dagegen ließe sich einwenden, dass das mittelalterliche Königsamt kaum noch Möglichkeiten für politische Gestaltung bot und durch seine vielschichtigen ideellen wie konkreten Verflechtungen mit anderen Gruppen und Institutionen auch nur mit hohem militärischem wie ideologischem Aufwand zu übernehmen gewesen wäre. Die vom Tennō abgeleitete Funktion eines königlichen Stellvertreters war dem Hofadel leichter zugänglich, so wie es sich für die Krieger als sinnvoll erwiesen hatte, die eigene Macht in annähernder Distanz vom Königshof zu pflegen. Gerade die spätere Militärherrschaft in Kamakura lässt sich besser als ein eigenständiges Königtum begreifen, für deren Herrschaftspraxis die gleichzeitig in Kyōto residierenden Tennō kaum von Belang waren. Den wechselnden Shōgunen gegenüber aber besaßen die Tennō den Vorzug, über die Konzeption des Reiches als Götterland einen weitgehenderen Anspruch auf religiöse Vorstellungen erheben zu können als andere. Zusammen mit ihren aus dem Altertum fortgeführten und allmählich erweiterten sazerdotalen Aufgaben bildeten sie weiterhin einen entscheidenden Sammelpunkt für religiöse Herrschaftsvorstellungen. 2. AUF DEN SPUREN KÖNIGLICHER SAKRALITÄT IN DER HISTORIOGRAPHISCHEN VORSTELLUNGSWELT VON CHIKAFUSA UND JIEN Mit Chikafusa ist eine besonders politische Radikalisierung der Götterlandvorstellung verbunden. So jedenfalls resümierte noch Nelly Naumann in ihrer Untersuchung der einheimischen Religion Japans den damaligen Forschungsstand und hob hervor, dass Chikafusas Formulierung einen geistesgeschichtlichen Sprung markiere, da er die vormals weite Bedeutung von übernatürlichem Schutz durch die kami und Buddha für Hof und Reich auf die Königsdynastie verengte und daraus Japans Überlegenheit China gegenüber folgerte21. Zu den historischen Götterlandvorstellungen hat der vor allem für seine soziopolitische Herrschaftstheorie bis heute einflussreiche Mediävist Kuroda Toshio lange vor Naumann einen grundlegenden Aufsatz verfasst, in dem er herausstellte, dass das mittelalterliche Verständnis vom Hof und Japan als ein Land der kami vielmehr auf der gemeinhin geteilten buddhistischen Weltsicht und dem Verständnis der einheimischen Gottheiten als partikularen Manifestationen der universellen Buddha und Bodhisattva beruhte22. 20 21 22

K ō chi Shōsuke, Nihon chūsei no chōtei – bakufu taisei, Tōkyō 2007, 11 f., 23 f. Naumann, Einheimische Religion 2 (wie Anm. 13), 53. Kuroda Toshio, Chūsei kokka to shinkoku shisō, in: Ders. 1975, 253–330, und ebd., Chūsei no shinkoku shisō. Kokka ishiki to kokusai kankaku, 504–538, der auch in einer Übersetzung

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In ideeller Hinsicht war das Götterland somit fest in den buddhistischen Kontext eingebunden. Japan war demzufolge nicht nur das Land der Kami, sondern in gleicher Weise auch das Land der Lehre Buddhas (仏国 bukkoku)23. Heute sind die Anleihen Chikafusas wie auch die allmähliche Entwicklung des Götterlandkonzeptes besser bekannt und man muss keine zweihundertjährige Bildungsgeschichte mehr überspringen. Beispielsweise hatten der Tendai Mönch und Gesandte Jakushō (寂照 964–1034) gegenüber dem dritten Kaiser der nördlichen Song Dynastie Zhēnzōng (真宗 968–1022) 1004 oder der Hofadelige Sugawara no Naganari (菅原長成 1205–1281) in Erwiderung auf die Bedrohung durch Kublai Khan (1215–1294) 1270 ähnlich Japans Überlegenheit behauptet24. Im Folgenden soll ein Rückgang bis auf Schriften aus dem 10. Jahrhundert den Nachweis erbringen, dass Chikafusa im Jinnō shōtōki keine ganz radikale Neuformulierung gelang, sondern er eher eine allmählich entwickelte Vorstellung von Herrschaft in Japan ansprach. Chikafusas Neuerung lag vielmehr darin, die eingegrenzte Deutung von shinkoku zum Ordnungskonzept seiner historischen Abhandlung zu machen. Darin versuchte er, nicht immer logisch konsistent, durch seine Auslegung der historischen Beispiele zu erweisen, dass zwischen der Thronfolge und der wahren Erbfolge ein Unterschied liege und allein die Mitglieder der wahren Erbfolge den göttlichen Schutz und Segen in Fülle erhalten würden. Alle amtierenden Monarchen sind zwar Teil der einen göttlich gezeugten und erhaltenen Dynastie, doch nicht alle unter ihnen komme dieselbe sakrale Intensität zu. Es ist diese nach Chikafusa gerade Erbfolge von Amaterasu bis zum regierenden Südhof Tennō Gomurakami, die für ihn Japan zum einzigartigen Götterland macht25. Nun ist es kein Zufall, dass solche Zuspitzungen gerade in brisanten Zeiten aufkommen. Der Hofadel war seit 1221 bereits ein gutes Jahrhundert mit seinem sozialpolitischen Abstieg gegenüber der Kontrolle durch die Hōjō konfrontiert und eine Antwort lag in der Rückbesinnung auf das mythische Versprechen der Ahnengottheiten als Kern der höfischen Identität. Äußere Faktoren wie die Bedrohung durch weitere Invasionen bis in die 1290er, die Ausdehnung militärischer Herr-

23 24

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von Fabio Rambelli vorliegt, in: Japanese Journal of Religious Studies (= JJRS) 23 (1996), 353–385. Ergänzend Kitai Toshio, Shinkokuron no keifu, Kyōto 2006. Für einen Überblick auf Deutsch siehe Johann Nawrocki , Inoue Tetsujir ō (1855–1944) und die Ideologie des Götterlandes. Eine vergleichende Studie zur politischen Theologie des modernen Japan (= Ostasien – Pazifik. Trierer Studien zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Bd. 10), Hamburg 1998, 21 f. Sat ō Hiroo, Shinkoku Nihon, Tōkyō 2006, 106. Ausführlicher Hirata Toshihara, Jinnō shōtōki no kisoteki kenkyū, Tōkyō 1979, 606–638, Okada Shōji, Heian jidai no kokka to saishi, Tōkyō 1994, 173 f., Nawrocki, Inoue Tetsujirō (wie Anm. 22), 32 f., Uejima, Nihon chūsei shakai, 101, zu Jakushō, und Daniel F. Schley, Herrschersakralität im mittelalterlichen Japan. Eine Untersuchung der politisch-religiösen Vorstellungswelt des 13.–14. Jahrhunderts. (Tübinger Ostasiatische Forschungen, Bd. 23), Münster 2014, 250 f., zu Naganari. Chikafusa kam es dabei auf keine logische Schlüssigkeit seiner Argumentation an wie letztlich die Prämisse, das Versprechen der Ahnengottheiten, willkürlich bleibt, vgl. Jinnō shōtōki (wie Anm. 24, 77, 156, 162, 165.

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schaft durch die Hōjō Dynastie in Kamakura zu Beginn des 14. Jahrhunderts, Godaigos 1336 gescheiterter Restaurationsversuch sowie die Folgen der dynastischen Spaltung, aber auch das Aufkommen neuer theologischer Schriften, die heute unter dem Begriff mittelalterlicher shintō zusammengefasst ein neues Forschungsfeld bilden, sind in ihrem Einfluss auf Chikafusa nicht zu unterschätzen. Im Verbund mit Chikafusas Geschichtsschreibung und seiner Herrschaftskonzeption im Jinnō shōtōki findet auch der buddhistische Würdenträger der Tendai Gemeinde und höfische Dichter Jien seit längerem Beachtung. Jien hatte um 1220 in seiner „Sammlung meiner bescheidenen Überzeugungen“ (愚管抄 Gukanshō), über die religiösen und politischen Charakteristika des Königtums räsoniert26. Wie Chikafusa hatte auch Jien in Zeiten einer politischen wie militärischen Krise zum Pinsel gegriffen. Jien war einer von Gotobas ehemaligen Schutzgeistlichen27 und von ihm auch für seine poetischen Fertigkeiten geachtet. Mit seiner Chronik richtete er nun eine sehr kritische Analyse der gegenwärtigen Situation an Gotoba. Das war nur wenige Monate bevor der abgedankte, politisch aber den Hof dominierende Gotoba (後鳥羽天皇 1180–1239) im folgenden Jahr Hōjō Yoshitoki (北条義時 1163–1224) militärisch herausforderte und eine Niederlage mit langfristigen Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Hofadel und Kriegern erlitt. Formal handelt es sich bei dem Werk um eine Mischung von drei verschiedenen historiographischen Stilen: Annalen zur japanischen, chinesischen und der eigenen Klostergeschichte sind einem sehr langen, erzählenden Hauptteil vorangestellt, welcher die eigentliche Chronik Jiens ausmacht. Sie umfasst die Geschichte Japans vom mythischen Jinmu bis zur Regierung von Gotobas Sohn Juntoku (順徳 天皇 1197–1242) 1219. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Ereignissen ab dem Erbfolgekrieg von 1156, in denen Jien den entscheidenden Epochenschnitt zu seiner eigenen Gegenwart ausmacht. Seitdem sind es die Krieger, die politisch ernst genommen werden müssen. Mit einer zusammenfassenden Analyse, die so manche konkrete Kritik und Reflektion zur Herrschaft in ihren sakralen Bezügen enthält, beschließt Jien seinen oft düster gestimmten Geschichtsüberblick ganz bewusst mit einem hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft. Aufgrund seiner wiederholten Klage über die graduelle Verschlechterung der Herrschaftsverhältnisse seit der idealen Götterzeit und den ersten menschlichen Königen ab Jinmu, die er oft mit dem Ausdruck für die buddhistische Endzeit mappō (末法 „verlöschender dharma“) kennzeichnet, ist Jien bisweilen auch ein pessimistisches Geschichtsverständnis bezeugt worden28. Dazu gehört seine vom Ende her gedachte Thronfolge, die auf insgesamt nur einhundert Plätze festgelegt und nur noch für 16 zukünftige Tennō offen sei. Jien nahm hier ein aus China stam26 27 28

Gukanshō, in: Nihon bungaku taikei 86, Tōkyō 1967, 206. Zu Schutzgeistlichen (御持僧 gojisō) waren die höheren Ränge der Tendai und Shingon Gemeinden berufen, die v. a. während der Nacht Gebete für die Herrscher in einem Nebenraum der Schlafgemächer verrichteten. Zur buddhistischen Endzeit Sat ō Hiroo, Nihon no mappō shisō, in: Rekishigaku kenkyū, 722 (1999), 2–11. Auf Deutsch auch Peter Fischer, Studien zur Entwicklungsgeschichte des Mappō-Gedankens und zum Mappō-Tōmyō-Ki, Hamburg 1976.

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mendes Konzept wörtlich, das zunächst gerade keine begrenzte Herrscherzahl meinte29. Jiens Deutung sollte Chikafusa dann dezidiert ablehnen und unter der Anzahl wieder eine in die Zukunft offene Nachfolge verstehen30. Jiens Einstellung im Gukanshō ist trotz der zahlreichen Klagen und Kritiken keineswegs pessimistisch, denn er schrieb gerade deshalb, weil er sich eine positive Verbesserung erhoffte. Vielmehr hat die ältere Auslegung den Literaten in Jien vernachlässigt, indem sie seine Zeitklage auf ihren Wortsinngehalt hin verkürzte und deren narrative Einbettung ausblendete. Denn dass seine Chronik am Ende einen hoffnungsfrohen Blick auf die Zukunft erkennen lässt, wenn denn Gotoba die Ratschläge beherzigte, legt Zeugnis ab von Jiens rhetorischem Gestaltungswillen, das eigene politische Ziel durch abschreckende Beispiele und Mahnungen um so eindringlicher zu empfehlen. Überholt ist heute auch die Abgrenzung von Jiens und Chikafusas Geschichtsbild entlang der religiösen Unterscheidung von Buddhismus und Shintō. Diese vermeintliche Trennung entspricht der modernen und insbesondere der nationalistischen Perspektive des 20. Jahrhunderts und war weder für Chikafusa noch Jien ausschlaggebend31. Beide deuteten die Vergangenheit und die politischen Probleme ihrer Zeit im Rahmen der religiösen Vorstellungswelt des Mittelalters, deren Kennzeichen eine buddhistische Interpretation der japanischen Göttermythen war32. Buddha und kami waren miteinander verbunden, wobei den buddhistischen Wesen meist Vorrang gegeben wurde. In vielen religiösen Aspekten, insbesondere wenn es um die Herrschaft der Tennō und das höfische Zeremoniell ging, traten aber auch die kami in den Vordergrund. In der Geschichte und durch deren Verlauf offenbare sich für Jien die göttliche Bestimmung für Japans Königtum. Es ist die in mythischer Vorzeit getroffene Abmachung von Amaterasu, Ame no Koyane und Hachiman daibosatsu, der Ahnengottheiten aller drei politisch für Jien relevanten Gruppen, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten in einem erkennbaren, historischen Verlauf zeige. Zur Ordnung der willkürlich verlaufenden Vergangenheit zu einer sinnvollen Geschichte beruft er sich auf gewisse geschichtliche Bestimmungen, wie sich sein Begriff dōri (道理), ein Kompositum aus den chinesischen Zeichen für „Weg“ und „folgerichtiges Denken“, übersetzen lässt. Für Jien sind alle Phänomene, die sichtbaren wie die unsichtbaren, ganz buddhistisch gedacht, dem Gesetz des ewigen Wandels und der Unbeständigkeit unterworfen. Aufgabe einer guten Geschichtsdarstellung sei es nun, die Wirkung von geschichtlichen Bestimmungen (dōri) in einer Spur bis in die eigene Zeit zu verfol29 30 31 32

Näher dazu Ishida Ichirō, Gukanshō no kenkyū. Sono seiritsu to shisō, Tōkyō 2000, 76. Jinnō shōtōki (wie Anm. 24), 66. Vgl. Hermann Bohners Äußerungen zum „Urjapanischen“ in Verbindung mit dem Götterland (shinkoku) bei Chikafusa und in Abgrenzung von Jien, Bohner, Jinnō-shōtō-ki (wie Anm. 15), 176 f. Ishida, Gukanshō (wie Anm. 29), 176 f. Naumann, Einheimische Religion 2 (wie Anm. 13), 5–7, hat Jien sogar negativ als „Repräsentant[en] eines hochstehenden religiösen Denkens und Handelns“ betrachtet, der Religion „im Rahmen eines ‚Staatskultes‘, der niemals Privatsache ist“ behandeln würde. Das wiederum wird dem mittelalterlichen Selbstverständnis nicht gerecht.

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gen33. Aus den so gesammelten Einsichten in die geschichtsbedingenden Ordnungsprinzipien sei es möglich, Voraussagen für den zukünftigen Verlauf zu treffen. Jiens Zeitgenossen wiederum kannten den Begriff auch, sie verwendeten ihn nur zumeist dazu, um angemessenes Verhalten zu kennzeichnen oder mit Bezug auf die Autorität von Gewohnheiten und historische Präzedenzfälle zu argumentieren. Im damaligen Sprachgebrauch wiederum verwies der Ausdruck auf Gewohnheitsrecht und Präzedenzfälle im Fall juristischer wie politischer Entscheidung, aber auch auf normengemäßes Handeln.34 Es sei immerhin an dieser Stelle angedeutet, dass Jiens metaphysische Grundlegung des historischen Verlaufs manche Ähnlichkeiten zu Otto von Freisings Geschichtsbild birgt, wenn auch beide von letztlich nicht vermittelbaren Voraussetzungen ausgehend, die Wandelbarkeit ihrer Geschichte religiös deuten. Die dōri sind letztlich Jiens begrifflicher Rückzugspunkt, um seinem Verständnis nach objektiv zu belegen, dass seine Deutung von Vergangenheit und Gegenwart die einzig vernünftige sei. Somit ist die Geschichtsschreibung funktional entscheidend für Jiens Aussageabsicht und sie ist zugleich wichtig für seine Herrschaftskonzeption, da er dieser hierüber argumentativ den Grund bereitet. All das ist zu berücksichtigen, wenn Jien den Wesenszug des Königtums in Japan gemäß seiner Herrscherkosmologie bestimmt und betont: Es ist zwar wünschenswert, einen Herrscher zu haben, der dieses Amt gut führt, doch in unserem Land ist es seit dem Zeitalter der Götter Brauch, dass niemand den Thron besetzt, der nicht von königlichem Geblüt ist. Aus diesem Geschlecht auf einen geeigneten Kandidaten zu hoffen, ist allerdings ebenso eine Gepflogenheit.35

Die Stelle liest sich wie eine klare Absage an das konfuzianische Konzept des Himmelsbefehls (天命 tiānmìng, jap. tenmei), an dessen Stelle die mythologisch verbürgte Erbfolge der einen Dynastie tritt. Schlechte Herrscher abzusetzen wäre offene Rebellion und sei historisch nur unter ganz besonderen Verhältnissen von den Ahnengottheiten gebilligt worden. So schreibt er: In Japan gab es damals nicht viele Fälle, in denen der König ermordet wurde. Japan ist zudem ein Land, in dem derlei nicht vorgesehen ist. Einzig die himmlischen Herrscher [Sushun] und Ankō wurden durch Mord beseitigt.36

Niemand hat folglich ohne göttliche Zustimmung den Thron bestiegen und alle Könige erhalten ihre Stellung durch göttlichen Zuspruch. Fortwährend bewährt sich damit ein Nahverhältnis der Tennō sowie der abgedankten Herrscher zu den übernatürlichen Mächten der Ahnengottheiten und den buddhistischen Wesen. Daher auch Jiens Hoffnung am Ende, man möge doch einen fähigen Thronfolger bestimmen, also den von ihm gewünschten Erben mit mütterlicher Verwandtschaft zu seiner eigenen Familie. Denn Japan sei eben nicht China, deren Dynastie33 34 35 36

Gukanshō (wie Anm. 26), 129. Für dōri als historische Exempel, z. B. Gukanshō (wie Anm. 26), 347. Zum zeitgenössischen Verständnis Carl Steenstrup, A History of Law in Japan until 1868, Leiden 1996, 84 f. Gukanshō (wie Anm. 26), 328 f. Ebd., 136.

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wechsel auf schlechtere politische Verhältnisse schließen lasse37. Daraus klingt schon die genannte Konzeption des Götterlandes als eine Verbindung von ewiger Herrscherfolge, göttlichem Schutz und kultureller Überlegenheit an, obgleich Jien den ihm bekannten Ausdruck im Gukanshō nicht benutzte. Jiens adeliges Selbstverständnis basiert inhaltlich wie sich zeigt auf denselben Überzeugungen von königlicher Sakralität und Japan, wie sie Chikafusa ein Jahrhundert später noch eindringlicher formulieren sollte. Die Tennō als Mittler von Himmel und Erde in Jihens Mythenauslegung Chikafusa und Jien bestimmen beide heute noch maßgeblich das Verständnis des mittelalterlichen Königtums in Japan38. Kaum jedoch finden andere Werke der Geschichtsschreibung wie auch der erzählenden Literatur oder religiöse Abhandlungen Berücksichtigung. Dazu gehören die Schriften Jihens, die bislang nur einem überschaubaren Kreis von Spezialisten vor allem in Japan vertraut sind39. Jihen, ein Zeitgenosse Chikafusas und ebenso wie dieser zeitweilig mit dem Königshof in Yoshino verbunden, hatte seine Ausbildung am Enryaku Tempel des Tendai Buddhismus erhalten. Er begriff wie kaum jemand vorher Herrschaft aus den religiösen Vorstellungen seiner Zeit heraus und erhob die Tennō zum zentral vermittelnden Element von Himmel und Erde. Zur Herrschersakralität äußerte Jihen sich detailliert in seinem nicht mehr ganz erhaltenen Kommentarwerk „Mysterien der Annalen alter Begebenheiten“ (旧事本紀玄義 Kuji hongi gengi, 1332)40. Ergänzendes bietet seine danach für Godaigos Nachfolger am Südhof Gomurakami verfasste didaktische „Schrift über den Götterwind des überreichen Schilflandes auf Japanisch“ (豊葦原神風和記 Toyoashihara shinpū waki) von 134041. Wie Chikafusa orientierte auch Jihen sich an den Auslegungen der Watarai Priester des äußeren Ise Schreins, ging aber in seinen Schlussfolgerungen zur Sakralität noch deutlich über jenen hinaus42. Jihen hatte gleich Jien ebenfalls am Enryakuji seine geistliche Ausbildung erhalten und war zu seiner Zeit ein angesehener Ritualmeister, der quer zu den Kriegsfronten des 14. Jahrhunderts zwischen den Ashikaga und dem Südhof seine Dienste 37 38 39 40 41 42

Ebd., 347. Zuletzt wieder bei K ō chi Shōsuke, Nihon chūsei no chōtei (wie Anm. 20), 11 f., 23 f. Bislang nur Sueki Fumihiko, La place des divinites locales, des bouddhas et du tennō dans le shintō medieval. En particulier la theorie de Jihen, in: Cahiers d’Extrême-Asie 16 (2010), 343– 373. In Tendai shintō 1, 5–98. Teil 3 und 4 in: Chūsei shintō ron (Nihon Shisō Taikei [ = NST] 19), hg. v. Ōsumi Kazuo, Tōkyō 1977, 136–180. Toyoashihara shinpū waki, Edition in Tendai shintō 1 (wie Anm. 40). Zur mittelalterlichen Theologie an den Ise Schreinen siehe Mark Teeuwen, Watarai Shintō. An Intellectual History of the Outer Shrine in Ise, Leiden 1996, 12 f., 227 f., 237 f.; Naumann, Einheimische Religion 2 (wie Anm. 13), 39 f. Zu Jihens Bezügen bes. Takahashi Miyuki, Jihen no shintō ron. Butsushin ron wo chūshin toshite, in: Nihon shisōshi. Sono fuhen to tokushu, hg. v. Tamakake Hiroyuki, Tōkyō 1997, 134–155, 140 f., 147 f. Auch Teeuwen, ebd., 148.

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verrichtete. Vor allem aber beschäftigte er sich mit den Mythenberichten des Altertums, die zu dieser Zeit wieder größere Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ungewöhnlich für seine Zeit, in der die Buddha und kami synkretistisch verbunden waren, argumentierte Jihen für ein anderes Verhältnis beider. Konträr zur vorherrschenden Lehre gab er den kami einen Vorrang vor den Buddha und drehte somit das übliche theologische Schema um, dem zufolge eigentlich Letztere der unsichtbare Wesensgrund der kami seien. Jihen war damit ein Vorläufer von dem heute besser erschlossenen Yoshida Kanetomo, der im 15. Jahrhundert die Grundlagen dessen schuf, was heute mit Shintō als einheimische Religion Japans bekannt ist43. Um die historische Entwicklung besser zu fassen, ist die Bezeichnung „mittelalterlicher Shintō“ gängig, der Jihen zuzurechnen ist. Diese neue Klassifizierung einer Reihe von Texten ging von Literaturwissenschaftlern wie It ō Masayoshi aus, die bis dahin kaum berücksichtigte Kommentarwerke zu den Mythen des Altertums hinsichtlich ihrer buddhistischen Interpretationen analysierten44. Viele der damals entstandenen Schriften waren zudem auf das Altertum vordatiert worden, um deren Autorität zu erhöhen. Die meisten Beiträger zum mittelalterlichen Shintō stammten aus dem buddhistischen Klerus und verfassten ihre Auslegungen keineswegs für einen vom Buddhismus abgesonderten „Shintō“45. Mit dem esoterischen Buddhismus, den die beiden Mönche Saichō (最澄 767– 822) und Kūkai (空海 774–835) zu Beginn des 9. Jahrhunderts übermittelten und mit öffentlicher Förderung im Tendai (天台 chin. tiāntāi) beziehungsweise Shingon (真言 chin. zhēnyán für skr. mantra) institutionalisierten, war die Grundlage für eine Vertiefung der Bezüge zwischen den Mythen des Altertums, der höfischen Herrschaftselite und der buddhistischen Kosmologie gelegt. Ohne hier näher auf diese entscheidende Entwicklung eingehen zu können, sei lediglich darauf hingewiesen, dass erst durch die Möglichkeiten der Tendai- und Shingon-Lehren die von Jien bis Jihen vorausgesetzte mittelalterliche Religiosität gebildet war. Kuroda Toshio hat darin sogar eine Art von religiöser Orthodoxie ausgemacht, um so die von der Religionsgeschichte in Japan zuvor einseitig aufgewertete neue, volkstümliche buddhistische Richtung des 13. Jahrhunderts dem zeitgenössischen Verständnis gemäß zu erfassen46. Jihens Vorstellung vom Götterland ist nun wie die von Chikafusa auf eine in der Anzahl unbegrenzte königliche Reihe bezogen. Im Kuji hongi gengi schreibt er:

43 44 45 46

Grundlegend Bernhard Scheid, Der Eine und Einzige Weg der Götter, Wien 2001, hier bes. 127, 243 f. It ō Masayoshi, Chūsei Nihongi no rinkaku, in: Bungaku 40/10 (1972), 28–48. Ergänzend die Beiträge in: Rethinking Medieval Shintō (= Cahiers d’Extrême-Asie 16), hg. v. Bernard Faure / Michael Como / Iyanaga Nobumi, Kyōto 2010. Beispiele bei Abe Yasurō, Shintō as Written Representation. The Phases and Shifts of Medieval Shintō Texts, in: Faure u. a., Rethinking Medieval Shintō, 91–117, 93 f. Für einen Überblick siehe Mikael Adolphson, The Gates of Power. Monks, Courtiers, and Warriors in Premodern Japan, Honolulu 2000, 22–74; Adrian Gerber, Gemeinde und Stand. Die zentraljapanische Ortschaft Oyamazaki im Spätmittelalter. Eine Studie in transkultureller Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2005, 48–51.

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Die Götterzeit ist im Jetzt, man kann sie nicht Vergangenheit nennen. Die königliche Erbfolge besteht unverändert. Wie könnte man die Wirkung der Buddha und kami aus dem Verborgenen gering schätzen!47

Auch für Chikafusa steht der Tenno in einem Nahverhältnis zu den göttlichen Mächten. Herrscher und Minister sind in ihrer Gegenwart von der Götterzeit zwar zeitlich entfernt, zu den göttlichen Mächten aber stehen sie in einem exklusiven Nahverhältnis: Man solle sich nicht betrüben, weil die Generationen [seit der Götterzeit] zunahmen. Es gilt [vielmehr], dass der Anfang von Himmel und Erde das Heute beginnen lässt. Mehr noch sind Herrscher und Minister den Gottheiten nicht fern entrückt.48

Anders hatte noch Jien die im Nihon shoki geschilderte Götterzeit bewusst nicht zur Geschichte gerechnet. Die einschlägigen Passagen kannte er, schließlich waren sie ihm die Voraussetzung für sein Geschichtsbild oder Herrschaftsverständnis. Doch es interessierte ihn mehr, die Gegenwart durch den historischen Wandel zu erklären, weshalb er sinnvoll nur beim ersten menschlichen Herrscher Jinmu beginnen konnte. Die Götterzeit, in der es noch keinen geschichtlichen Verfall gab, wie ihn Jien mit seinen geschichtlichen Bestimmungen aufzuzeigen versuchte, war für ihn und seinen Adressatenkreis vorauszusetzen und bedurfte, im Unterschied zu Chikafusa und seinem Klientel, keiner näheren Berücksichtigung49. In der Art des Nahverhältnisses weiß Jihen wiederum zwischen der Ahnenreihe der Herrscher von Amaterasu und jener der Fujiwara von Ame no Koyane zu unterscheiden, womit er noch einmal den alleinigen Thronanspruch der amtierenden Dynastie betont. Denn nur dieser erteilte Amaterasu den Herrschaftsauftrag und gab ihren Enkeln eine Reihe von Gegenständen als Insignien der Königsherrschaft mit50. Die historische Entwicklung übersieht Jihen wiederum nicht, wenn er in der Person des Herrschers beide Linien zusammenführt, wie es sich durch die Heiratspolitik mit den Fujiwara ergeben hatte. Die Tennō vereinigen in sich die mit beiden Ahnengottheiten verbundenen Aspekte von männlich und weiblich, bzw. Himmel/ Yang und Erde/Yin: Daher [vertritt] die väterliche Seite den Weg des Himmels, die mütterliche Seite die Güte51 der Erde. Beide erleuchteten Geister (霊明 reimei) empfangend erhält der Tennō beider Namen. Deshalb wird er Himmel und Erde als Vater und Mutter besitzend zum ersten Menschen (一 人の御身 ichinin no onmi). [Beide Gottheiten] geruhten die drei Regalien zu übertragen und ließen die einhundert Herrscher diese empfangen.52

Soweit beschrieb Jihen die Sakralität seiner Herrscher über die bekannte göttliche Genealogie. Diese hebt den Tennō auch kosmologisch hervor, denn er ist innerhalb 47 48 49 50 51 52

Kuji hongi gengi (wie Anm. 40), 47. Jinnō shōtōki (wie Anm. 24), 83. Früher wurde an dieser Ausblendung der Götterzeit Jiens buddhistische Perspektive gegenüber Chikafusas Orientierung an den kami abgregrenzt. Dazu Naumann, Einheimische Religion 2 (wie Anm. 13), 4. Toyoashihara shinpū waki (wie Anm. 41), 173, 212. Für das Schriftzeichen toku (徳), das oft megumi (恵) für Fürsorge oder Wohltat gelesen wurde. Toyoashihara shinpū waki (wie Anm. 41), 194.

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der göttlich geordneten Welt allen Menschen als erster vorangestellt53. Ein weiteres Merkmal von Jihens Götterland ist, dass Japan gegenüber anderen Ländern im Vorteil sei, weil nur hier den Menschen ein Zugang zum echten Ursprung und damit ihrer Erlösung offen stünde. Dazu befähigten sie die Tennō, deren Funktion darin bestehe, zwischen der unsichtbaren Welt der kami und Buddha und der sichtbaren Welt der Menschen eine stabile Verbindung zu schaffen. Verständlicher wird diese sakrale Vermittlerfunktion der Könige zwischen Himmel und Erde über Jihens religiöses Weltbild, wie er es im Kuji hongi gengi ausbreitet. Sein Ausgangspunkt ist ein großes uranfängliches Chaos, in dem zunächst alles zusammen in Einheit verbunden war. Die Gottheiten gab es bereits und sie sind aus diesem Grund älter als alle andere Phänomene wie Yin und Yang, Himmel und Erde, Leben und Tod oder auch Reinheit und Verschmutzung. Weil der dharma Buddhas auf solchen Dualismen aufbaue, aber nicht selbst im einheitlichen Uranfang begründet sei, stellten die Lehren Buddhas nur Hilfsmittel zur Erlösung bereit. Allein die Gottheiten Japans könnten hier wirklich helfen, weshalb für Jihen Japan Götterland sei54. Durch den Einfluss buddhistischer Lehren war das in den älteren Mythen zunächst kaum behandelte Jenseits auch für die mittelalterlichen Vorstellungen der Ahnen- und Naturgottheiten in Japan wichtiger geworden. Die Heilsbedürftigkeit der Menschen erklärt Jihen durch die zeitliche Entfernung vom Götterzeitalter. Konnten sich die Menschen am Anfang der irdischen Geschichte noch aus eigener Kraft an die Ideale der Reinheit (清浄 seijō) und Aufrichtigkeit (正直 seichoku) halten, welche die Götterzeit auszeichneten, so verloren sie mit der Zeit diese Fähigkeit zur Selbstverbesserung55. Jihen meint sich dadurch vom buddhistischen Heilsverständnis abzusetzen, doch auch dort gab es einen Offenbarungsglauben an die ursprüngliche Reinheit des Bewusstseins, die durch Kontakt mit den sinnlichen Phänomenen der Existenz nicht mehr ohne weiteres erkannt wird56. Die Menschen wurden schlecht und deshalb erreichten auf Bitten der Gottheiten zur Zeit von Suinin, dem nicht historischen elften Tennō, die Lehren und Praktiken Buddhas Japan. Für die qualitativ schlechtere Gegenwart, ausgedrückt im schon bei Jien aufgegriffenen Ausdruck für die unglückliche Gegenwart (masse), forderte Jihen eine erneuerte Besinnung auf das Versprechen der kami. Denn selbst die buddhistischen Gemeinden seien heute nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft die Menschen zum Guten zu bewegen57. Das könne nur der Tennō durch seine kontinuierliche Bindung an die Götterzeit leisten. Besonders im Kuji hongi gengi äußert Jihen sich dazu ausführlich. Bei allen 53 54 55 56 57

Der von Jihen mit „fünftens“ geführte Teil ist einer von sechs Unterpunkten und füllt das vierte Faszikel aus. Eine gute Visualisierung der Einteilung gibt Sueki Fumihiko, Kamakura bukkyōtenkai ron, Tōkyō 2008, 290 f. Toyoashihara shinpū waki (wie Anm. 41), 222 f., 226. Kuji hongi gengi (wie Anm. 40), 155. „Ist Geradlinigkeit nicht [sich] für nichts anderes zu verbiegen, ist Reinheit nicht das, was man nicht für sich selbst braucht?“ Vgl. Kūkais Ausführungen zum Shingon Buddhismus, Gregor Paul, Philosophie in Japan. Von den Anfängen bis zur Heian-Zeit. Eine kritische Untersuchung, München 1993, 310 f. Kuji hongi gengi (wie Anm. 40), 50.

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sichtbar wahrnehmbaren Missständen gäbe es immer noch „Reinheit“ (浄 kiyoi), solange die Tennō die Menschen mit dem Himmel der kami und Buddha vermitteln würden: Die wohltätige Kraft (toku) beider Größen (dai) [von Himmel und Erde] ist eine. Deshalb ist das Zeichen für Groß (大 dai) aus Eins (一 ichi) und Mensch (人 hito) gebildet. Fügt man zu dem Zeichen für Groß noch eine Eins hinzu, dann wird es zum Zeichen für den Himmel (天 ten). Aus diesem Grund besteht der Himmel aus Zwei und Mensch. Diese Entsprechung muss man kennen. Der Himmel ist weiter noch [die Dreiheit von] Himmel, Erde und Mensch. Die wohltätige Kraft wird zum ersten Menschen, wenn sie dem Himmel und der Erde entspricht. Die Fürsorge den Menschen gespendet manifestiert sich in unseren einhundert Herrschern. Die drei [Himmel, Erde und Mensch] wirken im Gemüt, Oben und Unten folgen dem Weg, die vier Meere sind unter Kontrolle und die Herrscher und ihre Minister regieren tugendsam. Verdeutlicht der erste Mensch dies, dann werden die Menschen rechtschaffen. Steigert er die Macht der guten Gottheiten, was sollten Dämonen dagegen ausrichten können?58

Die Tennō sind damit die ideale Verbindung zwischen dem verborgenen Gebiet der Gottheiten und der sichtbaren Menschenwelt59. Durch ihre Herrschaft erhalten sie in der durch Götterferne gekennzeichneten Gegenwart die Reinheit aus der Götterzeit aufrecht und garantieren den himmlischen Schutz für das Götterland Japan60. Welcher aber der damals konkurrierenden Herrscherlinien der Anspruch gebührt, erörtert Jihen im Unterschied zu Chikafusa wahrer Erbfolge nicht explizit. Insofern er seine Werke an Gomurakami gerichtet hatte, war seinerseits wohl der Südhof in Yoshino gemeint. 3. BUDDHISTISCHE UND KONFUZIANISCHE ELEMENTE DER MITTELALTERLICHEN HERRSCHAFTSKOSMOLOGIE Herrschaft aus buddhistischen Perspektiven Von Jien bis Jihen standen die Herrscher zwischen Himmel und Erde und waren selbst Teil einer facettenreichen und keineswegs konsistenten Herrschaftskosmologie. Im Anschluss an die Götterlandpositionen ist nun ein Blick auf deren buddhistischen und besonders konfuzianischen Begrenzungen zu werfen. Denn auch diese forderten im Mittelalter die ideelle Stellung der Könige heraus. Zum einen traten sie wie der Hofadel in den Wettbewerb um Landrechte ein, was bisweilen zu Demonstrationen klerikaler Macht in der Hauptstadt führte, die nicht selten gewaltsam abliefen61. Es ist kein Zufall, dass gerade gegen Ende des 11. Jahrhunderts die 58 59 60 61

Kuji hongi gengi (wie Anm. 40), 30, NST 19 (wie Anm. 40), 153. Kuji hongi gengi (wie Anm. 40), 31, NST 19 (wie Anm. 40), 155. Vgl. Sueki, Kamakura bukkyō tenkai ron (wie Anm. 53), 298. Zu den gōso (嗷訴) der mächtigen Klöster wie dem Enryakuji oder Kōfukuji, Christoph Kleine, Üble Mönche oder wohltätige Bodhisattvas? Über Formen, Gründe und Begründungen organisierter Gewalt im japanischen Buddhismus, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 11 (2003), 235–258, 239–241; auch Adolphson, The Gates of Power (wie Anm. 46), bes. 241–280.

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Lehre von der untrennbaren Beziehung des dharmas mit dem Königtum aufkam. In geistlichen wie zugleich in höfischen Schriften verwiesen die Verfasser auf die wechselseitige Abhängigkeit der Lehre und dem Gesetz Buddhas (仏法 buppō) mit der königlichen Ordnung (王法 ōbō), um ihre jeweils unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Absichten zu legitimieren62. Im Gukanshō hält Jien den Bezug im einprägsamen Bild fest: Beide gehören zusammen wie die Hörner zu einem Ochsen63. Diese Einheit ist ein weiteres Element seines Geschichtsbildes, doch beschwört er diese Ordnung meist dann, wenn er auf Konflikte zwischen Königtum und Klerus zu sprechen kommt und die zu seiner Zeit eben verlorene Eintracht von Klöstern und Hofadel beklagt. In diesem Modell wechselseitiger Abhängigkeit ist letztlich eine Anpassung der älteren Praxis des buddhistischen Herrschaftsschutzes (鎮護国家 chingo kokka) an die gewandelten sozioökonomischen Bedingungen zu sehen, die vom 10. Jahrhundert an von den Provinzen ausgehend das königliche Zentrum in steigendem Maße bedrängten. Ab dem 11. Jahrhundert waren es neben den amtierenden gerade auch die abgedankten und in buddhistische dharma-Linien ordinierten ehemaligen Herrscher, die buddhistische Herrschaftsvorstellungen und klerikale Netzwerke zu nutzen verstanden64. Zum anderen hatten sich die buddhistischen Lehren seit ihrer Einfuhr zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert weiterentwickelt und begonnen, sich aus ihrer engen Bindung an die Herrschaftselite zu lösen. Ein zur traditionellen religiösen Rechtfertigung von Herrschaft, die in den Geschichtsmythen zu Beginn des 8. Jahrhunderts schriftlich fixiert worden waren, alternatives Modell fand durch den ebenfalls aus China vermittelten Reinen-Land-Buddhismus seine Umsetzung in Japan. Für diese Lehre ist der Buddha Amitābha der höchste und letztgültige Bezugspunkt aller irdischen und jenseitigen Angelegenheiten. Man setzte im Hinblick auf den eigenen Tod alle Hoffnung auf die Errettung durch diesen Buddha, wodurch zu den in anderen buddhistischen Lehren erforderlichen Anstrengungen durch elaborierte Rituale, Übungen oder materielle Aufwendungen eine einfachere Möglichkeit trat, sich aus dem Kreis der Wiedergeburten zu lösen. Hier nun genügte die Anrufung des Buddha-Namens, das sogenannte nenbutsu (念仏 chin. niànfó), um dem spirituellen Ziel näher zu kommen. Einen großen Einfluss auf die religiöse Vorstellungswelt 62

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Grundlegend Kuroda Toshio, Ōbō to buppō. Chūseishi no kōzu, Kyōto 2001, 22–35 (zuerst 1983). Ergänzend Sat ō Hiroo, Kami, hotoke, ōken no chūsei, Kyōto 1998, 58–84. Auf Deutsch Christoph Kleine, „Wie die zwei Flügel eines Vogels“ – Eine diachrone Betrachtung des Verhältnisses zwischen Staat und Buddhismus in der japanischen Geschichte, in: Zwischen Säkularismus und Hierokratie. Studien zum Verhältnis von Religion und Staat in Süd- und Ostasien, hg. v. Peter Schalk u. a., Uppsala 2001, 169–207, bes. 181–187. Gukanshō (wie Anm. 26), 250. Zu diesem Herrschaftsphänomen siehe auf Englisch grundlegend Cameron Hurst, Insei. Abdicated Sovereigns in the Politics of Late Heian Japan, 1086–1185, New York 1976. Ergänzend jetzt auch Mikael Bauer, Conflating Monastic and Imperial Lineage. The Retired Emperors’ Period Reformulated, in: Monumenta Nipponica 67/2 (2012), 239–262, und Schley, Herrschersakralität (wie Anm. 24), 46 f. Stellvertretend für die japanische Forschung Motoki Yasuo, Inseiki seijishi kenkyū, Kyōto 1996.

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und Lebenseinstellung vieler Adeliger hatte die „Sammlung der wichtigsten Schriften für die Wiedergeburt in Amitābhas Paradies“ (往生要集 Ōjōyōshū), die der Tendai Mönch Genshin (源信 942–1017) um 984 zusammengetragen hatte. Die starke Betonung von passiv zu empfangender Erlösung durch die Gnade Amitābhas mag bei aller Andersartigkeit strukturelle Ähnlichkeiten zu christlichen Jenseitsvorstellungen aufweisen. Hier soll es jedoch genügen, auf das Motiv der Unterordnung aller Macht unter die Hoheit Buddhas hinzuweisen. Im Hofadel hatte sich im Verlauf des 11. Jahrhunderts, durch die Vorstellung der nach damaliger Überzeugung 1052 angebrochenen buddhistischen Endzeit (mappō), die Auffassung verbreitet, dass alle irdische Macht gegenüber der Herrlichkeit Buddhas letztlich verblassen müsse. In solchen Bildern zumindest beschreibt die um 1100 von unbekanntem Verfasser literarisch ausgearbeitete Geschichtserzählung der „Große Spiegel“ (大鏡 Ōkagami) die Wirkung einer Tempeleinweihung. Der damals die Regierung eigentlich leitende Fujiwara no Michinaga (藤原道長 966–1028) hatte sich im aufwendig gestalteten Hōshōji ein Monument seiner Macht gesetzt. Zur Eröffnung der Goldenen Halle 1022 waren alle Würdenträger des Reiches versammelt. Wie der mit unnatürlich hohem Alter gesegnete, fiktive Erzähler des Ōkagami Yotsugi aus eigener Anschauung zu berichten wisse, hatte sich auch ein buddhistischer Einsiedler aus der Kawachi Provinz in der Hauptstadt eingefunden. Der Reihe nach treten Michinaga, dessen Sohn und politischer Erbe sowie schließlich der Tennō Goichijō (後一条天皇 1008–1036) selbst auf und bei jedem vermeint der Mönch die höchste Macht zu erkennen. Doch erst als der Tennō vor dem Bildnis Amitābhas demütig sein Gebet verrichtet, glaubt der Mönch über alle irdische Prachtentfaltung in Buddha die höchste Wahrheit zu erblicken65. Diese Szene selbst ist, wie viele andere Stellen im Ōkagami auch, wohl nicht historisch. Sie erlaubt gleichwohl durch die Darstellung Einblicke in damalige Vorstellungen. Hier wird das Königtum aus der Perspektive eines buddhistischen Asketen beschrieben, der sich von allen irdischen Belangen abgewendet hat, worauf dessen Bezeichnung als ein buddhistischer „Heiliger“ (聖人 shōnin) hinweist. Die Art aber, wie er erst schrittweise in Buddha die Kulmination aller irdischen wie jenseitigen Macht erkennt, dürfte der adelige Leserkreis mitunter auch als Mahnung an die Vergänglichkeit der eigenen Herrschaft gedeutet haben. Solche nur am Rande in die Geschichtserzählung eingefügten Bemerkungen machen die damals gängigen Begrenzungsstrategien königlicher Sakralität deutlich, die besonders innerhalb der religiösen Institutionen kursierten. Andere Quellen vermögen hier weiter Aufschluss zu geben, und es sei nur auf die Geschichten von jenseitigen Höllenstrafen für manche Herrscher hingewiesen, auf die hier nicht weiter einzugehen Platz ist66.

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Ōkagami, in: NKBT 21, ed. Matsumura Hiroji, Tōkyō 1960, 247. Näher Schley, Herrschersakralität (wie Anm. 24), 153 f.

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Herrschaft in konfuzianischen Bezügen Gleichfalls und mehr noch zu Wort kommen müssen die Einwände aus konfuzianischer Perspektive gegen eine einseitig religiöse Erhöhung der Herrscher. Gegenüber den weitaus intensiver erforschten religiösen Praktiken und Vorstellungen erhalten die konfuzianischen Konzepte im frühen Mittelalter nur geringe Berücksichtigung. Eine Ausnahme betrifft die Vermittlung der neuen konfuzianischen Auslegungen, wie sie die Brüder Chéng Hào (程顥 1032–1085) und Chéng Yi (程頤 1033–1107), Zhu Xis (朱熹 1130–1200) sowie deren Nachfolger angeregt hatten. Es waren hauptsächlich Mönche, die aus China neue Schriften mitbrachten und die vor allem in den Zen Klöstern kursierten. Die enge Beziehung der Hōjō in Kamakura und mehr noch die ihrer Nachfolger in Kyōto, den Ashikaga Shōgunen, zu den Zen Klöstern, führte zur einer politischen Nutzung der neokonfuzianischen Schriften, wohingegen die geistesgeschichtlich vornehmlich behandelte Auseinandersetzung mit diesen erst im späten 17. Jahrhundert zunehmen sollte67. Gleichwohl zeichnet sich in verschiedenen Schriften eine kontinuierliche Beschäftigung mit konfuzianischen Konzeptionen von Herrschaft ab. Gerade im Umfeld von Godaigos Königtum entstanden mit Chikafusa und Jihen nicht nur die deutlichsten Formulierungen sakraler Bezüge von Herrschaft im Mittelalter, zugleich traten auch kritische Stimmen hervor, die mit konfuzianischen Gedanken gegen solche Ansprüche argumentierten. Noch vor Godaigos erstem Versuch, gegen die Hōjō militärisch vorzugehen, gab dessen Vertrauter Yoshida Sadafusa (吉 田定房 1274–1338) seinem König in einem Memorandum zu bedenken, nicht voreilig gegen eine Regierung vorzugehen, die den Menschen keinen Grund zur Klage gibt68. Dazu zögerte er nicht, das Ende der Dynastie als reale Gefahr zu benennen und den politischen Mythos der ungebrochenen Erbfolge in Frage zu stellen. Mit Zitaten aus konfuzianischen Schriften, darunter die Revolutionslehre des Mengzi, und Beispielen aus der chinesischen Geschichtsschreibung, argumentierte Sadafusa gegen die Fabel des Götterlandes von ewig gesicherter Herrschaft der Tennō. An dessen Stelle setzte er das Prinzip des Himmelsbefehls, wonach eine für die Menschen wohltätige Herrschaft gerechtfertigt sei, wie es sich durch allgemeinen Wohlstand und Ordnung im Reich bemerkbar mache. Die unveränderte Thronfolge aus nur einer Dynastie sei dagegen der Hauptgrund für die gegenwärtige Schwäche der Könige in Japan. Demgemäß schrieb Sadafusa: […] an fernen Höfen [d. i. China] gab es öfter eine Erneuerungen der Königsherrschaft. Der Grund dafür liegt in dem diese begleitenden dynastischen Wechsel. Allein an unserem Hof

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Für einen älteren aber weiterhin grundlegenden Überblick siehe Wajima Yoshio, Chūsei no jugaku, Tōkyō 1965, bes. 66–91. Ergänzend die knappen Bemerkungen bei Kiri Paramore, Japanese Confucianism. New Approaches to Asian History. Cambridge, 2016, 31 f. Nach 1324 waren es die Kämpfe ab 1331, in denen die Hōjō unterlagen und daraufhin mit ihren Anhängern Selbstmord begingen. Andrew Goble, Kenmu. Go-Daigo’s Revolution, Cambridge (Mass.) 1996, 292 f.

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stammen alle Herrscher nur aus einem Geblüt. Das ist der Grund, weshalb sich das königliche Schicksal ohne jegliche Erneuerung verschlechterte.69

Den in Kamakura residierenden Hōjō stellt Sadafusa dagegen ein gutes Zeugnis aus. Seit ihrem Sieg über Gotoba 1221 war es ihnen gelungen, durch umsichtiges und kluges Regieren zu ihrer militärischen Macht auch noch politische und juristische Autorität hinzuzufügen: Nach dem Jōkyū-Krieg [1221] nahm der Höfling Hōjō Yoshitoki die Regierungsgewalt an sich. Alles in Bezug auf den Thron seiner Hoheit, die königliche Erbfolge, Abdankungen, [Ernennungen von] Ministern, Feldherrn und Hofrängen wird nun durch militärische Stärke allein entschieden. (…) Zurzeit sehen wir bei der Regierung in Kamakura kein Zeichen von Schwäche. Wir hören kein Klagen und Leiden von den Menschen.70

Denn, wie Sadafusa weiter ausführt, die Hōjō würden so gelungen durch ein „wohltätiges Gemüt“ regieren wie das große Vorbild Tang Taizong71. Mit himmlischem Zuspruch dürfte Godaigo daher nicht rechnen und sollte besser von seinen Plänen Abstand nehmen. Andernfalls könnte dieses Mal, und Sadafusa denkt hierbei an Gotobas Scheitern rund einhundert Jahre zuvor, das göttliche Geschlecht von Amaterasu den Thon für immer verlieren72. Herrschaft sei den am Hof bekannten konfuzianischen Bildungsschriften gemäß durch eigene Anstrengungen verdient und nicht bloß aufgrund eines Götterversprechens automatisch garantiert73. Damit zielte Sadafusa direkt gegen die Vorstellungen vom Götterland, soweit sie die gesicherte Erbfolge und Herrschaft der Dynastie betrafen. Dem Wirken des Himmels allein vertraute Sadafusa übrigens doch nicht ganz und half noch ein wenig nach, indem er die Hōjō von Godaigos Umsturzplänen in Kenntnis setzte74. Sadafusa und andere beriefen sich für Ihre Argumentation unter anderem auf einen Erlass von 17-Artikeln, die dem Kronprinzen Shōtoku (聖徳 574–622) zugeschrieben werden, der sie 604 vollendet haben soll.75 In dem Erlass, der häufiger hinsichtlich der darin ausgeführten buddhistischen Leitgedanken wahrgenommen wird, finden sich einige Grundlagen der mittelalterlichen politischen wie religiösen Gesellschaftsvorstellungen wieder. Nicht nur buddhistische und konfuzianische Gedanken sind darin in kunstvoller Weise auf die Verhältnisse im frühen Japan be-

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Yoshida Sadafusa, sōjō, in: Chusei seiji shakai shisoō Bd. 2 (Nihon shisō taikei 22), hg. v. Ishii Susumu / Kasamatsu Hiroshi, Tōkyō 1981, 149-154, hier 150. Ebd., 149–154. Ebd., 149. Ebd., 151. Ebd., 153. Goble, Kenmu (wie Anm. 68), 100–105. Besonders zum zweiten und dann erfolgreichen Versuch Godaigos 1331. Sie sind in der Chronik Japans (Nihon shoki) von 720 enthalten, als die Reformen bereits weitgehend umgesetzt waren. Die Authentizität der Artikel ist umstritten und es ist spekuliert worden, ob sie nicht nachträglich als frühes Gründungsdokument des neuen Staates in die Chronik eingefügt wurden. Meist aber werden Datum und Autorschaft akzeptiert. Paul, Philosophie in Japan (wie Anm. 56), 197.

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zogen, gerade legalistische Bezüge finden sich darin, die später kaum noch eine Rolle spielen sollten76. Die politischen Grundsätze folgen weitgehend dem chinesischen Herrschaftsverständnis, das eine auf den obersten Herrscher (huangdi/Kaiser) hin wohlgeordneten und stabilisierten Gesellschaft forderte. „Harmonie“ (和 wa), einer der zentralen Begriffe und gleich im ersten Artikel genannt, soll so auch in Japan zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde, Fürst und Untertan, König und Volk wertgeschätzt werden, um Frieden und Wohlstand zu etablieren. Die Offenheit des Harmoniebegriffs für unterschiedliche Auslegungen ermöglichte den wechselnden Konstellationen der Eliten zu unterschiedlichen Zeiten, sich zu legitimieren. So spricht beispielsweise Jien im Gukanshō von der Harmonie der Monarchen mit ihren Fujiwara Regenten, die sich wie Fische im Wasser zueinander verhalten sollen77. Andere Artikel gehen näher auf die Verwaltung der Provinzen ein, gerechte Steuergesetze, Strafen im Fall von Ausbeutung der Menschen und die Besetzung von Posten gemäß der individuellen Eignung und Ausbildung. Über allem steht der Herrscher, der in diesem Zusammenhang ebenso aufgrund seiner Eignung den Thron besetzt. Ob ein ungeeigneter Herrscher in logischer Konsequenz dann auch zu ersetzen wäre, wie es ab dem 13. Jahrhundert von Jien und anderen immer deutlicher ausgesprochen wurde, ist aus den Artikeln nicht explizit herauszulesen. Denn in ihnen ist ebenso ein religiös erhöhtes Herrschaftsbild enthalten. Zur Zeit von Shōtoku nannten sich die Herrscher zwar noch nicht „himmlisch“, denn der Titel tennō ist erst für das Ende des 7. Jahrhunderts zur Zeit von Jitō sicher belegbar78. Die kosmischen Bezüge aber, in denen die gesamte politische und soziale Ordnung in den 17-Artikeln gestellt ist, geben dem Herrscher bereits eine dem Himmel vergleichbare, über alle anderen erhöhte Stellung. Sie sind die Verkörperung der göttlich geregelten Ordnung und ihre Aufgabe besteht darin, für deren Erhalt zu sorgen79. Nur fehlen die Bezüge auf die mythische Genealogie und den Schutz der Ahnengottheiten, welche das Verständnis der königlichen Dynastie in Japan sonst bestimmen. Einer der Gründe mag in der Förderung buddhistischer Lehren im 6. und frühen 7. Jahrhundert liegen. Die heute bekannten Herrschaftsmythen um Amaterasu und ihre königlichen Nachkommen wurden zum Teil erst in Reaktion auf die buddhistische Herausforderung formuliert und dann zu Anfang des 8. Jahrhunderts in Kojiki und Nihon shoki festgeschrieben80.

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Paul, Philosophie in Japan (wie Anm. 56), 203 f. Gukanshō (wie Anm. 26), 147. Es wird weiterhin für beide Zeitpunkte argumentiert, vgl. Piggott, Emergence (wie Anm. 10), 91 f.; anders Shillony, Enigma (wie Anm. 12), 41. Piggott, Emergence (wie Anm. 10), 88 f. Zum Zusammenhang beider Werke und der Entwicklung von Amaterasu zur zentralen Figur, Russell Kirkland, The Sun and the Throne. The Origins of the Royal Descent Myth in Ancient Japan, in: Numen 44/2 (1997), 109–152, bes. 127 f.

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Zur Lehre vom Himmelsmandat am Beispiel der Erzählung von Taira no Masakados Rebellion im Shōmonki Weiteren Aufschluss über die Akzeptanz chinesischer Herrschaftskonzeptionen bietet das Shōmonki (将門記, verm. Ende 10. Jh.), ein vermutlich gegen Ende des 10. Jahrhunderts verfasster Bericht über den Aufstand von Taira no Masakado81. Darin ist ein Brief enthalten, den Masakado 939 an den Hof gesandt haben soll, um seinen Anspruch auf die Oberherrschaft über die von ihm besetzten Provinzen zu rechtfertigen. Mit Ehrerbietung erlaube ich mir, auf meine Ahnen zu verweisen. Ich, Masakado, stamme in fünfter Generation vom Kashiwabara Herrscher [d. i. Kanmu] ab. Würde ich das halbe Land beherrschen, wer spräche mir meine Bestimmung ab? In zahlreichen Geschichtsbüchern ist zu sehen, dass in früheren Zeiten Männer das Reich durch ihre militärische Macht ergriffen haben. Mir, Masakado, gab der Himmel das militärische Können. Wer unter Meinesgleichen ist mit mir darin vergleichbar? Doch der Hof sendet mir keine Zuwendung, er sendet Verweise gegen mich.82

Gesicherte Informationen zu Masakados Herkunft sind nicht erhalten und stammen vorwiegend aus den verstreuten Verweisen aus dem Shōmonki83. Er gehörte zum Provinzadel und hatte offenbar einige Jahre am Hof unter dem späteren Regenten Fujiwara no Tadahira (藤原忠平, 880–949) gedient, ohne es zu einer nennenswerten Stellung gebracht zu haben. Zurückgekehrt zu den Besitztümern seines Vaters geriet er nicht nur in Streitigkeiten zwischen anderen Gruppen des Provinzadels, sondern auch in deren Folge in Konflikte mit den vom Hof entsandten Verwaltern. Masakado ging schließlich dazu über, die höfischen Beamten zu vertreiben und die Provinzen für sich selbst zu übernehmen. Diese Erklärung beruht allerdings auf dem Narrativ des Shōmonki, das zwar ein insgesamt vielseitiges Bild von Masakado bietet, dabei aber eine bewusste Entwicklung konstruiert, welche den Aufstand von 940 auf eine private Fehde einige Jahre zuvor zurückführt84. Zeitgenössische Dokumente berichten vor allem von der Bedrohung durch die Piraten unter dem Kommando von Fujiwara no Sumitomo (藤原純友 ?–941), die den Handel mit China störten und die Küstenregionen unsicher machten85. Zu Masakado finden sich zunächst nur spärliche Notizen, etwa im Tagebuch Tadahiras, dem Teishinkōki (貞信公記). Masakado ist heute bekannter als Sumitomo und gilt 81 82 83 84 85

Der Titel Shōmonki („Bericht über Taira no Masakado“) ist nicht historisch. Dazu sowie zu den beiden überlieferten Abschriften des verlorenen Originals, siehe Kawajiri Akio, Shōmonki o yomu, Tōkyō 2009, 60–65. Shōmonki, in: Shinsen Nihon koten bunko 2, ed. Hayashi Rokurō, Tōkyō 1975, 109. Für eine englische Übersetzung, Judith Rabinovitch, Shōmonki. The Story of Masakado’s Rebellion, Tōkyō 1986, 116. Ausführlich zu Masakados Biographie Karl Friday, The First Samurai, Hoboken (New Jersey) 2008, 7 f., 35 f. Die Forschung folgt in der Regel dem Shōmonki Narrativ, als ob es sich um einen gesicherten Faktenbericht handeln würde. Beispielsweise Friday, First Samurai (wie Anm. 83), 56 f. Terauchi Hiroshi, Fujiwara no Sumitomo no ran to Taira no Masakado no ran, in: Kawajiri, Shōmonki (wie Anm. 81), 67–84, hier 71–74. Zu den Kämpfen weiter Friday, First Samurai (wie Anm. 83), 41 ff.

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romantisch verklärt für manche als „erster Samurai“86. Diese veränderte Perspektive war zum großen Teil das Ergebnis einer erfolgreichen Nacherzählung der Ereignisse im Shōmonki87. Die bis heute anhaltende Faszination für Masakado beruht nicht zuletzt auf einer nur im Shōmonki überlieferten göttlichen Offenbarung. Die synkretistische Gottheit Hachiman soll Masakado am 19. Tag des 12. Monats im Jahr Tengyō 2 (939) verkündet haben, dass ihm die Herrschaft über das Reich zustünde88. Masakados Anhänger riefen ihn daraufhin zum „neuen Tennō“ (新皇 shinnō) aus. Für diesen Titel gibt es sonst keine Belege und es steht anzunehmen, dass es sich um einen nachträglichen Einfall für die Erzählung im Shōmonki handelt. Doch gerade die teilweise mit den Fakten großzügig verfahrende erzählerische Ausgestaltung verdeutlicht die existenzielle Gefährdung, der sich der Hofadel und die königliche Dynastie durch Masakado wie auch Sumitomo ausgesetzt sahen. Die nachträgliche Verdichtung zu einer um Masakados Aufstieg und Scheitern kreisenden Vergangenheitserzählung erlaubt schließlich, die Veränderung der Wahrnehmung königlicher Herrschaft im 10. Jahrhundert nachzuvollziehen. Dazu sei im Folgenden der wohl authentische und damit um einige Jahrzehnte ältere Brief mit der Rahmenhandlung des Shōmonki verglichen89. Masakados eigene Argumentation zeigt die vielseitigen Möglichkeiten, mit denen um 940 Herrschaft legitimiert wurde. Er zählte neben seinen dynastischen Ansprüchen, also die Anbindung an die gleiche sakrale Genealogie, die auch die Königsmacht Suzakus ideell kennzeichnete, auch ein durch die übergeordnete Himmelsmacht verbürgtes Recht des Stärkeren auf Herrschaft. Dazu verweist Masakado auf Exempel aus der Geschichte, wie diese in chinesischen Geschichtswerken überliefert seien. In dieser Aneinanderreihung wird allerdings eine gewisse Unordnung einander sogar widersprechender Legitimationsstrategien von Herrschaft sichtbar. Bezeichnend hierfür ist vor allem die Verbindung von mythisch begründeter, dynastischer Abstammung mit dem Verweis auf das chinesische Konzept vom himmlischen Herrschaftsauftrag (tenmei)90. Masakados Behauptungen stehen in der zeitlich erst später erfolgten Überlieferung nicht isoliert da. Denn in der Gesamterzählung des Shōmonki verschiebt sich die Gewichtung der Argumente zu Gunsten der höfischen Sakralordnung. Gleich im Anschluss an den Brief treten zwei Vertraute Masakados auf, darunter dessen Sohn Masahira (将平), die versuchen, den neuen Tennō von seinen Plänen abzubringen. Dazu entkräften sie den revolutionären Aspekt in der chinesischen Lehre des Him86 87

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Kritisch zu dieser Deutung, Friday, First Samurai (wie Anm. 83), 10–18. Hinzu kommen ergänzende literarische Bearbeitungen des Stoffes, religiöse Legenden und das Nachleben Masakados in verschiedenen Schreinen. Auch beriefen sich später Kriegergeschlechter auf Masakado als ihren Urahn. Siehe Murakami Haruki, Masakado densetsu o saguru, in: Kawajiri, Shōmonki, 185–211 (wie Anm. 81), hier 186–192. Shōmonki, 105. Zum Verhältnis von Fakten und Fiktionen im Shōmonki siehe jetzt auch Daniel F. Schley, Zum Wandel der japanischen Geschichtsschreibung im 10. Jahrhundert am Beispiel der Erzählung von Taira no Masakado im Shōmonki, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung (= BJOAF) (wie Anm. 81), in Druck. Shōmonki (wie Anm. 82), 109.

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melsmandats und berufen sich auf die göttlich zugesicherte Thronfolge der Dynastie Suzakus, an der nicht zu rütteln sei. Beide ermahnen Masakado wiederholt, sich dem amtierenden Herrscher zu unterwerfen, wenn ihm das Urteil kommender Generationen etwas gelte. Zur Begründung zitiert das Shōmonki durch Masahiras Rede die Einleitung zu den „Lehren für den Herrscher“ (帝範 Di fan, 648) von Tang Taizong, einer der damals gängigen konfuzianischen Bildungsschriften91. Doch Masakado bleibt bei seinem Anspruch und weist alle Mahnungen energisch mit Hinweisen auf seine militärischen Erfolge zurück. Masakado schlägt die Hinweise seiner Ratgeber aus, was den chinesischen Idealen nach eines der Merkmale schlechter Herrscher sei. Die Passage endet konsequent mit einem vielsagenden Vergleich, in dem Masakado mit dem Begründer der kurzlebigen Qing Dynastie Shi huang di (始皇帝 259–210 v. Chr.) und dessen Verbrennung konfuzianischer Werke gleichgesetzt wird. Wem in der Shōmonki-Erzählung die himmlische Gunst am Ende zukommt, ist offensichtlich und wird in der finalen Schlacht noch einmal betont. Dort bereitet ein von den Göttern abgeschossener Pfeil (神鏑 shinteki) als himmlische Strafe (天罰 tenbatsu) dem „neuen Herrscher“ ein unrühmliches Ende92. Bezeichnenderweise bleibt die dritte Quelle der Legitimation, von der das Shōmonki berichtet, der mysteriöse Orakelspruch von Hachiman, eine nicht weiter ausgearbeitete Episode. In dem Brief fehlen zu erwartende Verweise auf die synkretistische Gottheit Hachiman oder auch den legendären Herrscher Ōjin (応神), in dessen Gestalt sich der Große Bodhisattva Hachiman gezeigt haben soll. Es ist umstritten, ob die im Shōmonki berichtete Verleihung der Herrscherwürde durch eine der Schutzgottheiten des Königtums historisch war oder nicht93. Wichtiger als die letztlich nicht mehr zu entscheidende Faktizität derartiger Ereignisse ist deren Nennung im Hinblick auf die Legitimierungsstrategien von Herrschaft. Nicht nur ist die ganze Szene durch weitere Elemente mehr ironisch als ernsthaft zu verstehen94. Auch dürfte der Masakado von seinen Getreuen zugesprochene Titel eines „neuen Tennō“ dem adeligen Leser die Hybris der Rebellion verdeutlicht haben. Das schließt nur keinesfalls aus, dass andere Leserkreise, wie etwa die mittelalterlichen Kriegerfamilien, die kreative Bezeichnung positiv verstanden haben. Im Ergebnis weist die Erzählung von Masakados gescheiterter Rebellion die Legitimierung von Herrschaft allein durch das Himmelsmandat und konfuzianische Ideale zurück. Es gelte vielmehr das Prinzip der untrennbaren Bindung von Thronanrecht und Dynastie, für welches Jien zu Beginn des 13. Jahrhunderts die oben zitierten klaren Worte fand. Das Konzept selbst geht auf die ersten Geschichtsmythen Kojiki und Nihon shoki zurück und war in bewusster Auseinandersetzung mit 91 92 93 94

Anmerkung Hayashi (vgl. Anm. 82), 110. Shōmonki (wie Anm. 82), 129. Andere Aufzeichnungen der Ereignisse nennen hingegen Sadamori als Schützen. Näher dazu Higuchi Kunio, Denshō no naka no Masakado, in: Kawajiri, Shōmonki (wie Anm. 81), 164–184, 166. Näher zu der Orakelszene und ihren Implikationen Friday, First Samurai (wie Anm. 83), 118 f. Ein Großteil der Forschung inklusive Friday greift Masakados Anspruch „neuer Tennō“ zu sein in faktischer Weise auf, obwohl hierfür weitere Belege fehlen. Näher Schley, Wandel der japanischen Geschichtsschreibung (wie Anm. 89).

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den chinesischen und buddhistischen Lehren entworfen worden. Im Nihon shoki erfüllte das Konzept himmlischen Zuspruches noch eine Funktion zur Wertung einzelner Monarchen oder zur Erklärung problematischer Thronfolgen. Der Ausdruck Götterland ist wiederum nicht im Shōmonki zu finden, wie auch Belegstellen erst ab dem 12. Jahrhundert zunehmen95. Inhaltlich jedoch finden sich die wesentlichen Gedanken dazu bereits wieder. Zum Götterland gehörte unter anderem der durch die Mythen gerechtfertigte Ausschluss aller anderen Familien und dynastisch zu weit vom Thron entfernter Nebenlinien. Das Shōmonki erweist sich somit nicht nur als eine aufschlussreiche Vergangenheitserzählung der politischen und militärischen Krisen des Königtums Mitte des 10. Jahrhunderts. Das Shōmonki ist zugleich als Ergebnis von dessen Überwindung zu verstehen, deren eine Folge die Zuspitzung der Götterlandkonzeption auf die unter dem Tennō sakral geordnete Hofordnung war. Die mittelalterliche Erneuerung konfuzianischer Herrschaftspflichten zur Relativierung der Götterland Vorstellungen Neben der älteren verdienen nun auch die mittelalterlichen Rezeptionsphasen konfuzianischer Lehren mehr Aufmerksamkeit und Differenzierung, die über die übliche Kritik am fraglos vorhandenen Formalismus der konfuzianischen Exegese und rituellen Hofpraxis hinausgeht. Konfuzianische sozialpolitische Normen waren ein wichtiger Bestandteil der Vorstellungen von Herrschaft im mittelalterlichen Japan, zu denen die königliche Sakralität zu positionieren ist96. Eine neue Intensität konfuzianischer Herrschaftsvorstellungen zeigte sich insbesondere in Schriften, die nach der höfischen Niederlage 1221 dem Mythos ewiger Kontinuität auch direkt widersprachen oder zumindest Alternativen aufzeigten, die belegen, dass die Stellung der Tennō keineswegs allein durch ihre religiösen Funktionen und ideellen Zuschreibungen abgesichert war97. Diese Revitalisierung konfuzianischer Bildungstopoi hatte interne Gründe, wozu die graduelle Machtverlagerung vom Hof zur Kriegerregierung in Kamakura und die Spaltung der Dynastie zählen. So finden sich von Mitgliedern des Königshauses selbst geäußerte Kritiken an einem allzu blinden Vertrauen auf das göttliche Nahverhältnis. Der in chinesischen Schriften bewanderte Hanazono (花園天皇 1297–1348) richtete nach seiner Abdankung einige „Ermahnungen an den Kronprinzen“ (誡太子書 Kaitaishisho), in denen er 1330, kurz vor Godaigos zweiter Konfrontation mit den Hōjō, seinen Nachfolger, Kronprinz Kazuhito, den späteren Kōgon (光厳 1313–1364), dazu anhielt, die Art gerechter und wohltätiger Herrschaft gründlich zu erlernen und durch politischen Erfolg für die Kontinuität der Dynastie zu sorgen. Dem prominenten 95 96 97

Naumann, Einheimische Religion 2 (wie Anm. 13), 50 f., für die neuere Forschung bes. Kitai, Shinkokuron no keifu (wie Anm. 22). Vgl. Paramore, Japanese Confucianism (wie Anm. 67), 30 f. Für Beispiele aus didaktischen Sammlungen wie dem Jikkinshō, höfischen Urkunden oder der Historiographie siehe Schley, Herrschersakralität (wie Anm. 24), 128 ff.

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Verfasser und gelehrten Inhalt ist es vor allem geschuldet, dass sich auch die japanologische Forschung seit längerem mit der Schrift befasst98. Daher sei hier lediglich resümiert, dass Hanazono anhand von historischen Präzedenzfällen die Fragilität selbst lange bestehender Dynastien belegen möchte. Für die Zukunft ist allein aufgrund vergangener Stabilität keine Gewähr logisch ableitbar, dass weitere Kontinuität notwendig sei. Das wäre doch genauso, verdeutlicht Hanazono, als ob jemand von einer noch nicht angeschlagenen Tempelglocke behaupte, sie könne gar keinen Ton erzeugen99. Ein Studium der chinesischen Geschichte zeige dagegen deutlich, so Hanazono, dass sich alles stets und unbegrenzt wandle100. Der Thronfolger erbe zwar aufgrund seiner Abkunft das königliche Amt, aber ob er es auch halten könne, würden seine Fähigkeiten und sein Umgang mit den vorhandenen Traditionen des Amtes entscheiden101. Dafür verweist Hanazono auf das konfuzianische Ideal „weiser und umsichtiger Herrscher“ (聖主賢主 seishu kenshu)102. Anstelle der japanischen Mythen aus dem Nihon shoki und dessen mittelalterlichen Kommentarwerke, wie sie Chikafusa und Jihen ausgiebig gebrauchten, verlässt sich Hanazono auf chinesische Quellen für seine Begründung. Die für ihre geistesgeschichtliche Qualität gerühmte Schrift blieb zusammen mit Sadafusas Gesuch an Godaigo eine Ausnahme. Eine ähnlich auf konfuzianischen Herrscherpflichten begründeten Opposition zum Götterland ist in der noch kaum gründlich untersuchten Chronik der „außergewöhnlichen Ereignisse während der [letzten] sechs Herrscher“ (六代勝事記 Rokudai shōjiki) zu erkennen, die einhundert Jahre zuvor kurz nach 1221 entstanden war103. Kaum klarer könnte die gesamte Kritik an Gotoba gefasst sein, wenn der Verfasser am Ende resümierend fragt: Unser Land ist von früher her Götterland. Die königlichen Enkel von Amaterasu besetzen das Amt menschlicher Herrscher. Wie konnte es geschehen, dass [wir] die Schmach der Verbannung von drei Herrschern zur selben Zeit ertragen müssen?104

Unmittelbar nach der Katastrophe von 1221 suchte ein Adeliger, der eventuell aus dem Umkreis von Jiens Familie stammte, nach den Gründen für Gotobas Niederlage. Er fand sie in dessen Mangel an konfuzianischen Regierungsqualitäten. 98 Verwiesen sei hier lediglich auf die Übersetzungen von Hermann Bohner, Hanazono Tenno. Taishi wo Imashimuru no Sho, „Mahnungen an den Kronprinzen“, in: Monumenta Nipponica (= MN) 1 (1938), 25–57; und Andrew Goble, Social Change, Knowledge, and History. Hanazono’s Admonitions to the Crown Prince, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 55/1 (1995), 61–128, hier 121–128. Für das Original siehe Kamakura ibun Nr. 30938, in: Bd. 39, 355–357. 99 Goble, Social Change, Knowledge, and History (wie Anm. 97), 122 f.; vgl. Bohner, Hanazono Tenno (wie Anm. 98), 48. 100 Siehe Goble, Social Change, Knowledge, and History, (wie Anm. 98), 125. 101 Gemeint sind u. a. die vielen rituellen Vorschriften. Kaitaishi sho (wie Anm. 98), 356; Goble, Social Change, Knowledge, and History (wie Anm. 98), 124 f., 127. Bohner, Hanazono Tenno (wie Anm. 98), 49. 102 Kaitaishi sho (wie Anm. 98), 356. 103 Ausführlich Schley, Herrschersakralität (wie Anm. 24), 134–150. 104 Für eine Übersetzung des ganzen relevanten Abschnittes siehe Schley, Herrschersakralität (wie Anm. 24), 137 f.

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Dazu gehörten ebenso triviale Vorwürfe wie der, Gotoba hätte sich nur frivolen Vergnügungen mit Hofdamen hingegeben und darüber die königlichen Pflichten vernachlässigt105. Blindes Vertrauen in den göttlichen Schutz der Dynastie, fehlende Bereitschaft, sich um die Bevölkerung zu sorgen, und der Verzicht auf kluge Berater hätten zur Katastrophe geführt. Die Begründung dazu verweist auf historische Präzedenzfälle, besonders aus Sima Qians (司馬遷 145/135–87/86 v. Chr.) „Aufzeichnungen des Historikers“ (Shiji 史記, 94 v. Chr.), und legt konfuzianische Bildungsschriften zugrunde, vor allem das Zhenguan zhengyao (Grundlagen der Regierung der Zhenguan-Ära), das Di fan (Empfehlung des zweiten Tang Herrschers Taizong (太宗 598–649), und unter den japanischen Werken die 17-Artikel Shōtokus. Für eine gelingende Herrschaft, so die Schlussfolgerung, seien Offenheit für Ratschläge, eine meritokratische Ämtervergabe und die Fürsorge für die notleidende Bevölkerung entscheidend. Durch solche Qualitäten hatten sich nach Ansicht des Verfassers nicht nur die Könige der Vergangenheit ausgezeichnet, auch Minamoto no Yoritomo, der Begründer der Kriegerregierung in Kamakura, habe darauf seine Herrschaft gegründet. Selbst Krieger wie Yoritomo sind aus höfischer Perspektive in ihrer militärisch errungen Macht bestätigt, wenn sie den chinesischen Herrschaftsvorstellungen entsprechen. Selbstverständlich kontrastiert der Verfasser hier bewusst erfolgreiche Herrscher mit dem gescheiterten König seiner Gegenwart in Kyōto, wozu er Yoritomos Taten in einem besonders positiven Licht darstellte. Entscheidend ist nur, dass er überhaupt Yoritomo in dieser Weise hervorhebt und ihm königliche Regierungsqualitäten bescheinigt. 4. SCHLUSSBEMERKUNGEN Das konfuzianische Ideal einer wohltätigen Herrschaft, die in den Quellen vor allem mit tokusei (徳政 „Tugendherrschaft“) oder zensei (善政 „gute Regierung“) bezeichnet wird, war im 13. Jahrhundert in ein Spannungsverhältnis zum Götterland geraten. Die Überzeugung einer göttlich auserwählten und kontinuierlich erhaltenen Herrschaft stand der Forderung nach individuellen Fähigkeiten und Leistungen gegenüber. Besonders nach 1221 zeichnete sich eine neue Dynamik im ideellen Verständnis des Königsamtes ab. Sakralität, so lässt sich festhalten, manifestierte sich im Rahmen einer allgemeinen „Herrschaftskosmologie“, die sich aus verschiedenen Quellen chinesischer, indischer und japanischer Herkunft speiste. Dafür standen Begriffe wie der Himmelsbefehl (tenmei), das Reich unter dem Himmel (tenka), das Ideal weiser Monarchen (seishu), Erscheinungen übernatürlicher und vor allem buddhistischer Wesen in menschlicher Gestalt (権化 gonge) oder der Zusammenhang von buddhistischem dharma (buppō) und königlicher Ordnung (ōbō) zur Verfügung, die in Japan uminterpretiert und den unterschiedlichen Machtverhältnissen angepasst zur Geltung kamen. Die drei im ersten Teil dieses Artikels diskutierten Bezugstexte für die mittelalterlichen Sakralvorstellungen erweisen sich bei gründlicher Betrachtung gleichfalls 105 In der Edition von Yuge Shigeru, Rokudai shōjiki, Godai teiō monogatari, Tōkyō 2000, 75.

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als aufmerksam für die konfuzianischen Herrschaftsideale. Jien versteht die Dauer einzelner Herrscher an deren Qualitäten geknüpft. So fasst er den konfuzianischen Grundgedanken von Herrschaft in der Formel: „Der König (国王 kokuō) ist es, der das Reich lenkt, die Gesellschaft ordnet und die Menschen pflegt“ zusammen. Jeder Mensch, so Jien weiter, müsse seinen Beitrag zur Verbesserung der Gegenwart leisten, indem er „Übel verringere und Gutes fördere“.106 Das gelte umso mehr für die Herrscher, die allen ein Vorbild sein sollen und dazu eine Reihe von Regierungsqualitäten mitzubringen haben. Hierzu verwies Jien häufiger in seiner Chronik auf das konfuzianische Herrscherideal weiser Könige (聖主 seishu)107. Er nannte dazu neben der obligatorischen Bildung an den chinesischen und japanischen Schriften zu Politik, Moral und Geschichte auch die Zusammenarbeit mit fähigen Beratern. Jien meinte damit allgemein die Fujiwara Regenten und empfahl ganz offen gleich sich selbst108. Wenn auch alle Thronfolger in einem besonders engen Nahverhältnis zu den göttlichen Mächten stehen würden, beschleunigten ungeeignete Herrscher das Ende der auf einhundert begrenzten Reihe. Chikafusa wiederum ist oft nur für seine politische Engführung des Götterlandes und einer prägnanten Sakralisierung der Tennō bekannt. Doch ganz ohne Anforderungen an die Herrschenden beließ er es ebenso wenig wie Jien.109 Wie seine Auslegung der drei Herrschaftsinsignien Spiegel, Schwert und Juwel(en) deutlich macht, waren für ihn die mythischen Grundbedingung des Königtums mit den konfuzianischen und buddhistischen Bildungslehren Aufrichtigkeit, Weisheit und Barmherzigkeit verbunden. „Empfängt und vereinigt [der Herrscher] alle drei Vorzüge nicht in sich“ so Chikafusa, „dann ist es wahrhaft schwierig, das Reich beherrschen zu wollen“110. Chikafusa hat die älteren wie neueren konfuzianischen Lehren wahrgenommen und ebenso das Leitbild weiser Könige in seine Geschichtsdarstellung eingearbeitet.111 Chikafusa ist wie Jien Historiker genug, um den geschichtlichen Verlauf der Thronfolge auch aus den individuellen Qualitäten der Tennō zu erklären. Nur hatten sich zu seiner Zeit die dynastischen Verhältnisse gegenüber Jiens Ausgangsbedingungen dramatisch verschlechtert, was Chikafusa in seiner Konstruktion einer wahren Erbfolge innerhalb der bloßen Thronfolge zu überwinden versuchte: In unserem Land gab es zwar keinen Wechsel des Herrscherhauses, doch wenn die Regierung in Wirren geriet, dann dauerte die Herrschaft nicht lange. Auch Änderungen in der geraden Erbfolge (継体 keitai) gab es [daher] mehrfach zu verzeichnen.112 106 107 108 109

Gukanshō (wie Anm. 26), 327. Ebd., 132 zu Nintoku, 149 f.,188 f. zu Gosanjō und für Uda 154. Ebd., 146, 260, 265, 296, 341. Siehe z. B. Jinnō shōtōki, für das positive Beispiel von Daigo (wie Anm. 24), 129, und den negativen Fall von Gotoba, 160. Allgemein zur erforderlichen konfuzianischen Bildung, 167. 110 Jinnō shōtōki (wie Anm. 24), 60 f. Im Einzelnen führte Chikafusa die geforderten Tugenden noch weiter aus. Hier erweist sich das Jinnō shōtōki einmal mehr als Lehrschrift für den jungen Gomurakami. 111 Zu Chikafusas Rezeption von Zhu Xis Konfuzianismus siehe das negative Urteil von Wajima, Chūsei no jugaku (wie Anm. 67), 154, 157. 112 Jinnō shōtōki (wie Anm. 24), 116.

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Diesen Kernbestand seines Götterlandbegriffs explizierte er nicht allein im Nahverhältnis der Tennō zu den Ahnengottheiten. Er griff dafür ebenso auf eine abgeschwächte Variante des Himmelsmandats zurück: Öfters schon habe ich darauf hingewiesen, dass die himmlische Erbfolge durch Übertragung [des Throns] stets auf die wahre Linie zurückfindet. Folgendes gilt es sorgsam zu bedenken. Die Göttlichen [kami] haben es zu ihrem Hauptgelöbnis gemacht, den Menschen Ruhe und Frieden zu bringen. Alle Menschen des Reichs sind göttlich erfüllte Wesen. Hoch und geachtet steht der Herrscher. Doch weder erlaubt es der Himmel, noch segnen es die Ahnengottheiten, wenn einer sich erfreut, viele Menschen aber leiden. Man muss erkennen, dass Folge oder Bruch des königlichen Schicksals an der Qualität der Herrschaft liegen.113

Mit Bruch meint Chikafusa einen Wechsel der legitimen Erbfolge, was durchaus als Mahnung an den jungen Gomurakami zu verstehen sein dürfte. Am politisch akzentuierten Konzept des Götterlandes als unbegrenzte Folge sakraler Herrscher ändern die geforderten Pflichten jedoch nichts. Integrierten Jien und Chikafusa folglich konfuzianische Anforderungen funktional in ihre Darstellung, so verfolgte Jihen demgegenüber eine andere Strategie. Zwar geht er im Kuji hongi gengi ebenso auf einige Anforderungen an die Herrscher näher ein und diskutiert in acht Abschnitten die seiner Meinung nach notwendigen Faktoren von guter Herrschaft. Dazu zählt er die Regelung der Thronfolge (1), Anweisungen zu einer vorbildlichen, wohltätigen Regierung (4–6), Unterwerfung der Gegner (3) und sazerdotale Pflichten (2, 7)114. Zum Tennō schreibt Jihen ganz konfuzianischen Gedanken folgend, dieser habe als Himmelssohn (天子 tenshi) in seiner Einstellung und seinem Handeln dem Geist des Himmels (天の心 ten no kokoro) zu entsprechen, sich also für die Menschen einzusetzen: Selbstlosigkeit ist das große Gemüt. Wenn das Gemüt auch nur geringfügig um sich selbst kreist, dann ist es schon das Gemüt eines Untertanen. Wer schon das Gemüt eines einfachen Menschen hat, wie kann er dann der Himmelssohn sein? Wer sich gegen den Geist des Himmels auflehnt, wie könnte man ihn einen Abkömmling der Ahnengottheiten nennen?115

Jihen folgert daraus aber nicht, dass schlechte Herrscher abzusetzen seien oder mit der Gefahr göttlicher Bestrafung zu rechnen hätten. Er aktualisiert seinen Pflichtenkatalog gerade nicht an historischen Beispielen und greift auch kaum auf chinesische Texte für seine Deutungen zurück. Besonders deutlich zeigt sich sein abstrakt bleibendes Verständnis der Herrscherpflichten daran, dass er für das Konzept des Götterlandes problematische Fälle wie den göttlich auserwählten aber gescheiterten Gotoba nicht erwähnt. Hinzu kommt, dass der „Himmel“ bei Jihen nicht mehr die aus chinesischen Quellen bekannte legitimierende Instanz ist, die besonders in der Geschichtsschreibung den Wechsel von Herrschergeschlechtern zu rechtfertigten vermochte. Ganz anders meint Jihen damit die königliche Ahnengottheit Amaterasu, die über die „himmlischen Gefilde“ herrscht.

113 Jinnō shōtōki (wie Anm. 24), 163, vgl. Bohner, Jinnō-shōtō-ki (wie Anm. 15), 309. 114 Kuji hongi gengi (wie Anm. 40), 158. 115 Ebd., 36, NST 19 (wie Anm. 40), 160.

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Ähnliches war schon im Shōmonki deutlich geworden, in dem der Begriff des Himmels in Masakados Brief nicht mehr deckungsgleich mit dem in der später verfassten Erzählung gebrauchten Begriff war. Dort meinte er dann die höfische Ordnung, deren Fortbestand die aus göttlichem Geblüt stammenden Herrscher bewahrten. Das Götterland hatte sich seit dem Shōmonki, in Erwiderung auf die direkte Herausforderung durch eine von der Thronfolge ausgeschlossenen Seitenlinie, von der allgemeinen Bedeutung göttlichen Schutzes allmählich zu einem stärker politisch pointierten Konzept gewandelt, in dem die Herrscher eine allen anderen in die mittelalterliche Herrschaft involvierten Gruppen gegenüber sakral ausgezeichnete Position einnahmen. Bei aller Kritik daran, die nach 1221 sprunghaft anstieg und allen Unterschieden, wie sie zwischen Jien, Chikafusa und Jihen deutlich wurden, war die Überzeugung, mit der kontinuierlichen Thronfolge aus einem göttlich erwählten und beschützten Geschlecht gesegnet zu sein, zu einem Alleinstellungsmerkmal der königlichen Ordnung Japans geworden. Diese Vorstellungen vom Götterland sollten die wechselnden Machthaber bis in die Moderne unterschiedlich nutzen, ohne aber die königliche Herrschaftsordnung in Kyōto zu ersetzen. Die Legitimität und historische Kontinuität der vom 7. Jahrhundert an in Japan durch äußere Einflüsse und innere Verwandlungen entstandenen Herrschaftskonfiguration hauptsächlich durch die sakrale Würde der Tennō erklären zu wollen, bedeutet komplexe historische Dynamiken monokausal zu vereinfachen. Es bleibt von Quelle zu Quelle neu abzuwägen, was einerseits in dem jeweiligen Kontext Sakralität ausmachte und in wie fern andererseits die himmlischen Herrscher überhaupt noch von den Zeitgenossen als „Könige“ über ihre Reich wahrgenommen wurden

NON OBLIVISCEBAMUR ILLIUS URBIS, QUAE SANGUINEM NOSTRUM ACCEPERAT: FELIX UND REGULA ALS VERTEIDIGER IHRES MÄRTYRERORTES1 Mariëlla Niers Wer heutzutage ein Loblied auf Zürich anstimmen möchte, kann nicht umhin, die wichtige Position der Stadt als Finanzzentrum und Verkehrsknotenpunkt hervorzuheben. Wahrscheinlich würde ein moderner Laudator auch die „Mercer Quality of Living Rankings“ heranziehen, aus denen Zürich – was die Lebensqualität der Stadt angeht – auch im Jahre 2017 als zweitbeste Metropole der Welt hervorgeht2. Er würde das Wohlergehen und die Lebensqualität der Limmatstadt jedoch wohl kaum auf die Schirmherrschaft der kephalophoren Stadtheiligen Felix und Regula3 zurückführen, die laut der Legende vom römischen Stadthalter Decius gefoltert und schließlich geköpft worden sind4. Ein solcher Gedankengang war im 1

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Dieser Aufsatz ist im Rahmen der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“, im Teilprojekt „Von der kultischen Verehrung zur Verehrung ohne Kult: Felix und Regula in Zürich (8.– 18. Jh.)“ unter Leitung von Prof. Dr. Michele C. Ferrari entstanden. An dieser Stelle möchte ich Prof. Dr. Ferrari herzlich für seine Anregungen und Korrekturen danken. Schon seit Jahren stehen Wien und Zürich an erster beziehungsweiser zweiter Stelle. Siehe für mehr Information zu den Ergebnissen dieser jährlich durchgeführten, vielfach zitierten, jedoch auch scharf kritisierten Vergleichsstudie Quality of Living City Rankings, auf: www.mercer. com/qol, abgerufen am 04.07.2017. Einen Überblick über die Legende der Heiligen Felix und Regula findet man u. a. bei Andrea Beck / Michele C. Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen – Die Heiligen Felix und Regula im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zürich, in: Sakralität und Sakralisierung. Perspektiven des Heiligen (Beiträge zur Hagiographie 13), hg. v. Andrea Beck / Andreas Berndt, Stuttgart 2013, 33–51 und bei Thomas Maissen, Die Stadtpatrone Felix und Regula. Das Fortleben einer Thebäerlegende im reformierten Zürich, in: Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne (Beiträge zur Hagiographie 5), hg. v. Dieter R. Bauer u. a., Stuttgart 2007, 211–227. Auf die Rolle des dritten Stadtheiligen, Exuperantius, der im 13. Jahrhundert dazu gekommen ist, werde ich in diesem Aufsatz nicht eingehen. Siehe dazu u. a. Andrea Beck, Exuperantius – Heiliger der Stadt?, in: Saints and the City. Beiträge zum Verständnis urbaner Sakralität in christlichen Gemeinschaften (5.–17. Jh.) (FAU Studien aus der philosophischen Fakultät 3), hg. v. Michele C. Ferrari, Erlangen 2015, 149–175 und Michele C. Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), hg. v. Berndt Hamm u. a., Stuttgart 2007, 261–274, hier 268–269. Die älteste bekannte Fassung der Legende wurde ediert von Iso Müller, Die frühkarolingische Passio der Zürcher Heiligen, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 65 (1971), 132–187.

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Mittelalter jedoch nichts Ungewöhnliches; als Beispiel seien hier einige Zeilen aus einem Städtelob auf Zürich aus dem 13. oder 14. Jahrhundert angeführt: […] semper ridebis, sortem secundam habebis ex eo, quod sanctos diligis habere patronos. O felix Felix et Regula maxime felix, quam pluribus signis Thuregum vos decoratis!5

Das Glück der Stadt sei – so wird es in diesem Text dargestellt – direkt von den Stadtpatronen abhängig: Die Zürcher halten ihre Stadtheiligen in Ehren und Felix und Regula revanchieren sich ihrerseits, indem sie die glänzende Zukunft Zürichs gewährleisten. Nachdem der Autor im Mittelteil die Vorzüge der Stadt gewissenhaft aufgezählt hat, greift er am Ende des Gedichts diese Argumentation wieder auf. Was als Städtelob Zürichs anfing, endet deshalb vielmehr als ein Heiligenlob, in dem nicht nur betont wird, dass Felix und Regula viele Wohltaten gewähren (prestant beneficia multa) und ihr Kephalophorentum sehr bemerkenswert ist (quam paucis sanctis hoc est concessum ut istis, / ut sua sic capita gestarent ferro putata!), sondern sogar postuliert wird, dass ein Lob Zürichs gerade deshalb angesagt sei, weil die Stadt die Heiligen Felix und Regula verehre (Est te laudare pium, equum et salutare / ex eo, quod sanctos veneraris voto patronos). Der Text schließt folgendermaßen ab: Principes in celis orent hii sancti pro nobis, et modo precemur, ut ipsis associemur.6

Dem Städtelob zufolge ist den Heiligen das Wohl der Zürcher also keineswegs gleichgültig, vielmehr helfen Felix und Regula ihren Mitbürgern auch vom Himmel aus. Eine wahrscheinlich in Zürich entstandene Sequenz bringt eine vergleichbare Sichtweise: Urbs imperialis, plaude, Thuricensis, dulci laude martyrum praeconio, apud te quos militantes, moriendo triumphantes mittis caeli solio.

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In eigener Übersetzung: „[…] immer wirst du [i. e. Zürich] lachen, immer ein günstiges Schicksal haben, deshalb, weil du es lieb und wert hältst, heilige Patrone zu haben. O glücklicher Felix und sehr glückliche Regula, die ihr Zürich mit so vielen Wunderzeichen schmückt!“ Ein Textabdruck des lateinischen Textes und ein Scan des Originals (Basel, Universitätsbibliothek, F III 9) in: David Vitali, „probitas et fatum“. Ein anonymes mittelalterliches Städtelob über Zürich, in: Strenarum lanx. Beiträge zur Philologie und Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Peter Stotz zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich, hg. v. Martin H. Graf / Christian Moser, Zug 2003, 161–185, auf 183–184 die in diesem Aufsatz aufgeführten Zitate dieses Textes. In eigener Übersetzung: „Mögen diese Heiligen als Herrscher in den Himmeln für uns beten, und wir sollten unsererseits beten, dass wir mit ihnen vereinigt werden.“

Felix und Regula als Verteidiger ihres Märtyrerortes

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Quae reliquiis sacraris illorum et adiuvaris inclito suffragio.7

Sowohl das Städtelob wie die Sequenz betonen den Schutz, welcher der Stadt durch die Heiligen zuteil fällt, die Sequenz weist aber noch anschaulicher darauf hin, dass ausdrücklich die Limmatstadt – als Märtyrerort und Aufbewahrungsort der Reliquien der Heiligen – sich auf den Beistand der Märtyrer Felix und Regula berufen kann. Dieser Themenkomplex eines lokal bestimmten Schutzpotentials spielt durch die Jahrhunderte hindurch in den verschiedenartigsten Texten eine wichtige Rolle. Im Folgenden werde ich unter Heranziehung einiger dieser Texte ausführlicher darauf eingehen, wie Felix und Regula immer wieder als Beschützer oder Verteidiger der Stadt oder ihrer Bewohner gesehen oder inszeniert wurden, andererseits, wie ein solches Schutzpotenzial erst durch die Verbundenheit der Heiligen mit der Sakraltopographie der Stadt Zürich8 entstehen konnte. Dabei wird eine diachronische Darstellung des Themas angestrebt, die auch das spätmittelalterliche und nachreformatorische Zürich berücksichtigen sollte. Vor allem auf einige Texte des Chorherrn Felix Hemmerli werde ich ausführlicher eingehen. Um einen guten Überblick über das Thema bieten zu können, möchte ich aber mit einer Behandlung der mittelalterlichen Passiones anfangen. Schon in der ältesten bekannten Passio (Bibliographica Hagiographic Latina [= BHL] 2887) der Heiligen, die unter anderem in einer St. Galler Handschrift aus dem 8. Jahrhundert überliefert worden ist9, ist die Hervorhebung der Lokalität auffällig10: Acciperunt beatissima corpora eorum sua capita in manibus suis de ripa fluminis Lidimaci, ubi martyrio acciperunt, portantes ea contra montem illum dextros XL. Est autem locus ille, ubi sancti cum magno decore requiescunt, a castro Turico dextros CC, ubi ab antiquitate multi ceci et cludi ad gloriam Dei et sanctorum martyrum reuerencia sanati sunt. Et nunc si fides petentium per Dei gracia exigatur, petitiones pro diuersis necessitatibus obtineant effectum.11

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In der Übersetzung von Peter Stotz: „Zürich, du kaiserliche Stadt, frohlocke und singe einen schönen Lobgesang zum Preis deiner Glaubenszeugen, / die in dir den Kampf geführt haben und die du im Tode siegreich zum Himmelsthron emporschickst. / Durch ihre Reliquien bist du geheiligt und durch ihre kräftige Fürbitte wird dir Hilfe zuteil.“ Die Sequenz ist erst in Quellen des 16. Jahrhunderts überliefert worden (mir ist z. B. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 546, f. 363r bekannt), könnte laut Stotz jedoch etwas älter sein. Text und Übersetzung in: Turicensia Latina. Lateinische Texte zur Geschichte Zürichs aus Altertum, Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Peter Stotz, Zürich 2003, 64–67. Siehe zu Zürichs Sakraltopographie auch Beck/Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen (wie Anm. 3). Es geht um St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 225. Siehe auch Müller, Die frühkarolingische Passio der Zürcher Heiligen (wie Anm. 4). Man kann sogar von einer „Häufung der räumlichen Verweise“ (Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 [wie Anm. 3], 268) sprechen. Müller, Die frühkarolingische Passio der Zürcher Heiligen (wie Anm. 4), 143. In der Übersetzung von Silvan Mani: „Es na[h]men deren seligste Leiber ihre Häupter in ihre Hände und trugen sie vom Ufer des Flusses Limmat, wo sie das Martyrium empfangen hatten, 40 dextri gegen jenen Hügel hin. Es ist aber jener Ort, wo die Heiligen mit grosser Zierde ruhen und wo seit alters viele Blinde und Lahme zum Ruhm Gottes und zur Ehre der Heiligen geheilt worden sind, 200 dextri

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Das große Wunder, dass die Heiligen nach ihrer Enthauptung ihre Häupter wieder aufnehmen, sorgt dafür, dass man im Zusammenhang mit ihrem Martyrium schon zwei „heilige Orte“ identifizieren konnte: Den Ort, wo Felix und Regula enthauptet worden waren, und den Ort, wo sie begraben lagen12. Die Begräbnisstätte der Heiligen wurde überdies direkt mit Wunderheilungen und Hilfe in Notlagen verbunden; die erste Darstellung lokal bestimmter Hilfeleistungen der Zürcher Heiligen war damit gegeben. Auch in anderen mittelalterlichen Felix-und-Regula-Passiones13 helfen die Heiligen der Bevölkerung – auch vor ihrem Tod – mit Wundern und Genesungen, rufen sogar Menschen wieder ins Leben zurück, nur um die bis dahin heidnische Bevölkerung zu bekehren. In der „Qui decem plagis“-Version (BHL 2888) – eine Fassung der Leidensgeschichte, die unter anderem in einer Handschrift aus dem 13. Jahrhundert überliefert wurde14, aber eindeutig älter ist15 – steht: […] populum a simulacrorum errore revocabant et quos sermonibus non poterant, miraculis evidentibus perterrebant, cecos scilicet illuminantes, surdis auditum restituentes, mutis loquelam, mortuis vitam, gressum claudis, omnibus medelam infirmis. Demones effugabant, fana gentilium subvertebant. Quapropter incredulos convertebant, credentes autem ad fidem animabant.16

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vom Kastell Turicum entfernt. Auch jetzt noch, wenn der Glaube der Bittenden bei der Gnade Gottes etwas verlangt, können die Bitten in verschiedenen Notlagen einen Erfolg erzielen.“ (Iso Müller [Ed.] / Silvan Mani [Übers.], Die Leidensgeschichte der Heiligen Felix und Regula, in: Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. Legenden, Reliquien, Geschichte und ihre Botschaft im Licht moderner Forschung, hg. v. Hansueli F. Etter u. a., Zürich 1988, 18). Man kann also sagen: „Die Passio gestaltete auch den Raum der Verehrung. In ihr wurden die wichtigsten Orte erwähnt, an denen die Episoden ihres Martyriums stattfanden. Der Text strukturierte den sakralen Raum, in dem die Heiligen ihre Präsenz zeigten.“ (Beck/Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen [wie Anm. 3], 37.) Der Weg, den die Märtyrer nach ihrem Tode abgelegt hätten – und damit die Verbindung zwischen der Enthauptungsstätte und dem Ort der Gräber – fand, wie man bei Konrad von Mure (1210–1281) (Liber Ordinarius) lesen kann, später in der Form einer Prozession vom Großmünster zum Ort der Enthauptung (die Wasserkirche wird noch nicht erwähnt) seinen Einzug in die rituellen Feierlichkeiten zu Ehren von Felix und Regula; die Treppe zwischen den beiden Kirchen bezeichnet von Mure als gradus torture. (Der Liber ordinarius des Konrad von Mure. Die Gottesdienstordnung am Grossmünster in Zürich [Spicilegium Friburgense 37], hg. v. Heidi Leuppi, Freiburg 1995, 129 und 400). Diese anderen Passiones sind direkt oder indirekt alle auf die frühkarolingische Passio zurückzuführen. Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, P 14 fol.: 1, 173ra–176va. Von der Felixund-Regula-Forschung wurde diese Handschrift noch nicht wahrgenommen, obwohl mir nur wenige Handschriften mit dieser Passio-Version bekannt sind (Luzern, P 14 fol.: 1; Zürich, Zentralbibliothek, Car. C 67; Basel, Universitätsbibliothek, A IX 4 und Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Germ. Oct. 484 [deutsche Übersetzung]). Eine Edition dieses Textes ist in Vorbereitung. Der Text wird von Michele C. Ferrari als karolingisch eingestuft. Die lateinische Rechtschreibung wurde hier – und in den meisten folgenden Zitaten, die von Handschriften oder alten Drucken ausgehen – von mir normalisiert. In eigener Übersetzung: „Das Volk brachten sie von dem Irrtum der Götzenbilder ab und diejenigen, die sie mit ihren frommen Worten nicht [davon abbringen] konnten, erschreckten sie heftig durch sichtbare Wunder, nämlich, indem sie den Blinden das Augenlicht wiedergaben, den Tauben den Gehörsinn wiederherstellten, den Stummen die Sprache, den Toten das Leben, den Lahmen das Ge-

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Nach ihrem Tod nimmt diese Hilfe der Heiligen keineswegs ein Ende. Nach dem Beispiel der ältesten Passio wird auch in dieser Version betont, dass an der Stelle des Grabes durch die Jahre hindurch viele Wunder und Heilungen geschehen sind und Bittstellern dort ihren Wunsch erfüllt wird17. Man trifft im Text auf Orts- und Abstandsandeutungen wie illic („dort“), qui locus … ubi („diese Stelle … wo“) und dextri („Schritte“)18. Ähnliches gilt für die weit verbreitete „Multorum innumerabilium“-Passio (BHL 2891), die spätestens im 9. Jahrhundert verfasst wurde, wie eine in der Forschung bisher unbeachtet gebliebene Handschrift in München belegt19; in dieser Passio wird überdies – mittels Formulierungen wie locus insignis und iocundissimus locus – die günstige Lage der Burg Turicum unterstrichen. Auch diese Fassung hebt die postmortalen Hilfeleistungen der Heiligen hervor20. Obwohl diese älteren Passiones eine seit Jahrhunderten vorhandene Verehrung der Heiligen Felix und Regula in Zürich voraussetzen und diesbezüglich die Örtlichkeit bewusst hervorheben, werden das Großmünster und die Wasserkirche noch nicht explizit erwähnt. Die Verbindung des Münsters mit den Märtyrergräbern treffen wir meines Wissens zum ersten Mal im Großen Rotulus des Großmünsters aus dem 10. Jahrhundert21 an, in dem die Besitztümer des Großmünsters auf einen Be-

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hen, allen Kranken eine Heilung [gaben]. Sie vertrieben die Dämonen, die Heiligtümer der Heiden zerstörten sie. Deshalb bekehrten sie die Ungläubigen, aber die Gläubigen ermutigten sie in ihrem Glauben.“ […] ubi et Domini salvatoris potentia per evidentia miraculorum insignia per multa annorum curricula dignatur demonstrare, cuius meriti illic recondite habeantur reliquie, quia quocumque quisque laboret incommodo, si fides petentium exigat, remediatur continuo. Et quod quisque supplex fideliter probatus fuerit illic postulare, per gratiam confestim merebitur obtinere. Auch wird im Text genau beschrieben, wo Felix und Regula sich niederließen: ad pagum qui dicitur Clarona, ad caput scilicet laci quem fluvius Lindimagus effecit, qui et illic vicum Turegium preterlabitur. Es geht um München, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 14798, f. 86v–92v, die älteste bekannte Handschrift mit einer Fassung der „Multorum innumerabilium“-Version. Obwohl die Passio ins Katalogisat der Handschrift eingetragen wurde, hat die Felix-und-RegulaForschung diese Handschrift aber nie wahrgenommen. Die Wichtigkeit dieser Handschrift sollte nicht unterschätzt werden, denn sie beweist eindeutig, dass diese Version spätestens im 9. Jahrhundert verfasst wurde, wie schon Vögelin vermutet hatte (Friedrich Salomon Vögelin, Der Grossmünster in Zürich. I. Geschichte, Zürich 1840, 6). Damit sollte sie der Forschung auch als Anlass dienen, die von Lütolf formulierte These, die „Qui decem plagis“Passio sei älter als die „Multorum innumerabilium“-Passio (Alois Lütolf, Die Glaubensboten der Schweiz vor St. Gallus, Luzern 1871, 195–196), nochmals zu überprüfen. Lütolfs Behauptung (vor ihm von Johann Heinrich Hottinger formuliert), die „Multorum innumerabilium“-Fassung sei zum Gebrauch beim kirchlichen Offizium verfasst worden, scheint mir – weil sie von der handschriftlichen Überlieferung keineswegs bestätigt wird (diese Fassung wurde nie in einer Handschrift mit Officia propria überliefert) – unglaubwürdig. Nur die „Cum sancta legio“-Fassung der Passio wurde in einer Handschrift mit Officia propria überliefert. Quo in loco et illis temporibus magnis multisque miraculis floruerunt et adhuc, si petentium fides non titubet, florere non cessant. Ich folge der Datierung von Hannes Steiner, Alte Rotuli neu aufgerollt. Quellenkritische und Landesgeschichtliche Untersuchungen zum spätkarolingischen und ottonischen Zürich (Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte 42), München 1998, 53–57, 253. Von der

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fehl Kaiser Karls22 zurückgeführt werden und das Großmünster (Turicina ecclesia) mit dem Ort der Grabesstätte der Heiligen identifiziert wird23. Erst Textquellen des 13. Jahrhunderts weisen auf eine bewusste, sakralpolitisch instigierte Etablierung der Großmünster- und Wasserkirche als den Ort der Grabesstätte beziehungsweise der Hinrichtungsstelle hin. Die erste Passio-Version, die eine direkte Identifizierung des Großmünsters mit der Grabesstätte der Heiligen vornimmt, ist die „Cum sancta legio“-Fassung24, die überdies Karl den Großen als Gründer des Großmünsters vorführt25. Dieser Auftritt Karls des Großen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit zeitgenössischen Begebenheiten. Nach der Heiligsprechung Karls im 12. Jahrhundert hatte das Großmünster eine Reliquie des Kaisers erworben, die 1233 ins Großmünster überführt wurde26. Dies bedeutete den Anfang eines Karlskults in Zürich, der wohl auch dazu dienen sollte, die örtliche Sakralität und damit die Macht des Großmünsters – das sich im Konkurrenzkampf mit dem Fraumünster behaupten musste27 – zu bestätigen, indem Karl der Große die Sakralität der Heiligen um die Autorität des ebenfalls heiligen Kaisers ergänzte.

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Weihung des Altars der Heiligen Felix und Regula im Großmünster, die angeblich 1104 von Bischof Hezelo ausgeführt wurde, haben wir leider keine zeitgenössischen Zeugnisse; die von Leuppi (Heidi Leuppi, Das Grossmünster und sein Grabheiligtum Felix und Regula in Zürich von seinen Anfängen bis zum 13. Jahrhundert, in: Der Liber ordinarius des Konrad von Mure, hg. v. Leuppi [wie Anm. 12], 42) angeführten Quellen – u. a. Zürich, Zentralbibliothek, C 6b, C 6, C 10d, C 10e – stammen alle aus späterer Zeit. Für die seit Egloff vieldiskutierte Frage, ob im Großen Rotulus tatsächlich Karl der Große oder doch Karl der Dicke gemeint war, siehe Steiner, Alte Rotuli neu aufgerollt (wie Anm. 21), 53–56 und Paul Kläui, Zur Frage des Zürcher Monasteriums, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 2, Heft 3 (1952), 396–405. Die Stellen im Text, die sich auf Felix und Regula beziehen, gehen auf die „Multorum innumerabilium“-Passio zurück, und werden später im Großmünsterurbar fast wortwörtlich übernommen. (Steiner, Alte Rotuli neu aufgerollt [wie Anm. 21], 138–139). U. a. in zwei Handschriften aus dem 13. Jh. (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, U. H. 14, 102r–104r und Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 629 [258], 272r–273r) überliefert. Post decursum longi temporis inclitus imperator magnus Karolus auditis signis probatisque miraculis multis ibidem coruscantibus ad eorum gloriam et honorem fundavit ecclesiam collegiatam, quam multis dotibus ac privilegiis decoravit. (Karlsruhe, BLB, U. H. 14 [wie Anm. 24], 104r) Auch in den Statutenbüchern des Großmünsters aus dem Jahre 1346 wird Karl der Große mehrmals als der Gründer des Großmünsters (ecclesie nostre fundator) angeführt. (Die Statutenbücher der Propstei St. Felix und Regula [Grossmünster] zu Zürich, hg. v. Dietrich Walo Hermann Schwarz, Zürich 1952, u. a. 101, 147.) Die Verbindung ist vermutlich auf den Großen Rotulus zurückzuführen (siehe Anm. 22). Gerald Dörner, Kirche, Klerus und kirchliches Leben in Zürich von der Brunschen Revolution (1336) bis zur Reformation (1523) (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 10), Würzburg 1996, 165. Laut Dörner wurde vom Großmünster nicht nur der Karlstag gefeiert, sondern auch die Revelatio martyrorum Felicis et Regulae, die Auffindung der Gebeine der Heiligen Felix und Regula. Die Äbtissin des Fraumünsters erhielt im 13. Jahrhundert den Rang einer Reichsfürstin und war damit formal Stadtherrin geworden, die über verschiedenste Sachen wie u. a. Münz- und Zollrecht bestimmte. Siehe u. a. Christine Barraud Wiener, Diesseits und jenseits der Limmat, in:

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Die Legende, nach der Karl der Große die Gräber der Heiligen Felix und Regula gefunden und das Großmünster begründet haben soll, ist wohl älter28, aber die „Cum sancta legio“-Passio ist der älteste schriftliche Zeuge, der Karl den Großen als Auffinder der Heiligengräber und Begründer des Großmünsters darstellt. Die Fassung wurde wohl anlässlich der Einführung des Karlskults geschaffen, um den sakralpolitischen Machtanspruch des Großmünsters sowohl auf ihre Position als Ruhestätte der heiligen Kephalophoren, als auf kaiserliche Privilegien, die das Münster schon bei ihrer Gründung von Karl dem Großen und in späterer Zeit von dessen Nachfolgern empfangen habe, zurückführen zu können29. Im 15. Jahrhundert wird diese Entwicklung Karls des Großen zu einer weiteren Identifikationsfigur Zürichs dafür sorgen, dass der Kaiser in literarischen Texten (nämlich in Texten des Zürcher Chorherrn Felix Hemmerli) persönlich – zusammen mit den Heiligen Felix und Regula – als Beschützer Zürichs auftreten kann. Die Chorherren möchten jedoch nicht nur mittels der Propagierung der Heiligengräber und ihres kaiserlichen Entdeckers ihren sakralen Machtanspruch in der Stadt verteidigen; im 13. Jahrhundert findet nämlich auch eine Aufwertung der Wasserkirche statt: […] 1256 war die Wasserkirche aus Kyburger Besitz an das Grossmünster gelangt und mit dem um 1288 geweihten Neubau zur Märtyrerstätte von Felix, Regula und Exuperantius aufgewertet worden, was dem Schwerpunkt der Felix-und-Regula-Verehrung beim Grossmünster mehr Gewicht verlieh. Im «Liber Ordinarius», dem um 1260 entstandenen Buch mit den täglichen Regieanweisungen für die Liturgie, zeigt sich, wie ausschliesslich der Anspruch des Grossmünsters war.30

Damit benutzt das Großmünster die Heiligen Felix und Regula in ihrer Verbindung zur Sakraltopographie der Stadt, um seine geistlichen Machtansprüche – gegenüber den weltlichen und geistlichen Machtansprüchen des Fraumünsters31 – zu gewähr-

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Das Fraumünster in Zürich. Von der Königsabtei zur Stadtkirche (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 80), hg. v. Peter Niederhäuser / Dölf Wild, Zürich 2012, 18. Hier sei ein Relief im Großmünster erwähnt (vor 1150 entstanden), das meistens als Darstellung der Auffindung der Gräber von Karl dem Großen interpretiert wird (Daniel Gutscher, Das Grossmünster in Zürich. Eine baugeschichtliche Monographie [Beiträge zur Kunstgeschichte der Schweiz 5], Bern 1983, 36 und 107–110). Sowohl inhaltliche Änderungen der Passio (siehe Anm. 25), wie auch die Tatsache, dass keine frühere Handschrift mit diesem Text bekannt ist, deuten darauf hin, dass sie im 13. Jahrhundert in direktem Zusammenhang mit Veränderungen im sakralpolitischen Kontext entstanden ist. Der Große Rotulus dürfte als Inspiration gedient haben. Barraud Wiener, Diesseits und jenseits der Limmat (wie Anm. 27), 20. Das Patrozinium der Zürcher Stadtpatrone ist für die Wasserkirche erst ab 1288 nachweisbar, aber eine allmähliche Aufwertung fand ab 1257 statt, denn laut der Inkorporationsurkunde stehe die Kirche in der „Umgebung“ des Enthauptungsortes. Mehr dazu bei Christine Barraud Wiener / Peter Jezler, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft in den Festtagsprozessionen des Zürcher Liber Ordinarius, in: Der Liber ordinarius des Konrad von Mure, hg. v. Leuppi (wie Anm. 12), 129. Laut Barraud Wiener/Jezler geht aus dem Liber Ordinarius noch deutlich hervor, dass „das Grossmünster in der städtischen Liturgie nicht die führende Rolle inne hatte“ (Barraud Wiener/Jezler, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft [wie Anm. 30], 136). Das Großmünster versuchte also, dem Fraumünster die sakrale Macht streitig zu machen.

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leisten. Als zusätzliche Autorität wurde Karl der Große präsentiert, der die Heiligengräber aufgefunden und das Großmünster gegründet haben soll. Laut einer seit dem 15. Jahrhundert nachweisbaren Legendentradition habe er auch die Wasserkirche gegründet32; ob diese Geschichte im 13. Jahrhundert schon vorhanden war, von den Chorherren bewusst eingesetzt oder sogar geschaffen wurde, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall sei festzuhalten, dass das Großmünster versuchte, die Stadtpatrone völlig für sich zu vereinnahmen, wobei die sakrale Örtlichkeit eine große Rolle spielte. Möglicherweise als Antwort auf diese sakralpolitischen Bemühungen des Großmünsters, rühmte sich auch das Fraumünster ihrerseits, Reliquien der Heiligen zu haben; schon im 9. Jahrhundert hätte es eine Translation von Reliquien vom Großmünster ins Fraumünster gegeben33. Dieser Anspruch wurde von den Chorherren selbstverständlich völlig ignoriert34. Obwohl Felix und Regula in dieser Periode vor allem vom Großmünster als „Verteidiger“ seines Machtanspruchs eingesetzt wurden, war die sakraltopographische Deutung Zürichs, die sich im Laufe der Zeit ausbildete und verschiedenen Orten der Stadt durch eine Verbindung mit den Stadtpatronen Bedeutsamkeit zukommen ließ, Grundvoraussetzung für die weitere Ausformung der Heiligen als Verteidiger Zürichs. Wir sehen zwar auch im Liber Ordinarius des Konrad von Mure, wie die Heiligen die Aufgabe von Stadtbeschützern erfüllten – denn bei den Bittprozessionen, die gerade dazu dienten, Unheil und Gefahren abzuwenden, wurden an verschiedenen Stellen in der Stadt Felix, Regula und Karl der Große angerufen35 –, aber erst in Texten aus dem 14. und 15. Jahrhundert treffen wir diese örtlich bedingte Schutzfunktion der Heiligen verstärkt an. Sie äußert sich, wie wir 32

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Diese Version der Legende ist nachzulesen in der Schweizerchronik Heinrich Brennwalds (1478–1551): Heinrich Brennwalds Schweizerchronik (Quellen zur Schweizer Geschichte, Neue Folge, I. Abteilung: Chroniken 1), hg. v. Rudolf Luginbühl, Basel 1908, Bd. 1, 88–89. Laut der Version von Martin von Bartenstein gehe die Stiftung der Wasserkirche auf Zeitgenossen der Heiligen zurück. Martin von Bartensteins Chronik wurde in einer Handschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert: Martin von Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren sanct Felix, sanct Regula und sanct Exuperancio, in: Zürich, Zentralbibliothek, A 118. Siehe auch Salomon Vögelin, Geschichte der Wasserkirche und der Stadtbibliothek, Zürich 1848, 5. Diese Geschichte konnte man u. a. auf einem Wandbild im Fraumünster aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts betrachten. Siehe u. a. Gerald Dörner, Kirche, Klerus und kirchliches Leben in Zürich (wie Anm. 26), 166; Gutscher, Das Grossmünster in Zürich (wie Anm. 28), 24; Barraud Wiener, Diesseits und jenseits der Limmat (wie Anm. 27), 20; Barraud Wiener/ Jezler, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 30), 153. Aus dem Liber Ordinarius geht hervor, dass die Chorherren bei ihren Besuchen im Fraumünster nie den Altar der Heiligen Felix und Regula besuchten. Die Konkurrenz zwischen dem Frau- und Großmünster kann man auch aus den Wegen der Prozessionen herablesen; die Achse Fraumünster, Wasserkirche, Großmünster wurde nicht „liturgisch erfahrbar gemacht“. Es gab noch mehr Konflikte, siehe dazu Barraud Wiener/Jezler, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 30), 132–136. Siehe u. a. Der Liber ordinarius des Konrad von Mure, hg. v. Leuppi (wie Anm. 12), 274. Die Anrufung Karl des Großen war natürlich eine Provokation gegen das Fraumünster. Mehr zu Karl dem Großen und Zürich in: Julian Führer, Karl der Grosse und Zürich. Zum Nachleben eines Idealherrschers, Francia 42 (2015), 27–49.

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noch sehen werden, in verschiedenen differenzierten Arten des Schutzes (in militärischem Schutz und moralischem Schutz, Schutz des Wassers und der Gesundheit usw.) und geht mit einer Erweiterung der mit den Stadtpatronen verbundenen Sakraltopographie einher. Immer mehr Kirchen der Stadt wurden als Märtyrerorte „identifiziert“ oder eher als solche inszeniert. Schon bei Konrad von Mure treffen wir auf eine solche Erweiterung der Märtyrerorte, denn in der von ihm verfassten metrischen Passio sanctorum martyrum Felicis et Regule et Exuperancii36, die teilweise auf die „Qui decem plagis“-Version zurückgeht, wird – ausgehend von mündlicher Überlieferung (Sicut fama refert, cui sepe fides adhibetur, / cum de facto nec scriptum nec testis habetur37) – die Stelle der Johannes- und Pauluskapelle mit dem Ort identifiziert, wo Felix und Regula in Blei und Pech getaucht wurden. Wohl einen ziemlich vollständigen Überblick der Märtyrerorte liefert aber im 16. Jahrhundert der Chronist Heinrich Brennwald (1478–1551)38, der zwischen 1508 und 1516 eine vierteilige Schweizerchronik verfasste. Brennwald schreibt: Nun ist zü wüssen, das der wütterich die lieben heiligen allwegen hat marteren lassen an den orten, das er es von sinen schloss hat sechen mögen.39

Welche Orte betrifft dies denn? Laut Brennwald seien die Heiligen an der Stelle des Frauenklosters Oetenbach gegeißelt worden, das Sieden in Öl fand „in schloss Thurrico“ (im Kastell) statt, wo man später eine Kapelle zu Ehren der Märtyrer gebaut hätte. Die Räderung hätte an der Stelle der Stephanskapelle stattgefunden40. Beim Abbruch der ehemaligen Kapelle Anfang des 20. Jahrhunderts fand man tatsächlich ein Wandgemälde – 1524 fertiggestellt – mit einer Darstellung der Räderung und dem Text: „hie ist . s. felix und . s. regula und s Exiprantz grederet w …“41. 36

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Der Text wurde 1990 von Renate Schipke in Zwickau wiedergefunden (Konrad von Mure, Passio sanctorum martyrum Felicis et Regule et Exuperancii, in: Zwickau, Ratsschulbibliothek, Ms. XLVIII, 23r–32v). Mehr zur Passio in: Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 (wie Anm. 3), 269–271. Michele C. Ferrari bereitet auch eine Edition dieser Passio vor. Mure, Passio sanctorum martyrum (wie Anm. 36), 32v. Dieselben Märtyrerorte wie bei Brennwald findet man auch in der 1576 vollendeten Schweizer Chronik Christoph Silberysens (1541–1608), der für diesen Teil Brennwald als Vorlage benutzte. (Christoph Silberysen, Chronicon Helvetiae, 1576, in: Aarau, Aargauer Kantonsbibliothek, MsWettF 16:1.) Brennwald selbst benutzte wohl Martin von Bartenstein als Vorlage (Gutscher, Das Grossmünster in Zürich [wie Anm. 28], 36); auf jeden Fall wird bei Martin von Bartenstein das Oetenbacher Kloster schon als Ort der Geißelung dargestellt. (Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren [wie Anm. 32], 19v; Ferdinand Keller, Nachträgliche Bemerkungen über die Bauart des Grossmünsters in Zürich, Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 2, 2 [1844], 105–114, hier 106). Heinrich Brennwalds Schweizerchronik, hg. v. Luginbühl (wie Anm. 32), 77. Ebd., 77–79. Zürich, Schweizerisches Landesmuseum, LM 10849. Das Gemälde wird meistens Hans Leu dem Jüngeren zugeschrieben. Siehe u. a. Lucas Wüthrich, Wandgemälde. Von Müstair bis Hodler. Katalog der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich, Zürich 1980, 137–138; Johann Rudolf Rahn, Die St. Stephanskapelle in Zürich und ihre Wandgemälde, Anzeiger für schweizerische Altertumskunde: Neue Folge 11 (1909), 14–23.

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Vielleicht kannte der Maler die Chronik Brennwalds oder einen anderen spätmittelalterlichen Text, in dem die Stephanskapelle mit dem Räderungsort gleichgestellt wird42; wichtig ist, dass durch das Gemälde die Verbindung der Heiligen mit der Stephanskapelle an Ort und Stelle sichtbar war und eine direkt spürbare Anwesenheit der Heiligen geschaffen wurde43. Nach der Räderung habe laut Brennwald die Enthauptung dort stattgefunden, „da jetz die Wasserkilch statt“44; die Etablierung der Wasserkirche als Ort der Enthauptung war, wie wir gesehen haben, schon im 13. Jahrhundert erfolgt. Schließlich seien laut Brennwald die Heiligen dann mit ihren Häuptern zu ihrer Begräbnisstätte gelaufen, wo Karl der Große die sterblichen Überreste später gefunden habe und sie zunächst ins Fraumünster habe übertragen lassen, nach dem Bau des Großmünsters jedoch wieder „an ir vorige statt“ habe tragen lassen45; nur den dritten Heiligen, Exuperantius, habe er mit nach Aachen genommen. Die Zahl der in Zürich befindlichen, örtlich genau festgelegten Märtyrerorte wurde also im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen erweitert. Aber auch sonst wurden im spätmittelalterlichen Zürich in der ganzen Stadt Stätten mit Felix und Regula assoziiert, denn man traf allerorts auf Abbildungen der allgegenwärtigen Stadtpatrone, nicht nur an den angeblichen Märtyrerorten, auch in z. B. Hauskapellen oder bei den Stadtbrunnen46. Durch diese spürbare Präsenz der Heiligen in der Stadt47, konnte die Macht der Heiligen, die sich – ausgehend von der frühesten Passio – anfangs fast ausschließlich auf die Grabesstätte beschränkt hatte, in spätmittelalterlichen Texten auf die ganze Stadt übertragen werden. Obwohl die wichtigsten Märtyrerorte ihre „höhere Stufe der Heiligkeit“ behielten, konnten die Heiligen dadurch als Patrone und Beschützer der ganzen Stadt und ihrer Bürger dargestellt werden. Deshalb wurde – wie sich im Folgenden noch zeigen wird – die Verbundenheit der Heiligen mit der Stadt immer wieder aufgegriffen, konnte literarisch 42 43 44 45 46

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Auch Martin von Bartenstein nennt St. Stephan, aber nicht als Ort der Räderung, sondern als den Ort, wo das Sieden in Öl stattfand. (Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren [wie Anm. 32], 25v.) Die Bevölkerung konnte das Gemälde leider nicht lange bewundern: Infolge der Reformation wurde die Kapelle 1525 geschlossen und zu einem Wohnhaus umgebaut. Heinrich Brennwalds Schweizerchronik, hg. v. Luginbühl (wie Anm. 32), 80. Dass das Fraumünster die Sache anders sah, wurde schon erwähnt. Brennwalds Version unterstützte die Ansicht, dass nur das Großmünster sich der Gebeine/Reliquien der Stadtheiligen rühmen konnte. Wie wir teilweise noch sehen werden, befanden sich u. a. Abbildungen der Heiligen im Großmünster, Fraumünster, in der Stephanskapelle, in der Jakobskapelle, in der Hauskapelle im Haus „Zum Königsstuhl“, in der St.-Moritz-Kapelle auf der Spanweid und am dreiröhrigen Brunnen. Siehe für einen schönen Überblick über die Abbildungen der Heiligen Cécile Ramer, Felix, Regula und Exuperantius. Ikonographie der Stifts- und Stadtheiligen Zürichs (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 47), Zürich 1973. Auch Münzen und Siegel wurden von Ramer aufgenommen. Zur Präsenz des Heiligen schreiben Beck/Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen (wie Anm. 3), 34: „die Präsenz des Heiligen äußert sich über das sinnlich Wahrnehmbare und spezifisch im Heiligenkult über das Körperliche, das als Medium wirkt und trotz seines kontingenten, weil vergänglichen Charakters auf die Evidenz seiner Exzeptionalität hinweist.“

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oder politisch eingesetzt oder auch zu einem örtlichen Solidaritätsbekenntnis umstrukturiert werden: Felix und Regula werden auf verschiedenste Art und Weise als Beschützer der Stadt dargestellt48.

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Obwohl Felix und Regula also nachdrücklich lokale Heilige waren, deren Verehrung sich fast ausschließlich auf Zürich und Umgebung beschränkte, gibt es einige markante Ausnahmen. Als auffälligste Beispiele seien hier Spuren der Verehrung in Ulm, Herzogenbuchsee und sogar in Österreich (Wien und Bruck an der Mur) zu erwähnen. In der Neithardtkapelle im Ulmer Münster (von Heinrich Neithardt [†1439] gestiftet) befand sich ein leider nicht mehr vorhandenes Glasfenster (um 1480 verfertigt) mit einer Abbildung von Felix und Regula, die ihre Häupter auf Schüsseln tragen. Aus der Beischrift ging deutlich die Mittlerfunktion der Heiligen zwischen den Menschen und Gott hervor: „Sanctorum Felicis et Regule oratio commendet nos omnipotenti Deo.“ (Elias Frick, Templum parochiale Ulmensium. Ulmisches Münster. Oder: Eigentliche Beschreibung von Anfang, Fortgang, Vollendung und Beschaffenheit des herrlichen Münster-Gebäudes zu Ulm, Ulm 1718, 36). Das Vorhandensein der Abbildung erklärt sich daraus, dass Heinrich Neithardt (†1500) Propst am Großmünster war und die Zürcher Stadtheiligen zu seiner Vaterstadt Ulm „mitgenommen“ hatte. In Herzogenbuchsee (im Kanton Bern) fand man beim Abbruch einer Kirche ein Gewölbe mit Abbildungen und Reliquien der Märtyrer (Keller, Nachträgliche Bemerkungen [wie Anm. 38], 113). Sogar in Wien soll es laut einer Ablassurkunde Bischof Alexanders von Forlì aus dem Jahr 1478 (Wien, Diözesanarchiv Urkunden [1139–1600] 14780526, auf: http://monasterium.net/mom/AT-DAW/Urkunden/14780526/charter, abgerufen am 18.07.2017) im Neuen Karner eine Kapelle der Heiligen Felix, Regula und Exuperantius – in der Urkunde Exuperantia genannt – gegeben haben (siehe auch Ferdinand Opll, Das Archiv eines päpstlichen Legaten aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Ein Bestand im Wiener Stadt- und Landesarchiv, in: Städtische Wirtschaft im Mittelalter. Festschrift für Franz Irsigler, hg. v. Rudolf Holbach / Michel Pauly, Köln/Weimar/Wien 2011, 179–210, hier 201). Reliquien scheint es dort auf jeden Fall gegeben zu haben, denn die Abschrift eines Notariatsinstruments im sogenannten Kreuzensteiner Legendar bezeugt, wie Chorherr Johannes von Rietheim dem Großmünster schon im Jahre 1400 versprach, seinem Bruder Johann Brennschenk in Wien Gebeine der Zürcher Heiligen zu übermitteln; danach folgt in der Handschrift die vita sanctorum Felicis et Regule patronorum in carnario sancti Stephani Wienne (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. n. 35756, 103v–104v; Walter Jaroschka / Alfred Wendehorst, Das Kreuzensteiner Legendar. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Hagiographie des Spätmittelalters, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 65 [1957], 369–418). Auch in der Kirche St. Ruprecht (Bruck an der Mur) trifft man auf die Zürcher Heiligen: Ein auf 1416 datiertes Fresko zeigt Felix, Regula und Exuperantius mit einem Spruchband („fenite · benedicti · patris · mei“). Der Auftraggeber war der Stadtpfarrer von Bruck, ein gewisser Rüdiger Ölhafen (Elga Lanc, Die Mittelalterlichen Wandmalereien in der Steiermark [Corpus der Mittelalterlichen Wandmalereien Österreichs 2], hg. v. Bundesdenkmalamt und v. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2002, 59–64 [Textband], Nr. 74 [Tafelband]). Dass Ölhafen ein gebürtiger Zürcher war, erklärt, wieso er die Zürcher Stadtpatrone abbilden ließ. In diesem Zusammenhang verdient vielleicht auch ein in Esztergom und Linz aufbewahrter Bilderzyklus der Zürcher Stadtheiligen Beachtung (um 1480 oder 1490 entstanden), der sich einst an einem Flügelaltar in einer Kirche in der Nähe von Kaschau (!) befand; zur Entstehungsgeschichte dieser Gemälde bestehen mehrere Theorien. (Siehe u. a. Scott B. Montgomery, Securing the Sacred Head. Cephalophory and Relic Claims, in: Disembodied Heads in Medieval and Early Modern Culture, hg. v. Catrien Santing / Barbara Baert / Anita Traninger, Leiden/Boston 2013, 77– 115, hier 94–95). Diese und ähnliche Beispiele, die zeigen, wie die Bekanntheit der Zürcher Stadtpatrone sich – durch u. a. Zürcher Bürger oder Reliquienbesitz – weit über die Stadtgrenzen hinaus verbreitet konnte, bleiben jedoch Ausnahmen.

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Die ersten Texte, die ich in diesem Zusammenhang behandeln möchte, stammen vom Zürcher Chorherrn Felix Hemmerli (1388–1458)49, der in Bologna Kirchenrecht studiert hatte und vor allem wegen seiner polemischen Schriften Bekanntheit genießt50. In Hemmerlis Texten treten die Zürcher Stadtpatrone zweimal auf die Bühne. Erstens in einem fiktiven, angeblich von den Stadtpatronen persönlich aufgestellten Himmelsbrief51. Der Brief ist eine scharfe Kritik an die Zürcher Geistlichen, die den divinus cultus – den Gottesdienst oder Messe – vernachlässigen würden. Dass Hemmerli hinter dem Text steckte, war seinen Zeitgenossen durchaus bekannt; wer anders hätte einen so beißenden kirchenrechtlichen Text verfassen können? Der doctor decretorum hatte ähnliche Themen auch schon andernorts betont. Der besagte Brief – angeblich 1439 von den Heiligen aus den Himmeln verschickt worden – trägt den Titel: Tenor epistole de celis misse per patronos ecclesie Thuricensis contra negligentes divinum cultum52. Obwohl der Text verschiedene interessante Aspekte enthält, möchte ich in diesem Zusammenhang nur darstellen, dass die Heiligen sich in Hemmerlis Inszenierung deshalb als moralische Wärter der Stadt aufwerfen können, weil sie in Zürich ihr Martyrium erlitten haben. Dass die Lokalität wichtig ist, formulieren die Heiligen selbst am besten. Denn obwohl ihr Ruheplatz im Himmel – in civitate Domini – sei, sagen sie: Iubet ordo rationis et dictat uictoriosi certaminis magnanimitas, ut locus, qui tam gloriose exstitit nostro redimitus triumpho, extra nostram penitus non exuletur memoriam.53

Die Heiligen sorgen sich aber um ihre Stadt und – als patroni ecclesie maioris Thuricensis – insbesondere um ihre Kirche, das Großmünster; deshalb fragen sie sich, weshalb schon so lange niemand aus dem Zürcher Domkapitel im Himmel erschienen ist und entdecken, dass der divinus cultus wohl nicht gut genug in Ehren gehal49

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Siehe zu Hemmerli Colette Halter-Pernet, Felix Hemmerli. Zürichs streitbarer Gelehrter im Spätmittelalter. Mit Übersetzungen aus dem Lateinischen von Helena Müller und Erika Egner Eid, Zürich 2017 (es handelt sich bei diesem Band um eine populärwissenschaftliche Publikation, die eine thematisch angeordnete Biographie Hemmerlis und eine Auswahl seiner Texte [Latein/Deutsch] enthält); Balthasar Reber, Felix Hemmerlin von Zürich. Neu nach den Quellen bearbeitet, Zürich 1846; Hermann Walser, Meister Hemmerli und seine Zeit 1388–1458, Zürich 1940. Er machte sich deswegen viele Feinde und wurde Ende seines Lebens sogar eingesperrt. Hemmerli war unter anderem mit Mitgliedern der Neithardtfamilie (siehe Anm. 48) verfeindet, vor allem mit Propst Matthäus Neithardt. Gedruckt in: Felix Hemmerlin, Varie oblectationis opuscula et tractatus, Straßburg 1497; der Band in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt wurde durchnummeriert und enthält den Text des Himmelbriefes auf 58r–61v (online verfügbar auf: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt. de/show/inc-iv-5, abgerufen am 19.07.2017). Der Text steht auch in: Halter-Pernet, Felix Hemmerli (wie Anm. 49), 204–237; leider wurde bei der Ausgabe des Textes nicht berücksichtigt, dass es auch handschriftliche Quellen gibt (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 124; Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. phil. fol. 91). In eigener Übersetzung: „Der Inhalt eines von den Patronen der Zürcher Kirche aus den Himmeln gesandten Briefes gegen diejenigen, die den Gottesdienst vernachlässigen.“ In eigener Übersetzung: „Die Ordnung der Vernunft befiehlt es und die Großmut des siegreichen Kampfes schreibt es vor, dass der Ort, der sich – durch unseren Sieg bekränzt – so glorreich gezeigt hat, durchaus nicht aus unserer Erinnerung verbannt werden kann.“

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ten wird54. Um eine Lösung für die Missstände in ihrer Kirche – in ecclesia nostra – zu suchen, suchen sie Hilfe bei Karl dem Großen, der dafür – als Gründer des Großmünsters und Auffinder der Märtyrergräber – offensichtlich der geeignete Kandidat war. Wieder ist die Örtlichkeit wichtig, denn die Heiligen betonen, dass sie nach ihrem Tod ihre Häupter zur Stelle des heutigen Großmünsters getragen hätten, ubi corporaliter requiescimus. Eine Begebenheit prangern die Heiligen deshalb besonders an: Dass sie wahrgenommen haben, wie „kaum vierzig Ellen“ von dieser ihrer Grabesstätte entfernt ein Gasthaus errichtet worden sei, „wo in Wort und Tat viele Vergehen ausgeführt werden, die gegen die Ansicht des vorhergenannten Gründers sind, und wo ihr in der Zeit der Gottesdienste Unverschämtheiten getrieben habt und vielleicht bis jetzt treibt“55. Gerade die Lage der Kneipe ist der heikle Punkt, denn eine Kneipe steht natürlich nicht mit der Heiligkeit des Ortes im Einklang. Es ist aber auch die Lokalität, die dafür sorgt, dass Felix und Regula sich um den Ort, die Kirche und die Zürcher kümmern; weil es um ihre Grabesstätte, um ihre Kirche und ihre Stadt geht, können sie als Verteidiger der Rechtgläubigkeit der Zürcher Geistlichen auftreten und die Rolle moralischer Schutzheiligen übernehmen. Die Rolle der Stadtpatrone bleibt bei Hemmerli jedoch nicht auf moralische Anklage und Sicherstellung der Zürcher Rechtgläubigkeit beschränkt. In Kriegszeit können die Märtyrer – einem anderen Text Hemmerlis zufolge – die Stadt auch gegen reale Feinde verteidigen. Hintergrund formte der Alte Zürichkrieg, der in den Jahren 1440 bis 144656 zwischen Zürich und der restlichen Eidgenossenschaft geführt wurde. Im genannten Zürichkrieg erlitten die Zürcher 1443 in der Schlacht bei St. Jakob an der Sihl (bei Zürich) eine große Niederlage; Rudolf Stüssi, der Bürgermeister Zürichs, wurde dabei auf der Sihlbrücke getötet. Zwei Jahre später kam jedoch in einer anderen Schlacht bei St. Jakob an der Birs (bei Basel) die Mehrheit der Eidgenossen um57. Vor dem Hintergrund dieses Krieges verfasste Hemmerli sein Hauptwerk De nobilitate über die Vorzüge des Adels. Diesem Werk fügte er einen fiktiven, im Himmel – vor Gott! – geführten Prozess bei, den Processus iudiciarius58. Die Parteien im Prozess: Der Adel und die Zürcher als die „Guten“, die 54

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Durch diese Nachlässigkeit würde der Klerus ihren Eid (sacramentum) missachten. Im Himmelsbrief erklären die Heiligen die Wichtigkeit des Eides, die Gefahren des Meineides und die „Heilmittel“ gegen diese Gefahren. Mit dem Eid sind vermutlich die in die Statutenbücher aufgenommene Verpflichtungen der Chorherren, insbesondere das iuramentum canonicorum gemeint (Die Statutenbücher der Propstei St. Felix und Regula, Schwarz [wie Anm. 25], bes. 306); Hemmerli hatte sich intensiv mit den Statutenbüchern beschäftigt. In eigener Übersetzung. Auf Latein: […] vix 40 cubitis tabernam constituistis, ubi verbo et opere multi perficiuntur excessus contra mentem fundatoris predicti et ubi tempore divinorum insolentias exercuistis et fortassis hodie exercetis. (Hemmerlin, Opuscula et tractatus [wie Anm. 51], 59v [im Druck Darmstadt].) Bis 1450, wenn man die Friedensverhandlungen mitzählt. Siehe zum Alten Zürichkrieg u. a. Alois Niederstätter, Der Alte Zürichkrieg. Studien zum österreichisch-eidgenössischen Konflikt sowie zur Politik König Friedrichs III. in den Jahren 1440 bis 1446 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 14), Böhlau/ Wien 1995. Nach dem Processus folgt auch noch ein fiktiver Brief Karls des Großen an Friedrich III. Der lateinische Text des Processus in: Felix Malleolus, De nobilitate et rusticitate. Dialogus,

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Schweizer und deren complices als die „Schlechten“. Gegenstand des Prozesses: Die Schlacht bei St. Jakob an der Sihl. Wo die Schlacht stattfand, wird genau definiert: extra muros Thuricenses, in et prope capellam sancti Jacobi leprosorum et iuxta ripam ibidem defluentem59. Im Laufe der Schlacht treffen, weil sie gestorben sind, immer mehr Zürcher im Himmel ein. Auf ihre Bitten hin werden sie zu der Wohnung der Zürcher Stadtheiligen – der antiquissimorum burgensium der Stadt Zürich – gebracht. Die Heiligen freuen sich darüber, ihre Mitbürger (compatrioti) zu sehen, aber die Geschehnisse betrüben sie natürlich sehr und sie fühlen eine mütterliche Verantwortung. Auch hier wird Karl der Große eingeschaltet: Felix erzählt ihm, was geschehen ist und Karl bestimmt, dass Jakobus bei Gott einen Gerichtstermin regeln soll, weil in der Schlacht bekanntlich auch die Kapelle des heiligen Jakobus geschädigt worden ist. Am folgenden Tag ziehen deshalb alle mit Magister Ivo Hélory (1253–1303), dem einzigen Rechtsgelehrten im Himmel60, zu Gott. Gott hat mit dem Basler Konzil und den Gegenpäpsten eigentlich genug zu tun, nimmt sich aber dennoch Zeit für die Anklage. Natürlich haben die Schweizer ihrerseits das Recht sich zu verteidigen, aber kein einziger Schweizer erscheint vor der gesetzten Frist im Himmel. Ihre Schuld steht damit fest. Es werden mehrere Beschlüsse gefällt, aber Felix, Regula und Exuperantius bekommen die Aufgabe, ihren belagerten Mitbürgern auf der Erde beizustehen, ihnen Trost zu verschaffen: Quatinus accedentes […] et properantes ad concives et domesticos vestros incolas oppidi Thuricensis […] per dictos Switenses et complices obsidione ferocissima circumfallatos […] Qui quidem martyres taliter ad locum suum festinantes ambulaverunt et experienter talem in effectu patenter executionem peregerunt, quia in eodem loco non timor, non pavor neque ullus dolor, quia priora transierunt, neque ullus clamor fuit in plateis eorum, sed pure huius obsidionis tempore portis totius urbis per diem et noctem constanter apertis […] erat ibidem gaudium patenter immensum […].61

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Straßburg ca. 1500, CXLIIIv–CXLVIIIr (online verfügbar auf: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt. de/show/inc-iv-3/0001, abgerufen am 20.07.2017). Eine Teilübersetzung in: Wilhelm Wackernagel, Die Schlacht bei St. Jacob in den Berichten der Zeitgenossen. Säcularschrift der historischen Gesellschaft zu Basel, Basel 1844, 78–89. Malleolus, De nobilitate (wie Anm. 58), CXLIIIv. In der Übersetzung von Wackernagel, Die Schlacht bei St. Jakob (wie Anm. 58), 79: „vor den Mauern Zürichs, in und bei der Kapelle von St. Jakob der Aussätzigen, und am Ufer des vorbeifließenden Stroms.“ Dieser magister Ivo tritt auch im Himmelsbrief auf. Gemeint ist mit Sicherheit Ivo Hélory, Anwalt der Armen und Schutzheiliger der Juristen, hier als der einzige Rechtsgelehrte im Himmel präsentiert. Wieso Hemmerli gerade Ivo auftreten lässt, veranschaulichen einige berühmte Verse: „Sanctus Ivo erat Brito / Advocatus et non latro / Res miranda populo.“ (Siehe z. B. Bryan Gibson, Law, Justice and Mediation: The Legend of Saint Yves, Hook 2008, 69). Wer glaubt, Ivo von Chartres sei gemeint, wie Wackernagel und sogar die neueste Literatur behauptet (Halter-Pernet, Felix Hemmerli [wie Anm. 49], 84, 209), hat den Witz nicht verstanden. Ansonsten geht die Identifizierung auch schon daraus hervor, dass Ivo im Text als Ivo von Bretagne (de Britannia magister Yvo) gekennzeichnet wird. In der Teilübersetzung von Wackernagel, Die Schlacht bei St. Jakob (wie Anm. 58), 86–87: „[…] tretet hinzu und eilet zu euern Mitbürgern, den Bewohnern der Stadt Zürich, die von den Schweizern umlagert sind […] Die Märtyrer entwandelten also eilfertig an ihren Ort, und es war daselbst keine Furcht, kein Schrecken, noch irgend ein Geschrei in den Straßen, sondern

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Während die Heiligen Stadtpatrone ad locum suum gegangen sind, warten auf die anderen Heiligen weitere Aufgaben: Jakobus bereitet für die Schweizer einen irdischen Ort der Qualen (locus tormentorum) vor, einen ähnlichen Ort wie St. Jakob an der Sihl, nämlich St. Jakob an der Birs, den Ort, wo die Schweizer in Zukunft geschlagen werden. Karl der Große hilft auf dem Schlachtfeld. Auf diese Art und Weise werden die Zürcher im Alten Zürichkrieg von ihren Stadtpatronen – per sanctorum Felicis et Regule et Exuperantij diligentiam sollicitudinis –, von dem Gründer des Großmünsters und von Jakobus befreit (liberati sunt); alle diese Heiligen haben gemeinsam, dass ihre Ortsbezogenheit sie zur Hilfe anspornt. Martin von Bartenstein übernimmt diese Darstellung der Zürcher Stadtheiligen als Verteidiger der Stadt. Ihm zufolge haben die Stadtpatrone Gewalt über lip und sel der Zürcher, über güt und ere; dies erkläre, weshalb die Zürcher in der Schlacht bei St. Jakob an der Birs – als all eÿtgnossen mit macht umb lagen dÿe statt zürich – dennoch behüt [wurdent] vor verderblichem schaden62. Auch die Ikonographie eines Lux Zeiner zugeschriebenen Scheibenrisses, auf dem Felix und Regula beim Thron Karls des Großen stehen, ist auf Hemmerli zurückzuführen; auf dem Bild hat der Kaiser sein Schwert halb aus der Scheide gezogen, möglicherweise, weil er „Rache an den Eidgenossen üben will“63. Hemmerli konnte seinerseits auf bereits bestehende Abbildungen zurückgreifen. Die Verbindung zwischen Karl dem Großen und Jakobus konnte sich auf eine lange Tradition berufen64, die Verbindung der Zürcher Stadtheiligen mit Jakobus ist aber ungewöhnlich. Diesbezüglich können die Wandgemälde der Jakobskapelle, die Szenen aus der Felix-und-Regula-Legende darstellten, Hemmerli inspiriert haben65; vielleicht kannte er auch den Heiligenzug, den man im Haus „Zum Königsstuhl“ – der Wohnung des in der Schlacht verstorbenen Bürgermeisters – bewundern konnte und der von den drei Stadtheiligen und von Jakobus angeführt wurde66. Auch andere Autoren präsentieren die Heiligen als Verteidiger ihrer Stadt. Der Dominikaner Albert von Weissenstein beschreibt – nachdem er betont hat, dass Felix, Regula und Exuperantius in Zürich (in te) begraben liegen –, wie die Zürcher die Stadtpatrone auf ihren im Krieg siegreichen Bannern führen:

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während der ganzen Zeit dieser Belagerung standen Tag und Nacht die Thore der Stadt alle offen, und es war dort unendliche Freude offenbar.“ Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren (wie Anm. 32), 48r. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Karl der Grosse als Sinnbild des weisen und zornigen Richters, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 61, Heft 1 (2004), 31–43. Saurma-Jeltsch führt mehrere Übereinkünfte zwischen dem Scheibenriss und den Texten Hemmerlis an. Sie geht in diesem Aufsatz auch auf andere Abbildungen Karls des Großen ein (mit den Stadtpatronen und ohne). Siehe dazu Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. v. Klaus Herbers, Tübingen 2003. Die Überreste dieser Wandgemälde aus dem 13. Jahrhundert wurden beim Abbruch der Kapelle 1903 wieder aufgefunden. Siehe dazu Johann Rudolf Rahn, Die St. Jakobskapelle an der Sihl bei Zürich und ihre Wandgemälde, Anzeiger für schweizerische Altertumskunde: Neue Folge 5, Heft 1 (1903), 14–23. Wüthrich, Wandgemälde. Von Müstair bis Hodler (wie Anm. 41), 108–115.

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Mariëlla Niers Hii sunt primicerii fidei cristiane in hiis terris, quos Thuricensis civitas in suis bellorum victoriosis vexiliis iugiter defert, quibus universorum hostium agmina in fugam vertuntur.67

Felix und Regula waren aber schon im 13. Jahrhundert gute Verteidiger und Kämpfer; in den Historiae memorabiles Rudolfs von Schlettstadt lesen wir, wie 1286 ein Dämon in der Stadt umherging. Ein Teil der Stadt wurde dabei durch Brand zerstört, das monasterium sanctorum Felicis et Regule aber nicht. Der Dämon sagt dazu: Se viriliter defenderunt et nos fugere cogerunt68. Auch bei Hemmerli wird zu dieser Periode – im Jahre 1280 – ein großes Feuer erwähnt; möglicherweise ist derselbe Brand gemeint. Bei Hemmerli gibt es seitens der Heiligen jedoch nur eine Warnung, denn genau bei den Gräbern der Heiligen sei mit einem lauten Knall ein Stein zerspalten und habe auf diese Weise die Katastrophe vorhergesagt69. Ein ähnlicher Knall habe um Mitternacht am Felix-und-Regula-Tag im Jahre 1440 den Zürichkrieg angekündigt70. In den behandelten Texten traten Felix und Regula einerseits als moralische Ordnungshüter, andererseits als aktive Beschützer und Warner ihrer Stadt auf. Schon aus der ältesten Passio geht aber hervor, dass die Bevölkerung Zürichs auch mit einem anderen Schutz rechnen konnte; die Heiligen waren nämlich imstande, Menschen zu heilen und vor Krankheiten zu schützen. Diese Heilungsgabe wird in vielen spätmittelalterlichen Texten wieder aufgegriffen und – möglicherweise, weil die Heiligen am Wasser enthauptet worden waren – meistens irgendwie mit Wasser assoziiert. Einige Beispiele sollen dies erläutern. Als in den Jahren 1348/9 in Europa – auch in Zürich – die Pest wütete, wurde behauptet, die Juden hätten die Brunnen vergiftet71. Um das Wasser in Zukunft vor Vergiftungen zu schützen, wurden in Zürich die Schöpfräder, die man nachher in der Limmat errichtete, mit Abbildungen der Stadtheiligen versehen72. Eine Darstellung findet man in einer Anfang des 16. Jahrhunderts entstandenen Handschrift der

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„Sie sind die Vorreiter des christlichen Glaubens in diesem Land, sie führt die Stadt Zürich stets auf ihren Bannern, die im Krieg siegreich sind und mit denen die Scharen aller Feinde in die Flucht geschlagen werden.“ Text und Übersetzung in: Turicensia Latina, hg. v. Peter Stotz (wie Anm. 7), 132–133. „Sie haben sich tapfer verteidigt und uns zur Flucht genötigt.“ Text und Übersetzung in: Turicensia Latina, hg. v. Peter Stotz (wie Anm. 7), 88–89. Wie wir gesehen haben, wurden die Heiligen schon in der „Qui decem plagis“-Passio als Vertreiber von Dämonen dargestellt. Auch bei Konrad von Mure vertreiben die Heiligen Dämonen (pellunt demonia): Mure, Passio sanctorum martyrum (wie Anm. 36), 27r. Malleolus, De nobilitate (wie Anm. 58), XCIIIIv: […] apud tumbas martyrum ibidem patronorum lapis violenter nullo movente confractus, talem legitur fecisse adinstar tonitrui frangore terribili coruscantis sonitum. Malleolus, De nobilitate (wie Anm. 58), XCIIIIv. Geschichte des Kantons Zürich 1 (Frühzeit bis Spätmittelalter), hg. v. Niklaus Flüeler, Zürich 1995, 351. Walter Baumann, Zürichs älteste Röhrenbrunnen, in: Zürich im Rückspiegel. Nachrichten aus dem Stadthaus, Walter Baumann, Zürich 1995, 134–137.

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Eidgenössische[n] Chronik Diebold Schillings73. Felix und Regula schützten das Wasser, schützten ihre Stadt. Mit Wasser konnten die Heiligen auch seelischen Schutz bieten. Weil die Taufe im Großmünster unter der Obhut der Kirchenpatrone stand, verspürte Felix Fabri nach eigener Aussage unter anderem wegen seiner Taufe eine Verbundenheit mit den Heiligen und Zürich: Sum enim natus in illa civitate Turicensi et renatus fonte baptismatis ad tumbas sanctorum martyrum […] sicque ipsis sanctis et loco affectus.74

Das Taufwasser – beim Grab der Heiligen – bot vielleicht seelischen Schutz, konkrete Heilungen, die in den alten Passiones in erster Stelle am Ort der Grabesstätte stattgefunden hatten, verschoben sich im späten Mittelalter anscheinend zum Ort der Enthauptung. Denn aus dem Zürcher Ablasstraktat des Albert von Weissenstein aus dem Jahre 1480 kann man erfahren, dass die Heiligen den Bürgern dort sogar heilendes Wasser zur Verfügung stellten75. Es ist von einer Heilquelle die Rede, die unter den Fundamenten der Wasserkirche – an dem Ort des Martyriums also – zum Vorschein gekommen sei76. Laut Albert von Weissenstein habe die Quelle – ein fons salutis – viele geheilt: 73

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Diebold Schilling, Eidgenössische Chronik, in: Luzern, Korporation Luzern, S 23 fol., 424 (online verfügbar auf: http://www.e-codices.unifr.ch/en/kol/S0023-2/424, abgerufen am 22.07.2017). Brunnen dienten auch als Rechtsorte (siehe dazu Louis Carlen, Brunnen und Recht in der Schweiz, Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 4 [1982], 41– 68, hier 60–61), wie man auch bei Schilling sehen kann; die Heiligen schützen also nicht nur das Wasser, sie waren sozusagen auch Aufseher in Rechtssachen. Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Aegypti peregrinationem 3, hg. v. Konrad Dietrich Hassler, Stuttgart 1849, 192. In eigener Übersetzung: „Denn ich wurde in jener Stadt Zürich geboren und durch das Taufwasser bei den Gräbern der Heiligen Märtyrer wiedergeboren […] und bin auf diese Art und Weise von den Heiligen selbst und dem Ort berührt worden.“ Aus dem Text geht hervor, dass Fabri die „Cum sancta legio“-Fassung kannte. Fabri nennt seinen Namen „Felix“ als weiteren Grund für Verbundenheit mit den Heiligen und Zürich; Felix und Regula waren – auch nach der Reformation – sehr populäre Taufnamen. (Mehr dazu bei Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 [wie Anm. 3], 263 und Beck/Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen [wie Anm. 3], 47–48). Von Heilungen war schon ab der ältesten Passio die Rede. Eine Verbindung von Heilungen und Wasser findet man spätestens bei Konrad von Mure, der von einem gläsernen Gefäß (vitreo vase) berichtet, aus dem die Heiligen getrunken hätten. Sollte man aus diesem Glas trinken, könnten Schmerzen gelindert werden: Nostrates dicunt, quod sepius alleviatur / infirmis dolor, ex isto si vase bibatur. (Mure, Passio sanctorum martyrum [wie Anm. 36], 28r). Der Text des Traktates wurde abgedruckt in: Christian Moser / David Vitali, Der Zürcher Ablasstraktat des Albert von Weissenstein (1480), in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 95 (2001), 49–109, hier 104–109. Auch Martin von Bartenstein erwähnt die Wunderquelle (Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren [wie Anm. 32], 50r-52r). Im 17. Jahrhundert finden wir eine ähnliche Geschichte zu Mauritius, dem Anführer der Thebäischen Legion; wie bei Felix und Regula gibt es einen Märtyrerstein, auf dem die Enthauptung stattgefunden hätte, und geschahen anscheinend Heilungen. (Siehe dazu George Descœdres, Die Richtstätte der Thebäischen Legion als sekundärer Kultplatz, in: Akten des internationalen Kolloquiums Freiburg, Saint-Maurice, Martigny, 17.–20. September 2003. Mauritius und die Thebäische Legion, hg. v. Otto Wermelinger u. a., Freiburg 2005, 343–358, hier 351.

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Mariëlla Niers Pari modo nemo negare debet, quin in loco, ubi sanctorum martirum Cristi sanguis effusus est super terram, per eorundem sanctorum martirum merita possunt oriri aquarum fontes in salutem et sanitatem hominum multorum […].77

Tatsächlich kamen wegen des fons salutis, des Gesundbrunnens, viele kranke Menschen nach Zürich; das angeblich heilende Wasser war sehr gefragt und wurde auch in der Umgebung verteilt78. Nach der Reformation nahm dies jedoch ein Ende: Der Reformator Heinrich Bullinger (1504–1575) bezeichnete die Wasserkirche als „ein rechte Götzenkilchen“79 und 1556 wurde der Brunnen zugeschüttet. Der Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) nennt 150 Jahre später als Grund für diese Maßnahme, dass der Brunnen „unseren Mönchen und Pfaffen vor der Reformation […] an statt eines Lockvogels“80 gedient habe. Unrecht hatte er damit wohl nicht, denn Albert von Weissensteins Ablasstraktat geht nicht nur auf die aufgefundene Heilquelle ein, sondern ist vor allem eins: Ein Lob auf die Vorzüge des Jubelablasses (Plenarablasses), den Papst Sixtus IV. der Stadt Zürich im Jahre 1479 verliehen hatte, weil der Zürcher Rat um Geld für unter anderem den Neubau der baufälligen Wasserkirche gebeten hatte81. Wegen der strahlenden Verdienste (preclarissima merita) der Stadtpatrone und der Tatsache, dass die Wasserkirche an der Hinrichtungsstätte derselben gebaut worden war (in loco martirii eorum), hätte Papst Sixtus Zürich den Ablass verliehen. Indirekt finanzierten die Heiligen auf diese Art und Weise durch ihre Lokalbezogenheit die Restaurierung ihrer eigenen Kirchen, wurden als „finanzielle Nothelfer“ eingesetzt. Die Gläubigen mussten nämlich nicht nur beichten und in der Festoktav von Felix und Regula die Wasserkirche und das Groß- und Fraumünster besuchen (die tres nominatas ecclesias), sie mussten vor allem Geld für die Restaurierung der Kirchen spenden. Während die Heilquelle körperliche Beschwerden genesen konnte, käme der Jubelablass jedoch dem Seelenheil zugute, wie man den ausführlichen Erklärungen im Ablasstraktat entnehmen kann82. 77

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Übersetzung von Moser/Vitali: „Gleichermassen darf niemand bestreiten, dass an dem Ort, wo das Blut der heiligen Märtyrer Christi sich über den Boden ergoss, zufolge der Verdienste ebendieser heiligen Märtyrer Wasserquellen zum Wohl und zum Heil vieler Menschen entspringen können […].“ Text und Übersetzung in: Moser/Vitali, Der Zürcher Ablasstraktat des Albert von Weissenstein (1480) (wie Anm. 76), 106–107. Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren (wie Anm. 32), 51r-51v: „geschöppftt vnd gefüret yn andren fassen über land yn stett vnd dörffer vnd zü schiff oüch yn fassen gefürt die lindmagk ab yn andere stett vnd landschafften.“ Siehe auch Adolf Ribi, Ein zeitgenössisches Zeugnis zum Umbau der Zürcher Wasserkirche von 1479–1484, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 4, Heft 2 (1942), 97–109, hier 102–104. Vögelin, Geschichte der Wasserkirche (wie Anm. 32), 29. Johann Jakob Scheuchzer, Helvetiae Stoicheiographia, Orographia Et Oreographia, Oder Beschreibung der Elementen, Grenzen und Bergen des Schweitzerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands Erster Theil, Zürich 1716, 190. Der vollständige lateinische Titel des Traktates lautet denn auch: Laus, commentatio et exhortatio de punctis et notabilibus circa indulgentias, gratias et facultates ecclesiis Thuricensibus Constantiensis dyocesis a sanctissimo domino Sixto papa moderno concessas, cum quibusdam aliis annexis occasione dictarum indulgentiarum. Moser/Vitali, Der Zürcher Ablasstraktat des Albert von Weissenstein (1480) (wie Anm. 76).

Felix und Regula als Verteidiger ihres Märtyrerortes

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Mit Felix und Regula verbundene Ablässe waren nicht neu. Im Jahre 1258 gewährte der Bischof von Konstanz Reuigen, die das Großmünster am Tage der Kirchweih (in anniversario dedicationis maioris altaris) besuchten, 40 Tage Ablass83. Obwohl im Großmünster auch andere Reliquien vorhanden waren, werden vor allem die Reliquien der Stadtpatrone hervorgehoben – precipue tamen gloriosissimis reliquiis sanctissimorum martirum Felicis et Regule et Exuperantii –; dass dies vor allem wegen ihrer Lokalverbundenheit der Fall ist, geht aus dem Text deutlich hervor, der betont, dass die Heiligen in Zürich ihr Martyrium erlitten haben (in Turego passi) und ihre Häupter zu der prädestinierten (im Voraus bestimmten) Stelle getragen haben, wo später das Großmünster gebaut wurde (in locum prefate ecclesie Thuricensi predestinatum). Felix und Regula konnten auf diese Art und Weise gleichzeitig als Beschützer des Seelenheils und der kirchlichen Einkünfte fungieren. Die Praxis des Ablassgeschäftes dauerte in Zürich noch bis ins 16. Jahrhundert fort, denn noch im Jahre 1510 gewährte Papst Julius II. Zürich einen Ablass, der die sieben wichtigsten Kirchen in Zürich mit den sieben wichtigsten Kirchen Roms gleichsetzte; sollte man die Zürcher Kirchen alle besuchen, dann würde man den gleichen Ablass erhalten, als wenn man nach Rom gepilgert wäre84. Die Reformation bedeutete nicht das Ende der Popularität der Zürcher Heiligen. Obwohl die Reformierten drastisch gegen die Verehrungsorte der Heiligen vorgingen – die Gebeine von Felix und Regula wurden 1524 aus dem Großmünster entfernt, die Heilquelle wurde zugeschüttet, Wandgemälde wurden übertüncht oder angepasst85 –, gelang es ihnen nicht, die Heiligen aus der Zürcher Identität zu entfernen. Im 17. Jahrhundert kam es sogar – weil die Reformierten die Stadtpatrone als Beispiele eines exemplarischen Lebens nicht ablehnten – zu einer vehementen Diskussion zwischen Katholiken und Reformierten, in der die Frage zentral stand, ob die Zürcher Stadtheiligen Anhänger des römisch-katholischen oder des reformierten, „zwinglianischen“ Glauben gewesen seien86. Für beide Parteien stand jedoch erstens 83

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Der Text dieser Ablassbestimmung wurde abgedruckt in: Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich 3, erste Hälfte, bearb. v. J. Escher und P. Schweizer, Zürich 1894, Nr. 1035, 120–121. Eine zeitgenössische Zusammenfassung ist mir in der Zentralbibliothek begegnet: Zürich, Zentralbibliothek, C10d, 1v. Zürichs Zünfte einst und jetzt. Zum Jubiläum ihres 10jährigen Bestehens, hg. v. der Zunft Witikon Zürich (Red. Rudolf Bihrer), Zürich 1990, 234. Siehe dazu Peter Jezler, Die Desakralisierung der Zürcher Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius in der Reformation, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Peter Dinzelbacher / Dieter Bauer, Ostfildern 1990, 296–319; Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 (wie Anm. 3), 263; Beck/Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen (wie Anm. 3), 41–44. Gute Überblicke dieser Diskussion liefern Michele C. Ferrari und Thomas Maissen: Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 (wie Anm. 3), 264–266; Maissen, Die Stadtpatrone Felix und Regula (wie Anm. 3), 218–223. Siehe auch Beck/Ferrari, Martertodt in Helvetischen Landen (wie Anm. 3), 48–50. Mehr zu dieser Debatte in einem eigenen Aufsatz: Mariëlla Niers, Die römisch-reformierten Stadtpatrone Felix und Regula. Wie die Zürcher Heiligen seit der Reformation von sowohl katholischer als auch von reformierter Seite für den wahren Glauben beansprucht worden sind (noch unpubliziert).

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Mariëlla Niers

fest, dass die Heiligen die ersten gewesen seien, die den christlichen Glauben ins Zürcher Land gebracht hätten – die Ortsverbundenheit bleibt also ein zentraler Punkt –, zweitens, dass sie den wahren Glauben verkündet hätten. Die lokalgebundene Heiligkeit der Zürcher Märtyrer war nach der Reformation zwar nicht mehr mit Verehrung der Heiligen und ihrer Märtyrerorte verbunden und auch die direkte Mittler- und Schutzfunktion der Heiligen, die bei Martin von Bartenstein noch ausdrücklich angesprochen wurde87, fand mit der Reformation ein Ende, aber die Reformierten sahen kein Problem darin, die Zürcher Märtyrer als lokale, mit Zürich verbundene Verteidiger des wahren Glaubens darzustellen. Trotz allem blieben Felix und Regula auf diese Art und Weise die „Verteidiger“, die „Beschützer“ ihrer Stadt. Man kann die Diskussion zwischen den Katholiken und Reformierten generationenlang nachverfolgen. Auch der reformierte Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801), der am 11. September 1797 – am Felix-und-Regula-Tag – den traditionellen öffentlichen Vortrag halten durfte88, beansprucht die Heiligen für die Reformation. Die Heiligen seien ihm im Traum erschienen und hätten vom Zustand der Zürcher Kirche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählt. Felix und Regula erzählten ihm, wie sie im Zürcher Land gepredigt hätten und enthauptet wurden (Eo, quo nunc fluit fons salutaris, Bibliothecae publicae proximo Loco89). In den Jahrhunderten nach ihrem Tod sei noch viel Aberglaube dagewesen, aber schließlich sei der wahre Glaube zum Vorschein gekommen; mit Begeisterung sprechen Felix und Regula in diesem Zusammenhang von Zwingli und Bullinger. Die Heiligen haben in Lavaters Somnium die Funktion moralischer Mahner, die schreckliche Geschehnisse voraussagen90, aus denen aber schließlich eine sola revera reformata [ecclesia] hervorgehen wird. Die Heiligen kümmern sich also auch nach ihrem Tod um die Zürcher. Der Grund bleibt die örtliche Verbundenheit mit Zürich, denn die Heiligen selbst sagen dazu in Lavaters Traum:

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Nicht nur verlangt und erbittet Martin von Bartenstein am Ende seiner Hystorien selbst den Schutz der Heiligen, er schreibt auch: „Nü süllent wir die heiligen dry martrer bitten das sie unser triüen fürsprecher sÿend gegen dem almechtigen gott.“ (Bartenstein, Hystorien oder legendt von den seligen martren [wie Anm. 32], 54r–54v). Johann Caspar Lavater, Somnium de Felice et Regula Protevangelistis ac Protomartyribus in Helvetia, seu Status Ecclesiae Turicensis, praeterritus, praesens, et futurus, vorgetragen am 11.09.1797. Es gibt drei Handschriften mit verschiedenen Fassungen dieses Textes: Zürich, Zentralbibliothek, Lav. Ms. 44 und 44a; Bern, Universitätsbibliothek, ZB Rar alt 5062: 20. Eine Übersetzung steht in: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften 2. Religiöse Briefe und Aufsätze, hg. v. Georg Gessner, Zürich 1801, 221–284. Siehe zu diesem Text und zur Tatsache, dass die Märtyrer bei Lavater immer noch eine schützende Rolle haben, Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 (wie Anm. 3), hier 262–273, 272–274. Lavater, Somnium, Zürich, ZB, Lav. Ms. 44a (wie Anm. 88), In Übersetzung: „Da, wo jetzt die Heilquelle fließt – zunächst bei Eurer öffentlichen Büchersammlung“ (Lavaters nachgelassene Schriften 2, hg. v. Gessner [wie Anm. 88], 234–235). Man muss hier bedenken, dass Lavaters Somnium in einer unsicheren Zeit abgefasst wurde und die Schweiz knapp ein halbes Jahr später durch französische Truppen besetzt wurde.

Felix und Regula als Verteidiger ihres Märtyrerortes

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Coelestibus quamvis circumfusi Gaudiis, non obliviscebamur illius Urbis, quae sanguinem nostrum acceperat.91

Denn gerade diese Ortsverbundenheit hat dafür gesorgt, dass man die Märtyrer immer wieder – jahrhundertelang, sogar nach der Einführung der Reformation – als Verteidiger und Beschützer der Stadt Zürich betrachten, aber auch bewusst als solche darstellen und inszenieren konnte; durch die sakral aufgewertete Lokalität war ein vielschichtiges Schutzpotenzial entstanden. Die Heiligen hielten angeblich auf vielfältigste Weise eine schützende Hand über die Limmatstadt, unter anderem, indem sie Kranke heilten, die Stadt gegen Feinde verteidigten, vor Katastrophen warnten und sich um das Seelenheil der Zürcher kümmerten; sie konnten aber auch als Verteidiger eines sakralen Machtanspruchs eingesetzt werden oder für Einnahmen sorgen. Die Manifestierung eines solchen Eifers seitens der Heiligen führt zu einem unweigerlichen Schluss: Nachdem ihre Häupter abgeschlagen worden waren, haben Felix und Regula ihre Herzen der Stadt Zürich geschenkt.

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„Obgleich wir jetzt himmlische Freuden genossen, so vergaßen wir dennoch der Stadt nicht, deren Boden unser Blut eingeschlürft hatte.“ (Lavaters nachgelassene Schriften 2, hg. v. Gessner [wie Anm. 88], 239.) Lavater stellte die Stadt also immer noch als „Schützling der Märtyrer“ (Ferrari, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800 [wie Anm. 3], 273) dar.

HEILIGER KRIEG ZWISCHEN WELTANSCHAUUNG UND PROPAGANDA AM BEISPIEL DER CHRISTLICHEN IBERISCHEN REICHE (6.–11. JH.) Alexander Pierre Bronisch DER HEILIGE KRIEG ALS TERMINUS TECHNICUS Schon seit vielen Jahren haben wir uns in der tagespolitischen Berichterstattung und Diskussion an den Begriff „Heiliger Krieg“ gewöhnt. Dort wird er vor allem als Synonym für den Djihād verwendet, also für eine Begründung des Krieges, wie sie im Koran, in den Hadithen (den Traditionen über das Leben und über die Lehren des Propheten) und in den Texten der vier islamischen Rechtsschulen zu finden ist. Nicht wenige Muslime und einige westliche Islamwissenschaftler halten dagegen, dass Djihād gar nicht Heiliger Krieg bedeutet, sondern eher allgemein eine Anstrengung, die der einzelne Muslim und die muslimische Gemeinschaft für Gott bzw. auf dem Weg zu Gott unternimmt1. Tatsächlich handelt es sich bei „Heiliger Krieg“ keinesfalls um eine Übersetzung des Wortes Djihād, sondern vielmehr um eine Deutung dieses Begriffs, um eine Interpretation2. 1

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Siehe z. B. Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 2001, 55–85, hier 83: „Aus der bisherigen am Koran-Text durchgeführten ideengeschichtlichen Analyse geht hervor, wie falsch es ist, Djihad mit „Heiliger Krieg“ zu übersetzen, wie dies in den westlichen Medien leider die Regel geworden ist.“ Hadayatulla Hübsch, Fanatische Krieger im Namen Allahs. Die Wurzeln des islamistischen Terros, Kreuzlingen/München 2001, 44: „Dass weder im Koran noch in den Hadith jemals von einem „heiligen Krieg“ die Rede ist, dass dem Islam die Zusammensetzung von „heilig“ mit „Krieg“ fremd ist, mag einen schon fast verwundern, ob der Selbstverständlichkeit, mit der dieser Ausdruck vielerorts verwendet wird.“ Als kleine Auswahl aus den zahlreichen Publikationen zum Djihād seien hier als Einstieg und beispielhaft genannt Adel Theodor Khoury, Was sagt der Koran zum Heiligen Krieg?, Gütersloh 1991, und sein Artikel ‚Heiliger Krieg‘ im Islam-Lexikon von Adel Theodor Khoury / Ludwig Hagemann / Peter Heine, Freiburg u. a. 1991, 349–359. Bernard Lewis, Die politische Sprache des Islam. Aus dem Amerikanischen von Susanne Enderwitz, Hamburg 2002, 121–151. Eine ausführliche Darlegung der Grundlagen und der mittelalterlichen Ausprägung des Djihād gibt Alfred Morabia, Le Ğihâd dans l’Islam médieval. Le ‚combat sacré‘ des origines au XIIe siècle, Paris 1993 (ursprünglich als Pariser Dissertation unter dem Titel ‚La notion de Ğihâd dans l’Islm médiéval des origines a al-Gazâlî‘ in Lille 1975 erschienen). Emile Tyan: ‚Djihād‘, in: Encyclopédie de l’Islam, Leiden 1908, 551–553, und in The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Leiden u. a 1965, 538–540. William Montgomery Watt, Islamic Conceptions of the Holy War, in: The Holy War. 5th Conference of Medieval and Renaissance Studies, Ohio State University 1974, hg. v. Thomas Patrick Murphy, Columbus/Ohio, 1976, 141–156; Gernot Rotter, Dschihad. Krieg im Namen des Glaubens, in: Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und Bewältigung in den Religionen, hg. v. H. v. Stietencron, Düsseldorf 1979, 252–267.

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Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings zeigt ein Blick auf unsere eigene christliche Tradition, dass es sich hier nicht anders verhält. Der Begriff „Heiliger Krieg“ taucht erst im Zuge der Religionskriege im 16. Jahrhundert auf3. Die Kreuzzüge, die geradezu als Heilige Kriege par excellence gelten, werden in den zeitgenössischen Quellen zunächst unter anderem iter, expeditio, profectio, peregrinatio und passagium genannt4. Und auch in der Bezeichnung crucesignati5 für diejenigen, die sich auf den Kreuzzug begeben, sowie in den späteren nationalsprachlichen Begriffen „Kreuzzug“, „crusade“, „croisade“ usw. fehlt das Heiligkeitsprädikat6. Der analoge Schluss, dass die Kreuzzüge deshalb keine Heiligen Kriege gewesen sein können, ist dennoch ganz offensichtlich falsch. Der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat 2008 den Begriff des Heiligen Kriegs untersucht. Er konstatierte eine „mediale Hochkonjunktur des ‚Heiligen Krieges‘“, zugleich aber – so Graf – „mangelt es an der Klärung elementarer Fragen“. Er warnte davor, allzu reflexionsfern, gedankenlos vom Heiligen zu reden und kritisierte das Fehlen „analytischer Prägnanz und Trennschärfe“ in Definitionen des Heiligen Krieges, wie beispielsweise die Behauptung im Wörterbuch der Religionssoziologie, „seiner inneren Dynamik nach tendiert jeder Krieg zum Heiligen Krieg“7. Unglücklicherweise meint Graf, dass nur solche Kriege als Heilige Kriege zu erkennen seien, die auch als solche qualifiziert, d. h. als solche von den Zeitgenossen benannt sind, weil es ja nicht die „Divinalautorität“ selbst sei, die den Krieg zu einem heiligen macht. Demnach wäre ein Heiliger Krieg immer eine Illusion, ja eine trügerische, von Menschen gemachte Konstruktion. Eine solche rationalistische Position geht völlig an der Vorstellungswelt zumindest mittelalterlicher Zeitgenossen vorbei. Graf unterstreicht diese Behauptung mit der Feststellung, dass christliche Theologen bis in die jüngste Zeit keine Lehren vom Heiligen Krieg entwickelt, sondern sich auf die „Begriffsarbeit“ am gerechten Krieg und am gerechten Frieden konzentriert hätten8. Zugleich problematisiert er die bisherige unscharfe Begrifflichkeit und ihre Verwendung und macht mit seinem Hinweis, dass die frühesten Belege für die Verwendung des Begriffs „Heiliger Krieg“ erst im 3

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Friedrich Wilhelm Graf, Sakralisierung von Kriegen. Begriffs- und Problemgeschichtliche Erwägungen, in: Heilige Kriege, Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, hg. v. Klaus Schreiner (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 78), München 2008, 1–30, hier 18. Thomas Deswarte, La ‚guerre sainte‘ en Occident. Expression et signification, in: Famille, violence et christianisation au Moyen Âge: Mélanges offerts à Michel Rouche, hg. v. Martin Aurell / Thomas Deswarte (Cultures et civilisations médiévales 31), Paris 2005, 331–349, hier 345. Michel Villey, La croisade. Essai sur la formation d’une théorie juridique (L’église et l’état au Moyen Âge 6), Paris 1942, 248–254. Michael Markowski, Crucesignatus: Its Origin and early Usage, in: Journal of Medieval History 10 (1984), 157–165. Zur Entstehung des Begriffs ‚Kreuzzug‘ siehe Benjamin Weber, El término „cruzada“ y sus usos en la Edad Media, in: Orígenes y desarrollo de la Guerra Santa en la Península Ibérica. Palabras e imágenes para una legitimación (Siglos X–XIV), hg. v. Carlos de Ayala Martínez / Patrick Henriet / Santiago Palacios Ontalva, Madrid 2016, 221–234. Graf, Sakralisierung von Kriegen (wie Anm. 3), 2–4. Ebd., 7, 10.

Heiliger Krieg zwischen Weltanschauung und Propaganda

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16. Jahrhundert zu finden sind9, deutlich, worauf ich selbst schon in mehreren Publikationen hingewiesen habe: Der Heilige Krieg ist ein Terminus technicus und wer ihn verwendet, muss zugleich erklären, was er darunter versteht10. Auch aus der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur zum Heiligen Krieg lässt sich kein einheitliches Verständnis von diesem Begriff herausarbeiten. Im Bereich der Mediävistik finden sich verschiedene Schwerpunkte, die von den unterschiedlichen Autoren als wesentlich für den Heiligen Krieg bezeichnet werden. Carl Erdmann hat den Heiligen Krieg als militärisches Unternehmen definiert, dessen spezifische Kriegsursache die Religion ist und das nicht, wie Erdmann es formulierte, „mit dem Volkswohl, der Landesverteidigung, dem Staatsinteresse oder der nationalen Ehre“ zusammenfiel. Erdmann nannte diese Form des Krieges den „allgemeinen Kreuzzugsgedanken“11. Andere Autoren legen das Gewicht auf die Kreuzzüge und das Papsttum und sehen in der Idee des spirituellen Lohngedankens ein unverzichtbares Charakteristikum von Heiligen Kriegen12. Wiederum andere 9 10

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Ebd., 18. Alexander Pierre Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg. Die Deutung des Krieges im christlichen Spanien von den Westgoten bis ins frühe 12. Jahrhundert (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. Reihe 2, 35), Münster 1998, 221. Ders., En busca de la Guerra Santa. Consideraciones acerca de un concepto muy amplio (el caso de la Península Ibérica, siglos VI–XI), in: Regards croises sur la Guerre Sainte. Guerre, religion et idéologie dans l’espace méditerranéen latin (XIe–XIIIe siècle). Actes du colloque international tenu à la Casa de Velázquez (Madrid) du 11 au 13 avril 2005, hg. v. Daniel Baloup / Philippe Josserand (Méridiennes. Études médiévales ibériques), Toulouse 2006, 91–113, hier 113. Ders.; La (sacralización de la) guerra en las fuentes de los siglos X y XI y el concepto de Guerra Santa, in: Orígenes y desarrollo de la Guerra Santa en la Península Ibérica. Palabras e imágenes para una legitimación (siglos X–XIV), hg. v. Carlos de Ayala Martínez / Patrick Henriet / Santiago Palacios Ontalva, Madrid 2016, 7–30, hier 27–29. Ders., On the Use and Definition of the Term „Holy War“, in: Journal of Religion and Violence 3 (2015), 35–72, hier 42 f. Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6) Darmstadt 1935 (1980), 1, 135, 161, 197. Ausführlich zum Umgang Carl Erdmanns mit dem Begriff ‚Heiliger Krieg‘ siehe Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 204–207. Hierzu zählen Jean Flori und James Brundage. Jean Flori, L’église et la Guerre Sainte. De la „Paix de Dieu“ à la „Croisade“, Annales. Économies, sociétés, civilisations 47 (1992), 453–466, hier 458: „En d’autres termes, la guerre ne serait pas ‚sainte‘ parce que l’ennemi est infidèle, mais à l’inverse elle serait, ‚en soi‘, considérée comme sainte par le fait même qu’elle est prêchée par le pape, menée sur son ordre avec l’intention de défendre les intérêts du Saint Siège“ Ders., La Guerre Sainte. La formation de l’idée de Croisade dans l’Occident chrétien, Paris 2001, 272: „La guerre sainte se caractérise aussi, et peut-être surtout, par les récompenses spirituelles accordées aux combattants.“ Allerdings scheint Flori das Vorhandensein von Heiligem Krieg vor den Kreuzzügen dann doch zu akzeptieren, obwohl der Gedanke des spirituellen Lohns zu dieser Zeit noch nicht entstanden war: „La croisade est plus qu’une guerre sainte.“ „En d’autres termes, la croisade cumule les avantages d’une guerre sainte et d’un pèlerinage …“ „On peut en effet la [la croisade; Bro.] considérer comme la guerre sainte par excellence …“ Hierzu siehe Jean Flori, Pour une redéfinition de la Croisade, Cahiers de civilisation médiévale. Xe–XIIe siècles 47 (2004), 329–350, hier 345, 346, 348. James Arthur Brundage, Medieval Canon Law and the Crusader, London u. a., Wisc./Milwaukee, Wisc. 1969, 21: „It is one thing, however, to hold that war may, under certain circumstances, be considered just; it is quite another matter to consider

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verweisen auf das insbesondere von Augustinus entwickelte Konzept des gerechten Krieges, das nicht von den Vorstellungen des Heiligen Krieges und des Kreuzzuges zu trennen sei13. Und schließlich gibt es jene, die den Begriff des Heiligen Krieges verwenden, als gäbe es eine allgemeine Übereinkunft über seine Bedeutung14. Nachdem ich vor über 20 Jahren eine gründliche Analyse des Umgangs mit dem Begriff „Heiliger Krieg“ in der Mediävistik vorgenommen hatte, warf ich vor wenigen Jahren einen neuen Blick auf die Forschung zum Heiligen Krieg. Im Band „Friedensethik im frühen Mittelalter“ fand sich ein Aufsatz von Alfons Fürst zur „Christlichen Friedensethik von Augustinus bis Gregor dem Großen“. Fürst zeigt darin auf, wie das christlich gewordene römische Reich Zeremonien, Riten und Symbole aus der heidnischen Zeit übernahm und christianisierte. Eide und Feldzeichen, christliche Schlachtrufe, Opfer und Reinigungsriten im Heer prägten die Szene. Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts sei unter Kaiser Justinian I. ein „gewaltiger Sakralisierungsschub zu beobachten“, in der Fachforschung sei sogar von „Liturgisierung“ die Rede15. Fürst legte dar, dass Kriege in Antike und Spätantike immer mit religiösen

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the waging of wars as something positively meritorious, as a way to personal salvation.“ Ders., Holy War and the Medieval Lawyers, in: The Holy War. Conference on Medieval and Renaissance Studies (5th; Ohio State University) (1974), hg. v. Thomas Patrick Murphy, Columbus/ Ohio, 1976 (erneut in Ders., The Crusades, Holy War, and Canon Law (Variorum. Collected Studies Series 338), Aldershot u. a. 1991, x, 99–140, hier 103: „… war as sanctifying, and as an activity that actually confers spiritual merit on the warrior.“ Siehe auch ebd., 116. Vgl. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 216–218. Frederick H. Russell, The Just War in the Middle Ages (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Third Series 8), Cambridge 1975, 16–39. Jonathan Simon Christopher Riley-Smith, What were the Crusades?, London, 1977 (jetzt Basingstoke 42009), 16 f., 34. Ders. / Louise Riley-Smith, The Crusades. Idea and Reality 1095–1274 (Documents of Medieval History 4), London, 1981. Ders., Rezension von „Ernst-Dieter Hehl (Autor), Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 19), Stuttgart 1980“, in: The Journal of Ecclesiastical History 33 (1982), 290–291, hier 291: „First, he asumes, as does every historian of medieval theories of violence, a distinction between holy and just wars which I suspect did not exist. […] Augustine himself made no such distinction: for instance a war authorised directly by God was simply indubitably just.“ Vgl. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 213–215. John Gilchrist, The Papacy and War against the „Saracens“, 795–1216, International History Review 10 (1988), 174–197. Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 71989 (erschienen inzwischen in der 10. Aufl. Stuttgart 2005), 22–26. Ders., Ursachen und Wirkungen der Kreuzzüge, in: Islam und Abendland. Geschichte und Gegenwart, hg. v. André Mercier, Bern/Frankfurt a. M. 1976, 87–110, hier 99–101. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 218–220. Zum Umgang mit dem Begriff „Heiliger Krieg“ siehe ergänzend Peter Partner, Holy War, Crusade and Jihad. An Attempt to define some Problems, in: Autour de la Première Croisade. Actes du colloque de la Society for the Study of the Crusades and the Latin East (Clermont-Ferrand, 22–25 juin 1995), hg. v. Michel Balard (Byzantina Sorbonensia 14), Paris 1996, 333–343, Hierzu auch Bronisch, En busca de la Guerra Santa (wie Anm. 10), 91 u. 113. Alfons Fürst, Christliche Friedensethik von Augustinus bis Gregor dem Großen – Religion, Politik und Krieg am Ende der Antike, in: Friedensethik im frühen Mittelalter. Theologie zwischen Kritik und Legitimation von Gewalt, hg. v. Gerhard Beestermöller (Studien zur Friedensethik / Studies on Peace Ethics 46), Münster 2014, 20–24.

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Attributen belegt waren und schloss daraus: „Dies dürfte es schwierig, wenn nicht unmöglich machen, für vormoderne Gesellschaften wie denjenigen der Antike von ‚Religionskriegen‘ oder ‚Heiligen Kriegen‘ zu sprechen“ und er meint damit „eine besondere Sorte von Kriegen …, die in ihrem Kern religiös motiviert waren oder spezifisch religiöse Ziele verfolgten“16. Denn „Trotz solcher Phänomene der sakralen Prägung des Krieges entwickelte sich im Christentum keine Lehre von einem ‚Heiligen Krieg‘ (sondern eine vom ‚Gerechten Krieg‘)“. Allerdings: „Auch dadurch wird daraus aber kein ‚Religionskrieg‘“, denn: „Religion an sich war weder Ursache noch Hauptstreitpunkt in diesen Auseinandersetzungen“17. Damit verwendet Fürst zwei wichtige Begriffe: Religionskrieg und Heiliger Krieg und es scheint, als meine er, dass seine Leser die Bedeutung dieser Begriffe kennen. Er unterstellt 1.), dass es eine Lehre vom Heiligen Krieg geben muss, die sich 2.) von der Lehre des gerechten Krieges unterscheidet; dass 3.) der Heilige Krieg zugleich ein Religionskrieg ist und dass 4.) die Religion das entscheidende Motiv zur Führung des Krieges sein muss. Darin orientiert er sich offenbar an der erdmannschen Definition. Wie er zu dieser aus seinem Aufsatz erschließbaren Auffassung gelangte, bleibt freilich unklar. Auf jeden Fall wäre die begriffliche Gleichsetzung von Heiligem Krieg und Religionskrieg zu hinterfragen18. Ein ähnliches Beispiel ist der Althistoriker und ausgewiesene Experte für das römische Reich Mischa Meier. In einem Sammelband über „Krieg und Christentum – Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens“ erörtert er die religiösen Komponenten des christlichen römischen Kaisers im Felde19. Sein Fazit lautet, dass die Kriege des römischen Reiches zwischen dem späten 4. und dem frühen 7. Jahrhundert nicht als „Religionskriege“ und nie aus religiösem Eifer und Fanatismus heraus geführt wurden. Selbst, als die muslimischen Araber ab den 630er Jahren dem Byzantinischen Reich eine Provinz nach der anderen entrissen, wurden die Gegenmaßnahmen nicht als ‚Religionskriege‘ organisiert.20

Im Kontext des Liturgisierungsprozesses hätten die Kaiser gar keine andere Wahl gehabt, als, der Gesellschaftsentwicklung folgend, ihre Herrschaft in demselben Maße religiös zu inszenieren. Das sei ein „gesamtgesellschaftlicher Sakralisierungsprozess“ gewesen, „aber mehr eben nicht“21. Also auch Meier setzt den Heiligen Krieg mit dem Religionskrieg gleich, ohne seine Begrifflichkeit näher zu definieren.

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Ebd., 20 u. 21. Ebd., 21, 26, 28. Hierzu siehe Graf, Sakralisierung von Kriegen (wie Anm. 3), 13–17. Vgl. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 121 f. Ausführlicher zu Graf s. a. bei Bronisch, On the Use and the Definition of the Term „Holy War“ (wie Anm. 10), 35–37. Mischa Meier, Der christliche Kaiser zieht (nicht) in den Krieg, in: Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, hg. v. Andreas Holzem (Krieg in der Geschichte 50), München u. a. 2009, 254–278. Ebd., 269. Ebd., 270.

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Weitere neuere Beispiele für eine undifferenzierte Benutzung des Begriff „Heiliger Krieg“ sind das 2015 erschienene und vielfach gelobte Werk von Philippe Buc „Holy War, Martyrdom and Terror“ und das soeben erst erschienene Buch von M. Cecilia Gaposchkin, „Invisible Weapons“, in welchem sie die Bedeutung der Liturgie für die Entwicklung der Kreuzzugsidee untersucht. So etwas wie eine Definition dessen, was unter Heiligem Krieg zu verstehen ist, findet sich bei Philippe Buc nur in Klammern im Rahmen einer Fragestellung, die ahnen lässt, in welchen Kategorien der Autor denkt: „Wo verläuft die Grenze zwischen heiligem Krieg (einem per Definitionem gerechten, von Gott gebilligten Krieg) und Terror?“22 Gaposchkin definiert, wenn auch nur kurz: „I use the term holy war somewhat more expansively to refer to any war or warfare fought for religious reasons and the fighting of which had religious meaning“23. Arnold Angenendt hat in seinem monumentalen Werk „Toleranz und Gewalt“ sogar auf meine 1996 formulierten Überlegungen zur Definition des Heiligen Krieges verwiesen. Er schreibt: „Alexander Bronisch, definiert ihn [den heiligen Krieg; Bro] als Kampf für die Religion: ‚Im Religionskrieg wird der Feind wegen seiner anderen Religion erschlagen oder im günstigeren Falle gezwungen, die jeweils andere Religion anzunehmen. Die beiden typischen Erscheinungsformen des Religionskrieges sind … der Konfessions- und der Missionskrieg‘“24. Aber das ist eben nicht meine Definition des Heiligen Krieges. Angenendts Irrtum rührt wohl daher, dass er wie Alfons Fürst und Mischa Meier den Begriff „Religionskrieg“ als Synonym für den Begriff „Heiliger Krieg“ verstanden, ihn bei mir gefunden – und dann nicht weitergelesen hat. Denn nur fünf Seiten später folgt nach umfangreichen Erörterungen und Begründungen die eigentliche Definition, die ich hier erneut wiedergebe25: 22

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Philippe Buc, Holy War, Martyrdom and Terror. Christianity, Violence and the West, ca. 70 c. e. to the Iraq War, Philadelphia 2015. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Darmstadt 2015, 21. M. Cecilia Gaposchkin, Invisible Weapons. Liturgy and the Making of Crusade Ideology, New York 2017, 11. Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007, 375. Vgl. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 221 f. Ein anderes Beispiel für ein entstellendes Zitat findet sich im oben genannten Buch von Gaposchkin, Invisible Weapons, 45: „In Iberia, starting in the eighth century, particularly during the reign of Alphonse III (866–910), the liturgy was enlisted to aid the military efforts of the Visigoths to conquer territory from Muslim powers.“ In der Fußnote verweist die Autorin ohne Seitenangabe auf mein Buch „Reconquista und Heiliger Krieg“ sowie auf einen Aufsatz von Patrick Henriet. Doch habe ich das so nicht geschrieben. Auf keinen Fall würde ich die Asturier im 9. Jahrhundert als „Westgoten“ bezeichnen. In „Reconquista und Heiliger Krieg“ geht es in einigen Kapiteln auch um die Frage, ob ein westgotischer Kriegsordo zum Auszug von König und Heer auch in asturischer Zeit praktiziert wurde. Das halte ich für wahrscheinlich, doch ist diese Frage mit letzter Sicherheit nicht zu beantworten. Dass Liturgie insbesondere unter Alfonso III. eine Rolle im Kampf gegen die Muslime spielte, kann man so nicht formulieren. Bei der zitierten Arbeit von Patrick Henriet handelt es sich um eine umfangreiche Kritik meines Buches. Er bezweifelt die Existenz Heiligen Krieges im Reich von Toledo und in den Reichen der Reconquista vor den Kreuzzügen. Hat Gaposchkin beide Arbeiten überhaupt

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Ein Heiliger Krieg ist ein militärisches Unternehmen, das Gott seinem Volk zu beginnen gebietet, oder das er seinem Volk durch die kriegerische Bedrohung durch ein anderes Volk aufzwingt, das in diesem Fall als sein Werkzeug in Erscheinung tritt. Die Ursache des Krieges liegt in der göttlichen Vorsehung begründet, indem er im weitesten Sinne zur Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes beiträgt. Dabei tritt Gott selbst in Erscheinung, indem er den Feldzug durch den König als sein Instrument leitet und die Feinde durch sein Volk besiegt. Der Antrieb zum Heiligen Krieg liegt in den Vorschriften der eigenen Religion begründet und nicht in der Religion des heidnischen oder in den abweichenden Vorstellungen des ketzerischen Gegners.26

HEILIGER KRIEG ALS INTEGRALER BESTANDTEIL DER WELTANSCHAUUNG Über diese Definition des heiligen Krieges hinaus, deren Begründung hier nicht dargelegt werden kann27, ist ein weiterer Aspekt besonders wichtig. Alle diese genannten Beispiele zeigen nicht nur eine terminologische Unsicherheit. Sie stehen zugleich für die Neigung, den Heiligen Krieg als ein Phänomen sui generis zu betrachten. In der historischen Forschung ist die Tendenz feststellbar, den „Heiligen Krieg“ nicht als Terminus technicus mit eindeutig definiertem Inhalt zu verstehen, sondern ihn als Synonym für eine allgemeine sakrale Einbettung des Krieges zu verwenden. Das gilt nicht nur für die hier genannten Arbeiten von Fürst, Maier, Buc und Gaposchkin. Häufig wird ohne weitere theoretische Überlegungen die Entwicklung der Kriegsethik als „Sakralisierung“ des Krieges beschrieben, beispielsweise im Verlauf des 11. Jahrhunderts, als handle es sich tatsächlich um einen fortschreitenden Prozess, an dessen Beginn ein weniger sakrales oder gar profanes Verständnis vom Kriege gestanden habe28.

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gelesen? Meine eingehenden Erörterungen zum hispanogotischen Kriegsordo, in welchem wesentliche Kernelemente liturgischer Riten, die Gaposchkin für die Kreuzzüge nennt, bereits enthalten sind – Prostration vor dem Altar, Übergabe der Feldzeichen und einer Staurothek in Form eines Kreuzzeichens, starke Rückbezüge auf das Alte Testament – scheint sie übersehen zu haben; wie den gesamten Ordo quando rex cum exercitu ad prelium egreditur überhaupt. Wie das möglich ist, wo die Autorin doch auch das Buch von Michael McCormick, Eternal Victory, nennt, der sich ebenfalls eingehend mit diesem Ordo auseinandergesetzt hat, bleibt vollkommen unverständlich. Vgl. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 66–73; Michael McCormick, Eternal Victory. Triumphal Rulership in late antiquity, Byzantium, and the early medieval West, (Past and Present Publications), Cambridge/London/Melbourne u. a., 1986, 308–312.; Le Liber Ordinum en usage dans l’église wisigothique et mozarabe d’Espagne du cinquième au onzième Siècle, hg. v. Marius Férotin (Monumenta Ecclesiae Liturgica 5), Paris 1904, 150–155; Patrick Henriet, L’idéologie de guerre sainte dans le haut moyen âge hispanique, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 29 (2002), 171–220. In Ergänzung zur Kritik von Patrick Henriet siehe Alexander Pierre Bronisch, „Reconquista und Heiliger Krieg“. Eine kurze Entgegnung auf eine Kritik von Patrick Henriet, Francia 31 (2004), 199–206. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 226. Zur Begründung siehe ebd., 221–229. Im Englischen und in den romanischen Sprachen ist diese Tendenz deutlich spürbar durch die Variationsmöglichkeiten „holy war“, „sacred war“ bzw. „guerra santa“, „guerra sagrada“ und „guerra sacralizada“ im Spanischen ebenso wie im Französischen (guerre sainte, guerre sacra-

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Doch ist das Phänomen „Heiliger Krieg“ nur im Gesamtzusammenhang der herrschenden Weltanschauung als ein Element im Zusammenspiel mit anderen wirklich zu verstehen. Es geht, zumindest was die Spätantike und das Mittelalter betrifft, um die Vorstellung von der machina mundi, dem Zusammenspiel von Gott, Welt und Mensch29. Dabei ist Weltanschauung in diesem Sinne durchaus von Ideologie zu trennen. Sie ist eher das gewachsene Ergebnis einer geistigen Entwicklung, sie ist deskriptiv und deshalb offener und weniger von starren Regeln bestimmt. Ideologie definiere ich hingegen als eher künstliches Gedankenkonstrukt, als Ergebnis theoretischer Überlegungen, als ein geschlosseneres Ideensystem und demzufolge eher normativ und deshalb strenger als ihre kontemplative weltanschauliche Schwester. In der Praxis ist es freilich oft genug schwierig, zwischen beiden Ideenwelten zu unterscheiden, zumal die Weltanschauung leicht zur Ideologie werden kann, was in historischen Schlüsselsituationen auf unterschiedlichen Gebieten immer wieder geschehen ist. Der Krieg hat innerhalb der menschlichen Vorstellungswelt eine bestimmte Funktion und Bedeutung. Wenn es die Lage erfordert, werden diese Funktion und Bedeutung besonders hervorgehoben. Dann gibt es Phasen und auch längere Zeitabschnitte, in denen die weltanschauliche Bedeutung des Krieges kaum erwähnt wird, in denen sich die Spur des (Heiligen) Krieges gewissermaßen verliert. Das muss aber nicht bedeuten, dass er aus dem Gesamtkonstrukt der herrschenden Weltanschauung ausgeschieden ist und als Idee nicht mehr vorhanden war. Sofern die zugehörige Kosmovision – um einmal den im englischen und in den romanischen Sprachen üblichen Begriff zu verwenden – in dieser Zeit feststellbar ist, kann man davon ausgehen, dass auch die Idee des Heiligen Krieges als integraler Bestandteil des Weltbildes fortdauerte, wenn auch in der fraglichen Zeit nicht die Notwendigkeit gesehen wurde, diesen Aspekt besonders hervorzuheben. Wenn wir also beispielsweise im 11. Jahrhundert in den christlichen iberischen Reichen von einer

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lisé). Siehe z. B. Carlos de Ayala Martínez, Fernando I y la sacralización de la Reconquista, Anales de la Universidad de Alicante. Historia Medieval 17 (2011), 67–116; Fermín Miranda García, Sacralización de la guerra en el siglo X. La perspectiva pamplonesa, Anales de la Universidad de Alicante. Historia Medieval 17 (2011), 225–243. Patrick Henriet, La guerra contra el Islam: ¿Una Guerra Santa, pero según que criterios?, in: El mundo de los Conquistadores. Actas del congreso internacional, 4–6 junio de 2008, hg. v. Martín F. Ríos Saloma, Madrid 2015, 287–306. Vgl. hierzu Bronisch, La (sacralización de la) guerra en las fuentes de los siglos X y XI (wie Anm. 10), 27. Zum Begriff machina mundi siehe Karen Gloy, Das Verständnis der Natur. Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, 157–161, 166 f. Der Begriff ist hier nach seinem älteren „organischen“ Verständnis gebraucht. Ihm entspricht die machina caeli. Beispiele zur Verwendung dieser Begriffe im hispanischen Raum sind Eugen von Toledo, Libellus Carminum, in: Eugenii Toletani Opera omnia (Corpus Christianorum Series Latina 114), hg. v. Paul F. Alberto, Turnhout 2005, Oratio I, 205: Rex Deus immense, quo constat machina mundi, quod miser Eugenius posco, tu perfice clemens. San Isidoro de Sevilla. Etimologías. 2 Bde. Edición bilingüe. Texto latino, versión española y notas. Introducción general por Manuel C. Díaz y Díaz (Biblioteca de Autores Cristianos 433 + 434), hg. v. José Oroz Reta / Manuel Marcos Casquero, Madrid, 21993–1994, XIV,8,17: … qui nunc Athlans cognominatur: qui propter altitudinem suam quasi caeli machinam atque astra sustentare uidetur.

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Sakralisierung des Krieges sprechen, dann stellt sich nicht nur die Frage, ob das in dieser Zeit etwas mit den viel zahlreicher als zuvor überlieferten schriftlichen Quellen zu tun hat, sondern auch, ob eine geänderte historische Situation zur verstärkten Betonung der Vorstellung des Heiligen Krieges geführt hat, die freilich bereits vorher vorhanden war. Und umgekehrt, wenn für das 10. Jahrhundert nur wenige und schwache Zeugnisse für den sakralen Charakter des Kampfes der Christen gegen die Muslime zu finden sind, muss das nicht automatisch bedeuten, dass diese Vorstellung schlicht nicht vorhanden war oder grundsätzlich keine Rolle gespielt hat. Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen soll nun am Beispiel des Westgotenreiches von Toledo und den nachfolgenden christlichen Reich von Asturien-León und Pamplona zwischen dem ausgehenden 6. bis zum beginnenden 11. Jahrhundert dargelegt werden, wie der Krieg in die dort herrschende Weltanschauung eingebettet war bzw. in welchen historischen Situationen er eine besondere, geradezu ideologische Hervorhebung erfuhr. WELTANSCHAUUNG UND HEILIGER KRIEG IM WESTGOTENREICH VON TOLEDO Wegweisend für die Herausbildung einer spezifischen hispanogotischen Vorstellungswelt war König Leovigild (568–586), gefolgt von seinem Sohn Reccared I. (586–601). Beide versahen das westgotische Königtum mit neuen Formen der Präsentation und Legitimation, die bis zum Untergang des Reiches durch die arabischberberische Eroberung ab 711 Bestand haben sollten. Damit schufen sie die Grundlagen eines Selbstverständnisses, das von Königen und Kirchenmännern im Verlauf des 7. Jahrhunderts weiterentwickelt wurde. Insbesondere König Leovigild hat byzantinische Formen herrscherlicher Darstellung zu einer regelrechten imitatio imperii herangezogen30. Die Imperialisie30

Zur Byzantinisierung der westgotischen Königsherrschaft siehe Pablo C. Díaz Martínez / María R. Valverde Castro, The Theoretical Strength and Practical Weakness of the Visigothic Monarchy of Toledo, in: Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages, hg. v. Frans Theuws / Janet L. Nelson (The Transformation of the Roman World 8), Boston, Mass. u. a., 2000, 61–77; María R. Valverde Castro, Ideología, simbolismo y ejercicio del poder real en la monarquía visigoda: Un proceso de cambio (Acta Salamanticensia. Estudios históricos y geográficos 110), Salamanca 2000, 181–195. Luis A. García Moreno, Leovigildo. Unidad y diversidad de un reinado. Discurso leído el día 1 de junio de 2008 en el acto de su recepción pública y contestación por el Exmo. Sr. Don Luis Suárez Fernández, Madrid 2008, 52. Vgl. folgende ausgewählte Wertungen der vergangenen Jahrzehnte: Edward Arthur Thompson, The Goths in Spain, Oxford 1969, 57: „But Leovigild surrounded the throne with something of Byzantine pomp, though the details of what he did are not recorded.“ Dietrich Claude, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich (Vorträge und Forschungen. Sonderband 8), Sigmaringen 1971, 61: „Oströmisches Vorbild wird auch bei der Umgestaltung des westgotischen Königtums durch Leovigild sichtbar.“ José Orlandis Rovira, Historia del Reino Visigodo español. Los acontecimientos, las instituciones, la sociedad, los protagonistas, Madrid 2003, 70: „Leovigildo introdujo una concepción mayestática de la autoridad real, cuya inspiración buscó igualmente en el modelo bizantino.“ Zur Weltanschau-

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rung der westgotischen Herrschaft31 wurde von Seiten der Kirche maßgeblich befördert. Die Ursache hierfür ist in der Abkehr der Goten vom Arianismus zu suchen. Sie besiegelte das Ende der Gegnerschaft und den Beginn eines engen Bündnisses zwischen katholischer Reichskirche und Königtum, das bis zum Untergang des Reichs Bestand hatte32. Den entscheidenden Schritt tat Reccared I. Mit seiner eigenen Konversion wenige Monate nach dem Tod seines Vaters Leovigild leitete er den Übertritt sämtlicher Westgoten vom arianischen zum katholischen Bekenntnis ein, der auf dem 3. Konzil von Toledo (589) beschritten wurde33.

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ung im Westgotenreich und im Reich von Asturien und León siehe ausführlicher Alexander Pierre Bronisch, Die westgotische Reichsideologie und ihre Weiterentwicklung im Reich von Asturien, in: Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, hg. v. Franz-Reiner Erkens (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände 49), Berlin 2005, 161–189; Ders., Cosmovisión e ideología de guerra en época visigoda y asturiana, in: La carisa y la mesa. Causas políticas y militares del origen del Reino de Asturias, hg. v. Juan Ignacio Ruiz de la Peña Solar / Jorge Camino Mayor, Oviedo 2010, 212–233. García Moreno, Leovigildo (wie Anm. 30), 52. Carlos de Ayala Martínez, Sacerdocio y reino en la España altomedieval. Iglesia y poder político en el occidente peninsular, siglos VII–XII, Madrid 2008, 26–33. Stocking und Castellanos charakterisieren diese Zusammenarbeit von hispanischer Kirche und König als konsensorientiert. Rachel L. Stocking, Bishops, Councils and Consensus in the Visigothic Kingdom, 589–633 (History, Languages, and Cultures of the Spanish and Portuguese World), Ann Arbor, Mich., 2000. Santiago M. Castellanos, Obispos y santos. La construcción de la historia cósmica en la Hispania visigoda, in: La imagen del obispo hispano en la Edad Media. [Simposio celebrado en la Universidad de Navarra los días 7 y 8 de mayo de 2001], hg. v. Martin Aurell / María Ángeles García de la Borbolla García Paredes (Colección Histórica), Pamplona 2004, 15–36. Victoris Tunnunensis chronicon cum reliquiis ex consularibus caesaraugustanis et Iohannis Biclarensis chronicon. Commentaria historia ad Consularia Caesaraugustana et ad Iohannis Biclarensis chronicon edidit Roger Collins (Corpus Christianorum Series Latina 177 A), hg. v. Carmen Cardelle de Hartmann / Roger Collins, Turnhout 2001, 78, § 84: Recaredus primo regni sui anno mense X catholicus deo iuuante efficitur et sacerdotes secte Arriane sapienti colloquio aggressus ratione pocius quam imperio conuerti ad catholicam fidem facit, gentemque omnium Gothorum et Sueuorum ad unitatem et pacem reuocat Christiane ecclesie, secte Arriane gratia diuina in dogmate ueniunt Christiano. Las historias de los Godos, Vándalos y Suevos de Isidoro de Sevilla. Estudio, edición crítica y traducción (Fuentes y estudios de historia leonesa 13), hg. v. Cristóbal Rodríguez Alonso, León 1975. Darin: De origine Gothorum (versio longa), 254, § 49 Z. 15–17: Hermenegildum deinde filium imperiis suis tyrannizantem obsessum exsuperauit. 3. Konzil von Toledo (589), in: La colección canónica hispana, Bd. V: Concilios hispánicos: segunda parte (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie canónica 5), hg. v. Gonzalo Martínez Díez / Félix Rodríguez, Madrid 1992, 49–159. Vgl. Concilios visigóticos e hispano-romanos (España cristiana Textos 1), hg. v. José Vives Gatell / Tomás Marín Martínez (Hg.) / Gonzalo Martínez Díez (Übers.), Barcelona/Madrid 1963. Zur Konversion auf dem 3. Konzil von Toledo siehe José Orlandis Rovira, Die Synoden im katholischen Westgotenreich, in: Die Synoden auf der iberischen Halbinsel bis zum Einbruch des Islam (711), hg. v. José Orlandis Rovira / Domingo Ramos-Lissón (Konziliengeschichte. Reihe A Darstellungen), Paderborn u. a. 1981, 95–117; Aloys Suntrup, Studien zur politischen Theologie im frühmittelalterlichen Okzident. Die Aussage konziliarer Texte des gallischen und iberischen Raumes (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 2, 36), Münster 2001, 201– 225.

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Diese beiden im Prinzip voneinander unabhängigen Entscheidungen, die Übernahme von Elementen byzantinischer und somit stark christlich geprägter Herrscherpräsentation und herrscherlichen Selbstverständnisses und der Übertritt der Westgoten zum katholischen Bekenntnis bereiteten den Weg für die Ausprägung einer spezifischen hispanogotischen Weltanschauung. Diese bestand grundsätzlich in der Gleichsetzung von König, Volk und Reich mit dem Volk Gottes im Alten Testament. Diese Vorstellung, die zeitgleich auch im byzantinischen Reich lebendig war, lebte vom Grundgedanken eines Paktes zwischen Gott, König und Volk, den die Goten mit dem Übertritt zum katholischen Bekenntnis geschlossen hatten34. Der katholische Reichsklerus dankte dem König für die Abkehr vom Arianismus mit der Sakralisierung seiner Person und Funktion35, wofür die Kirchenmänner wiederum Anleihen aus dem byzantinischen Kaiserkult nahmen. Dazu gehörte die Überzeugung, dass der König ohne Vermittlung der Kirche zum Empfang göttlicher Inspiration befähigt war. Diese Überzeugung blieb bis zum Untergang des Reiches 711 lebendig und ist in Zeugnissen Reccareds36, König Sisenands (631– 34

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16. Konzil von Toledo (693), 9. Kanon, in: Vives u. a., Concilios visigóticos (wie Anm. 33), 507: Sicut summum bonum est valdeque conspicuum superno numini amari fideliterque inhae­ rere eiusque praeceptionibus parientiam votis gliscentibus exhibere, ita consequens bonum est post Deum regibus, utpote iure vicario ab eo praeelectis, fidem promissam quemque inviolabili cordis intentione servare et nulla contra eum occasione quicquam nocibilitatis excogitare nihilque nequius definire, dicente Domino: Nolite tangere Christos meos. Vgl. Suntrup, Studien zur politischen Theologie im frühmittelalterlichen Okzident (wie Anm. 33), 329. Schon im tomus regius Reccareds I. zum 3. Konzil von Toledo (589) ist diese Vorstellung zu fassen, in: Martínez Díez / Rodríguez, La Colección canónica hispana (wie Anm. 33), Bd. V, 54, Z. 56–59 (= Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 109): Pro qua re quanto subditorum gloria regali extollimur, tanto prouidi esse debemus in his que ad Deum sunt, uel nostram spem augere uel gentibus a Deo nobis creditis consulere. 63 f. Z. 158–159 (= Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 112): … ut eae gentes, quarum in Dei nomine regia potestas praecellimus … Vgl. Gerd Kampers, Zwischen Königswahl und Dynastiebildung. Grundzüge und Probleme der Verfassungsgeschichte des spanischen Wisigotenreiches, in: Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter (MittelalterStudien 22) hg. v. Matthias Becher / Stefanie Dick, München 2010, 153. Die wesentlichen Elemente der Sakralisierung der westgotischen Königsherrschaft nach der Konversion Reccareds beschreibt Valverde Castro, Ideología, simbolismo y ejercicio del poder real (wie Anm. 30), passim, 288: „Y es que la idea del origen divino del poder fue la idea básica de la teoría político-religiosa que se impuso en el reino visigodo de Toledo a partir de la conversión, momento en que la monarquía visigoda se convierte en monarquía católica y adquiere características teocráticas. La iglesia sacralizó el poder monárquico, dotando a la máxima institución de gobierno de una sólida base conceptual en la que sustentar el ejercicio del poder.“ Die Idee vom göttlichen Ursprung der Herrschaft ist allerdings nur eines von mehreren Elementen dieser sich sukzessive entwickelnden politisch-religiösen Vorstellungswelt. 3. Konzil von Toledo (689), Martínez Díez / Rodríguez, La colección canónica hispana (wie Anm. 33), Bd. V, 52, Z. 34 f. (= Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 108). Gregorii I Papae registrum epistolarum, Bd. 2 Libri VIII–XIV cum indicibus et praefatione 8 (MGH ep. 2), hg. v. Ludwig Hartmann, Berlin 21899, ep. IX (Brief König Reccareds an Papst Gregor I.), 227a, Z. 22–26: Salutem vero tuam, reverentissime ac sanctissime vir, audire delector et peto tuae christianitatis prudentiae, ut nos gentesque nostras, quae nostro post Deum regimine moderantur et vestris sunt a Christo adquisitae temporibus, communi Domino tuis crebro com-

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636)37 und König Chindasvinths (642–653)38 belegt. Dazu gehörte die von Isidor von Sevilla beschriebene Aufgabe des Königs, als Werkzeug Gottes über die Kirche zu wachen und sogar innerhalb der Kirche für Ordnung zu sorgen, wenn dies der Kirche selbst nicht gelingen sollte39. Dies führte in der Konsequenz zu einer Teil-

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mendes orationibus, ut per eandem rem quos orbis latitudo dissociat, vera in Deum acta caritas feliciter convalescat. 4. Konzil von Toledo (633), Martínez Díez / Rodríguez, La colección canónica hispana (wie Anm. 33), Bd. 5, 179, Z. 313–316, (= Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 186): … primum gratias Saluatori nostro Deo omnipotenti egimus; post haec antefato ministro eius excellentissimo et glorioso regi, cuius tanta erga Deum deuotio exstat ut non solum in rebus humanis sed etiam in causis diuinis sollicitus maneat. Ebd., 255 f., Z. 188–193 (= Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 220): Te quoque praesentem regem futurosque aetatum sequentium principes humilitate qua debemus deposcimus ut moderati et mites erga subiectos exsistentes cum iustitia et pietate populos a Deo uobis creditos regatis, bonamque uicissitudinem, qui uos constituit, largitori Christo respondeatis regnantes in humilitate cordis cum studio bonae actiones … Valverde Castro, Ideología, simbolismo y ejercicio del poder real (wie Anm. 30), 202. Die These von Manuel Alejandro Rodríguez de la Peña, das westgotische Königtum sei seit Isidor als reines Amt oder Dienst ohne charismatische Prägung verstanden worden, ist angesichts dieser und der genannten Qualifizierungen König Reccareds auf dem 3. Konzil von Toledo sowie weiterer späterer Belege für die besondere gottnahe Position des Königs unverständlich. Rodríguez de la Peña, San Isidoro de Sevilla, Pensador de la Realeza sapiencial cristiana, Studium legionense 55 (2014), 194: „Por consiguiente, la Realeza goda, en su faceta eclesiológica, sería concebida a partir de los tiempos de San Isidoro en tanto que mero ministerio de servicio (ministerium; praesulatum) a la comunidad cristiana, careciendo así de don carismático alguno (como la mediacion entre Dios y sus súbditos o la praedicatio Evangelii).“ Claude, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich (wie Anm. 30), 126 f.; Epistolario de San Braulio. Introducción, edición crítica y traducción (Anales de la Universidad Hispalense, Serie: Filosofía y Letras 31), hg. v. Luis Riesco Terrero, Sevilla 1975, Nr. 31 u. Nr. 32, Z. 15– 16: Adeo, si ista in Dei voluntate ut confidimus persistunt, alia nos quam quod ipsi conplacet facere non debemus. Z. 27–29: Ergo, beatissime vir, quia aliut quam quod Deo est placitum non credas me posse facturum …; Nr. 21, Z. 11–13: Oc quidem iam olim altissimo inspiramine et sacra meditatione gloriosissimi et clementissimi filii vestri, principis nostri, Chintilanis regis insederat animis. Valverde Castro, Simbología del poder en la monarquía visigoda, Studia Historica. Historia antigua 9 (1991), 139–148, hier 142, ebenso in Dies., Ideología, simbolismo y ejercicio del poder real (wie Anm. 30), 203, führt auch die gelegentliche Formulierung nostrae gloriae in vom König ausgestellten Dokumenten sowie die Wendung in Dei nomine als Ausdruck der gottnahen Position des Königs an. Siehe z. B. Leges Nationum Germanicarum. Tomus I. Leges Visigothorum (Monumenta Germaniae Historica. Legum sectio 1), hg. v. Karl Zeumer, Hannover 1973, XII,1,3: Edita lex in confirmatione concilii Toleto sub die idus Nov. era DCCXXI, anno quoque feliciter quarto regni glorie nostre, in Dei Nomine Toleto. Ebenso XII, 2, 17 und 13. Konzil von Toledo (683), in: La colección canónica hispana, VI: Concilios hispánicos: tercera parte (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie canónica 6), hg. v. Gonzalo Martínez Díez / Félix Rodríguez, Madrid 2002, 224, Z. 105–106 (=Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 414). Weitere Fundstellen in den Akten der toletanischen Reichkonzilien bei Joaquin Mellado Rodríguez, Léxico de los concilios visigóticos de Toledo, Córdoba 1990, Bd. 1, 291. Isidorus Hispalensis Sententiae (Corpus Christianorum Series Latina 111), hg. v. Pierre Cazier, Turnhout 1998, 298–304, lib. III § 48,7–51,6. Marc Reydellet, La royauté dans la littérature latine de Sidoine Apollinaire à Isidore de Séville (Bibliothèque des écoles françaises

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habe des Königs an der Verantwortung auch für das spirituelle Wohl der ihm schutzbefohlenen Christen. Die allgemein akzeptierte Position des Königs nicht nur als Träger der von Gott verliehenen Macht auf Erden, sondern als Mittler zwischen Gott und Volk, als ein vicarius Dei40, der besondere göttliche Inspiration erfuhr, kulminierte in der Salbung des Königs. Sie ist erstmals in der unter König Ervig (680–687) geschriebenen Historia Wambae regis als unverzichtbarer Teil der Thronerhebung erwähnt41. Der neue Ritus, der eine hispanogotische Besonderheit war und keine oströmischen Vorbilder hatte, rief Assoziationen an die Salbung der Könige David und Salomon im Alten Testament hervor und orientierte sich allem Anschein nach an diesem Vorbild42. In der Historia Wambae regis des Metropoliten Julian von Toledo ist der Gedanke der göttlichen Inspiration zusätzlich um die Vorstellung von der göttlichen Prädestination des Königs erweitert43. Dass es sich dabei nicht nur um ein literarisches Konstrukt handelte, ist mehrfach in den Akten der westgotischen Reichskon-

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d’Athènes et de Rome 243), Roma 1981, 584–597. Suzanne Teillet, Des Goths à la nation gothique. Les origines de l’idée de nation en occident du Ve au VIIe siècle. 2e Tirage revue et corrigé (Collection d’études anciennes), Paris 2011, 515–519. Gerd Kampers, Isidor von Sevilla und das Königtum, Antiquité Tardive 23 (2015), 123–132. Isidorus Hispalensis, Sententiae, lib. III § 51,4: Ceterum (principes) intra ecclesiam potestates necessariae non essent, nisi ut, quod non praevalet sacerdos efficere per doctrinae sermonem, potestas hoc imperet per disciplinae terrorem. Paul David King, Law and Society in the Visigothic Kingdom (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Third series 5), Cambridge 1972, 23–51. Sancti Iuliani Toletanae sedis episcopi historia Wambae regis, hg. v. Wilhelm Levison, in: Sancti Iuliani Toletanae sedis episcopi opera, pars I, hg. v. Jocelyn Nigel Hillgarth (Corpus Christianorum Series Latina 115), Turnhout 1976 (Neuausgabe der Edition in Theodor Mommsen, Chronica minora saec. IV. V. VI. VII, Bd. 2 [1894]), §§ 2–4, Z. 55–61: At ubi ventum est, quo sanctae unctionis vexillam susciperet, in praetoriensi ecclesia, sanctorum scilicet Petri et Pauli, regio iam cultu conspicuus ante altare divinum consistens, ex more fidem populis reddidit. Deinde curbatis genibus oleum benedictionis per sacri Quirici pontificis manus vertici eius refunditur et benedictionis copia exibetur. Hierzu siehe Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 335–338. Andererseits verzichteten die hispanischen Goten auf einen Krönungsritus. Das sichtbare Zeichen der Königswürde bestand neben Szepter, Thron und königlicher Gewandung in einer Kopfbedeckung, die zu einem Typus gehörte, der in den Quellen mit den Begriffen Kamelaukion, Tiara, Mitra, Cidaris bzw. Frigium bezeichnet wird, und die ihrer Bedeutung nach der päpstlichen Tiara entsprochen haben dürfte. Siehe hierzu Alexander Pierre Bronisch, Krönungsritus und Kronenbrauch im Westgotenreich von Toledo, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 116 (1999), 37–86; Ders., Die iberische Herrschertiara, Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 33 (1999), 83–107. Über den Kronenbrauch in den Reichen der Reconquista siehe Ders., Krönungsritus und Kronenbrauch im Reich von Asturien und León, Studi medievali. Serie terza 39 (1998), 327–396. Historia Wambae regis (wie Anm. 41), § 2, Z. 11–16: Adfuit enim in diebus nostris clarissimus Wamba princeps, quem digne principari Dominus voluit, quem sacerdotalis unctio declaravit, quem totius gentis et patriae communio elegit, quem populorum amabilitas exquisivit, qui ante regni fastigium multorum revelationibus celeberrime praedicitur regnaturus. Abilio Barbero

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zilien belegt44. Auf diese Weise wurde der unmittelbar Gott nachgeordnete Status der Westgotenkönige präzisiert, ein Status, den kein Metropolit im Reich für sich beanspruchen konnte und den Paul David King sogar als „quasi-divinity of the king“ bezeichnet hat45.

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de Aguilera / Marcelo Vigil Pascual, La formación del feudalismo en la Península Ibérica, Barcelona, 51991, 197. Teillet, Des Goths à la nation gothique (wie Anm. 39), 588 f. 8. Konzil von Toledo (653), Martínez Díez / Rodríguez, La colección canónica hispana (wie Anm. 33), Bd. 5, 367 f., Z. 27–32 (Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 261): Etsi summus auctor rerum me diuae memoriae domni et genitoris mei temporibus in regni sede subuexit atque ipsius gloriae participem fecit, nunc tamen, cum ipse requiem aeternarum adeptus est mansionum, ea quae in me totius regiminis transfusa iura relinquit, ex toto diuina mihi potentia subiugauit. Valverde Castro, Ideología, simbolismo y ejercicio del poder real (wie Anm. 30), 210. 12. Konzil von Toledo (681), Martínez Díez / Rodríguez, La colección canónica hispana (wie Anm. 38), Bd. VI S. 154 Z. 228–237 (Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 387): ut qui ante tempora in occultis Dei iudiciis praescitus est regnaturus, nunc manifesto in tempore generaliter omnium sacerdotum habeatur definitionibus consecratus. … [Ervigium] quem et diuinum iudicium in regno praeelegit et decessor princeps successurum sibi instituit et – quod super est – quem totius populi amabilitas exquisiuit. Claude, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich (wie Anm. 30), 167 f. José Orlandis Rovira, La iglesia visigoda y los problemas de la sucesión al trono en el siglo VII., in: Le chiese nei regni dell’Europa occidentale e i loro rapporti con Roma sino all’800. 2 Bde. Settimane di studio, 7–13 Aprile 1959 (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo, 7), Spoleto 1960, 333–351; hier 346; Ders., La sucesión al trono en la monarquía visigoda, in: El poder real y la sucesión al trono en la monarquía visigoda. (Estudios visigóticos III), (Cuadernos del instituto jurídico español 16), hg. v. José Orlandis Rovira, Madrid/Roma, 1962, 57–102; hier 84. 16. Konzil von Toledo (693), 9. Kanon, (Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], 507): Sicut summum bonum est valdeque conspicuum superno numini amari fideliterque inhaerere eiusque praeceptionibus parientiam votis gliscentibus exhibere, ita consequens bonum est post Deum regibus, utpote iure vicario ab eo praeelectis, fidem promissam quemque inviolabili cordis intentione servare et nulla contra eum occasione quicquam nocibilitatis excogitare nihilque nequius definire, dicente Domino: Nolite tangere Christos meos. Suntrup, Studien zur politischen Theologie im frühmittelalterlichen Okzident (wie Anm. 33), 329. King, Law and Society in the Visigothic Kingdom (wie Anm. 40), 47. Valverde Castro, Simbología del poder en la monarquía visigoda (wie Anm. 38), 142, spricht vom „carácter casi sagrado de su persona, que le viene dado por ser el agente de Dios en la tierra.“ Ähnlich in Díaz/Valverde Castro, The Theoretical Strength and Practical Weakness of the Visigothic Monarchy of Toledo (wie Anm. 30), 79: „… the almost divine position reached by the monarch, based on theocratic postulates legitimating temporal power.“ 16. Konzil von Toledo (693) 9. Kanon (Vives u. a., Concilios visigóticos [wie Anm. 33], S. 507): bonum est post Deum regibus, utpote iure vicario ab eo praeelectis, fidem promissam … servare. Auch die Gottnähe des Königs entsprach byzantinischen Vorstellungen wie sie z. B. in der Panegyrik des Flavius Cresconius Corippus (ca. 565) zum Ausdruck kommt. Sie dürfte während der Herrschaft Leovigilds ins Gotenreich gelangt sein und hat dort möglicherweise das Bild des christlichen Herrschers mitgeprägt. Vgl. María José Hidalgo de la Vega / Dionisio Pérez Sánchez / Manuel J. Rodríguez Gervás, Poder político y legitimación: El panegírico de coripo y su utilización en el reino visigodo de Toledo, ΠΡΑΚΤΙΚΑ. Ια’ Διεθηνους συνεριου κλασσικων σποιδων. Καβαλα 24–30 αυγουστοι 1999, τομος Α, hg. v. Fédération nationale des associations d’études classiques, Athen 2001, 376–391. In laudem Iustini Augusti minoris libri IV. Edited with Translation and Commentary, hg. v. Averil Cameron, London 1976.

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Mit der Sakralisierung des Königs korrespondiert die Sakralisierung der Goten als biblisches Volk Gottes. In der Chronik des Johannes von Biclaro erscheinen die Goten auf der Iberischen Halbinsel als Erfüller der göttlichen Vorsehung46. Ein Vierteljahrhundert später band Isidor von Sevilla in seiner Gotengeschichte die Westgoten in die biblische Geschichte ein, indem er den Gotennamen von Magog her, dem zweiten Sohn des Jafet und Enkel Noes, deutete47. In voller Ausprägung begegnet die Gleichsetzung der Goten mit dem biblischen Volk Gottes wiederum in der Historia Wambae regis. Den Hauptteil der Historia nimmt die Schilderung vom Aufstand und von der Niederwerfung des Usurpators Paulus in Septimanien durch König Wamba (672–680) ein. Gott, König und Volk erscheinen darin als Bündnispartner zur Bekämpfung eines gemeinsamen Gegners, der nicht nur ein Feind des Königs und der Goten, sondern ein Feind Gottes selbst ist. Julian von Toledo lässt dies den aufständischen Bischof Argebad von Narbonne unumwunden aussprechen: „Ach, wir haben gegen den Himmel und gegen Dich, hochheiliger Fürst, gesündigt“48. In dieses Bild passt, dass in der Urteilsschrift (Iudicium in tyrannorum perfida promulgatum), die der Historia Wambae beigefügt ist, Paulus als schlimmste Anschuldigung vorgeworfen wird, dass er die Herrschaft gegen den Willen Gottes an sich gerissen habe. Dieser wiederum be-

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Eustaquio Sánchez Salor, El providencialismo en la historiografía cristiano-visigótica de España, Anuario de estudios filológicos 5 (1982), 179–192, hier 183 f. Isidorus Hispalensis, De origine gothorum (Rodríguez Alonso, Las historias de los Godos, Vándalos y Suevos, wie Anm. 33), 172, § 1: Gothorum antiquissimam esse gentem, quorum originem quidam de Magog Iafeth filio suspicantur a similitudine ultimae syllabae; et magis de Ezechiele propheta id colligentes. Retro autem eruditi eos magis Getas quam Gog et Magog appellare consueverunt. 282, Recapitulatio § 66 Z. 1–3: Gothi de Magog Iapheth filio orti cum Scythis una probantur origine sati, unde nec longe a vocabulo discrepant. Demutata enim ac detracta littera Getae quasi Scythae sunt nuncupati. S. a. San Isidoro de Sevilla Etimologías. 2 Bde. Edición bilingüe. Texto latino, versión española y notas por José Oroz Reta y Manuel Marcos Casquero. Introducción general por Manuel C. Díaz y Díaz (Biblioteca de Autores Cristianos 433 + 434), hg. v. José Oroz Reta / Manuel Marcos Casquero, Madrid 21993– 1994, IX,2.27 u. IX,2.89 Bd. 1, 745 u. 757; IVX,3.31 Bd. 2, 173 f. Vgl. Gen. 9,18 u. 10,2. Teillet, Des Goths à la nation gothique (wie Anm. 39), 490: „L’Historia Gothorum apparait alors comme l’épopée à la fois antique et biblique de la gens Gothorum, brièvement résumée de nouveau à la fin de l’ouvrage.“ Historia Wambae regis (wie Anm. 41), § 21 Z. 559–560: Heu! peccavimus in caelum et coram te, sacratissime princeps. Gregorio García Herrero, Julián de Toledo y la realeza visigoda, in: Arte, sociedad, economía y religión durante el Bajo Imperio y la Antigüedad tardía. Homenaje al Profesor Dr. D. José María Blazquez Martínez al cumplir 65 años, hg. v. Antonino González Blanco / Francisco Javier Fernández Nieto / José Remesal Rodríguez (Antigüedad y cristianismo. Monografías históricas sobre la Antigüedad tardía 8), Murcia 1991, 201–255, hier 221: „Peccatum, peccare, peccator … etc. son términos que podemos encontrar unas 360 veces en las obras del obispo toledano, en las que apenas es posible encontrar otro sentido que el de ofensa directa a Dios. Y precisamente en este sentido encontramos el término utilizado una vez más en la Historia Wambae: „Ay, hemos pecado contra el cielo y contra ti sacratísimo príncipe …“, equiparando el pecado de rebelión contra el ungido del Señor a una falta cometida directamente contra el cielo.“

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kennt, auf Anstiftung des Teufels gehandelt zu haben49. So erweist sich der Aufstand des Paulus und seiner septimanischen Gefolgschaft gegen König Wamba zugleich als Angriff gegen Gott, „als Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen“ – wie es Dietrich Claude formuliert hat –, „wobei der König als Werkzeug Gottes, der Usurpator als Genosse des Teufels handelte“50. Die Verschränkung der himmlischen und der irdischen Sphäre im Kampf Wambas gegen Paulus wird zeichenhaft durch Wunder bestätigt, etwa bei der Salbung Wambas, als eine Rauchsäule und eine Biene vom Haupt des Herrschers entschweben, oder durch eine Engelschar, die über dem Feldlager des gotischen Heeres beobachtet wird51. Die gleiche Vorstellung findet sich im hispanogotischen liturgischen Kriegsordo. Darin wird beschrieben, wie der König vom Bischof ein goldenes Kreuz mit einem Fragment des wahren Kreuzes erhält, das dem König und dem Heer als Zeichen der Anwesenheit Gottes auf dem Kriegszug vorangetragen wird. Wie der biblische König und das Volk Israel geleitet von Gott in der Bundeslade ziehen nun der Westgotenkönig mit dem populus und exercitus Gothorum von Gott im sichtbaren Kreuz geführt gegen die Feinde. Auch die aus dem Alten Testament stammenden Bibelzitate in Gebeten und Antiphonen setzen den König und das Heer mit dem altisraelitischen König und dem Volk Gottes gleich52. Die Sakralisierung des West49

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Iudicium in tyrannorum perfida promulgatum, in: Hillgarth, Sancti Iuliani Toletanae sedis episcopi opera (wie Anm. 41), 250–255; hier § 2, Z. 42–43: Post haec, quod nefas est dici, regnum contra voluntatem Dei arripuit et populos in hac nefaria electione sibimet iurare coegit. § 6, Z. 130–131: Ego tamen diaboli instinctu provocatus id feci. Claude, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich (wie Anm. 30), 161. Vgl. García Herrero, Julián de Toledo y la realeza visigoda (wie Anm. 48), 223 f. Teillet, Des Goths à la nation gothique (wie Anm. 39), 605 f. Historia Wambae regis (wie Anm. 41), § 23, Z. 599–604: Vbi divina protectio euidentis signi ostensione monstrata est. Visum est enim, ut fertur, cuidam externae gentis homini angelorum excubiis protectus religiosi principis exercitus esse angelosque ipsos super castra ipsius exercitus uolitatione suae protectionis signa portendere. Dieselbe Vorstellung findet sich Ordo quando rex cum exercito ad prelium egreditur im Liber Ordinum, Férotin, Le Liber Ordinum (wie Anm. 25), 151, Z. 4–9: Da ei, Domine, de spiritu tuo et cogitare que decent, et que conueniunt adimplere: ut manus tue protectione munitus, cum subiectis populis gradiens, et ab hinc de presentia ecclesie apostolorum tuorum Petri et Pauli procedens, ita munitus custodiis angelicis, acta belli ualenter exerceat. Sánchez Salor, El providencialismo en la historiografía cristiano-visigótica (wie Anm. 46), 216. Férotin, Le Liber Ordinum (wie Anm. 25), 150–155; Ausführlich hierzu Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 66–71. Vgl. Gregorio García Herrero, El reino visigodo en La concepción de Julián de Toledo, in: Lengua e historia. Homenaje al Prof. Dr. D. Antonio Yelo Templado al cumplir 65 años (Antigüedad y Christianismo 12), Murcia 1995, 385–420, hier 407: „No obstante, hemos de apuntar que, con las obras de Julián, nos hallamos ante un paso más en la interpretación literal de las ideas de Gregorio Magno e Isidoro de Sevilla a propósito de los deberes del monarca respecto de unos súbditos, contemplados, no sólo ya como cuerpo místico de Cristo, sino también como sustitutos excluyentes del pueblo elegido de la Escritura.“ Allerdings schreckt García Herrero vor der entscheidenden Schlußfolgerung zurück, ebd., 414: „¿Considera Julián al pueblo hispanogodo el abanderado de ese pueblo de Dios? Y dijimos que no llega a ese extremo de forma explícita …“ Ausdrücklich behauptet Julian nicht, die Goten seien das neue Volk Gottes, aber seine gesamte Symbolsprache ist diesbezüglich eindeutig, zumal vor dem Hintergrund seiner ideologischen Vorgänger Johannes von

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gotenherrschers als alttestamentlicher König und die der Goten als biblisches Volk Gottes sind somit als aufeinander bezogene Elemente zu verstehen. Zu König und Volk gehörte als drittes konstitutives Element das von den Goten und ihrem König beherrschte Land. Bei Isidor von Sevilla erscheint Spanien als ein gelobtes Land, das den Goten versprochen ist und das sie in Besitz nehmen wie einst die Israeliten im Alten Testament53. Auf dem 4. Konzil von Toledo (633) führte Isidor die Formel rex, gens vel patria gothorum ein, in der die drei konstitutiven Elemente des gotischen Selbstverständnisses vereint sind und die gewissermaßen zur staatsrechtlichen Umschreibung des Gotenreiches wurde54. Die Kirche beanspruchte im Rahmen dieser Trias aus König, Volk und Reich die moralische Zuständigkeit in allen Fragen der christlichen Religion und Lebensführung. Zugleich erkannte sie die Autorität des Königs an, dessen Verantwortung gegenüber Gott auch kirchliche Belange und moralische Fragen betraf und dessen

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Biclaro und Isidor von Sevilla. Andere Völker und deren Könige mögen in Julians Verständnis wegen ihrer christlichen Religion das Potential gehabt haben, ebenfalls Volk Gottes zu sein. Doch wie die überraschende Bezeichnung in der Historia Wambae der mit dem Usurpator Paulus verbündeten Franken als Barbaren zeigt, waren sie in Julians Verständnis noch weit davon entfernt. Willkürlich wirkt García Herreros Deutung der Bezeichnung barbarus als einfaches antikisierendes Synonym für externa gens (398), entgegen der Ansicht von Teillet, Des Goths à la nation gothique (wie Anm. 39), 558, zumal Julian sich zweifellos der pejorativen Bedeutung des Wortes bewußt war und damit diejenigen bezeichnet, die sich mit dem eidbrüchigen Usurpatoren Paulus und der abtrünnigen Provinz Gallien verbündet haben. Offenbar ist García Herrero in diesem Punkt von seiner ursprünglichen, m. E. zutreffenden Ansicht wieder etwas abgerückt. Vgl. Ders., Julián de Toledo y la realeza visigoda (wie Anm. 48), 239: „Aparece así constituido como un nuevo pueblo elegido. Un pueblo que ocupa el centro de un mundo en el que los demás regna (de los que se ocupa poco nuestro autor, excepción hecha de los merovingios) son considerados por oposición al propio, en una concepción que deja traslucir el uso del término barbarus.“ De laude Spaniae (Rodríguez Alonso, Las historias de los Godos, Vándalos y Suevos, wie Anm. 33), 168–171. Crónica del moro Rasis: Versión del Ajbar muluk al-Andalus de Ahmad ibn Muhammad ibn Musà al-Razi, 889–955; romanzada para el rey Don Dionís de Portugal hacia 1300 por Mahomad, Alarife, y Gil Pérez, Clérigo de Don Perianes Porçel (Fuentes cronísticas de la historia de España 3), hg. v. Diego Catalán / María Soledad de Andrés, Madrid 1975, XXX: „… es claro que, en la España de Sisebuto y Suíntila, ese ‚provincialism‘ solo podía entenderse al servicio de la exaltación de una ‚gens‘, la nación goda, que, según el modelo judaico, había encontrado en Hispania su tierra de promisión.“ Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 49–55; Ders., El concepto de España en la historiografía visigoda y asturiana, Norba. Revista de historia 19 (2006), 9–42, hier 12–18; S. a. Ana María Jiménez Garnica, Los judíos en el reino de Tolosa entre la tolerancia y el proselitismo arriano, in: Espacio, tiempo y forma. Serie II: Historia Antigua 6 (1993), 567–584, hier 574–577. Die Autorin stelle das biblische Volk Gottes und die (arianischen) Goten in Parallele: „Les unía igualmente la convicción de ser, cada uno por separado, pueblos elegidos, los únicos profesadores de la verdadera religión y, por ello, perseguidos y dispersados. La obra del obispo arriano Maximino apoyaba este pensamiento. Además, ambas comunidades tenían en su historia un periodo migratorio de cuarenta años llenos de esfuerzos, penalidades y batallas tras los cuales los judíos habían conseguido en el pasado la Tierra Prometida y los visigodos habían recibido Aquitania.“ (ebd., 574 f.) Bronisch, El concepto de España en la historiografía visigoda y asturiana (wie Anm. 53), 26–30.

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Kompetenz auf verschiedenen Wegen in den kirchlichen Bereich hineinragte55. Letztlich waren beide Gewalten in der Verantwortung für das katholische Westgotenreich eng miteinander verzahnt. Gemeinsam hatten König und Klerus die Voraussetzungen für den Bestand und das Gedeihen des Reichs zu schaffen und zu bewahren. Gemeinsam sorgten sie auf diese Weise für das Wohlgefallen Gottes, der Voraussetzung für inneren Frieden, Wohlstand und Gesundheit der gens und für äußere militärische Sicherheit der patria Gothorum56. Das Bild, das man sich im Westgotenreich über das Zusammenspiel und die Bedeutung der vier das Reich konstituierenden Elemente König, Kirche, Volk und Land machte, hatte somit insgesamt einen eminent altbiblischen Charakter. Über diesen vier miteinander in einer Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft verbundenen Elementen wachte ein richtender Gott. Er gewährte den Menschen ein blühendes Reich, wenn sie nach seinem Willen lebten und wirkten. Wurden sie ihrer Verantwortung nicht gerecht, griff Gott selbst reinigend und strafend in das Weltgeschehen ein. Vor allem der Krieg war ein Moment der Wahrheit. Er bedeutet zugleich eine Prüfung (examen pugnae) und ein Gottesurteil (iudicium belli) über das Verhalten des Volkes und seines Königs, wie es Julian von Toledo in seiner Historia Wambae regis57 formulierte und damit der schon auf dem 4. Konzil von Toledo (633) ausgedrückten Vorstellung entsprach, dass die Missachtung der göttlichen Vorschriften einen Bruch des Paktes mit Gott bedeutet, der aus Zorn schon viele Reiche durch andere Reiche vernichtet habe58. Der Krieg hatte auf diese Weise die Funktion eines Werkzeugs Gottes, mit dem er sein Volk einer Prüfung aussetzte, es belohnte oder bestrafte. Der Krieg war somit ein integraler Bestandteil der hispanogotischen Weltanschauung und entsprechend der oben gegebenen Definition ein Heiliger Krieg.

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Díaz Martínez / Valverde Castro, The Theoretical Strength and Practical Weakness of the Visigothic Monarchy (wie Anm. 30), 81: „The contradiction between those positions was nothing but the reflection of the paradoxical attitude of the Church with regard to the monarchy.“ Die Haltung und die wechselnden Initiativen der Könige und des hohen Klerus zur Frage der getauften Juden ist ein Paradebeispiel für die je nach der politischen Lage wechselnden Machtverhältnisse zwischen beiden Gewalten. Hierzu siehe Alexander Pierre Bronisch, Die Judengesetzgebung im katholischen Westgotenreich von Toledo (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen 17), Hannover 2005, sowie Ders., Convergencias y diferencias entre reyes visigodos y alta clerecía: El ejemplo de la legislación sobre los judíos, in: Medievalismos 26 (2016) 35–62. Historia Wambae regis (wie Anm. 41), § 10, Z. 243–247: Ecce! iam iudicium imminet belli et libet animam fornicari? Et credo, ad examen pugnae acceditis. Martínez Díez / Rodríguez, La colección canónica hispana (wie Anm. 33), Bd. V, 250, Kanon 75, Z. 113–121 (Vives [wie Anm. 33], 217): Hostibus quippe fides pacti datur nec uiolatur; quod si in bello fides ualet, quanto magis in suis seruanda est? Sacrilegium quippe esse si uioletur a gentibus regum suorum promissa fides, quia non solum in eis fit pacti transgressio, sed et in Deum quidem, in cuius nomine pollicetur ipsa promissio. Inde est quod multa regna terrarum caelestis iracundia ita permutauit ut per inpietatem fidei et morum alterum ab altero solueretur. Unde et nos cauere oportet casum huiusmodi gentium ne similiter plaga feriamur praecipiti et poena puniamur crudeli.

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WELTANSCHAUUNG UND HEILIGER KRIEG IM REICH VON ASTURIEN UND LEÓN Diese Auffassung vom Weltgefüge hat den Untergang des Westgotenreiches durch die arabische-berberische Eroberung in den Jahren ab 711 überdauert. Freilich galt es nun nicht mehr, den Zorn Gottes zu verhindern, sondern es ging darum, die Gnade Gottes wiederzuerlangen. Die Chronik Alfonsos III., das wichtigste historiographische Werk des Reiches von Asturien, nennt als Grund für den Verlust des Gotenreiches die Schlechtigkeit der Könige, beginnend mit König Ervig, der den Thron mit Hilfe eines Giftanschlags auf König Wamba usurpierte, bis hin zu König Witiza, der ein liederliches Leben führte und den Klerus zwang, sich Frauen zu nehmen. Weil Könige und Priester die göttlichen Vorschriften nicht mehr beachteten, habe auch Gott sie verlassen, die Chaldäer, wie die Sarazenen in der Chronik genannt werden, geschickt und damit die Niederlage und den Verlust des Reiches, der terra desiderabilis, wie es explizit in einer Redaktion der Chronik heißt, bewirkt59. Dieses Erklärungsmodell entspricht exakt den Vorstellungen, die in hispanogotischer Zeit entwickelt wurden. Aber Pelayo, ein gotischer Adliger, beschloss, Widerstand zu leisten. Die Redaktion „Rotensis“ der Chronik Alfonsos III. berichtet, wie er sich durch Flucht dem Zugriff der Sarazenen entzog, ein Heer sammelte, das ihn zum princeps wählte, und sich in der Höhle von Covadonga am Rande der „Picos de Europa“ verschanzte, einem Bergmassiv in den kantabrischen Kordilleren. Dort gelang ihm mit Gottvertrauen und mit Gottes wunderbarer Hilfe ein Sieg gegen die Übermacht der Feinde. Denn Gott bewirkte, dass die Chaldäer von ihren eigenen Pfeilen getroffen wurden und vernichtete die Reste des fliehenden Heeres durch einen Bergsturz60. Als Motiv für Pelayos Widerstand nennt die Chronik seinen Wunsch, die Kirche zu retten. Damit erfüllte Pelayo die wichtigste Pflicht der Gotenkönige, nämlich die Kirche als Vorbedingung für das Wohlergehen des Reiches zu schützen61. Dem entspricht auch ein Zitat aus einer Heiligenlegende, mit welchem der Bericht über den Sieg des Pelayo endet: In dem Maße, in dem die Würde des 59

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Crónicas asturianas. Crónica de Alfonso III (Rotense y „A Sebastián“). Crónica albeldense (y „profética“). Introducción y edición crítica de Juan Gil Fernández. Traducción y notas de José Moralejo. Estudio preliminar de Juan I. Ruiz de la Peña, (Universidad de Oviedo. Publicaciones del Departamento de Historia Medieval 11), hg. v. Juan Gil Fernández / Juan Ignacio Ruiz de la Peña Solar, Oviedo 1985, Chronik Alfonsos III., „Rotensis“, § 5, Z. 13–14: et quia reges et sacerdotes Domino delinquerunt, ita cuncta agmina Spanie perierunt. § 7 Z. 7–9: Et quia dereliquerunt Dominum non seruirent ei in iustitia et ueritate, derelicti sunt a Domino ne habitarent terram desiderabilem. Ebd., „Rotensis“, § 8, Z. 7, § 10, Z. 19. Ebd., „Rotensis“, § 8, Z. 13–15: [Pelagius] Quo ille dum reuertit, mulatenus consentit, set quod iam cogitauerat de salbationem eclesie cum omni animositate agere festinauit; Isidor von Sevilla, Sententiae, 298–304, lib. III, § 48, 7–51, 6; lib. III, 51, 4: Ceterum (principes) intra ecclesiam potestates necessariae non essent, nisi ut, quod non praevalet sacerdos efficere per doctrinae sermonem, potestas hoc imperet per disciplinae terrorem; Reydellet, La royauté dans la littérature latine (wie Anm. 39), 588–592; Teillet, Des Goths à la nation gotique (wie Anm. 39), 515.

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Namens Christi wuchs, schwand die Schändlichkeit der Chaldäer. Die Treue zu Gott also, Voraussetzung für den Bestand des Reiches in hispanogotischer Zeit, ist nun die Voraussetzung für die Gründung des neuen Reiches in Asturien. Der Kampf hat in diesem Konzept erneut eine doppelte Funktion: Einmal als Akt der Pönitenz für die begangen Sünden, und dann im Falle des Sieges als Erweis für die neu gewonnene Gnade und Barmherzigkeit Gottes. In doppelter Funktion erscheinen auch die Feinde Pelayos. Sie sind entsprechend der hispanogotischen Vorstellungswelt ein Werkzeug Gottes zur Bestrafung seines Volkes, zugleich aber als Feinde der Kirche auch Feinde Gottes, die der König und das Volk als Diener Gottes bekämpfen müssen. In diesem Kampf erweisen sie ihre Treue zum Pakt mit dem Herrn. Eben diese Konzeption findet sich auch im sogenannten „Testament Alfonsos II.“ vom Jahre 812, eine umfangreiche Schenkung des Königs an die von seinem Vater gegründete und nach Zerstörung von Alfonso II. neu errichtete Salvatorkirche in Oviedo. Hier ist explizit gesagt, dass die Mitwirkung an der Wiedererlangung von Gottes Kirche und der Kampf gegen die Feinde des Glaubens eine Grundvoraussetzung für den Nachlass der Sünden ist. Die spirituelle Reinheit führt dann zu einer idealen Situation auf Erden und zur ewigen Seligkeit im Himmel62. Der militärische Erfolg erscheint auf diese Weise zugleich als Beleg für die wiedererlangte göttliche Barmherzigkeit. Diese Auffassung ist auch im Covadonga-Bericht bezeugt, wo mit den vielen von König Alfonso I. eroberten Städten belegt wird, dass er ebenso wie Pelayo die Barmherzigkeit Gottes wiedererlangt hatte63. In der Chronik von Albelda, dem zweiten wichtigen historiographischen Zeugnis des asturischen Reiches vom Ende des 9. Jahrhunderts, fehlt eine Erklärung für den Untergang des Gotenreiches. Nur wenige Elemente der asturischen Kosmovision lassen sich identifizieren. So kämpft Gott selbst gegen die Feinde, wenn er sie in Liébana durch einen Felssturz vernichtet. Es ist die göttliche Vorsehung, die zur Gründung des asturischen Reiches führt, das als christianorum regnum bezeichnet wird, und durch die Hilfe des Herrn siegen die christlichen Könige über ihre Feinde und erweitern das Reich. Zur Herrschaft Alfonso III. heißt es ecclesia crescit et regnum ampliatur64. Hier ist wiederum die alte Abstufung erkennbar: Erst das Wohlergehen der Kirche führt zur Ausdehung des Reichsgebiets. Die Verse der sogenannten Notitia episcoporum cum sedibus suis in der Chronik von Albelda zeich62

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Diplomática española del período astur, 2 Bde. Estudio de las fuentes documentales del Reino de Asturias, 718–910, hg. v. Antonio Cristino Floriano Cumbreño, Oviedo, 1949–1951, Bd. 1 Nr. 24, fº 2rº A, Z. 6–2rº B, Z. 14: et cum uoto munera dedicamus poscentes, ut tam nos quam plebem nobis a te commissam uirtutis tue dextera protegas et uictrici manu contra aduersarios fidei uictores efficias. Clementie tue dono Ita Iustifices ut cuncti qui hic operantes ad recuperationem domus tue obedientes extiterunt suorum omnium abolitione excipiant peccatorum. Quatenus et hic exclusa fame, peste, morbo et gladio defensi clipeo protectionis tue felices se esse gaudeant et futuro in seculo feliciores cum angelis celestia regna possideant. Zum „Testament“ insgesamt siehe Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 113– 123. Chronik Alfonsos III. (wie Anm. 59), „Rotensis“, § 13, Z. 1–2: Adefonsus eligitur in regno, qui cum gratia diuina regni suscepit sceptra»; § 14, l. 5: «Deo et ominibus amauilis extitit. Chronik von Albelda (wie Anm. 59), § 12, Z. 15–16.

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nen das Bild einer perfekten Gesellschaft: Beschirmt durch die Umsicht des Königs, der entsprechend den Sentenzen Isidors von Sevilla die letzte Aufsicht über die Institution der Kirche führt, erstrahlen die Bischöfe inmitten des Kirchenvolkes. In weltlichen Angelegenheiten werden vor allem die militärischen Fähigkeiten des Königs genannt, wobei die weltliche und die himmlische Sphäre ähnlich wie im „Testament von 812“ miteinander verschränkt sind und sich gegenseitig bedingen. Dort heißt es: Dem König sei der heilige Sieg gegeben und mit Hilfe der Führung Christi sei er immer verherrlicht. Er sei als Sieger stark in der Welt und leuchte im Himmel. Hier sei ihm der Triumph gegeben, dort aber sei ihm das Reich geschenkt.65

Auch in historiographischen Texten des 10. und 11. Jahrhunderts finden sich Spuren der oben beschriebenen asturischen Weltanschauung. Zu Beginn der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts entstand eine Fortsetzung der Chronik Alfonsos III., in welcher die Geschichte der Könige Alfonsos III. (866–911), die in der ihm zugeschriebenen Chronik fehlt, sowie die seiner Söhne García I. (914–914) und Ordoño II. (914–924) erzählt wird. Hier ist das alte hispano-gotische und asturische Weltbild im Vergleich zum Hauptteil der Chronik Alfonsos III. und zur Chronik von Albelda wieder deutlicher herauszulesen. Das wichtigste Vorhaben der Könige ist demnach die Erweiterung der Kirche. Ecclesia ampliata est, schreibt der Chronist, weil die Städte Oporto, Braga und weitere besiedelt und neue Bischöfe eingesetzt wurden66. Das Heer aus Córdoba sammelt sich ad diripiendam Dei ecclesiam. Aber Alfonso III. besiegt die Feinde magno consilio Deo iuuante instad adiutus67. Die gleiche göttliche Hilfe erfahren seine Söhne García und Ordoño68. Über einen anderen Kampf heißt es, Alfonso habe alle Feinde vollkommen vernichtet, und zwar cooperante diuina clementia69. Nach dem Sieg bricht die Kirche in großen Jubel aus70, denn es kann aus dem Kontext des Berichts kein Zweifel daran bestehen, dass die Araber und Sarazenen die Zerstörung der Kirche beabsichtigen und dass die Kirche den Sieg des christlichen König als ihre Rettung versteht. 65

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Ebd., § XII, Z. 11–12: Prefatique presules in eclesie pleue / Ex regis prudentia emicant clare. Z. 18–21: Cui principi sacra sit uictoria data / Christo duce iubatus semper clarificatus / Polleat uictor seculo / fulgeat ipse celo / Deditus hic triumfho preditus ibi regno. Amen. Vgl. die spanische Übersetzung von Moralejo, in: Crónicas asturianas (wie Anm. 59), 229, von der ich in meiner deutschen Übersetzung abweiche. Die Charakterisierung des Königs als semper clarificatus hebt ihn weit über die von ihm regierten Völker und über die Bischöfe hinaus. Vgl. clarificatus im Johannesevangelium, Ioh. 13, 31–32: Cum ergo exisset, dixit Iesus: Nunc clarificatus est Filius hominis, et Deus clarificatus est in eo. Si Deus clarificatus est in eo, et Deus clarificabit eum in semetipso: et continuo clarificabit eum. Siehe auch Ioh. 15,8 u. 17,10. Continuatio de la Crónica de Alfonso III. Manuscrito 57-1-16 de la Biblioteca Capitular, Institución Colombina, Sevilla. Edición, traducción y presentación (Sources 3), hg. v. Juan Antonio Estévez Sola, Paris 2012, § 1.4 (3). Ebd., § 1.5 (5) Ebd., § 2 (16): Dedit illi Dominus uictoriam; § 3 (17): dedit Deus triumphum catolico regi et deleuit eos usque mingentem ad parietem. Ebd., § 1.5 (14). Ebd., § 1.5 (13) magna exultat ecclesia.

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In der Chronik des Sampiro, geschrieben um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert71, wird Vermudo II. (884–999) als idealer König geschildert, der den Thron friedlich bestieg, Klugheit bewies, die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit liebte, sich bemühte, das Schlechte zu verwerfen und das Gute zu wählen. Er bestätigte die Gesetze König Wambas und ließ die Kirchengesetze in Kraft treten72. Dies ist auch hinsichtlich der Formulierung ein klarer Rückbezug auf den Covadonga-Bericht, der über den Gotenkönig Witiza berichtete, er habe die Kirchengesetze außer Kraft gesetzt73. Der Chronist war offenbar bemüht, den König entgegen dem traditionellen Modell von der Verantwortung freizusprechen und betonte, dass die militärischen Erfolge des arabischen Kriegsherrn Almanzor den Sünden des christlichen Volkes geschuldet waren74. Aber ebenso wie im Covadonga-Bericht erinnerte sich Gott an seine Barmherzigkeit und rächte sich an seinen Feinden. Ultionem fecit de inimicis suis, heißt es in der Chronik, eine Formulierung, die darlegt, dass es nach Auffassung des Chronisten Gott selbst war, der gegen die Feinde kämpfte und die im übrigen an eine Antiphon in der westgotischen Kriegsliturgie erinnert, in der es heißt: Accipe de manu Domini pro galea iuidicium certum, et armetur creatura ad ultionem inimicorum tuorum75. WERTUNG DER ASTURISCH-LEONESISCHEN ZEUGNISSE In der Gesamtschau zeigt sich, dass Elemente der hispanogotischen Weltanschauung in allen hier vorgestellten asturisch-leonesischen Quellen nachweisbar sind. Allerdings ist sie nur im Covadonga-Bericht umfänglich dargelegt. Im Fortgang derselben Chronik findet sich kaum eine Spur. Ohne Kenntnis des Covadonga-Berichts hätten wir Heutige größte Schwierigkeiten, die Kosmovision des 8. bis 12. Jahrhunderts in den Reichen der Reconquista nachzuzeichnen und auf das Weltbild im Westgotenreich von Toledo zurückzuführen. Das gilt für die Chronik Alfonsos III. sowie mehr oder weniger für alle weiteren oben erwähnten Zeugnisse. Das bedeutet, dass man in asturisch-leonesischer Zeit im Allgemeinen nicht die Not71 72

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Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 159–163. Justo Pérez de Urbel, Sampiro, su Crónica y la monarquía leonesa en el siglo X (Consejo superio de investigaciones científicas. Escuela de estudios medievales. Textos 26), Madrid 1952, 344 (Redaktion „Silensis“), § 30: Mortuo Ramiro, Veremudus Ordonii filius ingressus est Legionem, et accepit regnum pacifice. Vir satis prudens; leges a Vambano principe conditas firmauit; canones aperire iussit; dilexit misericordiam et iudicium; reprobare malum studuit et eligere bonum. Chronik Alfonsos III. (wie Anm. 59), „Rotensis“, § 3, Z. 2–3: [Eruigius] legesque prodecessore suo editas ex parte corripit et alias ex nomine suo adnotare precepit; § 5, Z. 2–3: Concilia dissoluit, canones siggilauit. Chronik des Sampiro (wie Anm. 72), 344 (Redaktion „Silensis“), § 30: In diebus vero regni eius propter peccata populi christiani creuit ingens multitudo sarracenorum. Vgl. Pérez de Urbel, Sampiro, su Crónica y la monarquía leonesa (wie Anm. 72), 242: „Encontramos ciertamente, en él el lugar común de nuestros escritores medievales, que consideran los reveses del pueblo cristiano como una consecuencia del pecado individual y colectivo.“ Férotin, Le Liber Ordinum (wie Anm. 25), 152, Z. 17–19.

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wendigkeit empfand, dieses Weltbild eingehender darzulegen. Es war in den Texten der hispanischen Tradition verankert: In der Sammlung der hispanogotischen Konzilsakten, in der Liturgie im Liber iudiciorum, der Gesetzessammlung aus dem 7. Jahrhundert, in den Werken Isidors von Sevillas und Julians von Toledo, um nur einige herausragende Zeugnisse zu nennen. Die selbstverständliche Einbettung in das traditionelle Weltbild gab keine Veranlassung, die Funktionsweise der machina mundi genauer darzulegen. Dieses Bedürfnis wurde offenbar nur in besonderen Situationen empfunden. Eine solche Situation war noch in gotischer Zeit der Aufstand des Herzogs Paulus gegen König Wamba, von dem Julian von Toledo in seiner Historia Wambae regis berichtet. Paulus bedrohte die Integrität des Reiches und hatte mit seiner Auflehnung den Eid gegenüber dem König und damit auch den Pakt mit Gott gebrochen. Julian von Toledo betonte, dass König Wamba vor Gott verpflichtet war, als dessen Instrument gegen Paulus in den Krieg zu ziehen. Das Heer der Goten vollzog an Paulus und seinen Konsorten die Strafe Gottes. Auf diese Weise ist die Historia Wambae regis mehr als ein historiographischer Text, nämlich zugleich eine polemische Propagandaschrift. Genau das geschah auch im Covadonga-Bericht. Angesichts der verheerenden Niederlage der Goten und des Verlustes des Reiches war die Notwendigkeit gegeben, die Bedeutung dieses Geschehens vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Welt, Mensch und Gott detailliert zu schildern. Nachdem es nun nicht mehr darum ging, den Zorn Gottes zu verhindern, der über den Goten und ihren Königen und Priestern hereingebrochen war, zeigte der Autor des Covadonga-Berichts den Weg auf, wie Pelayo und die Asturier die alte Einheit aus Gott, König, Volk und der terra desiderabilis wiederherstellten. Ebenso wie die Historia Wambae regis handelt es sich somit um eine polemische Schrift, die einen Hauptgedanken in aller Deutlichkeit vermittelt: Die gotischen Könige und die Kirche im Reich von Toledo haben den Vertrag mit Gott gebrochen, und es sind die Asturier unter der Führung Pelayos und ihres Königs Alfonso I., die in der Gnade Gottes stehen und die zu einer neuen gemeinsamen Grundlage mit Gott gefunden haben. Der historische Auslöser für die Niederschrift des Covadonga-Berichts ist anders als jener der Historia Wambae regis nur hypothetisch zu ergründen. Eine Reihe von Indizien spricht für die Annahme, dass er als ursprünglich eigenständiger Text in die spätere Chronik Alfonsos III. integriert wurde, die nach allgemeiner Auffassung frühestens 877 entstanden ist76. Wahrscheinlich wurde er schon im 8. Jahrhundert vor dem Hintergrund der politischen Krise geschrieben, die wir vor allem aus den Schriften um den sogenannten „adoptianischen“ Streit kennen, einer vordergründig vor allem theologischen Auseinandersetzung um die richtige Bezeichnung der Sohnschaft Christi77. Damals sah sich die asturische Monarchie und die asturische Kirche schweren Angriffen gegen ihre Legitimität ausgesetzt. Der CovadongaBericht ist in seinem Kern somit kein historiographischer Text, sondern eine Pole76 77

Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 124 f. Zur politischen Bedeutung des adoptianischen Streits siehe Alexander Pierre Bronisch, Asturien und das Frankenreich zur Zeit Karls des Großen, Historisches Jahrbuch 118 (1998), 1–40.

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mik gegen diese Angriffe, ein Gegenangriff gegen den Metropoliten von Toledo, der die Ansprüche der überkommenen hispanogotischen Kirchenorganisation formulierte und die Legitimität des asturischen Reichs und seiner Herrscher mit Hinweis auf die gotische Tradition in Frage stellte78. In dieser Bedrohungssituation nimmt es nicht wunder, dass die alte Kosmovision und als integraler Bestandteil das Konzept des „Heiligen Krieges“ als Beleg für die Legitimität der eigenen Ansprüche nach innen wie nach außen herausgestellt wurden. Auch das sogenannte „Testament“ Alfonsos II. von 812 ist allem Anschein nach eine weltanschaulich besonders markante Antwort auf eine extreme Situation. Darauf deutet eine Formulierung, die auf die Verbannung Jakobs im Alten Testament verweist79. Es hat den Eindruck, als habe Alfonso II., von dem wir wissen, dass er im elften Jahr seiner Herrschaft abgesetzt und in Klosterhaft verbracht worden war, damit auf seine eigene Situation angespielt80. Das Ergebnis ist auf jeden Fall ein Text, der in seiner Bedeutung und Aussage weit über eine übliche Schenkung hinausgeht und sich uns als eine Mischung aus inständigem Gebet und Polemik präsentiert81. DIE HISPANOGOTISCHE UND ASTURISCH-LEONESISCHE WELTANSCHAUUNG IM REICH VON PAMPLONA Die hier vorgestellte These findet eine Bestätigung im navarresischen Bereich. Ende des 10. Jahrhunderts sind in der Region La Rioja einige Arbeiten und Texte entstanden, die bedeutende Zeugnisse des damaligen Weltbildes enthalten. Es handelt sich um die berühmten Codices „Albeldense“, „Emilianense“ und „Rotense“, 78

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Bis zur Veröffentlichung einer monographischen Untersuchung zum Covadonga-Bericht sei hier – trotz mancher Unzulänglichkeiten dieses ersten Versuchs – auf einen früheren Aufsatz verwiesen, der die wichtigsten Thesen zu diesem Thema enthält: Alexander Pierre Bronisch, Ideología y realidad en la fuente principal para la historia del reino de Asturias. El relato de Covadonga, in: Cristianos y Musulmanes en la Península Ibérica. La guerra, la frontera y la convivencia. XI Congreso de Estudios Medievales 2007, hg. v. Juan Ignacio Ruiz de la Peña Solar / Gregoria Cavero Domínguez, Ávila 2009, 67–110. Eine erste Frucht dieser Arbeit wurde bereits publiziert: Alexander Pierre Bronisch, Precisiones sobre algunas informaciones históricas en la „Crónica de Alfonso III“, Edad Media. Revista de Historia 12 (2011), 35–66. Floriano Cumbreño, Diplomática española del período astur (wie Anm. 62), Bd. 1, 127, Nr. 24, fol. 4.r. B. Z. 22–4.v. A Z. 12: Tu fortissime domine, qui es deus absconditus, deus Israel, saluator qui iussit Iacob reuertere in terram natiuitatis sue altari constructo tibi munera offerre. Et nos pie dignatus es de multis tribulationibus eruendo in proprio patrio domo reducere. Sit munus hoc tibi acceptum sicut accepta habuisti munera predicti Iacob pueri tui. Vgl. die jüngste Transkription von María Josefa Sanz Fuentes, in: Testamento de Alfonso II el Casto. Estudio y contexto histórico, hg. v. Rafael González Alonso, Granda-Siero 2005, 83–94, hier 90 f. Chronik von Albelda (wie Anm. 59), § XV, 9 Z. 1–3: Adefonsus magnus rg. an. LI. Iste XI° regni anno per tirannidem regno expulsus monasterio Abelanie est retrusus; inde a quodam Teudane uel aliis fidelibus reductus regnique Ouetao est culmine restitutus. Bronisch, Reconquista und Heiliger Krieg (wie Anm. 10), 113–123.

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die zentrale Texte der westgotischen und asturisch-leonesischen Tradition enthalten, darunter die Leges visigothorum, die Historia des Orosius, die ältere Redaktion der Chronik Alfonsos III., die Chronik von Albelda und die Collectio canonica hispana82. Zahlreiche Miniaturen flankieren das Bemühen der navarresischen Könige, die komplette hispanische Tradition auch für ihr Reich zu reklamieren. Dabei handelte es sich nicht um die Implantation einer neuen und fremden Herrscher- und Reichsideologie, sondern gewissermaßen um die offizielle Bestätigung des bereits Vorhandenen83. Überdies hätte das pamplonesische Königshaus kein Modell propagiert, das im benachbarten Reich von León bereits obsolet geworden war. Ganz im Gegenteil sprechen die vielfältigen familiären Bindungen zwischen dem leonesischen und dem pamplonesischen Königshaus dafür, dass man im benachbarten Navarra gut über das Konzept informiert war, das man in León vom Königtum, von seinen Pflichten und von seiner Stellung zwischen Gott, der Kirche und dem Volk hatte. Deshalb darf das politische Programm, das am Ende des 10. Jahrhunderts in der Rioja formuliert wurde, als Beleg dafür gelten, welche Vorstellungen zeitgleich im Reich von León lebendig waren. Die genannten Handschriften wurden in einer militärisch-politisch besonders angespannten Situation angefertigt. Der navarresische Raum wie der gesamte christliche Norden sah sich im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts den andauernden Bedrohungen durch die Kriegszüge des Kalifats von Córdoba in Gestalt des arabi82

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Fermín Miranda García, De laude Pampilone y la construcción ideológica de una Capital Regia en el entorno del año mil, in: Ab urbe condita … Fonder et refonder la Ville : Récits et représentations (second Moyen Âge – premier XVIe siècle). Actes du colloque international de Pau (14–16 mai 2009), hg. v. Véronique Lamazou-Duplan, Pau 2011, 294. Siehe auch Manuel Cecilio Díaz y Díaz, Libros y librerías en la Rioja altomedieval (Biblioteca de Temas Riojanos 28), Logroño 1979. Fermín Miranda García, Imagen del poder monárquico en el Reino de Pamplona del siglo X, in: Navarra. Memoria e imagen. Actas del VI Congreso de Historia de Navarra, 19–22 septiembre 2006, hg. v. Mercedes Galán Lorda / María del Mar Larraza Micheltorena / Luis Eduardo Oslé Guerendiain, Pamplona 2007, Bd. 3, 73–95, hier 75–79. Ángel Juan Martín Duque, Algunas Observaciones sobre el carácter originario de la monarquía pamplonesa, in: Homenaje a José María Lacarra (Príncipe de Viana. Anejo 3), Pamplona 1986, 525–526; erneut in: Príncipe de Viana 63/227 (2002), 835–839, hier 837: „Se reponen los instrumentos necesarios teóricamente para el mejor gobierno de los asuntos espirituales y temporales: La Colección canónica hispana y el Liber Iudiciorum, respectivamente. Se recogen piezas características de una tradición cultural de cuño también hispano-visigodo. Se reasume y actualiza el patrimonio historiográfico, lo cual supone una profunda reflexión sobre la esencia – raíces y proyecto – de la monarquía, a fin de suministrarle una definición, una imagen mental operativa.“ Ebd., 839: „Esta réplica del paradigma asturleonés no parece concebida como antítesis, sino que más bien deriva de la fraternitas de ‚reinos cristianos‘, y el hermanamiento efectivo de sus respectivas estirpes soberanas, alimentado a lo largo de cuatro generaciones mediante sucesivos lazos de parentesco.“ Armando Besga Marroquín, Orígenes hispanogodos del Reino de Pamplona, Letras de Deusto 89 (2000) 11–53, bes. 42–46, 45: „Esta reivindicación de la herencia hispanovisigoda puede compararse con el neogoticismo del Reino de Asturias. (…) Por ello, la repetición del mismo fenómeno, con el lógico retraso (y diferencia) en una Monarquía más reciente (y modesta) no puede verse como la manifestación de algo artificial, sino como el resultado esperable de unos orígenes hispanogodos.“

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schen Feldherrn Almanzor ausgesetzt. Diese krisenhafte Situation, die das Reich von Pamplona existentiell bedrohte, begründete die Notwendigkeit, die eigenen „ideologischen“ Grundlagen zu formulieren und zu propagieren. In einem Zusatz zur Chronik von Albelda wird der in der hispanogotischen Weltanschauung wichtigste und unverzichtbare Garant für das Wohlergehen von rex, gens und patria hervorgehoben: die Treue von König Sancho I. Garcés (905– 926) zu Christus, darüber hinaus seine Verantwortung gegenüber dem ihm anvertrauten Volk, den Christen, auch jenen, die unter dem Joch der Sarazenen leben. Im Anschluss daran werden ähnlich wie bei Alfonso I. im Covadonga-Bericht als Ausweis dafür, dass der König unter dem Schutz Gottes steht, seine militärischen Erfolge aufgezählt. Sarazenen, die den Glauben zurückweisen, als auch Christen, die sich vom Glauben abgewandt und dem Islam zugewandt hatten, werden als biotenati bezeichnet, also als solche die durch ihr Verhalten ihr Leben bzw. ihre Seele töten84. Das unterstreicht, dass die Gegner der Christen zugleich die Feinde Christi sind. Der Absatz schließt mit der Überzeugung, dass König Sancho, begraben im Portikus der Kirche des heiligen Stephan, zusammen mit Christus im Himmel herrscht (regnat cum Christo in polo)85. Das entspricht der in den asturischen Texten belegten Vorstellung, dass Könige, insbesondere jene, die sich im Kampf gegen die Sarazenen verdient gemacht haben, von Gott im Jenseits belohnt werden. Der spanische Historiker Fermín Miranda hat diesen Zusatz zur Chronik von Albelda ein „Programm religiöser Militanz“ genannt86. Mit dem pamplonesischen Beispiel ist belegt, dass die alte hispanogotische Weltanschauung den Untergang des Reiches von Toledo überlebt hat und im gesamten christlichen Norden lebendig geblieben ist. Die Belege für diese Weltanschauung zeugen von einer wechselhaften Intensität. In Krisenzeiten erfährt sie eine besondere Aktivierung. Die Rückbesinnung auf diese Weltanschauung insbesondere in Bedrohungssituationen zeigt, dass wir es mit einer wirkmächtigen Vorstellungswelt zu tun haben, die geeignet ist, alle Widerstandskräfte zu mobilisieren. In diesen Krisenlagen dient die Weltanschauung als politisch-ideologische Propaganda. Der Heilige Krieg, so, wie er oben definiert wurde, als integraler Bestandteil 84 85

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Fermín Miranda García, Sacralización de la guerra en el siglo X. La perspectiva pamplonesa, Anales de la Universidad de Alicante. Departamento de historia medieval 17 (2011), 225–243. Chronik von Albelda (wie Anm. 59), § XX. In era DCCCCXLIII surrexit in Pampilona rex nomine Sancio Garceanis. Fidei Christi inseparabiliterque uenerantissimus fuit, pius in omnibus fidelibus misericorsque oppressi catholicis. Quid multa? In omnibus operibus perstitit. Belligerator aduersus gentes Ismaelitarum, multipliciter estrages gessit super terras Sarracenorum. Idem cepit per Cantabriam a Nagerense urbe usque ad Tutelam omnia castra. Terram quidem Degensem cum oppidis cunctam possidevit. Arbam namque Pampilonensem suo iuri subdidit, necnon cum castris omne territorium Aragonense capit. Dehinc expulsis omnibus biotenatis XX regni sui anno migravit e seculo. Sepultus Sancti Stephani portico, regnat cum Christo in polo. Item filius eius Garsea rex regnavit annos XL. Benignus fuit et occisiones multas egit contra Sarracenos. Et sic decessit. Tumulatus est in castro Sancti Stephani. Supersunt eius filii in patria ipsius. Videlicet Sancio et frater ejus Ranimirus, quos salvet Deus omnipotens per multa curricula annorum, amen. Discurrente praesenti era TXIIII a. Miranda García, Sacralización de la guerra en el siglo X (wie Anm. 84), 228.

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der Weltanschauung, kam unter diesen Umständen zur besonderen Geltung. Die Sarazenen als Feinde der Christen, wurden darüber hinaus als Feinde der Kirche und Feinde von Gott definiert. Dementsprechend war es Gott selbst, der den Pakt mit seinem König und seinem Volk erneuerte und sich mit ihnen gegen seine Feinde wandte. AUSBLICK Die Frage, inwieweit das heute vorgestellte Modell auch auf andere Regionen, Epochen und Kulturkreise übertragbar ist, muss hier zunächst offenbleiben. Nur soviel: Für den islamischen Bereich steht es nach meiner Kenntnis außer Frage, dass der Djihād tatsächlich ein Heiliger Krieg entsprechend der hier vorgestellten Definition ist87. Als integraler Bestandteil der islamischen Vorstellungswelt, als wesentlicher Bestandteil des islamischen Gefüges aus Geboten und Verboten, die das Verhältnis von Mensch und Gott regeln, entspricht er dem christlichen Pendent des Heiligen Krieges. Und ebenso wie dieser, ist die Vorstellung vom Djihād bzw. die Forderung zum Djihād, nicht immer und überall in gleichere Intensität nachweisbar. Ebenso wie sein christliches Gegenstück unterlag er politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die seine Propagierung förderten oder in denen er gegebenenfalls nicht als vordringlich erachtet wurde. Zu untersuchen wäre natürlich auch, inwieweit die Definition des Heiligen Krieges als integraler Bestandteil der herrschenden Weltanschauung unser Bild von den Kreuzzügen bereichern kann. Angesichts der facettenreichen Geschichte der Kreuzzüge wäre diese Aufgabe aber im Rahmen eines Aufsatzes wohl kaum zu bewältigen.

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Hierzu siehe den Vergleich zwischen Djihād und christlichem Heiligem Krieg auf der Iberischen Halbinsel in Alexander Pierre Bronisch, La noción de guerra en el Reino de León y el concepto de djihâd hacia el año mil, in: Guerre, pouvoirs et idéologies dans l’Espagne chrétienne aux alentours de l’an mil. Actes du colloque international organisé par le Centre d’Etudes Supérieures de Civilisation Médíevale Poitiers-Angoulême (26, 27 et 28 Septembre 2002), hg. v. Thomas Deswarte / Philippe Sénac, Turnhout 2005, 7–23.

VORBILD ODER VORSCHRIFT? Zur Papstliturgie der Renaissance Jörg Bölling Der Bischof von Rom stellt von alters her eine bedeutende Bezugsgröße der gesamten Christenheit dar. Im lateinischen Westen avancierte das Papsttum zur entscheidenden Instanz in kirchenrechtlichen Streitfragen. Standen jedoch im Sinne der Reskripttheorie bis zur ersten Jahrtausendwende noch schiedsrichterliche Antworten auf Anfragen im Vordergrund, so agierten die Päpste mit Beginn der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts zunehmend auf eigene Veranlassung1. Dabei traten sie – mitunter in deutlicher Konkurrenz zu Byzantinern und Franken – auf vielfache Weise das Erbe des römischen Kaisers an. Im ersten nachchristlichen Jahrtausend berief noch der Kaiser oder die Kaiserin Konzilien ein, ab der Mitte des ersten Jahrhunderts im zweiten Millennium hingegen der Papst – so ist es bis heute2. Äußerlich wird dieser Wandel in der päpstlichen Beanspruchung, Übernahme und Angleichung kaiserlicher Insignien sichtbar3. Die konkreten Inhalte dieses Reformprogramms und seiner Umsetzung gehen aus päpstlichen Schreiben und kirchenrechtlichen Maßgaben sowie Einzelentscheiden hervor. Äußerlich wie inhaltlich signifikant ist in diesem Zusammenhang der Gottesdienst. Mochten auch manche Melodien weiterhin in gewohnter Weise gesungen werden – die liturgischen Texte erfuhren im Einflussgebiet des Papstes eine Angleichung an römische Vorlagen4. Vorschriften dieser Art ließen sich aber nicht überall in dieser Weise durchsetzen, und es mag dazu neben mangelndem Willen möglicher Rezipienten auch nicht immer der hierfür nötige päpstliche Impetus vorhanden gewesen sein. Selbst der wohl mächtigste Papst des Mittelalters, der liturgisch sogar bis heute über Konfessionsgrenzen hinweg in vielen Aspekten maßgeblich geblieben ist, Innozenz III., ver-

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Zur Geschichte des Papsttums in der fraglichen Zeit allgemein vgl. Klaus Herbers, Geschichte der Päpste in Mittelalter und Renaissance, Ditzingen 2014 (Reclams Universal-Bibliothek 19275). Zur epochalen Bedeutung der Jahrtausendwende vgl. Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende des 11. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch 122, 2002, 27–41. Vgl. etwa Dekrete der ökumenischen Konzilien, hg. v. Giuseppe Alberigo / Josef Wohlmuth, 3 Bde., Paderborn 2002. Agostino Paravicini Bagliani, Le Chiavi e la tiara. Immagini e simboli del papato medievale, 2. Aufl., Rom 2005; Jörg Bölling, Die zwei Körper des Apostelfürsten. Der heilige Petrus im Rom des Reformpapsttums, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 106, 2011, 155–192, 184–187. Vgl. dazu etwa Lucinia Speciale, Montecassino e la riforma gregoriana. L’Exultet Vat. Bar. Lat. 592, Rom 1991, 37–39.

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mochte seine Vorstellungen nicht in allen Punkten weltweit durchzusetzen5. Was ihm aber gelang, wurde rezipiert, doch nicht als Vorschrift, sondern als Vorbild. Dies gilt ohne Zweifel für Einzelentscheidungen des Vierten Laterankonzils zu den sieben Sakramenten und Innozenz’ Festlegungen liturgischer Farben, wie sie im gesamten christlichen Westen, freilich mit konfessionellen und regionalen Abweichungen, noch immer Verwendung finden. Noch zentraler aber für die Gestalt sämtlicher weiterer Gottesdienstformen der westlichen Kirche – auch in ihren späteren unterschiedlichen Bekenntnissen – wurde Innozenz’ weitgehende Zentrierung der Papstliturgie auf seine Palastkapelle. Entscheidenden Anteil an der Verbreitung dieses Vorbildes hatte der von Innozenz III. selbst approbierte Orden der Franziskaner. Übernahmen die frühmittelalterlichen Franken noch die römischen Stationskirchen nominell in ihren „Reichskalender“6, und bemühten sich Kirchen und ganze Städte, auch liturgisch als altera Roma zu erscheinen7, so konzentrierten sich die Franziskaner auf die Schlichtheit der päpstlichen Kapelle, den „Kurialritus“8. Kirchenrechtliche Dispense für einzelne Geistliche und ganze Kommunitäten, den Gottesdienst nach Art der Kurie zu zelebrieren, gleichsam als eine Art liturgischer Variante institutioneller Exemtion, trugen ihr Übriges zur Verbreitung des Kurialritus bei. Infolge des Trienter Konzils (1545–1563) wurden die römischen liturgischen Bücher, insbesondere das Missale Romanum von 1570, zum weltweiten Maßstab aller römisch-katholischen Gottesdienste und sogar verbindlich, sofern nicht lokale Riten ein Alter von mehr als 200 Jahren aufwiesen. Immerhin blieb es – mit leichten Abwandlungen – rund 400 Jahre, bis 1969 exklusiv in Kraft9. Bereits 1564, ein Jahr nach Konzilsende, bezeichnete der päpstliche Zeremonienmeister Franciscus Mucantius die Liturgie der päpstlichen Kapelle als Vorbild und Vorschrift zugleich. In seinem Vorwort zu dem von ihm im Druck herausgegebenen Zeremoniale seines ein halbes Jahrhundert früher tätigen Amtsvorgängers für den Erzbischof von Bologna, dem Vorläufer des Zeremoniales für alle römisch-katholischen Bischöfe von 1600, ergänzt Mucantius den Begriff cappella, von deren Gottesdienstordnung die gesamte Schrift her stamme, mit dem Relativsatz ex qua omnes exem5

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Die Maßgaben des Vierten Laterankonzils zur Verwahrung der Eucharistie, zu Beichte und Kommunionempfang etwa gelten bis heute ebenso wie die im gesamten Westen, von Lutheranern mitunter sogar noch traditionsbewusster – in Analogie zur außerordentlichen Form des römischen Ritus – beibehaltenen liturgischen Farben. Vgl. Der karolingische Reichskalender und seine Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert, hg. v. Arno Borst, 3 Teile (Monumenta Germaniae Historica [= MGH]. Libri mem. 2) Hannover 2001. Jörg Bölling, Distinktion durch Romrezeption? Inner- und gesamtstädtische Heiligenverehrung im hochmittelalterlichen Minden (Westfalen), in: Städtische Kulte im Mittelalter (Forum Mittelalter-Studien 5), hg. v. Jörg Oberste / Susanne Ehrich, Regensburg 2010, 53–77, 76. Vgl. Stephen Joseph Peter van Dijk / Joan Hazelden Walker (Hg.), The Ordinal of the Papal Court from Innocent III to Boniface VIII. and Related Documents (Spicilegium Friburgense 22), Freiburg i. Üe. 1975; Dies., The Origins of the Modern Roman Liturgy. The Liturgy of the Papal Court and the Franciscan Order in the Thirteenth Century, London 1960. Vgl. dazu etwa Jörg Bölling, Zwischen Liturgie und Volksfrömmigkeit. Wallfahrten im Spätmittelalter, in: Objektive Feier und subjektiver Glaube? Beiträge zum Verhältnis von Liturgie und Spiritualität, hg. v. Stefan Bönert, Regensburg 2011, 35–62, hier 40 mit Anm. 26.

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plum sumere debent10. Das textlich gefasste Vorbild wird somit buchstäblich zur Vorschrift. Zwischen diesen Wegmarken, zugleich zwischen Mittelalter und Neuzeit, liegt die Papstliturgie der Renaissance. An ihr lassen sich nicht nur exemplarisch, sondern in entscheidender Scharnierfunktion an der Epochenwende die Erzeugung, Zerstörung und Erhaltung von Sakralität und Macht aufzeigen – und zwar in Performanz, Schrift und Druck. I. ERZEUGUNG VON SAKRALITÄT UND MACHT IN PERFORMANZ, SCHRIFT UND DRUCK I.1 Performative Erzeugung von Sakralität und Macht Nichts anderes nämlich verlangt jene einzigartige und heilige maiestas vom Menschen, als Anbetung allein, die durch zeremonielle und sakrale Riten mit Ordnung und Ehrerbietung angewandt werden muss. Diese maiestas ist es m. E., die uns ermahnt, den von Gott auserwählten Menschen Ehre zu erweisen, die den Stand beiderlei Profession, der Fürsten und der Prälaten, ziert, die Groben unterweist, die Lehrer bildet und belehrt, die gebildeten Schüler nährt und anzeigt, wie weit Göttlichkeit (Divinität), Menschlichkeit (Humanität) und Ehrenhaftigkeit gehen.11

Mit diesen Worten bezeichnet Paris de Grassis, Zeremonienmeister der Päpste Julius II. und Leo X., das Zusammenspiel von Gott und Mensch, die sich im Miteinander von Sakralität und nach gesellschaftlichem Status und amtlicher Funktion stratifizierter und differenzierter Menschenmacht offenbart12. Der hier in der Quelle zentrale Begriff der göttlichen maiestas findet – etwa neben dem der magnificen-

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Paridis Crassi Bononiensis olim apostolicarum cerimoniarum magistri et episcopi Pisaurensis De cerimoniis cardinalium et episcoporum in eorum dioecesibus libri duo, singulis etiam ecclesiarum canonicis valde necessarij, Rom 1564, Vorrede (nicht paginiert). Vgl. zu dieser Schrift etwa Jörg Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance. Texte – Musik – Performanz (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 12), Frankfurt a. M. u. a. 2006, 54–62. Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 5634 I, fol. 11r; Archivio Segreto Vaticano, Fondo Borghese, serie I 568, fol. 15v–16r: Nihil enim singularis et sancta illa maiestas aliud ab homine desiderat quam solam adorationem per caerimoniales sacrosque ritus exhibendam cum ordine et reverentia. Ea [sc. maiestas] (inquam) est, quae hominibus a Deo praeelectis honores adhibere nos admonet, quae statum utriusque professionis principum scilicet et praelatorum exornat, rudes instruit, magistros erudit et magistrat, eruditos discipulos compescit et quidquid divinitatis humanitatisque ac honestatis usque est indicat et demonstrat. Zur von Niklas Luhmann eingeführten Unterscheidung zwischen Stratifikation und Differenzierung mit Blick auf das Mittelalter vgl. etwa Niklas Luhmann, Mein Mittelalter, in: Rechtshistorisches Journal 10, 1991, 66–70; dazu kritisch Otto Gerhard Oexle, Luhmanns Mittelalter, in: ebd., 53–66. Auch wenn Luhmanns historische Einordnungen nicht in allem unhinterfragt bleiben können, mögen einige der von ihm geprägten Begriffe zur Kennzeichnung von aus den Quellen selbst zu eruierenden Aussagen und Phänomenen hilfreich sein.

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tia – auch mit Blick auf den Papst Anwendung13. Noch in einem Stich des Étienne Dupérac von 1578 erscheint das Wort gleich zu Beginn in der Überschrift: MAIESTATIS PONTIFICIAE DUM IN CAPELLA XISTI SACRA PERAGUNTUR ACCURATA DELINEATIO14.

Mit der maiestas pontificia ist hier die Ehrhabenheit päpstlicher Zeremonien bezeichnet, wie sie während der Feier der heiligen Geheimnisse (sacra, das Wort mysteria ist stillschweigend zu ergänzen), also der heiligen Messe, in Erscheinung tritt – im Stich ersichtlich in Form einer akkuraten, lebensechten Nachzeichnung, als accurata delineatio15. Wie konnte aber bei einer heiligen Messe von päpstlicher Majestät die Rede sein? Die Papstmesse umfasste weit mehr als kirchliche Liturgie. Liturgisch im engeren Sinne, vor allem dem zeitgenössischen Wortgebrauch nach, war die Zelebration des Priesters, in der Regel im Kardinalsrang, am Altar. Bereits mit dem Aufkommen des Plenarmissales im Hochmittelalter war es der zelebrierende Priester, der für den gültigen Vollzug des Sakraments der Eucharistie verantwortlich war – im so genannten levitierten Hochamt unterstützt von Diakon und Subdiakon. Charakteristisch für die Papstmesse war aber auch, dass der Heilige Vater sämtliche Gebete und auch Lesungen persönlich von seinem Thron aus etwa zeitgleich zum Zelebranten, freilich mit gewissen Verschiebungen, zu verrichten hatte16. An seinem Thron, der an der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit bis auf eine kurze Unterbrechung im frühen 16. Jahrhundert ebenso wie der Altar von einem Baldachin bekrönt war, taten auch verschiedene Funktionsträger und Honoratioren des Papstpalastes Dienst, etwa päpstliche Kammerherren. Unmittelbar in der Liturgie war also auch der Hof mit seiner besonderen Etikette präsent. Dazu gehörte nicht zuletzt der Arzt des Papstes, in der Renaissance regelmäßig ein Jude, mitunter sogar im Rang eines Rabbiners17. In der Papstkapelle erschien somit nicht allein die curia, 13 14 15

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Zur päpstlichen magnificentia vgl. etwa Jörg Bölling, Magnificat und Magnificentia. Zur Papstliturgie der Renaissance, in: Maria ›inter‹ confessiones. Das Magnificat in der frühen Neuzeit (Epitome Musical), hg. v. Christiane Wiesenfeldt / Sabine Feinen, Turnhout 2017, 67–78. Biblioteca Apostolica Vaticana, Riserva Stragr. 7, tav. 116. Vgl. hierzu Niels Krogh Rasmussen, Maiestas Pontificia. A Liturgical Reading of Étienne Dupéracs Engraving of the Capella Sixtina from 1578, in: Analecta Romana Instituti Danici 12, 1983, 109–148 (die Angabe „Stagr. 7, f. 166“, ebd., 109, ist fehlerhaft). Zum Begriff der päpstlichen maiestas vgl. auch Adalbert Roth, Liturgische Musik im Dienste der maiestas papalis in re divina, in: Hochrenaissance im Vatikan 1503–1534, hg. v. Francesco Buranelli u. a., Ostfildern-Ruit 1999, 162–170. Der päpstlichen maiestas und nicht allein der besseren Sichtbarkeit dient auch die sedes gestatoria (italienisch sedia gestatoria), weshalb Paris de Grassis seinem Tagebucheintrag zufolge Papst Julius II. bittet, diese zu benutzen, statt zu Fuß zu gehen; vgl. Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 2571, fol. 50v–51r. Zur zeitlichen Verschiebung vgl. Jörg Bölling, Zeremoniell und Zeit. Messkult und Musikkultur am Papsthof der Renaissance, in: Polyphone Messen im 15. und 16. Jahrhundert. Funktion, Kontext, Symbol, hg. v. Andrea Ammendola / Daniel Glowotz / Jürgen Heidrich, Göttingen 2012, 145–186. Vgl. hierzu Moritz Stern, Urkundliche Beiträge über die Stellung der Päpste zu den Juden. Mit Benutzung des päpstlichen Geheimarchivs zu Rom, 2 Bde., Kiel 1893–1895 (Ndr. Farnborough 1970).

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sondern auch die curtis des Pontifex18. Die Papstmesse blieb allerdings keineswegs auf Kirche und Hof des Bischofs von Rom beschränkt. Auch auswärtige Botschafter waren anwesend. Dieses standen auf der rechten Seite des Papstthrons, teils unmittelbar, teils durch die Bank der Kardinalbischöfe getrennt, oder erhielten einen Sitzplatz, sofern ihnen ihr persönlicher Rang einen höheren Status in der Präzedenz verschaffte, auf der Kardinalsbank oder bei den geistlichen Thronassistenten links vom Papstthron19. Bemerkenswert bei diesen Botschaftern mag sein, dass hier – im Unterschied zur Beschriftung bei Dupérac von 1578, doch analog zum erwähnten jüdischen Arzt – nicht nur Botschafter christlicher Herrscher in Erscheinung traten, sondern auch solche von Muslimen oder sogar Schismatikern20. Auch diese, zumindest die christlichen unter ihnen, waren in den Ablauf der Papstmesse aktiv eingebunden, etwa bei der Gabenbereitung21. Inmitten von Liturgie und Etikette, Kirche und Hof, war also auch diplomatisches Protokoll sichtbar: allein schon durch die Frage der Platzierung, die mit einer Unterscheidung von Stehen oder Sitzen einherging, doch auch hinsichtlich der Reihenfolge, in der sie in der Kapelle Aufstellung beziehen sollten oder sich setzen und in Prozessionen entsprechend einherschreiten oder den päpstlichen Baldachin tragen durften22. Mit dem Thema der Prozessionen ist auch der Bereich des „civic ritual“ angesprochen. Selbst städtische Formen von Zeremonien und Ritualen waren in der Sixtinischen Kapelle integriert, und zwar nicht allein durch die erwähnte drastische Reduktion der stadtrömischen Stationsgottesdienste schon im Hochmittelalter bis zur faktischen, notgedrungen erfolgten vollständigen Aufgabe infolge der Übersiedlung des kompletten Papsthofes nach Avignon im 14. Jahrhundert. Auf den Stufen des Papstthrons waren die Barone der Region und der gesamte römische Stadtadel präsent. Das so zentrale Amt des Stadtgouverneurs, gubernator urbis, wurde 18

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Die Unterscheidung von curia und curtis, deren Bedeutung für das Hoch- und beginnende Spätmittelalter auch Maria Pia Alberzoni zu Recht hervorhebt, zeigt sich in der Papstliturgie der Renaissance durch die Integration von Hofbediensteten einerseits und Kurienämtern andererseits; vgl. Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 113–128. Vgl. hierzu ausführlich Jörg Bölling, Causa differentiae. Rang- und Präzedenzregelungen für Fürsten, Herzöge und Gesandte im vortridentinischen Papstzeremoniell, in: Rom und das Reich vor der Reformation (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 7), hg. v. Nikolaus Staubach, Frankfurt a. M. u. a. 2004, 147–196. Zu den Botschaftern vgl. nun insbesondere Philipp Stenzig, Botschafterzeremoniell am Papsthof der Renaissance. Der ‚Tractatus de oratoribus‘ des Paris de Grassi. Edition und Kommentar (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 17), 2 Bde., Frankfurt a. M. 2013. Vgl. dazu nun die umfassenden Belege bei Stenzig, Botschafterzeremoniell (wie Anm. 19), 468–538 und 805–829. Dem Zeremonienmeister Paris de Grassis zufolge waren apostatae, vom Glauben abgefallene Angehörige der eigenen, christlichen Religion, dem normativen Anspruch nach nicht zugelassen. Gleichwohl nahmen noch in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts russisch-orthodoxe Gesandte an der Papstliturgie teil, obwohl sie – wie der Zeremonienmeister Franciscus Mucantius schreibt – Schismatiker waren (licet essent schismatici). Vgl. dazu bereits Bölling, Causa differentiae (wie Anm. 19), 186 f. Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 115; Stenzig, Botschafterzeremoniell (wie Anm.19). Wie Anm. 19.

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von Sixtus IV. sogar mit dem des Vizekämmerers vereint und damit faktisch zu einem reinen Ehrenamt der Kurie23. War in Avignon der Palast zum Ersatz der Stadt Rom geworden, so wurden nun in Rom sogar traditionsreiche städtische Ämter vor Ort in die Kurie und ihr liturgisches Zeremoniell der Papstkapelle integriert. Die Papstliturgie der Sixtinischen Kapelle war demzufolge ein Abbild von Kirche, Hof, Stadt und Kirchenstaat. Sakralität und Macht wurden hier zweifelsfrei abgebildet. Doch wie wurden sie erzeugt? In der Sakramentenlehre gilt der Grundsatz: efficit, quod figurat – ein Sakrament bewirkt, was es bezeichnet24. Gilt dies aber auch für die Zeremonien? Ursprünglich bilden die zentralen zeremoniellen Akte der Papstliturgie äußere Zeichen, signa externa, der im Sakrament verborgenen heilsrelevanten Inhalte. Noch Paris de Grassis, ansonsten durchaus kritisch im Umgang mit der Scholastik25, rekurriert hierzu explizit auf Thomas von Aquin. Im Prinzip gilt dies auch noch für sämtliche Zeremonien der Renaissance, auch die höfischen, städtischen und diplomatisch-protokollarischen – eben weil sie nicht irgendwo, sondern in der Sixtinischen Kapelle, einem locus sacer, stattfinden, und zwar, was besonders wichtig im Zweifelsfall alles entscheidend ist, während der sacra mysteria. Demgegenüber betrachtet Paris de Grassis andere Zusammenkünfte, sogar Konsistorien, bei denen mit Ausnahme von Botschaftern fast ausschließlich Geistliche, nämlich Papst und Kardinäle teilnehmen, als nicht-sakralen Akt26. Es sind also nicht die Personen allein, die Sakralität schaffen, sondern es ist letztlich die Liturgie. So wenig sich die Papstliturgie dabei auf das gottesdienstliche Geschehen im engeren Sinne beschränken lässt, so wenig wären höfische Etikette, diplomatisches Protokoll und städtisches Zeremoniell ohne die kirchliche Liturgie als sakral zu betrachten. Für die Papstliturgie mit und ohne Heiligen Vater, der in den zeitgenössischen Quellen seines herausragenden Amtes wegen regelmäßig als sanctissimus dominus noster bezeichnet wird, gilt letztlich dasselbe wie für jeden anderen Gottesdienst auch: Das Heilige schlechthin sind die Sakramente, die Heiligungsmittel. Ganz besondere Bedeutung kommt hier der Feier der Eucharistie, der heiligen Messe, zu. Heilig ist und bleibt hier nicht nur deren Vollzug, heilig werden auch die während des Canon missae in Leib und Blut Christi gewandelten und in der Kom23 24 25

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Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance, 4. Aufl., Darmstadt 1996, 268. Vgl. etwa Ueli Zahnd, Wirksame Zeichen? Sakramentenlehre und Semiotik in der Scholastik des ausgehenden Mittelalters (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 80), Tübingen 2014, 139 mit Anm. 25. Vgl. hierzu etwa Jörg Bölling, Vorauseilende Reformen. Musik und Liturgie im Umfeld des Trienter und des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Operation am lebenden Objekt. Roms Liturgiereformen von Trient bis Vaticanum II., hg. v. Stefan Heid, Berlin 2014, 141–164; Ders., Reformation und Renaissance. Martin Luthers Romaufenthalt und die Reform des Papstzeremoniells, in: Martin Luther in Rom. Kosmopolitisches Zentrum und seine Wahrnehmung (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts 134), hg. v. Michael Matheus / Arnold Nesselrath / Martin Wallraff, Berlin 2017, 223–256. Vgl. etwa im Archiv der Zeremonienmeister des Apostolischen Palastes Band 129, fol. 4r: Sacriste incumbit onus intimationis missarum et vesperarum. Magistro domus incumbit onus intimationis consistoriorum, et aliorum actuum non sacrorum.

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munion empfangenen Gaben von Brot und Wein. Die konsekrierte Hostie ist das Allerheiligste, das Sanktissimum. Nur durch die Heiligkeit der Sakramente werden auch Personen geheiligt, nur durch deren heilige Handlungen Orte und Gebäude sakral. Selbstverständlich spielen gerade in der Vormoderne, auch am Papsthof, Reliquien eine zentrale Rolle. Die Kapelle Sancta Sanctorum im Lateranpalast verdankte ihren Namen als heiligster Ort der Christenheit ihrer Vielzahl an verschiedensten sakralen Gegenständen27. Im Spätmittelalter wurde diese Kapelle wie auch der gesamte Palast zunehmend zu Orten, die um ihrer selbst willen als sakral galten28. Dadurch zelebrierten jedoch auch die Päpste immer seltener dort. 1370, als die Päpste seit vielen Jahrzehnten in Avignon residierten und das Abendländische Schisma zwischen Rom und Avignon kurz bevorstand, wanderten die spätestens im 11. Jahrhundert in der Kapelle Sancta Sanctorum verwahrten Apostelhäupter Petri und Pauli in die Laterankirche, die eigentliche Kathedrale des Papstes in dessen Eigenschaft als Bischof von Rom29. Im Laufe des 15. Jahrhunderts verloren selbst die Patriarchalbasiliken über den Apostelgräbern, St. Peter und St. Paul vor den Mauern, angesichts der skizzierten Fokussierung der Päpste seit Innozenz III. auf die Palastkapelle ihre Bedeutung für die Papstliturgie. Diese fand um 1500 dann fast ausschließlich im erneuerten Bau der Cappella Magna statt, der noch heute nach ihrem Auftraggeber Sixtus IV. benannten Cappella Sistina30. Was aber zeichnete dann die Papstliturgie gegenüber anderen bischöflichen Gottesdiensten aus? Es gab eine Reihe an schon in der Renaissance altehrwürdigen Besonderheiten, die bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts beobachtet wurden: so etwa die Verwendung eines goldenen Röhrchens bei der Kelchkommunion oder das Tragen ganz bestimmter Gewänder wie Fanone und – außerliturgisch – Tiara31. Hierbei handelt es sich allerdings um Spezifika, die derart eindeutig allein mit dem 27 28 29 30

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Vgl. dazu Mario Cempanari, Sancta Sanctorum Lateranense. Il santuario della Scala Santa delle origini ai nostri giorni, 2 Bde. (La Sapienza della Croce 1–2), Rom 2003; Ders., Scala Santa e Sancta Sanctorum. Storia, arte, culto del santuario, Vatikanstadt 2013. Vgl. dazu Manfred Luchterhandt, Patriarchium Lateranense. Residenzbildung, Kunstorganisation und Epochenbewusstsein im päpstlichen Rom, mschr. Habil. Münster 2007 (im Druck). Bölling, Die zwei Körper des Apostelfürsten (wie Anm. 3), 173–184. Vgl. Bernhard Schimmelpfennig, Die Funktion der Cappella Sistina im Zeremoniell der Renaissancepäpste, in: Collectanea II. Studien zur Geschichte der päpstlichen Kapelle. Tagungsbericht Heidelberg 1989 (Capellae Apostolicae Sixtinaeque Collectanea Acta Monumenta 4), hg. v. Bernhard Janz, Vatikanstadt 1994, 123–174. Vgl. hierzu nach wie vor Johannes Brinktrine, Die feierliche Papstmesse und die Zeremonien bei Selig- und Heiligsprechungen, 3. Aufl., Rom 1950. Ein brauchbares Glossar findet sich auch am Ende der Publikation, Le cérémonial apostolique avant Innocent VIII, texte du manuscrit Urbinate Latin 469 de la Bibliothèque Vaticane établi par Dom Filippo Tamburini. Introduction par Mgr Joaquin Nabuco Protonotaire Apostolique (Ephemerides Liturgicae 30), Rom 1966. Speziell zur Kleidung vgl. auch Jörg Bölling, Den Papst sehen. Eine Privataudienz im Medium des Bildes / Seeing the Pope. A Private Audience in the Medium of the Picture, in: Raffael und das Porträt Julius’ II. Das Bild eines Renaissancepapstes / Raphael and the Portrait of Julius II. Image of a Renaissance Pope (Ausstellungskatalog Städel Museum, Frankfurt, 7.11.2013–2.2.2014), hg. v. Jochen Sander, Petersberg 2013, 39–49.

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Papsttum in Verbindung gebracht wurden, dass sie diesem vorbehalten blieben und sich nicht zur Nachahmung anboten – weder als Vorbild noch als Vorschrift. Als liturgisches Vorbild diente das Papsttum nicht durch die zahlreichen Besonderheiten der römischen Patriarchalbasiliken32. Lediglich der Kalender wurde, wie bereits erwähnt, schon früh, etwa durch die Karolinger, nachgeahmt, indem hier im Laufe des Kirchenjahres die verschiedenen, zum jeweiligen gottesdienstlichen Termin ursprünglich vom Papst persönlich aufgesuchten stadtrömischen Stationskirchen vergegenwärtigt wurden33. Was das Papsttum nachahmenswert machte, war nicht die Komplexität aufwendiger Zeremonien großer Kirchen, sondern die Einfachheit klarer Liturgie der päpstlichen Kapelle. Dies galt nun weniger für Orte und Namen als für den gottesdienstlichen Vollzug, die liturgische Performanz. Doch wenn die Sixtinische Kapelle bis heute ein so weltbekannter Sakralraum ist und jährlich Millionen Besucher sie sehen wollen – warum ist dann so wenig über die Papstliturgie der Renaissance bekannt? Warum verdient sie überhaupt heute noch und konkret in diesem Beitrag eine eingehendere wissenschaftliche Erörterung, wo sie doch – ob in Vorbild oder Vorschrift – als so zentral für die gesamte – zumindest westliche – Christeinheit erscheinen musste und muss? Das Besondere der Papstliturgie der Renaissance war gerade nicht eine ostentative, auf Rezeption ausgerichtete Vorbildfunktion, sondern ganz im Gegenteil ihre Geheimhaltung34. So sehr der Kurialritus auch verbreitet war, im weitaus komplexeren, in der Sixtinischen Kapelle selbst zu erlebenden zeremoniellen Zusammenspiel von Zelebrant, Papst, Kardinälen und Sängerchor fanden sich nur Eingeweihte zurecht. Sagenumwoben sind bis heute nicht nur die besonderen Zeremonien der Heiligen Woche, sondern auch das musikalische, aus der Renaissance stammende oder satztechnisch daran orientierte Repertoire an Kompositionen der Sixtinischen Sängerkapelle, und das die gesamte Neuzeit über. Kein Geringerer als der junge Wolfgang Amadeus Mozart wurde dafür in Beschlag genommen, als erster das Verbot einer Verbreitung der geheim gehaltenen Vertonung des 50. (nach lutherischer und ökumenischer Zählung 51.) Psalms von Gregorio Allegri dadurch unterwandert zu haben, dass er den Notentext im Nachhinein dem Gehör nach und aus dem Gedächtnis aufschrieb35. Gerade deshalb aber wurde die Musik der päpstlichen Kapelle zum besonders nachahmenswerten Vorbild. Noch heute steht der Name „a cappella“, als in etwa im Sinne von „wie in der Kapelle“ (gemeint ist die päpstliche), für Vokalmusik schlechthin. Wollten sich aber auswärtige Kardinäle in der

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Vgl. dazu Sible de Blaauw, Cultus et decor. Liturgie e architettura nella Roma tardoantica e medievale. Basilica Salvatoris, Sanctae Mariae, Sancti Petri, 2 Bde. (Studi e Testi 355–356), Rom 1994. Vgl. hierzu die – nicht allein editorisch maßgebliche – Studie von Borst (Hg.), Der karolingische Reichskalender und seine Überlieferung (wie Anm. 6). Joaquin Nabuco, Introduction, in: Le cérémonial apostolique avant Innocent VIII (wie Anm. 31), 51*–53* („Appendice 2: L’idée du secret“), hg. v. Filippo Tamburini, Rom 1996. Vgl. hierzu etwa Laurenz Lütteken, Perpetuierung des Einzigartigen. Gregorio Allegris ‚Miserere‘ und das Ritual der päpstlichen Kapelle, in: Barocke Inszenierung, hg. v. Joseph Imorde / Fritz Neumeyer / Tristan Weddigen, Emsdetten 1999, 136–145.

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Papstliturgie zurechtfinden können, bedurfte es entsprechender Unterweisungen und gegebenenfalls sogar schriftlicher Handreichungen. I.2 Sakralität und Macht durch Schrift Agostino Patrizi Piccolomini sah sein schließlich bis weit ins 20. Jahrhundert maßgebliches Kurienzeremoniale von 1488 lediglich als zeitbedingt notwendige Systematisierung und Novellierung bestehender Zeremonien an. Im Unterschied zu den unabänderlichen Riten hielt er nämlich die Zeremonien für veränderlich36. Dieses sein magistrales Werk von 1488 sah er jedoch nur für die amtsbezogene Nutzung durch sich und sein unmittelbares Umfeld vor und konnte es somit auch nur für diesen recht eng umgrenzten Personenkreis als Vorbild angesehen haben. Gegen 1495 wurde dann aber eine von ihm oder von seinem Mitarbeiter und Nachfolger Johannes Burckard verfasste Übersicht über die Papstgottesdienste (cappellae papales), nach dem Verlauf des Kirchenjahres geordnet, an den Kardinal Domenico della Rovere, einen Verwandten des bereits verstorbenen Papstes Sixtus IV., übergeben37. Burckards Nachfolger Paris de Grassis formulierte eine solche Übersicht zur Vorbereitung aller Kardinäle, die vor allem die richtigen Farben zur richtigen liturgischen Jahreszeit anlegen sollten, als Teil seiner Einleitung in die von ihm vorgenommene Überarbeitung und Ergänzung des Kurienzeremoniales38. Seine Handschrift in der charakteristischen, durch ihren leichten Gelbton hervorstechenden Tinte findet sich aber zweifelsfrei auch in Form von Randglossen zu einer für einen spanischen Kardinal bestimmten Aufstellung, die als Teil eines Codex heute im Trinity College der Universität Cambridge verwahrt wird39. Wohl von dieser von ihm kommentierten und der eigenen kurienintern nutzbaren Vorlage ausgehend, verfasste Paris de Grassis auch zwei Ordines für auswärtige Kardinäle, die sich während der aufwendigen Zeremonien in der Sixtinischen Kapelle zurechtfinden sollten. Der eine war für den französischen Erzbischof von Narbonne, Guillaume Briçonnet, einen Kardinalbischof, bestimmt40. Die andere, im weitaus größten, ersten Teil übereinstimmende Version wurde für Matthäus Lang von Wellenburg ange36

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Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 89 f., ferner 25–29. Durch die Veränderlichkeit ergaben sich auch Bearbeitungsversuche durch Johannes Burckard und Paris de Grassis, die aber weniger Nachhaltigkeit zeitigten; vgl. ebd., 30 und 38–41. Eine Edition des Kurienzeremoniales bietet L’œuvre de Patrizi Piccolomini ou le cérémonial papal de la première Renaissance, 2 Bde. (Studi e Testi 293–294), hg. v. Marc Dykmans, Vatikanstadt 1980–1982. Vgl. Dykmans (Hg.), L’œuvre de Patrizi Piccolomini (wie Anm. 36), 542–550 („Appendice VI“). Vgl. Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 41–47. Zur Handschrift selbst vgl. bereits Schimmelpfennig, Die Funktion der Cappella Sistina (wie Anm. 30), zu den besagten Glossen und zur Autorfrage Jörg Bölling, Face to face with Christ in Late Medieval Rome. The Veil of Veronica in Papal Liturgy and Ceremony, in: The European Fortune of the Roman Veronica in the Middle Ages, hg. v. Amanda Murphy / Herbert L. Kessler / Marco Petoletti / Eamon Duffy / Guido Milanese (Convivium Supplementum 2), Turnhout 2018, 136–143, hier 138–140. Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 1004 A. Die in der älteren Forschung mitunter anzutreffende Behauptung, diese Ordo-Version sei nur in der von Edmond Martène gedruckten

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fertigt, kaiserlicher Botschafter, Bischof von Gurk und Kardinaldiakon. Die Abweichungen ergeben sich aus dessen Funktionen eines Kardinaldiakons statt Kardinalbischofs, etwa der Gesang des Evangeliums41. All diesen Schriften ist gemeinsam, dass sie als eine Orientierung für geistliche Würdenträger, insbesondere Kardinäle, bestimmt sind, die eine Aufgabe in der Papstliturgie zu übernehmen haben. Es handelt sich also jeweils weniger um ein Vorbild als vielmehr um eine Art Vademekum, das ein gleichsam vorbildliches Verhalten innerhalb der – vor allem liturgischen – Kurienzeremonien ermöglichen soll. Eine andere zentrale Schrift des Paris de Grassis geht über diese Funktion hinaus. Der Erzbischof von Bologna, jener berühmten Universitäts- und Bischofsstadt, in der Paris de Grassis geboren und zum Doktor des kanonischen Rechts promoviert worden war, wünschte vom Zeremoniar ein normatives Regelwerk, in dem die römischen Zeremonien auf die Situation des Kardinal-Erzbischofs von Bologna übertragen und zugeschnitten werden könnten. Der konkrete historische Anlass war sicherlich weit weniger freiwillig, als die Anfrage selbst zunächst glauben machen mag. Papst Julius II. hatte Bologna für den Kirchenstaat zurückerobert und hatte somit nicht nur als Papst der Universalkirche, sondern als siegreicher Feldherr den Erzbischofssitz aufgesucht. Wie allerdings aus dem Tagebuch des Zeremonienmeisters hervorgeht, ließ der Papst die Zeremonien des Einzugs in die besiegte Stadt keinesfalls im Sinne eines antiken Triumphzuges gestalten. Hielt Julius Caesar seinen Adventus nach einem Sieg einst als triumphus, so zog der Renaissancepapst Julius II. in die Stadt wie bei einer Prozession, an deren Weg, passend zu den Patrozinien der Stadtkirchen Bolognas, Altäre aufgestellt waren42. Martialisches Relikt dieses Siegeszugs blieb eine Statue, die von den Bolognesern gestiftet und angebracht worden war. Im gesamten von Julius II. in Auftrag gegebenen Bildprogramm hingegen deutet nichts auf den „warrior pope“ hin, auch in Rom nicht43. In diesem Lichte ist auch das Kardinalszeremoniale für Bologna zu betrachten. Freilich spiegelt die regelmäßige Berücksichtigung des Kardinallegaten im Zeremoniale den auch politischen Anspruch des della-Rovere-Papstes indirekt wider. Doch in den Zeremonien selbst ist keine auf den Kirchenstaat hin konzipierte entsprechende Vorherrschaft des Papstes erkennbar. Es geht um einen völlig anderen Zusammenhang: Die zeremoniell-liturgische Rolle des Papstes wird auf den Kardinal-Erzbischof übertragen, die Funktionen der römischen Kardinäle auf die Domkanoniker. Überall dort, wo für die Sixtinische Kapelle von mehrstimmigem Gesang die Rede ist, wird für den Bologneser Dom die – in der Sixtina nicht vorhan-

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Fassung zugänglich, während des Original als verschollen gelten müsse, trifft somit nicht zu. Vgl. dazu Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 53 f. Salzburg, Universitätsbibliothek, ms. M I 140 (olim Studienbibliothek, ms. V. 1. J. 273). Franz Wasner entdeckte diese Handschrift, hielt sie aber irrtümlich für eine Fassung des von Paris de Grassis verfassten Kardinalszeremoniales; vgl. Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 48–51. Vgl. dazu Bölling, Magnificat und Magnificentia (wie Anm. 13), 74–76. Vgl. dazu Ders. ‚Renaissance als Reformprojekt? Selbstdarstellung und Amtsführung Papst Julius‘ II., in: zur debatte. Zeitschrift der Katholischen Akademie in Bayern. Sonderheft zur Ausgabe 1/2014, 2–5.

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dene – Orgel in Beschlag genommen44. So sehr die Anregung des Textes, der Papstgottesdienst in Bologna, bei seinem Vollzug in Bologna kurz nach der Eroberung der Stadt durch den Papst den Charakter einer Vorschrift getragen haben mag, so sehr wurde er für das von ihm inspirierte Kardinalszeremoniale als Vorbild begriffen. Von dieser Vorbildfunktion zeugen auch zahlreiche weitere Abschriften dieses Werkes für ganz andere Städte mit wichtigen, traditionell von einem Kardinal besetzten Erzbischofssitzen, wie etwa Venedig45. Das ursprünglich rein päpstliche Zeremoniale erschien nicht mehr als sakral unerreicht, es diente nun auch als Vorbild zur Erzeugung eigener Sakralität. Zum verpflichtenden Vorbild, im Sinne eines Exempels, das zugleich als Vorschrift gelten kann, wurde dieses Zeremoniale erst ein Jahr nach dem Konzil von Trient. Nunmehr sollten alle verpflichtet werden, sich ein Vorbild an den Zeremonien der päpstlichen Kapelle zu nehmen: ex qua omnes exemplum sumere debent46. Entscheidend für die Durchsetzung dieses Anspruches war aber neben seiner Formulierung auch ein von Paris de Grassis generell noch ungenutztes neues Medium: der Buchdruck. I.3 Sakralität und Macht durch Druckerzeugnisse Kein päpstlicher Zeremoniar vor ihm war in beiderlei Hinsicht, Geheimhaltung wie Instruktion, so bemüht wie Paris de Grassis. Vehement protestierte er, als im Jahre 1516 ein von ihm nicht autorisierter Druck des Kurienzeremoniales erschien – jenem für den gesamten Papsthof maßgeblichen, normativen, doch nur handschriftlich, und zwar rein kurienintern, überlieferten Regelwerk, das er selbst gerade so engagiert zu modifizieren versucht hatte, freilich wiederum unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dass anstelle des originären Verfassers Agostino Patrizi Piccolomini ein gewisser Cristoforo Marcello, Erzbischof von Korfu, als Autor firmierte, war noch das geringste Problem. Auch die partiellen, dem humanistischen Zeitgeschmack geschuldeten stillschweigenden stilistischen Änderungen bildeten nicht den eigentlichen Stein des Anstoßes. Was Paris de Grassis äußerst beunruhigte, war die Offenlegung sämtlicher, bis dahin der Geheimhaltung unterliegenden Zeremonien. Dabei ist jedoch sein Ideal des Geheimen nicht an und für sich und auch nicht in bloßem Rekurs auf die frühkirchliche Arkandisziplin zu verstehen. Was Paris de Grassis zutiefst irritierte, war ein Medienproblem: Texte sind nicht in der Lage die zeremonielle Performanz der Papstliturgie in angemessener Weise wiederzugeben. 44 45

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Vgl. Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 181 f. und v. a. 267–269, zum häufigen Aufstellungsort der Sänger bei oder unter der Orgel auch ebd., 141–143. Die systematische und vergleichende Auswertung dieser Quellen, auch mit Blick auf Mailand, Rieti, Narbonne, Salzburg, Augsburg und München, harrt noch der Forschung. Vgl. hierzu zuletzt Jörg Bölling, Römisches Zeremoniell in Bayern. Herzog Albrecht V., Kardinal Otto Truchseß von Waldburg und die Fugger, in: Bayerische Römer – Römische Bayern. Lebensgeschichten aus Vor- und Frühmoderne, hg. v. Rainald Becker / Dieter J. Weiss, St. Ottilien 2016, 167–198. Vgl. Anm. 10.

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Was im Vollzug der Zeremonien selbst als durchweg ästhetisch gilt, cum gratia et decore, wie Paris de Grassis formuliert47, muss in schriftlicher Fassung als denkbar abstoßender Text eines verstörend engstirnigen Pedanten erscheinen. Und hat er nicht recht? Man stelle sich vor, eine musikalische Komposition, etwa Beethovens Klaviersonate Appassionata, würde allein durch ihre – Uneingeweihten notgedrungen fremd bleibenden – Notenkleckse und Musizieranweisungen vermittelt. Erstere sind nur Notenkundigen zugänglich, Letztere haben aber den vielleicht noch größeren Nachteil, dass ihre Schrift lesbar ist und – aus vermeintlicher Überlegenheit heraus – vorschnell falsch bewertet werden könnte: als Ausweis mangelnder, weil lediglich geplant inszenierter Authentizität von Komponist und damit auch Pianist. Doch könnte es eine grobschlächtigere Verkehrung echter Innerlichkeit und frei sich entfaltenden Gefühls der Sturm-und-Drang-Zeit geben als eben ein solch meisterliches Klavierstück? Ein vergleichbares, freilich ästhetischen Maximen der Renaissance verpflichtetes Anliegen wird man auch dem Meister der Zeremonien, Paris des Grassis, nicht rundweg absprechen dürfen. Hinzu kommt, dass die Geschichte dem Zeremonienmeister recht gegeben zu haben scheint. Denn Marcellos Druck diente, obschon Plagiat, Kontroverstheologen wie Wenzeslaus Linck, einem ehemaligen Mitbruder und späteren Gefolgsmann Martin Luthers, dazu, die Papstliturgie der Lächerlichkeit preiszugeben, indem er gezielt ausgewählte Versatzstücke in Form einer Travestie arrangierte und in gedruckter Form verbreitete. Das Verfahren der Kritik durch Zitat kannte auch Paris de Grassis selbst, nicht zuletzt von seinem Umgang mit seinen Vorgängern, allen voran dem ihm so verhassten Johannes Burckard. Doch Paris’ Kritik blieb streng sekretiert und sogar über Jahrhunderte völlig unbemerkt48. Die Druckwerke im Umfeld des „Medienstars“ Martin Luther49 hingegen erfreuten sich großer Breitenwirkung und konnten ihres Erfolges gewiss sein. Wie sollte gegen derartig gekonnt eingesetzte Schrift im Medium des Drucks die auf die Schachtelgröße der Sixtinischen Kapelle begrenzte Performanz päpstlicher Zeremonien noch eine Chance auf angemessene Wahrnehmung haben? Der Vorgänger des Paris de Grassis im Amt des Zeremonienmeisters, Johannes Burckard aus Straßburg, hatte zum Buchdruck noch – und schon – ein ganz anderes Verhältnis. Die von ihm verfassten Rubriken für die Zeremonien zur Feier der Heiligen Messe ließ er in einem eigenen Ordo missae drucken, und zwar bereits 1496, nachgedruckt dann 150250. Jedes gedruckte Exemplar stellt wiederum ein Unikat 47 48 49 50

Vgl. Jörg Bölling, Cum gratia et decore. Sull’estetica cerimoniale di Paride de Grassi / Cum gratia et decore. Zur Zeremonialästhetik des Paris de Grassis, in: Accademia Raffaello. Atti e Studi 2/2006, 45–63. Vgl. dazu Jörg Bölling, Vide apostillam. Eine unbeachtete Quelle zur Geschichte des frühneuzeitlichen Papstzeremoniells, in: Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae 10 (Studi e Testi 416), Vatikanstadt 2003, 51–73. Zu diesem Begriff vgl. Volker Leppin, Martin Luther (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2006, 155–157. Zitiert wird meist die Edition des Nachdrucks von 1502: Ordo missae Ioannis Burckardi, in: Tracts on the Mass, hg. v. John Wickham Legg (Henry Bradshaw Society 27), London 1904, 119–178.

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dar, nicht nur aufgrund der überschaubaren Auflage, sondern auch, weil sich jeweils Besitz- und Gebrauchsspuren bis hin zu ausführlichen Randglossen zeigen51. Dieser Druck sollte nach dem Konzil von Trient für das neue Missale Romanum eine ähnliche, vielleicht sogar noch bedeutendere Rolle spielen als das Kardinalszeremoniale des Paris de Grassis für das Caeremoniale episcoporum von 1600. Für diese Zeremoniendrucke gilt dasselbe wie für den zeitgenössischen Notendruck, etwa von Messkompositionen, deren Übergabe an den Papst in eigenen Widmungsbildern dargestellt ist52: Drucke ließen sich nicht verbergen, nicht einmal durch das erst später geschaffene Instrument des Verbots im Index librorum prohibitorum53. Drucke ließen sich schneller vervielfältigen und einfacher zitieren. Daher spielen sie auch eine zentrale Rolle in der Frage von Zerstörung und Erhaltung. II. ZERSTÖRUNG VON SAKRALITÄT UND MACHT DURCH PERFORMANZ, SCHRIFT UND DRUCKERZEUGNISSE Performative Zerstörung von Sakralität und Macht geschah immer dort, wo bestehende zeremonielle oder gar liturgisch-sakramentale Regeln grob missachtet oder gezielt verletzt wurden. War eine Messe ungültig, wenn sie unwürdig zelebriert wurde? Dem heiligen Augustinus zufolge bestand die Gültigkeit der Sakramentenspendung unabhängig von der Würde ihres Spenders. Spätestens seit Leo I. schützte die Trennung von Amt und Person in analoger Weise auch das Papstamt54. Außerhalb der Liturgie, etwa im römischen Karneval, gab es Spott-Prozessionen, bei denen ein vermeintlicher Papst statt mit einer Tiara mit einem Kuheuter bekrönt in Erscheinung trat55. Noch deutlicher zeigte sich die Zerstörung ganz bestimmter Sakralitätsvorstellungen aber dort, wo die Fachleute selbst zur Kritik ansetzten: Zeremoniare, zumeist ausgebildete Kanonisten, und Theologen. Satiren wie „Iulius exclusus“, wohl aus der Feder des Erasmus von Rotterdam, waren dabei vielleicht nicht einmal so einflussreich wie das kirchenamtlich maßgebliche Schrifttum selbst. So nutzte Paris de Grassis innerkurial das Mittel der Travestie, indem er versuchte, durch gezielte Randglossen und eigenständige Kommentare ausgewählte Textwiedergaben, die er unverändert ließ und somit keineswegs parodierte, ad absurdum zu führen56.

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Dies gilt etwa für die Göttinger Inkunabel (aus dem besagten Jahr 1496), die insgesamt, vor allem aber hinsichtlich der handschriftlichen Marginalien, eine eingehendere Untersuchung verdient: Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, 8 H E RIT I, 7860 INC. Vgl. Daniel Glowotz, Repräsentation und Papsthuldigung in der römischen a cappella-Messe des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 92, 2008, 25–36. Vgl. dazu etwa Bernward Schmidt, Die Praxis des Zensierens. Zur Bedeutung von Proposition und Qualifikation im römischen Buchzensurverfahren, in: Historisches Jahrbuch 134, 2014, 221–250. Bölling, Die zwei Körper des Apostelfürsten (wie Anm. 3), 158 f. (Lit.). Vgl. Schimmelpfennig, Die Funktion der Cappella Sistina (wie Anm. 30), 71. Vgl. Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 5633 und 12348.

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Zur Meisterschaft gelangte dieses aber erst in der Reformation. Der schon erwähnte Wenzeslaus Linck, der Luther als dessen ehemaliger Mitbruder in die Reformation gefolgt war, machte den Albtraum des Paris de Grassis – ohne dass beide voneinander gewusst hätten – wahr und veröffentliche Auszüge aus dem MarcelloPlagiat von Patrizis Kurienzeremoniale unter dem Titel „Bapsts gepreng, ausz dem Cerimonien Buch“ (1539), um den Papst sich selbst als Antichrist zu erweisen57. Dass die Tiara des Pontifex Maximus bereits in der Apokalypse von Luthers Septembertestament, dem viel rezipierten illustrierten Bibeldruck, als Kopfbedeckung der Hure Babylon in Erscheinung trat, war bereits eine deutliche Spitze gegen das Papsttum gewesen. Doch zum einen hatte man diese im Dezembertestament entschärfend durch eine dezidiert nicht dem Papsttum zuzuordnende Krone ersetzt58. Zum anderen handelte es sich um Fremdzuschreibungen aus dem Umfeld der Reformation. Linck versuchte das Papsttum nun mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Nicht fremde Polemik, sondern eigene Kurientradition sollte den Apostolischen Stuhl als apostatisch, vom Glauben abgefallen, erweisen: billiger Apostatica als Apostolica Sedes.59 Da Martin Luther selbst während seines Romaufenthaltes mit der Papstliturgie nicht unmittelbar in Berührung gekommen ist60, stammen seine gelegentlich geäußerten Vorstellungen wohl zu einem nicht beträchtlichen Teil von diesen Veröffentlichungen. III. ERHALTUNG VON SAKRALITÄT UND MACHT Was hatte die Kurie selbst dem entgegenzusetzen? Kurienintern setzte man weiterhin auf die liturgischen Bücher, für spezielle Fragen ergänzt und kommentiert durch das Zeremoniale und die Tagebücher, erweitert durch tiefergehende Reflexionen in einzelnen, den Nutzungsspuren und Ausleihregistern zufolge weit weniger zur Kenntnis genommenen Traktaten61. Auswärtigen Besuchern der Kurie gab man mündliche und die erwähnten schriftlichen Instruktionen an die Hand, verbreitete deren Inhalte aber nicht über den Personenkreis der Adressaten hinaus. Die bereits 57

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Vgl. dazu ausführlich Nikolaus Staubach, ‚Honor Dei‘ oder ‚Bapsts Gepreng‘. Die Reorganisation des Papstzeremoniells in der Renaissance, in: Rom und das Reich vor der Reformation (wie Anm. 19), 91–136, 125–134; Marco Cavarzere, Rituale und Zeremonien zu Beginn der Reformation – zwischen Kritik und Innovation, in: Ekklesiologische Alternativen? Monarchischer Papat und Formen kollegialer Kirchenleitung (15.–20. Jahrhundert) (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 42), hg. v. Bernward Schmidt / Hubert Wolf, Münster 2013, 309–335. Vgl. dazu etwa Johanna Monighan-Schäfer, Offenbarung 12 im Spiegel der Zeit. Eine Untersuchung theologischer und künstlerischer Entwicklungen anhand der apokalyptischen Frau, Diss. theol. Marburg 2005 (http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2005/0126/pdf/djms.pdf; letzter Zugriff am 18.9.2018), 123 mit Anm. 693 und 148 mit Anm. 832. Vgl. Staubach, ‚Honor Dei‘ oder ‚Bapsts Gepreng‘ (wie Anm. 57), 126. Vgl. Bölling, Reformation und Renaissance (wie Anm. 25). Vgl. hierzu Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 69–78; Christine Maria Grafinger, Die Ausleihe vatikanischer Handschriften und Druckwerke (1563–1700) (Studi e Testi 360), Vatikanstadt 1993, 122, Nr. 177 f., und 123, Nr. 180.

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genannten einzelnen Ordines für Kardinäle entsprechen in der Musik Stimmbüchern, die nur im Zusammenklang aller Stimmen ihren Sinn haben. Die einem Chorbuch – oder gar einer modernen Partitur – vergleichbare Funktion eines Überblicks über sämtliche Vorgänge erfüllten nur die Zeremonienbücher für die Kurie selbst und für den Erzbischof von Bologna. Selbst der bereits 1496 gedruckte und 1502 neu aufgelegte Ordo Missae des Johannes Burckard beschränkte sich letztlich auf die Rubriken des Zelebranten, ohne in der Liturgie als vollständiges Plenarmissale genutzt werden zu können. Was die Erhaltung von Sakralität und Macht in Rom selbst, dauerhaft aber auch in der gesamten römisch-katholischen Kirche maßgeblich voranbrachte, war das Konzil von Trient (1545–1563). Infolge dieses Konzils wandelten sich Anfragen von außen: Stand bis dahin mit Blick auf die Zeremonien, aber auch bezüglich der Musik, ein kulturelles, mitunter auch antiquarisches Interesse im Vordergrund, so erhielten die Maßgaben der Päpste und ihrer Zeremoniare nach dem Tridentinum Vorbildcharakter. Der auch für antike Bücher und Gebäude bedeutsame AugustinerEremit Onofrio Panvinio schrieb die Tagebücher der Zeremonienmeister im Auftrag des interessierten Johann Jakob Fugger ab62. Nachdem sie dann aber in die Hofbibliothek Albrechts V., den Grundstock der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek, integriert worden waren, hatten sie bereits Vorbildcharakter für den Herzog und seinen Hof. Musikalisches Repertoire und päpstliche Zeremonien entsprechen einander auch in diesem Punkt63. Später wurden dann an der Kurie selbst Abschriften dieser Tagebücher vorgenommen, weil man sie als Vorbilder oder kritisches Korrektiv, oder aber auch zur eigenen Übersicht über die Geschichte der Papstzeremonien zu nutzen gedachte. Das gilt zum einen für Zeremonienmeiester wie Paolo Alaleone de Branca (latinisiert Paulus Alaleo, 1582–1638) und Giovanni Paolo Mucanzio (Johannes Paulus Mucantius 1590–1650), aber auch für Päpste wie Innozenz X. (Giovanni Battista Pamphili, 1644–1655 im Amt) und – in der familieneigenen Biblioteca Corsiniana – Clemens XII. (Lorenzo Corsini, 1730–1740 im Amt) sowie Alexander VII. (Fabio Chigi, 1655–1667 im Amt) und Alexander VIII. (Piero Ottoboni, 1689–1691 im Amt). Hinzu kommen die Kardinäle Francesco Barberini (1597–1679, Nepot Urbans VIII., 1623–1644 im Amt) und Scipione Borghese (Nepot Pauls V., 1605–1621), die Orden der Dominikaner (Biblioteca Casanatense), Oratorianer (Biblioteca Vallicelliana) und Jesuiten (heute in der Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele) sowie die gelehrten Büchersammler Angelo Rocca (1546–1620, Biblioteca Angelica) und, auf aufgelöste Klosterbibliotheken zurückgreifend, Giovanni Gherardi de Rossi (1754–1827) samt seinem 1845 verstorbenen Sohn Giovanni Francesco de Rossi (Fondo Rossiano der Vatikanischen Bibliothek)64. 62 63

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Bölling, Römisches Zeremoniell in Bayern (wie Anm. 45), 167–182. Vgl. ebd. und analog dazu hinsichtlich der Musik Klaus Pietschmann, Römische Spuren im Repertoire der Münchner Hofkapelle zur Zeit des Trienter Konzils, in: Die Münchner Hofkapelle des 16. Jahrhunderts im europäischen Kontext. Tagungsbericht München, hg. v. Theodor Göllner / Bernhold Schmid, August 2004, München 2006, 105–117. Vgl. ausführlich Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 71–73.

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Bereits auf dem Konzil von Trient wurde von verschiedenen Teilnehmern und keineswegs nur von Mitarbeitern der Kurie auch das Kurienzeremoniale selbst herangezogen65. Plagiat hin oder her – entscheidend war vielen Konzilsvätern der Text selbst. Daher kann es kaum verwundern, dass der mit der posttridentinischen Zeremonialreform am Papsthof beauftrage Zeremonienmeister Franciscus Mucantius neben der handschriftlichen Fassung ausdrücklich, und ohne eine Abstufung vorzunehmen, auch die Druckversion des Kurienzeremoniales in seine Kommentare und weiterführenden Überlegungen einbezog66. Diese, und nicht die handschriftliche Variante wurde zum textus receptus67. Noch im 16. Jahrhundert wurde ein reich bebilderter Nachdruck besorgt68. Unter dem liturgisch wie historisch versierten und interessierten Papst Benedikt XIV. nutzte Giuseppe Catalani die Printversion als Grundlage seiner gedruckten Kommentierung69. Noch für die letzte Papstkrönung der Geschichte, die Pauls VI. im Jahre 1963, wurde ein Codex, im Umfang eines libellus, verwendet, in den die betreffenden Textpassagen der Krönungszeremonie des erwähnten illustrierten Nachdrucks integriert waren70. Selbst kurienintern setzte sich folglich der Druck durch – und nicht die zahlreichen, durch Kommentare, Änderungen, Hinzufügungen und Kürzungen untereinander divergierenden Handschriften. In noch viel größerem Maße gilt dies für die außerkuriale Rezeption von Zeremonienbüchern, die infolge des Trienter Konzils mit päpstlicher Approbation in den Druck gingen. Die Rubriken des in erster Auflage 1496, im Nachdruck dann 1502 erschienenen Ordo missae des Johannes Burckard wurden ins Missale Romanum von 1570, das erste weltweit gültige, aufgenommen71. Hier setzte sich der Druck gegenüber den nur rein handschriftlich überlieferten, teilweise sehr weitreichenden Varianten des Paris de Grassis durch72. Auch die anderen posttridentini65

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Vgl. Jörg Bölling, Zur Erneuerung der Liturgie in Kurie und Kirche durch das Konzil von Trient (1545–1563). Konzeption – Diskussion – Realisation, in: Papsttum und Kirchenmusik vom Mittelalter bis zu Benedikt XVI.: Positionen – Entwicklungen – Kontexte (Analecta musicologica 47), hg. v. Klaus Pietschmann, Kassel u. a. 2012, 124–145. Vgl. Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 76 f. Darauf weist allgemein zu Recht bereits Rasmussen, Maiestas Pontificia (wie Anm. 15), 114 mit Anm. 28, hin. Cristoforo Marcello (Agostino Patrizi Piccolomini), Rituum Ecclesiasticarum sive Sacrarum Caerimoniarum Sanctae Romanae Ecclesiae libri tres non ante impressi (Venedig 1516), Neudr. 1582; vgl. etwa Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8 H E RIT I, 2068 . Giuseppe Catalani (Josephus Catalanus), Sacrarum Caerimoniarum sive rituum ecclesiasticorum Sanctae Romanae Ecclesiae libri tres, 2 Bde., Rom 1750. Es handelt sich dabei um Band 265 des Archivs der Zeremonienmeister im Apostolischen Palast. Vgl. dazu bereits Bölling, Das Papstzeremoniell der Renaissance (wie Anm. 10), 69 mit Anm. 1. Vgl. hierzu bereits Legg (Hg.), Ordo Missae (wie Anm. 50). Vgl. Missale Romanum. Editio princeps (1570). Edizione anastatica, introduzione e appendice, hg. v. Manlio Sodi / Achille Maria Triacca. Presentazione di S. E. Card. Carlo M. Martini, Arcivescovo di Milano (Monumenta Liturgica Concilii Tridentini 2), Vatikanstadt 1998. Manche der Reformvorstellungen des Paris de Grassis muten nachgerade reformatorisch an; vgl. Bölling, Reformation und Renaissance (wie Anm. 25), 238–251.

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schen liturgischen Bücher verdanken ihre Verbreitung dem Buchdruck73. Erwähnt sei an dieser Stelle nur das Caeremoniale episcoporum von 1600, das auf das 1564 von Mucantius als nunmehr gesamtkirchlich vorbildlich gedruckte Kardinalszeremoniale von Paris de Grassis zurückgeht74. Entsprechendes lässt sich auch für die Musik zeigen: Neben Handschriften werden vermehrt auch Drucke, etwa polyphon komponierte Messzyklen, gedruckt und durch Widmungsbilder zu Beginn einzelnen Päpsten anempfohlen75. Neben Text und Musik kamen auch Bilder hinzu. Von besonderer Bedeutung ist hier jener eingangs erwähnte Stich von 1578, den Étienne Dupérac (ca. 1520–1604) ins Werk gesetzt hatte: Nachdem er bereits eine Reihe illustrierender Stiche mit antiken Motiven für Onofrio Panvinio beigesteuert hatte, widmete er sich hier dem sakralen Akt der heiligen Messe in der Sixtinischen Kapelle im Beisein des Papstes76. Gewidmet ist dieser jedoch keinem Papst, sondern – und hier schließt sich der Kreis – jenem Herzog, der auch die ältesten Abschriften der päpstlichen Zeremonienbücher erhalten hatte: Albrecht V.77 ZUSAMMENFASSUNG In einer kurzen Zusammenfassung lassen sich folgende drei Punkte festhalten: 1. Die Erzeugung von Sakralität und Macht wirkte bis zum Trienter Konzil (1545–1563) eher durch die weitgehend freiwillige, von Rom lediglich unterstützte Orientierung verschiedener Würdenträger der Weltkirche. Die Papstliturgie diente als Vorbild ohne Vorschriften. 2. Die kontroverstheologische Zerstörung von Sakralität und Macht war sehr erfolgreich. Dies gilt insbesondere für die Travestie „Bapsts gepreng“ (1539) von Wenzeslaus Linck. Martin Luther höchst selbst wird die Informationen zu seinen Aussagen über den Papst wohl hierher, jedenfalls nicht aus eigener Anschauung bezogen haben. Die Papstliturgie erscheint hier jeweils als Konglomerat sinnentleerter Vorschriften. 3. Die Erhaltung von Sakralität und Macht wurde nachhaltig durch das Trienter Konzil gefördert, wenn nicht bewirkt. Sie beruhte nicht nur auf der Vorbildfunktion der kurialen, vor allem kapellinternen Papstliturgie für Kirche und Welt, sondern auch auf einem Verbot des Trienter Konzils: Zwar wurde die Papstliturgie nicht zur alleinigen Norm erklärt, doch Riten, die nicht älter als 200 Jahre waren, wurden untersagt. Dies sollte die Zerstörung von Sakralität und Macht verhindern und deren Erzeugung bewahren. 73 74 75 76 77

Vgl. hierzu die kommentierten Neueditionen von Manlio Sodi und Achille Maria Triacca (wie Anm. 71). Vgl. Anm. 10. Vgl. Glowotz, Repräsentation und Papsthuldigung (wie Anm. 52). Vgl. Anm. 14f. Vgl. dazu Bölling, Römisches Zeremoniell in Bayern (wie Anm. 45), 194 f.

ETABLIERUNG UND NEGIERUNG VON SAKRALITÄT IN CHRISTLICHEN GRENZREGIONEN DES HOHEN MITTELALTERS Larissa Düchting Sakralität1 ist ein mächtiges, überwältigendes Phänomen. Macht kann sakral begründet sein, aber nicht alle Machthaber sind sakral. Ganz ohne Zweifel sind jene mächtig, welche die Herrschaft über heilige Orte innehaben, oder das, was als sakral angesehen wird2. Dies kann zu Schwierigkeiten führen, wenn die Wahrnehmung der Machthaber dessen, was als sakral angesehen werden soll, nicht mit den Vorstellungen von Gruppen, die sich in ihrem Herrschaftsgebiet aufhalten, übereinstimmt. Etwa, wenn die Herrscher einer anderen Religion angehören und somit in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Sakralitätsvorstellungen der Gegenseite stehen. In fast jeder Religion kennt man Kultstätten, an denen sich das religiöse Leben verdichtet, die von den Gläubigen als heilige Orte bezeichnet werden3. Ebenso im Christentum, wobei es hier anfangs kein Konzept von heiligen Orten gab, da zunächst nur die Gemeinde an sich als mystischer Leib Christi galt4. Erst im Laufe der ersten Jahrhunderte kam es zu einem Konzept von Kultstätten, woran nicht zuletzt Kaiser Konstantin (306–337) durch seine Baupolitik in Rom und Jerusalem 1

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Die Problematisierung der Begriffe Sakralität und Sakralisierung ist bei der Beschäftigung mit diesem Forschungsfeld unumgänglich, da eine präzise Definition dieser semantischen Einheiten bislang nicht erfolgen konnte. Das Konzept des Heiligen ist ebenso wenig im wissenschaftlichen Diskurs als greifbares Konstrukt festgelegt und setzt sich nach der Definition von Eliade durch seine Abgrenzung vom Profanen ab. Es gilt als etwas Numinoses und ist in seiner Begrifflichkeit nicht klar konturiert. Im Folgenden wird die Bezeichnung „sakral“ für aus dem Alltäglichen herausgehobene religiöse Erscheinungen verwendet, also wenn Orte untersucht werden, die aufgrund der Präsenz von Reliquien einen besonderen Zugang zu himmlischen Sphären beinhalteten. Vgl. Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt a. M. 1986; Ders., Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Köln 2008. Vgl. Dorothea Weltecke, Multireligiöse Loca Sancta und die mächtigen Heiligen der Christen, in: Der Islam 88 (2012), 73–95, hier 77. Vgl. Romy Günthart, Das Katharinenkloster am Sinai. Ort einer Heiligen – Heiliger Ort, in: Burgen, Länder, Orte (Mittelalter-Mythen 5), hg. v. Ulrich Müller / Werner Wunderlich, Konstanz 2008, 403; Markus Löx, monumenta sanctorum. Rom und Mailand als Zentren des frühen Christentums: Märtyrerkult und Kirchenbau unter den Bischöfen Damasus und Ambrosius, Wiesbaden 2013, 72. Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 38), Berlin 2012, 29.

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stark beteiligt war5. Orte, die eine besondere Bedeutung für die Heilsgeschichte hatten, da sie wichtige Stationen im Leben Christi darstellten, wurden zu Stätten der Verehrung. Sie wurden mit Kirchenbauten besetzt, die für den Pilgerstrom Zielpunkt und Verehrungsstätten waren6. Insgesamt lassen sich verschiedene Kriterien für die Bezeichnung eines Ortes als heilig finden. Zunächst wäre da die topographische Besonderheit, in der sich ein sakraler Platz von seiner profanen Umgebung abhebt. Die meisten sakralen Plätze sind mit einer oder mehreren Legenden verknüpft und können mit heiligen Personen in Beziehung gesetzt werden. Neben diesen Legenden gibt es weitere Erzählungen bezüglich des Ortes, die seine besondere Bedeutung aufzeigen, etwa durch Wunder wie Heilungen, die dort gewirkt wurden. Weiterhin benötigen Sakralorte die Anerkennung einer Mindestanzahl von Gläubigen, die diesen Ort für heilig erklären. Er muss Teil der religiösen Praxis und gesellschaftlich akzeptiert sein. Heilige Orte können sich somit in allen Teilen der Welt finden. Eine besondere Grenzregion7 stellt das Heilige Land dar, in welchem die Konkurrenz zwischen den einzelnen Gruppen anschaulich aus den Quellen nachgezeichnet werden kann. Das Heilige Land an sich enthält bereits in seiner Bezeichnung die Zuschreibung von Sakralität. Dennoch gibt es auch in dieser Region Orte, die heiliger sind, als andere. Die Bezeichnung Palästinas als Heiliges Land, also als terra sancta wie sie bis heute gebräuchlich ist, ist eine relativ junge. Tatsächlich ist sie in dieser Form in der Antike nicht in Verwendung, sondern erscheint erst mit den Kreuzzügen. So ist die Bezeichnung nicht in den Kreuzzugsaufrufen Urbans II. (1088–1099) enthalten, sondern wird erstmals von Alexander III. (1159–1181) in der Mitte des 12. Jahrhunderts verwendet8.

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Katharina Heyden, Orientierung. Die westliche Christenheit und das Heilige Land in der Antike (Jerusalemer Theologisches Forum 28), Münster 2014, 344; Bruno Reudenbach, „Loca sancta“. Zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten, in: Vestigia bibliae 28 (2008), 9–32, hier 13. Vgl. Peter Baumann, Spätantike Stifter im Heiligen Land. Darstellungen und Inschriften auf Bodenmosaiken in Kirchen, Synagogen und Privathäusern, Wiesbaden 1999; Dagmar Stoltmann, Jerusalem. Auf die Erde geholter Himmel?, in: Burgen. Länder, Orte, hg. v. Ulrich Müller / Werner Wunderlich, Konstanz 2008, 373–388, hier 377. Grenzen müssen als Randzonen betrachtet werden, in denen sich Bestrebungen zur Abschirmung nach außen und damit eine verstärkte Identität besonders deutlich erkennen lassen. Hier dürften sich aber auch die Einflüsse anderer Kulturen feststellen lassen. Somit können sich in diesen Zonen muslimische, jüdische und unterschiedliche christliche Denominationen finden lassen, deren jeweilige Traditionen unterschiedliche Sakralisierungsprozesse mit sich brachten. Vgl. Dieter Bauer, „Heiligkeit des Landes. Ein Beispiel für die Prägekraft der Volksreligiosität“, in: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte 13), hg. v. Peter Dinzelbacher / Dieter Bauer, Paderborn u. a., 1990, 41–56, hier 55.

Etablierung und Negierung von Sakralität in christlichen Grenzregionen

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KREUZZUG Als die Kreuzfahrer im Jahr 1096 ihren Zug gen Osten begannen, hatten sie unterschiedliche Vorstellungen von dem, was sie im Heiligen Land erwarten würde9. Ebenso unterschiedlich waren vermutlich ihre Konzepte und Zukunftspläne über ihren dortigen Aufenthalt10. Das Heilige Land war kein gänzlich unbekanntes Territorium, da in den Jahrhunderten zuvor immer wieder Pilger dorthin aufgebrochen waren11, doch stellte der Zug der Kreuzfahrer eine vollkommen neue Dimension dar. Die Bedeutung der heiligen Stätten war den Menschen geläufig, die an die Orte gelangen wollten, an denen Jesus tatsächlich gelebt und gewirkt hatte12. Der erste Kreuzzug hatte zahlreiche Auswirkungen, mit denen Papst Urban II. bei seinem Aufruf in Clermont nicht gerechnet haben konnte13. Die Eroberung Palästinas und 9 10 11

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Vgl. Timo Kirschberger, Erster Kreuzzug und Ethnogenese. In novam formam commutatus – Ethnogenetische Prozesse im Fürstentum Antiochia und im Königreich Jerusalem (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 13), Göttingen 2015, 287. Vgl. Martin Völkl, Muslime – Märtyrer – Militia Christi. Identität, Feindbild und Fremderfahrung während der ersten Kreuzzüge (Wege zur Geschichtswissenschaft), Stuttgart 2011, 15–19. Zur Pilgerfahrt ins Heilige Land siehe exemplarisch Carmen von Samson-Himmelstjerna, Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung (Berliner Historische Forschungen 37), Berlin 2004; Ora Limor, ‚Holy Journey‘. Pilgrimage and Christian Sacred Landscape, in: Christians and Christianity in the Holy Land. From the Origins to the Latin Kingdoms (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 5), hg. v. Ora Limor / Guy Stroumsa, Turnhout 2006, 321–353; Noga Collins-Kreiner / Deborah Shmueli / Michael Ben-Gal, Pilgrimage Sites in the Holy Land. Pathways to Harmony and Understanding or Sources of Confrontation?, in: Pilgrims and Pilgrimages as Peacemakers in Christianity, Judaism and Islam (Compostela International Studies in Pilgrimage History and Culture), hg. v. Antón M. Pazos, Farnham/Burlington 2013, 177– 199; Andrew Jotischky, Pilgrimage, Procession and Ritual Encounters between Christians and Muslims in the Crusaders States, in: Cultural Encounters during the Crusades, hg. v. Kurt Villads Jensen / Kirsi Salonen / Helle Vogt, Odense 2013, 245–262. Zu Kreuzfahrern und Pilgern etwa Nicole Priesching, Der Erste Kreuzzug als Pilgerfahrt. Eine Militarisierung der Wallfahrt oder eine Sakralisierung der Ritterschaft? Ein Beitrag zur Spiritualität der Kreuzfahrer, in: Annali di studi religiosi 11, 2010, 147–166; Hannes Möhring, Die Kreuzfahrer als Pilger, in: Unterwegs im Namen der Religionen / On the Road in the Name of Religion. Pilgern als Formen von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen / Pilgrimage as a Means of Coping with Contingency and Fixing the Future in the World’s Major Religions (Beiträge zur Hagiographie 15), hg. v. Klaus Herbers / Hans-Christian Lehner, Stuttgart 2014, 33–44. Vgl. Yvonne Friedmann, Miracle, Meaning and Narrative in the Latin East, in: Signs, Wonders, Miracles. Representations of Divine Power in the Life of the Church: Papers Read at the 2003 Summer Meeting and the 2004 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society (Studies in Church History 41), hg. v. Kate Mason Cooper / Jeremy Gregory, Woodbridge 2005, 123–134, hier 125. Ob der Aufruf von Urban II. zum ersten Kreuzzug tatsächlich bereits Jerusalem zum Ziel hatte, oder ob dies erst später von den Chronisten in dieser Form festgehalten wurde, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Werner Goez, Wandlungen des Kreuzzugsgedankens in Hochund Spätmittelalter, in: Das Heilige Land im Mittelalter. Begegnungsraum zwischen Orient und Okzident (Schriften des Zentralinstituts für Fränkische Landeskunde und allgemeine Regional-

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weiterer Teile der umliegenden Region führte zur Etablierung von vier Kreuzfahrerherrschaften14 mit dem Königreich Jerusalem, den Fürstentümern Edessa und Antiochia und der Grafschaft Tripolis. Diese waren zuvor von verschiedenen Kontingenten des Kreuzfahrerheeres erobert worden, wodurch sich hinsichtlich der Herkunft der neuen Einwohner einzelne Schwerpunkte feststellen lassen15. Die vorrangige Aufgabe dieser Herrschaften, die sich spontan bildeten und nicht bereits vor dem Kreuzzug geplant worden waren, war die Sicherung der christlichen Gebiete im Binnenland, die Küstenstädte mit ihren Häfen zu erobern und gut zu verteidigende Grenzen zu schaffen. Noch vor der Eroberung Jerusalems war es zur Gründung der Herrschaften von Edessa und Antiochia gekommen. Allerdings war die Bestandsdauer der Kreuzfahrerherrschaften von relativ kurzer Dauer. Edessa wurde 1144 eingenommen, was zwar einen weiteren großen Kreuzzug auslöste, welcher aber ohne Ergebnisse blieb16. Somit endete die älteste Kreuzfahrerherrschaft als erste. 1187 konnte Jerusalem von Saladin († 1193) erobert werden, 1268 wurde Antiochia erobert und 1291 fiel Akkon, womit die Zeit der Kreuzfahrerherrschaften endgültig endete17.

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forschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 22), hg. v. Wolfdietrich Fischer / Jürgen Schneider, Neustadt an der Aisch 1982, 33–44, hier 34: „In der berühmten Predigt Urbans II. zu Clermont-Ferrand fehlte das Argument offenbar völlig. Aber man fügte es rasch genug hinzu, weil gerade die Parole ‚Jerusalem‘ wie ein mächtiger Magnet auf diejenigen wirkte, welche bereit waren, ihr Leben im Heidenkampf jenseits des Meeres aufs Spiel zu setzen.“ Vgl. James M. Powell, Crusading: 1099–1999, in: The Crusades, the Kingdom of Sicily, and the Mediterranean (Variorum Collectes Studies Series 871), hg. v. James M. Powell, Aldershot/ Burlington 2007, i, 1–13, hier 1 und Peter Thorau, Der Nabel der Welt – Jerusalem im Spannungsfeld von Christentum und Islam, in: Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, hg. v. Johannes Fried / Olaf B. Rader, München 2011, 15–24, hier 15. Tatsächlich erscheint Jerusalem nicht in der von Fulcher von Chartres wiedergegebenen Rede Urbans II. Vgl. Georg Strack, The Sermon of Urban II in Clermont and the Tradition of Papal Oratory, in: Medieval Sermon Studies 56, (2012), 30–45, hier 38. Erst bei Robert von Reims und Balderich von Dol nimmt die Heilige Stadt eine bedeutende Rolle ein. Vgl. Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013, 143. Somit kann nur festgehalten werden, dass die Heilige Stadt nicht in allen Kreuzzugsaufrufen, die später niedergeschrieben wurden, enthalten ist. Sie aber dennoch, wenn sie genannt wird, eine wichtige Rolle innerhalb der Kreuzzugsbewegung bekommt. Dennoch gelang es den Kreuzfahrern im Jahr 1099 die Heilige Stadt einzunehmen und sie aus der muslimischen Herrschaft zu lösen. Zur Begrifflichkeit vgl. Nikolas Jaspert, Die Kreuzzüge (Geschichte kompakt), Darmstadt 42008, 78 ff. Alan V. Murray, Ethnic Identity in the Crusader States. The Frankish Race and the Settlement of Outremer, in: The Eastern Mediterranean Frontier of Latin Christendom (The Expansion of Latin Europe, 1000–1500 6), hg. v. Jace Stuckey, Farnham/Burlington 2014, 339–354, hier 342: „The numerically small nobilities of the four Frankish states had distinctive characters, at least in the early period. The nobility of Antioch was made up mostly of Normans, both from Normandy and from southern Italy, while that of Tripoli was predominantly Provencal. The nobility of the kingdom of Jerusalem originated primarily in northern France and the west of the empire.“ Vgl. Jaspert, Die Kreuzzüge (wie Anm. 14), 79. Vgl. ebd., 81.

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In den Kreuzfahrerherrschaften wurde die bestehende kirchliche Ordnung zum Teil übernommen, allerdings wurden die Bischofssitze durch lateinische Bischöfe besetzt18. Wie gestaltete sich das kirchliche Leben an diesen ersten Außenposten der lateinischen Christenheit? Können anhand der Quellen neue oder umgewidmete Kirchenbauten nachvollzogen werden und wie wurden liturgische Traditionen und Kulte fortgeführt oder neu etabliert? Weiterhin ist zu fragen, ob die Kreuzfahrer ihre eigenen Kulte ebenfalls mit in die neuen Herrschaften brachten und dort etablierten, ob also Kirchen unter besonderen Patrozinien errichtet wurden. Wurden die Heiligen Orte der anderen Denominationen übernommen oder wurden eigene Erinnerungsorte geschaffen? Inwieweit spielten Reliquien und gegebenenfalls deren Translation eine Rolle bei der Herrschaftsausübung? Welche Heiligen wurden neu etabliert, welche von den bereits vorhandenen übernommen? Wurden neue Sakralorte geschaffen? Die Kreuzfahrer waren – ebenso wie die ursprüngliche Bevölkerung – keine homogene Gruppe19. Sie entstammten unterschiedlichen Kulturkreisen und besaßen somit verschiedene Vorstellungen bezüglich der Lebensführung, religiöser Praktiken und ihres künftigen Lebens im Osten. Sie zogen ins Heilige Land, um die christlichen Stätten von den Muslimen zu befreien und standen so im Dienste Gottes, weswegen dem Kreuzzug ein besonderer Charakter zukam20. 18

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Vgl. Bernard Hamilton, The Latin Church in the Crusader States, in: East and West in the Crusader States. Context – Contacts – Confrontations. Acta of the Congress Held at Hernen Castel in May 1993 (Orientalia Lovaniensia Analecta 75), hg. v. Krijnie Ciggaar / Adelbert Davids / Herman Teule, Löwen 1993, 1–20, hier 14; Rudolf Hiestand, Der lateinische Klerus der Kreuzfahrerstaaten. Geographische Herkunft und politische Rolle, in: Die Kreuzfahrerstaaten als multikulturelle Gesellschaft. Einwanderer und Minderheiten im 12. und 13. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs 37), hg. v. Hans Eberhard Mayer, München 1997, 43–68, hier 46; Bernard Hamilton, Ralph of Domfront, Patriarch of Antioch (1135–40), in: Crusaders, Cathars and the Holy Places (Variorum Collected Studies Series 656), hg. v. Bernhard Hamilton, Aldershot u. a. 1999, vii, 1–21, hier 2; Krijnie Ciggaar, Antioch, a Greek City in the Crusader Period, in: The Greek City from Antiquity to the Present. Historical Reality, Ideological Construction, Literary Representation, hg. v. Kristoffel Demoen, Louvain u. a. 2001, 141–162, hier 145 f.; Johannes Pahlitzsch, Graeci und Suriani im Palästina der Kreuzfahrerzeit. Beiträge und Quellen zur Geschichte des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Jerusalem (Berliner Historische Forschungen 33), Berlin 2001, 188 f.; Axel Bayer, Spaltung der Christenheit. Das sogenannte Morgenländische Schisma von 1054 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 53), Köln u. a. 2002, 175–178; Rudolf Hiestand, Das Papsttum und die Welt des östlichen Mittelmeers im 12. Jahrhundert, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 6), hg. v. Ernst-Dieter Hehl / Heike Ingrid Ringel / Hubertus Seibert, Stuttgart 2002, 185–206, hier 198 f., der allerdings darauf verweist, dass sich auf den Patriarchenstühlen der Kreuzfahrerherrschaften ab 1106 ein griechischer und ein lateinischer Patriarch gegenüberstanden. Vgl. Alan V. Murray, How Norman was the Principality of Antioch? Prolegomena to a Study of the Origins of the Nobility of a Crusader State, in: The Franks in Outremer. Studies in the Latin Principalities of Palestine and Syria, 1099–1187 (Variorum Collected Studies Series 1056), hg. v. Alan V. Murray, Farnham/Burlington 2015, vi, 1–14, hier 5. Vgl. Jonathan Riley-Smith, The First Crusade and St. Peter, in: Outremer. Studies in the History of the Crusading Kingdom of Jerusalem. Presented to Joshua Prawer, hg. v. Benjamin Z. Kedar, / Hans Eberhard Mayer / Raimund C. Smail, Jerusalem 1982, 41–63, 59 f.

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Der Umgang mit heiligen Orten und Gebäuden anderer Religionen kann eine Unmenge an differenzierten Formen annehmen21. So bestehen verschiedene Möglichkeiten, einen Raum in den eigenen Kult zu integrieren, ihn also umzuwidmen; er kann zerstört werden, oder man belässt ihn in seiner alten Funktion, wodurch den Angehörigen der anderen Religion weiterhin ein Bezug zu diesem Ort gewährt wird22. Für welche dieser Möglichkeiten man sich entscheidet, hängt von persönlichen Interessen, eigenen Vorstellungen bezüglich dieses Ortes, aber auch den Erfahrungen und Machtverhältnissen ab, die man bisher mit der anderen Religion gewinnen konnte. Somit kann das eigene Vorgehen maßgeblich für das spätere Verhalten der anderen Seite sein. Dadurch, dass die Kreuzzüge anscheinend keine eigenen Märtyrer hervorbrachten, stellt sich ferner die Frage, welchen Personen in der neuen Umgebung eine besondere Bedeutung zukam23. Riley-Smith hat festgestellt, dass in den Berichten zum ersten Kreuzzug eine Vielzahl von Heiligen genannt wird, die im Westen bekannt waren, aber nicht in einer direkten Beziehung zu den Führern des Zuges standen24. Zudem wurden vor allem östliche Heilige wichtiger, die zwar auch im Westen Verehrung erfuhren, jetzt aber möglicherweise aufgrund ihres kriegerischen Hintergrunds für die Kreuzfahrer von größerer Bedeutung wurden25. Hiestand geht in seinem Aufsatz zur Siedleridentität eher von einer Übernahme der vorhandenen Kulte aus26. Somit ist zu fragen, ob die Beeinflussung nicht auch rück- oder gegenläufig vonstattenging. 21

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Vgl. Elizabeth Key Fowden, Sharing Holy Places, in: Common Knowledge 8 (2002), 124– 146; Ortwin Dally / Carola Metzner-Nebelsick, Heilige Orte, heilige Landschaften, in: Archäologischer Anzeiger 1, Halbband, 2006, 203–207, hier 203; Günthart, Das Katharinenkloster am Sinai (wie Anm. 3), 403 f.; Weltecke, Multireligiöse Loca Sancta (wie Anm. 2), 73–95. Vgl. Weltecke, Multireligiöse Loca Sancta (wie Anm. 2), 77 ff. Zur Veränderung des Märtyrergedankens und dem Erscheinen der Begrifflichkeiten vgl. ErnstDieter Hehl, Vom „Dulder“ zum „Kämpfer“. Erweiterung des Märtyrergedankens durch Krieg (11. und 12. Jahrhundert), in: Vom Blutzeugen zum Glaubenszeugen? Formen und Vorstellungen des christlichen Martyriums im Wandel (Beiträge zur Hagiographie 14), hg. v. Gordon Blennemann / Klaus Herbers, Stuttgart 2014, 195–210. Joachim Rother, Embracing Death, Celebrating Life. Reflections on the Concept of Martyrdom in the Order of the Knights Templar, in: Ordines Militares: Colloquia torunensia historica. Yearbook for the study of the Military Orders 14 (2014), 169–192. Vgl. Riley-Smith, The First Crusade (wie Anm. 20), 54 f. Vgl. ebd., 53 f. Etwa wenn in Schlachten die Heiligen Georg und Demetrius erscheinen, die als sogenannte Soldatenheilige bekannt sind. Vgl. ebd., 55; Rainer Christoph Schwinges, Multikulturalität in den so genannten Kreuzfahrerherrschaften des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Akkulturation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen / Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte 78), hg. v. Reinhard Härtel, Ostfildern 2014, 339–369, hier 368. Zur byzantinischen Tradition der sogenannten Soldatenheiligen siehe Hippolyte Delehaye, Les Légendes grecques des saints militaires, Paris 1909, 1–10; Alba Maria Orselli, Sanità militare e culto dei santi militari nell’Impero dei Romani (secoli VI–X), Bologna 1993; Christopher Walter, The Warrior Saints in Byzantine Art and Tradition, Aldershot/Burlington 2003, 101– 108. Vgl. Rudolf Hiestand, „Nam qui fuimus Occidentales, nunc facti sumus Orientalis“. Siedlung und Siedleridentität in den Kreuzfahrerstaaten, in: Siedler-Identität. Neun Fallstudien von der

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Quellen für die einzelnen Kreuzfahrerherrschaften sind nur in geringem Maße überliefert27. Während für das Königreich Jerusalem eine Vielzahl von Studien über Kirchenbauten und Umwidmungen vorliegen28, fehlt eine derartige Untersuchung für die anderen Kreuzfahrerherrschaften29. Dies mag mit der heutigen politischen Situation zusammenhängen sowie der Tatsache, dass sich diese Kreuzfahrerherrschaften nur eine kurze Zeit hielten. Im Folgenden wird versucht anhand der Quellen nachzuzeichnen, wie neben den heiligen Orten, die durch die angenommene Gegenwart Christi sakral aufgeladen worden waren, sakrale Elemente in den neuen Herrschaftsgebieten etabliert wurden. Untersucht werden die Gesta Francorum von einem anonymen Autor, die Historia Francorum des Raimundus Agilaeus und die Historia Hierosolymitana, da diese Quellen den ersten Kreuzzug und die schrittweise Etablierung der Kreuzfahrerherrschaften behandeln. Weiterhin werden die Kreuzfahrerbriefe30 auf Anhaltspunkte für Kirchenaneignungen und Sakralisierungsmaßnahmen analysiert. Denn nicht nur für die neuen Herrscher waren die Kirchenbauten wichtig, sondern auch für potenzielle Pilger. Untersucht werden die Anfangsjahre der jeweiligen Herrschaften und auch ihre spätere Darstellung, um so zu eruieren, ob es zu Beginn den Versuch gab, die neuen Gebiete unter einen besonderen sakralen Charakter zu stellen. Während des Zuges konnten die östlichen Hei-

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Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Christof Dipper / Rudolf Hiestand, Frankfurt a. M. 1995, 61–80, hier 69. Dies änderte sich erst mit der wachsenden Zurückdrängung der lateinischen Herrschaftsgebiete. Vgl. ebd., 75. Vgl. Hans Eberhard Mayer, Die antiochenische Regentschaft Balduins II. von Jerusalem im Spiegel der Urkunden, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 47, 1991, 559– 566, hier 562; Kristin Skottki, Of ‚Pious Traitors‘ and Dangerous Encounters. Historiographical Notions of Interculturality in the Principality of Antioch, in: Journal of Transcultural Medieval Studies 1 (2014), 75–115, hier 76. Vgl. beispielsweise Hans Eberhard Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte im Königreich Jerusalem. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 26), Stuttgart 1977; Jürgen Krüger, Die Grabeskirche zu Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung, Regensburg 2000; Adrian J. Boas, Jerusalem in the Time of the Crusades. Society, Landscape and Art in the Holy City under Frankish Rule, London/New York 2001; Denys Pringle, The Churches of the Crusader Kingdom of Jerusalem/3. The City of Jerusalem, New York 2007; Jürgen Krüger, Architektur der Kreuzfahrer im Heiligen Land, die erste europäische Kolonialarchitektur?, in: Bau- und Gartenkultur zwischen „Orient“ und „Okzident“. Fragen zur Herkunft, Identität und Legitimation (Beiträge zur Architektur- und Kulturgeschichte Leibniz-Universität Hannover 3), hg. v. Joachim Ganzert / Joachim Wolschke-Bulmahn, München 2009, 163–175. Anders verhält es sich mit Studien zu den militärischen Anlagen, die im Zuge der Kreuzzüge im Heiligen Land errichtet wurden. Vgl. etwa Wolfgang Müller-Wiener, Burgen der Kreuzritter im Heiligen Land, auf Zypern und in der Ägäis, München/Berlin 1966; Hansgerd Hellenkemper, Burgen der Kreuzritterzeit in der Grafschaft Edessa und im Königreich Kleinarmenien. Studien zur Historischen Siedlungsgeographie Südost-Kleinasiens, Bonn 1976; Hugh Kennedy, Crusader Castles, Cambridge 1994; David Nicolle / Adam Hook, Crusader Castles in the Holy Land 1097–1192 (Fortress 21), Oxford 2004. Vgl. Heinrich Hagenmeyer, Epistulae et chartae ad historiam primi belli sacri spectantes. Die Kreuzzugsbriefe aus den Jahren 1088–1100, Hildesheim/New York 1973.

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ligen an Bedeutung gewinnen, wie Hiestand am Beispiel der sogenannten Soldatenheiligen aufzeigen konnte31. Die Kreuzfahrer beendeten in Jerusalem eine knapp 300 Jahre dauernde muslimische Herrschaft. Hierbei stießen sie allerdings nicht auf eine islamisierte Stadt ohne christliche Bezüge, da orthodoxe und orientalische Christen ebenfalls in der Stadt lebten und dort bereits zuvor christliche Bauten initiiert hatten. Nachdem es den lateinischen Herrschern gelungen war, ihre Herrschaft zu etablieren, kam es zum Ausbau der Sakraltopographie Jerusalems32. So wurden bereits bestehende byzantinische Kirchen ausgebaut und zum Teil wurden neue Gebäude errichtet. Dies konnte in einem erhöhten Maße geschehen, da zu Beginn des 11. Jahrhunderts durch den Kalifen al-Hākim eine Vielzahl von Kirchen in Jerusalem zerstört worden war, unter ihnen auch die Grabeskirche33. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Kreuzfahrer beabsichtigten eine lateinische Kirche in Jerusalem zu etablieren, was auch die Schwüre der Fürsten und das Herantreten an das Papsttum deutlich machen34. Die Kreuzfahrer stießen nicht nur auf eine muslimisch beherrschte Region, sondern auch in eine griechisch-orthodox geprägte Kirchenlandschaft. Mit beiden Phänomenen galt es künftig umzugehen. Weiterhin unterschieden sich die Hauptstädte der jeweiligen Kreuzfahrerherrschaften. 31

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Vgl. Hiestand, Nam qui fuimus Occidentales (wie Anm. 26), 69; Jonathan Phillips, Armenia, Edessa and the Second Crusade, in: Knighthoods of Christ. Essays on the History of the Crusades and the Knights Templar, Presented to Malcolm Barber, hg. v. Norman Housley, Aldershot/Burlington 2007, 39–50, hier 43; Elizabeth Lapina, St. Demetrius of Thessaloniki. Patron Saint of the Crusades, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 40 (2009), 93–112; Antonia Durrer, Die Kreuzfahrerherrschaften des 12. und 13. Jahrhunderts zwischen Integration und Segregation. Zeitgenössische und moderne Stimmen im Vergleich (Mittelalter-Forschungen 51), Ostfildern 2016, 117. Wichtige Quellen für die Bauten in Jerusalem stellen die Chroniken der Kreuzfahrer dar, die von Personen verfasst wurden, die sich in Jerusalem aufhielten, wobei vor allem Fulcher von Chartres (1059–1127) von Bedeutung ist, da er nicht nur am ersten Kreuzzug teilnahm, sondern auch die ersten Jahrzehnte des Königreichs Jerusalem direkt erlebte. Auch einige baugeschichtliche und archäologische Befunde können Aufschluss über das Vorgehen der Kreuzfahrer geben. Auf die unterschiedlichen Bauformen wird nur am Rande eingegangen, da bereits Pringle und Boas über diese Aspekte geforscht haben. Vgl. Boas, Jerusalem (wie Anm. 28); Pringle, The Churches of the Crusader Kingdom (wie Anm. 28). Eine Aufarbeitung der Kirchenbauten im Königreich Jerusalem liegt bei Denys Pringle vor, der eine große Menge an Daten sammelte, die noch einer Auswertung bedürfen. Vgl. Boas, Jerusalem (wie Anm. 28), 102. Vgl. Pahlitzsch, Graeci und Suriani (wie Anm. 18), 79. Der Papst wurde gebeten den Eid, den die Kreuzfahrer dem byzantinischen Kaiser geleistet hatten, aufzuheben. Vgl. Hagenmeyer, Epistulae et chartae (wie Anm. 30), 161–165. Zum Verständnis des Vorgehens Bohemunds und des Kaisers siehe Ludwig Buisson, Erobererrecht, Vasallität und byzantinisches Staatsrecht auf dem ersten Kreuzzug (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V. Hamburg 2,7), Hamburg 1985; Ralph-Johannes Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten: Studien zur Politik des byzantinischen Reiches gegenüber den Staaten des Kreuzfahrer in Syrien und Palästina bis zum vierten Kreuzzug (1096–1204), München 1981.

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JERUSALEM Ob der Aufruf von Urban II. zum ersten Kreuzzug tatsächlich bereits Jerusalem zum Ziel hatte, oder ob dies erst später von den Chronisten in dieser Form festgehalten wurde, lässt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit sagen35. Dennoch gelang es den Kreuzfahrern im Jahr 1099, die Heilige Stadt einzunehmen und sie aus der muslimischen Herrschaft zu lösen36. Zur Sakralität Jerusalems liegen schon zahlreiche Studien vor37. Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass die Kreuzfahrer zunächst nicht die Absicht besaßen, in Jerusalem eine starke lateinische Kirche zu etablieren, was auch an den Schwüren der Fürsten in Konstantinopel deutlich wird, die versprachen, das Land dem byzantinischen Kaiser zurückzugeben und die griechische Kirche zu akzeptieren38. Nachdem es aber zum Bruch mit dem Kaiser gekommen war, bestand kein Grund mehr, weiterhin auf die griechischen Patriarchen Rücksicht zu nehmen39. In den folgenden Jahrzehnten der Kreuzfahrerherrschaften musste allerdings immer wieder mit den Byzantinern koaliert werden, weswegen sich auch die griechisch-orthodoxe Kirche immer wieder durchsetzen konnte40. Nach dem Zeugnis mehrerer spätantiker Schriftsteller des 4. Jahrhunderts wurden 326 in Folge eines Besuchs von Helena, der Mutter des Kaisers Konstantin, in Jerusalem die Stätten von Tod und Auferstehung Jesu Christi unter einem römischen Tempel der Aphrodite aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. aufgefunden41. Dies führte zu einer Verbreitung von Kreuzreliquien und einem Wiederaufleben der Ver35 36

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Vgl. Anm. 13 In diesem Zusammenhang von Befreiung zu reden ist kritisch, auch wenn es in der gängigen Literatur in dieser Form gebraucht wird. Vgl. Penny T. Cole, Christians, Muslims, and the „Liberation“ of the Holy Land, in: The Catholic Historical Review 84,1 (1998), 1–10; Annette Seitz / Hendrik Schulze, Die Eroberung Jerusalems (1099). Rezeption eines Glaubenskrieges, in: Krieg. Vergleichende Perspektiven aus Kunst, Musik und Geschichte, hg. v. Cord Arendes / Jörg Peltzer, Heidelberg 2007, 35–55, hier 37 f. Vgl. Hartmut Bobzin, Jerusalem aus muslimischer Perspektive während der Kreuzfahrerzeit, in: Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung, Vorstellungen und Vergegenwärtigungen (Campus Historische Studien 29), hg. v. Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Nikolas Jaspert, Frankfurt u. a. 2001, 203–217; Where Heaven and Earth Meet. Jerusalem’s Sacred Esplanade, hg. v. Loeg Grabar / Benjamin Z. Kedar, Jerusalem 2009; Johannes Pahlitzsch, Zur ideologischen Bedeutung Jerusalems für das orthodoxe Christentum, in: Konflikt und Bewältigung. Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem im Jahre 1009 (Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 32), hg. v. Thomas Pratsch, Berlin/Boston 2011, 239–255; Alan V. Murray, Constructing Jerusalem as a Christian Capital. Topography and Population of the Holy City under Frankish Rule in the Twelfth Century, in: Ders., The Franks in Outremer (wie Anm. 19), xiii, 1–18. Kirschberger, Erster Kreuzzug und Ethnogenese (wie Anm. 9), 268. Vgl. Pahlitzsch, Graeci und Suriani (wie Anm. 18), 79; Hagenmeyer, Epistulae et chartae (wie Anm. 30), 161–165. Vgl. Hiestand, Das Papsttum (wie Anm. 18), 198 f. Vgl. Erwin Reidinger, Ostern 326: Gründung der Grabeskirche in Jerusalem, in: Liber annuus 62 (2012), 371–403; Ute Verstegen, In Kontakt mit dem Allerheiligsten. Zur frühchristlichen Inszenierung der Heilsorte in der Jerusalemer Grabeskirche, in: Orte der Imagination – Räume

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ehrung des Grabes, die durch den Bau des darüberliegenden Tempels eigentlich unterbunden werden sollte. Die Kirche wurde 614 bei der Eroberung Jerusalems durch den persischen Sassanidenherrscher Chosrau II. durch Feuer beschädigt. Die frühen islamischen Herrscher beschützten die christlichen Stätten in Jerusalem, verboten ihre Zerstörung und ihre Verwendung zu Wohnzwecken. So blieb der Bau weiterhin eine christliche Kirche. Im Jahr 1009 wurde die Grabeskirche durch al-Hākim zerstört, doch bereits einige Jahrzehnte später durfte sie wieder durch die Byzantiner errichtet werden42. Diese Kirche wurde auch von den Kreuzfahrern nach der Eroberung Jerusalems aufgesucht, um an diesem Ort zu beten43. Zudem wurde die gerade neu errichtete Kirche durch die Kreuzfahrer weiter ausgebaut, wobei sie sie im romanischen Stil errichteten, der zu diesem Zeitpunkt in Spanien und Frankreich weit verbreitet war44. Hier zeigt sich also nicht nur der Wunsch nach einer Erweiterung des ursprünglichen Baus, sondern auch die Darstellung der neuen Machthaber durch den Stil ihrer Heimatländer45. Der neue Bau muss im starken Kontrast zu den ihn umgebenden Gebäuden gestanden haben, wodurch er und seine Bedeutung noch mehr unterstrichen wurden46. Zugleich konnten die neuen Machthaber so ihren Geltungsanspruch deutlich machen. Diese neue Ausrichtung wurde vor allem dadurch verstärkt, dass die ursprünglich griechisch-byzantinische Kirche nun durch römisch-lateinische Christen geführt wurde47. So wurden die griechischen Kleri-

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des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen, hg. v. Elke Koch / Heike Schlie, Paderborn 2016, 31–54, hier 32. Vgl. David Jacoby, Bishop Gunther of Bamberg. Byzantium and Christian Pilgrimage to the Holy Land in the Eleventh Century, in: Zwischen Polis, Provinz und Peripherie. Beiträge zur byzantinischen Geschichte und Kultur (Mainzer Veröffentlichungen zur Byzantinistik 7), hg. v. Lars M. Hoffmann, Wiesbaden 2005, 267–285, hier 272; Boas, Jerusalem (wie Anm. 28), 103. Anonymi gesta francorum et aliorum Hierosolymitanorum, hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg 1890, XXXVIII: Venerunt autem omnes nostri gaudentes et prae nimio gaudio plorantes ad nostri Saluatoris Iesu sepulchrum adorandum, et reddiderunt ei capitale debitum. Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (1095–1127), hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg 1913, 304 f.: unde multi inopes effecti sunt locupletes. tunc autem ad Sepulcrum Domini et Templum eius gloriosum euntes, clerici simul et laici, exsultationis voce altisona canticum novum Domino decantando, loca sacrosancta tamdiu desiderata, cum oblationibus faciendis supplicationibusque humillimis, laetabundi omnes visitaverunt. Vgl. Boas, Jerusalem (wie Anm. 28), 102–105. Zugleich war dies der Baustil, den die neuen Herrscher kannten, weswegen sie möglicherweise ein Stück Heimat an ihren neuen Lebensort bringen wollten. Vgl. Nikolas Jaspert, Transmediterrane Wechselwirkungen im 12. Jahrhundert. Der Ritterorden von Montjoie und der Templerorden; in: Die Ritterorden als Träger der Herrschaft. Territorien, Grundbesitz und Kirche, hg. v. Roman Czaja / Jürgen Sarnowsky, Torún 2007, 257–278. Zudem musste er einer neuen Funktion entsprechend gebaut werden, da mit den AugustinerChorherren neue Anforderungen an das Gebäude gestellt wurden. Vgl. Krüger, Die Grabeskirche zu Jerusalem (wie Anm. 28), 99 f. Vgl. Hamilton, The Latin Church (wie Anm. 18), 8 u. 10; Krüger, Die Grabeskirche zu Jerusalem (wie Anm. 28), 93. Die Einsetzung eines lateinischen Patriarchen war vielleicht durch den Tod seines griechischen Vorgängers ohne größere Auseinandersetzungen möglich. Zur Pro-

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ker nach der Eroberung Jerusalems aus dem Heiligen Grab vertrieben und durch lateinische ersetzt48. Es war also nicht nur eine Machtdarstellung in Richtung der Muslime und Juden, sondern zudem gegenüber einer anderen christlichen Denomination49. Weitere Baumaßnahmen wurden im Zuge der fast hundertjährigen Herrschaft über die Heilige Stadt durch die Lateiner veranlasst. Ein interessantes Phänomen der Kreuzzüge ist es, dass sie keine neuen Märtyrerkulte in der Region etablierten und anscheinend nur wenige Heiligenkulte aus dem Westen nach Palästina transferiert wurden50. Es finden sich nur wenige Kirchen, die unter dem Patrozinium eines Heiligen stehen, der keinen direkten Bezug zum Heiligen Land besaß. Eine Ausnahme bildet die Kirche, die der heiligen Agnes51 geweiht wurde. Tatsächlich

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blematik der Patriarchenwahl siehe Klaus-Peter Kirstein, Die lateinischen Patriarchen von Jerusalem. Von der Eroberung der Heiligen Stadt durch die Kreuzfahrer 1099 bis zum Ende der Kreuzfahrerstaaten 1291 (Berliner Historische Forschungen 35), Berlin 2002, 104–110. Auch waren die ersten Jahre des neuen Königreichs nicht frei von zweifelhaften Patriarchenwahlen. Vgl. ebd. Ansonsten war es durchaus gängig die Klöster in der Hand der jeweiligen christlichen Denomination zu belassen, in der sie zuvor waren. Vgl. Hamilton, The Latin Church (wie Anm. 18), 10. Vgl. Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte (wie Anm. 28), 3. Allerdings behielten die Griechen auch weiterhin entscheidende Rechte. So durfte ein Grieche als erster das heilige Feuer in Empfang nehmen, ehe es an einen Franken weitergegeben wurde. Vgl, Krüger, Die Grabeskirche zu Jerusalem (wie Anm. 28), 152. Zum Heiligen Feuer siehe Andrew Jotischky, Holy Fire and Holy Sepulchre, in: Ritual and Space in the Middle Ages, hg. v. Frances Andrew, Donington 2011, 44–60. Gerade für die Frühzeit des lateinischen Königreiches von Jerusalem muss beachtet werden, dass es ursprünglich in Urbans II. Interesse war, durch Hilfe die Ostkirche wieder an die Westkirche zu binden. Dass es tatsächlich zu einer zunehmenden Entfremdung der verschiedenen Denominationen kam, war nicht das Ziel des Kriegszugs gegen die Muslime. Zudem waren die Beziehungen zwischen den verschiedenen lateinischen Kirchenmännern untereinander auch nicht konfliktfrei, was sich an den zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen den Patriarchen von Jerusalem und Antiochia nachvollziehen lässt. Zu gemeinsamen heiligen Orten vgl. Ora Limor, Sharing Sacred Space. Holy Places in Jerusalem between Christianity, Judaism, and Islam, in: In Laudem Hierosolymitani. Studies in Crusades and medieval Culture in Honour of Benjamin Z. Kedar (Crusades – Subsidia 1), hg. v. Iris Shagrir / Ronnie Ellenblum / Jonathan Riley-Smith, Ashgate 2007, 219– 231. In den Berichten zu den Kreuzzügen werden die Niedergemachten von den Chronisten in der Regel als Märtyrer bezeichnet, die als solche auch ins Paradies eingehen sollten. Vgl. FranzJosef Schmale, Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 15), Darmstadt 1972, 182. Dennoch finden sich keine Festtage für diese in den allgemeinen Martyrologien. In der Regel fanden die Translationen in die andere Richtung statt. So sollen unter dem Patriarchen Wilhelm von Mesen einige Reliquien aus Palästina in den Westen gelangt sein, unter ihnen auch Kreuzespartikel. Vgl. Kirstein, Die lateinischen Patriarchen von Jerusalem (wie Anm. 47), 268–272. Ihr Kult kann aber auch in Byzanz belegt werden, da sie im Synaxarium von Konstantinopel, das ins 10. Jahrhundert datiert wird, genannt wird. Somit handelt es sich zwar nicht um eine primär im Westen verehrte Heilige, doch kann die Gründung unter ihrem Patrozinium durchaus mit den Lateinern in Verbindung gebracht werden, da im Osten anscheinend keine Kirchen unter ihrem Patrozinium errichtet wurden. Vgl. Alexander Kazhdan, Constantinopolitan Syn-

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scheint es sich bei dieser Kirche um die einzige in der Stadt zu handeln, die unter dem Patrozinium einer römischen Märtyrerin steht. Somit kann vermutet werden, dass sie von den Kreuzfahrern errichtet wurde. Es stellt sich die Frage, warum es anscheinend zu keinem Kulturtransfer von Heiligen in einem größeren Maße kam. Die Untersuchungen von Rudolf Hiestand und Jonathan Riley-Smith haben aufgezeigt, dass während des Kreuzzuges die östlichen Heiligen an Bedeutung gewannen, weswegen diese in den Kreuzzugsberichten verstärkt erscheinen. Tatsächlich wurden vor allem bereits bestehende Kirchen durch die Kreuzfahrer ausgebaut, ohne dass eigene Heilige mit in die neue Heimat transloziert wurden. Die Realpräsenz Christi und seiner direkten Gefolgsleute ließ vielleicht kein Bedürfnis nach anderen Heilsträgern aufkommen. Die Kirche der heiligen Agnes war kein opulenter Bau, sondern scheint weniger auffällig gewesen zu sein, weswegen sie auch nur in wenigen Berichten genannt wird. Zudem ist nicht eindeutig auszumachen, wann und von wem sie errichtet wurde. Somit ist eine Einordnung des Baus in ein bestimmtes Programm nicht möglich. Neben den christlichen Bauten waren viele muslimische Gebäude in der Stadt vorhanden, welche die neuen christlichen Herrscher mit verschiedenen Deutungen versahen, wodurch sie in einem christlichen Kontext Verwendung finden konnten. Hierbei stellt sich die Frage nach der konkreten Auseinandersetzung mit der anderen Religion52. War den Kreuzfahrern die Bedeutung der jeweiligen muslimischen Bauten klar oder wurden die Gebäude lediglich mit eigenen Heilsgedanken aufgeladen53? Die Quellen liefern keine Antworten auf diese Fragen, doch gibt der spätere Umgang mit den Bauten einige Hinweise.

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axarium as a Source for Social History of Byzantium, in: The Christian East. Its Institutions and its Thought. A Critical Reflection. Papers of the International Scholary Congress for the 75th Anniversary of the Pontifical Oriental Institute Rome, 30 May – 5 June 1993 (Orientalia Christiana Analecta 251), hg. v. Robert F. Taft, Rom 1996, 485–516; Andrea Luzzi, Precisazioni sull’epoca di formazione del Sinassario Constantinopoli, in: Rivista di studi bizantini e neoellenici 36 (2000), 75–91, hier 91. So stellte Jaspert fest, dass die Begegnung zwischen den Christen und Muslimen zu keiner differenzierteren Darstellung der letzteren in den Chroniken führte. Vgl. Nikolas Jaspert, Die Wahrnehmung der Muslime im lateinischen Europa der späten Salierzeit, in: Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., hg. v. Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter, Darmstadt 2007, 307–340, hier 320. Vgl. Robert Schick, Christian Identifications of Muslim Buildings in Medieval Jerusalem, in: Jerusalem as Narrative Space. Erzählraum Jerusalem (Visualising the Middle Ages 6), hg. v. Annette Hoffmann / Gerhard Wolf, Leiden/Boston 2012, 367–389, hier 367 f. So reflektierte Fulcher von Chartres über den Bau: alterum templum, quod dicitur Salomonis, magnum est et mirabile. non est autem illud idem, quod Salomon fabricari fecit, quod quidem non potuit inopiam nostram in statu quo illud invenimus sustentari; quapropter magna iam ex parte destruitur. Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43), 291. Ob diese Gedanken allerdings von allen Kreuzfahrern in dieser Form geteilt wurden, darf angezweifelt werden. So gab es verschiedene Annahmen von wem der Tempel errichtet wurde, etwa von Kaiserin Helena. Vgl. Barbara Baert, A Heritage of Holy Wood. The Legend of the True Cross in Text and Image (Cultures, Beliefs and Traditions 22), Leiden/Boston 2004, 173; Schick, Christian Identifications of Muslim Buildings (wie Anm. 53), 369.

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Die Eroberung Jerusalems führte zu einem sehr geringen Widerhall in der muslimischen Welt, auch wenn es den muslimischen Einwohnern der Stadt vorerst nicht gestattet war in der Stadt zu wohnen, wobei ihnen der Zugang zu ihren Heiligtümern weiterhin gewährt wurde. Hier zeigt sich also das prinzipielle Wissen um die Sakralorte der Moslems innerhalb der Stadt, die dennoch mit christlicher Bedeutung versehen werden konnten. So erhielten die vormals muslimischen Bauten christliche Namen, die diese mit dem Heilsgeschehen als Ort des Wirkens Christi in Verbindung brachten.54 Zudem ist zu vermuten, dass es bei einzelnen Benennungen bereits griechisch-byzantinische Traditionen gab, die von den lateinischen Christen aufgegriffen wurden. So brachten Pilger wie auch bereits ansässige Christen einzelne Orte mit der Heilsgeschichte in Verbindung. Dies konnte nach der Eroberung zu einer stärkeren Aufladung der einzelnen Stätten führen, weswegen verstärkt Baumaßnahmen durchgeführt wurden. Von entscheidender Bedeutung ist die Wandlung in der Empfindung gegenüber dem Tempelberg55. Nachdem der Tempelberg im frühen Christentum keine entscheidende Rolle gespielt hatte56 und erst durch die Muslime bauliche Maßnahmen an diesem Ort durchgeführt worden waren, wurden diese Gebäude im Nachhinein mit der Heilsgeschichte in Verbindung gebracht. Trotz des islamischen Baustils des Tempels sahen sich die christlichen Herrscher nicht genötigt diesen abzureißen und einen neuen Bau zu errichten57. Der Außenbau wurde nicht verändert und auch die innere Dekoration blieb weitestgehend intakt, was an den arabischen Inschriften nachvollzogen werden kann, die nicht beseitigt wurden58. Lediglich einige christli54

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Vgl. Jörg Dendl, Der Heilige Felsen. Der Felsendom im Zeitalter der Kreuzzüge, in: Miszellen aus dem Schülerkreis. Kaspar Elm dargebracht zum 23. September 1994, Berlin 1994, 1–11, hier 1; John Giebfried, The Crusader Rebranding of Jerusalem’s Temple Mount, in: Comitatus 44 (2013), 77–94; Michelina di Cesare, The Eschatological Meaning of the Templum Domini (The Dome of the Rock) in Jerusalem, in: Aevum 88 (2014), 311–329. Zur Konkurrenz zwischen dem Felsendom und der Grabeskirche siehe Heribert Busse, Der Felsendom und die Grabeskirche in Jerusalem, in: Eothen 5 (2012), 12–30. Vgl. Sylvia Schein, Between Mount Moriah and the Holy Sepulchre. The Changing Traditions of the Temple Mount in the Central Middle Ages, in: Traditio 40 (1984), 175–195, hier 175. Nach der Zerstörung des Tempels wurde dieser Platz von den Christen wohl eher als Müllhalde verwendet. Gleichzeitig konnte die Zerstörung des Tempels auch im Sinne des Sieges des Christentums über das Judentum gedeutet werden. Vgl. Schein, Mount Moriah (wie Anm. 55), 175. Da die Muslime Jerusalem mit der Nachtfahrt Mohammeds in Verbindung bringen, wurde an diesem Ort, der als Ausgangspunkt der Reise erkannt wurde, ein Gebäude errichtet. Vgl. Hugh Nibley, Christian Envy of the Temple, in: The Jewish Quarterly Review 50 (1959), 97–123 und 229–240, hier 118 f.; Anastasia Keshmann, Night Flight to Jerusalem – a Narrative for a Far-Away Holy Place, in: Jerusalem as Narrative Space. Erzählraum Jerusalem (Visualising the Middle Ages 6), hg. v. Annette Hoffmann / Gerhard Wolf, Leiden/Boston 2012, 477–494, hier 484 f.; Michelina di Cesare, How Medieval Christians Coped with the Islamic Pasto of The Templum Domini (the Dome of the Rock) and Read ˁAbd al-Malik’s Inscription, in: Annali 74 (2014), 61–94. Vgl. Schick, Christian Identifications of Muslim Buildings (wie Anm. 53), 370. Vgl. Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte (wie Anm. 28), 223; Hannes Möhring, Die Kreuzfahrer, ihre muslimischen Untertanen und die heiligen Stätten des Islam, in: Toleranz im Mittelalter (Vorträge und Forschungen / Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte

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che Elemente wurden dem Bau beigefügt, die die Muslime aber nach der Rückeroberung (1187) beseitigten59. So wurde der für die Muslime heilige Fels mit einem Marmorfußboden überdeckt und darüber ein Altar mit einem Chor errichtet60. Entscheidend war für die sakrale Wahrnehmung des Baus seine Weihe im Jahr 1141 durch den Kardinallegaten Alberich von Ostia61. Nun wurde das Plateau zum Ort der Himmelfahrt Christi. Die al-Aqsa-Moschee wurde zunächst durch die königliche Familie, später durch die Templer verwendet, wobei die muslimische Innendekoration nicht zerstört wurde62. Das Gebäude wurde im Zuge der Eroberung teilweise beschädigt, sodann aber unter Balduin II. (1100–1118) restauriert und Hugo von Paynes (†1136) übergeben63. Weiterhin ist bekannt, dass teilweise zu beiden Bauten einzelnen muslimischen Gläubigen der Zugang gewährt wurde64. Hier ist zu fragen, welche Informationen diese den Christen über die Gebäude vermittelten, beziehungsweise ob auf christlicher Seite überhaupt Interesse an derartigen Kenntnissen bestand. Bezeichnet wurde dieser Bau von den Kreuzfahrern als Templum Salomonis65. Dadurch dass er aber vor allem durch die Herrscher und die Templer verwendet wurde, stand er kaum im Interesse von Pilgern66. Neben dem Tempel wurde eine neue Kirche errichtet und unter das Patrozinium von Jakobus, dem ersten Bischof von Jerusalem gestellt67. Dieser Ort wurde mit dessen Hinrichtungsstätte gleichgesetzt68. Nach der Eroberung durch Saladin (1171–1193) wurde das Gebäude wieder muslimischer Nutzung zugeführt und ist es bis heute69.

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45), hg. v. Alexander Patschovsky / Harald Zimmermann, Sigmaringen 1998, 129–157, hier 141. So wurde auch nicht die Inschrift beseitigt, welche die Trinitätslehre des christlichen Glaubens in Frage stellt. So wurde auf dem Felsendom ein goldenes Kreuz angebracht. Vgl. Benjamin Z. Kedar / Denys Pringle, 1099–1187: The Lord’s Temple (Templum Domini) and Solomon’s Palace (Palatium Salomonis), in: Grabar/Kedar (Hg.) (wie Anm. 37), 132–150, hier 135; Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae, in: Peregrinationes Tres. Saewulf – John of Würzburg – Theodericus (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 139), hg. v. Robert B. C. Huygens, Turnholt 1994, 78–141, hier 94: Super hunc strictiorem parietem erigitur in altum testudo rotundus intus depictus, foris plumbo coopertus, cui signum sanctae crucis in supremo a Christianis est appositum … Vgl. Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte (wie Anm. 28), 224. Vgl. ebd., 224; Baert, A Heritage of Holy Wood (wie Anm. 53), 173. Vgl. Schick, Christian Identifications of Muslim Buildings (wie Anm. 53), 372. Lediglich eine Mauer wurde zur Verdeckung der Mihrāb errichtet. Vgl. Baert, A Heritage of holy Wood (wie Anm. 53), 172. Vgl. Schein, Mount Moriah (wie Anm. 55), Vgl. Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte (wie Anm. 28), 224. Vgl. Kedar/Pringle, 1099–1187: The Lord’s Temple (wie Anm. 59), 142. Vgl. Baert, A Heritage of Holy Wood (wie Anm. 53); 173; Johannes von Würzburg, Descriptio (wie Anm. 59), 92. Vgl. Pringle, The Churches of the Crusader Kingdom (wie Anm. 28), 182. Vgl. ebd., 183; Johannes Pahlitzsch, The Transformation of Latin Religious Institutions into Islamic Endowments by Saladin in Jerusalem, in: Governing the Holy City. The Interaction of

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Dies zeigt, dass es den Gläubigen der verschiedenen Religionen auch unter der Herrschaft der jeweils anderen Religion gestattet war, ihre Heiligtümer zu besuchen. Somit kann man zumindest ein grundsätzliches Verständnis der Bedeutung der Heiligtümer vermuten, da andernfalls ein Verbot des Besuches im Rahmen des Möglichen gelegen hätte. So ist in der Zerstörung der Grabeskirche ein Vorgehen gegen die christlichen Kulte zu sehen, doch konnte sie wiedererrichtet werden, und der Kult konnte neu etabliert werden. Weiterhin sind keine Überlegungen bekannt, dass die Kreuzfahrer planten Mekka zu erobern und die Kaˁba zu zerstören, obwohl durch die Muslime ein wichtiges Monument ihres Glaubens angegriffen worden war. Tatsächlich war den Muslimen die Mekkafahrt weiterhin möglich. Wichtiger erschien den Kreuzfahrern die Eroberung Ägyptens, woran deutlich wird, dass die politisch-militärische Dimension in diesem Falle entscheidender war. EDESSA Zunächst wurde die Grafschaft Edessa durch den Fürsten Balduin von Boulogne (1058–1118) errichtet. Bezüglich dieser ersten Kreuzfahrerherrschaft äußerte Phillips, dass es diejenige gewesen sei, bei der es zur stärksten Integration der Franken in die Gesellschaft kam70. Entgegen der Geschichte des Königreichs Jerusalem sind Berichte über die anderen Kreuzfahrerherrschaften eher als Randnotizen in diesen Chroniken zu finden71. Die Herrschaft über diese Region währte insgesamt nur eine kurze Zeit, nämlich von 1098 bis 1147, als Imad ad-Din Zengi von Aleppo erfolgreich die Stadt belagerte72. Da diese auch nicht zurückerobert werden konnte, ist hier also nur ein kurzer Zeitraum in den Blick zu nehmen, wobei die Quellenlage eine Detailstudie nicht zulässt. Fulcher von Chartres begleitete Balduin von Boulogne nach Edessa, was sich allerdings nur bedingt in seinem Werk über den Kreuzzug in die Zeit des Königreichs Jerusalem widerspiegelt73. Er berichtet von der Übernahme der Herrschaft in Edessa, ohne auf die Begebenheiten in der Stadt einzugehen74. Entscheidender erscheint ihm, über den Kampf gegen die Türken zu berichten und sich dann dem Zug der Kreuzfahrer und der Eroberung Antiochias zuzuwenden75. Tatsächlich wird bei Fulcher keine Kirche genannt, die in Edessa bereits vorhanden war, oder die durch den neuen Herrscher errichtet worden wäre.

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Social Groups in Medieval Jerusalem between the Fatimid and the Ottoman Period, hg. v. Johannes Pahlitzsch / Lorenz Korn, Wiesbaden 2004, 47–69. Vgl. Phillips, Armenia (wie Anm. 31), 42. Vgl. Harald Dickerhof, Über die Staatsgründung des ersten Kreuzzugs, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), 95–130, hier 122. Vgl. Christian Lange, Zum Verhältnis zwischen Byzantinern und Kreuzfahrern zwischen 1095 und 1204, in: Vom Schisma zu den Kreuzzügen 1054–1204, hg. v. Peter Bruns / Georg Gresser, Paderborn u. a. 2005, 179–204, hier 195. Vgl. Verena Epp, Fulcher von Chartres. Studien zur Geschichtsschreibung des ersten Kreuzzugs (Studia Humaniora 15), Düsseldorf 1990, 18. Vgl. Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43), I, XIV, 203–215. Vgl. ebd., I, XV, 215 ff.

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Edessa soll – ebenso wie Antiochia – eine Apostelgründung sein. In diesem Fall war der Apostel Thomas tätig76. Somit ist auf ihn auch eine der Hauptkirchen der Stadt geweiht, die laut Legende von Helena errichtet wurde77. Die Bedeutung dieses Heiligen für die neuen Herrscher wird zudem an seiner Prägung auf Münzen des Herrschers Jocelyn II. in den 1130er Jahren deutlich78. Allerdings wird diese Kirche in der Chronik des Josua Stylites79 noch als allen Aposteln geweihte Kirche benannt80. Weiterhin war eine Kirche vorhanden, die durch den heiligen Apostel Judas Thaddäus gebaut worden sein soll und dem Heiland gewidmet wurde81. Die Kathedrale der Stadt soll ebenso wie ihr Vorbild in Konstantinopel der heiligen Sophia geweiht worden sein82. Weiterhin gab es eine Kirche der Mutter Gottes, die von Justin II. (565–578) veranlasst worden sein soll83. Auch eine Kirche mit dem Patrozinium des Johannes war in der Stadt zu finden, drei des heiligen Theodorus und eine des heiligen Stephan84. In der Stadt gab es zudem das Mandylion, also das Portrait Christi, das zusammen mit einem Schreiben Jesu nach Edessa gekommen sein soll, und dort Verehrung erfuhr85. Innerhalb der Stadt gab es eine Sergiuskirche und lediglich in einer Quelle wird eine Kirche des heiligen Qonā genannt86.

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Vgl. Alberto Camplani, Traditions of Christian Foundation in Edessa between Myth and History, in: Studi e materiali di storia delle religioni 75 (2009), 251–278; Lutz Greisiger, Saints populaires d’Édesse, in: L’hagiographie syriaque (Études syriaques 9), hg. v. André Binggeli, Paris 2012, 171–199, hier 171; Krijnie Ciggaar / Clara ten Hacken, The Description of Edessa in Abū al-Makārim’s History of the Churches and Monasteries of Egypt and Some Neighbouring Countries, in: East and West, in the Medieval Eastern Mediterranean II. Antioch from the Byzantine Reconquest until the End of the Crusader Principality. Acta of the Congress Held at Hernen Castle (the Netherlands) in May 2006, hg. v. Victoria van Aalst / Krijnie Ciggaar (Orientalia Lovaniensia Analecta 199), Leuven u. a. 2013, 201–218, hier 209. Vgl. Ciggaar / ten Hacken, The Description of Edessa (wie Anm. 76), 210. Allerdings gibt es nur eine singuläre Quelle, die eine Erbauung durch die Mutter Constantins enthält. Vgl. Phillips, Armenia (wie Anm. 31), 44. Die Chronik entstand zu Beginn des 6. Jahrhunderts. Somit benennt sie auch Kirchen, die bei der Eroberung durch die Perser in dieser Zeit zerstört wurden. Inwieweit diese später wieder errichtet wurden, lässt sich nicht immer nachvollziehen. Vgl. Andreas Luther, Die syrische Chronik des Josua Stylites (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 49), Berlin/ New York 1997, 1 u. 176. Vgl. ebd., 176. Vgl. Ciggaar / ten Hacken, The Description of Edessa (wie Anm. 76), 210 f. Vgl. ebd., 211. Vgl. ebd., 213; Luther, Syrische Chronik (wie Anm. 79), 209. Vgl. Judah B. Segal, Edessa. ‚The Blessed City‘, Oxford 1970, 213, 218 und 237; Luther, Syrische Chronik (wie Anm. 79), 163 u. 209. Alexei Lidov, The Mandylion over the Gate. A Mental Pilgrimage to the Holy City of Edessa, in: Routes of Faith in the Medieval Mediterranean. History, Monuments, People, Pilgrimage Perspectives; International Symposium, Thessalonike 7–10/11/2007, hg. v. Euangelia K. Chatzētryphōnos, Thessalonike 2008, 179–192. Allerdings wurden beide Reliquien im 10. Jahrhundert nach Konstantinopel gebracht. Somit waren sie in Realpräsenz nicht mehr in der Stadt vorhanden. Ebd., 183. Vgl. Greisiger (wie Anm. 28), 171; Lidov, The Mandylion over the Gate (wie Anm. 84), 179. Vgl. Luther, Syrische Chronik (wie Anm. 79), 176.

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Ferner gab es eine Kirche des Erzengels Michael87. Auch gab es eine Konfessorkirche für die Märtyrer der Stadt und eine Cosmas-Damian Kapelle88. Nachdem Balduin die Herrschaft in Edessa übernommen hatte, wurde in der Stadt ein lateinischer Erzbischof inkardiniert89. Es waren zudem die östlichen Kirchen präsent. So waren vor allem die armenischen und die jakobitischen Denominationen vorhanden. Die dem Thomas geweihte Apostelkirche unterstand ebenso wie die Ephraims-Kirche der armenischen Denomination, während die TheodorusKirche und die Marien-Kirche den Jakobiten zuzuzählen ist. Der Kreuzfahrer Balduin wurde vom Herrscher Thoros von Edessa als Adoptivsohn angenommen90, wobei er einen Schwur auf die Reliquien des Kreuzes von Varag leistete91. Die Bedeutung des Kreuzes von Varag für die neue Herrschaft wurde dadurch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Balduin II. von Edessa dieses auf seine Münzen prägen ließ und sich selbst darauf als Diener des Kreuzes bezeichnete92. Ferner wurde das Kreuz bei wichtigen Schlachten im Heer mitgeführt, um so den göttlichen Segen zu gewährleisten93. Somit wurden vorhandene Reliquien durch die neuen Herrscher genutzt, sodass sich ihre Untertanen vielleicht leichter mit den Befehlshabern arrangieren konnten. Zumal das Kreuz von Varag eine lange verehrte Reliquie war, mit der die Einheimischen also eine gewisse Verehrungstradition verbanden. Die neuen Herrscher stießen also auf eine Region, die bereits eine starke Kulttradition aufwies. Daher fällt auf, wie wenig diese in den Quellen reflektiert wird. Vielleicht waren zunächst die Kenntnisse über die apostolische Gründung, beziehungsweise die lokalen Heiligen, nicht vorhanden. Die Übernahme des Kreuzes von Varag deutet aber auf ein gewisses Gespür für die Bedeutung dieser Reliquie hin. ANTIOCHIA Die Einnahme Antiochias stellte ein wichtiges Moment im Laufe des Zuges Richtung Jerusalem dar. Als Stadt Petri kam ihr zudem eine besondere Bedeutung zu94. Dies wird unter anderem an der Rolle der Basilika, die durch Petrus geweiht worden sein soll, bei den Einzügen der Herrscher deutlich, da sie der Zielpunkt des 87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. ebd., 163. Vgl. ebd., 199. Vgl. Segal, Edessa: The Blessed City (wie Anm. 84), 237. Vgl. Albericus Aquensis, Historia Ierosolimitana (Oxford Medieval Texts), hg. v. Susan B. Edgington, Oxford 2007, 20, 170 f. Vgl. Christopher MacEvitt, The Crusades and the Christian World of the East. Rough Tolerance (The Middle Ages Series), Philadelphia 2008, 70; Phillips, Armenia (wie Anm. 31), 43. Vgl. MacEvitt, The Crusades and the Christian World (wie Anm. 91), 91. Vgl. ebd., 91. Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43), 217: estque in ea basilica una satis veneranda, in honore Petri apostoli dedicata, ubi in episcopum sublimatus sedit in cathedra … Vgl. Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, hg. v. Heinrich Kraft, Darmstadt 1967, 3,36,2; Giorgio Orioli, Le origini della chiesa de Antiochia e la sua fondazione petrina

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Adventus war95. In Antiochia gab es die Abteilung der acies beati Petri96. Diese wird in den Bella Antiochena des Kanzlers Walter genannt sowie ferner, dass sie auf dem sogenannten Blutfeld hohe Verluste zu verzeichnen hatte97. Wie man sich diese Gruppe im Einzelnen vorzustellen hat, wird aus den wenigen Textstellen nicht ersichtlich, doch zeigt die Berufung auf Petrus, dass hier eine Verbindung aus kriegerischem und sakralem Dienst vollzogen wurde. Dafür bot sich der Apostel der Stadt als Patron an98. Die Verbindung von Petrus und Antiochia war den Menschen durchaus bekannt, was daran ersichtlich wird, dass einige Pilger, die nach der Eroberung des Heiligen Landes dorthin kamen, darauf verweisen99. Zudem wurden in

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nella documentazione fino al secolo V, in: Apollinaris 60, 1987, 645–649; Kirschberger, Erster Kreuzzug und Ethnogenese (wie Anm. 9), 278–286. Zur Bedeutung des heiligen Petrus auf dem ersten Kreuzzug siehe Riley-Smith, The First Crusade (wie Anm. 20), passim. Allerdings scheint auf dem Kreuzzug die petrinische Bedeutung der Stadt zunächst keine große Rolle gespielt zu haben. Dies wird auch etwa daran ersichtlich, dass die Auffindung der Heiligen Lanze nicht durch den Apostel Petrus, sondern durch den heiligen Andreas initiiert wurde. Vgl. Dickerhof, Über die Staatsgründung (wie Anm. 71), 118. Von Bedeutung war diese Stadt vor allem auf dem Gebiet der Übersetzungen, die dort vom Arabischen ins Lateinische und Griechische angefertigt wurden. Vgl. Charles F. S. Burnett, Antioch as a Link between Arabic and Latin Culture in the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Occident et Proche-Orient: Contacts scientifiques au temps des croisades. Actes du colloque de Louvain-la-Neuve, 24 et 25 mars 1997 (Réminisciences 5), hg. v. Isabelle Draelants / Anne Tihon / Baudouin van den Abeele, Turnhout 2000; Susan B. Edgington, Antioch. Medieval City of Culture, in: East and West in the Medieval Eastern Mediterranean I. Antioch from the Byzantine Reconquest until the End of the Crusader Principality. Acta of the Congress Held at Hernen Castel in May 2003 (Orientalia Lovaniensia Analecta 147), hg. v. Krijnie Ciggaar / David Michael Metcalf, Leuven u. a. 2006, 247–259, hier 253–259; Skottki, Of ‚Pious Traitors‘ (wie Anm. 27), 76. Hier zeigen sich Parallelen zu weiteren Städten, die an Schnittstellen der Kulturen lagen, wie beispielsweise Neapel, Toledo oder auch Antiochia, wo jeweils Übersetzungen angefertigt wurden, wodurch sich Wissen in größerem Umfangen verbreiten konnte. Vgl. beispielsweise Marcello Gigante, La civilità letteraria, in: I Bizantini in Italia (Antica Madre. Collana di studi sull’Italia antica), hg. v. Guglielmo Cavallo u. a., Mailand 1982, 613–652, hier 618 f.; Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, II. Merowingische Biographie. Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9), Stuttgart 1988, hier 169; Paolo Chiesa, Le traduzioni dal greco. L’evoluzione della scuola napoletana nel X secolo, in: Mittellateinisches Jahrbuch 24/25 (1989/1990), 67–86, hier 68; María Rosa Menocal, Die Palme im Westen. Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien, Berlin 2003, 61, 184, 245, 247; Georg Bossong, Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur, München 2007, 73–79. Vgl. Kirschberger, Erster Kreuzzug und Ethnogenese (wie Anm. 9), 282. Vgl. ebd., 282. Vgl. Galterii Cancellarii, Bella Antiochena, hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Wien 1896, 75 und 87. Nach der Schlacht auf dem Blutfeld im Jahr 1117 wird diese Gruppe nicht mehr genannt, ihr Blutzoll scheint hier zu hoch gewesen zu sein. Vgl. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae (wie Anm. 59), 104 Z. 620 f.; Saewulf, Peregrinationes, in: Peregrinationes Tres. Saewulf – John of Würzburg – Theodericus. (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 139), hg. v. Robert B. C. Huygens, Turnholt 1994, 59–77, 61 Z. 73–76.

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der Stadt Münzen mit seinem Bild geprägt100. Als es im Jahr 1115 zu einem Erdbeben in Antiochia kam, wurde dies als Strafe für ihr sündhaftes Verhalten gewertet, und die Einwohner baten den heiligen Petrus um seine Fürsprache101. Die Stadt soll laut den Gesta Francorum voller Kirchen und Klöster gewesen sein, wobei der Anonymus bei letzteren angibt, es seien 360 gewesen102. Da Antiochia ursprünglich unter griechisch-byzantinischer Herrschaft gestanden hatte, ist es durchaus möglich eine große Anzahl von christlichen Bauten anzunehmen, die auch in der kurzen muslimischen Zeit nicht zerstört worden waren. Auf die Sakraltopographie der Stadt geht der anonyme Autor der Gesta Francorum allerdings nicht näher ein, ebenso wenig auf die Patrozinien der Bauten. Einige wenige Informationen erhält man von Fulcher von Chartres. Neben der Kirche für den Apostel Petrus nennt dieser auch eine Kirche zur Verehrung der Gottesmutter103. Die Kathedrale der Stadt war unter Konstantin dem Großen errichtet worden104. In Antiochia gab es zudem ein Priorat des Klosters Josaphat bei Jerusalem105. Zudem nennt die Bella Antiochena die Kirche des heiligen Georg und des heiligen Paulus, wobei es allerdings so klingt, als würden Petrus und Paulus gemeinsam an einem Ort verehrt106. Weiterhin war der heilige Babylas, der Bischof der Stadt gewesen und Märtyrer geworden war, für Antiochia von großer Bedeutung107. Die genannten Heiligen sind mit Ausnahme des Bischofs Babylas Verehrte der Kirche, ohne dass sich besondere Schwerpunkte festmachen lassen, etwa bezüglich der Herkunft der neuen Herrscher, die ihre eigenen Heiligen zu etablieren versuchten. Inwieweit Babylas von den Kreuzfahrern verehrt wurde, lässt sich anhand der Quellen nicht feststellen, doch war er populär genug, um seine Verehrung durch die Bevölkerung weiter zu tradieren. Die bereits vorhandenen Kulte und Kultorte scheinen also durch die Kreuzfahrer übernommen worden zu sein, ohne dass es zu einer Veränderung innerhalb des Heiligenkanons kam.108. 100 Vgl. Kirschberger, Erster Kreuzzug und Ethnogenese (wie Anm. 9), 268. 101 Vgl. Galterii Cancellarii, Bella Antiochena (wie Anm. 97), 63. 102 Vgl. Gesta Francorum (wie Anm. 43), XXXII,1: De deorsum est ciuitas honorabilis et conueniens, omnibusque ornata honoribus, quoniam multae ecclesiae sunt in ea aedificatae. Tercenta et sexaginta monasteria in se continet. 103 Vgl. Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43), 217 f. 104 Vgl. W. Eugene Kleinbauer, Antioch, Jerusalem, and Rome. The Patronage of Emperor Constantius II and Architectural Invention, in: Gesta 45,2 (2006), 125–145, hier 126–128. 105 Vgl. Jean Richard, Église latine et Églises orientales dans les États des Croisés. La destinée d’un prieuré de Josaphat, in: Mélanges offerts à Jean Dauvillier, Toulouse 1979, 743–752; Mayer, Die antiochenische Regentschaft Balduins (wie Anm. 27), 561. 106 Galterii Cancellarii, Bella Antiochena (wie Anm. 97), 66: Deinde praemissis armis aliisque belli et uictus necessariis, audito diuino officio, in beatorum intercessorum ecclesiis sanctae Mariae uirginis, Petri et Pauli, Georgii et aliorum plurimorum facta oratione … 107 Vgl. Hiestand, Nam qui fuimus Occidentales (wie Anm. 26), 69; Gunnar Brands, Antiochia in der Spätantike. Prolegomena zu einer archäologischen Stadtgeschichte. Berlin/Boston 2016, 62. 108 In der Spätantike gab es einen Wiederaufbau der Michaelskirche durch Justinian. Ob diese Kirche allerdings auch die späteren Herrschaftswechsel überstanden hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, da die Kirche in den späteren Quellen nicht genannt wird. Vgl. Brands, Antiochia in der Spätantike (wie Anm. 107), 54.

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Der Kanzler Walter erwähnt, dass ein Stück des Wahren Kreuzes in Antiochia aufbewahrt und verehrt würde109, dieses ging aber im Laufe der Schlacht auf dem Blutfeld an die Muslime verloren und wurde anschließend nicht mehr erwähnt. Allerdings wurde von Balduin II. im Jahr 1119 das Wahre Kreuz aus Jerusalem mit nach Antiochia gebracht, da er überzeugt war, die Reliquie im Kampf gegen die Feinde des Kreuzfahrerfürstentums zu benötigen110. Die Fürsten, die sich in dieser Stadt etablierten, waren Normannen, die aus Süditalien stammten111. Somit kann die Frage gestellt werden, inwieweit sich dieses Fürstentum von jenen unterschied, die durch Franzosen gegründet wurden. In Süditalien waren die Normannen bereits mit den Byzantinern und der orthodoxen Kirche in Berührung gekommen. Führte dies zu einem anderen Umgang mit den regionalen Begebenheiten? Die Konkurrenz zwischen Konstantinopel und den Normannen konnte sich durch eine solche geographische Nähe anders gestalten als zu den weit entfernten süditalischen Gebieten112. Um in seinem Gebiet auch auf die kirchlichen Belange Einfluss zu haben, musste Bohemund von Tarent das orthodoxe Patriarchat von Antiochia durch ein lateinisches ersetzen113. Nach der Eroberung der Stadt wurde allerdings zunächst dem orthodoxen Patriarch Johannes IV. gehuldigt, der in dieser Position verblieb114. Doch ließ Bohemund durch den lateinischen Patriarchen von Jerusalem Daimbert lateinische Kleriker in Antiochia weihen115. 109 Vgl. Thomas Asbridge / Susan B. Edgington, Walter the Chancellor’s The Antiochene Wars. A Translation and Commentary (Crusade Texts in Translation), Aldershot/Brookfield 1999, 70. Zur Bedeutung des Wahren Kreuzes und seiner Verehrung siehe Anatole Frolow, La relique de la Vraie Croix. Recherches sur le développement d’un culte (Archives de l’Orient Chrétien 7), Paris 1961; Holger A. Klein, Byzanz, der Westen und das „wahre“ Kreuz. Die Geschichte einer Reliquie und ihrer künstlerischen Fassung in Byzanz und im Abendland (Spätantike, frühes Christentum, Byzanz 17), Wiesbaden 2004. 110 Vgl Asbridge/Edgington, Walter the Chancellor’s (wie Anm. 109), 71; Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43), III, 2–4, 639 f. 111 Vgl. Edgington, Antioch. Medieval City of Culture (wie Anm. 94), 251; Andrew D. Buck, Between Byzantium and Jerusalem? The Principality of Antioch, Renauld of Châtillon, and the Penance of Mamistra in 1158, in: Mediterranean Historical Review 30 (2015), 107–124. 112 Dies wurde etwa in dem Zug Bohemunds gegen byzantinisches Gebiet im Jahr 1108 deutlich. Vgl. Luigi Russo, La fine dell’espansione. I Normanni ad Antiochia (1098–1130), in: Representations of Power at the Mediterranean Borders of Europe (12th–14th Centuries), hg. v. Ingrid Baumgärtner / Mirko Vagnoni / Megan Welton, Florenz 2014, 121–138; Alan V. Murray, The Enemy Within. Bohemond, Byzantium and the Subversion of the First Crusade, in: Crusading and Pilgrimage in the Norman World, hg. v. Kathryn Hurlock / Paul Oldfield, Woodbridge 2015, 31–47. 113 Vgl. Thomas Asbridge, The Creation of the Principality of Antioch 1098–1130, Woodbridge 2000, 195. 114 Vgl. ebd., 195. 115 Vgl. ebd., 195 f.; Michael Matzke, Daibert von Pisa. Zwischen Pisa, Papst und erstem Kreuzzug (Vorträge und Forschungen 44), Sigmaringen 1998, 161; Patrica Skinner, From Pisa to the Patriarchate. Chapters in the Life of (Arch)bishop Daibter, in: Challenging the Boundaries of Medieval History. The Legacy of Timothy Reuter (Studies in the Early Middle Ages 22), hg. v. Patrica Skinner, Turnhout 2009, 155–172.

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Wie Asbridge feststellte, waren gerade die ersten Jahrzehnte der Grafschaft durch das Fehlen eines rechtmäßigen Herrschers geprägt116. So waren zwar Stellvertreter des legitimen Herrschers präsent, doch kann man fragen, inwieweit diese ein besonderes Interesse daran besaßen, in die Sakraltopographie der Stadt einzugreifen. Von weiterer Bedeutung für den Fortgang des ersten Kreuzzugs war die Auffindung der Heiligen Lanze in Antiochia im Jahr 1098117. Auch wenn sich hier keine Verehrungstradition etablieren konnte, war sie bei der Motivation zur Verteidigung der Stadt der Kreuzfahrer entscheidend.118 In der anschließenden Stadtgeschichte kann allerdings keine besondere Adoratio dieses Objektes mehr festgestellt werden. TRIPOLIS Die Quellenlage für die Grafschaft Tripolis ist verglichen mit den anderen Kreuzfahrerherrschaften am schlechtesten119, was es schwierig macht, über einige Textstellen hinaus Informationen über die sakrale Situation der Kreuzfahrerherrschaft zu erhalten. So schreibt Wilhelm von Tyrus zwar ausführlich über die Eroberung der Stadt und die Beteiligung der jeweiligen Grafen an den Feldzügen gegen die muslimischen Gegner, doch gibt er keine Kirchenangabe der Stadt preis, ebensowenig Fulcher von Chartres120. Im Jahr 1109 wurde die Stadt Tripolis von Bertrand, einem unehelichen Sohn Graf Raimunds von Toulouse, erobert121. Schon kurz nach der Eroberung der Stadt wurde sie mit einem lateinischen Bischof versehen122. Somit wurde hier anders als in Edessa und Antiochia nicht versucht, an den griechisch-orthodoxen Kirchenmännern festzuhalten. Es gibt einige wenige Zeugnisse, die Kirchen innerhalb der Stadt nennen, so bestätigt Papst Calixt II. im Jahr 1123 dem Kanonikerstift von Saint-Ruf in Avignon

116 Vgl. Thomas Asbridge, William of Tyre and the First Rulers of the Latin Principality of Antioch, in: Deeds Done Beyond the Sea. Essays on William of Tyre, Cyprus and Military Orders Presented to Peter Edbury (Crusades – Subsidia), hg. v. Susan B. Edgington, Farnham/Burlington 2014, 35–42, hier 36. 117 Vgl. Thomas Asbridge, The Holy Lance of Antioch. Power, Devotion and Memory on the First Crusade, in: Reading Medieval Studies 33, 2007, 3–36. 118 Vgl. Asbridge, Creation (wie Anm. 113), 15. 119 Vgl. Kirschberger, Erster Kreuzzug und Ethnogenese (wie Anm. 9), 23. 120 Vgl. Willelmi Tyrenensis Archiepiscopi, Chronicon. Guillaume de Tyr, Chronique, hg. v. Robert B. C. Huygens (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 63), Turnholt 1986; Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43). 121 Vgl. Albericus Aquensis, Historia Ierosolimitana (wie Anm. 90), 786; Jean-Luc Déjean, Les comtes de Toulouse 1050–1250, Paris 21988, 118–121; Jaspert, Die Kreuzzüge (wie Anm. 14), 44; Stephan Köhler, Von Toulouse nach Tripolis. Raimund von Saint-Gilles und die Provenzalen auf dem Ersten Kreuzzug, in: Gott will es. Der Erste Kreuzzug – Akteure und Aspekte, hg. v. Philipp Sutner / Stephan Köhler / Andreas Obenaus, Wien 2016, 23–42 122 Vgl. Jean Richard, Le comté de Tripoli sous la dynastie Toulousaine (1102–1187), Paris 1945, 58.

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die Kirche des heiligen Jakobus in Tripolis123. Es lässt sich weiterhin eine Niederlassung von Saint-Ruf von Avignon in Tripolis feststellen, ohne dass bei dieser Personen bekannt sind, die diese leiteten124. Hier ist also ein Fall festzustellen, in dem der neue Herrscher einer Abtei aus seiner Ursprungsregion eine Niederlassung anbot, wodurch vielleicht auch dem bisher vertrauten Heiligen in der neuen Heimat Verehrung zuteilwerden konnte. Ansonsten haben sich keine Papsturkunden erhalten, die etwas über kirchliche Bauten in dieser Stadt aussagen. In der Grafschaft von Tripolis wurde im Jahr 1157 in der Nähe der Hauptstadt das Zisterzienserkloster Balamand125 gegründet und auch in der Stadt Tripolis selbst gab es ein zisterziensisches Nonnenkloster126. Dies zeigt auf, dass nach einer anfänglichen Zeit der Etablierung der neuen Herrschaft scheinbar ein Interesse daran bestand, europäische Klostergemeinschaften auch in dieser Region anzusiedeln. Da die Kreuzfahrerherrschaften aber insgesamt nur einen begrenzten Zeitraum Bestand hatten, waren diese Klostergründungen nicht von Dauer und wurden nach dem Fall der verschiedenen Herrschaften aufgegeben. Eine Bedeutung kann für den Erzengel Michael festgestellt werden, unter dessen Patrozinium ein Augustinerchorherrenpriorat stand127. Der Kult des Erzengels war ursprünglich über Byzanz nach Süditalien gelangt und hatte von dort in den Westen ausgestrahlt128. Somit ist zu fragen, ob es bereits zuvor eine Verehrung des Engels in Tripolis gab, oder ob auch in diesem Falle die neuen Herrscher einen ihrer Heiligen installierten. Sollte es sich um letzteres handeln, war es aber sicherlich leicht diesen Kult zu etablieren, da der Erzengel auch in der griechisch-byzantini123 Vgl. Rudolf Hiestand, Papsturkunden für Kirchen im Heiligen Lande (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 136), Göttingen 1985, Nr. 24. Der Kult des heiligen Jakobus wird heute vor allem mit der Wallfahrt nach Santiago de Compostela in Verbindung gebracht. Vgl. Klaus Herbers, Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der „Liber sancti Jacobi“. Studien über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft im hohen Mittelalter (Historische Forschungen 7), Wiesbaden 1984; doch auch in Jerusalem erfuhr der Apostel Verehrung. Vgl. Mordechay Lewy, Body in „finis terrae“, Head in „terra sancta“. The Veneration of the Head of the Apostle James in Compostela and Jerusalem: Western, Crusader and Armenian Traditions, in: Hagiographica 17, 2010, 131–174.; Christian Popp, Konkurrenz für Santiago de Compostela? Die Verehrung des Kopfes des hl. Jakobus in Jerusalem, in: Jakobus und die Anderen. Mirakel, Lieder und Reliquien (Jakobus-Studien 21), hg. v. Volker Honemann / Hedwig Röckelein, Tübingen 2015, 123–144. 124 Vgl. Rudolf Hiestand, Saint-Ruf d’Avignon, Raymond de Saint-Gilles et l’Église latine du comté de Tripoli, in: Annales du Midi 98, 1986, 327–336; Wolfgang Antweiler, Das Bistum Tripolis im 12. und 13. Jahrhundert. Personengeschichtliche und strukturelle Probleme (Studia Humaniora 20), Düsseldorf 1991, 22. 125 Vgl. Souad Slim, Balamand. Histoire et patrimoine, Beirut 1995, 17. 126 Vgl. John Charles Arnold, The Footprints of Michael the Archangel. The Formation and Diffusion of a Saintly Cult, C. 300 – C. 800 (The New Middle Ages), New York 2013, 93–119. 127 Vgl. Antweiler, Das Bistum Tripolis (wie Anm. 124), 21 u. 194. 128 Vgl. Peter Schreiner, Aspekte der politischen Heiligenverehrung in Byzanz, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter (Vorträge und Forschungen 42), hg. v. Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994, 365–383, hier 372 ff.; Andrea Schaller, Der Erzengel Michael im frühen Mittelalter. Ikonographie und Verehrung eines Heiligen ohne Vita (Vestigia Bibliae 26/27), Bern u. a. 2006, 29 ff.

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schen Kirche eine wichtige Rolle spielt. Da die Quellen keine Auskunft über die bereits vorhandenen Kirchen geben, kann diese Frage nicht beantwortet werden. Ebenso wie bei der Kirche des heiligen Jakobus lässt sich anhand des Quellenmaterials nicht sagen, ob diese Kulte bereits ursprünglich vorhanden waren oder mit den neuen Herrschern erst in der Stadt etabliert wurden. Da es sich bei beiden um universell verehrte Heilige handelt, kann diesbezüglich auch keine Tendenz festgemacht werden, welche von beiden Möglichkeiten wahrscheinlicher ist. FAZIT Die vier Kreuzfahrerherrschaften wurden zu unterschiedlichen Zeiten errichtet und hatten unterschiedliche Bestandsdauer. Dennoch handelte es sich bei den Eroberern um Personen, die ausgezogen waren, die christliche Kirche des Ostens zu schützen und das Grab Christi zu befreien. Sie stießen in der Levante auf vorhandene christliche Traditionen und unterschiedliche christliche Denominationen, mit denen es im Zuge der Errichtung von eigenen Kreuzfahrerherrschaften umzugehen hieß. In den meisten Fällen wurden die griechisch-byzantinischen Kirchenstrukturen durch römisch-lateinische ersetzt, etwa bei der Besetzung der Patriarchenämter, aber auch die anderen kirchlichen Posten gelangten verstärkt in römisch-lateinische Hand. Zudem wurden durch die neuen Herren verschiedene Kirchen und Klöster gebaut, die teilweise Besitz von ehemals heimischen kirchlichen Einrichtungen darstellten. Oder sie unterstanden Kirchen und Klöstern Jerusalems, wodurch die Vernetzung zwischen den verschiedenen Kreuzfahrerherrschaften auf seelsorgerischer Ebene gewährleistet war. Dadurch, dass das Heilige Land wechselnde Herrschaftsverhältnisse erlebte, waren die heiligen Stätten teilweise in den Händen andersgläubiger Machthaber. Die Zerstörung der Grabeskirche ist ein besonderes Negativbeispiel für den Umgang mit Sakralorten der anderen Religion. Die Kreuzfahrer zerstörten nach der Eroberung Jerusalems weder die Aqsa-Moschee noch den Felsendom, sondern nutzten beides fort. Den Muslimen wurde weiterhin Zugang zu ihren heiligen Stätten innerhalb Jerusalems gewährt, obwohl sie dort nicht wohnen durften. Mittels der heiligen Orte konnte man seine eigene Macht stärken, sich als guter Herrscher präsentieren, aber man konnte auch gegen neue Kulte vorgehen oder vorhandenen Kultstätten ihre Berechtigung absprechen. Die Gefahr aber, bei einem neuen Herrschaftswechsel die eigenen Rechte an seinen Sakralorten zu verlieren, war zu groß, um die Gegenseite zu sehr gegen sich aufzubringen. Eine Duldung der anderen Religion an diesen Wirkorten konnte somit ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Politik werden. Es war im allgemeinen Interesse, die generelle Zugänglichkeit zu gewährleisten, da sich sonst im Falle eines Machtwechsels die Verhältnisse vor Ort ebenfalls geändert hätten. Dennoch scheint es bei der Begründung der Kreuzfahrerherrschaften nicht darum gegangen zu sein, die vorhandenen Kulte durch neue zu ersetzen. Die Untersuchungen von Hiestand und Riley-Smith haben aufgezeigt, dass während des Kreuzzuges die östlichen Heiligen an Bedeutung gewannen, weswegen diese in den

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Kreuzzugsberichten verstärkt erscheinen. So wurden beispielsweise in Edessa die verehrten Objekte in die neue Herrschaft integriert, etwa durch den Schwur auf das Kreuz von Varag. Auch in Antiochia stellten die normannischen Herrscher die besondere Bedeutung des Apostels Petrus für die Stadt heraus, indem sie sein Bildnis auf ihre Münzen prägten. Inwieweit in Tripolis neue Kulte etabliert wurden, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht mehr feststellen. Sowohl in Antiochia als auch in Tripolis wurde der Erzengel Michael verehrt, doch lässt sich nicht mehr sagen in welchem Ausmaße. In Antiochia ist dieser Kult seit der Spätantike belegt, während hierfür die Informationen bezüglich Tripolis fehlen. Insgesamt lassen sich nur wenige Patrozinien der Kirchen in den Quellen finden, die keine besonderen Tendenzen bezüglich der Verehrungspraxis aufzeigen. Es scheinen keine Heiligen aus dem Westen in den Osten mitgebracht worden zu sein, auch wenn die Kreuzfahrer des Ersten Kreuzzuges teilweise Reliquien zu ihrem Schutz bei sich trugen. Die vorhandenen Kulte scheinen ausreichend gewesen zu sein. Die Beschreibung Fulchers von Chartres, dass aus den Fremden Einheimische geworden sind129, scheint sich zumindest in der Übernahme der Verehrungstraditionen widerzuspiegeln. Es ist allerdings auch nicht außer Acht zu lassen, dass vermutlich die Sicherung der Kreuzfahrerherrschaften im Fokus der neuen Herrscher stand und weniger die Auseinandersetzung mit den Kulten. Hierfür waren die Zeiten vielleicht zu unruhig.

129 Fulcheri Carnotensis, Historia Hierosolymitana (wie Anm. 43), 468: Nam qui fuimus Occidentales, nunc facti sumus Orientales …

II. HEILIGE PERSONEN UND MACHT

DIE ŚAṄKARĀCĀRYAS UND DAS ŚARANNAVARĀTRĪ-FEST VON ŚṚṄGERĪ Zur Performanz von Sakralität und Macht in einer südindischen Tradition Karin Steiner Religiöse Führer und Würdenträger vereinen, und das ist kulturübergreifend der Fall, in ihrer Person sowohl Formen von Heiligkeit als auch von Macht. Häufig war und ist die Macht – und das nicht nur aus historischer Perspektive – keineswegs auf den Bereich des Religiösen beschränkt. Religiöse Würdenträger können gleichzeitig territoriale Fürsten, Regierungsoberhäupter von Staaten, Vorsitzende von Stiftungen oder Firmen sein. Häufig ist das mit ihnen verbundene Zeremoniell von höfischen Herrschaftsritualen beeinflusst oder stimmt sogar mit diesen überein. Aus transkultureller Perspektive werden ähnliche Strategien, Strukturen und Dynamiken sichtbar. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht das Zeremoniell und Ritual um ein religiöses Oberhaupt aus Südindien, das sich auf eine Tradition von nahezu 1200 Jahren beruft und sich für die vorliegende Thematik besonders anbietet. Śṛiṅgerī1, eine Kleinstadt im südindischen Bundesstaat Karnataka, ist der Überlieferung nach seit dem Jahre 834 Sitz des Oberhauptes der Institution Śrī Śāradāpīṭha „Sitz/Thron der Göttin ‚Weisheit‘“2. Seit 1989 ist Jagadguru Śaṅkarācārya Bhāratī 1

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Meine Feldforschung vor Ort begann Anfang 2012 und dauert bis heute an. Die Ausführungen zur geübten zeremoniellen und rituellen Praxis beruhen auf teilnehmender Beobachtung sowie auf zahlreichen informellen Gesprächen und Interviews mit verschiedenen Personen. Ohne die Zustimmung von Śrī Śrī Bhāratī Tīrtha Mahāsannidhānam sowie von Dr. V. R. Gowrishankar wäre die Forschung nicht möglich. Mein besonderer Dank gilt Dr. Giridhara Shastry, der auch in fünf Jahren nicht müde wurde, meine bohrenden Detailfragen zu beantworten. Die vollständige offizielle Bezeichnung lautet Śrī-Śrī-Jagadguru-Śaṅkarācārya-Mahāsaṃsthānam Dakṣināmnāya-Śrī-Śāradāpīṭham „Hauptwohnort des hochheiligen Weltlehrers und Meisters [in der Nachfolge] Śaṅkaras, der heilige Sitz der Göttin ‚Weisheit‘ südlicher Tradition“. Im alltäglichen Sprachgebrauch unter Insidern wird die Institution als maṭha bezeichnet, was man mit „Kloster[schule]“ wiedergeben kann, obwohl diese Übersetzung nur bedingt treffend ist. Der Überlieferung nach gibt es indienweit vier solcher Hauptklöster (āmnāya­maṭha), jedes für eine Großregion (Norden, Süden, Osten, Westen) zuständig. Dies wird in Indien als eine nicht bestreitbare Tatsache betrachtet, die auch juristisch Bestand hat. Das die südliche Region repräsentierende Kloster Śāradāpīṭha scheint aber die einzige dieser Institutionen zu sein, für die sich eine mehrere Jahrhunderte währende Kontinuität darstellen lässt, die mit einzelnen epigraphischen Zeugnissen bis ins 14. Jh. zurückreicht. Eine zunehmend bessere Quellenlage, auch Archivmaterialien, gibt es für die Jahrhunderte danach. Die Institution selbst bemüht sich um eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Publikation der Quellen, wovon allerdings die postulierte Geschichte vor dem 14. Jh. unberührt bleibt (s. A. K. Shastry, The Records of the Śṛiṅgerī Dharmasaṃsthāna. Śṛṅgerī, Śṛṅgerī Maṭha, 2009 sowie G. S. Ramachandra, A Glance through the

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Tīrtha Mahāsannidhānam der 36. Inhaber des Amtes. Designierter Nachfolger ist seit 2015 Jagadguru Śaṅkarācārya Viduśekhara Bhāratī Sannidhānam3. Zum Śāradāpīṭha, das sich über Spenden und Stiftungen finanziert4, gehören über 120 indienweite Zweigeinrichtungen. Neben religiösen Fragen widmen sich diese auch sozialen, medizinischen und erzieherischen Zielen5. In Śriṅgerī selbst umfasst die Einrichtung einen Komplex aus Verwaltungsgebäuden, verschiedenen Versammlungshallen und kleinen Grabtempeln verstorbener religiöser Oberhäupter sowie zwei großen Tempeln am nördlichen Ufer des Flusses Thuṅgabhadrā. Von besonderem Interesse ist hier der 1916 in großem Stil umgebaute und neu geweihte Tempel der Schutz- und Hauptgöttin der Institution, Śāradāmbā, „Mutter Weisheit“. Am südlichen Ufer befinden sich u. a. weitere Grabtempel, Wohn- und Bürogebäude der Oberhäupter und eine große Audienzhalle. Nach hausinterner Chronik geht die Tradition des Śāradāpīṭha in ungebrochener Lehrer-Schülerfolge auf den Asketen-Heiligen und Philosophen Śaṅkara (9. Jh.) zurück. So versteht sich eine der Amtsbezeichnungen der Oberhäupter, Śaṅkarācārya „Meister [in der Nachfolge] Śaṅkaras“. Der Meister ist Lehrinstanz einer Überlieferungsgemeinschaft, die manche als śāṅkara­saṃpradāya „śaṇkara-sche Überlieferung“ bezeichnen. Diese umfasst auch ein Konglomerat doktrinärer Inhalte, Metaphysik, Soteriologie, Theologie, sowie sozial konservative pflichtethische und ritualistische Vorschriften und Praktiken, die der Sphäre des brahmanisch-sanskritischen Hinduismus zugehören. Weit zentraler als diese Inhalte ist aber die persönliche Bindung einer hohen Anzahl von Großfamilien an die jeweiligen Amtsinhaber, die über viele Generationen gepflegt wird. Der Amtsinhaber wird als persönlicher spiritueller Lehrer (guru) betrachtet, dessen Segen und Rat die Anhänger regelmäßig und besonders in bestimmten Situationen einholen und dem damit beträchtlicher Einfluss auf Lebensentscheidungen und Alltag eingeräumt wird. Das bedeutet konkret, eine der Hauptaufgaben des Lehrers besteht in seelsorgerischer und humanitärer Tätigkeit. Diese Bindung beruht nicht auf einer formalisierten Mitgliedschaft und beinhaltet auch nicht zwingend die Übernahme

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History of Vidyaranyapura Sringeri, Chennai, Sri Chandrasekhara Bharati Brahmavidya Trust, 2011.) Śṛṅgerī blieb auch weitestgehend von den in anderen Regionen und Klosterschulen aufgetretenen Nachfolgestreitigkeiten und Skandalen frei. Bhāratī Tīrtha sowie Viduśekhara Bhāratī sind die individuellen Ordensnamen, die auch die Zugehörigkeit zur Ordinationstradition der Daśanāmī-Mönche, die Śaṅkara, der legendarische Ahnherr der Überlieferungemeinschaft, im 9. Jh. reformiert haben soll, anzeigen. Anstelle der Prädikate Mahāsannidhānam bzw. Sannidhānam sind auch die Bezeichnungen Mahāsvāmī-jī und Mahāsvāmī-gal gebräuchlich. Mahā- bedeutet „groß“, Svāmī (wörtlich „Herr, Gebieter“) ist in vielen Ordinationstraditionen Indiens die Amtsbezeichnung bzw. ein Namenszusatz für Mönche, -jī ist in Hindi und anderen indoarischen Sprachen, -gal in Kannada, ein Höflichkeitssuffix, das der deutschen Anrede „Herr n. n.“ entspricht. Historisch hatte das Kloster nicht unerheblichen Landbesitz, der aber seit den Landreformen und Enteignungen der 1950er Jahre größtenteils hinfällig ist. Auch schon während der Kolonialzeit war es zu Umstrukturierungen gekommen. Heutzutage ist die Institution ein Trust, dessen Geschäfte von einem C. E. O., Dr. V. R. Gowrishankar, geführt werden. Vorstand ist das jeweilige religiöse Oberhaupt. Vgl. das nach Bundestaaten gegliedert Verzeichnis auf https://www.sringeri.net/branches (letzter Zugriff am 4.9.2017).

Die Śaṅkarācāryas und das Śarannavarātrī-Fest von Śṛṅgerī

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festgelegter Glaubensinhalte oder Praktiken, außer dem zumindest nominalen Respekt gegenüber dem Lehrer. Es besteht für ein Individuum, das in eine solche Tradition hineingeboren wird, keinerlei Verpflichtung, persönlich und ausschließlich dieser zu folgen. Während religiöser Feiertage besuchen zahlreiche Pilger, auch Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft, die Tempel und das Kloster von Śṛṅgerī und machen dem Śaṅkarācārya ihre Aufwartung. Die Bindung an den Lehrer geht auch einher mit dem festen Glauben an seine übernatürlichen Kräfte, die in Wundern, z. B. Heilungen und Gebetserhörungen, zum Ausdruck kommen. Gefragt ist aber auch die Expertise der Śaṅkarācāryas in Bereichen traditioneller Gelehrsamkeit, rituelle und doktrinäre Fragen, die vorgelegt werden können und dann gegebenenfalls durch den Meister selbst oder durch Fachleute innerhalb der Institution behandelt werden. Die Śaṅkarācāryas von Śṛṅgerī verhalten sich politisch neutral, d. h. sie beziehen nicht öffentlich Stellung zu tagespolitischen Fragen und stehen keiner Partei nahe, im Gegensatz zu anderen Śaṅkarācāryas und religiösen Führern in Indien. Die zweite Amtsbezeichnung, Jagadguru „Weltlehrer“, bedeutet nach einer häufig von Anhängern wiedergegebenen Aussage des amtierenden Bhāratī Tīrtha Mahāsannidhānam nicht, dass alle Welt ihm Gehorsam schulde, sondern, dass er „available to all world“ sei. Diese Amtsauffassung bringt es mit sich, dass die Veranstaltungen, von denen im Folgenden die Rede sein wird, öffentlich und nicht exklusiven Zirkeln vorbehalten sind und dass jeder, der dies wünscht, zum Jagadguru vorgelassen wird. Allerdings ist es auch mit Sondergenehmigung nur schwer möglich, private Foto- oder Videoaufnahmen von öffentlichen Auftritten oder Ritualen und Zeremonien in Anwesenheit des Jagadguru zu machen, ohne den Unmut von Sicherheitsleuten oder Ordnern zu erwecken. Alle Ereignisse werden durch den privaten Sender Sankara TV oder von Personal des Śāradāpīṭha aufgezeichnet, das sich in den letzten Jahren zunehmend um eigene Video-Dokumentation bemüht. Viele Video- und Bildmaterialien werden in den sozialen Medien publiziert. Auch besondere Verehrungen (Skt. pūjā)6, die die Jagadgurus im traditionell isolierten sanctum sanctorum (garbhagṛha) des der Göttin Śāradāmbā geweihten Haupttempels vollziehen, werden per Video über Monitore innerhalb des Tempels und auf einen Großbildschirm in den Hof übertragen. Der Jagadguru ist ein geweihter Entsagender (sannyāsin), ein Asket und Mönch, der wie jeder Entsagende laut Regel über keinen festen Wohnsitz und kein weiteres Privateigentum als die Paraphernalia des Ordens verfügen darf, was zu einem interessanten Spannungsverhältnis führt mit ganz anderen Insignien, von denen im Folgenden die Rede sein wird, und auch zu gewissen Annehmlichkeiten, die dem Amtsinhaber von reichen Anhängern zur Verfügung gestellt werden, wie etwa die beiden weißen Mercedes-Limousinen. Ich habe mich gefragt, welche Faktoren zur Erzeugung oder Etablierung dieser spezifischen Form von Macht, die den Śaṅkarācāryas von Śṛṅgerī zweifelsohne zukommt, beitragen. Diese Macht wird nicht in einem einmaligen Akt durch die Übernahme des Amtes auf den Inhaber „übertragen“, sondern wird durch diese 6

Alle originalsprachlichen Begriffe sind, wenn nicht anders vermerkt, in der klassischen Sprache Sanskrit, die im Zeremoniell und Ritual verwendet wird.

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Faktoren geschaffen und in einem kontinuierlichen Prozess immer wieder erneuert und aufrechterhalten. Die Machtfaktoren werden in Handlung, Wort, Bild und Schrift, live und in Medien7 öffentlich „performiert“ und es ist wesentlich für den Erhalt der Macht, dass das „Publikum“, die Anhänger, die Gläubigen, diejenigen, die das Gegenüber der Machthaber und ihrer Akteure bilden, immer wieder von neuem mit diesen Faktoren in Berührung kommen. Mein besonderes Augenmerk liegt also auf der Performanz. Zur Performanz gehören performative Akte wie Zeremonial- oder Ritualhandlungen, aber auch jede Form von Information, mit der die Öffentlichkeit in Berührung gebracht wird, und alles, was daraus durch Weitergabe und somit Vervielfältigung erwächst. Die machterzeugenden, performativen Faktoren werden während der Śarannavarātrī-Feierlichkeiten besonders komprimiert und intensiv sichtbar. Śarannavarātrī, das „Herbstfest der neun Nächte“, das indienweit mit vielen regionalen und lokalen Eigenheiten im September/Oktober gefeiert wird, ist das bedeutendste religiöse Fest im lokalen rituellen Kalender. Nach Auffassung von Trägern dieser Tradition hat dieses mehrtägige Festritual insbesondere die Funktion, die königsgleiche Majestät des Jagadguru zum Ausdruck zu bringen. Als Machtfaktoren bezeichne ich folgende Aspekte: 1. Protokoll und Etikette Es handelt sich hier in allen Aspekten um geübte und tradierte Praxis, wobei die Frage offen ist, was seit wann wie praktiziert wird. Es gibt keine einschlägigen präskriptiven Zeremonialhandbücher. Der Bezug zu höfischem Zeremoniell ist offensichtlich, aber noch nicht aufgearbeitet. 1.1. Amtsbezeichnung Als solche betrachte ich das bereits erläuterte Jagadguru „Weltlehrer“ sowie Śaṅkarācārya „Meister [in der Nachfolge] Śaṅkaras“ bzw. „Meister Śaṅkara“ (zu weiteren Implikationen vgl. auch unter Punkt 5)8. 1.2 Beinamen und Titel Neben den Amtsbezeichnungen kommen den Jagadgurus von Śṛṅgerī eine große Anzahl weiterer Beinamen und Titel zu, die in zwei Sanskrit-Texten zusammengestellt sind. In diesen kommen unter anderem auch die Aufgaben der Jagadgurus zum Ausdruck, ebenso wie die an sie gerichteten Erwartungen, die mit der Amtsübernahme einhergehen.

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Dazu zählen auch das Fernsehen, eine gut geführte Website (https://www.sringeri.net/) und die sozialen Medien wie Instagram, YouTube oder Pinterest, auf denen Video- und Bildmaterial veröffentlicht wird. Die Bezeichnungen Jagadguru kommt auch Oberhäuptern anderer religiöser Traditionen zu und als Śaṅkarācārya werden auch die Oberhäupter anderer Klöster dieser Tradition bezeichnet. Ob Personen diese Bezeichnungen zu Recht führen, kann Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten vor weltlichen Gerichten sein.

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Man muss sich vor Augen führen, dass insbesondere während der ŚarannavarātrīFeierlichkeiten überall, wo einer der Jagadgurus öffentlich auftritt, eine größere Menschenmenge wartet. Ein „Ausrufer“ oder „Ankündiger“ (pāṭhaka) führt das Gefolge des Guru mit einem großen silbernen bzw. bei bestimmter Gelegenheit goldenen Stab an und bahnt ihm den Weg. Dabei kommt der erste Text „śrījagad­ gurustuti­pāṭhaka­padyāvali“9, zum Tragen, der im Voranschreiten durch den Ausrufer rezitiert wird. In voller Länge dauert dies über zwei Minuten, je nach Situation wird auch nur ein Teil des Textes verwendet. Am Ende der Aufzählung steht als einziges individuelles Element der Name des auftretenden Amtsinhabers. Ein zweiter, ähnlicher Text, Birudāvali, „Reihe der Titel“10, hat amtlicheren Charakter als die Gurustuti. Er besteht in der Aufzählung von 18 Titeln und findet Verwendung bei offiziellen Verlautbarungen (śrīmukha) in Schrift und Wort, etwa im Briefkopf von Schreiben. Bei Ordensverleihungen, die im Rahmen einer besonderen Veranstaltung während Navarātrī stattfinden können, wird die Titelaufzählung laut rezitiert.

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Die Anfänge und einige Teile der beiden Texte stimmen überein. Ihre Analyse ist höchst aufschlussreich, würde aber an dieser Stelle zu weit führen. Der Wortlaut der Jagadgurustuti „Lobpreis des Weltlehrers“ wird zitiert nach einer Rezitation durch Giridhara Shastry, aufgezeichnet am 15.7.2017: śrīmat­paramahaṃsa­parivrājakācārya­varyo pada­vākya­pramāṇa­pārāvāra­pārīṇo yama­niyamāsana­prāṇāyāma­pratyāhāra­dhāraṇā­dhyāna­samādhy­aṣṭāṅga­yogo mantra­tan­ tra­sāmārthya­pravīṇa­dhurīṇo rājādhirāja­guru­bhū­maṇḍalācārya­varyo ṛśyaśṛṅga­pura­ varādhīśvaro bhūriguṇagambhīro brahma­mārga­vicāro veda­vedānta­vidyāvalī­dakṣo kavi­ pāṭhakāneka­kalpavṛkṣo sāra­ṣaḍdarśana­sthāpanācārya­varyo māra­ghana­darpāndha­kāra­ jaya­sūryo ṣaṇ­mata­sthāpanācārya­navīnāṅgo ghana­kīrti­racita­gaṅgā­taraṅgo vara­tarka­ śabdādi­śāstra­sampūrṇo paramātma­niṣṭha­muni­kula­śiro­ratno jaya­bhāratī­devī­caraṇābja­ sāraṅgo parama­puṇyodaya­pāvanāṅgo śaṅkarācāryāṅghri­paṅkaja­sāraṅgo sakala­vedānta­ śāstra­prasaṅgo śṛṅgapura­vara­dharma­siṃhāsaneśo gaṅgā­pravāha­sannibha­vāg­vilāso śrīman­mahārāja­sevitārcita­pādo pāda­tīrtha­pavitrita­parama­sujano svāmi­gururāja­paṭṭa­ bhadro vyākhyāna­siṃhāsanādhīśvaro śāradā­savilāsa­naṭanīya­taraṅgo nārada­vyāsa­śuka­ muni­guṇa­taraṅgo puṇya­puruṣa­yogi­bhū­sura­jana­rakṣo rakṣaṇāḍhya­kṛpā­kaṭākṣa­vīkṣo kāma­lobha­krodha­kari­kula­mṛgendro bhīma­mada­moha­matsara­kamala­candro ubhaya­cā­ mara­dhavala­śaṅkha­niśśaṅko vibhava­ghana­kanaka­vādyādi­birudāṅko candra­maulīśvara­ sevā­dhuran­dharo dhārādhara­prabhādhāna­caturo puṇya­sañjāta­śṛṅgerī­pura­vihāro …; am Ende folgt der Name des auftretenden Jagadguru. Die Birudāvali lautet nach Angaben von Giridhara Shastry: śrīmat­paramahaṃsa­ parivrājakācārya­varya­pada­vākya­pramāṇa­pārāvāra­pārīṇa­yama­niyamāsana­ prāṇāyāma­pratyāhāra­dhāraṇā­dhyāna­samādhy­aṣṭāṅga­yogānuṣṭhāna­niṣṭha­tapaś­ cakravārty­anādya­vicchinna­śrī­śaṅkarācārya­guru­paraṃparā­prāpta­ṣaḍ­darśana­ sthāpanācārya­vyākhyāna­siṃhāsanādhīśvara­sakala­nigamāgama­sāra­hṛdaya­sāṅkhya­ traya­pratipādaka­vaidika­mārga­pravartaka­sarva­tantra­svatantra­ādi­rājadhānī­vijaya­ nagara­mahā­rāja­dhānī­karṇāṭaka­siṃhāsana­pratiṣṭhāpanācārya­śrīmad­rājādhirāja­ guru­bhū­maṇḍalācārya­ṛśyaśṛṅga­pura­varādhīśvara­tuṅgabhadrā­tīra­vāsi­śrīmad­ vidyāśaṅkara­pāda­padmārādhaka­ … Der letzte Teil wird jeweils aktualisiert und beinhaltet u. a. die Namen des aktuellen Amtsinhabers, seines Vorgängers und gegebenenfalls seines designierten Nachfolgers.

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1.3 Anrede bzw. Prädikat Die Anrede bzw. das Prädikat Mahāsannidhānam für den älteren Amtsinhaber bzw. Sannidhānam für den designierten Nachfolger kommt religiösen Würdenträgern anderer Traditionen, aber auch Mitgliedern königlicher Familien, z. B. den Mahārājās von Mysore, zu, ist also ein nicht exklusiv geistliches Prädikat. Frei übersetzt entspricht es „euer/seine Hoheit“ bzw. „Heiligkeit“. 1.4 Respekterweisung Die angemessene Form der Respekterweisung ist die vollständige oder teilweise Prostration oder deren Andeutung durch Herabbeugen und Berührung des Bodens (d. h. die symbolische Berührung der Füße der Respektsperson). Vollständige Prostrationen (aṣṭāṅganamaskāra) vollziehen ausschließlich Männer. Frauen oder gebrechliche Personen berühren kniend mit Kopf und Händen den Boden (pañcāṅganamaskāra). Formen der Prostration sind gebräuchlich bei Audienzen, wenn man als Zuschauer den Weg des Lehrers säumt oder bei weiteren zeremoniellen Gelegenheiten. Vollzieht eine Person keine dieser Respekterweisungen, hat sie jedoch keine Sanktionen zu erwarten. Die Prostration ist, was naheliegt, Ausdruck vollständiger Unterwerfung von Seiten des Gläubigen, der aber im Gegenzug den wirkmächtigen Segen des Lehrers erwarten darf. Hier wird besonders deutlich, wie die Macht des Gurus auf Gegenseitigkeit, Austausch und Kommunikation beruht. Titel und Amtsbezeichnungen, insbesondere Jagadguru, „Weltlehrer“, sowie das Prädikat Mahāsannidhānam sind augenscheinliche Machtfaktoren. Durch ihre Benutzung kommen – je nach Perspektive – ein Machtanspruch oder eine Machtzuschreibung zum Ausdruck. Jede Person, die damit in Wort, Schrift oder Bild in Berührung kommt, ist mit diesem Anspruch oder dieser Zuschreibung konfrontiert und kann sich entscheiden, wie sie sich dazu verhalten möchte. Gleiches gilt für den Umgang mit der von der Etikette geforderten Respekterweisung. Ebenso kann der Inhaber der Macht entscheiden, wie er mit der dargebrachten Respekterweisung oder der Verweigerung derselben umgehen möchte und in welchem Umfang er Segen spendet. Es handelt sich also um eine auf Gegenseitigkeit beruhende Dynamik, die nicht nur für diesen Aspekt von Macht gilt. 2. Normative Vorstellungen: Die indigene Theorie der Macht Hier verdient auch ein normativer Text, Maṭhāmnāya-mahānuśāsana (MM), „Die Tradition der Klöster und die große Unterweisung“11, Erwähnung, der dem Gründungsvater Śaṅkara zugeschrieben wird. Obwohl seine Authentizität selbst innerhalb der Śaṅkara-Tradition mit Recht umstritten ist, decken sich die Inhalte mit Auffassungen, die in der lebendigen oralen Tradition gegenwärtig sind12. Da in 11

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Maṭhāmnāyamahānuśāsana hg. v. Kāmeśvaranātha Miśra, Vārāṇasī vikramābda 2062. Der Herausgeber gibt keine Auskunft über verwendete Manuskripte. Die beiden Texte Maṭhāmnāya und Mahānuśāsana werden von ihm nicht getrennt. Das Mahānuśāsana (MM 48–73) folgt nach dem letzten als Śeśāmnāya bezeichneten Abschnitt. Für Śṛṅgerī hat dieser Text keine große Bedeutung, da die gewachsenen Traditionen auch ohne normative Texte etabliert sind und durch kontinuierliche Praxis sowie mündliche Weitergabe

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diesem das indigene Konzept oder die Theorie der spezifischen Macht des Jagadguru dargelegt wird, ist er in unserem Zusammenhang von Interesse. In diesem Text wird zunächst der indische Subkontinent in vier regionale Traditionen (āmnāya) unterteilt nach den Haupthimmelsrichtungen, jede Tradition wird durch einen „Sitz“ in der jeweiligen Großregion repräsentiert. Das Kloster von Śṛṅgerī steht für die südlichen Teile des Subkontinents, die im Text (MM 32) ausdrücklich als von Śrṅgerī „abhängig“ (adhīna) bezeichnet werden, nach heutiger politischer Einteilung die dravidisch-sprachigen, südindischen Bundesstaaten. Nach dem Mahānuśāsana hat der Jagadguru die Aufgabe, über die Einhaltung der sozio-religio-kosmischen Grundordnung sowie der religiösen und ethischen Pflichten in seinem Hoheitsgebiet zu wachen und bei Verstößen Strafen zu verhängen. Er soll ständig umherreisen, um seine Herrschaft/sein Reich zu festigen (rāṣṭra­prathiṣṭhityai, MM 51). Dabei wird versucht, eine Art Gewaltenteilung zwischen König und dem diesem als ebenbürtig erachteten Weltlehrer zu konstruieren, wobei dem Weltlehrer gleichsam eine Weisungsbefugnis dem König gegenüber zuerkannt wird. Dem König obliegt es, die vom Weltlehrer verhängten Strafen durchzusetzen. Im Dienste dieser Aufgabe kommen dem Weltlehrer königliche Insignien und Respekterweisungen zu und insgesamt von Statussymbolen begleitete Machtäußerung (vibhava) (MM 62–63). Signifikant sind die Wörter rāṣṭra „Herrschaft/Reich“ sowie vibhava „Macht, Kraft, Herrschaft, Vermögen, Besitz, Luxus“. Rāṣṭra meint hier eher den institutionalisierten, organisierten, vibhava den performativ-expressiven Aspekt von „Macht“, also „Machtäußerung“. Auf diese Form der Machtäußerung werde ich unter Punkt 5 zurückkommen. 3. Qualifikation Ein weiterer Faktor sind aus der Person des Lehrers selbst erwachsende oder ihm angeborene Fähigkeiten, denen aus der Binnenperspektive „Macht“ inhäriert. Entscheidend sind aber nicht diese Fähigkeiten an sich, sondern die Tatsache, dass sie öffentlich bekannt und besprochen werden13. Dies wird deutlich, wenn man die jüngste Entwicklung in den Blick nimmt. Der Auswahl des designierten Nachfolgers ging ein längerer Entscheidungsprozess des Amtsinhabers voraus. In die engere Wahl kommen grundsätzlich junge Schüler aus dem Umfeld des Weltlehrers. Als Grundvoraussetzung erfüllte der Anwärter in höchstem Maße die geforderten Qualifikationen: Er muss einem asketischen Leben in vollkommener innerlicher Entsagung und Nichtanhaftung bei gleichzeitiger Konfrontation mit quasi-königlichen Ehren und Statussymbolen gewachsen sein. Zusätzlich zu den häufigen Audienzen in Śṛṅgerī und auf Reisen sowie traditionell-akademischen Studien ist täglich

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erhalten werden. In anderen regionalen Traditionen (s. Anm. 2) spielt er allerdings eine gewichtige Rolle und wird auch in juristischen Streitigkeiten um das Recht zur Sukzession herangezogen, da der Text einige Aussagen hierzu macht, insbesondere zur Frage der Qualifikation eines Anwärters und das Recht zur Absetzung bei Fehlverhalten. Die Interpretationen besagter Textstellen sind allerdings umstritten. Dies ist eine Form oraler Hagiographie, die trotz der erkennbaren Orientierung an überlieferten Topoi auch individuelle Züge aufweist und spätestens nach dem Ableben des Betreffenden gedruckt und publiziert wird.

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ein stundenlanges Programm religiöser und asketischer Observanzen, Übungen und Rituale zu bewältigen. Grundsätzlich stellt die Entsagung, die Askese, eine höchst bedeutsame Quelle von Macht unabhängig von Amt und Institution dar. Die geradezu materiell gedachte Anhäufung von Macht durch Askese ist eine feste Größe panindischer Geistes- und Kulturgeschichte. Ebenso wird ein Höchstmaß von Gelehrsamkeit in allen traditionalen Wissenschaften (śāstra) gefordert. Viele Erzählungen kursieren über die in jeglicher Hinsicht herausragenden asketischen und intellektuellen Fähigkeiten des jungen Jagadguru, die in vollem Umfang denen seiner illustren Vorgänger ebenbürtig sind, was der wohl entscheidende Punkt ist. 4. Auserwähltheit Qualifikationen alleine waren aber nicht ausreichend, um die Wahl zu begründen. Aus gut informierten Kreisen wird berichtet, dass der amtierende Jagadguru lange gezögert habe, sich auf eine Person festzulegen. Schließlich habe er sich in das Allerheiligste des Tempels der Śāradāmbā zurückgezogen und den diensthabenden Priester gebeten, den Raum zu verlassen. Dazu ist der Jagadguru infolge seines Amtes befugt, das auch beinhaltet, dass er höchster und reinster Priester der Göttin ist. Er habe die Göttin um ein sichtbares Zeichen zur Bestätigung seiner inneren Wahl gebeten. Dieses habe sie in Form einer herabfallenden Blüte aus dem Blumenschmuck ihrer Kultstatue gewährt. Die Auserwähltheit durch die Göttin ist ein weiterer Faktor, der zu dieser spezifischen Machtausstattung beiträgt. 5. Ununterbrochene Sukzession14 Bald darauf organsierte der Jagadguru die öffentliche Asketenweihe und damit Designierung des erwählten Nachfolgers, ein komplexes Ritual, auf dessen Einzelheiten ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Traditionell erteilt der Jagadguru von Śṛṅgerī, um Nachfolgestreitigkeiten auszuschließen, nur einer einzigen Person persönlich die Asketenweihe, die auch mit der Verleihung eines individuellen Ordensnamens verbunden ist. Von da an führt der junge Jagadguru auch die oben genannten Bezeichnungen und Titel. Die eigentliche Amtseinführung, bezeichnet als Thronweihe (paṭṭābhiṣeka)15, erfolgt erst nach dem Ableben des Amtsinhabers. Allerdings ist es üblich, dass der junge Nachfolger immer mehr öffentliche Auftritte des älteren Jagadguru übernimmt. Diese Praxis, die direkte und ununterbrochene Lehrer-Schüler-Folge (guru­śiṣya­paraṃparā), sowie die schrittweise öffentliche Einführung ist ein weiterer machterzeugender Faktor, der besonders stark im Zusammenhang mit der Legitimierung gesehen werden muss. Auch in der Amtsbezeichnung Śaṅkarācārya, die die Lehrer-Schülerfolge bis zum Ahnherrn der Tradition zurück14 15

Die Bedeutung der Sukzession im Hinblick auf verschieden Kulturräume und Epochen wird diskutiert in dem Sammelband von Almut-Barbara Renger und Markus Witte (Hg.), Sukzession in Religionen: Autorisierung, Legitimierung, Wissenstransfer. Berlin/Boston 2017. Zur Thronweihe des amtierenden alten Jagadguru im Jahr 1989 vgl. Catherine ClémentinOjha 2006, Replacing the Abbot. Rituals of Monastic Ordination and Investiture in Modern Hinduism, in: Asiatische Studien. Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft / Études asiatiques. Revue de la Société Suisse-Asie 60 (2006), 535–573.

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führt, kommt dies zum Ausdruck. Hier könnte man auch das Moment eines bestimmten Amtscharismas diskutieren. 6. Śarannavarātrī: Darbar Kommen wir zu einem Punkt, den ich bei der Frage nach der „Erzeugung von Macht“ für den gewichtigsten halte. Es geht um das Auftreten, den Habitus, die Aufmachung, Statussymbole und um die Spatialität, Anordnung und Bewegung im Raum der Akteure bei bestimmten Ereignissen. Ich beziehe mich auf zeremoniell-rituelle Feierlichkeiten, in denen der Jagadguru als königlicher Machthaber inszeniert wird. Das wichtigste religiöse Fest in Śṛṅgerī ist wie erwähnt Śarannavarātrī16 das „Herbstfest der neun Nächte“ zu Ehren der Großen Göttin, in verschiedenen Formen und Manifestationen, indienweit privat und in Institutionen mit vielen lokalen Besonderheiten begangen17. Traditionell ist es stark mit Königshäusern verbunden. Es oblag dem König, dieses Ritual jährlich zu Ehren seiner Reichsgöttin, als Manifestation der großen Göttin betrachtet, zu Erneuerung seiner Herrschaft zu begehen. In Śṛṅgerī steht der Jagadguru im Zentrum umfangreicher, täglich mit Abwandlungen wiederkehrender Rituale und ritualisierter Vorgänge. Diese sind größtenteils nicht spezifisch für Navarātrī, wenn sie auch außerhalb der Festzeit nicht derart gehäuft, elaboriert und prunkvoll durchgeführt werden. Für die vorliegende Fragestellung besonders interessant ist der sogenannte „Darbar“, der in dieser Form ausschließlich während der neun Tage vom 1. bis zum 9. Tag nach Neumond allabendlich stattfindet18 und als das herausragendste und öffentlichkeits16

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Trotz der Bezeichnung „Herbstfest der neun Nächte“ dauert das Fest in Śṛṅgerī (wie auch an manchen anderen Orten) eigentlich 15 lunare Tage, vom Neumondtag des Hindu-Monats Bhadrapada bis zum Vollmondtag des Monats Āśvina. Da die lunaren Tage nicht deckungsgleich sind mit den solaren kann die Dauer auch mehr als neun bzw. 15 solare Kalendertage betragen. Öffentlich wahrgenommen und mit besonderem Aufwand zelebriert werden aber nur die elf lunaren Tage vom 1. Tag bis zum 11. Tag nach Neumond. Besonders bezeichnet werden der 9. Tag, Mahānavamī „der große neunte [lunare Tag]“ sowie der 10. Tag Vijayadaśamī „der Sieges-zehnte“, an denen einige besondere Ereignisse stattfinden. Am 11. Tag (ekādaśī) findet eine Prozession (rathotsava) zu Ehren der Göttin Śāradāmbā statt, in der ihr Prozessionskultbild (utsavavigraha) auf dem großen Tempelwagen fährt und die Jagadgurus in Sänften teilnehmen. Im Jahre 2016 war der Zeitraum vom 30. September bis zum 16. Oktober, die von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Feierlichkeiten endeten am 12. Oktober. Es gibt kein Zeremonial- und Ritualhandbuch, in dem der Gesamtablauf der Feierlichkeiten präskriptiv dargelegt wird. Davon zu unterscheiden sind die üblichen Manuale für einzelne Rituale, z. B. bestimmte Verehrungen (pūjā) oder Feueropfer (homa) die täglich oder an bestimmten Tagen im Verlauf der Feierlichkeiten vollzogen werden. Quellenmaterial über die Abläufe in früheren Zeiten sind Protokolle über die gesellschaftlichen und geschäftlichen Abläufe, in denen z. B. prominente Teilnehmer, Einnahmen durch Spenden und Stiftungen und Ausgaben für Opfergaben und Bewirtung verzeichnet werden. Eine ausführliche Dokumentation aller Details und der täglichen Besonderheiten befindet sich in Vorbereitung. Die folgende, verkürzte und auf bestimmte Aspekte zugespitzte Beschreibung stützt sich insbesondere auf die Teilnahme am Darbar vom 1.–9. Oktober 2016 sowie vom 21.–29. September 2017. Ich danke Perathiba Mohanathas für ihre Unterstützung bei der Dokumentation der komplexen Vorgänge, für die die Fähigkeit zur Bi- oder besser „Multi-“ lokation hilfreich wäre.

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wirksamste Ereignis der Festzeit gelten kann, wenn auch vom Standpunkt der religiösen Spezialisten aus andere rituelle Unternehmungen bedeutender sind. Darbar bezeichnet die fürstliche bzw. königliche Hofhaltung, Audienz oder Hofversammlung, in deren Rahmen traditionell z. B. Ehrungen oder Lehen verliehen, Abgaben entrichtet, Anliegen vorgetragen oder Rechtsangelegenheiten verhandelt werden konnten sowohl bei Hindu- als auch bei muslimischen Fürsten. Diese Funktionen sind in Śṛṅgerī heutzutage nicht mehr in dieser Form gegeben, werden teilweise im zeremoniellen Ablauf aber dennoch berücksichtigt. Protagonisten dieses herausragenden Ereignisses sind der Jagadguru19 und die Göttin „Mutter Weisheit“ repräsentiert durch ihre Kultbilder20. Wichtig sind aber auch die Gläubigen, sowohl Funktionsträger als auch Laien. Es handelt sich um ein vielschichtiges performatives Gesamtkunstwerk, das höchsten ästhetischen Ansprüchen genügt und eine starke emotionale „Sogwirkung“ entwickelt. Es wird, exemplarisch, deutlich, wie Macht mittels verschiedener performativer Elemente, die der Sichtbarmachung dienen, generiert wird. Vielschichtig ist die Präsentation deshalb, weil bestimmte Aspekte der Inszenierung einerseits klar der „Machterzeugung“ in Bezug auf den männlichen Protagonisten dienen, eine spezifische Machtfülle, Reichtum und Hierarchie wird zum Ausdruck gebracht. Andererseits wird aber gleichzeitig die völlige Distanzierung seiner Person von diesen „Dingen der Macht“ angedeutet. Zum Dritten wird auf die Quelle dieser Macht, die in der weiblichen Protagonistin liegt, verwiesen. Zentral ist insbesondere das Sichtbarmachen der Beziehung zwischen den beiden Protagonisten. Es handelt sich um eine protokollarisch festgelegte, ritualisierte Performanz, die aber keineswegs „operettenhaft“ künstlich wirkt und geeignet ist, auch bei skeptischen Teilnehmern, umso mehr bei den Gläubigen, Ergriffenheit zu erzeugen. Dies ist vielleicht sogar ihr wichtigster Aspekt21. Schauplatz ist der Śāradāmbā-Tempel, in dem sich schon Stunden vor Beginn die Zuschauer zu versammeln beginnen. Im Zentrum des Eingangsbereiches steht 19

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2015 führten beide Jagadgurus, Bhāratī Tīrtha Mahāsannidhānam und Viduśekhara Bhāratī Sannidhānam, den Vorsitz über den Darbar. Heidrun Brückner konnte an diesen Feierlichkeiten teilnehmen. Seit 2016 nimmt nur noch Viduśekhara Bhāratī, der designierte Nachfolger, alleine die Funktion wahr. Die Göttin ist in drei Kultbildern repräsentiert, die unterschiedliche Grade der Heiligkeit/Reinheit und damit auch Wirkmacht aufweisen: Das unbewegliche Hauptkultbild (mūlavigraha), das niemals bewegt oder gar entfernt wird, besitzt den höchsten Grad an Heiligkeit und Wirkmacht. Es steht im Allerheiligsten, dessen Tür zu Besuchszeiten für die Gläubigen und während der in Rede stehenden Veranstaltung geöffnet ist. Ebenfalls permanent im Allerheiligsten befindet sich ein weiteres, kleines und tragbares Kultbild (balivigraha), das nur bei wenigen Gelegenheiten für begrenzte Zeit außerhalb benötigt wird. Durch seine ständige Nähe zum Hauptkultbild wird ihm eine diesem fast gleichwertige Heiligkeit zugeschrieben. Den geringsten Grad an Heiligkeit weist das Prozessionsbild (utsavavigraha) auf, da es sich ständig außerhalb des Allerheiligsten befindet und infolge des dadurch gegebenen Kontaktes mit einer Vielzahl von Personen einer starken Kontamination ausgesetzt ist. Die Erzeugung von Ergriffenheit verweist auf die rasa-Theorie der klassischen indischen Ästhetik. Die sicherlich fruchtbare Interpretation in diesem Lichte sprengt allerdings den Rahmen des vorliegenden Artikels.

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der silberne Thron des jungen Jagadguru auf einem Podest. Der goldene Thron, der Mahāsannidhānam vorbehalten ist, wird nicht verwendet. Die Throne werden als vyākhyānasiṃhāsana „Thron des Erklärens“ also eigentlich „Lehrstuhl“ bezeichnet. Die offizielle englische Übersetzung lautet allerdings „Throne of Transcendental Wisdom“. Das Kommen von Jagadguru Viduśekhara Bhāratī Sannidhānam kündigt sich an, in dem seine asketischen Paraphernalia, Stab (daṇḍa) und Wasserkanne (kamaṇḍalu), in den Bereich des Allerheiligsten verbracht werden. Kurz danach zieht er in Begleitung seiner Ehrengarde in königlicher Aufmachung, mit Krone (kirīṭa), Brokatgewand und kostbaren Goldhalsketten, durch den Haupteingang ein. Anlässlich des Darbar ist die Garde livriert und besonders zahlreich. Es handelt sich um ein Ensemble von Musikern und Träger der verschiedenen Ehrenzeichen, die exakt königlichen Paraphernalia entsprechen: Ehrenschirme in verschiedenen Farben, der bedeutendste weiße Schirm (cattra), zwei Stäbe in Gold, die Wedel aus Yakschweifhaar (cāmara), Fackeln trotz (Tages-)licht (Kannada hagaludīvaṭige) sowie ein zwischen zwei Stangen gespanntes Banner (makaratoraṇa). Der Thron ist genau auf einer Achse, für den Sitzenden auf Augenhöhe mit dem im Allerheiligsten befindlichen Hauptkultbild der Göttin aufgestellt, so dass für den Jagadguru der frontale Blick, mit Zugewandtheit des ganzen Körpers, auf die Göttin gegeben ist. Dies ist eine große Besonderheit, die auch nicht bei der regelmäßigen Verehrung der Göttin gegeben ist. Priester (ārcaka) oder auch der Jagadguru selbst sitzen dabei innerhalb des Allerheiligsten die linke Seite der Göttin zugewandt, den Blick Richtung Norden. Auch keinem Tempelbesucher ist jemals der langanhaltende, frontale Blick auf das Kultbild möglich, da dies im Alltagsbetrieb eine vom Haupteingang bis zum Treppenaufgang zum Sanctum reichende Absperrung verhindert. Man kann sich lediglich über die Absperrung beugen, um einen kurzen Blick auf die Göttin zu werfen. Ein weiteres Privileg, das ausschließlich die Jagadgurus genießen, ist, dass sie den Tempel mit ihren Sandalen (pāduka) betreten dürfen. Die räumliche Aufteilung veranschaulicht Abb. 1: markiert sind die Positionen der drei Kultbilder der Göttin und der Thron sowie die Sichtachse zwischen Jagadguru und Göttin. Ranghohe Funktionäre oder dem Jagadguru nahestehende Persönlichkeiten, der C. E. O. V. R. Gowrishankar, der Privatsekretär T. Dakshinamurthy und andere, stehen direkt links und rechts des Thrones. Das eigentliche Publikum füllt zunächst stehend, später sitzend, den freien Tempelraum. Da nicht von jedem Platz aus der direkte Blick auf den Thron bzw. den Jagadguru gegeben ist, wird eine Aufzeichnung auf zwei Monitore im Innenraum sowie auf den Großmonitor im Hof übertragen. Der Prozessionsweg wird durch den Pfeil angezeigt. Der Jagadguru zieht zunächst am Thron vorbei ein und begrüßt die Göttin in Gestalt ihres kleinen Hauptkultbildes, das zu diesem Zeitpunkt im Schrein des Prozessionsbildes untergebracht ist, mit einem laut gesprochenen Gebet aus der Feder von Bhāratī Tīrtha Mahāsannidhānam. Das Prozessionsbild seinerseits steht mit der tagesspezifischen Dekoration und Blumen geschmückt bereits auf dem goldenen Wagen, der nie außerhalb des Tempels verwendet wird. Nach der Begrüßung wird das kleine Kultbild ebenfalls auf dem Wagen platziert, um die göttliche Energie und Präsenz zu steigern. Das erste rituelle Ereignis ist eine Prozession mit diesem Wagen innerhalb des Tempels (suvarṇasyandanotsava). Der Bau, der das Allerhei-

ausschließlich die Jagadgurus genießen, ist, dass sie den Tempel mit ihren Sandalen (pāduka) betreten dürfen.

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Abbildung 1

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ligste beinhaltet, wird dreimal umwandelt. Nach dem Wagen gehen die Träger derWedel, dann folgt, rückwärts schreitend, den konzentriert auf Positionen die auf dem Die räumliche Aufteilung veranschaulicht Abb.Blick 1: markiert sind die der drei Prozessionswagen befindliche Göttin gerichtet, lautlos Mantras rezitierend, der JaKultbilderErder Göttin und Thron sowiegeführt, die Sichtachse zwischen Jagadguru und gadguru. wird von V. R.der Gowrishankar der die rechte Hand des Guru mitGöttin. einem Seidentuch dazwischen stützt. Ranghohe Funktionäre oder dem Jagadguru nahestehende Persönlichkeiten, der C. E. O. V. R. Der im Anblick der Göttin versunkene Blick Viduśekhara Bhāratīs, das an der fast unmerklichen Lippenbewegung erkennbare stille Gebet, erwecken nicht den Ein- 12 druck von aufgesetzter und, trotz der zahlreichen Zuschauer, lediglich zur Schau gestellter Frömmigkeit. Vielmehr entsteht das Bild tiefster Konzentration und auch Intimität zwischen Gottheit und Jagadguru. Ich denke, dass es auch beabsichtigter Zweck des Auftritts ist, den Gläubigen genau dies sichtbar zu machen. Als geradezu indiskret empfindet man den eigenen Blick, ein Gefühl, das durch die direkt auf das Gesicht des Jagadguru gerichtete Kamera von Sankara TV noch verstärkt wird. Die Prozession wird von der Ehrengarde, Rezitatoren und Musikern begleitet, alle Anwesenden können sich anschließen – nicht alle gehen rückwärts – soweit es der Platz erlaubt. Die Träger der Wedel betätigen diese unablässig und es bleibt offen, wem ihr Fächeln gilt, der Göttin oder dem Guru, da sie genau zwischen den beiden gehen. Eigentlich, so könnte man interpretieren, ventilieren sie die Energien zwischen Göttin und Guru. Die Prozession endet exakt vor dem Aufgang zum Allerheiligsten. Viduśekhara Bhāratī schreitet nun langsam rückwärts, Körpervorderseite und Blick auf die Göttin im Sanctum gerichtet, zu seinem Thron. Das Rückwärtsgehen bzw. Nicht-den-Rücken-Zukehren ist im Übrigen die einzige Form der Respekterweisung, die der Jagadguru während des Darbar gegenüber der Göttin zeigt, hat aber gleichzeitig die Funktion, den ununterbrochenen Blickkontakt zwischen ihm und Göttin zu gewährleisten und damit Intimität zum Ausdruck zu bringen. Blick und Konzentration des Lehrers verharren auch während der nun folgenden Darbietungen (Rezitationen, Musikstücken und Huldigungen der Göttin [mahāmaṅgalāratī] mit Öllampen und Glockenge-

Die Śaṅkarācāryas und das Śarannavarātrī-Fest von Śṛṅgerī

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läut) unablässig auf der Göttin im Sanctum. Die Vorführung wird als „aus acht Andachten bestehender Dienst“ (aṣṭāvadhānasevā) bezeichnet, nach Aussage von Offiziellen zu Ehren der Göttin, nicht zu Ehren des Jagadguru. Alle „Andachten“ und weiteren Handlungen werden von livrierten Ausrufern (pāṭhaka) fast durchgehend auf Sanskrit rituell angesagt, die Ansagen beginnen jeweils mit Versen zum Lobpreis der Göttin. Allerdings ist aus der Perspektive des Teilnehmers wohl der in königlichem Ornat im Zentrum des freien Tempelraumes thronende Jagadguru die Hauptperson des Abends. Am Ende der Veranstaltung, nach der zweiten Huldigung der Göttin, steigt er vom Thron-Podest herab, schreitet in direkter Linie, frontal auf das Sanctum zu und begibt sich hinein, worauf die goldene Tür hinter ihm geschlossen wird – ein äußerst überraschender Vorgang, wenn man ihn erstmals oder nur einmal erlebt. Die meisten Teilnehmer sind Pilger, die lediglich an einem der neun Abende am Darbar teilnehmen. Interessant ist der Bewegungsablauf im Raum, zunächst vom Thron/Podest herab auf das Niveau des Publikums, dann frontal auf die Göttin zu, aufwärts über die Stufen wieder auf die Augenhöhe der Göttin. Das Schließen der goldenen Tür und der daraus resultierende Aufenthalt der beiden Protagonisten in einem den gewöhnlichen Gläubigen verwehrten Raum bilden den Höhepunkt der Sichtbarmachung der Intimität zwischen Göttin und Jagadguru22. Die Vorgänge im Inneren bleiben allen Anwesenden verborgen. Dies ist nicht vergleichbar damit, wenn der Jagadguru sonst im Sanctum Rituale vollzieht, hierbei bleibt nicht nur die goldene Tür offen, sondern die Handlungen werden über Monitore nach draußen übertragen für jedermann sichtbar. Der Darbar zeigt den Weltlehrer als quasi-königlichen Herrscher und als solchen als erhabensten, reinsten, vertrautesten Verehrer der Göttin, dem, sozusagen, als einzigem das Immediatvortragsrecht (vgl. die unter 4. erwähnte Episode) und andere Privilegien zukommen: So darf er im Tempel seine Sandalen tragen, muss während des Darbar keine Prostrationen vor der Göttin vollführen und, dies ist bemerkenswert, er trägt allabendlich die prachtvollen Goldhalsketten, die auch zum Schmücken der Göttin verwendet bzw. als ihr Eigentum betrachtet werden23. Dieses Sichtbarmachen von Macht durch königliches Gebaren und Prunk ist offensichtlich nicht ohne weiteres vereinbar mit dem Status eines Entsagenden. Auch Bhāratī Tīrtha Mahāsannidhānam ging in einer Ansprache in der regionalen Sprache Kannada24 am 11. Oktober 2016 (Vijayadaśamī) erneut auf diese Diskre22

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Es ist angebracht, diese wahrnehmbare Intimität im Kontext der theologischen Systematik der verschiedenen Formen von bhakti „Gottesliebe“ zu diskutieren wie sie z. B. im Nāradabhaktisūtra dargelegt wird. Man kann das hier vorliegende Verhältnis zwischen Göttin und Guru als aikyabhāva interpretieren, den „Zustand der Einheit“, das Verschmelzen der beiden Identitäten. Es ist jedoch nicht möglich, dies hier weiter auszuführen. Ein weiteres wichtiges Privileg der Jagadgurus ist, dass sie bei bestimmten, seltenen Anlässen, etwa bei der Wagenprozession der Göttin am 11. Tag von Navarātrī, in Sänften quer zur Straße getragen werden (Kannada aḍḍapallakki), eine große Ehrung, die traditionell Königen oder dem Staatsoberhaupt zuteilwird. Mahāsannidhānam stammt aus Andhra Pradesh und ist Telugu-Muttersprachler, spricht aber je nach Aufenthaltsort in Südindien die regionalen dravidischen Sprachen sowie in Nordindien Hindi. Sanskrit ist die eigentliche Sprache, die gewöhnlich mit Śaṅkarācāryas in Verbindung gebracht wird, die Mahāsannidhānam aber nur in traditionell-akademischen Kreisen und auf

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panz ein. Um den königlichen Prunk zu rechtfertigen, berief sich der Jagadguru auf die seit dem 14. Jh. bestehende Tradition. Zu dieser Zeit hätten die VijayanagaraKönige der 1. Dynastie den damaligen Jagadguru Vidyāraṇya, der gleichzeitig ihr persönlicher Guru war, aufgefordert, in königlichem Ornat mit allen Ehrenzeichen und Respekterweisungen Darbar zu halten. Nach Bhāratī Tīrthas Auffassung habe der Jagadguru dieser Verpflichtung allerdings mit größtmöglicher Nicht-Anhaftung nachzukommen. Also: königlicher Prunk und Macht als asketische Übung! Es sind die deutliche beobachtbare Konzentration auf die Göttin begleitet von unablässigem stillen Gebet, das Verharren in vollkommenem Schweigen und Ernst während der gesamten Inszenierung, die dem fungierenden Jagadguru die innere Distanzierung und Nicht-Identifikation mit königlicher Machtäußerung und Statussymbolen ermöglichen. Nach wenigen Minuten öffnet sich die goldene Tür und Sannidhānam tritt wieder aus dem Sanctum heraus, nun in seinem gewöhnlichen asketischen Habit mit Stab und Wasserkrug. Die äußerlichen Zeichen seiner Macht hat er quasi bei der Göttin abgelegt bzw. sie ihr zurückgegeben. All seine Macht kommt von der Göttin und beruht auf seiner intimen Verbindung zu ihr, die durch die gesamte Inszenierung deutlich sichtbar gemacht wurde. Durch einen Seiteneingang, vor dem sich das Gefolge bereits in Stellung gebracht hat, verlässt der Jagadguru den Tempel. Er begibt sich unverzüglich zu der Brücke über den Fluss Thuṅgabhadrā, der den Tempelbezirk von der parkähnlichen Anlage trennt, in dem sich u. a. die Wohngebäude befinden. Nur wenige Gläubige, die den Vorgang wohl kennen, schließen sich an. Vor der Brücke wird der Jagadguru von Shivasankara Bhatt, einem leitenden Angestellten des Klosters, erwartet. Dieser vollzieht schweigend ein kurzes Ritual zur „Abwehr des bösen Blicks“ (Kannada dṛṣṭinivāḷisuvudu), das mit der Zerschmetterung einer Kokosnuss in einem dramatischen Knall kulminiert. Es handelt sich um ein alltägliches, volkstümliches Ritual jenseits aller Orthodoxie, das man gewöhnlich durchführt, um Kinder oder andere Familienangehörige zu schützen – und von dem man sich fragen muss, ob dies eine Person wie der Jagadguru, ein vermeintlich mächtiger Asket, oberster devotee und protégé der Göttin, zu königlicher Machtäußerung berechtigt, nötig hat. Offensichtlich: ja. Dadurch wieder auf die Ebene eines (fast) vollständig gewöhnlichen Menschen gebracht, verschwindet Viduśekhara Bhāratī in die Dunkelheit über die Brücke – begleitet, allerdings, vom weißen Schirmträger. Das Ritual markiert nicht nur die Rückkehr auf die Ebene des gewöhnlichen Menschen sondern ist auch Ausdruck liebevoller Fürsorge für den Guru, also der Intimität zwischen Guru und Anhänger, ein wesentlicher Aspekt der Macht, der für ihre Akzeptanz und damit Aufrechterhaltung unabdingbar ist. Die geschilderte Inszenierung spielt also mit dem Bild von „Macht“, der Machtäußerung, mit ihrer Erzeugung und Aneignung und der Distanzierung davon. Für die Jagadgurus von Śṛṅgerī gilt: Ihre Heiligkeit ist ihre Macht, ihre Macht ist ihre Heiligkeit. Beide werden durch die gleichen Faktoren erzeugt. Quelle der HeiligTagungen verwendet. Er verfügt offenbar auch über gute Englisch-Kenntnisse, spricht dies aber zumindest öffentlich nicht.

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keit und Macht, Urgrund ihrer Erzeugung und Legitimierung, ist die Göttin. Kann diese Macht zerstört werden? Schwerwiegendes Fehlverhalten des Amtsinhabers könnte theoretisch zu seiner Absetzung führen, was in sich problematisch wäre. In der Geschichte Śṛṅgerīs ist mir allerdings kein prominenter Fall von Absetzung bekannt. Aber von derartigen theoretischen Sonderfällen abgesehen: Kann diese Macht zerstört werden, ist sie als vergänglich denkbar? Aus systemimmanenter Perspektive muss man die Frage verneinen. Sie bleibt auch nach dem Tod eines Jagadguru erhalten und wirksam, was durch Praktiken im Zusammenhang mit seiner Bestattung und nachtodlichen Huldigungs-Ritualen deutlich wird. FAZIT Wie wird also die spezifische Form von Macht, wie sie hier diskutiert wurde, erzeugt? Dadurch, dass die sie erzeugenden Faktoren durch die Inhaber der Macht und ihre Akteure wiederholt und immer wieder neu sichtbar gemacht bzw. in den Bereich der Wahrnehmung gebracht werden in Wort, Bild, Schrift sowie durch mentale und körperliche Handlungen, seien sie öffentlich oder nicht öffentlich vollzogen, rituell-zeremoniell oder alltäglich. Die Wahrnehmung durch das Publikum, das keineswegs passive Gegenüber der Machthabenden, geschieht durch persönliche Teilnahme und Hörensagen sowie durch Weitergabe oder Verbreitung in Medien. Als solche Faktoren wurden Protokoll und Etikette, normative Vorstellungen bzw. die indigene Theorie der Macht, Qualifikation bzw. Eigenschaften und Fähigkeiten des Machthabenden, göttliche Auserwähltheit und Nähe zur Gottheit, ungebrochene Lehrer-Schüler-Tradition und rituell-zeremonielle Performanz in engerem Sinne angeführt, wobei Spatialität, Habitus, Aufmachung und Insignien des Machthabenden besonders wichtig werden. Durch die stillschweigende Übereinkunft zwischen allen Teilhabenden, dass die sichtbar gemachten Faktoren gültig und wirksam sind, wird die Macht effektiv. Teilhabende sind die prospektiven Machthaber mit ihren Funktionären und Offiziellen einerseits und die Anhänger, die Gläubigen andererseits, kurz: alle, die aus welchen Gründen auch immer, willens sind, die Geltung und Wirksamkeit zu akzeptieren und sich davon emotional ergreifen zu lassen. Die Frage der Perspektivität ist untrennbar damit verbunden: Macht kann nur erzeugt oder zerstört werden, wenn eine Übereinkunft zwischen allen Akteuren besteht, dass es effiziente Methoden dafür gibt. Von außen betrachtet kann sich ein solches System ganz anders darstellen. Auch spielen im vorliegenden Fallbeispiel Fragen von Zwang, (struktureller) Gewalt und Freiwilligkeit keine Rolle.

„ENTSAGUNG IST DAS BEWUSSTSEIN VON MACHT“ Erlösung und Macht im Advaita-Vedānta und seinen Interpretationen Matthias H. Ahlborn VORBEMERKUNGEN Wenn man einerseits als Indologe versucht, vormoderne1 indische Konzepte aus den Quellen heraus in ihrem ideengeschichtlichen Kontext zu rekonstruieren, und andererseits – wie der Autor dieser Überlegungen –, die Ergebnisse solcher Untersuchungen auch in den Kontext eines interdisziplinären, kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsprojektes2 zu stellen, so ergeben sich bestimmte Besonderheiten und Problematiken. Es hat sich gezeigt, dass diese am Beispiel der zueinander in Beziehung gesetzten Begriffe „Erlösung“ und „Macht“ besonders deutlich werden. Im Folgenden soll daher weder eine klassisch-indologische Studie über ausgewählte Quellen und darin enthaltene Konzepte vorgelegt werden, noch eine kulturwissenschaftliche Interpretation anhand moderner soziologischer, religionswissenschaftlicher etc. Theorien. Thema dieses Aufsatzes sind vielmehr Reflexionen über die genannte Problematik. Eine im obigen Sinne „klassisch-indologische“ Arbeit wäre im interdisziplinären Kontext wenig anschlussfähig, ein Verschweigen der Problematiken der Anwendung allgemeiner kulturwissenschaftlicher Theorien intellektuell unredlich. Die Sanskrit-Quellen, die diesen Überlegungen zugrunde liegen, stammen aus dem 14. Jahrhundert, aus dem Umfeld des südindischen Vijayanagara-Reiches in seiner Frühphase. Sie gehören zu der seit Jahrhunderten und auch in der Gegenwart noch bestehenden, Advaita-Vedānta genannten philosophisch-religiösen Tradition, eine nicht-dualistische Interpretation der in den Upaniṣaden (oder „Vedānta“, Ende der Veden) enthaltenen Lehre vom brahman als letztem Grund alles Seienden, die man auch als „illusionistischer Monismus“3 bezeichnet hat: Letztendlich existiert nur das eine, gleichförmige brahman, die vielheitliche Welt ist nur eine unwirkliche Erscheinung, ein Irrtum. Dabei gilt mein Interesse vor allem dem Konzept einer 1

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Die Attribute „modern“ oder „vormodern“ dienen hier nicht der Qualifizierung, sondern der Identifizierung. Wenn ich hier einen Gegenstand als „vormodern“ bezeichne, will ich damit nicht etwas über den Charakter des Gegenstandes aussagen, sondern nur die Gruppe der thematischen Gegenstände eingrenzen. Gleiches gilt für Attribute wie „indisch“, „westlich“: Sie sind hier nur als geographische Zuordnungen gemeint, nicht als Wesensbestimmungen. Quasireligiöse Hypostasierungen von Regionen oder Epochen sollten vermieden werden. „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“. So z. B. Paul Hacker.

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„Erlösung zu Lebzeiten“ (jīvanmukti), den in den Quellentexten enthaltenen Diskussionen darüber, dass und wie Erlösung, als endgültige und umfassende Befreiung von Leid und dem diesem zugrunde liegenden Leidenschaften und metaphysischen Irrtümern, bereits vor dem Tod möglich ist. Im Rahmen der interdisziplinären DFG-Forschergruppe wurde dieses Konzept der Erlösung zu Lebzeiten als ein Konzept personaler Heiligkeit betrachtet und problematisiert. Dabei hat es sich gezeigt, dass „Heiligkeit“, bzw. im hier untersuchten Spezialfall, „Erlösung zu Lebzeiten“ etwas ist, das auf verschiedenen semantischen Ebenen auftritt, die verschiedene Schichten der Interpretation darstellen. Diese Ebenen (0,1,2,3) klar zu unterscheiden, kann dazu beitragen, verschiedene unnötige Verwirrungen zu klären. 0. Wenn wir von Erlösung (mukti) reden, von Menschen, die im Leben erlöst sind (jīvanmukta), so kann dieser Ausdruck zunächst etwas zur objektiven Realität Gehörendes meinen (Erlösung0). Eine solche Diskussion über die Frage, ob es wirklich Menschen gibt oder gab, die eine Befreiung von allen Übeln, aller Schuld und aller Weltverstrickung erlangt haben, wäre eine theologische oder philosophische Frage, und kann als solche hier nicht thematisch sein. Erlösung0 ist nicht empirisch zugänglich. Ob eine konkrete, reale Person Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten erlangt hat, eine innere Freiheit von Bindung an die Welt, kann per Definition nicht wissenschaftlich-empirisch überprüft werden. Es gibt keinen psychologischen oder medizinischen Test für die Diagnose „Erlösung“ (mukti, mokṣa). Es handelt sich hier – folgt man den Quellen – um kein zum Forschungsbereich der empirischen Wissenschaften zählendes Phänomen. Folglich kann ich auch nicht die Beziehung von Erlösung0 und „Macht“ untersuchen. 1. Bekanntlich ist Gegenstand der Indologie nicht diese (möglicherweise) reale Erlösung0, sondern mittels Quellen empirisch zugängliche Konzepte von Erlösung, die ich Erlösung1 nennen möchte: die Theorien des Advaita-Vedānta des 14. Jahrhunderts über die Erlösung zu Lebzeiten. Auf dieser ersten interpretatorischen Ebene1 findet man auch „Macht“: die in diesen Quellen im Zusammenhang mit Erlösung1 thematisierten Machtkämpfe1, die diesen Konzepten zufolge vielleicht ausgetragen werden müssen, um Erlösung zu erringen. Erlösung1 und Macht1 können nun (im Gegensatz zu Erlösung0 und Macht0) Gegenstände einer (empirischen) indologischen Untersuchung sein. 2. Insofern eine (kultur-)wissenschaftliche Untersuchung von „Erlösung“ und „Macht“ sich nicht damit begnügt, die in den Quellen vorhandenen Theorien (Erlösung/Macht1) zu rekonstruieren, sondern eigene, z. B. religionssoziologische, Theorien anwendet, ist ihr Thema Erlösung/Macht2 – „Heiligkeit“, „Erlösung“ oder „Macht“ als Begriff der Metasprache, nicht mehr der Objektsprache. Sie beschreibt nicht, was im 14. Jahrhundert über Erlösung und Macht gedacht wurde (Erlösung/Macht1), sondern versucht, z. B. die Funktion dieses Erlösungskonzeptes in Machtkämpfen des gesellschaftlichen oder politischen Umfeld von Vijayanagara zu untersuchen (Erlösung/Macht2). Nicht was im 14. Jahrhundert über Erlösung geschrieben wurde ist die Frage, sondern wa-

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rum. Besonders deutlich wird das anhand des Themas „Macht“. Wie ich zeigen werde, hat die Macht2, von der der kulturwissenschaftliche Diskurs in diesem Zusammenhang redet, wenig mit der Macht1 zu tun, die die Quellen selbst thematisieren. 3. Eine weitere Schicht von Interpretation über Erlösung und Macht ist Folge der akademischen Selbstreflexion: Macht3 bezeichnet die Machtkämpfe, das „Hegemonialstreben“ in dessen Rahmen die kulturwissenschaftlichen Diskussionen selbst stattfinden. Bekannt wurde eine solche Debatte auch unter dem Label Orientalismus-Kritik. Im Folgenden werde ich mit der Diskussion kulturwissenschaftlicher Theorien von „Erlösung“ und „Macht“ (Erlösung/Macht2) im Advaita-Vedānta beginnen, dann diese Theorien selbst kritisch betrachten (Erlösung/Macht3), danach „Erlösung“ und „Macht“ in den Quellen selbst untersuchen (Erlösung/Macht1), und zum Abschluss auf eine historische Entwicklungslinie hinweisen, die von diesem Konzept eines Machtkampfes zur Erringung von Heiligkeit über Schopenhauer, Nietzsche, Foucault und Deleuze4 bis zu eben den hier erwähnten kulturwissenschaftlichen Theorien von Erlösung und Macht führt. MACHT2: KULTURWISSENSCHAFTLICHE THEORIEN ÜBER DAS VORMODERNE KONZEPT VON DER ERLÖSUNG ZU LEBZEITEN Hypothese 1. Das vormoderne indische Konzept von einer Erlösung zu Lebzeiten (Erlösung1) ist Ausdruck eines Machtstrebens einer konkreten historischen Gruppe (Macht2). Aus einer soziologisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive erscheint der AdvaitaVedānta mit seinem Konzept einer Erlösung zu Lebzeiten zunächst als die Literatur einer relativ kleinen Gruppe brahmanischer Asketen. In der speziell von mir untersuchten Periode (14. Jahrhundert) besitzt diese Gruppe ein monastisches Zentrum in Śṛṅgerī. In der Sphäre politischer Macht bildet sich nach chaotischen Zuständen infolge muslimischer Eroberungs- und Raubzügen in Südindien in Vijayanagara ein neues imperiales Machtzentrum, das Jahrhunderte lang neben dem Sultanat von Delhi bestehen kann. Laut Legende beruht die Gründung dieses Reiches auf einer Anregung durch Vidyāraṇya, einem der bedeutendsten Vertreter des Advaita-Vedānta im 14. Jahrhundert und Abt von Śṛṅgerī. Inschriften bezeugen Schenkungen der Herrscher von Vijayanagara an dieses monastische Zentrum bzw. seine Äbte. Vidyāraṇya und andere Autoren aus seinem Umfeld (die Autorenfrage ist in fast allen Fällen noch offen) haben Kommentare zu den Veden verfasst, zu Rechtstexten (dharmaśāstra), Inhaltsangaben der Upaniṣaden, eine Darstellung und Kritik 16 verschiedener philosophischer Systeme, eigenständige (nicht kommentierende) Lehrwerke des Advaita-Vedānta, insbesondere darüber, dass und wie eine Erlösung bereits vor dem Tod möglich ist. 4

Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt a. M. 1985.

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In der Sekundärliteratur werden verschiedene Thesen über die Beziehungen zwischen der vom Advaita-Vedānta mit seinem Ideal der Erlösung zu Lebzeiten geprägten philosophischen Literatur aus Vijayanagara bzw. Śṛṅgerī einerseits, und politisch-historischen Prozessen andererseits vertreten. Eine früher verbreitete Deutung des Reichs von Vijayanagara als „ein Bollwerk des Widerstandes gegen die moslemische Invasion“ wird in der starken Form in der westlichen akademischen Welt nur noch von wenigen vertreten5. Das deutsche Standardwerk zur Geschichte Indiens schreibt Vidyāraṇya aber eine „bewusste hinduistische Kultur- und Religionspolitik“ angesichts der „tiefgreifenden Erschütterungen“ durch den „plötzlichen Einbruch des Islams in Zentral- und Südindien“ zu6. Kulke spricht hier von einer „planmäßigen orthodox-hinduistischen Restauration“, „nachdem die traditionelle Ordnung [durch „muslimische“ Eroberungs- und Beutezüge] jahrzehntelang gefährdet gewesen war“7. In gegenwärtigen hindu-nationalistischen Diskussionen ist Vidyāraṇya als Verteidiger des Hinduismus gegen den Islam weiterhin präsent8. Eine Frage, die wir uns im indologischen Teilprojekt9 gestellt haben, ist die nach der Funktion dieser Literatur bei der Herausbildung eine hinduistischen „Identität“, im Zeichen eines inklusivistischen Advaita-Vedānta, und in Abgrenzung gegen den Islam. Ein neueres, sehr umfangreiches und im Stil der „Cultural Studies“ geschriebenes Werk beschreibt die Veda-Kommentare als ein Projekt im Dienst des Imperiums von Vijayanagara. Im Zentrum dieser Deutungen steht oft der Begriff der „Legitimation“ von politischer Macht, offensichtlich eine Etikettierung von philosophisch-religiöser Literatur als „politische Ideologie“10. Andere soziologisch-kulturwissenschaftliche Interpretationen des AdvaitaVedānta mit seinem Ideal vom asketisch-entsagenden Lebend-Erlösten betrachten einen größeren historischen Zeitraum. Berühmt-berüchtigt ist die Sichtweise von Louis Dumont, der die indische Gesellschaft als auf dem Gegensatz von Haushälter und Entsager beruhend beschreibt. „Entsager“ meint die Erlösten, oder nach Erlösung strebenden, die die durch „Kasten“-Zugehörigkeit bestimmte Welt der „Haushälter“ verlassen haben11.

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Siehe aber William J. Jackson, Vijayanagara Voices. Exploring South Indian History and Hindu Literature, Aldershot, England/Burlington, Vt. 2005. Hermann Kulke / Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute (Beck’s Historische Bibliothek 2). Verbesserte und aktualisierte Auflage München 1998, 240. Hermann Kulke, Indische Geschichte bis 1750 (Oldenbourg-Grundriß der Geschichte 34) München 2005, 72. So z. B. Paanchajanya, 6.3.2017, Jagadguru Sri Vidyaranya. A Forgotten Hindu Nationalist (http://www.hindupost.in/history/jagadguru-sri-vidyaranya-forgotten-hindu-nationalist/ letzter Zugriff am 18.9.2018). „Diskurse und Konzepte von Sakralität und Sakralisierung im hinduistischen Großreich von Vijayanagara und in portugiesisch Goa (14.–18. Jh.)“. Cezary Galewicz, A Commentator in Service of the Empire. Sāyaṇa and the Royal Project of Commenting on the Whole of the Veda, Wien 2009. Louis Dumont, Homo Hierarchicus. The Caste System and Its Implications, Chicago 1980.

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Andererseits wurde auch argumentiert, dass die Philosophie des AdvaitaVedānta nur in brahmanischen Kreisen studiert und gelehrt wurde, also eben nicht die Philosophie des Hinduismus war. Indem die hier in Rede stehenden Texte den Veda wieder in den Mittelpunkt stellen, könnte man hier auch einen Versuch sehen, die Macht der Brahmanen gegenüber anderen „Kasten“ zu stärken. Da die Anhänger des Advaita-Vedānta im Konkurrenzkampf um Einfluss und Unterstützung durch den Herrscher mit anderen religiösen Gruppen innerhalb des Hinduismus und auch innerhalb der Gruppe der Brahmanen standen, hat man in ihrer Literatur auch Ausdruck eines Machtkampfes nicht der Hindus gegen Muslime, sondern des Advaita-Vedānta gegen andere, eher theistische Veda-Interpretationen gesehen12. Neueren Interpretationen zufolge habe der Advaita-Vedānta erst im 19. Jahrhundert seine besondere Bedeutung erlangt13. Von dieser These gibt es zwei Varianten. Die erste besagt, die westliche kolonialistische Politik und Orientalistik habe die Vorstellung einer zentralen Bedeutung des Advaita-Vedānta und seines Ideals vom Erlösten oder nach Erlösung strebenden Entsager bewusst erzeugt und verbreitet, um die westliche Vorherrschaft zu stabilisieren. Die zweite Variante der These, der AdvaitaVedānta sei eigentlich vor dem 19. Jahrhundert bedeutungslos gewesen, lautet, er sei erst von indischen Reformern in den Mittelpunkt gestellt worden, um eben diese westliche Vorherrschaft zu beseitigen, als Ideologie der „Nationalrevolutionäre“14. Auf dieser Ebene, auf der „Macht“ der Begriff einer soziologisch-kulturwissenschaftlichen Metasprache ist (Macht2), gilt das Konzept vom Lebend-Erlösten, die dieses Konzept behandelnde Literatur oder die Zuschreibung von Erlöstheit an konkrete Personen als politisches Instrument zur Legitimation oder Stabilisierung der Macht einer Gruppe über andere Gruppen oder der Verteidigung gegen die Macht anderer. Nämlich: • • • • • •

der Hindus gegenüber den Muslimen (These vom Bollwerk des Hinduismus oder der hinduistischen Restauration); des Königs gegenüber seinen Untertanen (These von der Legitimierung oder Stabilisierung des Reichs von Vijayanagara); der Brahmanen gegenüber den anderen „Kasten“ (These vom Hegemonialstreben der Brahmanen; Stärkung der vedischen Tradition); der „hinduistischen Sekte“ des Advaita-Vedānta gegenüber konkurrierenden Sekten wie den Verehrern des Viṣṇu oder des Śiva (Sekten-These); der Engländer gegenüber Indien (Orientalismus-These); oder umgekehrt der Inder gegenüber den Engländern (Neo-Hinduismus-These).

Das vormoderne indische Konzept von der Erlösung zu Lebzeiten (Erlösung1) auf dieser Ebene zu verstehen, heißt, es auf ein Dominanzstreben konkreter historischer 12 13 14

Robert Alan Goodding, Critical Edition and Annotated Translation of the Jīvanmuktiviveka of Vidyāraṇya, (unpublished PhD thesis, University of Texas at Austin, 2002) . Richard King, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ‚the Mystic East‘, London/New York 1999. Kulke/Rothermund (wie Anm. 6), 350.

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Gruppen zurückzuführen (Macht2), es in politisch-historische Begriffe zu übersetzen (Erlösung2). MACHT3: GESELLSCHAFTLICH-POLITISCHER KONTEXT DER KULTURWISSENSCHAFTLICHEN THEORIEN Interessanter als die neuesten soziologisch-kulturwissenschaftlichen Theorien über Indien zu studieren, ist meist, die Quellen selbst gründlich zu lesen. Welche der oben genannten Annahmen über die Rolle des Advaita-Vedānta und seiner Idee von der Erlösung geht aus einer sachlichen Untersuchung der Literatur des AdvaitaVedānta des 14. Jahrhunderts über die Erlösung zu Lebzeiten hervor? Keine. •

• •





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Zur These vom Bollwerk des Hinduismus: Eine gruppenspezifische Identität, eine Selbstbezeichnung wie „wir Hindus“ fehlt vollständig. Eine Absicht des Vidyāraṇya, den Hinduismus, oder die hinduistische Identität gegenüber dem Islam zu stärken, kann ich nicht erkennen. Diskussionen über Fragen wie: Wer sind wir Hindus, was macht unsere Religion aus, was unterscheidet uns von den Muslimen etc. scheinen Vidyāraṇya fern zu liegen, ein politisches Interesse lässt sich nicht feststellen15. Zur These von der Legitimation: Die Herrscher von Vijayanagara werden höchstens am Text-Anfang oder am Text-Ende kurz und formelhaft erwähnt. Eine Reflexion über die Legitimität der königlichen Herrschaft kommt nicht vor. Zur These vom brahmanischen Hegemonialstreben: Als Bedingung für den Erlösungsweg werden in der Regel Charaktereigenschaften genannt, nicht „Kasten“-Zugehörigkeit16. Die Jīvanmuktiviveka (= JV) erlaubt die Erlösungssuche explizit auch Frauen17 und deutet den Begriff Brahmane als „Wissender“, explizit nicht als Kastenbezeichnung (jāti). Zur Sekten-These: Eine Auseinandersetzung mit anderen religiösen „Sekten“ findet statt. Aber – und das ist ein wichtiger Unterschied – es geht dabei um eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Lehren, nicht mit konkreten Personen oder Gruppen. Mittel der Auseinandersetzung sind Argumente, nicht Politik oder Polemik18. Zur Orientalismus-These: Ein Blick in die Geschichte der Sanskrit-Literatur zeigt, dass dort der Advaita-Vedānta und sein Ideal der Erlösung von überraWenn Vidyāraṇya das Wort „wir“ gebraucht, dann meistens in der Bedeutung von „ich“. Siehe dazu Roger Marcaurelle, Freedom through Inner Renunciation. Śaṅkara’s Philosophy in a New Light, Albany, New York 2000. Allerdings nicht in allen Überlieferungen dieses Textes. Hier wären weitere textkritische Untersuchungen nötig. Dazu, wie es in den doxographischen Texten dieser Epoche auf philosophisch-intellektueller Ebene – nicht in der Sphäre gesellschaftlicher Machtkämpfe – zur Bildung eines verschiedene philosophische Strömungen umfassenden und einordnenden Hinduismus kommt, siehe Andrew J. Nicholson, Unifying Hinduism. Philosophy and Identity in Indian Intellectual History (South Asia Across the Disciplines), New York 2014.

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gender Bedeutung ist. Diese Bedeutung ist nicht erst eine Erfindung der westlichen Orientalisten oder der indischen Nationalisten. Die These, diese Konzepte von einer Erlösung zu Lebzeiten, oder die Literatur, in deren Kontext diese eingebettet sind, seien Instrumente eines Machtkampfes zwischen konkreten historischen Gruppen, geht so nicht aus den Quellen hervor. Zwischen den Untersuchungen dieser Erlösungskonzepte in den Quellen selbst, und denen in der kulturwissenschaftlichen Sekundärliteratur, besteht eine unüberbrückbare epistemologische Differenz: Die Quellen zeigen sich einer bestimmten Methode verpflichtet. Ihre Ideen und Konzepte – wie das von der Erlösung zu Lebzeiten – beanspruchen, aus der korrekten Anwendung von standardisierten Erkenntnismitteln (pramāṇa19) hervorzugehen, die wiederum ihrerseits Gegenstand gründlicher Reflexionen sind20. Der Auffassung der Quellen zufolge gründet die Wahrheit oder Gültigkeit des in ihnen dargestellten Erlösungskonzepts in der Gültigkeit der angewendeten Erkenntnismethode: ein Sachverhalt, der von kulturwissenschaftlichen Interpretationen systematisch ausgeklammert wird. Einen solchen Wahrheitsanspruch nicht zu thematisieren, ist Teil ihrer eigenen Methode. Sie geht a priori davon aus, dass dieses Konzept Element von Machtkämpfen sei, nicht Ergebnis rational-methodischer Untersuchungen. Methodisches Vorgehen, Objektivität, Unparteilichkeit, Gültigkeit der Erkenntnisse gesteht die modern-westliche Wissenschaft (in der Regel) nur sich selbst zu, nicht indischen Texten des 14. Jahrhunderts. In beiden Fällen handelt es sich um apriorische Setzungen, und nicht um Ergebnisse einer empirischen Forschung. Anstatt zu vermuten, die Ideen und Literaturen des Advaita-Vedānta gründeten in Machtstreben, nicht in methodischem Denken und Forschen, könnte man vielleicht mit gleichem Recht unterstellen, die kulturwissenschaftlichen Theorien darüber seien Elemente eines Kampfes um kulturelle Vorherrschaft. So ließe sich erklären, warum hier Thesen vertreten werden, die in den Quellen praktisch keine Basis haben. Allein schon die grundlegende apriorisch gesetzte Differenz, nur die kulturwissenschaftlichen Texte seien wissenschaftlich, die indischen Quellentexte dagegen politisch, wirkt, als erfülle sie ein westliches Abgrenzungsbedürfnis. Hypothese 2. Das moderne Konzept2, das vormoderne indische Konzept1 sei Ausdruck eines Machtstrebens2, ist seinerseits Ausdruck eines Machtstrebens3 konkreter gegenwärtiger Gruppen. Es dient (objektiv, nicht notwendigerweise vorsätzlich) verschiedenen Interessen: • •

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einem islamfeindlichen hinduistischen Fundamentalismus (Hindus versus Muslime)21; einem westlichen Dominanzstreben mittels Spaltung der indischen Gesellschaft durch Konstruktion von Klassen (Herrscher versus Beherrschte), Kasten In den hier untersuchten Texten in der Regel (1) der Veda, d. h. die Upaniṣaden (śruti); (2) das logischen Denken (yukti); (3) Erfahrung, Beobachtung (anubhūti). Beispielsweise in: Dharmarāja AdhvarĪndra, Vedāntaparibhāṣā, hg. v. Swāmī MĀdhavĀnanda, Kolkata 2011. Z. B. der Artikel Jagadguru Sri Vidyaranya. A Forgotten Hindu Nationalist (wie Anm. 8).

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(Brahmanen versus Nicht­Brahmanen), Sekten (Advaitins, Vaiṣṇava, Śaiva) oder Religionen (Hinduismus versus Islam). einer modernen westlichen Konstruktion des Gegensatzes wissenschaftlich versus unwissenschaftlich.

Mit dieser Hypothese setzen wir eine dritte semantische Ebene von Erlösung und Macht. Zunächst ist da die Macht1, die in den Theorien1 in den Quellentexten im Zusammenhang mit dem Ringen um Erlösung1 thematisch ist; dann die politischen Machtkämpfe2, die die modernen Theorien2 als Motiv für Erlösungs-und-MachtTheorien1 annehmen; und schließlich die Machtkämpfe3, die ich hier hypothetischerweise unterstelle: kolonialistische oder post-kolonialistische politische Machtkämpfe der Gegenwart zwischen Westen und Osten, und zwischen einem politischen Hinduismus und einem als „Anderer“ dienenden Islam. Mit solchen Überlegungen wird der Begriff der „Macht“ auf eine Ebene der akademischen Selbstreflexion gehoben. Nicht mehr die Frage nach der Beziehung von Macht und Theorie im 14. Jahrhundert in Indien steht im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern die Frage nach der Beziehung von Macht und Theorie in der akademischen Gegenwart, im Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt der Forschung. Eine unterschiedslose Rückführung jeglicher wissenschaftlicher, philosophischer oder religiöser Literatur auf Machtfragen, auf Politisches und Subjektives, eine solche apriorische Leugnung der Differenz zwischen Wissenschaft und Politik, Vernunft und Macht, Objektivem und Subjektivem, wäre epistemologischer Relativismus. Letztendlich impliziert ein solcher Relativismus bekanntlich entweder eine Contradictio in adiecto (virodha), oder – unendlich viele kritische Metaebenen hervorbringend – einen Regressus ad infinitum (anavastthā). Um solches zu vermeiden, besitzt eine Theorie meist nicht nur das kritische Moment (die Rückführung der Theorien der Anderen auf Subjektivitäten, Machtstreben etc.; oder auch auf die Selbsttätigkeit der Materie, Evolution von Memen etc.), sondern auch ein dogmatisches Fundament22. Alle drei Theorien (Theorie1, Theorie2 und Theorie3) erklären das menschliche Verhalten prinzipiell aus irrational-subjektiven Triebfedern, nehmen ihre eigene Genese dabei aber aus; alle drei konstruieren so den Gegensatz „wissenschaftlich“ (śāstrīya) versus „unwissenschaftlich“ (aśāstrīya). •

• 22

Theorie1: Der vormoderne Advaita-Vedānta sagt: Das Denken, Wahrnehmen und Handeln aller Lebewesen – einschließlich der modernen Wissenschaftler – ist im Wesentlichen bestimmt durch egoistisches Streben, Leidenschaften, Gier (kāma), Hass (krodha) und Verblendung (moha). Aber es gibt eine Grundlage für eine davon freie, überpersönliche, sachliche Erkenntnis: das heilige Wort der Veden (śruti, mahāvākya), und die richtig angewandten in den Lehrwerken der Logik beschriebenen Erkenntnismittel (pramāṇa). Theorie2: Die moderne soziologisch-kulturwissenschaftliche Theorie sagt: Das Denken, Wahrnehmen und Handeln aller Lebewesen – einschließlich der HeiSiehe auch das bekannte Münchhausen Trilemma.

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ligen und der Theoretiker des Advaita-Vedānta – ist von egoistischem Streben bestimmt, von persönlichen oder gruppenspezifischen Interessen, Machtstreben. Aber es gibt eine Grundlage für eine objektive, überpersönliche, sachliche Erkenntnis: unsere akademisch-wissenschaftliche Methode. Nur unser Wissen ist an der Sache orientiert, das Wissen der Anderen ist interessengeleitete Konstruktion. Theorie3 hat vielleicht den elaboriertesten erkenntnistheoretischen Apparat zur Legitimierung ihres Ausnahmecharakters, den zu skizzieren hier zu weit führen würde. Im hier diskutierten Zusammenhang würde sie vielleicht sagen, dass sie, indem sie die (kolonialistische oder postkolonialistische) Machtproblematik reflektiert, gegen diese immun sei.

Vielleicht wäre es spannend, einen solchen Machtkampf um den Besitz der Grundlage für objektives Wissen im Detail zu untersuchen. Aber eine solche Betrachtung würde ihrerseits im Bereich von epistemologischem Relativismus und Dogmatik verbleiben. Wenn sie beanspruchte, neutral zu bleiben, d. h. weder die epistemologische Grundlage des vormodernen Vedānta zu übernehmen, noch die der „wissenschaftlichen Methode“, müsste sie zugleich mit dieser Neutralität eine eigene, dritte epistemologische Basis postulieren. Dennoch sei hierzu folgendes angemerkt: Es scheint mir plausibler, dass die modernen Theorien2 Ausdruck von Hegemonialstreben sind, da deren Träger prinzipiell von staatlichen Machtstrukturen abhängig sind. Die Träger des traditionellen Advaita-Vedānta (Theorien1) dagegen sind – zumindest vom Prinzip her – als anspruchslose Asketen und Entsager von der politischen Macht des Reiches nicht abhängig. Das Ideal des Advaita-Vedānta erinnert an Nietzsches Verherrlichung des vom Vedānta zutiefst geprägten Schopenhauer: Wo es mächtige Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche Meinungen gegeben hat, kurz, wo je eine Tyrannei war, da hat sie den einsamen Philosophen gehaßt; denn die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust: und das ärgert die Tyrannen.23

Streng erkenntnistheoretisch kann der Ausweg aus der sich ins unendliche steigernden Produktion von Metaebenen – Interpretationen von Interpretationen von Interpretationen etc., Theorien über Theorien über Theorien etc. – nur in einer TheorieBescheidenheit liegen: Aufgabe der Geschichts- und Kulturwissenschaften wäre dann eher, das geistige Erbe der Menschheit zu bewahren, als der Versuch, selbst kulturschaffend zu wirken. Hier würde das bedeuten, die Theorie1, also Erlösung1 und Macht1 zu rekonstruieren, und sie der Gegenwart zu vermitteln, gleichsam als 23

Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, in: Über Arthur Schopenhauer, hg. v. Gerd Haffmans, Zürich 1978, 9–86, hier 23. Über Heiligkeit und Erlösung schreibt Nietzsche dort: „Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich-, Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst.“ Ebd., 48.

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Übersetzer, nicht nur von Texten, sondern auch von Ideen. Es ginge weniger darum, eigene Theorien2 darüber aufzustellen, was diese Theorie1 ist, und wie man sie sich mit einer Theorie2 erklären kann, die man wiederum mit einer Theorie3 erklärt (oder entlarvt) etc. etc. ad infinitum. Der eigentliche Grund für ein Aufhäufen von Metaebene auf Metaebene liegt dabei darin, dass nur der jeweils eigenen Gruppe die Fähigkeit zugesprochen wird, methodisch zu objektiven Erkenntnissen zu gelangen, das Denken der Anderen aber als von subjektiv-irrationalen Motiven wie Machtstreben beherrscht betrachtet wird. Eine Kulturwissenschaft, die darauf verzichten würde, sich mittels der Differenz objektiv-wissenschaftlich versus subjektiv-vorwissenschaftlich von der untersuchten Kultur abzugrenzen, und stattdessen Vernünftigkeit, Objektivität, sogar Wissenschaftlichkeit etc. auch beispielsweise im Indien des 14. Jahrhunderts für möglich hielte, bestünde weniger darin, Theorien über Theorien über Theorien aufzustellen, als vielmehr in einer gründlichen Beschäftigung mit den Konzepten und Ideen in den Quellen. Indem so eine gemeinsame Basis – Anerkennung eines grundsätzlich allgemein-menschlichen Feldes von Vernunft (yukti) und Erfahrung (anubhūti) – bestünde, könnte auch ein transkultureller Dialog anstelle eines othering treten. MACHT1: SPIRITUELL-INNERLICHER KONTEXT Nun also ad fontes. Die Diskussionen in den Quellen24 handeln nicht von gesellschaftlichen oder politischen Themen. Sie werden über Fragen der Erlösung geführt, eine Befreiung (mukti), die gerade auch in Unabhängigkeit und Distanz gegenüber der Welt, den Leuten (loka), besteht, und das Glück gleichsam im eigenen Inneren statt in gesellschaftlicher Macht oder Prestige sucht. Ein Grund, warum jemand, der nach Erlösung strebt, weltliche Gesellschaft meidet wie eine Schlange25, ist, dass dort politische Diskussionen (rājavārttā) stattfinden, die eine kontemplative Haltung erschweren26. Advaita-Vedānta in diesem Sinn ist Rückzug aus der Sphäre imperialer Macht. In solchen Textstellen zeigt sich der Versuch, einen Raum zu schaffen, in den die königliche Macht keinen Zugriff hat. Kulturwissenschaftliche Versuche, diese Quellen als einen bewussten Dienst gerade an der Macht zu

24

25 26

Ich werde mich hier auf die beiden bedeutendsten der dem Vidyāraṇya zugeschriebenen Texte zum Thema der Erlösung zu Lebzeiten beschränken: die „Fünfzehn Kapitel“ (Pañcadaśī [PD]) und die „Untersuchung der Erlösung zu Lebzeiten“ (Jīvanmuktiviveka [JV]): VidyĀraṆya/ RĀmakṚṢṆa/Acyutarāya MoḌaka, Pañcadaśī: Śrī-Rāmakṛṣṇa-viracitayā Padadīpikākhyayā vyākhyayā, tathā Moḍakopāhva-Śrīmad-Acyutarāya-Paṇḍita-kṛta-PūrṇānandendukaumudīSaṃjñaka-Vyākhyayā ca sametā, hg. v. Rāvajī Śarman Puṇyākhyapattanam: 1895 (PD); und VidyĀraṆya, Critical Edition and Annotated Translation of the Jīvanmuktiviveka of Vidyāraṇya, hg. v. Robert Alan Goodding, Austin/Texas 2002 (JV). JV 1.9.32, das Mahābhārata zitierend: „Wer sich vor der Menge fürchtet wie vor einer Schlange, vor Ehrung wie vor dem Tod, […] den nennen die Götter einen Brahmanen.“ JV 1.9.13; 1.9.45.

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deuten, der sie entfliehen wollen, erscheint wie eine nachträgliche Eroberung dieses Raumes für das Politische. Distanz zur Welt, Rückzug in die Einsamkeit, Meiden von Gesellschaft sind in dem Abschnitt der JV, auf den ich mich hier beziehe, nicht moralische Gebote, sondern Zitate zur Beschreibung des dort auch brāhmaṇa genannten Lebend-Erlösten. Es gehört zu den Kennzeichen eines schon zu Lebzeiten Erlösten, dass er die Gesellschaft von Menschen meidet wie die von Giftschlangen, weil er sonst in Politik verstrickt wird. Damit ist aber nicht das Wesen dieser Form von Heiligkeit bezeichnet, nur ein eher periphere Vorbedingung. Wichtiger für das Konzept der Erlösung zu Lebzeiten, das heißt ausführlicher und an zentralerer Stelle diskutiert, ist die Macht, die ein Yogi oder ein Asket über seine Leidenschaften hat, und die Erlösung von der Macht der Leidenschaften. Während in den klassischen Texten des Advaita-Vedānta Fragen nach gerechter weltlicher Herrschaft, nach der Legitimität des Königs, nach der kollektiven Identität der Hindus, nach der Kultur der Inder, nach der Bedrohung durch den Islam etc. nicht zu finden sind, nehmen Diskussionen über die Macht der Leidenschaften einen breiten Raum ein, die schon in der Bhagavadgītā, einem der Grundlagentexte, als die eigentlichen Feinde bezeichnet werden. Hypothese 3. Das Konzept1 des vormodernen Advaita­Vedānta von der Erlösung zu Lebzeiten (jīvanmukti) thematisiert Macht1 (bala, vaśa, abhibhava), Macht der Leidenschaften und Gewohnheiten, Kampf gegen die Macht der eigenen Leidenschaften und negativen Gewohnheiten. Es handelt sich dabei vor allem um folgende Themen: • • •

die Macht der eigenen Leidenschaften (kāmādi) und negativen Gewohnheiten (vāsanā) über das Erkennen und Handeln des Menschen; der innere Kampf des nach Erlösung (mukti) Strebenden gegen Leidenschaften und negative Gewohnheiten; die verschiedenen Mittel zur Befreiung von den Leidenschaften und negativen Gewohnheiten: – die heiligen Worte (mahāvākya) als Mittel (pramāṇa) zum Erlangen einer Erkenntnis des Wesens der Wirklichkeit (tattvajñāna), eine Erkenntnis, die Leidenschaften und negative Gewohnheiten auflösen kann; – die vernünftige (yukti), auf Erfahrung gestützte (anubhūti) Reflexion (vicāra) über diese Worte (śruti) und das von ihnen Gelehrte27; – zwei Methoden, die Leidenschaften unmittelbar zu bekämpfen: - asketisches Bemühen um Entleidenschaftlichung (vairāgya) - die Praxis yogischer Meditation (yogābhyāsa).

Dass die Leidenschaften, genauer sinnliches Begehren oder Gier (kāma), Zorn oder Hass (krodha), Verwirrung oder Verblendung (moha), letztendlich nur Leid bewirken, ist in der klassischen philosophischen Literatur Indiens praktisch unstrittig28. 27 28

Siehe vor allem PD 7. Es ist, wie erwähnt, eine der Lehren der Bhagavadgītā; Aber auch die Yogasūtras enthalten eine vergleichbare Liste von Übeln (kleśa), ebenso die buddhistischen Dogmatiken. Auch im Si-

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Strittig, und zwar auch in den dem Vidyāraṇya zugeschriebenen Texten, ist aber die Frage, wie man diese inneren Feinde besiegt, sich unterwirft oder neutralisiert. Hier kann man ein asketisches, ein yogisches und ein gnostisches Modell unterscheiden. Das asketische und das yogische bilden dabei eine stärkere Einheit als das in einem gewissen Konkurrenzverhältnis dazu stehende gnostische Modell. Zur Bezeichnung dieser drei Strategien gegen die inneren Feinde werden an verschiedenen Textstellen verschiedene Begriffe gebraucht. In der JV sind diese die drei Zentralbegriffe, die Inhalt und Struktur dieses Textes bestimmen. Durch diese Unterscheidung zwischen Askese und Yoga auf der einen Seite und Gnosis auf der anderen öffnet sich überhaupt erst der semantische Raum, den der Begriff von der Erlösung zu Lebzeiten füllt. Gnosis meint hier das Erkennen des Wesens der Wirklichkeit (tattvajñāna), das darin besteht, dass nur das eine unterschiedslos gleichförmige brahman wirklich ist, und die daraus scheinbar hervorgegangene vielheitlich differenzierte Welt eine Illusion – eine Erkenntnis, die das Erlösung bewirkende Ziel des orthodoxen Advaita-Vedānta ist. Die JV vertritt nun den Standpunkt, dass ein solches Wissen zwar die Erlösung nach dem Tod bewirkt, was ja eines der Zentraldogmen des Advaita-Vedānta ist. Aber in diesem Leben kennt der so Erwachte zwar die Wahrheit, ist aber noch nicht frei von Leiden, da in ihm noch die Leidenschaften und negativen Gewohnheiten, d. h. Begehren, Hass usw., lebendig sind. Erst wenn man zusätzlich zur Wirklichkeitserkenntnis auch noch den Sieg über die Leidenschaften und negativen Gewohnheiten erlangt, ist man schon vor dem Tod erlöst. Das erste Mittel, das ich oben als „asketische Strategie“ bezeichnet habe, heißt „Versiegen der Gewohnheiten“ (vāsanākṣaya), nämlich der latenten Leidenschaften, der negativen Tendenz, auf bestimmte Sinnenreize mit Verlange oder Abscheu zu reagieren29. Ein Mittel, die Tendenzen zu Begehren, Zorn usw. zum Versiegen zu bringen, besteht darin, dass man sich die mit den Sinnengenüssen notwendig verbundenen Übel (doṣa) kontemplativ vergegenwärtigt. Das zweite, oben als „yogisch“ bezeichnete Mittel heißt in der JV „Beseitigen des Denkens“ (manonāśa). Dessen Beschreibung ist in weiten Teilen ein Kommentar zur kontemplativen Technik des Yogasūtra30, die darauf abzielt, eine tiefe innere Stille und Beruhigung zu erzeugen, frei von allen Gedanken, Vorstellungen. Hier, in der JV, soll diese Praxis, möglichst oft und lange angewendet, das „Versiegen der Gewohnheiten“ unterstützen, indem sie aktiv verhindert, dass leidenschaftliche Regungen entstehen, die ja immer mit Vorstellungen verbunden sind.

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khismus werden Begehren usw. als die eigentlichen Feinde bezeichnet; und im sufistischen Islam gibt es das Konzept, dass der eigentliche, d. h. der Große Jihad, der Kampf gegen die inneren Feinde ist. Da in der modernen westlichen Kultur die Überzeugung vorherrschend ist, Verlangen, Begehren, Gier seien die Grundlage eines sinnvollen Lebens, einer gedeihenden Wirtschaft, mag es schwerfallen und Abwehrmechanismen mobilisieren, wenn in den hier betrachteten Texten davon ausgegangen wird, dass solche Charaktereigenschaften als leidvoll betrachtet werden. Eigentlich wäre die korrekte Bezeichnung Yogaśāstra. Vgl. Philip André Maas, Samādhipāda. Das erste Kapitel des Pātañjala yogaśāstra zum ersten Mal kritisch ediert, Aachen 2006.

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Wie erwähnt, ist dieses Konzept, Erlösung zu Lebzeiten durch Vernichtung der auch nach der Erkenntnis noch weiterwirkenden negativen Gewohnheiten und durch Unterdrückung der mentalen Aktivitäten zu erreichen, nur eines von mehreren. Es steht gleichsam in der Mitte zwischen einem stärker auf asketische Willensanstrengung setzenden und einem, das allein auf die Macht der heiligen Worte vertraut. Die Methode, den eigenen Geist (svamanas) gleichsam mit Gewalt zu zügeln, wird in der JV interessanterweise als haṭhayoga bezeichnet. Die JV vergleicht die Lenkung der eigenen Gedanken mit der eines Ochsen (paśu): Man kann ihn einerseits mit Stockschlägen oder Schimpfen zu bewegen versuchen, andererseits indem man ihm Heu zeigt oder den Nacken krault. Ebenso kann man versuchen, mit haṭhayoga den eigenen Geist z. B. mittels Atemübungen gefügig zu machen, oder mit dem von der JV propagierten Sanften Yoga (mṛduyoga)31. Die andere Methode – die sich allein auf die Wirklichkeitserkenntnis stützt – wird beispielsweise im siebten Kapitel der PD ausführlich gelehrt. Wie im sechsten Kapitel wird hier explizit die Vorstellung abgelehnt, eine weitere Praxis sei nötig, nachdem man bereits das Wesen der Wirklichkeit erkannt hat, weil nur so die Erlösung zu Lebzeiten erlangt werden könne, nämlich indem man Leidenschaften und negative Gewohnheiten aufgibt und alle mentalen Aktivitäten einstellt. Ein solcher Machtkampf mit dem eigenen Geist findet hier nicht statt. Erlösung zu Lebzeiten wird dadurch erlangt, dass die Erkenntnis der Wirklichkeit im eigenen Bewusstsein so tief verwurzelt wird, dass dies praktisch immer gegenwärtig bleibt. Das hat zur Folge, dass verschiedene Formen von Begehren zwar noch auftreten – wie z. B. nach Nahrung – aber der Lebend-Erlöste davon innerlich nicht mehr affiziert wird. Er betrachtet seinen Leib, die Nahrung, sein Begehren als letztendlich nicht wirklich und nimmt gleichsam nur noch mechanisch Nahrung zu sich, ohne innere Beteiligung32. SCHLUSSÜBERLEGUNGEN Ein erlöster Mensch zeichnet sich in allen drei hier erwähnten Modellen – dem Sanften Yoga der Argumente in der JV, dem dort abgelehnten haṭhayoga der Atemkontrolle, und dem gnostischen der PD – dadurch aus, dass er nicht nur weiß, dass alle Vielheit Illusion ist, sondern dass er zusätzlich auch die tief sitzenden Leidenschaften und negativen Gewohnheiten neutralisiert hat und sich möglichst lange und oft in einem Zustand tiefer, inhaltsloser Versenkung befindet. Ein solches Ideal wirkt im gegenwärtigen kulturellen Kontext befremdlich. Das könnte einer der Faktoren sein ist, warum Hermeneutiken der Verdächtigung so verbreitet sind, die vermuten, hinter Idealen wie denen der hier untersuchten Texte 31 32

JV 1.3.27; JV 3.2.1 ff.: yukti ist effektiver als haṭha; PD 7.245; Siehe auch ŚaṄkara/ VidyĀraṆya, Aparokṣānubhūti. Śrīvidyāraṇya Muninā Kṛtayā Dīpikayā Sahitā, ed. v. RĀmasubrahmaṆyĀrya, Vārāṇasī 1961, V. 143. PD 7.

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verberge sich deren eigentliche Wahrheit, Streben nach gesellschaftlicher oder politischer Macht oder Zugehörigkeit, von Personen oder Gruppen (des Reiches, der Hindus, der Brahmanen oder der Sekte der Advaita-Vedāntins). Wie erwähnt, kann ich in den untersuchten Quellentexten aber keinen Hinweis finden, dass ein solcher Verdacht begründet wäre. Die Quellen wirken nicht wie Zeugnisse eines Machtkampfes zwischen verschiedenen Gruppen oder Personen, auch nicht wie der Versuch, bestimmte Machtstrukturen zu stärken oder gruppenspezifische Identitäten zu konstruieren. Dass die Texte zu solchen Zwecken verfasst oder verbreitet wurden, kann man nicht ausschließen. Aber es gibt keine Indizien dafür, es sind m. E. keine privaten Notizen oder Briefe aus dem 14. Jahrhundert erhalten, die eine politische Motivation der Beteiligten erkennen lassen könnten. Die von mir untersuchten Texte selbst wirken wie authentische Zeugnisse eines gnostischen, yogischen oder asketischen Strebens nach Erlösung durch Freiheit von den an die Welt fesselnden Leidenschaften. Wenn diese Vermutungen – es handelt sich bei den Quellen nicht um Zeugnisse politischen Machtstrebens sondern einer authentischen Bemühung um Erlösung – zutreffen, könnte man so formulieren: •



Eine politisierende, Hermeneutik der Verdächtigung betreibende Kulturwissenschaft negiert die Möglichkeit, dass Menschen Ziele haben oder hatten, die vom gegenwärtigen Werte-Konsens abweichen (Erlösung1), und diese auch vernünftig und methodisch reflektieren (Theorie1). Diese Negation beruht auch auf der Konstruktion des Unterschieds zwischen eigener Vernünftigkeit, Wissenschaftlichkeit einerseits (Theorie2) und Unvernünftigkeit, Unwissenschaftlichkeit der Quellen andererseits (Theorie1), ein Konstrukt, dass alle Theorien in den Quellen zu bloßen Meinungen oder Ideologien reduziert. Eine zurückhaltendere und bescheidenere Kulturwissenschaft, für die ich hier plädiere, gesteht (wie z. B. schon der Pionier einer globalen Philosophiegeschichte, Paul Deussen) auch den Quellen eine Vernünftigkeit zu (Theorie1), die sich im Prinzip nicht von der eigenen unterscheidet. Auf dieser Grundlage anerkennt sie die Existenz von auch in Vernunft und Erfahrung gründenden Zielen oder Werten – wie Erlösung1 als Zustand der Freiheit von Leidenschaften –, die möglicherweise nicht mit den eigenen identisch sind.

Die politisierende Kulturwissenschaft (Theorie2) postuliert eine epistemologische Differenz, gleichsam um die axiologische Differenz nivellieren zu können. Die zurückhaltende Kulturwissenschaft (dialogisch, rekonstruierend) postuliert eine prinzipielle epistemologische Gleichheit und akzeptiert damit eine axiologische Vielheit. In der ersten Version dieses Artikels war ich davon ausgegangen, die Theorien2 seien Formen eines moralischen und erkenntnistheoretischen Nihilismus. Insofern sie die Methoden ignorieren, mit denen der traditionelle Advaita-Vedānta seine Theorien1 epistemologisch zu fundieren versucht – nämlich durch Logik (anumāna) und Erfahrung (anubhava) sowie die vedische Literatur –, insofern erscheinen sie als ein erkenntnistheoretischer Nihilismus, für den es keine Wahrheiten gibt, nur Meinungen. Und indem sie nur Ziele wie Macht (artha) oder Genuss (kāma) als

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Triebfedern menschlichen Handelns anerkennen, und die Tatsache ausklammern, dass offensichtlich manche Menschen nach Erlösung (mokṣa) streben, erscheinen sie als moralischer Nihilismus. Interessanterweise hat ein solcher Irrationalismus (Theorie2) seine historischen Wurzeln auch im Advaita-Vedānta. Bekanntlich ist Schopenhauer der Philosoph, der einen irrationalen Willen ins Zentrum der Metaphysik gestellt hat. Gibt es bei Schopenhauer (und Paul Deussen) noch die Möglichkeit und das Ideal einer Erlösung vom Willen durch Erkenntnis, so wird diese von Nietzsche und Freud sowie in deren Nachwirkungen geleugnet. Dass nun Schopenhauer dieses metaphysische Willens-Konzept von einer Form des Advaita-Vedānta übernommen hat, wurde unlängst von Urs App gezeigt33. Dabei handelt es sich um die die Weltillusion hervorbringende Māyā, die vielfach mit dem Begehren (kāma) gleichgesetzt wird, was Schopenhauer als Wille zum Leben bezeichnet. Das Erlösungskonzept Schopenhauers – Negation des Willens zum Leben – wurzelt offensichtlich auch im hier vorgestellten Konzept einer Erlösung zu Lebzeiten, die im Sieg über das Begehren (kāma) besteht. Die hier kritisierte Form von Kulturwissenschaft geht davon aus, Vernunft, Logik, Erfahrung, Objektivität, sowie Erlösungsstreben seien keine Faktoren, die die Entstehung und Entwicklung der Literatur des Advaita-Vedānta bestimmt haben. Dieses Erlösungskonzept1 sei nicht Ergebnis von Denken (manana), Erfahren (anubhava), Auseinandersetzung mit der Tradition (śravaṇa) sowie dem Versuch, das Ideal der Erlösung zu Lebzeiten zu verwirklichen; man müsse hier nach anderen Faktoren suchen, wie hinduistische Identitätsbildung, Herrscherlegitimation etc. Daher war mein erster Eindruck, eine solche Kulturwissenschaft würde alle menschliche Tätigkeit soziologisch oder politisch erklären. Aber das ist natürlich nicht der Fall. Wie gezeigt, geht Kulturwissenschaft in der Regel davon aus, dass nur das Verhalten der Anderen zu Soziologie oder Politik reduziert werden könne – die eigenen wissenschaftlichen Theorien2 dagegen beanspruchen durchaus, auf Logik (Methode) und Erfahrung (Empirie) zu beruhen. Damit liegt ihr aber der gleiche Gegensatz zugrunde, der auch das Feld darstellt, auf dem der Kampf um Erlösung1 stattfindet: auf der einen Seite Begehren (kāma), Wille zum Leben oder zur Macht, politisches oder gesellschaftliches Machtstreben, etc. – auf der anderen Seite rationale Untersuchung (vicāra), Vernunft (yukti), Disziplin (yoga), Wissenschaftlichkeit (śāstrīyatva) etc.

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Urs App, Schopenhauers Kompass, Rorschach 2011.

EFFICACY The Immediate-Practical Modality of Doing Religion Adam Yuet Chau Ling (靈) is one of the most important concepts in Chinese religious life. Depending on the context, it can mean ‘spirit’, ‘soul’, ‘numinous’ or ‘efficacious’. It is a key word that evokes the invisible, supernatural realm as well as the human desire to connect to this realm and access its power. When a person or a community beseeches a deity and their wish is fulfilled, it is said that the deity has granted them an ‘efficacious/miraculous response’ (lingying 靈應). The wishes people bring to the deities include curing an ill family member, finding a suitable marriage partner, success in an examination, getting a good job, pointing to the right direction for conducting business, enlightening one on a knotty personal dilemma, bringing down ample rain after a bad drought, and so forth1. This efficacious responsiveness is what ties humans to the spirit world of deities, ancestors and ghosts. In this article I will explicate the Chinese understanding of ling, especially its ‘efficacy’ dimension, through a variety of examples of religious practices. In the first section I will present a general picture of ling-seeking religious practices, contrasting an efficacy-oriented religiosity with a dharma-based religiosity that is more commonly found in confessional religions. In the second section I will present a number of examples of the immediate-practical modality of doing religion. In the concluding section I will discuss the fate of the immediate-practical modality of doing religion in the context of contemporary China. To illustrate the immediate-practical modality of doing religion I have drawn from my own fieldwork materials collected in rural northern Shaanxi Province in northcentral China (known as Shaanbei) in the 1990s as well as from Hong Kong and Taiwan. When I generalise about ‘Chinese’ practices I rely on my more than twenty years’ experience as a specialist on Chinese religion (drawing upon insights generated from my own work as well as that of other scholars who have worked on other regions in China and other historical periods)2. Generalisations are inevitable for an essay of this nature. China has undergone tremendous sociopolitical and cultural transformations in the past hundred years or so, and the religious life of the 1 2

These are what Ian Reader and George J. Tanabe, Jr. have called ‘worldly benefits’ in the context of their study on Japanese religiosity. Ian Reader / George J. Tanabe, JR., Practically Religious. Worldly Benefits and the Common Religion of Japan, Honolulu 1998. Some sections of this essay have been drawn from my earlier work, e. g., Adam Y. Chau, Miraculous Response. Doing Popular Religion in Contemporary China, Stanford CA 2006; Adam Y. Chau, Modalities of Doing Religion, in: Chinese Religious Life, ed. by David Palmer / Glenn Shive / Philip L. Wickeri, Oxford 2011, 67–84.

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Chinese has also changed a lot. However, there has been a vibrant revival of many religious traditions ever since the reform era began in the early 1980s. Therefore for this essay I tend to adopt the present or present continuous tense to characterise what traditionally were true and what are often still true today. EFFICACY AS A SOCIAL CONSTRUCT The variety of religious practices in the Chinese world is mind-boggling, and there has been so much intermingling of religious traditions that it is difficult to characterise a particular practice as belonging to a particular religious tradition. One way to understand this complex religionscape is to look at how, in the long history of religious development in China, different ways of ‘doing religion’ evolved and cohered into relatively easy-to-identify styles or ‘modalities’. These are relatively well-defined forms that different people can adopt and combine to deal with different concerns in life; however, the contents within these forms can vary widely. These modalities of ‘doing religion’ are as follows: 1. Discursive/scriptural. People are attracted to this modality because of the allure of Confucian, Daoist, Buddhist Great Texts (classics, sutras, etc.). This modality obviously requires a high level of literacy and a penchant for philosophical and ‘theological’ thinking; 2. Personal-cultivational. Practices such as meditation, qigong, alchemy, personal sutra chanting, and keeping a merit/demerit ledger belong to this modality. This modality presupposes a long-term interest in cultivating and transforming oneself (whether Buddhist, Daoist, or Confucian). Sometimes sectarian movements might precipitate out of these personal-cultivational pursuits (e. g., Falungong); 3. Liturgical/ritual. Practices such as exorcism, sutra chanting rites, fengshui maneuvers, and feeding the hungry ghosts belong to this modality. Practices in this modality aim at more immediate transformations of reality done in highly symbolic forms. This is the modality of highly-trained religious specialists (monks, Daoist priests, yinyang masters, Confucian ritual masters, etc.) and often involves esoteric knowledge and elaborate ritual procedures; 4. Immediate-practical. Practices in this modality also aim at immediate results but compared to those in the liturgical modality they are more direct and simple. There are minimal ritual elaborations. Examples include divination, getting divine medicine from a deity, charms, and consulting a spirit medium; 5. Relational. This modality emphasizes the relationship between humans and deities (or ancestors). Examples are building temples, making offerings, taking vows, spreading miracle stories, celebrating deities’ birthdays at temple festivals, and pilgrimage3. 3

For a more detailed treatment of this schema see Chau, Modalities of Doing Religion (see footnote 2).

Efficacy

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Even though these modalities of doing religion are products of conceptualisation and schematisation, I would like to argue that they are far more ‘real’ than conceptual fetishes such as ‘Buddhism’, ‘Daoism’, and ‘Confucianism’. The Chinese people have engaged with these modalities of doing religion in real practices, whereas no one ever engages with ‘Buddhism’ or ‘Daoism’ because these exist more as conceptual aggregates with only imputed concreteness and cohesiveness. Religious thinkers and scholars of religion have of course attempted to make various religious practices into coherent wholes (including by giving them names such as ‘Buddhism’ and ‘Daoism’), but such attempts at arriving at cognitive, conceptual and sometimes institutional coherence have not had much impact on how most people ‘do religion’ on the ground, where they don’t care which deity belongs to which religion or which religious tradition inspired which divination method. What happens on the ground ‘religiously’ is very much a congruence of local customs, historical accidents, social environment, personal temperaments, configurations of modalities of doing religion, and the makeup of the local ritual market (e. g., the availability of which kinds of ritual specialists to cater for the need as well as to stimulate the need of which kinds of clients). These modalities are frameworks for religious practice and action. They both restrain and enable people to express their religious imagination in words, images, sculptural and architectural forms, and actions. Crudely speaking, the elite tend to adopt the first two modalities of doing religion while ordinary people tend to adopt the last three modalities, with the immediate-practical modality standing out as the most prevalent form of religious practice for the vast majority of Chinese people. This article is focused on this modality. The overwhelming majority of ordinary Chinese people do not have any confessional religious identity; rather, they seek divine blessing and give thanks during calendrical festivals (e. g., celebrating the ‘birthday’ of a local deity or pacifying ‘hungry ghosts’ in the seventh month of the lunar year) and beseech for divine intervention when they run into particularly thorny problems and challenges that ordinary human efforts have failed to resolve. Because of the centrality of efficacy (ling) in Chinese religious practices, we can characterise Chinese popular religion as essentially a religion of efficacious response (lingying). Most thanksgiving plaques or banners found in temples have the following stock expressions: youqiu biying (whatever you beg for, there will be a response), shenling xianying (the divine efficacy has been manifested), and baoda shen’en or dabao shen’en (in gratitude for divine benevolence). If we reject the possibility of real divine power, we have to examine how ling is socioculturally constructed. Even though ling is constructed by people, people’s experience of ling is real and is a social fact. A deity is ling because people experience his power and therefore say that he is ling. One deity is more popular and ‘powerful’ than another because more people say the first one is more ling. A perceptive Taiwanese informant told the anthropologist Emily Ahern: “When we say a god is lieng [ling] we mean the god really does help us. Word is then spread from person to person, each telling the other that the god helped. So it is really a matter of relations among men. … A change in the popular-

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ity of temples is not a result of change in gods’ abilities. The abilities of gods don’t change. People’s attitudes toward them do, however.”4 This understanding of deities’ power would be valid for the Chinese world in general. In other words, the more people experience a deity’s ling, the more ling is attributed to the deity, which in turn contributes to the intensity of people’s experience of the deity’s ling, and so on. One deity’s decline in popularity is usually caused by the rise in people’s ling claims for another deity and the subsequent defection of incense money to the other deity. On the one hand, ling is a deity’s power in the abstract. On the other hand, ling inheres in concrete relationships, between the deity and an individual worshiper or between the deity and a community. It is meaningful to worshipers mostly in the second sense because ling in the abstract is only latent power, not manifest power, and the only meaningful way a deity manifests his or her power is through aiding a worshiper who is in trouble or who needs the blessing to weather life’s many trials and tribulations. An allegedly powerful deity whom a person has nonetheless never consulted is without significance to this particular person5. Like social relationships, the relationships people have with deities also need maintenance and frequent renewal, hence the visits to the temple in the first lunar month and on the deity’s birthday. Despite the great variety of deities worshiped in China, there seem to be some very basic principles or postulates that inform people’s religious beliefs and practices and form the core of their religiosity. These basic postulates are: 1. That there are divine powers, especially in the form of various deities and spirits (or that it does not hurt to assume that there are divine powers); 2. That people should respect these deities and spirits and do whatever that would please them (e. g., building them beautiful temples; celebrating their birthdays by organising festivals; making them offerings on a regular basis) and should not do anything that displeases them (e. g., neglecting to making offerings to them; blasphemy); 3. That the deities and spirits can bless people and help them solve their problems; 4. That there are malevolent spirits one needs to guard against and pacify periodically, and one especially needs divine assistance to make sure one will not be afflicted by these spirits or is rid of their baleful influence; 5. That people should show their gratitude for the deities’ blessing and divine assistance by donating incense money, burning spirit paper, presenting laudatory thanksgiving plaques or flags, spreading the deities’ names, and so forth;

4 5

Emily M. Ahern, Chinese Ritual and Politics, Cambridge 1981; quoted in P. Steven Sangren, History and Magical Power in a Chinese Community, Stanford 1987, 202. The responsiveness of a deity does not correspond to how high the deity is in the hierarchy of deities in the Chinese pantheon. Higher deities are often not useful for mere mortals because they are too morally upright or are simply too high up for ordinary people to reach. As a result, the most commonly approached deities tend to be lower ranking deities whose divine power can be more readily accessed and who tend to be more appreciative of the offerings and people’s devotion.

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6. That some gods possess more efficacy than others (or have specialised areas of efficacious expertise); 7. That one is allowed or even encouraged to seek help from a number of different deities provided that one does not forget to give thanks to all of them once the problem is solved6. These seven basic postulates underlie most of Chinese people’s religious beliefs and practices, even though they are not systematically laid out as I have done here. For example, all temple festivals are expressly to celebrate the gods’ birthdays, to show gratitude for a year’s peace and prosperity or a good harvest, or simply to make the deities happy. Different people must have different degrees of faith or trust in the power of different deities depending on their personalities and personal experience with these deities. Even though the religious landscape in China consists of a large number of deities, sacred sites, and religious specialists, each Chinese person’s set of ‘meaningful deities’, sacred sites, and religious specialists is a limited one7. The makeup of each person’s ‘religious habitus’8, that is, his attitudes toward, and behaviours concerning deities, sacred sites, religious specialists, religious rituals, and supernatural forces in general – is determined by whether or not, in what way, and to what degree the events in his personal life have brought him, in a meaningful way, to which of the deities, sacred sites, and religious specialists. It also goes without saying that each person’s religious habitus changes over time. Because of their lack of life’s many responsibilities and experience with deities’ assistance, children and young people tend to treat deities with less respect, and they also know much less about different deities’ legends and magical exploits. On the other hand, older female members of the household tend to take on the responsibility of making offerings to deities and to pray for divine assistance on behalf of the entire household or for particular household members in trouble.

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8

For other discussions on the cultural construction of ling in Chinese society see Stephan Feuchtwang, Popular Religion in China. The Imperial Metaphor, Richmond/Surrey 2001; Jen-chieh Ting, Lingyan de xianxian: you xiangzheng jiegou dao shehui jiemeng, yige guanyu hanren minjian xinyang wenhua luoji de lilunxing chutan (Manifestation of ling Efficacy: From Symbolic System to Social Coalition) [English title given in the original], in: Taiwan shehuixue kan (Taiwan Journal of Sociology) 49 (June 2012), 41–101. In their comparative study of a Chinese person’s and a Hindu Indian person’s religiosity, Roberts, Chiao, and Pandey put forward the concepts of ‘personal pantheon’ and ‘meaningful god set’. [John M. Roberts / Chien Chiao / Triloki N. Pandey, Meaningful God Sets from a Chinese Personal Pantheon and a Hindu Personal Pantheon, in: Ethnology 14.2 (1975), 121– 148.] According to them, a personal pantheon is ‘the aggregate of gods known to a single believer’ (ibid., 122), whereas this same person’s meaningful god set refers to the most important subset and core of his personal pantheon, which comprises ‘gods who are particularly meaningful for the believer in the sense that they have personal significance and salience for him, but not necessarily in the sense that he loves or treasures them’ (ibid., 123). This is a concept inspired by Pierre Bourdieu’s notion of ‘habitus’; see Pierre Bourdieu, An Outline of a Theory of Practice, Cambridge 1977.

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In his study of individual variations of religious belief and unbelief among Taiwanese villagers, the anthropologist Stevan Harrell found four basic types of believers (or what I would call believers with four basic kinds of religious habitus): intellectual believers, true believers, nonbelievers, and practical believers. Intellectual believers base their beliefs on intellectual coherence and systematic relatedness of religious ideas and practices and are extremely rare; true believers are characterised by their total credulity toward all religious ideas and are rare; nonbelievers are those who completely disregard or ignore the possible truth or usefulness of any religious tenets and are rare as well; and practical believers base their belief on the principle of practical utility and constitute the great majority of Harrell’s interviewees. The religious attitude of the practical believers is one of ‘half trust and half doubt’ (ibid. 86, in Mandarin banxin banyi) or ‘better believe than not’. Similarly, the great proportion of Chinese people seems to be practical believers and many fewer are true believers or nonbelievers. Many would espouse a practical attitude insofar as supernatural powers and stories of efficacious responses are concerned: ‘one should not not believe [what others say about the power of deities and other supernatural occurrences], nor should one believe everything [they say]’ (buke buxin, buke quanxin). During my fieldwork in Shaanbei in the 1990s many peasants had related to me a common saying that testifies to the flexible attitude they hold toward deities and worship: ‘If you worship (jing, literally ‘honour’ or ‘respect’) him, the deity will be there/present (to help you); if you don’t worship him, he won’t mind’ (jingshen shenzai, bujing buguai). Despite the importance of ‘belief’ as a general backdrop to Chinese people’s religious practices, this is not the same kind of belief that is required of confessional religions such as the Abrahamic faiths. In the case of the latter, a systematised set of belief forms the doctrinal basis of a follower’s religious identity and practices (for example, instructed as catechism for Catholicism). This kind of religiosity can be called a dharma-based religiosity, which is prevalent amongst followers of the Abrahamic and other confessionally-inclined religions. THE IMMEDIATE-PRACTICAL MODALITY Both the liturgical and immediate-practical modalities of doing religion are premised on the notion of efficacy. When a household or a community hire a troupe of Buddhist or Daoist ritualists for a ritual service (e. g., during a funeral or for a communal exorcism), they expect the ritual to work, i. e., efficacious. On the other hand, the ritual service providers have over time perfected the provision of almost guaranteed liturgical success. In other words, it is assumed that their rituals would be efficacious (e. g., sending off the soul of the deceased to Western Paradise) because the ritualists have been endowed with a privileged access to divine power because of their training and accreditation (e. g., through ordination). But on some occasions the efficacy of their liturgical intervention might be called into question, for example, when a plague continues to ravage a community even after an expensive pestilence-ridding ritual has been conducted.

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Practices in the immediate-practical modality of doing religion also aim at immediate results but compared to those in the liturgical modality they are more direct and involve shorter and simpler procedures, with minimal ritual elaboration. Examples include divination (oracle rod, moonshaped divination blocks, divination sticks, coins, etc.), getting divine medicine from a deity, using talismans (e. g., ingestion of talismanic water), consulting a spirit medium, calling back a stray soul, begging for rain, ritual cursing, or simply offering incense. Because of its simplicity and low cost, this modality is the most frequently used by the common people (peasants, petty urbanites). The key concepts in this modality are efficacy (or miraculous power) (ling) and ‘beseeching for divine assistance’ (qiu). Below I will give a few examples of religious practices that belong to the immediate-practical modality of doing religion.

CALLING BACK A LOST SOUL Chinese people go to the deities or consult mediums when they encounter specific problems or crises. However, they employ a host of family ritual procedures to deal with a variety of simple problems. One may call these home magical remedies. One of the most common problems in Chinese peasant homes is soul loss of a child; the family ritual procedure involved is known as soul-calling (jiaohun). When a baby or young child cannot stop crying, especially at night, or acts listless, or refuses to eat, and the condition persists, some people would think that the soul of the child has gone astray. One family remedy is to draw on a sheet of paper an upside-down hanging donkey (daodiaolü) and write a rhyme next to the picture. This sheet is then pasted on a tree or lamppost on a main village road for passersby to read, so that the child’s soul may be called back. The content of the rhyme is some variation on the following: The heaven is bright and the earth is bright; There is a child in my home that cries at night. If a passing gentleman reads this once; He [the child] will sleep all night till broad daylight.

Another simple remedy to call back the soul is employed if the first one does not work. This method works for both adult and child patients. The father and a sibling of the patient circle the village in the evening calling the soul. During their entire round the father cries out the name of the patient and the sibling replies in the voice of the patient: ‘I’m back’. During my fieldwork in rural northern Shaanxi Province in the 1990s I encountered unexpectedly this kind of soul-calling duo a number of times, each time being quite an eerie moment. When these simple family ritual procedures fail to effect recovery of the patient, most Chinese people would go to a temple, consult a medium, bring the patient to see a doctor, or do a combination of all these. When visiting a deity or consulting a medium, people normally donate some incense money and make a vow to contribute more incense money, bring gifts, or sponsor opera performances

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if the deity or the deity possessing the medium helps the patient recover. Of course, illness is far from being the only problem people bring to the deities. Other problems include marriage prospects, changing jobs, promotion, travel or business plans, lawsuits, interpersonal problems, missing persons or goods, or any other troubles. Many people attend temple festivals specifically to honour their vows by bringing the promised amount of incense money donation. Occasionally personal troubles are diagnosed by mediums or deities to be caused by a neglected vow fulfilment, sometimes even from past generations (divine punishment being another manifestation of the deities’ efficacy). CONSULTING A DIVINATION ROLLER The Chinese have developed divination techniques since antiquity. The oracle bones from more than 3,000 years ago are the best known. The other well-known divination method is drawing divination lots, in which a worshipper with a particular problem goes to a temple, burns incense in front of the deity, and then shakes a box of divination sticks until one ‘jumps’ out. He or she then consults the corresponding divination poem or message for the divine message and inspiration. Here I will describe another divination method, which is widespread in north China. The method involves the use of an oracle roller. And our example comes from the Black Dragon King Temple in rural northern Shaanxi province. The roller is a short, ‘fat’ length of wood with eight parallel segments along its sides (so the two ends are octagon-shaped). It is about ten inches long, and a little thicker in the middle than at the ends (resembling a spindle but with truncated ends). Each segment has a different four-character message inscribed in the wood. The consultee with a particular problem holds this roller in both palms and rolls it horizontally in a wooden tray about twelve inches wide and twenty-two inches long. When the roller stops, the characters on the top segment are the message the Black Dragon King wants to communicate to the consultee. The eight four-character messages are as follows: • • • • • • • •

Extremely auspicious Not so good Not clear how you would thank me for the help Go home soon if traveling Not in accordance with god’s ways Pray with a sincere heart Bring the medicine with magical water Will get well after taking the medicine

The simplest application of this oracle is to ask a yes or no question. For example: ‘My brother and I are planning to take a trip to Inner Mongolia to sell some clothes. Your Highness the Dragon King, do you think we will make some good money? If yes, give us ‘extremely auspicious’; if no, give us ‘not so good’. Then the consultee rolls the roller. If the god’s answer is ‘Not sure how you would thank me for the

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help’, the consultee either puts more money in the donation box or makes a vow, promising that he will bring a certain amount of incense money if he makes money on the trip with the Dragon King’s blessing. Sometimes the consultee promises ten percent of his profit or even higher. It is like entering into a partnership with the Dragon King. If the answer is ‘Not in accordance with god’s ways’, the consultee needs to reflect on whether his business plan is going to break the law or offend the god. Or he can change his line of questions by asking if it is not the right time to engage in this particular business venture or if he should team up with some partners, etc. Other yes or no questions can be: ‘Will I be married soon?’; ‘Will Grandma get better or not?’; ‘Will I get a promotion?’ and so forth. The reference to medicine and magical water on the oracle roller indicates that this roller is the medicine oracle, most often used when consultees want to request the god’s divine intervention in treating their own or their family members’ illnesses. The Black Dragon King has another roller that is used only when, on increasingly rare occasions, there are requests for rain. It is called the rain oracle. On it the two medicine-related messages on the medicine roller are replaced by two rain-related messages: ‘will rain today’ and ‘will rain within three days’9. BEATING THE MEAN PERSON: RITUAL OF CURSING AND SPELLBINDING ONE’S ENEMY10 ‘Beating the mean person’ is a form of sorcery common among the Cantonese and Tewchownese11. In its simplest form, a person who thinks that someone is bothering or hurting him or her can make a small cutout paper figure with the alleged enemy’s name written on it (the enemy is the ‘mean person’), go out to the sidewalk after dark, invoke the power of a deity (with incense and offerings), and then beat savagely on the paper figure using a worn shoe or sandal while loudly cursing the enemy (not unlike practices involving voodoo dolls). The hope is that the enemy will be subdued and will no longer harm the person in question. A typical curse would go like this (loosely translated from the original Cantonese with an attempt to rhyme as in the original): 9 10

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For a study on how geomancy is used as a divinatory tool in contemporary China see Ole Bruun, Fengshui in China. Geomantic Divination between State Orthodoxy and Popular Religion, Copenhagen 2003. For more detailed studies on the ‘beating the mean person’ ritual, consult Chiao Chien’s ‘Beating the Petty Person’, A Ritual of the Hong Kong Chinese’, in: Special Issue on Anthropological Studies of China, New Asia Academic Bulletin 6 (1986), 211–218 and a research report on the website http://www.cciv.cityu.edu.hk/website-2006-2007-a/?redirect=/~cciv/product/fest/gano/ index.php (Chinese Civilisation Centre, City University of Hong Kong; in Chinese), accessed on 25 April, 2011. The information in this section is based on various websites on the practice of beating the mean person, especially one provided by the Chinese Civilisation Centre at the City University of Hong Kong, which includes an audio segment of a professional old lady’s beating the mean person curse.

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Adam Yuet Chau Beat your bloody head, so that you will never get ahead; Beat your bloody mouth, so that your breath can’t come out; Beat your bloody hand, so that you will always have a lousy hand [at gambling]; Beat your bloody feet, so that your shoes will never fit; Beat your bloody lungs, so that you will be stung and hung; …

Though apparently quite common in the past and done by anyone with a grudge (because it is such a simple practice), nowadays in urban Hong Kong people who want to beat the mean person would hire a ‘specialist’ (usually an old lady) to do it. The most famous place for beating the mean person is at the ‘Goose Neck Bridge’, a dark place underneath the highway overpass between Causeway Bay and Wanchai. One can request and pay for the beating of a mean person any time of the year, even though in the spring, on the day of the ‘awakening of the insects’ (March 6 or 7 each year), the need for a generalised anti-mean-people prophylactic treatment is the greatest and so is the efficacy of such a treatment (similar to getting an immunisation shot). On this day the site overflows with people requesting such sessions, and more ‘specialists’ show up to meet the high demand. The cost of a ‘quick and dirty’ session is around fifty Hong Kong dollars on an ordinary day, but more on the ‘Awakening of the Insects’ Day. CONSULTING A SPIRIT MEDIUM Mr. Zhu is in his forties and he is a ‘divine official’ (shenguan, a type of spirit medium12) in a small village in rural Shenmu County, Yulin Prefecture, northern Shaanxi Province. He is married and has two unmarried children. Like the rest of his co-villagers, he is officially a farmer and has rural household registration. But because so many people come to consult him, he has become a professional spirit medium and does very little farm work nowadays, leaving it to his wife and neighbors. Three deities are his spirit familiars: the Azure Cloud Immortal (Qingyundaxian), the Red Cloud Immortal (Hongyundaxian), and the Fire Immortal (Huoyanzhenjun). During each spirit consultation session one of the three deities would come down and possess the spirit medium. Mr. Zhu’s father, who is in his early seventies, was the first one in the family who became a spirit medium (when he was a young man)13, and when he became older he passed the trade to his son and now 12 13

There are two types of spirit mediums in Shaanbei: shenguan are more common in the north and wushen are more common in the south. The ‘ethnographic present’ in this section refers to the mid-1990s. One of his aunts died without bearing any children, and a few years after her death she cultivated herself into becoming an immortal (the Red Cloud Immortal) and asked her nephew to act as a spirit medium for her. After much resistance he eventually agreed. The Fire Immortal is said to be the boyfriend of the Red Cloud Immortal. The Azure Cloud Immortal used to live in a large temple in Shenmu City, the county capital. During the Cultural Revolution his temple was destroyed so he fled the city and came to the village as a refugee. Old Zhu (the father) took him on as an additional spirit familiar. The temple in Shenmu City has since been rebuilt but it has no medium for the deity. The temple association has sent delegates to visit Old Zhu and

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lets the son handle most of the consultation sessions. The father also used to practice as an herbal doctor. The medium usually works in his own home, an adobebrick house with three cave-shaped rooms (yaodong) and a sizable front courtyard enclosed by a brick wall. Two of the rooms are living quarters for the family of three generations (two elderly parents, Mr. Zhu and his wife, and their two children, a school-going teenage son and an older daughter who has just graduated from junior high school and is staying at home helping with farming and household chores). Most of the medium’s séance is conducted on the raised earthen bed (kang), the center of daily domestic life in all northern Chinese homes. Each time when the medium invokes the spirits with a long chant while beating rhythmically a drum made of goat skin and wrought iron in front of the painted deity scroll hanging on the wall, one of the three deities will come down to possess him. A series of big yawns and horse snorting sounds indicates that the deity is soon to arrive. The moment he is possessed, his head and whole body shake uncontrollably, and he makes more horse snorting sounds14. But he quickly calms down and sits down on his small chair on the kang, and in a sing-song tune announces to the audience his (i. e., the deity’s) identity and begins his consultation sessions with the visiting clients (in this particular session the deity is the Azure Cloud Immortal). During the entire séance, which might last between half an hour to four or five hours depending on how many clients there are and how complicated the problems are, the deity speaks through the medium in the same sing-song tune, known as the ‘tune of the divine official’ (shenguandiao), while occasionally making horse snorting noises and drinking small cups of hard liquor (the medium never drinks when not possessed). During the entire session there are always a few onlookers who are clients waiting for their turn and co-villagers and children ‘watching the fun’ (kanhonghuo). After dealing with a few cases concerning a spirit medium succession problem, a persisting leg pain that regular doctors failed to cure, and a missing person, two small children are brought to the side of the kang by their respective parents. While the children look on quietly, the parents tell the deity about the children’s problems (crying incessantly at night, not having an appetite for a prolonged period of time, etc.). The deity diagnoses the problem as resulting from soul loss, i. e., the children’s souls having been captured by some evil spirits. The solution is some exorcistic procedures. With a brush the medium writes two talismans in red ink on yellow paper and instructs the parents to make the children wear them on their bodies for certain number of days. Then two flat, simple dough figurines about the length of ten inches are brought to him. The medium draws some talisman-looking strokes on different parts of the dough figurines while mumbling some chants. He sits up, comes down from the kang with his drum and stick, comes out to the courtyard with the clients, begins another session of drumming and chanting while instructing the children to go in and out in an intricate

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consult with the Azure Cloud Immortal to see if he would like to return to his old temple. So far the immortal has refused to go back to the city out of gratitude to Old Zhu. Spirit mediums are known colloquially in Shaanbei as ‘horse lads’ (matong). Temple murals and spirit medium altar scrolls typically depict deities riding horses in the clouds.

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pattern through a five-foot tall, pavilion-looking wooden structure, which was erected earlier during the day for precisely such exorcism purposes15. A large hay chopper (zhadao) is placed nearby, and the dough figurines, together with a small bundle of hay (symbolising the evil spirits) and a white cock, are placed on the wooden seat/trough of the chopper. With one swift and firm downward movement on the handle, the heads of the figurines and the cock (and presumably those of the evil spirits) are chopped off together with the hay bundle. The medium throws the headless cock to the center of the courtyard and it flies and runs around for a minute or two, splashing blood all around, before lying dead in one corner. Meanwhile, the medium smears one middle finger with the cock’s blood and dots the foreheads of the two children (presumably to endow them with new lives, this procedure being very similar to that of ‘opening the light’ of statues and spirit tablets). The smaller of the two children begins crying, to the amusement of all the onlookers. The medium returns to the altar on the kang, sits down, drops low his head, and a moment later he collapses into the sacks of grain next to the altar, looking dazed and exhausted, the Azure Cloud Immortal apparently having left his body16. DOES EFFICACY HAVE A FUTURE? The examples presented above all fall under the category of what I have called the immediate-practical modality of doing religion. In these cases the need for an efficacious response is urgent and the measure adopted, be it a home remedy or seeking help from a temple or a ritual specialist, is known to produce quick results (at least in theory). These religious practices are not supported by any systematic theology or are part of a coherent religious system even if they can be very ancient and deeprooted; rather, they are what is often labelled as ‘magic’ by scholars of comparative religion. Indeed, the modernist Chinese regimes of the twentieth century as well as modernist religious reformers have targeted ordinary Chinese people’s efficacy-oriented religiosity for eradication because, according to their elitest and modernist views, this kind of religiosity has resulted from ignorance and superstition instead of genuine religious and spiritual sensibilities. However, the immediate-practical modality of doing religion has been revived all over China during the reform period, especially in China’s vast countryside. In fact, the suppression of all forms of religious life during the Maoist period (from 1949 to the late 1970s) had dealt a heavier blow on highly institutionalised forms of religious life in China (e. g., monasteries and sectarian movements) and on professional ritual service providers (e. g., Buddhist and Daoist priests). The immedi15 16

This ritual is called ‘passing the obstacles’ (guoguan). Like most mediums in Shaanbei, he can’t recall what has happened during his possession. For other studies on spirit mediumism in Shaanbei see Xiaofei Kang, In the Name of the Buddha. The Cult of the Fox at a Sacred Site in Contemporary Northern Shaanxi’, in: Min-su ch’ü-i 138 (2002), 67–110; chapter 5 of Ka-ming Wu, Reinventing Chinese Tradition. The Cultural Politics of Late Socialism, Urbana 2015.

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ate-practical forms of religious life were also severely suppressed, but because they are much less visible and are not so dependent on elaborate ritual paraphernalia, many such practices managed to survive underground. In fact, the suppression of more elite forms of religious life during the Maoist era made room for the groundswell of the more immediate-practical forms, and the strict control and regulation of institutionalised religion during the reform era have provided much room for the immediate-practical forms to thrive. There has been a similar efficacy-orientation (especially faith healing) in Chinese Protestantism from the Maoist era to the present day.17 Religious trends in Taiwan in the past three decades or so give indication that in mainland China too increasing prosperity and political openness, improvements in transportation and communications technologies and other broader societal transformations will only bring about more vibrant varieties of the immediate-practical modality of doing religion18.

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18

See Chen-yang Kao, The Cultural Revolution and the Emergence of Pentecostal-style Protestantism in China, in: Journal of Contemporary Religion, 24/2 (2009), 171–188; Melissa W. Inouye, Miraculous Modernity. Charismatic Traditions and Trajectories within Chinese Protestant Christianity, in: Modern Chinese Religion II: 1850–2015, ed. by J. Lagerwey / V. Goossaert / J. Kiely, Boston/Leiden 2015, 884–919. For pertinent studies see Robert P. Weller, Resistance, Chaos and Control in China. Taiping Rebels, Taiwanese Ghosts and Tiananmen. Seattle 1994; Marc L. Moskowitz, The Haunting Fetus. Abortion, Sexuality, and the Spirit World in Taiwan, Honolulu 2001. On the increasing commodification of religious life in Chinese societies see Adam Y. Chau, The Commodification of Religion in Chinese Societies’, in: Modern Chinese Religion. 1850-Present, ed. by Vincent Goossaert / Jan Kiely / John Lagerwey / David A. Palmer, Leiden 2015, 949–976.

III. HEILIGE DINGE UND MACHT

WARUM KÖNNEN DINGE (NICHT) MÄCHTIG SEIN? Roger Thiel In den mannigfaltigen Umkreisungen und Annäherungen, die wir in den vergangenen drei Jahren den Bestimmungen und Konturierungen des Heiligen und der Dinge gewidmet haben, haben wir mit Blick auf die Dinge immer wieder jene Kontrastbestimmung in Anschlag gebracht, nach der wir in zwei Welten leben: in der Welt der Natur der gegebenen Dinge und der Kultur der zuhandenen oder informierten Dinge1. Die gegebenen Dinge der Natur verwandelt der Mensch unter Einsatz von Arbeit und ‚Werk‘-Zeugen in Dinge des Gebrauchs. Die Rede von der Zuhandenheit der Dinge – das Um-zu des Zeugs – haben wir Martin Heidegger zu verdanken, und in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1935/36, die unter dem Titel Die Frage nach dem Ding herausgekommen ist, zeigt Heidegger, dass die Flussersche Unterscheidung bereits eine des griechischen Denkens (Aristoteles) war und dort als „1. tà physiká – die Dinge, sofern sie von sich aus aufgehen und hervorkommen; 2. tà poioúmena – die Dinge, sofern sie durch Menschenhand, handwerklich, hergestellt sind und als solche dastehen“2, bestimmt wurde. Bei seiner Frage nach dem Ding fällt Heidegger zudem auf: Das, was das Wesen des Dinges in seiner Bedingtheit bedingt, kann selbst nicht mehr Ding und bedingt, es muß ein Un-bedingtes sein. Aber auch das Wesen des Unbedingten bestimmt sich mit durch das, was als Ding und Bedingung angesetzt wird. […] Ob das Unbedingte über oder hinter den Dingen gesucht wird oder in ihnen, das hängt davon ab, was man als Bedingung und Bedingtsein versteht.3

Um diese Unterscheidung – von Natur und Kultur der Dinge – soll es im folgenden nicht gehen. Vielmehr möchte ich mich lediglich der zweiten Seite, der Kultur der gemachten Dinge, dem, was Aristoteles tà poioúmena genannt hatte, zuwenden. Diese Zuwendung findet am Leitfaden oder im Horizont folgender Fragen statt: Sind die Dinge, die wir gemacht haben, zugleich unsere Be-dingung? Und wenn nicht – was sind sie dann? Wenn sie unsere Be-dingung sind – sind sie dann mächtig? Und wenn ja, wodurch? Sind die Dinge, falls sie mächtig sind, durch irgendeine Allianz mit dem Heiligen verbunden oder diesem zu parallelisieren? Sieht man einmal von der Unterscheidung zwischen der Natur und der Kultur der Dinge ab, könnte man fragen, was denn überhaupt ein Ding sei. Um eine allgemeine Definition des Dings ist beispielsweise der Philosoph und Soziologe Bruno

1 2 3

Vgl. Vilém Flusser, Dinge und Undinge, München/Wien 1993, 85. Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den metaphysischen Grundsätzen, Tübingen 21975, 53–54; vgl. auch 63. Ebd., 36.

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Latour bemüht, der in seinen prominenten Schriften4 von Dingen als von „nichtmenschlichen Wesen“ handelt, die dann mit menschlichen Wesen gleichberechtigt in einem Akteur-Netzwerk interagieren – weshalb Latours Theorie denn auch „Akteur Netzwerk Theorie“ (ANT) heißt und hohe Konjunktur hatte und hat. Auch Latour hat sich die Frage vorgelegt, was denn Dinge sein könnten jenseits der Unterscheidung von Subjekt und Objekt, und er sucht dabei auf dem Feld der Sprache. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm findet sich tatsächlich das Lemma Ding (andere Lemmata, wie z. B. heilig, finden sich dort nicht!). Wilhelm Grimm, der das Lemma „Ding“ für das Deutsche Wörterbuch bearbeitet hat, begreift das Wort „in der weitesten, unbegrenzten Bedeutung, [wo] es ebenso das sinnlich Bemerkbare, als das Übersinnliche, das Gedachte“5 bedeutet. Latour zitiert diesen Eintrag, dessen Faszinosum in der Zweiseitigkeit seiner Bestimmung liegt: Zum einen ist das Ding das „sinnlich Bemerkbare“, zum andern aber „das Übersinnliche, das Gedachte“, also das, was man nicht sehen (bemerken), sich aber denken kann. Diese letztere Seite hat es sowohl mit Phantasie, Vorstellung und Projektion als auch mit der das Sinnliche transzendierenden Dimension („das Übersinnliche“) des Dings zu tun – eine hochinteressante Definition, auf die ich später noch zurückkommen werde. Wie aber kommt Wilhelm Grimm auf die Idee, das Ding so zu definieren? Was könnte ihm als Quelle gedient haben? Es liegt nahe zu denken, dass hier die cartesische Unterscheidung von res cogitans und res extensa zugrundeliegt, wie sie in den Meditationes entfaltet wurde. Diese zwiefältige „weiteste, unbegrenzte Bedeutung“ im Hinterkopf behaltend, möchte ich noch eine weitere ‚Definition‘ anfügen, die ebenfalls auf das Allgemeine des Dings abzielt. Sie stammt von einem Kind, und zwar von dem wahrscheinlich fiktiven6, fragenden Kind, das sich der britische Kybernetiker Gregory Bateson für seine Metaloge ausgedacht hat. Einige dieser Metaloge eröffnen den Klassiker Ökologie des Geistes, und einer trägt den Titel Warum haben Dinge Konturen?7 Die Frage stellt natürlich die kleine Tochter, und zwar angesichts ihrer Verwunderung darüber, dass alle Dinge, die wir zeichnen, Konturen haben. Nun fragt der Vater zurück, was denn etwa mit einer Schafherde oder einem Gespräch sei; und natürlich meint das Kind solche Dinge nicht. Die Frage, eine doppelte, wirft der Vater ein, müsste also lauten: Warum geben wir Dingen Konturen, wenn wir sie zeichnen? Und: Haben die Dinge Konturen, ob wir sie nun zeichnen oder nicht? Diese doppelte Frage wird, man ahnt es schon, nicht beantwortet. Aber es 4 5 6

7

Vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2002; Ders., Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005; Ders., Das Parlament der Dinge, Frankfurt a. M. 1998. Reiner Ruffing, Bruno Latour, Paderborn 2009, 9; ebenfalls auf dem Klappentext von Latours Von der Realpolitik zur Dingpolitik (wie Anm. 4). Gregory Bateson hatte eine Tochter, die auch eines seiner Bücher zu Ende brachte; man kann sich indessen kaum vorstellen, dass sie als Kind diese hochreflektierten Fragen der Metaloge zu stellen imstande war. Vgl. Gregory Bateson / Catherine Bateson, Angels Fear. Towards an Epistemology of the Sacred, New York 1987. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1981, 60–66.

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folgen einige interessante Bestimmungen. Mit Blick auf das Gespräch etwa, das von der Tochter nicht als ‚richtiges‘ Ding angesehen wird, heißt es: Welche Kontur dieses besondere Ding hat ist erst erkennbar, wenn es zu Ende ist. Erst also von seinem Ende, seiner Abgeschlossenheit her, ist ein Ding wie ein Gespräch in seiner Kontur zu erfassen, also erkennbar. Das liegt daran, dass Menschen unkalkulierbar und also keine berechenbaren Maschinen sind. Das bedeutet aber: Wenn erst Klarheit und Erkennbarkeit nach dem Ende von etwas wie einem Gespräch möglich sind, dann ist das Eingreifen – und das heißt die Änderung und Veränderung – in die Kontur dieses Dings unmöglich. So einfach und unspektakulär diese Erkenntnis vorgetragen wird, so weitreichend sind die Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben – besonders mit Blick auf das hier in Rede stehende Thema und die Frage nach der Konjunktion von Dingen und Macht. Wittgensteins erkenntnistheoretisches Projekt galt dem Erkennen (und Beschreiben) der Welt mittels der Möglichkeiten der Sprache (im Rahmen des Denkens und der Logik). Aber anders als bei den Brüdern Grimm und deren Spracharbeit kommen die Dinge bei Wittgenstein nicht in der „weitesten, unbegrenzten Bedeutung“ zur Sprache, sondern untergeordnet. In seinem Hauptwerk Tractatus logico-philosophicus von 1918 (gedruckt 1921) heißt der Hauptsatz denn auch nicht: Die Welt ist alles, was die Gesamtheit der Dinge ist, sondern bekanntlich: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“8. Nach diesem ersten Satz folgt der zweite und also eine Erläuterung des ersten: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“9. Nicht also die Dinge, sondern die Tatsachen bestimmen, was der Fall ist. Erst im 2. Hauptsatz heißt es: „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten“10. Und seine Erläuterung liest sich so: „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)“11. Im weiteren Verlauf der Abhandlung wird präzisiert, was innerhalb der Sprache und also des Denkens ein Ding sei, nämlich ein Name: „Der Name bedeutet den Gegenstand.“ (Also etwa: ‚Stuhl‘) Und: „Der Name vertritt im Satz den Gegenstand.“ Das hat einige Konsequenzen, denn: Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist.12

Als Stellvertreter für das Ding ist der Name „durch keine weitere Definition zu zergliedern: er ist ein Urzeichen“13. Wittgenstein konstatiert also implizit, dass ich mittels der Sprache und des Denkens die Modalität des „Urzeichens“, des „Namens“, des Dings „aussprechen“ kann, und das heißt, es lässt sich klären, nicht nur ob ein Ding mächtig sein kann, sondern vor allem wie diese Machtbeschaffenheit aussieht. 8 9 10 11 12 13

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M. 161982, 11. Ebd., meine Hervorhebung. Ebd. Ebd. Ebd., 22. Wittgensteins Hervorhebung. Ebd., 23.

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Wenn also die Welt alles ist, was der Fall ist; und der Fall, die Tatsache, das Bestehen von Sachverhalten; und die Sachverhalte die Verbindung von Dingen, dann müssen wir die Frage am Ende dieser Kette, also beim Ding, beginnen und nicht, wie Wittgenstein, bei der Welt. Die Frage muss, wenn wir, wie oben gesagt, die (gegebenen) Dinge der Natur in dieser Erörterung weitestgehend ausblenden wollen, so lauten: Wie kommen die Dinge, deren Verbindung die Sachverhalte ergeben, deren Bestehen wiederum die Tatsachen ausmachen, die in ihrer Gesamtheit der Fall und dieser als solcher die Welt ist; wie kommen die (hergestellten) Dinge in die Welt? Der Weg zur Erkenntnis soll also nicht wie bei Wittgenstein über Sprache und Denken führen, sondern umgekehrt, über das, was Graham Harman mit seinem Terminus einer „object-oriented ontology“ geprägt hat14. Der Weg ist also einer, der nicht nur das „toolmaking animal“ (Leroi-Gourhan) Mensch in den Blick nimmt, der mittels Einsatz von technischem Gerät aus der Naturgeschichte in die Menschheitsgeschichte überwechselte, sondern einer, der besonders auf die zweite Epochenschwelle, die auf diese (erste) „technische Kehre“ folgte, abhebt. Dinge kommen also in die Welt durch Herstellung oder – ökonomisch gesprochen – durch Produktion, also mittels Arbeit veränderter Materie. Dinge werden, marxistisch gesprochen, unter „Verwandlung dieser Elemente“ – nämlich der Trias „Boden, Arbeitsmittel und Arbeitskräfte“ – produziert15. Wenn aber Dinge mittels der „Verwandlung dieser Elemente“ produziert werden, ist ihnen der Charakter der Ware eingeprägt und das heißt weiter: Sie stehen unter dem Gesetz von Austausch und Äquivalenz. Die Dinge als Waren sind also nicht einfach nur Dinge, sondern: Sie werden produziert, in einer Tauschhandlung nach dem Äquivalenzausdruck weitergegeben und von einer anderen Person als dem Produzenten „konsumiert“. Die Frage ist angesichts dieser Prozesshaftigkeit natürlich: Haben die Dinge dann über ihr „Dasein“ und ihre „Dinglichkeit“ hinaus so etwas wie eine „Identität“? Und wenn ja: wie lässt sich diese ausmitteln? Schauen wir dazu auf die Tauschhandlung: Der Austausch der Waren schließt für die Zeit seiner Dauer jede materielle Veränderung der Waren aus […]. Nur für die stoffliche Identität der Waren ist ihr Äquivalenzverhältnis möglich. Diese Identität ist Negationsform der Produktion und der Konsumtion. Sie besagt, dass auf dem Markt die Waren nur die Hände wechseln und solange die Produktion und Konsumtion in ihnen stillstehen.16

Alfred Sohn-Rethel, von dem dieser Satz stammt, wendet die „Negationsform“ auch positiv, und dann lautet der Satz so: Die Identität ist die dingliche Verbindungsform von Produktion und Konsumtion, und umgekehrt ist der identische Träger dieser Verbindung, die Ware, eben insofern Ding. Die Dinglichkeit ist die Formbestimmtheit der Ware und die Grundform der ‚Verdinglichung‘.17 14 15 16 17

Vgl. Graham Harman, Tool-Being. Heidegger and the Metaphysics of Objects, Chicago 2002; Ders., Guerilla Metaphysics. Phenomenology and the Carpentry of Things, Chicago 2005; Ders., Towards Speculative Realism, Winchester u. a. 2010. Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, Frankfurt a. M. 1971, 55. Ebd., 40. Ebd. Sohn-Rethel ist die Problematik dieser Identität nicht verborgen geblieben. Dennoch gälte sie auch „gegen alle materielle Unwahrheit ihrer Supposition“, und „sie ist eine aus ge-

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Nur in der Tauschhandlung also, erst durch den Tausch hat ein Ding Realität, Dasein und Identität: „Identität, Dinglichkeit und Dasein sind ihrer Genesis nach gesellschaftliche Formcharaktere der Ware und sind Verbindungsformen der Menschen.“ Oder anders gewendet: „Identität, Dinglichkeit und Dasein konstituieren sich erst aus der Ursache einer bestimmten gesellschaftlichen Trennung von Produktion und Konsumtion als Verbindungsformen des Getrennten.“ Und weiter präzisiert er sowohl Identität, Dasein und Realität des Dings so: Ding ist ein Produkt, von dem aus gesellschaftlichen Gründen der eine nur die Produktion und der andre nur die Konsumtion hat. Seine Identität ist die Klebfläche eines gesellschaftlichen Risses zwischen Produktion und Konsumtion. Dasein hat ein Ding, in dem Produktion und Konsumtion aus der Ursache ihrer gesellschaftlichen Trennung stillstehen. Das Maß seiner Realität hat das Dasein an der Realität dieser Trennung. Es ist also Dasein von Dingen zwischen Menschen.18

Bei seiner Charakterisierung von Identität, Realität und Dasein des Dings betont Sohn-Rethel wiederholt den „gesellschaftlichen Riss“, die „gesellschaftliche Trennung“ zwischen Produktion und Konsumtion, deren „Klebfläche“ die Identität des Dings darstelle. Wie funktioniert und was bedeutet eigentlich dieser „gesellschaftliche Riss“, die „gesellschaftliche Trennung“? Diese Trennung beruht auf einer „Zerstörung“, und zwar der „Zerstörung der naturwüchsigen Identität der Produzenten und Konsumenten“19. Und das wiederum bedeutet, dass sich die Verdinglichung daraus erklärt, dass der lebensnotwendige Zusammenhang von Produktion und Konsumtion, wenn er nicht mehr in der Identität derselben Menschen verknüpft ist, seine Verknüpfung in der Identität derselben Dinge finden muss, m. a. W. in der Ware.

Und nun folgt die Klimax des Gedankens: „Die Ursache jener Zerstörung aber ist die Ausbeutung“20. Heil, unzerstört wäre die individuelle Identität (von Produzent und Konsument) des Menschen, wenn die Arbeit „eigne Arbeit“ wäre, und das hieße „ausbeutungsfrei“, was, wie die Texte Sohn-Rethels21 immer wieder belegen, lediglich in naturwüchsigen, kollektivistischen und genealogischen Gemeinwesen zu finden ist. Spätestens seit den Gesellschaften der „langlebigen Ausbeutungsreiche“22 – also Ägyptens und Mesopotamiens – haben sich bis heute dieser „gesellschaftliche Riss“, die Zerstörung der individuellen Identität und die Ausbeutung als gesellschaftliches Prinzip gehalten und schlussendlich in den Kapitalismus geführt.

18 19 20 21

22

sellschaftlichen Ursachen notwendig bedingte Fiktion.“ Ebd., 44 und 45. Insofern kann man mit Blick auf die Identität des Dings eigentlich nur unter distanzierenden Anführungszeichen sprechen: ‚Identität‘. Ebd., 41. Ebd., 53. Ebd. Hier wären neben dem bereits zitierten Aufsatzband außerdem zu nennen: Alfred SohnRethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte, Revidierte und ergänzte Neuauflage, Weinheim 1989; Ders., Soziologische Theorie der Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1985. Sohn-Rethel, Warenform und Denkform (wie Anm. 15), 54.

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Leider müssen weitere Ausführungen über die historischen Ausdifferenzierungen unterschiedlicher Ausbeutungsformen, über Produktion, Reich- und Eigentum, über Produktions-, Aneignungs- und Klassengesellschaften an dieser Stelle ausbleiben; ich werde mich diesen Zusammenhängen gleich noch einmal von einer ganz anderen Seite her nähern. Mit Blick auf die Parameter „Zerstörung der ursprünglichen Identität von Produktion und Konsumtion“, „gesellschaftlicher Riss“ und „Ausbeutung“ muss der Blick nicht nur auf den Terminus a quo in dieser Kette – wenn anders dies überhaupt der erste Terminus sein kann –, nämlich die Produktion, fallen, sondern dem zuvor auf die Frage: Was überhaupt ist der Anlass zur Produktion? Wie, wodurch und warum wird überhaupt etwas hergestellt, erzeugt? Was sind Erzeugung, Kreation und Schöpfung? Diese Fragen hat in umfänglicher und überaus erhellender Art und Weise die amerikanische Kulturanthropologin Elaine Scarry in ihrem Buch The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World von 1985 – auf Deutsch ist es mit dem etwas eigenartigen (Unter-)Titel Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur erschienen – beantwortet. Der erste Teil dieses Buches ist dem Thema Auflösung gewidmet, der zweite dem Thema Erzeugung. Kurioserweise geht Scarry bei ihrer Erkundung vom Schmerz aus. Ihm kommt „unter den psychischen, somatischen und Wahrnehmungs-Zuständen eine Sonderstellung [zu] – er ist der einzige von ihnen, der kein Objekt besitzt“23: „Schmerz ist nur er selbst“24. Doch gerade diese Objektlosigkeit „kann auch den Akt des Vorstellens initiieren, weil sie den Prozeß der Schöpfung jener Artefakte und Symbole erheischt, die wir erzeugen und zwischen denen wir uns bewegen“25. Durch den Zusammenhang zwischen den inneren Figuren der Vorstellung und den zugehörigen Dingen in der Außenwelt kann sich der Mensch in dieser positionieren. Das Objekt selbst ist bereits Erweiterung oder Ausdruck dieses inneren ‚Spiels‘. „Der einzige Sachverhalt“, schreibt Elaine Scarry, der eine vergleichbare Anomalie aufweist wie der Schmerz, ist die Vorstellung. Während der Schmerz sich durch das Fehlen des Objekts auszeichnet, ist die Vorstellung der einzige Zustand, der gänzlich seine eigenen Objekte ist.

Und das wiederum heißt: „In der Vorstellung gibt es keine Aktivität, kein erfahrbares Geschehen und keine Befindlichkeit, die von den Objekten getrennt wären“. Und die Schlussfolgerung aus diesem Befund lautet: „Jeder Zustand, der permanent ohne Objekt ist, führt zur Erfindung“26. Die Konjunktion von Schmerz und Vorstellung als entgegengesetzten Polen zeigt auch noch ein weiterer eklatanter Befund an: Die „Rahmenidentität“, innerhalb deren sich alle anderen perzeptiven, psychologischen, emotionalen und somatischen Geschehnisse bewegen, zeigt sich darin, dass es – in vielen ganz unterschiedlichen Sprachen –

23 24 25 26

Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a. M. 1992, 241. Ebd., 242. Ebd. Ebd., meine Hervorhebung.

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ein Wort gibt, das annährend als Synonym für Schmerz und für geschaffene Objekte fungiert, das Wort ‚Arbeit‘ (‚work‘) nämlich.27

‚Arbeit‘ ist damit ein „Urwort“ im Sinne der Freud’schen Bestimmung des Sinns eines Wortes und des „Gegensinns“ ineins mit Blick auf das Wort ‚sacer‘ als ‚heilig‘ und ‚verflucht‘28. Und so ist es wenig verwunderlich, dass in den etymologischen Wurzeln des Wortes, „in unseren Mythen und unausgesprochenen Intuitionen ebenso wie in der Tradition unserer theologischen und philosophischen Analyse“ die Arbeit immer wieder an Schmerz gekoppelt erscheint – indessen aber ebenso an Lust, Kunst, Phantasie und Zivilisation29. Und das Fazit, das Elaine Scarry aus dieser Beobachtung, zieht, lautet: Je mehr die Arbeit sich in ihr Objekt verwandelt, desto näher kommt sie der Vorstellungskraft, der Kunst, der Kultur; ist sie dagegen unfähig, ein Objekt hervorzubringen, oder wird sie, nachdem sie ein Objekt hervorgebracht hat, von diesem Objekt abgeschnitten, so nähert sie sich dem Schmerz an.30

Als Beispiele für das erste, positive Extrem wären die „kollektiven Artefakte der Zivilisation“ zu nennen, die mit dem Epitheton ‚Werke‘ (Kunstwerke, Bauwerke etc.) belegt werden. Das Gegen-Extrem, der Schmerz, die Fron, die Pein, grundieren dann die Arbeit, wenn die Menschen, die die Arbeit verrichten, „vom Besitz, von der Kontrolle und vom Genuß der von ihnen hergestellten Produkte ausgeschlossen waren“31. Und das ist besonders – und das erkennt, wie schon Karl Marx und Alfred SohnRethel, auch Elaine Scarry – in den „langlebigen Ausbeutungsreichen“ der Sklaverei der Fall, „in der Arbeit und Schmerz sich brutal verquickten“. Hunger, Not, Krankheiten und Erschöpfung sind das Resultat dieser „fundamentalen Zerstörung der Einheit von Akt und Objekt in der menschlichen Psyche“32. Arbeit macht also nicht frei – „Arbeiten schmerzt“33. Erst wo Arbeit und Arbeiten nicht mehr als solche wahrnehmbar sind, im Hochgenuss und in der Maximal-Teilhabe an ihrem Produkt, ist Arbeit eine Befreiung – und zwar von ihr selbst: „Arbeit im ‚höchsten Sinne‘“, schreibt Werner Hamacher in seinem Aufsatz Arbeiten Durcharbeiten, „ist Annullierung der Arbeit“34. Will man also die „Struktur menschlicher Schöpfung“ klären, kann man es anhand der „polaren Struktur der Intentionalität“ tun, deren Parameter in der eben

27 28

29 30 31 32 33 34

Ebd., 253; meine Hervorhebung. Vgl. Sigmund Freud, Über den Gegensinn der Urworte (1910), in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Frankfurt a. M. 1966–1969, Bd. VIII, 213–222; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 112007, 88–89. Scarry, Der Körper im Schmerz (wie Anm. 23), 253–54. Ebd., 254. Ebd. Ebd. Ebd., 255. Werner Hamacher, Arbeiten Durcharbeiten, in: Archäologie der Arbeit, hg. v. Dirk Baecker, Berlin 2002, 155–200, hier 178.

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gelieferten Beschreibung gegeben wurden und sich in den „Begriffspaaren ‚Schmerz und Vorstellung‘ und ‚Arbeit und Artefakte‘“35 niederschlägt. Die „Struktur der menschlichen Schöpfung“ zu klären ist notwendig, wenn man die Frage beantwortet haben möchte, die den Titel meines Vortrags bildet: Warum können Dinge (nicht) mächtig sein? Das Zur-Welt-Kommen der Dinge und die an dieser Creatio beteiligten Parameter wurden soeben skizziert – bleibt noch die Frage nach der Macht: Was ist eigentlich Macht? Michel Foucault, der Macht und ihre diskursiven Praktiken und Erscheinungsformen mannigfaltig untersucht hat, räumt zunächst mit einem Vorurteil auf: Macht sei nicht das „Organ der Unterdrückung“36, als das sie stets propagiert wurde und wird; ‚Unterdrückung‘ und ihre Derivate wie ‚Ausschluß‘, ‚Verdrängung‘ und ‚Zensur‘ seien lediglich eine bestimmte, „nämlich eine vermittlungsarme oder vermittlungslose Form der Macht […]. Die Macht beruht aber nicht auf der Repression“37. Gegen diese negativen Konnotationen müsse man die Positiva der Macht akzentuieren: „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches“38. „Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert“, schreibt Foucault, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert.39

Macht wäre also – wenn man die Definitionen und Ausführungen von Elaine Scarry und Michel Foucault ineinander abbildete – die Vorstellung, die zu ihrer Sichtbarkeit und Herrschaft „Dinge produziert“. Schon Karl Marx, der sich mit dem „Wesen materieller Objekte“ beschäftigte, hatte nicht nur „den westlichen Drang nach materieller Selbstobjektivierung“ akzeptiert, sondern auch positiv beurteilt40. Das Stichwort hier ist natürlich „materielle Selbstobjektivierung oder Selbstausdruck“, das insgleichen alle Diskurse über Macht grundiert. Friedrich Nietzsche beispielweise hat – ähnlich im übrigen wie Wittgenstein – in der Sprache die ersten Zeichen für Willens- und Machtbekundungen erkannt. Seine Sprachursprungstheorie ist an „materielle Selbstobjektivierungen“ gekoppelt: Der Ursprung der Sprache ist die „Machtäusserung der Herrschenden“, und die Sprachen sind „Nachklänge der ältesten Besitzergreifungen der Dinge“41. Je35 36 37 38 39 40 41

Scarry, Der Körper im Schmerz (wie Anm. 23), 257. Mit Blick auf Intentionalität und Projektion wird aus dem Komplex „Schmerz–Waffe–vorgestelltes Objekt“ (Zersetzungsform: „Schmerz–Waffe–Macht“) nun der Komplex „Arbeit–Werkzeug–Artefakt“. Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 71. Han Byung-Chul, Was ist Macht?, Stuttgart 2015, 44. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976, 250. Foucault, Dispositive der Macht (wie Anm. 36), 35. Scarry, Der Körper im Schmerz (wie Anm. 23), 268. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (Kritische Studienausgabe 12), hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 21988, 142.

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dem Wort hört Nietzsche den Befehl an: So soll das Ding heißen: „Die Namengebung ist gleichzeitig eine Sinngebung. Macht stiftet Sinn“42. – und zwar, wie Byung-Chul Han in seinem Buch Was ist Macht? allenthalben schreibt, „ein Sinnkontinuum, aus dem heraus die Dinge gedeutet werden. Für den Machthaber wäre dieses Sinnkontinuum gleichzeitig ein Kontinuum des Selbst, in dem er sich selbst erblickte“43. Selbstkontinuum und „Selbstsorge“44 – das sind die Indikatoren und Charakteristika der Macht, die sie als „ipsozentrisch“45 erscheinen lassen. Die Ipso-Technik Macht braucht also zu ihrer Geltung nicht nur eine Vorstellung, die sie andern oder anderem aufdrückt, sondern die Vorstellung muss „realisiert“ werden und sich in „materiellen Selbstobjektivierungen“, sprich: Dingen niederschlagen. Dinge als „materieller Selbstausdruck“ sind also ‚Selbstvergewisserungs-Formeln‘ der Macht, oder wie Nietzsche mit Blick auf die Architektur so unvergleichlich gesagt hat: „eine Art Macht-Beredtsamkeit in Formen“46. Nun sind aber die ‚Tücken der Objekte‘ nicht zu unterschätzen, denn an den Dingen lässt sich nicht unbedingt ablesen, um welches Selbstkontinuum es sich handelt: das des Produzenten oder das desjenigen, der die Vorstellung und Produktionsmittel zur Verfügung stellt (Ausbeuter, Konzerne etc.) und auf deren Umsetzung drängt? Oder ist es – wenn wir die oben angeführte „Zerstörung von Produzent und Konsument“ ins Kalkül ziehen – gar der Konsument und also Käufer/Auftraggeber eines Dings? Der Künstler oder Architekt – also Sonderfälle oder Bestfälle in der Geschichte der Ding-Produktion –, der „selbst“ qua Vorstellung und Arbeit ein Artefakt, ein Kunstoder Bau-Werk erdenkt und erschafft, kann sich in diesem selbst genießen; das wird aber der ägyptische Sklave, der englische Fabrikarbeiter des 19. Jahrhunderts kaum können; im Gegenteil: Die Pyramide und die Kohle, Ziegel, Nadeln, Papier etc. verzeichnen als Dinge stets eine doppelte Geschichte: die der Macht ihrer Schöpfer und die der Ohnmacht ihrer Produzenten. Dinge können also selbst nicht mächtig oder ohnmächtig sein, sondern als Symbole, Zeichen, kurz: Medien – oder wie Nietzsche sagen würde: Formen – für Macht und Ohnmacht der an ihrer Hervorbringung Beteiligten figurieren. Meine Überlegungen zum Komplex ‚Macht und Dinge‘ führen mich nun zu der Frage, ob Dinge mächtig sein können, wenn sie mit dem Epitheton ‚heilig‘ ausgezeichnet sind. Dazu muss ich noch einmal kurz auf die vier wesentlichen Markierungen ‚heiliger Dinge‘ zurückkommen, die ich in zwei soeben erschienenen Publikationen in größerer Ausführlichkeit behandelt habe47. 42 43 44 45 46 47

Byung-Chul, Was ist Macht? (wie Anm. 37), 39. Ebd., 40. Ebd., 131, vgl. dazu Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt a. M. 1985, 15. Ebd., 75, 122. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung (KSA 6), 118; vgl. dazu Fritz Neumeyer, Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, Berlin 2001. Roger Thiel, „Haus, Stuhl, Rucksack. Zur Übertragung heiliger Energien auf profane Dinge“, in: Heilig. Transkulturelle Verehrungskulte vom Mittelalter bis in die Gegenwart, hg. v. Kerstin S. Jobst / Dietlind Hüchtker, Göttingen 2017, 19–43; Ders., Wie wird ein Ding heilig?, in: Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen, hg. v. Andrea Beck / Klaus Herbers / Andreas Nehring, Stuttgart 2017, 29–42.

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1. Im Unterschied zu den hergestellten Dingen – die, weil sie ja noch nicht in der Welt sind, „passen“ müssen (Elaine Scarry) – zeichnen sich ‚heilige Dinge‘ durch das Fehlen oder Verhehlen eines zentralen Aspekts der Produktion aus: den der Arbeit. Schon Marx hatte kurioserweise der Ware Fetischcharakter angesehen als ein „vertracktes Ding […] voll metaphysischer Spitzfindigkeit“, von „mystischem Charakter“ und „theologischen Mucken“48. Nur durch das Verbergen der Arbeit kann ein Ding, wie Theodor W. Adorno schreibt, „magisiert [werden], indem die darin aufgespeicherte Arbeit im gleichen Augenblick als supranatural und heilig erscheint, da sie als Arbeit nicht mehr zu erkennen ist“49. – Und man muss fragen, was das dann für eine Arbeit ist. Aber dazu später. Jenseits der in es eingegangenen Arbeit ist das Ding frei, um als Projektionsfläche und Speicher emotiver Energien und Affekte, als „Batterien der Lebenskraft“ (C. Asendorf) zu dienen. 2. Auch der Ethnologe Karl-Heinz Kohl siedelt heilige Dinge jenseits des Produktions- und Tauschprozesses an: Sakrale Objekte stehen außerhalb der üblichen Kategorien. In der Ordnung der Dinge nehmen sie eine privilegierte Stellung ein. Unter allen materiellen Gegenständen kommt ihnen die höchste Rangstufe zu. […] Da der Wert eines sakralen Objekts in einem ganz wörtlichen Sinn ‚unermeßlich‘ ist, wird ein bestimmter Gegenstand in der Regel auch unveräußerlich, sobald er erst einmal in diesen besonderen Rang erhoben worden ist. In der profanen Welt des Tausches hat er keinen Ort mehr.50

Entscheidend werden hier nicht mehr Tausch- und Ausstellungswert, sondern der Kultwert, und das heißt für Kohl: Sakrale Objekte unterscheiden sich von allen anderen Gegenständen durch ihre praktische Nutzlosigkeit, ihre Separierung von der Welt des Profanen, ihre reine Zeichenhaftigkeit und ihre Unveräußerlichkeit. […] Vielmehr scheinen sie allein aus den besonderen Bedeutungen zu resultieren, die mit ihnen verknüpft werden.51

Und Kohls Überlegungen münden in die Frage: „Woher aber rühren die außergewöhnlichen Bedeutungen sakraler Objekte?“52 3. Nehmen wir einmal an, es handelte sich beim Heiligen um „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“53, dann muss man mit Maurice Godelier dem heiligen Ding ein Kraftwerk der Empfindungen, Emotionen und Affekte 48 49 50 51 52 53

Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie I, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1971, 85. Theodor W. Adorno, Fragmente über Wagner, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 (1939), 17, hier zitiert nach Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, 823. Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, 153. Ebd., 154, meine Hervorhebung. Ebd. Aby Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, in: Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, hg. v. Ilsebill Barta-Fliedl / Christoph Geissmar, Salzburg/Wien 1992, 171–173, hier 171; vgl. dazu Ulrich Port, ‚Transformatio energetica‘. Aby Warburgs Bild-Text-Atlas Mnemosyne, in: 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, hg. v. Stefan Andriopoulos / Bernhard J. Dotzler, Frankfurt a. M. 2002, 9–30.

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ansehen, das weder mysteriös noch ephemer ist, sondern wesentlich zum Menschen gehört. Godelier zeigt, was es ist und wie es kommt, dass bestimmte „Kräfte“ sich zu heiligen „Objekten materialisieren“54. Eine Lesart des Sakralisierungsprozesses hat zu tun mit dem Glauben an die Seele der Dinge. Die Frage muss dann lauten: Wie kommt die Seele in die Dinge? 4. Für diese Prozedur (und eben nicht: Produktion) ist der „Seelenmechanismus“ der Übertragung verantwortlich, der von so überragender Bedeutung ist, dass Claus Baldus schreibt: „Die Übertragung regiert die Welt“55. Und mehr noch: „Es gibt kein Leben ohne Übertragung“56. Und so funktioniert die Übertragung: Dinge sind im Bewusstsein zunächst etwas Vorgestelltes, Bild (Vor-Stellung). In der Übertragung verschiebt sich nun das Dasein (Leben, Ich) von dem Bild, der Vorstellung, das es von der Welt und den Dingen hat, in dies Andere, das Ding selbst hinein und stattet es mit Seele aus. Mehr noch: Es tritt sein Ich, seine Seele und seine Lebensdynamik an das Ding ab und wertet es so zum Ideal-Ich, Über-Ich, Absoluten auf. Elisabeth von Samsonow hat das so beschrieben: „Wir sind also auf der Suche nach dem Unähnlichen, das die menschliche Psyche mit sich selbst ‚überschütten‘, animieren kann, wenn man so will. Und wir stellen sofort fest, dass solch Unähnliches alles Mögliche sein kann.“57 Dies Unähnliche, das alles Mögliche sein kann, beginnt dann „eine herausragende Rolle im Leben einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu spielen“58. Die vierstufige Darstellung des heiligen Dings legt dessen fundamentale Andersheit mit Blick auf ein produziertes Ding oder Artefakt offen: Nicht Arbeit ist ein Faktor, nicht der Tauschwert, nicht eine bestimmte Ästhetik, nicht, wie Elaine Scarry sagt, das ‚Passen‘ des Dings in die Welt, also der Nutzwert, und auch nicht die Ipso-Technik Macht im Selbstkontinuum der materialisierten Formen herrschen hier; der einzige Aspekt der aus den oben extrapolierten Parametern geblieben ist, ist die Vorstellung – und auch die nur in veränderter Form. Das, was bei der Warenproduktion Arbeit war, ist hier Übertragung, die nicht ein Ding erschafft, sondern eines mit Seele ausstattet. Der Unterschied, der dadurch in die Welt kommt, ist der zwischen materieller und immaterieller Schöpfung – wobei ich abschließend noch einmal auf das hinreißende Buch von Elaine Scarry kommen möchte. Scarry erkennt zwei Strukturen menschlicher Schöpfung, eine materialistische und eine antimaterialistische. Das „größte geschaffene Objekt“ ist für die eine Struktur „die übergreifenden wirtschaftlichen und ideologischen Strukturen der Gesellschaft“ und für die andere Seite: „Gott“59. Dadurch tritt für das Vorstellen die neue Kategorie „Glauben“ auf den Plan: 54 55 56 57 58 59

Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999, 193. Claus Baldus, Bocage. Pass für Agenten. Spiel für die Welt, Potsdam 2007, 6. Ebd., 50. Elisabeth von Samsonow, Was ist anorganischer Sex wirklich? Theorie und kurze Geschichte der hypnogenen Subjekte und Objekte, Köln 2005, 8–9. Ebd., 9. Scarry, Der Körper im Schmerz (wie Anm. 23), 269.

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Roger Thiel Der einzige neue Begriff, um den diese Liste ergänzt werden wird, ist der des ‚Glaubens‘, ein Wort, das in seinem biblischen Kontext fast ein Synonym für das ist, was wir ‚Vorstellung‘ genannt haben. ‚Glauben‘ heißt, ein vorgestelltes Objekt über eine Reihe von Tagen, Wochen und Jahren zu perpetuieren. ‚Glauben‘ ist die Fähigkeit, das vorgestellte (oder erkannte) Objekt in der eigenen Psyche selbst dann festzuhalten, wenn die Wahrnehmung keine sinnliche Bestätigung dafür liefert, dass dieses Objekt eine von der eigenen geistigen Tätigkeit unabhängige Existenz besitzt.60

Analog dazu ist das heilige Ding ein Symbol für dies „größte geschaffene Objekt“, das qua Glauben eine „herausragende Rolle“ im Leben der Gesellschaft – wie Elisabeth von Samsonow sagt – spielt. Als solches ist das heilige Ding mit einer anderen Macht ‚informiert‘, nämlich der der Seele und nicht des Willens. Der Unterschied zwischen einem ‚profanen‘ Ding und einem ‚heiligen‘ Ding muss aber selbst wieder geglaubt werden – was im Umkehrschluss bedeuten kann, dass auch an die Ware geglaubt werden kann. Das ist dann der Fall, wenn – wie Walter Benjamin analysierte – Kapitalismus nicht nur wie eine Religion, sondern selbst eine Religion ist.

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Ebd., 269–270.

MACHT, MATERIALITÄT UND SAKRALITÄT Sakrale Objekte und die Beziehung zwischen Gott und Mensch im frühmittelalterlichen Kirchweihritus Miriam Czock Der enge Zusammenhang zwischen Macht und Heiligkeit wird bereits von der Religionswissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts betont1. Überspitzt man die in der älteren religionswissenschaftlichen Forschung geläufigen Argumentationsstränge, ist sie davon ausgegangen, dass das Wesen des Heiligen mit Macht gleichgesetzt werden kann. Im Zuge dessen sind auch die materiellen Ausformungen des Kultes, die im rituellen Mittelpunkt der Religionspraxis standen, das heißt alle im Kult verwendeten Objekte, als heilig und machtvoll definiert worden2. Diese Ansätze legen damit eine Grundlage dafür, wie die Materialität des Kultes und Heiligkeitsvorstellungen zusammenhängen, und sensibilisiert dafür, dass der Begriff der Macht nicht als von der Heiligkeit abgelöst betrachtet werden kann. Die religionswissenschaftlichen Überlegungen bergen jedoch gerade für Historiker Probleme; das offensichtlichste und bereits häufiger von der historischen Forschung aufgegriffene besteht darin, dass die Charakterisierungen ahistorisch sind3. Die Theorien denken den Zusammenhang von Sakralität und Macht transhistorisch sowie trans1

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Für ihre Bereitschaft zur Diskussion und für fruchtbare Hinweise zu diesem Aufsatz möchte ich Matthew Bryan Gillis und Sören Kaschke danken. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich Michael Oberweis für seine wertvollen Kommentare und Anregungen. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1984: „Das Heilige ist, wie wir gesehen haben, das Reale schlechthin, es ist Macht, Wirksamkeit, Quelle des Lebens und der Fruchtbarkeit.“ Am grundlegendsten phänomenologisch gefasst ist die Idee der göttlichen Macht wohl von Geradus van der Leeuw, Einführung in die Phänomenologie der Religion, Darmstadt 1961. Zusammenfassend vor allem auf den Zusammenhang zwischen politischer Macht und göttlicher Macht Burkhard Gladigow, Kraft, Macht, Herrschaft. Zur Religionsgeschichte politischer Begriffe, in: Staat und Religion, hg. v. Dems., Düsseldorf 1981, 7–22. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957; Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003. Allgemein zur Heiligkeit von Dingen siehe Klaus Herbers, Einleitung, in: Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen, hg. v. Andrea Beck / Klaus Herbers / Andreas Nehring, Stuttgart 2017, 7–9; dort auch Roger Thiel, Wie wird ein Ding heilig?, 29–42. Berndt Hamm, Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherungen an ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben, in: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. v. Nine Robijntje Miedema / Rudolf Suntrup, Frankfurt a. M. u. a. 2003, 627–646; Christoph Auffarth, Wie kann man von Heiligkeit in der Antike sprechen? Heiligkeit in religionswissenschaftlicher Perspektive, in: Communio Sanctorum. Heilige, Heiliges und Heiligkeit in spätan-

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religiös und übergehen so, dass er sich historisch und religiös unterschiedlich artikulieren kann. Die Beschäftigung mit der konkreten Ausformung des Wechselverhältnisses muß jedoch nicht nur dessen Historizität, sondern auch die religionsspezifischen rituellen und imaginativen Bezüge entfalten. Um die verschiedenen Vorstellungen von der Materialisierung von göttlicher Macht und Sakralität genauer auszuleuchten, analysiert diese Studie den frühmittelalterlichen Kirchweihritus. Die Untersuchung fokussiert sich auf die Liturgie, denn sie ist der direkteste Ausdruck eines Symbol- und Denksystems, das sich in ihr rituell realisiert. Als ritueller Ausdruck religiöser Vorstellungen gibt sie auch Antwort auf die Frage, in welchen Formen der Zusammenhang von göttlicher Macht und Heiligkeit konzipiert wird, denn die Liturgie verbindet die Repräsentationen des Heiligen gedanklich letztlich mit der Transzendenz Gottes, die unter anderem in Form seiner Macht in die Immanenz der Welt einbricht4. Eine paradigmatische Betrachtung der Kirchweihe bietet sich an, da sie der liturgische Kristallisationspunkt der Verknüpfung von Sakralität und Materialität schlechthin ist. Die Logik der Kirchweihe ist unter der Perspektive der Materialisierung von Sakralität im Kirchengebäude bereits gut untersucht5, den Objekten, die in der Kirchweihe eine Rolle spielen, hat man bisher allerdings

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tiken Religionskulturen, Peter Gemeinhardt / Katharina Heyden, Berlin/New York 2012, 1–33. Elmar Bartsch, Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie. Eine liturgiegeschichtliche und liturgietheologische Studie, Münster 1967; Derek A. Rivard, Blessing the World. Ritual and Lay Piety in Medieval Religion, Washington 2009. Literatur zur Sakralisierung des Kirchengebäudes im Frühmittelalter in Auswahl: Brian Repsher, The Rite of Church Dedication in the Early Medieval Era, Lewiston 1998; TorstenChristian Forneck, Die Feier der Dedicatio ecclesiae im Römischen Ritus. Die Feier der Dedikation einer Kirche nach dem deutschen Pontifikale und dem Meßbuch vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und im Vergleich zum Ordo dedicationis ecclesiae und zu einigen ausgewählten landessprachlichen Dedikationsordines, Aachen 1999; Dominique Iogna-Prat, Lieu de culte et exégèse liturgique à l’époque carolingienne, in: The Study of the Bible in the Carolingian Era, hg. v. Celia M. Chazelle / Burton van Name Edwards, Turnhout 2003, 215–244; Ders. La maison dieu. Une histoire monumentale de l’église au Moyen Âge, Paris 2006; Carola Jäggi, Die Kirche als heiliger Raum. Zur Geschichte eines Paradoxons, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, hg. v. Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks, Stuttgart 2007, 75–89; Michel Lauwers, De l’église primitive aux lieux de culte. Autorité, lectures et usages du passé de l’église dans l’occident médiéval (IXe–XIIIe siécle), in: L’autorité du passé dans les sociétés médiévales, hg. v. Jean-Marie Sansterre, Rome 2004, 297–323; Didier Méhu, Historiae et imagines. De la consecration de l’église au moyen age, in: Mises en scène et mèmoires de la consécration de l’église dans l’occident medieval, hg. v. Dems., Turnhout 2007, 15–48; Sible L. de Blaauw, Die Kirchweihe im mittelalterlichen Rom. Ritual als Instrument der Sakralisierung eines Ortes, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, hg. v. Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks, Stuttgart 2007, 91–99; Samuel W. Collins, The Carolingian Debate over Sacred Space, New York 2012; Dana Polanichka, Transforming Space, (Per)forming Community. Church Consecration in Carolingian Europe, in: Viator 43 (2012), 79–98; Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter, Berlin/Boston 2012; Dies. Early Medieval Churches as Cultic Space between Material and Ethical Purity, in: Discurses of Purity in Transcultural Perspective (300–1600), hg. v. Matthias Bley / Nikolas Jaspert / Stefan Köck, Leiden 2015, 21–41; Mette Birkedal Bruun / Louis I. Hamilton, Rites for Dedicating

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weniger Aufmerksamkeit gewidmet6. Hier soll daher der Fokus vom Kirchengebäude auf die Konstruktion von Sakralität und Materialität in Bezug auf die weiteren Materialien, die im Kirchweihritus eine Rolle spielten, verschoben werden, nämlich die Materialien des Exorzismus, die vasa sacra und Paramente sowie die Reliquien. Während religionswissenschaftliche Arbeiten häufig betonen, dass sich Macht und Sakralität gerade in materiellen Objekten manifestiert, blieb die frühmittelalterliche Konzeptionalisierung des Heiligen als Macht in deren materiellen Artikulationsformen bisher kaum beleuchtet. Vor dem Hintergrund jedoch, dass die Forschung für das Frühmittelalter diskutiert, inwiefern in dieser Zeit eine Verschiebung in der Konstruktion von Heiligkeit zu Gunsten einer Materialisierung spiritueller Vorstellungen stattgefunden hat, läßt sich also die Frage aufwerfen, in welche Muster in diesem Zusammenhang Macht, Materialität und Sakralität gegossen wurden. Die ältere Forschung hat die frühmittelalterliche Hinwendung zur Materialität als einen religiösen Ausdruck verstanden, der dem Alten Testament folgend das sichtbare Ritual in den Mittelpunkt stellte und Heiligkeitsvorstellungen in erster Linie über einen Reinheitsdiskurs definierte7. Dagegen hat die neuere Forschung zeigen können, dass die Hinwendung zur materiellen Welt nicht auf einem rein äußeren Formalismus beruhte, vielmehr erfolgte spätestens in karolingischer Zeit eine Einbeziehung der materiellen Welt in ein theologisches Symbol- und Denksystem von spirituellen Zuständen und transzendenter Wirklichkeit in einem Horizont heilsgeschichtlicher Vorstellungen8. Zudem deckt auch ein allein auf Reinheit gestützter

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Churches, in: Understanding Medieval Liturgy. Essays in Interpretation, hg. v. Helen Gittos / Sarah Hamilton, Farnham 2016, 177–204. Rivard, Blessing the World (wie Anm. 4), 217 schließt eine Studie dieser sogar explizit aus seiner Untersuchung aus, weil er sie für zu eng mit der Kirchweihe verbunden sieht. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität, Darmstadt 32000, bes. 1–30; Ders., Das Offertorium. Das mittelalterliche Meßopfer, Münster 2014; Ders., „Mit reinen Händen“. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese, in: Ders. Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag, hg. v. Thomas Flammer / Daniel Meyer, Münster 2005, 245–267 (zuerst erschienen in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz, hg. v. Georg Jenal / Stephanie Haarländer, Stuttgart 1993, 297–316); Hubertus Lutterbach, Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts, Köln 1999. Nikolaus Staubach, ‚Cultus divinus‘ und karolingische Reform, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1984), 546–581; Nikolaus Staubach, „Populum Dei ad pascua vitae aeternae ducere studeatis“. Aspekte der karolingischen Pastoralreform, in: La pastorale della Chiesa in Occidente dall’età ottoniana al Concilio Lateranese IV. Atti della quindicesima settimana internazionale di Studio. Mendola, 27–31 Agosto 2000, Mailand 2004, 27–54; Ders., Signa utilia – signa inutilia. Zur Theorie gesellschaftlicher und religiöser Symbolik bei Augustinus und im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), 19–49. In ähnlicher Weise argumentiert auch Rob Meens, „A Relict of Superstition“. Bodily Impurity and the Church from Gregory the Great to the Twelfth Century Decretists, in: Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, hg. v. Marcel H. M. Poorthius / Joshua Schwartz, Leiden 2000, 281–293; Mayke de Jong, Rethinking Early Medieval Christianity. A View from the Netherlands, in: Early Medieval Europe 7 (1998), 261–276, bes. 267–270; Miriam Czock, Gottes Haus (wie Anm. 5); Dies., Early Medieval Churches (wie Anm. 5); Dies., Die Heiligkeit von vasa sacra und Paramenten. Zum

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Heiligkeitsbegriff, nicht alle frühmittelalterlichen Vorstellungen, die mit Objekten verbunden waren ab, so zeigen bereits Studien zu den Objektweihen, dass nicht nur Reinheit, sondern göttliche Macht als wesentlicher Bestandteil des transformatorischen Prozesses der Sakralisierung verstanden wurde9. Da der theologische Diskurs die gedanklichen Zusammenhänge von materiellen Formen des Kultes und transzendenten Qualitäten also durchaus beinhaltet, dieser Diskurs jedoch bislang kaum betrachtet wurde, sollen hier die Facetten frühmittelalterlicher Konzepte von göttlicher Macht und die damit zusammenhängenden Deutungsmuster von Heiligkeit aufgedeckt werden10. Den Fragehorizont an den theoretischen Modellen auszurichten, welche die Religionswissenschaften für die Materialisierung der Sakralität und damit letztlich auch von göttlicher Macht hervorgebracht haben, birgt wiederum Probleme, da sie die materiellen Ausdrucksformen des Kultes mehr oder weniger aus der Perspektive der anthropologischen Konstante beschreiben und damit alle Vorstellungen als eine Einheit verstehen. In der Theorie werden daher verschiedene religiöse Formen mehr oder weniger miteinander verschmolzen, so dass neben den historischen Differenzen auch die den jeweiligen kultischen Ausformungen eigenen Spezifiken und das mit ihnen zusammenhängende theologische Deutungspotential unterbeleuchtet bleiben. In Folge dessen nuancieren die Untersuchungen die verschiedenen Figurationen von Materialität, Sakralität und Macht kaum; das gilt ebenso für die materiellen Aspekte des christlichen Kults11. Dagegen wenden sich historische Studien den zu untersuchenden Materialien in Einzelstudien zu. In der Auseinandersetzung mit den Gegenständen des Kultes hat die Forschung vor allem die transformatorische Logik des rituellen und sprachlichen Akts der Weihe analysiert und damit die Schaffung geheiligter Objekte für den Kult nachvollziehbar gemacht12. In diesem Zusammenhang ist die göttliche Macht bereits als

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Zusammenhang von Liturgie, Liturgieexegese und normativen Quellen in karolingischer Zeit – oder warum man eine Hostienschale nicht verpfänden darf, in: Beck/Herbers/Nehring (Hg.). Heilige und geheiligte Dinge (wie Anm. 2), 65–82. Herbert Schneider, Aqua benedicta – Das mit Salz gemischte Weihwasser, in: Segni e Riti nella chiesa altomedievale occidentale. Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto Medioevo 11–17 Aprile 1985, Bd. 2, Spoleto 1987, 337–367, hier 352: „Die Materie wird geheiligt bzw. das Heilige materialisiert sich, doch auch wieder nicht so, dass sich die geheiligte Materie verselbstständigt und magisch wirkte; vielmehr bleibt der eigentlich Angesprochene Gott selbst.“ Rivard, Blessing the World (wie Anm. 4), 270 unterstreicht, dass Weiheformeln Gott nicht einfach als Allmächtigen entwerfen, sondern sich komplexe Denkformationen des göttlichen finden. So zum Reliqiuenkult Kohl, Die Macht der Dinge (wie Anm. 2), 31–69. Zum ganzen Spektrum des liturgischen Geräts, das über die in den hier besprochenen von den Quellen genannten Gegenstände hinausgehen kann, siehe Josef Braun, Das christliche Altargerät in seinem Sein und seiner Entwicklung, München 1932; Ders. Handbuch der Paramentik, Freiburg i. B. 1912. Auch aus kunsthistorischer Perspektive hat man sich schon mit dem liturgischen Gerät beschäftigt, hier stand neben den verschiedenen kunsthistorischen Formen vor allem die Untersuchung von spirituellen Ausdeutungen und nicht der Zusammenhang von Transzendenz und Immanenz im Vordergrund: Victor H. Elbern, Liturgisches Gerät und Reli-

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wesentlicher Parameter der Vorstellungen vom transformatorischen Prozess erkannt worden13. Die Sinnformationen, die in die göttliche Macht und Sakralität gegossen wurden, hat man allerdings nicht eigens analysiert. In ähnlicher Weise hat die Forschung aufgezeigt, dass im frühmittelalterlichen Vorstellungshorizont auch die Heiligkeit der Heiligen und deren Reliquien mit Gottes Macht verbunden ist14. Während die Materialität der kultischen Objekte nicht in Abrede gestellt werden kann, sind die frühmittelalterlichen gedanklichen Bedingungen für die Interpretation der Reliquien so komplex, dass sie nicht einfach als eine materielle Manifestation spiritueller Wirklichkeit verstanden werden können, sind die Reliquien doch die Leiber der Heiligen und damit nicht einfach als Objekte charakterisierbar15. So integrieren frühmittelalterliche Texte die Reliquien primär in einen spirituellen Denkhorizont, was allerdings nicht ausschließt, dass sie als materieller körperlicher Überrest des Heiligen gedacht werden konnten. In Hinsicht auf ihre Materialität noch gar nicht beleuchtet, ist eine weitere liturgische Ausdrucksform, in welcher der enge Zusammenhang von spirituellen Vorstellungen und materieller Welt in spezifische Deutungsmuster gegossen wurde: der Exorzismus. So sind die Exorzismen und Beschwörungen als spirituelle Ausdrucksform der kultischen Nutzbarmachung von Sachen untersucht worden, allerdings hat man den Akzent bisher auf völlig andere Gesichtspunkte als mit ihnen verbundene Ideen der Heiligkeit gelegt. Zentral war die Ausdeutung des Vorstellungshorizonts, in den die im Exorzismus zur Anwendung kommenden Sachen eingebettet waren sowie das dem Exorzismus zugrunde liegende Denkmuster der Einschreibung von

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quiare. Funktionen und Ikonologie, in: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, hg. v. Christoph Stiegemann / Matthias Wemhoff, Mainz 1999, 694–710; Ders. Liturgisches Gerät in edlen Materialien zur Zeit Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3: Karolingische Kunst, hg. v. Wolfgang Braunfels / Hermann Schnitzler, Düsseldorf 1965, 115–167; Ders., Die „Libri Carolini“ und die liturgische Kunst um 800. Zur 1200-Jahrfeier des 2. Konzils von Nikaia 787, in: Aachener Kunstblätter 54/55 (1986/87), 15–32, bes. 21–23; Ders., Werke liturgischer Goldschmiedekunst, in: Culto cristiano, politica imperiale carolingia, Todi 1979, 303–337; Anton von Euw, Liturgische Handschriften, Gewänder und Geräte, in: Ornamenta ecclesiae. Kunst und Künstler in der Romanik in Köln. Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Joseph-Haubrichs Kunsthalle, hg. v. Anton Legner, Bd. 1, Köln 1985, 385–414. Rivard, Blessing the World (wie Anm. 4), 270; Bartsch, Sachbeschwörungen (wie Anm. 4), 343. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, bes. 155–158. John M. McCulloh, The Cult of Relics in the Letters and ‚Dialogues‘ of Pope Gregory the Great. A Lexographical Study, in: Traditio 32 (1976), 145–184, bes. 153–156; David Appelby, Holy Relic and Holy Image. Saints’ Relics in the Western Controversy over Images in the Eighth and Ninth Century, in: Word and Image 8 (1992), 333–343; Janneke Raaimakers, Word, Image and Relics. Hrabanus Maurus and the Cult of Saints (820s–840s), in: Raban Maur et son temps, hg. v. Philippe Depreux u. a., Turnhout 2010, 389–405, bes. 395–396. Hierzu auch allgemeiner Uta Kleine, Schätze des Heils, Gefäße der Auferstehung. Heilige Gebeine und christliche Eschatologie im Mittelalter, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 14 (2006), 161–192.

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transformatorischem Potential in Sachen, die wiederum dazu dienen sollten, Sakralität zu schaffen und letztlich Heil zu stiften16. Weder die Forschung zu den frühmittelalterlichen Exorzismen und den Weihen der liturgischen Geräte, noch die zu den Reliquien hat die mit der Sakralität und Macht zusammenhängenden Sinnbildungen in Bezug auf die materiellen Realien als spezifische Denkmatrix des göttlichen Wirkens in der Welt analysiert. Hierdurch blieb auch der Denkhorizont, in dem sich die Vorstellungen von materialisierter Heiligkeit ausdifferenzierten, bislang unausgeleuchtet, da nicht in Betracht gezogen wurde, dass die Konstruktion und damit auch die Perzeption des Heiligen je nachdem, in welchem Objekt es sich manifestiert, unterschiedliche Formen haben kann. So gewinnt eine Annäherung an die verschiedenen Formen von Materialität, die sich im Kult manifestieren, ihre Relevanz. Fokussiert auf die verschiedenen Objektkategorien, die im Kirchweihritus eine Rolle spielen, soll im Weiteren anhand der Analyse der Quellensprache untersucht werden, in welchen Zusammenhang Macht, Materialität und Heiligkeit gebracht werden, um herauszuarbeiten, wie die materielle Dimension von Sakralität im Frühmittelalter gedacht wurde. In diesem Rahmen gilt es ebenfalls zu analysieren, inwiefern die in den Gebeten der Liturgie geäußerten Denkfiguren an die unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen Objekte gebunden sind und wie die Funktionalität der Objekte in die Logik des Deutungshorizonts von göttlicher Macht und Sakralität eingeschrieben wird. Die komplexen Denkoperationen, in denen göttliche Macht, Materialität und Heiligkeit verbunden werden, lassen sich in ihrer nuancierten Spezifik nur zeigen, wenn man den jeweiligen Denkhorizont, in den die unterschiedlichen Objekte eingebettet werden, einzeln beleuchtet, daher werden die Exorzismen von Asche, Salz, Wasser und Wein, die Weihe der kultischen Geräte und die Einbringung der Reliquien im Weiteren wenigstens in Teilen systematisch und nicht der Chronologie der Kirchweihe folgend untersucht. Drei Fragen stehen im Mittelpunkt, nämlich: Welche Vorstellungen von göttlicher Macht auszumachen sind, welche Ideen von Sakralität in Bezug auf die einzelnen Materialien entwickelt wurden, und welche Rolle die Funktionalität der Objekte bei der Ausbildung der Heiligkeitsvorstellungen spielt. Die Entwicklung neuer spiritueller Zugänge zur materiellen Welt im Frühmittelalter schlägt sich schon in der Tatsache nieder, dass die Kirchweihliturgie eine genuin fränkische Entwicklung ist, die sich in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts vollzieht. Erste liturgische Spuren des Kirchweihritus sind zwar bereits 750 in Form einer Altarweihe17 als ebenfalls fränkische Einfügung18 im Sacramentarium Gelasianum 16 17

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Bartsch, Sachbeschwörungen (wie Anm. 4), bes. 347–352. Josef Benz, Zur Geschichte der römischen Kirchweihe nach den Texten des 6. und 7. Jahrhunderts, in: Enkainia. Gesammelte Arbeiten zum Weihegedächtnis der Abteikirche Maria Laach am 24. August 1956, Düsseldorf 1956, 62–109, hier 63; Medieval Liturgy, hg. v. Cyrill Vogel / William Storey / Niels Krogh Rasmussen, Washington 1986, 67–69; Forneck, Die Feier der Dedicatio ecclesiae (wie Anm. 5), 12. Aufgrund des Befundes, dass die Kirchweihe in Rom keine besondere Ausformung erhielt und erste Teilriten und das gesamte Zeremoniell dann im fränkischen Raum das erste Mal auftraten, kommt Antoine Chavasse, Le sacramentaire Gélasien, Tournai 1958, 36–49, zur Verortung der Entstehung des Ritus im gallischen Raum. Die Forschung ist ihm in dieser Einschätzung ge-

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zu finden19, jedoch kein dezidiert auf das gesamte Kirchengebäude bezogener Kirchweihritus. Erst das Sakramentar von Angoulême, das zwischen 768 und 781 entstanden ist20, enthält eine auf das gesamte Kirchengebäude bezogene Kirchweihliturgie. Für die Frage nach den Vorstellungen und dem Zusammenhang von Macht, Materialität und Sakralität ist der nächste Entwicklungsschritt der Kirchweihe, der sich aus dem in den 790er Jahren entstandenen Sakramentar von Gellone21 ablesen lässt, von besonderer Wichtigkeit, denn in diesem wird der Kirchweihordo um Orationen mit exorzistischem Inhalt erweitert22. Durch die Einfügung des Exorzismus in den Ordo eröffnen sich im Kirchweihritus neue Bezüge zur Materialität.

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folgt: Vogel/Storey/Rasmussen (Hg.), Medieval Liturgy (wie Anm. 17), 64, 66; Benz, Zur Geschichte der römischen Kirchweihe (wie Anm. 17), 94. Näheres zum Inhalt des ordo findet sich bei Marcel Metzger, Les Sacramentaires, Turnhout 1994, 103; Forneck, Die Feier der Dedicatio ecclesiae (wie Anm. 5), 12–15; Peter Wünsche, „Quomodo ecclesia debeat dedicari“. Zur Feiergestalt der westlichen Kirchweihliturgie vom Frühmittelalter bis zum nachtridentinischen Pontifikale von 1596, in: „Das Haus Gottes, das seid ihr selbst“. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe, hg. v. Ralf M. W. Stammberger / Claudia Sticher / Annekatrin Warneke, Berlin 2006, 113–141, hier 116 f. Liber sacramentorum Romanae aeclesiae ordinis anni circuli (Sacramentarium Gelasianum), hg. v. Leo C. Mohlberg, Rom 1960. Die liturgischen Texte tragen den Namen Gelasianum, da sie traditionell dem Papst Gelasianus I. zugeschrieben werden, so Wünsche, „Quomodo ecclesia debeat dedicari“ (wie Anm. 18), 115. Selbst der ordo der Altarweihe ist allerdings eine fränkische Einfügung. Zur Datierung Mohlberg in der Einleitung zur Edition, XXXV. So auch Vogel/Storey/Rasmussen (Hg.), Medieval Liturgy (wie Anm. 17), 65 f. Allgemein zum Gelasianum Chavasse, Le sacramentaire Gélasien (wie Anm. 17). Eine neuere, allerdings wesentlich kürzere Einführung findet sich bei Metzger, Les Sacramentaires (wie Anm. 18), 81– 106. Die Kirchweihorationen stehen im Gelasianum an folgenden Stellen: LXXXVIII 689–702 Orationes in dedicatione basilicae novae 107–110 (mit Rubrik zur Altarweihe), LXXXVIIII 703–708 Orationes et praeces ad missas in dedicatione basilicae novae 110 f., XC 709–714 Item alia missa 111 f. Das Gelasianum hat sich in nur einem Manuskript erhalten und stellt die fränkische Überarbeitung eines römischen Originals dar, das in die Zeit zwischen 628 und 715 zu datieren ist: Yitzhak Hen, Culture and Religion in Merovingian Gaul A. D. 481–751, Leiden u. a. 1995, 59 f.; zur Debatte über die Datierung siehe Vogel/Storey/Rasmussen (Hg.), Medieval Liturgy (wie Anm. 17), 65–69. Liber Sacramentorum Engolismensis, hg. v. Patrick Saint-Roch, Turnhout 1987 (Corpus Christianorum Series Latina 159C) Introduction, XIf.; Benz, Zur Geschichte der römischen Kirchweihe (wie Anm. 17), 62–109, 92 f. Er ist der Meinung, dass der im Sakramentar erhaltene Kirchweihordo sich vor das Ende des 7. Jahrhunderts datieren lässt und rein gallischer Natur ohne römischen Einfluss ist. Forneck, Die Feier der Dedicatio ecclesiae (wie Anm. 5), 18; Liber Sacramentorum Gellonensis. Introductio, Tabulae et Indices, hg. v. Jean Dehusses, Turnhout 1981 (Corpus Christianorum Series Latina 159A), XIX. Zum Sakramentar von Gellone siehe Liber Sacramentorum Gellonensis. Introductio (wie Anm. 21), VII–XXXVI; Vogel/Storey/Rasmussen (Hg.), Medieval Liturgy (wie Anm. 17), 76–78. Der Kirchweihordo findet sich in Liber Sacramentorum Gellonensis, hg. v. André Dumas, Turnhout 1981 (Corpus Christianorum Series Latina 159), Ordo ad ęcclesia dedicando 356, 2416, 360–362. Der Exorzismus bezog sich ursprünglich auf die Weihe von Häusern. Der Ritus basiert auf einem römischen Ordo, siehe Liber Sacramentorum Romanae (wie Anm. 19), Benedictio aquae spargendae in domo LXXV 1556–1565, 225–227. Siehe hierzu: Vogel/Storey/ Rasmussen (Hg.), Medieval Liturgy (wie Anm. 17), 70–76, bes. 71, 75.

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Neben den genannten Ordines bringt das Frühmittelalter weitere Kirchweihriten hervor, jedoch sprengt es den Rahmen der vorliegenden Studie, alle rituellen Einzelentwicklungen zu verfolgen23. Aus diesem Grund liegt der vorliegenden Analyse kein genuin fränkisches Sakramentar zu Grunde, vielmehr fällt der Blick auf einen Kirchweihritus aus dem germanisch-römischen Pontifikale. Das Pontifikale ist Mitte des 10. Jahrhunderts in Mainz entstanden und vereint im Ordo XL verschiedene in karolingischer Zeit verbreitete Gebete und Riten zu einem Kirchweihritus24. Auch der Ordo XL des römisch-germanischen Pontifikale kann nur exemplarisch sein, da die Vielfalt an Ordines auch im 10. Jahrhundert bestehen bleibt25. Das besondere Erkenntnispotential von Ordo XL liegt darin, dass er viele frühere Entwicklungen vereint und darüber hinaus auf die weiteren rituellen Ausprägungen maßgeblichen Einfluss nahm. Der Kirchweihordo XL des römisch-germanischen Pontifikale sieht mehrere Exorzismen und Beschwörungen von Salz, Wasser, Wein und Asche vor, nämlich die Gebete 5–9 und 27–4126. Die Gebete des Exorzismus gehören nicht einem historischen Entstehungsmoment an, vielmehr sind sie eine Kombination aus aus verschiedenen Zusammenhängen stammenden Gebeten, die erst im Kirchweihritus zu einem gemeinsamen Vorstellunghorizont zusammengefügt werden. Daher formen sich in ihnen die Relationen zwischen Transzendenz und Immanenz sowie Macht, Materialität und Sakralität teils in unterschiedlicher Weise aus, insgesamt bilden sie allerdings einen Denkhorizont. Wasser, Salz, Asche und Wein werden geweiht, um in den weiteren rituellen Handlungen für die Aspersionen verwendet zu werden27. 23 24

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Zur Varianz der Kirchweihriten siehe: Bruun/Hamilton, Rites for Dedicating Churches (wie Anm. 5), 182–183. Ordo ad benedicendam ecclesiam (ordo XL), in: Le Pontifical Romano-Germanique, Bd. 1, hg. v. Cyrille Vogel / Reinhard Elze, Vatikanstadt 1963 (Neudruck Modena 1983), 124–173. Der Ordo XL des PRG gilt im Allgemeinen als repräsentativ für den frühmittelalterlichen Kirchweihritus. Einen Überblick über die Textgeschichte gibt: Vogel/Storey/Rasmussen (Hg.), Medieval Liturgy (wie Anm. 17), 230–247. Siehe zur Datierung des Kirchweihordos auch Repsher, The Rite of Church Dedication (wie Anm. 5), 33–39, zur Problematik dieses Datierungsversuch siehe: Yitzhak Hen, Rezension von: Repsher, Brian, The Rite of Church Dedication in the Early Medieval Era, in: The Journal of Ecclesiastical History 51 (2000), 126–128. Für Zusammenfassungen des Ablaufs des Ritus’ siehe Iogna-Prat, Lieu de culte (wie Anm. 5), 265–280; Repsher, The Rite of Church Dedication (wie Anm. 5), 41–66. Für einen allgemeineren Überblick siehe nun Henry Parks, The Making of Liturgy in the Ottonian Church. Books, Music and Ritual in Mainz, 950–1050, Cambridge 2015. Für eine zusammenfassende Kritik an der Edition Vogels und Elzes, welche die Unterschiede der handschriftlichen Überlieferung der Ordines zu sehr vereinheitlicht, siehe auch Henry Parks, Questioning the Authority of Vogel and Elze’s Pontifical romano­germanique, in: Gittos/Hamilton, Understanding Medieval Liturgy (wie Anm. 5), 75–101. Für die unterschiedlichen Ausformungen des Ordo in den Manuskripten siehe Bruun/Hamilton, Rites for Dedicating Churches, (wie Anm. 5), 182–186. Für die einzelnen Entwicklungen siehe Czock, Gottes Haus (wie Anm. 5), 146–173. PRG XL, 5–9, 129–130; 27–41, 137–140. Grundlegend zum Weihwasser, obwohl schon etwas älter Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. Bd. 1. Freiburg i. Br. 1909 (Neudruck Graz 1960), 48–221; Schneider, Aqua benedicta (wie Anm. 9).

Macht, Materialität und Sakralität

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Damit entstehen heilige Objekte, die zur Heiligung genutzt werden, über den Ritus hinaus jedoch keinen Bestand haben. Der erste Exorzismus mit den Gebeten 5–9 findet nicht in der Kirche statt, sondern in einem Zelt, in dem die Reliquien vor der Einbringung in die Kirche aufgebahrt liegen. In diesem Ritus werden Wasser und Salz für die Aspersion des Äußeren des Kirchengebäudes vorbereitet28. Die Gebete 27–41 hingegen spricht der Bischof in der Kirche, mit ihnen werden Wasser, Salz, Asche und Wein exorziert, um mit ihnen das Innere des Kirchengebäudes zu aspergieren. Grundsätzlichen Aufschluss über die Vorstellungen von göttlicher Macht eröffnen schon die Begrifflichkeiten, die in den Orationen in Bezug auf Gott verwendet werden. Das siebte Gebet des Ritus ist das erste, aus dem sich ein Eindruck davon gewinnen lässt, wie die Zusammenhänge von göttlicher Macht, Materialität und Sakralität konzipiert wurden. Das Gebet soll über Wasser gesprochen werden und exorziert dieses im Namen Gottes des allmächtigen Vaters und im Namen Jesu Christi, des Sohnes, durch die Wirkmacht (virtus) des Heiligen Geistes und durch die Wirkmacht (virtus) Christi29. Evoziert wird also nicht nur ein Konzept von Gottes Macht, sondern direkt zwei: Gottes Allmacht wie seine Wirkmacht30. Konzeptionell sind sie es, durch die eine Wandlung des Wassers, angesprochen als Kreatur, erfolgen soll, die es dazu befähigt, alle Macht des Feindes, d. h. des Teufels zu vertreiben. Die Oration enthält damit nicht nur Hinweise darauf, wie Gottes Macht vorgestellt wird, sondern gleichzeitig darauf, wie die Materialität der im Exorzismus eingesetzten Gegenstände gedacht wird, denn das Wasser wird im Ordo nicht als Sache, sondern als Kreatur (creatura) bezeichnet. Während aus dem siebten Gebet nicht herauszupräparieren ist, welche Vorstellungen sich mit dem Wasser als Kreatur verbinden, kann dies aus dem achten Gebet erschlossen werden31, dort wird das Wasser in seiner Materialität als Substanz (substantia), Element (elementum) und als Geschöpf (creatura) benannt. Die Geschöpflichkeit des Wassers qualifiziert sich im Gebet sogar näher dadurch, dass es als Gottes Kreatur bezeichnet 28 29

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Zum Exorzismus als liturgischem Ritus siehe Bartsch, Die Sachbeschwörungen (wie Anm. 4). Der Exorzismus wird in der folgenden Zeit Kernbestandteil des Kirchweihrituals, siehe z. B. PRG XL, 40, 27–34, 137–139. PRG XL, 7, 129: 7. Exorcizo te, creatura aquae, in nomine Dei patris omnipotentis et in nomine Iesu Christi filii eius domini nostri, et in virtute spiritus sancti, ut fias aqua exorcizata ad effugandam omnem potestatem inimici et ipsum inimicum eradicare et explantare cum angelis suis apostaticis, per virtutem domini nostri Iesus Christi. Zur virtus als Macht und Wirkmacht Gottes siehe Silke Schwandt, Virtus. Zur Semantik eines politischen Konzepts im Mittelalter, Frankfurt/New York 2014, 45–54. PRG XL, 8, 130: 8. Benedicito aquae. Oremus. Deus qui saltuem humani generis maxima quaeque sacramenta in aquarum substantia condidisti, adesto invocationibus nostris et elemento huic multimodis purificationibus praeparato virtutem tue benedictionis infunde, ut creatura tua mysteriis tuis serviens, ad abiciendos demones morbosque pellendos divinae gratiae sumat effectum, et quicquid in domibus vel in locis fidelium hec unda resperserit, careat inmunditia, liberetur a noxa, non illic resideat spiritus pestilens, non aura corrumpens; discedant omnes insidiae latentis inimici et, si quid est quod aut incolumitati habitantium invidet aut quieti, aspersione huius aque effugiat, ut salubritas, per invocationem sancti tui nominis expetita, ab omnibus sit impugnationibus defensa. Per.

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wird. Als Bitte an Gott wendet es sich an ihn, damit er durch seine Segnung seine Wirkmacht (virtus) in das Wasser hineingieße, sodass das Wasser seinen Mysterien diene und die Wirkung Gottes Gnade erziele. Die liturgische Festschreibung vereint die heilsgeschichtlich bedeutsamen Facetten Gottes im Gebet: Gott wird nicht nur als Schöpfer – hierauf verweist die Bezeichnung des Wassers als Kreatur – sondern auch als derjenige gedacht, der vom Satan befreit. Die Liturgie wendet sich so der materiellen Schöpfung zu und schreibt ihr durch die Weihe das Potential der Gnade ein, die gleichzeitig eine Befreiung vom Satan und letztlich der Sünde ist32. Im Rahmen der Logik der Gnade Gottes und des Erlösungsgedankens formulieren die Gebete damit nicht nur eine Idee der Sakralisierung des Materials, sie reiht in diese Logik auch die Beziehung der Menschheit zu Gott ein. Sie ist Bittsteller um Gottes Gnade und ihr Empfänger. Es ist dieser Gedanke, der insgesamt die Konzeption der Relation Gottes zu den Menschen in den Exorzismen prägt. In der Beziehung von Gott und Menschen wird dem Menschen über die Rolle als Bittsteller hinaus allerdings kaum ein eigener Handlungsspielraum zugeschrieben. Die Konstruktion der Menschheit als mehr oder weniger reine Rezipientin der göttlichen Gnade bleibt im Ritus nicht auf den Exorzismus beschränkt, jedoch verschiebt sich – wie zu sehen sein wird – in den Gebeten über den liturgischen Geräten die Gewichtung von der göttlichen Gnade zur Erlösung. Die Gebete verbinden Machtdiskurs und Gnadendiskurs auf das Engste, wobei göttliche Macht nicht vereindeutigt, sondern in unterschiedlicher Weise entfaltet wird. Einer der zentralen Darstellungsmodi göttlicher Macht findet sich bereits in Gebet 9, in dem das Wasser mit Salz vermischt und in dem Gott als derjenige angesprochen wird, der Urheber der unbesiegbaren Wirkmacht (Deus invictae virtutis auctor) ist33. Göttliche Macht wird also nicht unbedingt als eine göttliche Eigenschaft gedacht, sondern ebenso als etwas, was Gott hervorbringt. Daneben tritt die Vorstellung, die sich beispielsweise im 38. Gebet niedergeschlagen hat, das über einer Mischung aus Salz, Asche und Wasser gesprochen wird. Dort wird Gott als unüberwindlicher König der Macht und immer herrlicher Triumphator, der den Feind, d. h. den Teufel wirkmächtig bezwingen soll (potenter expugnas), bezeichnet34. Damit figurieren die Gebete die Macht Gottes in doppelter Weise, zum einen 32

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Der Gedanke der Sündenbefreiung findet sich ganz explizit in Gebet 27: PRG XL, 27, 137: 27. Exorzismus salis. Exorcizo te, creatura salis, in nomine domini nostri Jesu Christi qui apostolis suis ait: Vos estis sal terre, et per apostolum dicit: Cor vestrum sale sit conditum, ut sanctificeris ad consecrationem huius aecclesiae, ad expellendas omnes demonum temptationes, et omnibus qui ex te sumpserint, sis animae et corporis tutamentum et sanitas et protectio et confirmatio salutis. Per eundem. Qui venturus. Oder Gebet 29: (…) sal aspicere digneris, quatenus ex maiestatis tuae virtute contra omnes spiritus immundos vigorem possit accipere, expellat ab omni loco, ubi tua fuerit invocatione aspersum, quicquid potest esse pestiferum, et exhibeat plenum salutis effectum; (…). PRG XL, 9, 130: 9. Hic mittantur sal in aquam. Benedictio salis et aque pariter. Oremus. Deus invictae virtutis auctor et insuperabilis imerperii rex, (…). Ebd., XL, 38, 140: 38. Alia. Oremus. Deus invicte virtutis Auch in den Gebeten PRG XL, 9, 130; 29, 137 und 38, 140 findet sich der Gedanke, dass die virtus von Gott ausgeht. Ebd., XL, 7, 129: (…) omni potestate inimici (…); ebd., XL, 9, 130: (…) adversae dominitatis (…). Ebd., XL, 31, 138: (…) virtus adversarii (…). Während der Gedanke der Gnade in den Gebeten über den Materialien eher seltener expliziert wird, ist er in den Gebeten bei der Versprengung des Wassers Teil des Gedankenganges, dort wird die Antiphon Asperges me mit dem Psalm 51,1 Misere zusammen gesungen, siehe PRG XL, 43, 141; 44, 141. Ebd., XL, 5, 129; 6, 129; 8, 130; 9, 130; 29, 137; 34, 138–139, 139; 38, 140. Ebd., XL, 9, 130; 38, 140. Ebd., XL, 40, 140. Ebd., XL, 8, 130; 29, 137. Ebd., XL, 8, 130; 29, 137. Ebd., XL, 38, 140; 40, 140. Ebd., XL, 5, 129; 6, 129; 8, 130; 27, 137; 30, 138; 32, 138; 36, 139. Als Beispiel sei hier das Gebet 36 genannt: ebd., XL, 36, 139: 36. Benedictio cineris. Omnipotentes sempiterne Deus, parce metuentibus, propitiare supplicibus et mittere digneris sanctum angelum tuum de caelis, qui benedicat et sanctificet cineres istos, ut sint remedium salutare omnibus nomen tuum humiliter implorantibus ac semetipsos pro conscientia delictorum suorum accusantibus atque ante conspectum clementiae tuae facinora sua deplorantibus vel serenissimam pietatem tuam suppliciter obnixeque flagitantibus, praesta, quaesumus, per invocationem sanctissimi nominis tui, ut quicumque eos super se asperserint pro redemptione peccatorum, corporis sanitatem et animae tutelam percipiant. Per.

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ren, sie sollen in der einmaligen Verwendung Heil stiften und haben darüber hinaus keine weitere Bestimmung. Gottes Macht wird in drei unterschiedlichen Formen gedacht: Als Allmacht, die sich nicht weiter spezifizieren lässt, als Wirkmacht in Form der virtus, als göttliches Merkmal, das sich in die Immanenz der Welt und damit auch auf Materialien übertragen kann, sowie als Herrschaft. Funktional ist es daher die virtus, durch die als göttliche Qualität die Sakralisierung der Objekte erfolgt. Funktion und Wirkung bedingen sich jedoch und gehen ineinander auf, so ist die Denkfigur des Exorzismus ein Zirkelschluss: Gott kann nur dort sein, wo seine Gnade ist, gleichzeitig ist Gott aus seiner Macht heraus Urheber der mit jener verbundenen Qualitäten. Die virtus Gottes wird im Ritus nicht mehr nur als eine abstrakte göttliche Kraft begriffen, vielmehr schreibt man ihr sofortige Auswirkung zu: Sie bringt Heiligkeit mit sich, die sich wiederum auf Objekte übertragen kann, die auf die weitere materielle Welt heiligend einwirken sollen46. In der Konsequenz ist der Exorzismus eine Sinnformation, in welche die Materialien miteinbezogen sind, die letztlich um den Kampf Gottes mit dem Satan kreist und in der Machtdiskurs und Gnadendiskurs auf das engste verbunden sind. In diesem Rahmen sind auch die Konstitutionsbedingungen von Heiligkeit der exorzierten Materialien entworfen: Zwar bleibt dabei der Gedanke der Heiligkeit meist nur implizit durch die in sie eingeschriebene göttliche Gnadenwirkung mitgedacht, jedoch expliziert sich in einigen Gebeten der Gedanke, dass auch den im Exorzismus verwendeten Materialien Heiligkeit zukommt, da jene mitunter explizit als heilig bezeichnet werden47. Die Idee der Notwendigkeit der Transformation von Gegenständen für den Gebrauch im Kult liegt auch der Weihe der liturgischen Gegenstände zu Grunde. Während die exorzisierten Materialien zum Nutzen des transformatorischen Prozesses der Kirchweihe geweiht werden, ist die Weihe der liturgischen Gegenstände zwar Teil des Ritus, denkt diese jedoch nicht in Bezug auf das Kirchengebäude. Der enge Zusammenhang der Kirchweihe mit der Weihe der vasa sacra und der Paramente ergibt sich vielmehr daraus, dass sie sich in zeitlicher Abfolge der letzten inneren Umrundung zur Weihe der Kirche anschließt und vollzogen wird, bevor die Reliquien in die Kirche eingebracht werden und anschließend die erste Messe gehalten wird48. Der Ordo gibt in den Gebeten 73–122 mehrere Schritte der Weihe der liturgischen Gerätschaften vor49. Vergleichbar zum Exorzismus wird zwar auch in eini46

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Bartsch, Die Sachbeschwörungen (wie Anm. 4), 188, 296–301. Explizit spiegelt sich dies zum Beispiel in Gebet 34 PRG XL, 34, 139: 34. Benedicitio aquae. Domine Deus, pater omnipotens, statutor omnium elementorum, qui per Iesum Christum filium tuum dominum nostrum elementum hoc aquae in salutem humani generis esse voluisti (…). Ebd., XL, 37a, 139: (…) Exorcizo te, creatura aquae, per Deum vivum, per Deum verum, per Deum sanctum, ut efficiaris aqua sancta (…). Liber Sacramentorum Engolismensis (wie Anm. 20), XIf.; Benz, Zur Geschichte der römischen Kirchweihe (wie Anm. 17), 62–109, 92 f. ist der Meinung, dass der im Sakramentar erhaltene Kirchweihordo sich vor das Ende des 7. Jahrhunderts datieren lässt und rein gallischer Natur ohne römischen Einfluss ist. PRG XL, 73–122, 150–167.

Macht, Materialität und Sakralität

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gen dieser Gebete der Gedanke aufgenommen, dass die Heiligung gleichzeitig mit dem Schutz Gottes vor den bösen Geistern einhergeht50, insgesamt treten jedoch andere Vorstellungen stärker in den Vordergrund. Während der Exorzismus den Machtkampf zwischen Gott und Teufel beschreibt sowie die Vorstellung der Übertragung von Gottes virtus auf die Materialien zur Gnadenwirkung der Gegenstände betont, stellen die Orationen in Bezug auf die liturgischen Geräte die Notwendigkeit der Heiligung und Gottes Segen in den Mittelpunkt. Im Rahmen des Sprechens über die Macht stellen die Gebete nicht Gottes virtus in den Mittelpunkt, sondern seine Allmacht und seine Herrschaft51. Einen differenzierten Machtdiskurs, wie er in den Exorzismen zu finden ist, entwickeln die Gebete über den liturgischen Geräten nicht. Ihre Heiligkeit ist nicht in erster Linie Ausfluss seiner Macht, sondern seiner Fähigkeit zu heiligen. So wird er in den meisten Orationen darum gebeten, die ihm zugeigneten Gegenstände zu segnen und zu heiligen52. Der Akt der Heiligung wird mit den Begriffen benedicere, consecrare und sanctificare bezeichnet53. Mit benedicere und consecrare wird die Heiligmachung benannt, während sich sanctificare allein auf die Bewirkung der Heiligkeit durch Gott bezieht. Der lateinische Wortbestand differenziert so sehr genau zwischen geheiligt und heilig und den Menschen und Gott als Akteuren der Weihe. Die Gebete spiegeln dabei auch die funktionalen Gründe für die Heiligung, die anders gelagert ist als beim Exorzismus; sollte dieser die Dinge dazu befähigen, in einem Heiligungsritual als heiligende Objekte eingesetzt zu werden, ist eine Heiligung der verschiedenen liturgischen Instrumente notwendig, damit die Gerätschaften überhaupt für den göttlichen Kult gebraucht werden können54. Die Objekte werden begrifflich seltener direkt als heilig bezeichnet55, 50

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z. B. ebd., XL, 79, 152–53, 153: (…) His quoque sacris vestibus sacerdotes vel levitae tui induti, defensi ab omnibus impulsionibus seu tempestationibus malignorum spirituum esse mereantur, tuisque eos ministriis apte et condigne servire et inherere, in hisque placide et devote tribue perseverare. Per.; PRG XL, 109, 162: (…) Deus omnipotens, cui astat exercitus anglorum, dignare respicere et benedicere hanc creaturam incensi, ut omnes languorum daemonumque insidiae odorem ipsius sentientes fugiant et separentur a plasmate tuo, quod filii tui pretioso sanguine redemisti, ut numquam ledantur a morsu serpentis antiqui. Per. Ebd., XL, 77, 151–152: (…) Omnipotens sempiterne Deus, rex regum et dominus dominantium (…); ebd., 80, 153: (…) Domine Deus, pater omnipotens, rex et magnificus triumphator (…). Z. B. ebd., XL, 82, 154: (…) hoc ornamentum in usum miniserii tui sanctificare, benedicere et consecrare digneris (…); ebd., XL, 91, 156: 91. Inde faciat signum crucis de chrismate sancto super patenam dicens: Consecrare et sanctificare digneris, domine, patenam hanc per istam unctionem et nostra benedictionem, in Christo Iesu domino nostro. Per. Z. B. ebd., XL, 77, 151–152: Omnipotens sempiterne Deus, rex regum et dominus dominantium, sacerdos omnium, pontifex universorum, per quem una cum patre sanctoque spiritu facta sunt universa, Christe Iesu, benedicere, consecrare et sanctificare digneris vasa haec cum his altaris linteaminibus (…). Ebd., XL, 78, 152: (…) et omnia haec diversarum specierum ornamenta, in usum huius bailicae vel altaris, ad honorem et gloriam tuam praeparata, purificare et sanctificare, benedicere et consecrare per nostrae humilitatis servitutem digneris, ut divinis cultibus sacrisque ministeriis apta existant, hisque in confectione corporis et sanguinis Iesu Christi filii tui domini nostris dignis tibi pareatur famulatibus. Qui tecum. Ebd., XL, 75, 151: (…) vasa sacri (…); 80, 153: (…) sacris vestibus (…); 93, 156: (…) sacratum calicem (…); 94, 157 (…) sacra (…) vasa (…); 100, 158 (…) sanctae crucis (…).

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grundsätzlich werden sie jedoch durch den auf sie bezogenen Sinngebungsprozeß der Heiligung in einen Vorstellungshorizont von Heiligkeit eingebettet. Im Gegensatz zum Exorzismus enthalten die Gebete über den liturgischen Gegenständen programmatische Gedanken über die Motive ihrer Heiligung. Konzeptionell wird die Notwendigkeit der Heiligung der liturgischen Gegenstände in einen biblischen Begründungszusammenhang eingebettet, da die Gebete in diesem Zusammenhang mitunter auf die Vorschriften des Alten Testaments rekurrieren. So werden Melchisedech56, Moses57, Aaron58 und die Leviten59 als Vorbilder für die Weihe der im Kult gebrauchten Gegenstände aufgerufen. Damit wird der Kult nicht nur als Vollzug des Dienst gekennzeichnet, sondern gleichzeitig auch das Materielle des Kultes fundiert, indem die Verwendung von Gegenständen des Kultes als biblisch vorgegeben konzipiert wird60. Während die Gebete auf der einen Seite zur Begründung der Weihen an das Alte Testament anknüpfen, reflektieren sie gleichzeitig, dass der Kult im Horizont des Erlösungswerks Christi gedacht wird. Daraus ergibt sich eine andere Gewichtung der Darstellungsmodi der Beziehung von Mensch und Gott als im Exorzismus, da in den Orationen die Erlösung und weniger Gottes Gnade zur Koordinate wird. Das heißt, der Nutzen der Heiligung der liturgischen Gerätschaften hat einen spezifischen heilsgeschichtlichen Hintergrund, der die Erlösung durch Christi Auferstehung und die damit einhergehende Sündenvergebung unterstreicht61. Zwar wird der Gedanke der Vertreibung Satans durch Gottes Macht durchaus auch hier evoziert62 – gehört die Vertreibung Satans doch gerade in den Zusammenhang von Gnade und Erlösung – er ist aber nicht so prominent wie im Exorzismus. Die Gebete konzeptionieren den Menschen ebenfalls als Bittsteller sowie als gnadenbedürftig, dadurch jedoch, dass die Gegenstände, die geheiligt werden, dem Kult und damit der Erlösung dienen sollen, kommt dem Menschen ebenso die Rolle zu, dem Erlösungswerk zu folgen. Wiederum ist der Mensch in seinem Handeln erneut völlig in der Abhängigkeit von Gottes Willen gedacht, jedoch verschiebt sich das Gewicht von der Bitte auf die Feier des Kultes. Die Gebete binden die Gegenstände je nach Rolle im Kultvollzug argumentativ in spezifischer Weise in den Sinnhorizont von Kult, Erlösung, Materialität ein63. Auf der Detailebene kann dies an drei Beispielen verdeutlicht werden, 56 57 58 59 60 61

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Ebd., XL, 77, 151–152; 93, 156. Ebd., XL, 78, 152; 79, 152–153; 95, 157; 110, 162; 132, 163; 117, 166. PRG XL, 106, 161; 113, 164. Ebd., XL, 78, 152; 79, 152–153; 80, 153; 81, 153–154. Siehe zu diesem Konzept Czock, Die Heiligkeit von vasa sacra (wie Anm. 8). Beispielhaft sei hier genauer auf PRG XL, 84, 154–155 eingegangen. Am deutlichsten tritt dieses Thema in der Weihe des Kreuzes hervor, ebd., XL, 96–105, 157–161; siehe besonders ebd., XL, 98, 157: (…) Rogamus te, domine sancte, pater omnipotens, aeterne Deus, ut digneris benedicere hoc lignum crucis ut sit remedium salutare generi humano, sit soliditas fidei, profectus bonorum operum, redemptio animarum, sit solamen et protectio ac tutela contra seva iacula inimicorum. Per dominum. Siehe ebd., XL, 80, 156; 105, 160. Für die Konstruktionsmuster von Spiritualität und Heiligkeit in Bezug auf bestimmte Gegenstände siehe Eric Palazzo, Le végétal et le sacré. L’hysope dans le rite de la dédicace de l’église, in: Ritual, Text and Law. Studies in Medieval Canon Law and Liturgy presented to Roger E. Reynolds, hg. v. Kathleen G. Custing / Richard F. Gyug, Aldershot/Burlington 2004,

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der Weihe der Priestergewänder, der Patene und des Kreuzes. Die Weihe der Priestergewänder benennt explizit die Priester als diejenigen, die den Kult vollziehen und von der Weihe spirituell profitieren sollen. So spiegelt sich in Gebet 79 und 80 die Vorstellung, dass Gott die Gewänder heiligen soll, mit denen die Priester zu seinem Kult gekleidet seien, damit die Priester untadelig in ihren Handlungen sowie ihrer Lebensweise seien, um es letztendlich verdient zu haben, in den Himmel einzugehen64. Die Gebete über der Patene hingegen beziehen alle Gläubigen mit ein65. Sie schreiben der Patene jedoch keine spirituelle Bedeutung zu, auch wenn sie auf die Erlösung verweist. So formuliert beispielsweise Gebet 88 die Idee, dass die Patene geheiligt werden soll, damit auf ihr der Leib Christi zur Erlösung aller bereitet werden könne66. Die gedanklichen Verschränkungen von Kult, Erlösung, Materialität und spirituellen Zuschreibung entfalteten sich am deutlichsten in den Gebeten über dem Kreuz. Die konzeptionelle Verdichtung ist dabei charakteristisch für die Produktion von Sinnformationen, ist das Kreuz im liturgischen Zeichensystem als Symbol für den Opfertod Christi doch von zentraler Bedeutung67. Aus den Gebeten geht hervor, dass das Kreuz nicht nur für die Erlösung steht, sondern gleichzeitig durch Gott gesegnet werden soll, damit die Gläubigen nicht der Sünde verfallen und am Ende der Tage auferstehen können68. Während damit ein enger Denkzusammenhang von Heiligung und Erlösung entsteht, rückt die göttliche Macht als Faktor der Sakralität in den Hintergrund der Denkfigur und gewinnt kaum Konturen, da die Heiligkeit der kultischen Geräte weniger im Rahmen eines Diskurses des Machtverhältnisses von Teufel und Gott gedacht wird, sondern in erster Linie im Rahmen der Fähigkeit des allmächtigen Gottes zu heiligen konstruiert wird.

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41–49; Maureen C. Miller, Clothing the Clergy. Virtue and Power in Medieval Europe c. 800–1200, Ithaca/London 2014, bes. 11–96. PRG XL, 80, 153: (…) Domine Deus, pater omnipotens, rex et magnificus triumphator (…) orarium dextra tua sancta benedicere, consecrare sanctifcareque et purificare digneris, quatinus hec vestimenta ministris et levitis ac sacerdotibus tuis ad divinum cultum orandum explendumque proficiant, sanctisque altaribus tuis munde et ornate in his sacris vestibus ministraturi, irreprehensibiles in actu et victu interius exteriusque appareant, tibique soli Deo puro corde et mundo corpore omnibus diebus vitae suae irreprehensibiliter sanctorum patrum exempla sequentes servire valeant, hisque sacris ministeriis secundum tuam voluntatem quando tibi placuerit expletis, caelestis regni gloriam cum omnibus sibi commissis percipere mereantur. Per. Ebd., XL, 86–90, 155–91. Ebd., XL, 88, 155: Consecramus et sanctifiamus hanc patinam ad conficiendum in ea corpus domini nostri Iesu Christi patientis crucem pro salute omnium nostrum. Qui cum patre. In den Gebeten selber wird dieser Symbolcharakter am besten verdeutlich in Gebet 100, ebd., XL, 100, 158–159: (…) Rogamus te, domine, suppliciter invocantes, ut signum illud sanctae curcis sit salus credentium in te, per passionem crucis tuae et per signum sanctitatis tuae, signum Dei vivi, signum salutis, signum beate trinitatis, signum caelestis gloriae, signum salvatoris nostri domini Iesu Christi, hoc est crux salvatoris Christi, crux patriarcharum, crux prophetarum, crux apostolorum suorum, crux martyrum Christi, crux aecclesiae Dei, crux omnium credentium in sanctam et perfectam trinitatem. Amen. Siehe allgemein zum Kreuz als Symbol Celia Martin Chazelle, The Crucified God in the Carolingian Era. Theology and Art of Christ’s Passion, Cambridge 2001. Die Gebete über dem Kreuz sind PRG XL, 96–105, 157–160. Besonders deutlich wird der Gedanke in Gebet 99, ebd., XL, 99, 157–158.

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Die Gebete zur Heiligung von kultischen Gegenständen beziehen sich auch auf die Reliquienkästchen (Gebete 111–116)69. Schon aus der Einfügung dieser Weihegebete lässt sich ablesen, dass die Reliquien im Deutungsschema von Materialität und Sakralität eine Sonderstellung einnehmen. Im Gegensatz zu den Materialien, die im Exorzismus Verwendung finden, und den liturgischen Gegenständen werden sie als aus sich heraus heilig angesehen; die Sakralität ist ihnen bereits eingeschrieben, sie müssen nicht mehr geheiligt werden. In der Logik der Liturgie wird ihnen damit ein sakraler Eigenwert zugeschrieben, weshalb für sie geheiligte Aufbewahrungsorte zu schaffen sind. Diese Vorstellungen spiegeln sich auch im Umgang mit den Reliquien im Kirchweihritus wider. So ist die Deposition der Reliquien im Kirchweihritus nicht das zentrale Heiligungsmoment, denn sie findet am Ende der Feier statt (Gebete 123–127; 132–134)70. In der Weihezeremonie selbst spielen die Reliquien keine Rolle, vielmehr befinden sie sich während des Weihevorgangs sogar in einem Zelt außerhalb der Kirche. Somit sind es nicht die Reliquien, die durch ihre Wirkkraft einen besonderen Raum schaffen, vielmehr sind es die Kirchweihe und in besonderer Weise die Weihe des Altars wie der Reliquienkästchen, die durch ihren Vollzug angemessene Räume für die Reliquien schaffen. Die Reliquien sind nur als nachgeordnet sakralisierend gedacht. Generell rückt die Liturgie gedanklich die spirituelle Facette des Heiligen in das Zentrum, implizit reflektieren die Gebete allerdings die Materialität der Reliquien, da sie begrifflich als Teil des Körpers der Heiligen, als Überreste oder Unterpfänder gefasst werden71. In den Gebeten, die sich sowohl auf die Reliquienbehälter, als auch auf die Reliquien beziehen, entfaltet sich kein elaborierter Machtdiskurs wie in den Exorzismen, vielmehr wird abermals ganz allgemein von der Allmacht Gottes und seiner unbesiegbaren Macht/Gewalt gesprochen72. Obwohl die Gebete sich auf die Heiligen und ihre Reliquien beziehen, stehen diese gedanklich nur bedingt im Mittelpunkt der Gebetstexte, wiederum ist es Gott, der häufig direkt angesprochen wird. Er tritt als derjenige hervor, der die Heiligen erhoben hat und durch den die Heiligen durch ihre interzessorische Kraft wirken. Daneben tritt der Heilige ins Zentrum des Kultes, da er als Interzessor fungiert73. So spiegelt sich in den Gebe69 70 71

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Ebd., XL, 111–116, 163–165. Ebd., XL, 123–127, 164–169; ebd., 132–134, 170. Ebd., XL, 112, 163–164, 163: (…) ut haec vascula sanctorum tuorum pigneribus praeparata, (…); ebd., XL, 113, 164: (…) ut haec vascula sanctorum tuorum receptaculo praeparata ita gratuita gratia sanctifices, (…); 114, 165: (…) ut in hanc capsam, capiendis sanctorum tuorum membris vel exuviis, vel pigneribus (…). In Gebet 113 ist die Zeitlichkeit und Verortbarkeit und damit im weitesten Sinne auch die Materialität der Reliquien mitgedacht, siehe ebd., XL, 113, 164: (…) quatenus fideles tui, magnitudine sive numerositate beneficiorum tuorum, in parte modica reliquiarum integra sanctorum corpora se precepisse gratulentur et per temporalia loca ipsorum precibus impensa ad aeterna cum eis gaudia possidenda fiducialius animentur. Per. Ebd., XL, 112, 163: (…) omnipotens Deus (…) invictae potentiae tuae (…); 113, 164: Domine Deus omnipotens (…). Ebd., XL, 112, 163–164, 163: (…) ut haec vascula sanctorum tuorum pigneribus praeparata, eisdem sanctis tuis intercedentibus, caelesti benedictione perfundere digneris, quatinus qui eorum patrocinia requirunt, ipsis intervenientibus, cuncta sibi adversantia, te adiuvante, superare et omnia commode profutura habundantia largitatis tuae mereantur invenire. (…); 113, 164:

Macht, Materialität und Sakralität

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ten in einer großen sprachlichen Varianz immer wieder die Vorstellung, dass der Heilige Gott dazu bewegt, die Gebete und Opfer der Gläubigen anzunehmen. Daneben wird Gott darum gebeten, den Teufel und jedweden Schaden von jenen abzuwenden, welche die Reliquien verehren74. In diesem Wirken spiegelt sich dann auch seine Macht. Der Denkzusammenhang aus dem die Sakralität der Heiligen hervorgeht, findet in den Gebeten keinen Niederschlag, jedoch werden die Heiligen explizit als solche gekennzeichnet, da sie als Heilige Gottes bezeichnet werden75. Damit erscheint der Heilige in der Beziehung zwischen Gott und Mensch zwischengeschaltet als Vermittler der göttlichen Gnade an die bittende Menschheit. Die Wundertätigkeit der Heiligen, die in Viten, Mirakel- und Translationsberichten häufig im Zentrum der Heiligenverehrung und der Heiligkeitsvorstellungen steht76, spielt hingegen kaum eine Rolle. In der Liturgie steht so die Abhängigkeit der spirituellen Kraft des Heiligen von Gott im Mittelpunkt der Ideen. Gott ist das Zentrum, um das sich alles dreht. Eine selbständige Handlungsfähigkeit der Heiligen wird dabei höchstens untergeordnet mitgedacht, es sind alleine die Gebete der Heiligen, durch die Gott dazu bewegt wird, alles Schädliche auszutreiben und das Gnadenvolle (propitius) zu fördern77. Die Liturgie entwirft so ein Programm, das nahezu ohne Wunder auskommt und in dem nicht der Heilige Macht hat und zur Sakralität beiträgt, sondern Macht und Sakralität von Gott ausgehen. Durch die Teilhabe an Gottes Macht, bekommt der Heilige die Funktion des Mittelmannes zwischen Menschen und Gott zugeschrieben. Durch die starke Betonung der Interzessionsfähigkeit der Heiligen rückt auch die Vorbildfunktion des Heiligen, die sonst häufig im Mittelpunkt der Heiligenverehrung mitgedacht wird78, in den Hinter-

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(…) ut haec vascula sanctorum tuorum receptaculo praeparata ita gratuita gratia sanctifices, ut ubicumque in tuo nomine perlata fuerint, intercedentibus habitatorum eorum meritis, cuncta adversa repelleas et nullifices (…). Ebd., XL, 112, 163–164, 164: (…) ita ipsorum merita venerantibus et reliquias humiliter amplectentibus contra diabolum et angelos eius (…). Ebd., XL, 112, 163–164, 164 (…) sanctorum tuorum (…); ebenso in: 113, 164. Martin Heinzelmann / Klaus Herbers: Zur Einführung, in: Mirakel im Mittelalter, hg. v. Martin Heinzelmann / Klaus Herbers / Dieter R. Bauer, Stuttgart 2002, 9–21; Arnold Angenendt, Das Wunder – religionsgeschichtlich und christlich, ebd., 95–114; Gabriela Signori, Die Wunderheilung. Vom heiligen Ort zur Imagination, in: Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert, hg. v. Alexander C. T. Geppert / Till Kössler, Berlin 2011, 71–94. PRG XL, 112, 163–164: (…) Et, sicut ille, domine, te inspirante spiritualium nequitariarum versutias cavere et humanitus exquisita tormenta non solum contemnere, sed etiam penitus evincere, Christo domino confortante, potuerunt, ita ipsorum merita venerantibus et reliquias humiliter amplectentibus contra diabolum et angelos eius, contra fulmina et tempestate, contra grandines et varias pestes, contra corruptum aerem et mortes hominum vel animalium, contra fures et latrones sive gentilium incursiones, contra malas bestias et serpentium atque reptantium diversissimas formas, contra malorum hominum adinventiones pessimas, eorumdem sanctorum tuorum precibus complacatus, dexteram invictae potentiae tuae ad depulsionem nocuorum et defensionem proficuorum semper et ubique propitius extende. Per eundem. In unitate eiusdem. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Hamburg 22007, 143 f.

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Miriam Czock

grund. Wie im Exorzismus ist es hier der Gnadendiskurs, in den die Beziehung zwischen Gott und Mensch eingebettet wird, während im Exorzismus allerdings die geweihten Materialien die Gnade Gottes verbreiten sollen, ist es nun die Interzession des Heiligen, durch die sich Gottes Gnade in der Welt verbreitet. In den Gebeten der Kirchweihe entspinnt sich ein komplexes und nicht immer zu entwirrendes Netz von Vorstellungen in denen göttliche Macht, Heiligkeit und Materialität aufeinander bezogen gedacht werden. Im Denkhorizont der Liturgie wird ein Spektrum von Ideen der Macht Gottes entwickelt, das von der Allmacht Gottes über seine Gewalt zu seiner Wirkmacht reicht. In der Denkmatrix der Liturgie steht die Macht Gottes dabei hinter dem göttlichen Wirken in der Welt und damit der Sakralisierung der Objekte, jedoch wird die Materialisierung der Sakralität nicht in einen eindimensionalen Machtdiskurs eingebunden, vielmehr ergeben sich konzeptuelle Unterschiede je nach Verwendungskontext der Materialien. Die Mechanismen der Sinnzuschreibungen liegen letztlich darin begründet, dass sich Gottes Macht dialektisch mit der Gnade verbindet, aus welcher heraus er in die Welt tritt, um dort zum Heil der Menschen zu wirken. In der liturgischen Logik der Kirchweihe artikuliert der Machtdiskurs damit zwei Facetten des gedanklichen Verhältnis von Immanenz und Transzendenz und damit auch der Sakralitätsvorstellungen: Während die im Exorzismus verwendeten Materialien und die Reliquien in erster Linie gedanklich in einen Gnadendiskurs integriert werden, entfaltet sich die Gedankenfigur in den die liturgischen Geräte eingefügt sind, eher von der Erlösung her. Sollen die im Exorzismus verwendeten Materialien und die Reliquien, bzw. die Heiligen, die durch die Reliquien repräsentiert werden, Gottes Heil in der Welt verbreiten, so haben die liturgischen Geräte ihren Sinn im Kult. Ist der Machtdiskurs im Exorzismus prominent, da sich Heiligkeit in ihm aus der Vertreibung des Teufels ergibt, konkretisieren sich die Prinzipien von göttlicher Macht und Sakralität in Bezug auf die liturgischen Gegenstände weniger im Rahmen eines Machtkampfes zwischen Gott und Teufel, als vielmehr in der Fähigkeit Gottes heiligend zu wirken. In Bezug auf die Reliquien läßt sich die Relation von Sakralität und Gottes Macht nur in dem Sinne erfassen, dass die Heiligen als Interzessoren fungieren und so seine Gnade und damit auch Macht den Menschen zugänglich machen. Letztlich ist es also die Funktionalität der Objekte, die das gedankliche Zusammenspiel von göttlicher Macht, Sakralität und Materialität bestimmt. Damit zeigt sich, dass die Vorstellung von einem Denkhorizont des Zusammenhangs von göttlicher Macht und Sakralität, in den alle Materialität in gleicher Weise eingebettet wird, die differenzierten Möglichkeiten frühmittelalterlicher theologischer Reflexion nicht abbilden. Die Betrachtung des Zusammenhangs von göttlicher Macht, Materialität und Sakralität konnte so zeigen, dass sich selbst in der Liturgie göttliche Macht und Sakralität je nachdem, in welchem funktionalen Rahmen sie gedacht wurde, ausdifferenzierte.

DAS HEILIGE UND DIE MACHT. DIE MACHT DES HEILIGEN Zusammenfassung Andreas Nehring In diesem Band werden in den einzelnen Beiträgen große Räume durchschritten von Spanien bis Japan, aber auch große Zeiträume vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart, und aus dieser vielfältigen Perspektivierung stellt sich in vielen der Beiträge die Frage, ob die von Max Weber konstatierte Entzauberung des Heiligen in der Moderne eigentlich noch eine angemessene Beschreibung der zu beobachtenden Entwicklungen sei und wenn ja, was man darunter dann eigentlich zu verstehen habe. Mit anderen Worten, welchen Zugang zum Heiligen können wir in einer Zeit, in der die Welt entzaubert erscheint überhaupt noch haben, in der aber Religion, folgt man dem Beitrag von Hans Joas, keineswegs verschwunden ist. Das Thema „das Heilige und die Macht“ ist auf radikale Weise vor einigen Jahren auf einer Weise dem Bewußtsein der Weltöffentlichkeit aufgezwungen worden, und erschüttert die Welt seit dieser Weise in immer neuen Varianten. Dass die Taliban, als sie 2001 die Buddhastatuen von Bamiyan zerstörten, wirklich glaubten sie zerstören Götzenstatuen, und dass sie für die kulturellen Werte im religiösen Pluralismus nicht viel übrig hatten, das lässt sich mit den Begriffskategorien moderner Wissenschaft kaum ausdrücken, geschweige denn vermitteln. Sehr wohl hatte der dafür verantwortliche Mullah Omar aber gewusst, dass nur durch mediale Verbreitung seiner Anordnung zur Zerstörung durch Radio und Fernsehen der radikale religiöse Anspruch weltweit gehört wird. Die Macht des Heiligen und Entsakralisierung als Machterweis, sind wie Heidrun Stein-Kecks in ihrer Einleitung zur Sektion ‚Heilige Dinge‘ hingewiesen hat, zwei Aspekte, die zusammen gedacht werden müssen. Mit Max Weber kann man vermuten, dass der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein pflegt, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewusstseinsinhalte für die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist.1

Max Weber schreibt das im letzten Absatz seiner Schrift „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ und fordert eine Kultur- und Geschichtsdeutung, die sowohl materialistisch als auch spiritualistisch vorgeht, wobei er seine eigene Untersuchung als Vorarbeit dafür ansieht. Und bei Vorarbeiten ist es, soweit ich sehe, bisher in weiten Bereichen der Forschung auch geblieben. Die Beiträge der Forschergrupe zu Sakralität und Sakrali1

Max Weber, Die Protestantische Ethik, hg. v. Johannes Winckelmann, München/Hamburg 1965, 190.

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Andreas Nehring

sierung im Mittelalter und der frühen Neuzeit, die hier versammelt sind, hat für sich beansprucht, hier über Weber hinauszugehen und ist diesen Zusammenhang von spirituell und materialistisch in mehrern Tagungen nachgegangen. Allerdings kann man, wenn man die Mehrzahl der religionswissenschaftlichen Publikationen in den Blick nimmt, dass Forschungen, die sich mit Religion, dem Heiligen oder Sakralisierungen beschäftigen, bis heute von einer Zurückweisung des Spirituellen geprägt sind und gar nicht mehr den Anspruch erheben, etwas von der Macht des Heiligen zum Gegenstand historischer, ethnographischer oder religionswissenschaftlicher Forschung zu machen. Ja man könnte meinen, Walter Benjamins Metapher aus der ersten These von Über den Begriff der Geschichte in der er von einem Automaten schreibt, in dem eine Puppe und ein Zwerg miteinander Schach spielen, habe sich inzwischen bewahrheitet: Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.2

Nicht nur dass Drachenkönige in Shanghai inzwischen in Staßenläden verschwunden sind und eine Entsakralisierung von Tempeln sich im Zuge von Industrialisierung und Kapitalismus schleichend vollzogen hat, auch die religionsbezogene Wissenschaft hat die Tendenz, der Puppe zu folgen. Die Forschergruppe zu Sakralität und Sakralisierung hat für sich beansprucht, etwas zur Kulturdeutung auch mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Phänomene beizutragen und das auch noch kulturübergreifend. Dabei ist auch deutlich geworden, dass sich die Perpektive notgedrungen, weil man eben von heute interdisziplinär und interkulturell auf diese Phänomene und Sakralisierungsprozesse blicken wollte, in dieser Spannung von materialistisch und spiritualistisch bewegt und dass man Beschreibungskategorien finden mußte, die nicht eine Seite dominieren oder daran arbeiten das Heilige erneut zu essentialisieren. Hans Joas macht in seinem einführenden Beitrag deutlich, dass die Weber’sche Entzauberung der Welt ganz offenkundig nicht so stattgefunden hat, wie wir im allgemeinen annehmen. Im Gegenteil, wir erleben so etwas wie eine Wiederverzauberung der Welt. Die Sehnsucht nach dem Irrationalen ist groß und mehrheitsfähig. Der Säkularismus scheint zu implodieren. Dabei war uns immer wieder prophezeit worden, dass im Zeitalter von Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft der „irrationale“ Glaube zurückgehen werde. Es gibt keine Definition von Moderne, die überall auf der Welt akzeptiert wird. Weder gibt es Einigkeit darüber, wann die moderne Welt ihren Anfang genommen hat bzw. wann Modernität begonnen hat, noch gibt es Einigkeit darüber, ob Moderne und Modernität als ein genuin europäisches Phänomen einzuschätzen ist, oder eines das weltweit zu beobachten ist. Darüber hinaus gibt es intensive Debatten darüber, welchen Einfluss Europa auf die Modernisierungsprozesse in der Welt

2

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schwepphäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a. M. 1974, 691.

Das Heilige und die Macht. Die Macht des Heiligen

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hatte. Um die Moderne als Periode zu kennzeichnen, muss man auf jeden Fall klären, was eigentlich als modern gilt. Einer der wichtigsten Gründe, warum es keine klare Definition und keine klare Abgrenzung geben kann, ist die Rolle von Religion nicht nur in der modernen Welt sondern auch in früheren historischen Prozessen. Ein Blick nach Asien zeigt, dass eine globale Perspektive auf Sakralisierungsprozesse und Entsakralisierungsprozesse den Blick weitet von einer Reduktion des Begriffes „Moderne“ auf europäisch-westliche Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozesse zu ganz anderen Modernitäten, die in nicht-westlichen Kulturen auf eine ganz andere Weise stattgefunden haben als bei uns. Andreas Berndts Untersuchungen zu Flußgottheiten in einem Stadtteil von Shanghai geben davon Auskunft. Aber deutlich wird hier auch, dass wir von ganz anderen Formen und Stufen des Heiligen sprechen müssen, wie an dem Beitrag von Adam Yuet Chau zu volksreligiösen Praktiken in China deutlich wird, der zeigt, wie Stufen des Transzendenten im Profanen bzw. Alltäglichen Bedeutung erlangen. Das westliche Modell von Moderne und die Erfahrung von Modernisierungsprozessen bei uns können jedenfalls nicht als Definitionsmodell für die Entwicklung in anderen Kulturen und anderen Zeiträumen einfach übernommen werden. Wie, so muss man zunächst fragen, kann man eigentlich das Verhältnis von Religion und kulturellem Wandel erforschen und darstellen? Wie funktionieren Sakralisierungsprozesse und welche Machtmechanismen spielen dabei eine Rolle? Clifford Geertz unterscheidet zwei Ebenen, auf denen man diese Fragen diskutieren sollte: zum einen die kulturelle Ebene und zum anderen die sozial-strukturelle Ebene. Auf der einen Ebene liegt das Gefüge der Vorstellungen der Symbole und Werte, mit deren Hilfe die Menschen ihre Welt definieren, ihre Gefühle ausdrücken und ihre Urteile fällen. Auf der anderen Ebene findet der permanente Prozess der Interaktion statt, dessen fassbare Form wir soziale Struktur nennen. Kultur ist nach Geertz das Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten. Die soziale Struktur ist die Form, in der sich das Handeln manifestiert, das tatsächlich existierende Netz der sozialen Beziehungen.3

Was Clifford Geertz mit dieser Unterscheidung erreichen will ist, dass er so eine komplexere Auffassung der Beziehung zwischen religiösen Vorstellungen und säkularem sozialen Leben beschreiben kann. Die Frage, die im Hintergrund steht ist: Welche Rolle spielt Religion in einer Gesellschaft? Welche Rolle spielt der Umgang mit dem Heiligen, welche Rolle spielen Sakralisierungsprozesse im Wandel einer Gesellschaft? Bei der Frage nach dem Heiligen und der Macht ist auch zu fragen, inwieweit Religion nur System erhaltend oder auch System verändernd wirkt? Spielt sie dauernd eine Rolle oder nur in bestimmten Situationen? Sind und waren Menschen immer fromm oder handeln sie auch rational ohne religiöse Dimensionen einzubezie3

Clifford Geertz, Ritual und sozialer Wandel. Ein javanisches Beispiel, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983, 99.

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Andreas Nehring

hen? Die Frage nach der Ambivalenz des Heiligen ist immer auch einer Frage nach dem Verhältnis von heilig und profan, auch wenn man, wie Adam Yuet Chau gezeigt hat, das im chinesischen Kontext gar nicht so unterscheiden kann. Auch Andreas Berndt hat in seinem Beitrag auf ähnlliche Interpretationsdifferenzen hingewiesen. Wenn man Modernisierungsprozesse beschreiben will, dann muss man sich wie in dem Beitrag von Hans Joas aufgezeigt wird, davor hüten, ein einliniges Verhältnis von Rationalisierung und Säkularisierung anzunehmen, und das heißt, von einem zunehmenden Bedeutungsverlust der Religionen in modernen Kulturen auszugehen. Vielmehr wird es darum gehen, auch die Veränderung religiösen Bewusstseins zu erfassen und deren Einfluss auf soziale Strukturen. Da das Projekt der Forschergruppe aber die Formationen und Konzeptualisierungen des Heiligen bzw. des Sakralen untersucht, werden Fragen nach der dynamis des Heiligen zentral, womit Vermögen, Fähigkeit, Kraft also wesentlich positive Aspekte von Macht ebenso verbunden sind wie Fragen nach Macht als (Gewalt) potestas, auctoritas, so die Unterscheidung die Miriam Czock in ihrem Beitrag zu dem „Zusammenhang von Heiligen Dingen und Macht in der Karolingerzeit“ eingeführt hat, wobei der Akzent auf das Aneignen von Macht mittels sakraler Performanz oder Gestaltung von Orten gelegt ist. Auch der Beitrag von Daniel Schley kann diese Ambivalenz am Beispiel der Sakralisierung von Herrschaft im japanischen Mittelalter verdeutlichen. Ein weiterers eindrückliches Beispiel, ist die Rolle des Zwang-Ausübenden und des Unterwerfenden in der Frage nach gerechtem oder heiligem Krieg, wie der Beitrag von Alexander Bronisch ausführt. Bei den vielfältigen Beobachtungen ganz verschiedener Aspekte von Heiligem und Sakralisierungen sowohl von Orten, als auch von Personen und Dingen wurden die zentralen Parameter in den Beiträgen dieses Bandes herausgearbeitet. Dabei kam es durchgehend nicht darauf an zu zeigen, was genau das Heilige ist, sondern wie es funktioniert, genauer: wirkt. Das zentrale Ergebnis der bisherigen Untersuchungen der diskursiven Verortung des Heiligen ist: Über das Heilige muss vor allem gesprochen werden in den Kategorien von Emotion, Intimität, Betroffenheit der Affekte. Adam Yuet Chau hat in seinem Beitrag von der religiösen Atmosphäre gesprochen und dabei deutlich gemacht, dass diese nicht universal gesehen werden und einfach von einem Kontext in einen anderen übertragen werden kann. Aber auch Begriffe wie Erhabenheit, sacer, Ehrfurcht und Erbauung sind zentrale Konzepte die in diesem Band diskutiert werden. Dabei stellen sich immer wieder neu Fragen nach dem Verhältnis von Aneignung des Heiligen und Ergriffenheit von Subjekten duch das Heilige. Welche Rolle spielen religiöse Mittler dabei? Unabhängig davon, wie das theologisch im einzelnen verstanden wird, bzw. augelegt werden kann: entscheidend ist stets eine ‚materielle Matrix, die als Medium fungiert – von den Wurzeln der Sprache bis zu Bildern, Architekturen und anderen Symbolisierungs- und Zeichensystemen –, und die auf die Darstellung des Undarstellbaren verweist. Miriam Czock und Roger Thiel haben mehrfach darauf hingewiesen. In der Ethnologie, der Soziologie und der Religionswissenschaft vom 19.– 21. Jahrhundert werden – und Miriam Czock erinnert in ihrem Beitrag an Gerardus van der Leeuw – Heiliges und Erhabenes mit Macht oder gar mit Gewalt identifi-

Das Heilige und die Macht. Die Macht des Heiligen

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ziert und weiter spezifiziert. Nun erscheint das Heilige als Erschütterungsdatum und als solches als Ursprung von Religion und Gesellschaft. Das Heilige muss als eine Qualität oder Kategorie der Wahrnehmung gesehen werden. Damit stellt sich für die historische Forschung, die sich auch als hermeneutisch ausgerichtete Forschung versteht, die Frage des Sinnes als grundlegend. Sollte man dabei überhaupt theologische oder philosophische Ansichten gelten lassen oder sollte man rein empirisch, faktisch objektivierend vorgehen? Ist eine rein empirische und historische Erforschung des Sinnes des sakralen oder eines sakralen Phänomens überhaupt möglich? Unter welchen Bedingungen wäre sie möglich? Jacques Waardenburg hat für die Religionswissenschaft vorgeschlagen, zwischen Sinn und Bedeutung zu unterscheiden4, und er argumentiert, dass wenn Bedeutung zu verstehen sei als Deutung, Interpretation oder Anwendung seitens einer Person oder einer Gruppe nur diese Gegenstand der religionswissenschaftlichen Forschung sein könne. Waardenburg argumentiert, dass während Sinn als objektgebunden aufzufassen sei, also z. B. das Sinnangebot einer Religion sei Bedeutung als subjektgebunden zu verstehen. Bedeutung einer Gegebenheit setzt ihre Relevanz für die betreffende Person oder Gruppe voraus, oder mit anderen Worten, Bedeutung hat immer auch mit Macht zu tun. Die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung, wie Waardenburg sie in seinem Aufsatz entfaltet, ermöglicht es, subjektive religiöse Bedeutungen zu verstehen und so Sakralisierungsprozesse soweit wie möglich zu erklären, als die Verarbeitung eines gegebenen Problems oder einer gegebenen Situation. Allerdings scheint es mir in Bezug auf das Verhältnis von dem Heiligen und Macht ebenso sinnvoll, daneben auch von Diskursfeldern zu sprechen, anstatt Religionen in erster Linie als kulturelle Symbolsysteme zu sehen, die Sakralisierungen und den Umgang mit Heiligem in den verschiedenen Gesellschaften zu erklären, wie es z. B. von Clifford Geertz geschehen ist. Die Welt ist nach Geertz immer schon eine gedeutete Welt, wobei die jeweiligen Weltdeutungen von Gesellschaften vor allem in ihren kulturellen Darstellungsformen und symbolischen Handlungen sichtbar werden. Die Kirchenbauten zeugen davon ebenso, wie Liturgien oder die Verehrung von Heiligen oder die Sakralisierung von Personen, vom Lebenderlösten bis zu Maradonna, dem Heiligen vom Versuv. Die symbolischen Ausdrucksformen einer Gesellschaft, d. h. die kulturellen Performanzen, sind, so sieht es Geertz, öffentliche Selbstauslegungen einer Kultur, insofern als Bedeutungen inszeniert werden. Werden die komplexen Verhältnisse von Heiligem und Macht dagegen als Diskursfelder gesehen, auf denen sich Akteure jeweils und in verschiedenen Kontexten unterschiedlich bewegen und positionieren und die immer wieder neu ausgehandelt werden, dann können nicht nur kulturelle Differenzen genauer wahrgenommen werden, dann wird auch wissenschaftliche Repräsentation zu einer diskreten Angelegenheit, weil sie gar nicht den Anspruch erhebt und auch nicht erheben kann, irgendein Wesen des Heiligen jenseits kultureller Performanzen zu erfassen. 4

Jacques Waardenburg, Religionsphänomenologie 2000, in: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie, hg. v. Axel Michaels u. a., Bern/Berlin 2001, 441–470.

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Ahlborn, Matthias H. Matthias H. Ahlborn studierte Indologie und Religionswissenschaft, sowie Geschichte, Philosophie und Ethnologie u. a. an den Universitäten Heidelberg und Tübingen sowie in Bangalore, Indien. Er ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Indologie an der Universität Würzburg sowie Mitarbeiter des Teilprojektes „Modelle der Konstruktion von Sakralität im Zuge der hinduistischen Restauration im südindischen Großreich von Vijayanagara (14.–16. Jh.)“ der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“. Berndt, Andreas Andreas Berndt promovierte an der Universität Leipzig, ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde in Hamburg und des Centers for the Study of Religion in Leipzig. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Teilprojekt „Sakralisierung einer Gottheit im Spannungsfeld von Volksreligion und offiziellem Kult. Das Beispiel Jinlong Si Dawang“ der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“, am Lehrstuhl für Sinologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Bronisch, Alexander Pierre Alexander Bronisch studierte Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Konstanz, Regensburg und Madrid, war Stipendiat der Konrad-AdenauerStiftung und promovierte an der Universität Konstanz. Er ist als Historiker und Verleger aktiv. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Iberischen Halbinsel vom 6. bis zum 13. Jahrhundert. Chau, Adam Yuet Adam Yuet Chau studierte und promovierte an der Stanford University in den USA und lehrte u. a. an der University of Oxford und der University of London. Er ist Dozent für Anthropologie des modernen Chinas an der University of Cambridge sowie Fellow und Studienleiter am St. John’s College. Seine Forschung konzentriert sich auf die kulturellen und sozialen Wandlungen des modernen Chinas. Dabei gilt sein besonderes Interesse den sozialen Perspektiven der Religionen in China.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Czock, Miriam Miriam Czock studierte Philosophie, Geschichte, Germanistik und Anglistik an der Universität Bochum sowie am Trinity College in Dublin. Nach ihrer Promotion in Mittelalterlicher Geschichte an der Universität Bochum war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Tübingen. Sie ist Akademische Rätin für Mittelalterliche Geschichte der Universität Duisburg-Essen, sowie Leiterin des DFGProjekts „ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter“ und Mitarbeiterin am DFG-Projekt 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“. Düchting, Larissa Larissa Düchting studierte Mittelalterliche Geschichte, Klassische Archäologie und Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Anschließend war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Teilprojekt „Heilige an den Grenzen der lateinischen Christenheit“ der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit“ tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Italiens im Mittelalter, Hagiographie sowie die Geschichte der Kreuzzüge. Herbers, Klaus Klaus Herbers ist Lehrstuhlinhaber für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg und einer der führenden Experten für die Geschichte Spaniens und des Papsttums im Mittelalter, sowie auf dem Feld der Erforschung mittelalterlicher Hagiographie, insbesondere des Jakobskultes. Er ist korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz und Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica. Darüber hinaus ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft. Er ist Sprecher der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ und Leiter des Teilprojektes „Heilige an den Grenzen Lateineuropas“. Nehring, Andreas Andreas Nehring ist Lehrstuhlinhaber für Religions- und Missionswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Fellow am Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung: „Schicksal, Freiheit und Prognose“ der FAU. Er ist Mitglied der EKD-Kammer für Weltweite Ökumene und Mitglied des Vorstands der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Darüber hinaus ist er in der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ als Mitarbeiter tätig.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Niers, Mariëlla Mariëlla Niers ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg und Mitarbeiterin der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“. Schley, Daniel F. Daniel F. Schley ist Juniorprofessor für Japanologie am Institut für Orient- und Asienwissenschaften an der Universität Bonn. Zudem war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Japan-Zentrum LMU-München und als Gastforscher am Historiographischen Institut der Tokyo Universität tätig. Er ist Mitarbeiter am DFG-Forschungsprojekt 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“. Steiner, Karin Karin Steiner ist Professorin für Indologie an der Universität Würzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der Geistes- und Kulturgeschichte Indiens, des Theravāda-Buddhismus sowie der Geschichte, Gesellschaft und Kultur des modernen Indiens. Sie ist Leiterin des Teilprojekts „Modelle der Konstruktion von Sakralität im Zuge der hinduistischen Restauration im südindischen Großreich von Vijyanagara (14.–16. Jh.)“ der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“. Thiel, Roger Roger Thiel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religions- und Missionswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Mitarbeiter am Projekt „Von der Sakralität des Ursprungs zum Ursprung des Sakralen – Max Müllers Rekonstruktion der Religion aus den Partikeln der Sprache“ im DFG-Forschungsprojekt 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“.

b e i t r äg e z u r h ag i o g r a p h i e

Herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1439–6491

Dieter R. Bauer / Klaus Herbers (Hg.) Hagiographie im Kontext Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung 2000. XXVIII, 288 S. mit 2 Abb. und 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-07399-8 Anke Krüger Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert 2001. 398 S., geb. ISBN 978-3-515-07789-7 Martin Heinzelmann / Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hg.) Mirakel im Mittelalter Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen 2002. 492 S., kt. ISBN 978-3-515-08061-3 Charles Mériaux Gallia irradiata Saints et sanctuaires dans le nord de la Gaule du haut Moyen Âge 2006. 428 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08353-9 Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriele Signori (Hg.) Patriotische Heilige Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne 2007. 405 S., kt. ISBN 978-3-515-08904-3 Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks (Hg.) Sakralität zwischen Antike und Neuzeit 2007. 294 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08903-6 Uta Kleine Gesta, Fama, Scripta Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis 2007. XVI, 481 S. mit 6 Abb. und 6 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08468-0

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Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Hedwig Röckelein / Felicitas Schmieder (Hg.) Heilige – Liturgie – Raum 2010. 293 S. mit 35 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09604-1 9. Christofer Zwanzig Gründungsmythen fränkischer Klöster im Früh- und Hochmittelalter 2010. 539 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09731-4 10. Sofia Meyer Der heilige Vinzenz von Zaragoza Studien zur Präsenz eines Märtyrers zwischen Spätantike und Hochmittelalter 2012. 383 S., kt. ISBN 978-3-515-09068-1 11. Waltraud Pulz (Hg.) Zwischen Himmel und Erde Körperliche Zeichen der Heiligkeit 2012. 227 S. mit 28 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10283-4 12. Daniel Nuß Die hagiographischen Werke Hildeberts von Lavardin, Baudris von Bourgueil und Marbods von Rennes Heiligkeit im Zeichen der Kirchenreform und der Réécriture 2013. 257 S., kt. ISBN 978-3-515-10338-1 13. Andrea Beck / Andreas Berndt (Hg.) Sakralität und Sakralisierung Perspektiven des Heiligen 2013. 210 S. mit 2 Abb. und 20 Farbtaf., kt. ISBN 978-3-515-10624-5 14. Gordon Blennemann / Klaus Herbers (Hg.) Vom Blutzeugen zum Glaubenszeugen? Formen und Vorstellungen des christlichen Martyriums im Wandel 2014. 319 S. mit 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10715-0

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Klaus Herbers / Hans-Christian Lehner (Hg.) Unterwegs im Namen der Religion / On the Road in the Name of Religion Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen / Pilgrimage as a Means of Coping with Contingency and Fixing the Future in the World’s Major Religions 2014. 152 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10777-8 Klaus Herbers / Larissa Düchting (Hg.) Sakralität und Devianz Konstruktionen – Normen – Praxis 2015. 314 S. mit 23 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10921-5 Klaus Herbers / Hans-Christian Lehner (Hg.) Unterwegs im Namen der Religion II / On the Road in the Name of Religion II Wege und Ziele in vergleichender Perspektive – das mittelalterliche Europa und Asien / Ways and Destinations in Comparative Perspective – Medieval Europe and Asia 2016. 306 S. mit 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11464-6

18. Larissa Düchting Heiligenverehrung in Süditalien Studien zum Kult in der Zeit des 8. bis beginnenden 11. Jahrhunderts 2016. 321 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11506-3 19. Dieter von der Nahmer Bibelbenutzung in Heiligenviten des Frühen Mittelalters 2016. 351 S., kt. ISBN 978-3-515-11518-6 20. Andrea Beck / Klaus Herbers / Andreas Nehring (Hg.) Heilige und geheiligte Dinge Formen und Funktionen 2017. 276 S. mit 58 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11549-0 21. Andreas Bihrer / Fiona Fritz (Hg.) Heiligkeiten Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter 2019. 241 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12134-7

In welcher Verbindung stehen Heiligkeit und Macht? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehen dieser Frage anhand von drei Manifestationspunkten von Sakra­ lität nach: Orten, Personen und Dingen. Im Fokus steht das Zusammenspiel von Sakralität und Macht, deren Strukturen, Funktionen, Wirkungen, Repräsentationen und Ausdrucksweisen aus der Perspektive unterschiedlicher Kulturen und historischer Epochen. Entsprechend weit reicht das in­ haltliche Spektrum der Beiträge, die unter anderem die Papstliturgie der Renaissance,

die Performanz von Sakralität und Macht in einer südindischen Tradition oder auch sa­ krale Objekte und die Beziehung zwischen Gott und Mensch im frühmittelalterlichen Kirchweihritus thematisieren. Grundlage des Bandes ist ein interdisziplinärer An­ satz, der Wissenschaftlerinnen und Wissen­ schaftler aus den Geschichtswissenschaf­ ten, der Sozialphilosophie und Soziologie, Japanologie, Indologie, Sinologie, Ethnolo­ gie, Religionswissenschaft und Komparatis­ tik zusammenbringt.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12161-3

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