Erzählte Macht und die Macht des Erzählens: Genealogie, Herrschaft und Dichtung in Ariosts "Orlando furioso" 3515098127, 9783515098120

Der Orlando furioso ist eine der glanzvollsten Dichtungen der Renaissance und zugleich ein Schlüsselwerk europäischer Er

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German Pages 229 [234] Year 2019

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Table of contents :
DANKSAGUNG
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
1 MÜNDLICHKEIT, SCHRIFTLICHKEIT, PARADOXE EVIDENZEN
1.1 DER HEISERE SÄNGER UND SEIN ‚TINTENWERK‘. EINE DICHTUNG ZWISCHEN MÜNDLICHEM VORTRAG UND SCHRIFTLICHER TEXTPRODUKTION
1.2 ERZÄHLEN „CON PENNA E CON INCHIOSTRO“ UND DIE PRÄSENZ DER GESCHICHTE
2 DIE MONDREISE DES PALADINS ASTOLFO UND DES APOSTELS JOHANNES
2.1 DER SCHIFFBRÜCHIGE STAMMVATER UND SEINE ERRETTUNG IM UND DURCH DEN NARRATIVEN DISKURS
2.2 PARADOXIA EVANGELICA. POETISCHE LÜGEN ALS GNADENERWEIS
2.3 DIE JENSEITSREISE ALS METAPOETISCHES NARRATIV
3 SYSTEMREFERENZEN, METAPOETISCHE KOMMENTARE UND NARRATIVE PRAXIS
3.1 ERZÄHLERISCHES KNOWING HOW UND POETOLOGISCHES KNOWING THAT
3.2 FADEN UND GEWEBE – GESCHICHTE UND WAHRHEIT: SPIELRÄUME DES METAPOETISCHEN DISKURSES IM FURIOSO
3.3 EXKURS ZUR DISKREPANZ ZEITGENÖSSISCHER UND ‚MODERNER‘ INTERPRETATIONEN DES FURIOSO, ODER: IST DER ORLANDO FURIOSO KLÜGER ALS SEIN AUTOR?
4 DIE ERZÄHLWEISE DES ENTRELACEMENT, IHRE ‚PERFORMATIVIERUNG‘ UND DIE ENTGRENZUNG VON ERZÄHLGEGENWART UND ERZÄHLTER VERGANGENHEIT
4.1 DAS ENTRELACEMENT – ASPEKTE SEINER DIVERSIFIKATION ZWISCHEN CHRÉTIEN UND ARIOST
4.2 TYPEN VON ENTRELACEMENT-FORMELN
4.3 ENTRELACEMENT UND ERZÄHLERISCHES KNOWING HOW. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
5 EXTRAVAGANTE ZEITLICHE VERHÄLTNISSE
5.1 EIN VORZEITIGER AUFTRITT DES TITELHELDEN ALS PAZZO
5.2 DIE FIAMMETTA-EPISODE (O. F. XXVII, 137–XXVIII, 75): ZIRKULARITÄT UND KONTINUITÄT
6 DER ORLANDO FURIOSO ALS GENEALOGISCHES EPOS
6.1 DIE ENKOMIASTISCHE HERKUNFTSERZÄHLUNG:
KONZESSION, DIGRESSION ODER STRUKTURELEMENT?
6.2 RUGGIERO UND BRADAMANTE BEI BOIARDO UND ARIOST
6.3 DIE ANKÜNDIGUNG DER GENEALOGISCHEN ERZÄHLUNG IM PROÖMIUM DES FURIOSO
6.4 CANTO III: MUSENANRUF, GENEALOGISCHER KATALOG UND SELBSTPROPHEZEIUNG DES AUTORS
6.5 DIE WEIBLICHE AHNENREIHE DER ESTE UND WEITERE GENEALOGISCH-ENKOMIASTISCHE PASSAGEN
6.6 IPPOLITO UND ALFONSO D’ESTE ALS KRIEGSHERREN
6.7 DIE GENEALOGIE ALS „ARCO PORTANTE“ DES FURIOSO
6.8 EXKURS ZUM GENEALOGISCHEN DISKURS IM 15. UND 16. JAHRHUNDERT
6.9 DYNASTISCHE HERKUNFTSERZÄHLUNG UND GENEALOGIEKRITISCHER METADISKURS
7 SCHLUSS
8 BIBLIOGRAFIE
PRIMÄRLITERATUR
SEKUNDÄRLITERATUR
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Erzählte Macht und die Macht des Erzählens: Genealogie, Herrschaft und Dichtung in Ariosts "Orlando furioso"
 3515098127, 9783515098120

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Bernd Häsner Erzählte Macht und die Macht des Erzählens Genealogie, Herrschaft und Dichtung in Ariosts Orlando furioso

Romanistik Franz Steiner Verlag

Text und Kontext – 39

Text und Kontext Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft Herausgegeben von Klaus W. Hempfer Band 39

Erzählte Macht und die Macht des Erzählens Genealogie, Herrschaft und Dichtung in Ariosts Orlando furioso

Bernd Häsner

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung: Alessandro Pampurino, Evangelist Johannes mit Buch. bpk / Kupferstichkabinett, Staatliche Museen Berlin / Jörg P. Anders Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Satz: DTP + Text Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09812-0 (Print) ISBN 978-3-515-12453-9 (E-Book)

Für Susanne

DANKSAGUNG Seit Studentenzeiten gehört Ariosts Orlando furioso für mich zu den beglückendsten und unentbehrlichsten Lektüreerlebnissen überhaupt. Es ist mir deshalb eine große Freude, diese Monographie über Ariosts Epos vorlegen zu dürfen und eine ebenso große Freude, mich bei all jenen zu bedanken, die in der einen oder anderen Weise zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Entstanden ist der Band über den Furioso im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Epik der italienischen Renaissance. Dieses Projekt und die Drucklegung der aus ihm hervorgegangenen Publikation wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft großzügig gefördert; ihr sei hiermit herzlich gedankt. Angeregt und ermöglicht wurde dieser Band von dem Leiter jenes Projekts, Professor Klaus W. Hempfer, der mein Forschen und Schreiben von Beginn an mit ebenso kritischer wie wohlwollender Anteilnahme begleitete, dessen Einwände und Ratschläge stets treffend und hilfreich waren und der mit weise dosiertem Einsatz von energischem Ansporn und verständnisvoller Nachsicht den glücklichen Abschluss dieses Buches entscheidend gefördert hat. Seine Unterstützung und die Zusammenarbeit mit ihm empfand ich zu jeder Zeit als Privileg. Ich danke ihm mehr, als ich es hier zum Ausdruck bringen kann. Dank sagen möchte ich auch den Mitarbeitern, deren Unterstützung ich in Anspruch nehmen durfte, Tommaso Igel, der wertvolle Hilfe leistete bei der ersten bibliographischen Erschließung des Forschungsfeldes, und Jennifer Kulik, die ebenfalls bei der Literaturauswertung sowie beim Lektorieren unentbehrlich war, die mir darüber hinaus bei der Einrichtung des Manuskripts für den Druck und bei ‚administrativen‘ Pflichten zur Seite stand und die, selbst stets heiterer Stimmung, zuverlässig für gute Laune sorgte. Danken möchte ich ferner den Teilnehmern des von Ulrike Schneider und Klaus W. Hempfer geleiteten Oberseminars, in dem ich einige Male Zwischenergebnisse meines Schreibprojekts vortragen und Ermutigung und Anregung erfahren durfte. Mein Dank gilt schließlich meinem besten Freund Thomas Pfaender, der sich als versierter Deutschlehrer den Zumutungen meiner mitunter weitläufigen Satzkonstruktionen wacker und selbstlos ausgesetzt und hier und da womöglich Schlimmeres verhütet hat. Es versteht sich, dass alle Unzulänglichkeiten und Fehler, die sich in diesem Buch zweifellos werden finden lassen, ausschließlich auf mein Konto gehen. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Frau Susanne, die, obwohl nicht ‚vom Fach‘ und von ihrem eigenen wahrlich genug in Anspruch genommen, zu jeder Zeit engagierten und fürsorglichen Anteil an meiner Arbeit nahm und überhaupt ein beständiger Quell von Mut und Zuversicht war und ist, ohne den es dieses Buch nicht gäbe. Berlin, im Januar 2019

Bernd Häsner

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung ........................................................................................................... 1

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Mündlichkeit, Schriftlichkeit, paradoxe Evidenzen: Erzählen im Zeichen einer ‚Poetik der Präsenz‘ ......................................... 1.1 Der heisere Sänger und sein ‚Tintenwerk‘. Eine Dichtung zwischen mündlichem Vortrag und schriftlicher Textproduktion......... 1.2 Erzählen „con penna e con inchiostro“ und die Präsenz der Geschichte ...................................................................................... Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes: Handlungslogische Peripetie und metapoetischer Exkurs .......................... 2.1 Der schiffbrüchige Stammvater und seine Errettung im und durch den narrativen Diskurs................................................................ 2.2 Paradoxia evangelica. Poetische Lügen als Gnadenerweis .................. 2.3 Die Jenseitsreise als metapoetisches Narrativ ...................................... Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis ........ 3.1 Erzählerisches knowing how und poetologisches knowing that ........... 3.2 Faden und Gewebe – Geschichte und Wahrheit: Spielräume des metapoetischen Diskurses im Furioso ........................ 3.3 Exkurs zur Diskrepanz zeitgenössischer und ‚moderner‘ Interpretationen des Furioso, oder: Ist der Orlando furioso klüger als sein Autor? ...........................................................................

11 17 17 29 37 37 40 56 64 64 71 77

Die Erzählweise des entrelacement, ihre ‚Performativierung‘ und die Entgrenzung von Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit.......... 86 4.1 Das entrelacement – Aspekte seiner Diversifikation zwischen Chrétien und Ariost............................................................................... 86 4.2 Typen von entrelacement-Formeln ....................................................... 96 4.3 Entrelacement und erzählerisches knowing how. Zusammenfassung und Ausblick ......................................................................................... 113

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Inhaltsverzeichnis

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Extravagante zeitliche Verhältnisse. Vergangene Zukunft – zukünftige Vergangenheit ............................................................................ 119 5.1 Ein vorzeitiger Auftritt des Titelhelden als pazzo (O. F. XIX, 42) ...................................................................................... 119 5.2 Die Fiammetta-Episode (O. F. XXVII, 137–XXVIII, 75): Zirkularität und Kontinuität .................................................................. 126

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Der Orlando furioso als genealogisches Epos ............................................ 6.1 Die enkomiastische Herkunftserzählung: Konzession, Digression oder Strukturelement?........................................................................... 6.2 Ruggiero und Bradamante bei Boiardo und Ariost .............................. 6.3 Die Ankündigung der genealogischen Erzählung im Proömium des Furioso ........................................................................................... 6.4 Canto III: Musenanruf, genealogischer Katalog und Selbstprophezeiung des Autors...................................................... 6.5 Die weibliche Ahnenreihe der Este und weitere genealogisch-enkomiastische Passagen................................................ 6.6 Ippolito und Alfonso d’Este als Kriegsherren ...................................... 6.7 Die Genealogie als „arco portante“ des Furioso .................................. 6.8 Exkurs zum genealogischen Diskurs im 15. und 16. Jahrhundert ........ 6.9 Dynastische Herkunftserzählung und genealogiekritischer Metadiskurs ..........................................................................................

133 133 137 142 146 152 156 159 163 179

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Schluss......................................................................................................... 193

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Bibliografie .................................................................................................. 197

EINLEITUNG Der Orlando furioso, von dem Ernst Robert Curtius sagt, er sei „das einzige Werk italienischer Poesie, das sich der großen Malerei des Cinquecento gegenüberstellen“ ließe,1 ist heute, ganz im Unterschied zu jener Malerei, fast nur noch ein Gerücht. Er und sein Autor fristen ein bescheidenes Überleben am ehesten noch in den Programmheften der Opernhäuser, war doch Ariosts Epos für Komponisten und ihre Librettisten eine überaus ergiebige Fundgrube und Inspirationsquelle – wohl eine der ergiebigsten der Operngeschichte überhaupt.2 Zumeist unerwähnt bleibt in diesen Programmheften, dass für das primäre Publikum der Opern Vivaldis oder Händels oder Haydns der Orlando furioso eine selbstverständliche und vertraute Referenz war und es mit Orlando und Rodomonte, Alcina und Angelica, Ruggiero, Bradamante und Ariodante nicht erst bekannt gemacht werden musste. Die Resonanz, die diese Opern bei ihrem zeitgenössischen Publikum fanden, profitierte zweifellos – umgekehrt zur heutigen Situation – von der weitaus größeren und etablierteren ihrer poetischen Vorlage. Das weitgehende Vergessen des einstmals so berühmten und gerühmten Epos Ariosts bei einem literarisch gebildeten (und seinerseits dahinschwindenden) Publikum gilt allerdings nicht ebenso für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Text. Diese floriert vielmehr, wenn auch zyklischen Schwankungen unterliegend, seit Jahrzehnten – und dies in einem Umfang, der an Karl Valentins Diktum denken lässt, demzufolge alles schon gesagt sei, nur noch nicht von allen. Wenn ich hier gleichwohl eine ganze Monographie zum Orlando furioso vorlege, verbindet sich dies – wie man erwarten wird und dem nicht eben ermutigenden Ausspruch Valentins zum Trotz – mit der Zuversicht, neben unverzichtbaren Rückgriffen auf ‚Schon-Gesagtes‘ (und oftmals glänzend Gesagtes) doch auch einiges Neue vortragen zu können. Die jüngere Forschung zum Orlando furioso innerhalb und außerhalb Italiens bewegt sich zwischen zwei Polen: Einerseits und in geringerer Zahl finden sich Synthesen oder Gesamtdarstellungen, die dem Text, nachdem er in den Jahrzehnten zuvor gründlich ‚dekonstruiert‘ worden ist, wieder eine universelle Bedeutung glauben zuweisen zu können. So hat zuletzt Giulio Ferroni Ariosts Romanzo in souveräner Manier als eine Apotheose der bellezza interpretiert und damit in gewisser Weise die wirkmächtige Formel Benedetto Croces wiederaufleben lassen, die im Furioso eine alle disparaten Textphänomene versöhnende armonia triumphieren sah. Auf der anderen Seite des Spektrums sieht man eher kleinteilige Untersuchungen einzelner Aspekte, die, zuweilen neue Quellen erschließend, überaus erhellend sein können, aber nur selten Anstrengungen unternehmen, ihre Resultate auf den Gesamttext oder auch nur auf übergeordnete Struktureinheiten zu beziehen – möglicherweise ebenfalls aus Überdruss an ‚starken‘ und als exzessiv empfundenen 1 2

Curtius 1993 (11948), S. 248. S. hierzu Anderson 2017.

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Einleitung

interpretativen Hypothesen postmoderner Observanz. Allerdings setzt sich in dieser durchaus nachvollziehbaren Zurückhaltung eine ‚atomistische‘ Sicht auf den Text fort – die Isolierung einzelner Episoden, Sentenzen und ‚schöner Stellen‘ –, die eine Konstante der wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen Rezeption des Furioso ist, ihm aber letztlich nicht gerecht wird. Gegen diesen mainstream der Rezeptionsgeschichte geht es mir darum, die erzählerische Integrationsleistung Ariosts und die kohärenzstiftenden Strukturen seines Romanzo herauszustellen, die diesem gerade eine spezifische und komplexe ‚Einheit‘ verleihen – wenn auch eine andere als jene, deren Verfehlung seine zeitgenössischen Kritiker unter Berufung auf die Poetik des Aristoteles dem Furioso vorgehalten haben. Die den Text fragmentierende und ihn gleichsam filetierende Rezeption, die auch von den eingangs erwähnten musikdramatischen Bearbeitungen bezeugt und zweifellos von der scheinbar episodischen Anlage des Ariost’schen Romanzo und seinem Reichtum an Figuren und Konfigurationen begünstigt wird, verfehlt gleichwohl das Eigentliche dieser in jeder Hinsicht großen Erzählung – die Integration vieler einzelner Geschichten zu einer komplexen kompositiven Ordnung, dem Bild einer kontingenten, zentrifugalen Dynamiken unterworfenen geschichtlichen Welt, deren Konvergenzen sich ausschließlich im Auge des von ihr erzählenden Betrachters sowie des ihm folgenden Zuhörers oder Lesers herstellen. Diese kompositive Ordnung ist weniger programmatischen, am wenigsten poetologischen Vorgaben oder einer weltanschaulichen Disposition des Autors geschuldet als vielmehr die Leistung souverän und inspiriert zum Einsatz gebrachter erzählerischer Kompetenzen und Routinen. Um dies einsichtig zu machen, verbindet meine Untersuchung mikround makrostrukturelle Perspektiven; sie beansprucht insofern über den Stand der Forschung hinauszugehen, als sie zwei zentrale Aspekte des Textes noch einmal sichtet und gewichtet und sie auf ebenfalls unübliche Weise miteinander in Beziehung setzt. Zum einen geht es um die Erzählweise des entrelacement als erzähltechnischer Signatur des Furioso, zum anderen um die Este-Enkomiastik im Format einer genealogischen Erzählung, die in Ariosts Epos von Beginn an zum Programm erhoben wird. Das entrelacement als spezifisches narratives Verfahren, vielsträngige, polyzentrische und figurenreiche Erzählwelten zu bewältigen, hat in der Forschung durchaus breite Aufmerksamkeit gefunden, so dass es zunächst wenig vielversprechend zu sein scheint, sich erneut mit dieser Erzählweise mittelalterlicher Provenienz zu befassen. Tatsächlich ist die umfangreich erscheinende Literatur zum entrelacement aber in hohem Maße einseitig und neigt dazu, als autoritativ geltende Befunde unhinterfragt zu repetieren; zugleich differieren die Auffassungen darüber, was das Charakteristische dieses Erzählmodus sei, ganz erheblich. Ich behandle das entrelacement, an Arbeiten von Klaus W. Hempfer und Franz Penzenstadler anschließend, als eine Erzählweise, deren Spezifikum es ist, das Erzählsubjekt mehr oder weniger prominent in Stellung zu bringen, und die deshalb konstitutionell autoreflexiv ist. Namentlich in der italienischen Forschung scheint mir dieser zentrale Aspekt gegenüber anderen Aspekten unterbelichtet zu sein, nicht zuletzt mit der Folge, dass gravierende Veränderungen in Status und Funktion des Erzählsubjekts gar nicht oder nicht hinreichend in den Blick geraten. Tatsächlich hat das entrelace-

Einleitung

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ment gerade in Hinblick auf seine ihm inhärente Autoreflexivität durchaus eine Binnengeschichte vorzuweisen, deren wesentliche Stationen ich nachzeichne. Dabei geht es mir vor allem darum, zu zeigen, wie diese Erzählweise im Zuge ihrer Ausdifferenzierung zwischen Chrétiens Perceval und dem Orlando furioso eine Transformation erfährt, die das Erzählsubjekt in eine – natürlich illusorische – Position der Gleichzeitigkeit zum erzählten Geschehen rücken lässt. Diese Transformation, die ich als ‚Performativierung‘ des entrelacement beschreibe, dürfte in der oralen Erzählperformance der cantari ihren Ursprung haben, wird aber erst im Modus ihrer – notwendig paradoxale Effekte zeitigenden – Verschriftlichung in Boiardos Orlando innamorato und vor allem bei Ariost in komplexer Weise funktional und entfaltet gerade im Orlando furioso ihre dichtungsprogrammatischen und epistemologischen Valenzen und Implikationen. Diese Implikationen fasse ich unter dem Rubrum einer weitgehend implizit bleibenden ‚Poetik der Präsenz‘ zusammen, unter deren Vorzeichen im Furioso die systematische Entgrenzung von Fiktion und Nicht-Fiktion, von Geschichte und Gegenwart betrieben wird. Indessen sind diese ‚Poetik der Präsenz‘ und ihre Effekte nicht einfach mit Fiktionsironie zu verrechnen. Deutlich wird dies in ihrer Anwendung auf die genealogische Erzählung um Ruggiero und Bradamante, mit der ich mich im umfangreichsten Kapitel dieses Buches ausführlich befasse, einschließlich eines Exkurses zur genealogischen Geschichtsschreibung des 15. und 16. Jahrhunderts, insbesondere der unter Ägide der Ferrareser Este betriebenen. Gegen Trivialisierungen der Genealogie als ein nur akzidenteller, opportunistischen Erwägungen des Autors geschuldeter Textbaustein – eine Lesart, die sich vor allem in älterer Literatur zum Furioso findet – erkenne ich die estensische Herkunftserzählung gerade als zentrale Strukturkonstituente des gesamten Textes; gegen ein ‚affirmatives‘ Verständnis der Genealogie als vorbehaltloser Herrscherenkomiastik, das gerade in letzter Zeit wieder an Boden gewinnt, führe ich die raffinierten Doppelbödigkeiten und ironischen Kommentare Ariosts ins Feld, während ich gegen rein ‚ironische‘ Lektüren der Enkomiastik neben anderen Einwänden geltend mache, dass es im Furioso nicht einfach um die ‚Dekonstruktion‘ der Enkomistik geht, sondern um eine weitaus subtilere Überführung von Herrscherenkomiastik in Dichtungsenkomiastik. Gerade diese ‚Umwidmung‘ des enkomiastischen Diskurses, auf die der Titel des vorliegenden Bandes anspielt, wird in einer aufwendig in Szene gesetzten Dichtungsapologie, die dem Apostel Johannes in den Mund gelegt ist, in komplexer und auch abgründiger Weise thematisiert. Auch auf diese Episode, die auf dem Mond spielt und die wohl meistinterpretierte und stets als problematisch oder sogar als aporetisch empfundene Sequenz des gesamten Textes ist, komme ich ausführlich zu sprechen; ich schlage ein Verständnis vor, das auch in diesem Fall die Einheit der Episode gegen ihre sie zuweilen unangemessen fragmentierenden Interpretationen behauptet und die einzelnen Etappen der Mondreise als Kontext und Vorbereitung der sie abschließenden paradoxalen Lobrede des Apostels auf die Dichtung behandelt. Sowohl gegen die ‚affirmative‘ wie auch gegen die ‚ironische‘ Lesart der genealogischen Enkomiastik zeige ich, dass der Furioso einerseits selbst konstitutiver Teil eines als System beschreibbaren genealogischen Diskurses ist und andererseits zugleich eine radikale Kritik der genealogischen Geschichtskonstruktion betreibt.

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Einleitung

Gerade die Radikalität dieser Kritik ist aber nicht in erster Linie Effekt einzelner ironischer ‚Stellen‘, die gegen andere ‚Stellen‘ auszuspielen wären, sondern Funktion einer der Textstruktur eingeschriebenen (und vielleicht selbst schon als ironisch zu verstehenden) Konfrontation und Überlagerung gegensätzlicher ‚Geschichtsmodelle‘ – dem expliziten der Genealogie und dem impliziten des entrelacement: Indem Ariost dynastische Herkunftsgeschichte im Modus systematischer und hochfrequenter Digression erzählt, setzt er sie ‚zentrifugalen‘ Kausalitäten aus, die jegliche der genealogischen Abfolge angeblich inhärente Logik beständig irritieren und sabotieren und die nur im Diskurs, also durch den Erzähler, beherrschbar sind. Insbesondere die Erzählung eines angeblich final ausgerichteten Geschichtsverlaufs im Modus des ‚performativierten‘ entrelacement lässt die – bei Ariost gänzlich profane – Schöpfungs- und Dispositionsmacht des Dichters an die Stelle des fatum oder der göttlichen Providenz treten. Über die einzelnen Ergebnisse hinaus, die sich, wie ich glaube, zu einer neuen Sicht auf einen stets als emblematisch für seine Epoche erkannten Text verbinden, möchte ich diesen Band auch als Fallstudie zu den Bedingungen und Möglichkeiten von Innovationen – in diesem Fall im Literatur- und Diskurssystem der Renaissance – verstanden wissen. Dabei geht es mir vor allem um die ‚Rehabilitierung‘ eines Wissenstypus, der in der Regel gar nicht als epistemologisch relevant in Betracht gezogen wird und damit auch nicht als möglicher Ort, an dem substantiell Neues, eventuell die Grenzen des Sagbaren Erweiterndes, Konturen annehmen könnte. Ich meine damit ein primär erfahrungsbasiertes Wissen, das sich nicht in seiner Explikation, sondern in seiner Anwendung aktualisiert und das in einer von Gilbert Ryle angestoßenen wissenschaftstheoretischen Diskussion als knowing how dem Wissenstypus des knowing that gegenübergestellt wird. Im konkreten Fall von Ariosts Orlando furioso geht es dabei natürlich um dichterisches, insbesondere um erzählerisches knowing how: ein poetologisch nicht eingeholtes, dabei hochdifferenziertes, sich immer wieder neue Optionen erschließendes Wissen um die Möglichkeiten, komplexes Geschehen, seine Akteure und deren Interaktionen polyperspektivisch erzählend im Textraum zu arrangieren und aufeinanderstoßen zu lassen, solchermaßen Sichtweisen auf ‚Geschichte‘ und deren Konstitutionsbedingungen stimulierend, die gleichfalls nicht rückführbar sind auf zeitgenössisch konzeptualisierte Positionen, sondern das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit anders und gegebenenfalls auch komplexer modellieren als diese. Darin mag man auch den Grund erkennen, dass Historiker häufig gerade mit fiktionalen Texten so wenig anzufangen wissen, die sie, wenn überhaupt, als symptomatische und mehr oder weniger brillante, die Obsessionen ihres Zeitalters spiegelnde und ausschmückende Hervorbringungen würdigen, nicht aber als kognitive Anstrengungen sui generis, die Lebens- und Diskurswelt ihrer Gegenwart zu verstehen oder sich von ihr zu distanzieren oder sie gar zu verändern.3 3

So etwa in der jüngst erschienenen und überaus imposanten „Geschichte der Renaissance“ (Der Morgen der Welt) von Bernd Roeck (Roeck 2017). Der Orlando furioso wird von Roeck – was in derartigen Epochenporträts durchaus nicht die Regel ist – zwar vorgestellt (ebd. S. 680 f.) und als „wilde Erzählung“ (ebd. S. 681) gewürdigt, dies aber weitgehend unter Rekurs auf literaturhistorische Stereotype, die im Licht neuerer Forschung als überholt gelten

Einleitung

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Die meisten Kapitel dieses Bandes waren ursprünglich als Aufsätze konzipiert. Der Plan, sie zu einem Buch zusammenzufassen, ergab sich erst im Zuge der Ausarbeitung dieser Aufsätze. Wenngleich sie diesem Ziel entsprechend gründlich umgearbeitet wurden, blieben doch einige Überschneidungen und Rekurrenzen erhalten, die sich zwar hätten tilgen lassen, von denen mir aber nach reiflicher Überlegung schien, dass sie dem Nachvollzug der hier dargebotenen Argumentation, die wie der Text, dem sie gilt, selbst einigen Verzweigungen folgt, eher förderlich sein könnten.

dürfen und die Ariost vor allem als heiteren Ironiker figurieren lassen und damit den ‚existentiellen‘ Ernst und das kognitive Potential seines Epos, das unter dem Druck hoher poetischer Ambitionen, vielschichtiger Diskurstraditionen und zugleich massiver politischer Obligationen entstanden ist, weitgehend verkennen. „Frommen Ernst“ attestiert Roeck hingegen Ariosts Cinque Canti, die er fälschlich für Hinzufügungen zur letzten Fassung des Furioso hält (ebd. S. 768).

1 MÜNDLICHKEIT, SCHRIFTLICHKEIT, PARADOXE EVIDENZEN Erzählen im Zeichen einer ‚Poetik der Präsenz‘ 1.1 DER HEISERE SÄNGER UND SEIN ‚TINTENWERK‘. EINE DICHTUNG ZWISCHEN MÜNDLICHEM VORTRAG UND SCHRIFTLICHER TEXTPRODUKTION Der Orlando furioso ist ein eminent selbstreflexives Epos; er bezeugt beispielhaft die spezifischen Möglichkeiten des narrativen Diskurses, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern im Akt des Erzählens zugleich sich selbst und seine Voraussetzungen zum Gegenstand zu machen.4 Gewiss kennt auch das antike und mittelalterliche Erzählen komplexe und ironische Formen von Autoreflexivität;5 dennoch dürften sich, was Frequenz, Prägnanz, poetologisches Gewicht und ironische Doppelbödigkeit selbstreflexiver Interventionen angeht, in früherer Erzählliteratur nicht leicht Beispiele finden lassen, die Ariosts Romanzo an die Seite zu stellen wären oder ihn gar überböten, auch nicht im Kreis anderer romanzi d’autore wie Pulcis Morgante, Boiardos Orlando innamorato oder Francesco Ciecos Mambriano. Selbstreflexiv ist der Furioso zum einen, insofern sein Erzähler die eigene lebensweltliche Situation – seine amourösen Passionen und Obsessionen ebenso wie die politischen und militärischen Verwerfungen der Zeit, in die er mehr oder weniger unmittelbar involviert ist – beständig ins Spiel bringt, sie mit den Begebenheiten der Erzählung in Parallele stellt oder seinen Diskurs von den eigenen Affekten tangiert und sein episches Projekt von diesen sogar gefährdet sieht.6 Als „figure of the 4 5

6

Grundlegend hierzu Hempfer 2002 (11982). Siehe ferner Durling 1965, Penzenstadler 1987 sowie Häsner 2005. Die obligatorische Referenz für autoreflexives Erzählen in der Antike ist natürlich Ovid. Einen eingehenden Vergleich der autoreflexiven Erzählinstanzen Ovids und Ariosts unternimmt Maria Cristina Cabani in Cabani 2008. Metaleptische und fast schon postmodern anmutende Autoreflexivität erkennt Siegmar Döpp in Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii (Döpp 2009). Zum autoreflexiven Erzählen im mittelalterlichen Roman, namentlich in Partonopeu de Blois und Le Bel Inconnue und ihren explizit aleatorischen Erzählern s. Bruckner 2000, S. 17 f. Zum Bel Inconnue s. insbesondere auch Bauschke 1992. Klaus Ridder erklärt die poetologische Selbstreflexion sogar zum „Gattungsmerkmal des neuen Erzähltyps“ des Artusromans (Ridder 2002, S. 38). Auf die strukturinhärente Autoreflexivität der genuin mittelalterlichen Erzählweise des entrelacement gehe ich in Kapitel 4 ausführlich ein. Zum Verhältnis von empirischem Autor und mit dessen biographischen Attributen ausgestattetem fiktiven Erzähler s. Hempfer 2010a. Ferner Pich 2015, die betont, dass die autoreflexiven Interventionen des Ariostschen Erzählers nicht in ihrem metapoetischen oder metanarrativen Gehalt aufgehen: „I will […] argue that the content of the Narrator’s autodiegetic narrative, namely its fabula in the narratological sense, clearly exceeds the scope of the self-conscious action of narrating and managing narration, encompassing episodes which must be placed, in a fictional chronology, well beyond the limits of his act of narration.“ (Ebd. S. 337) Pich erkennt

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1 Mündlichkeit, Schriftlichkeit, paradoxe Evidenzen

poet“ (Robert Durling) gewinnt Ariosts Erzähler eine (auto)biographische Statur, die sich sowohl von den Erzählinstanzen etwa eines Pulci oder eines Boiardo wie auch von dem Erzähler der Metamorphosen, der ebenfalls als einschlägige Referenz Ariosts gilt, deutlich abhebt.7 Zum anderen und im engeren Sinne ist der Furioso selbstreflexiv, weil in ihm der Erzählvorgang in actu und die poetologischen Maximen, denen der Erzähler folgt oder zu folgen vorgibt, immer wieder ebenso lakonisch wie pointiert zur Sprache kommen. Dieser Fokus auf das in fieri des Textes kann sich auch auf die medialen Bedingungen seiner Produktion und Rezeption richten, einschließlich der materiellen Werkzeuge schriftlichen Erzählens, Feder und Tinte. Gerade die Passagen, an denen das Hervorbringen des Textes als ein physischer Schreibakt thematisiert wird, gehören zu den aufschlussreichsten selbstreflexiven Passagen des Furioso, nicht zuletzt, weil sie ein Licht auf die implizite Poetik des Textes werfen, die von seinen expliziten poetologischen Reminiszenzen durchaus differiert oder über diese hinausgeht. Freilich sind Stellen, an denen der Erzähler als ein Schreibender sichtbar wird, eher selten; viel häufiger wird stattdessen die Geschichte als eine zu hörende, an ein Auditorium gerichtete präsentiert. Diese indifferente oder ambivalente oder sogar, wie man sehen wird, in ihren Effekten paradoxale mediale Selbstsituierung zwischen schriftlich – „con penna e con inchiostro“ – generiertem Diskurs und oralauraler Vortragssituation wird gleich am Anfang des Textes, in seinem Eingangsproömium, offenkundig:8 Nachdem in den beiden ersten Strophen der generelle erzählerische Plan exponiert und die titelgebende Geschichte des dem Liebeswahn erliegenden Orlando angekündigt worden war, wird anschließend eine zweite Haupthandlung annonciert und deren Protagonist Ruggiero eingeführt.9 Dieser Handlungsstrang, der mit dem ersten die raum-zeitlichen Koordinaten teilt und mit ihm sowohl durch gemeinsames Personal wie auch handlungslogisch verknüpft ist, gilt dem Ursprung des Hauses Este, dessen Stammvater eben jener Ruggiero sein soll, der seinerseits den troianischen Hektor als seinen Urahn aufbieten kann. In der 3. und 4. Oktave des Proömiums wendet sich der Erzähler unmittelbar an Ippolito d’Este, den Dienstherrn Ariosts und Widmungsträger seines Epos, in dem die mit Ruggiero einsetzende genealogische Abfolge, die der Erzähler sich anschickt zu erzählen, vermeintlich ihr geschichtliches Telos gefunden hat:

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im autoreflexiven Diskurs des Furioso insbesondere die Konturen einer über den manifesten Text hinausweisenden ‚Geschichte‘ des Erzählers als Liebenden. Dasselbe ließe sich allerdings auch vom Erzähler als cortegiano und familiare eines übermächtigen Dienstherrn bzw. einer dynastischen Herrscherfamilie sagen, denen gegenüber er, auch über die verschiedenen Fassungen des Furioso hinweg, seine Position beständig neu definieren und justieren muss. Eine erhellende Gegenüberstellung der Erzählerfiguren Boiardos und Ariosts unternimmt Alberto Casadei in Casadei 2011, S. 245–247. Zu Ovid-Ariost s. die bereits genannte Untersuchung von Maria Cristina Cabani (Cabani 2008). S. hierzu auch Bruscagli 2003b. Bruscagli interpretiert den Kontrast von schriftlicher Textkonstitution und oral-performativem Vortragsgestus nicht als mediale, sondern als gattungspoetische „ambiguità“, als Ausdruck einer Spannung zwischen romanzesker und epischer Diktion. S. auch Bruscagli 2005, S. 37 f. sowie Hempfer 2013, S. 62. Ich komme auf das Eingangsproömium an späterer Stelle noch mehrfach und eingehend zurück; hier geht es mir ausschließlich um seine ‚medialen‘ Implikationen.

1.1 Der heisere Sänger und sein ‚Tintenwerk‘

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Piacciavi, generosa Erculea prole, ornamento e splendor del secol nostro, Ippolito, aggradir questo che vuole e darvi sol può l’umil servo vostro. Quel ch’io vi debbo, posso di parole pagare in parte, e d’opera d’inchiostro; né che poco io vi dia da imputar sono; che quanto io posso dar, tutto vi dono. Voi sentirete fra i più degni eroi, che nominar con laude m’apparecchio, ricordar quel Ruggier, che fu di voi e de’ vostri avi illustri il ceppo vecchio. L’alto valore e’ chiari gesti suoi vi farò udir, se voi mi date orecchio, e vostri alti pensier cedino un poco, sì che tra lor miei versi abbiano loco. (O. F. I, 3–4)10

Bereits im Proömium wird der Text mithin als „opera d’inchiostro“, als ‚Tintenwerk‘ ausgewiesen, zugleich aber als eine zu hörende Dichtung vorgestellt: „voi sentirete“ und „vi farò udir, se voi mi date orecchio“.11 Die im Medium der Schrift hervorgebrachte Erzählung soll im Medium der gesprochenen Sprache rezipiert, also gehört werden können. Wenn im Fortgang des epischen Diskurses dessen Aufnahme durch ein Publikum zur Sprache gebracht wird, handelt es sich beinahe immer um eine auditive Rezeption. Allerdings fehlt im Furioso die in den cantari übliche und auch noch von Boiardo in seinem Orlando innamorato beibehaltene explizite Ansprache einer höfischen Gemeinschaft von Hörern gleich zu Beginn des Eingangsproömiums.12 Stattdessen wird bei Ariost, wie gesehen, zunächst ein ein10

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Ich zitiere nach der unübertroffenen Ausgabe Emilio Bigis (Ariosto 1982 und Ariosto 2013), habe aber auch die Editionen Lanfranco Carettis (Ariosto 1966) sowie Remo Ceseranis und Sergio Zattis (Ariosto 1997) und deren gleichfalls instruktive Kommentare berücksichtigt. Die Fassung des Orlando furioso von 1516, auf die ich nur gelegentlich und beiläufig eingehe, zitiere ich nach der kritischen Ausgabe von Marco Dorigatti (Ariosto 2006a). Obwohl Ariost für die Drucklegung seines Orlando furioso von 1516 erhebliche Mühen und Unkosten auf sich nahm (s. Richardson 1999, S. 85–89; Fahy 1989) meint „opera d’inchiostro“ offenkundig nicht das materiale gedruckte Buch – das im Übrigen sowohl Ippolito wie auch sein Bruder, der Herzog Alfonso, selbst käuflich erwerben mussten, – sondern den handschriftlichen Text oder den Akt der handschriftlichen Textproduktion. Der Buchdruck, dem die enorme Verbreitung des Furioso wie der Ritterliteratur der Epoche überhaupt so viel verdankt, wird im Furioso, im Gegensatz zu anderen technologischen Errungenschaften der Epoche, dem Schießpulvers und der Feuerwaffe, mit keinem Wort erwähnt. „Signori e cavalier che ve adunati / Per oldir cose diletose e nove, / Stati atenti e quieti, et ascoltati / La bela istoria che il mio canto move“. (Orlando innamorato, I, I, 1, 1–4). Hier und in der Folge zitiere ich nach der von Andrea Canova editierten Ausgabe (Boiardo 2011). Obwohl die Herausgeberinnen der neuen kritischen Ausgabe starke Argumente dafür beigebracht haben, dass Boiardos Romanzo ursprünglich den Titel Libro del’Inamoramento de Orlando trug (M. M. Boiardo, Opere, hg. v. A. Tissoni Benvenuti und C. Montagnani, Mailand/Neapel 1999, Bd. 1, 3, Anm.) halte ich hier, vor allem aus Bequemlichkeit, an der rezeptionsgeschichtlich ‚traditionellen‘ Namensgebung fest. S. aber auch die Gründe, die von Riccardo Bruscagli (Bruscagli 2003a, S. 3 f. u. Anm. 2) zugunsten dieser Entscheidung vorgebracht werden.

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zelner Adressat angesprochen, der Widmungsträger Ippolito d’Este, und dies auch erst in der dedicatio der dritten und vierten Strophe des Proömiums. Ippolito wird dann über den gesamten Textverlauf als „Signor“ oder mit „voi“ apostrophiert und als hörender Rezipient der Erzählung präsent gehalten. Daneben werden in der Folge jedoch auch andere Adressaten aufgerufen – individuelle wie etwa die Geliebte des Erzählers („madonna“, O. F. XXXV, 1,1), der Herzog Alfonso (XIV, 2ff; XLII, 3 ff.), dessen Heerführer Sigismondo, der „duca di Sora“ (XXXVI, 7) und der condottiere und cortegiano Federigo Fregoso (XLII, 22 f.), oder aber auch ein Kollektiv von Rezipienten, vor allem die donne gentil.13 Am Ende seiner langen und ihrem Finale zustrebenden Erzählung beschwört der Erzähler, an dieser Stelle als metaphorischer, die heimatlichen Gestade anlaufender Weltenumsegler figurierend, ein ihn im Zielhafen freudig erwartendes und ihm applaudierendes Publikum aus namentlich genannten Hofdamen, vor allem aber Dichtern und Gelehrten, darunter prominente Gestalten wie Aretino, Calcagnini, Bembo, Fracastoro, Bernardo Tasso, der jüngere Pico oder Sannazaro, die gleichsam einen Querschnitt der gesamtitalienischen intellektuellen Elite repräsentieren (XLVI, 1–19).14 Diese ganz unterschiedlichen Adressatenansprachen können medial unspezifiziert bleiben, also unbestimmt lassen, ob sie an lesende oder hörende Rezipienten gerichtet sind. Allerdings stehen sie durchweg im Modus der Evidentialisierung und suggerieren, der Erzähler befinde sich vis-à-vis mit dem oder den gerade Angesprochenen. Zumeist werden die Adressaten aber ausdrücklich als ein Auditorium aufgerufen, während die Lektüre als Rezeptionsmodus und Leser als Rezipienten im autoreflexiven Erzählerdiskurs explizit nur an wenigen Stellen vorkommen.15

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Ariosts Verzicht auf eine explizite Auditoriumsanrede im Proömium wurde kritisch vermerkt von Sperone Speroni: „Ora parlarò di quel modo, che tengono questi detti romanzi di parlare non da sé, ma alli auditori: e dico che ’l Boiardo fu ’l primo che ciò fece; perché anche nel principio del libro parlò alli auditori: onde fece bene a fare così di canto in canto, e di libro in libro. Ma l’Ariosto, che non comincia così, non fa bene a dar licentia nel fin de’ canti alli auditori, che non avea prima invitati; e nel principio tornar a parlar loro […].“ Zit. n. Bruscagli 2003b, S. 37. Was moderne Interpreten – wie auch ich in der Folge – als Zuwachs an medialer Komplexität und deren Reflexion erklären mögen, gilt also dem zeitgenössischen Kommentator als bloßer Kunstfehler. Dass es sich um einen solchen handelt, erscheint allerdings, gerade weil er unschwer zu vermeiden gewesen wäre, als wenig wahrscheinlich, zumal bei einem so skrupulösen Autor wie Ariost. Zu Speronis Kritik s. auch Santoro 1989a, S. 25, Anm. 1. Zu den wechselnden Adressatenanreden im Furioso s. Hempfer 2002 (11982), S. 91 f.; Bruscagli 2003b, S. 43–46. Mit einer ganz eigenen Kategorie von ‚Adressatenansprache‘ hat man es bei der Apostrophierung von Figuren der Handlung zu tun, einer für das Epos typischen und auch in den cantari häufigen, Empathie signalisierenden oder einfordernden Form der Evidentialisierung des erzählten Geschehens (s. Cabani 1988; S. 83 f.), die aber bei Ariost, wenn ich mich nicht täusche, nur an einer Stelle zum Einsatz kommt: „Guardati, Carlo, che ’l ti viene adosso / tanto furor, ch’io non ti veggo scampo“ (O. F. XXVII, 7, 1–2). Gegenüber der berühmten DidoApostrophe aus der Aeneis („quis tibi tum, Dido, cernenti talia sensus …“; Aeneis 4, 408; s. hierzu Suerbaum 1999, S. 358–365, bes. S. 361), ist die Figurenapostrophe aus dem Furioso, die den Erzähler weniger als sympathetisch Mitfühlenden denn als unmittelbaren Augenzeugen des erzählten Geschehens positioniert, deutlich ‚präsentischer‘. Vor allem in O. F. XXVIII, 1–3, wo die Adressaten zunächst wie üblich als Hörende angesprochen („non date a questa storia orecchia“), dann aber als Leser ermuntert werden, die anschlie-

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Thematisiert wird die vom Erzähler erwartete bzw. vorgeblich wahrgenommene oder erfahrene aurale Rezeption gelegentlich in den Proömien der einzelnen Canti, z. B. in dem folgenden, in dem der Erzähler sogar vorgibt, an den Gesichtern seiner Zuhörerinnen eine wohlwollende Aufnahme seiner Verse ablesen zu können: Cortesi donne, che benigna udienza date a’ miei versi, io vi veggo al sembiante […]. (O. F. XXXVIII, 1, 1–2)16

Vor allem und regelmäßig wird aber in den congedi, den Schlussstrophen der einzelnen Gesänge, ein hörendes Publikum aufgerufen.17 In diesen congedi wird der jeweilige Canto zumeist explizit, manchmal mit und manchmal ohne nähere Begründung, beendet und seine Fortsetzung im folgenden Gesang angekündigt, etwa: Quel che seguì tra questi duo superbi vo’ che per l’altro canto si riserbi. (O. F. I, 81, 7–8)

– oder: Poi vi dirò, Signor, che ne fu causa, ch’ avrò fatto al cantar debita pausa. (O. F. III, 77, 7–8)

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ßende Binnenerzählung wegen ihrer frauenfeindlichen Vulgarität und fehlenden Glaubwürdigkeit zu überspringen: „Passi, chi vuol, tre carte o quattro, senza leggerne verso“. In O. F. XLI, 26 werden die nicht näher spezifizierten Adressaten ausdrücklich als Leser des Orlando innamorato angesprochen, die über die Vorgeschichte des gerade Berichteten durch den Romanzo Boiardos hinreichend informiert sein dürften. Häufiger treten Figuren der erzählten Welt als Leser auf: Ferraù liest die Inschrift auf dem Helm Orlandos (O. F. XII, 60); Astolfo besitzt ein Buch mit Verhaltensanweisungen gegenüber schwarzer Magie (XV, 13–14 u. 79); Rodomonte erhält einen Brief Agramantes (XXIV, 112), Bradamante einen solchen Ruggieros (XXX, 78– 80) und Malagigi liest in einem Buch mit magischen Formeln (XLII, 34). Der am ausführlichsten berichtete und folgenreichste intradiegetische Leseakt ist natürlich der Orlandos als er auf die verschiedenen, von Angelica und Medoro hinterlassenen Inschriften stößt, die beider Liebe bezeugen und den Conte d’Anglante schließlich den Verstand verlieren lassen (XXIII, 102– 114). Während die (extradiegetischen) Adressaten nur selten als Leser angesprochen werden, wird freilich die Schriftlichkeit des Textes häufiger explizit benannt; neben dem Eingangsproömium und dem gerade zitierten Proömium des 28. Gesangs sowie den sehr prägnanten Stellen, auf die ich sogleich eingehend zu sprechen komme, etwa auch in O. F. XXII, 23, 4 („altre cose che di scriver lasso“) oder O. F. XXXVII, 21, 2 („volessi porre in carte“). Im Proömium des 37. Gesangs wird die Schrift als Medium der Verewigung und Ruhmspende gepriesen, das den hier explizit angesprochenen Frauen bislang allerdings zumeist vorenthalten worden sei und von dem sie erst in neuerer Zeit profitieren würden: „Se le carte sin qui state e gl’inchiostri / per voi non sono, or sono a’ tempi nostri.“ (O. F. XXXVII, 7, 7–8) S. auch O. F. XXI, 7–8; XXII, 1. Wenngleich bereits die antike Epik die Einteilung in Gesänge kennt, referiert Ariost (wie auch Pulci, Boiardo und Cieco) mit der Einteilung des Gesamttextes in Canti auf die mündliche Epik der cantari. Die congedi, die im antiken Epos keine Entsprechung haben, dienen in den cantari als explizite Markierung von Vortragseinheiten. In einem schriftlichen Text, soweit er ausschließlich gelesen wird, wären sie eigentlich redundant oder dysfunktional. S. Cabani 1988, S. 46–64.

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1 Mündlichkeit, Schriftlichkeit, paradoxe Evidenzen

In zahlreichen congedi des Furioso wird ganz ausdrücklich eine oral-aurale Kommunikationssituation postuliert: Quel, dopo lunghi preghi, da le chiome Si levò l’elmo, e fe’ palese e certo quel che ne l’altro canto ho da seguire, se grata vi sarà l’istoria udire. (O. F. V, 92, 7–8)

– oder: Ma chi del canto mio piglia diletto, un’altra volta ad ascoltarlo aspetto. (O. F. XVIII, 192, 7–8)

Während in diesen Beispielen die Unterbrechung des Vortrags einfach angekündigt oder vollzogen wird, erfährt sie in den folgenden auch eine Begründung: Ma troppo è lungo ormai, Signor, il canto, e forse ch’anco l’ascoltar vi grava: sì ch’io differirò l’istoria mia in altro tempo che più grata sia. (O. F. X, 115, 5–8)

– oder, diesmal mit musikalischer oder musikantischer Metaphorik: Ma prima che le corde rallentate al canto disugual rendano il suono, fia meglio differirlo a un’altra volta, acciò men sia noioso a chi l’ascolta. (O. F. XXIX, 74, 5–8)

Einer ironischen suspense-Strategie gemäß, erfolgt die Unterbrechung stets an solchen Stellen, an denen eine Konfliktkonstellation sich ihrer Peripetie nähert, bis dahin unbekannte Figuren in das Geschehen eingreifen, Unerwartetes oder Rätselhaftes geschehen ist und seiner Erklärung harrt – kurzum, der Spannungsverlauf einen Punkt erreicht hat, an dem am wenigsten damit gerechnet werden muss, dass der Zuhörer sich langweilt oder ermüdet ist. Als ironisch mag dieser suspense aber auch gelten, weil der Aufschub nur bei mündlichem Vortrag wirksam wäre, wohingegen ein Leser einfach weiterlesen könnte.18 Während der Erzähler zumeist vorgibt, sich um die Aufnahmebereitschaft, die Geduld oder um das Wohlwollen des Hörers zu sorgen, ist er im folgenden Beispiel, nach der Schilderung von Begebenheiten, die seine erzählerischen Fähigkeiten in besonderem Maße herausfordern (und von denen gleich noch die Rede sein wird), um sich selbst besorgt, genauer gesagt, um seine Stimme:

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Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fallen Canto-Grenzen in der Tat nicht mit dem Wechsel des Erzählstrangs zusammen, d. h. die am Ende eines Canto unterbrochene Erzählung wird zumeist im folgenden Canto, nach dem obligatorischen, zuweilen sich über mehrere Oktaven erstreckenden Proömium, unmittelbar fortgesetzt. Die extrem häufigen Wechsel von einer Handlungssequenz zur anderen liegen zumeist inmitten eines Gesangs. S. Javitch 1980, S. 69 f.

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Non più, Signor, non più di questo canto; ch’io son già rauco, e vo’ posarmi alquanto. (O. F. XIV, 134, 7–8)

In allen diesen Beispielen, die sich unschwer vermehren ließen, wird eine Präsenzrelation postuliert, Verhältnisse mithin, unter denen akustische Kommunikation zwischen Erzähler (oder Sänger) und seinem Publikum möglich sein soll.19 Der scheinbare Widerspruch oder Kontrast zwischen manifester und am Eingang des Textes programmatisch verkündeter Schriftlichkeit („opera d’inchiostro“) und immer wieder beschworener auraler Rezeption, der zunächst irritieren könnte, löst sich natürlich weitgehend auf, wenn man annimmt, der Text werde vor einem Publikum vorgelesen oder rezitiert – und tatsächlich war dies, wenngleich das stille und private Lesen als eine Rezeptionsoption ebenfalls längst etabliert war, eine durchaus obligatorische Praxis.20 Das Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das für die mittelalterlichen Verhältnisse konstatiert wurde,21 oder die Bimedialität des prätypographischen oder „skriptographischen Systems“,22 persistieren offenkundig über die Erfindung des Buchdrucks hinaus, trotz der durch ihn ermöglichten leichteren Zugänglichkeit schriftlicher Texte wie auch der ebenfalls durch die Typographie induzierten Alphabetisierungfortschritte. Jüngere Forschungen zum Medienwandel, zur Alphabetisierung und generell zur Struktur- und Ereignisgeschichte von literacy betonen generell eher die Kontinuitäten statt der Brüche dieser Geschichte; unter anderem zeigen sie, dass Vorlesen und lautes Lesen von poetischen, aber auch anderen Texten bis ins 18. Jahrhundert und darüber hinaus eine grundlegende, keineswegs nur akzidentelle oder gar abusive Praxis der Literaturrezeption blieb und auch nicht in der Funktion aufging, Alphabetisierungsdefizite zu kompen-

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Weitere an ein Auditorium adressierte congedi: O. F. IX, 94; XI, 83; XII, 94; XVI, 89; XIX, 108; XXII, 98; XXXIV, 92; XXXVI, 84; XXXVIII, 90; XL, 82; XLII, 104; XLIII, 199. Auch in den congedi, in denen nicht explizit eine Zuhörerschaft angesprochen wird, gibt sich der Diskurs als ein präsentisches, in seinem Vollzug rezipiertes ‚dire‘, etwa wenn der Erzähler befürchtet, durch fortgesetztes Erzählen zu langweilen (XXXIX, 86) oder für sich selbst ein Ruhebedürfnis geltend macht (XXV, 97, 7–8). Wenn Durling auf Basis einer sehr lückenhaften Bestandsaufnahme derartiger Hörerapostrophen behauptet, „we no longer find in Ariosto the insistence upon the illusion of public recitation“ (Durling 1965, S. 112), so ist dies irreführend (s. hierzu auch Everson 2016, S. 201). Dagegen konstatiert Brand für den Furioso eine „consciousness of the listening audience“ (Brand 1973, S. 58). In den ersten Fassungen des Furioso von 1516 und 1521 (Ariosto 2006a) ist die Oralitätsfiktion z. T. noch elaborierter. So heißt es etwa im congedo des 21. Gesangs der ersten Fassung (XXI, 136, 5–8): „Ma qui la briglia al mio cantar ritiro, / che mi par che a quel termine s’appresse, / il qual s’io passo, so ben quanto annoi / a me la voce, e l’udienza a voi.“ In der Fassung von 1532 wurde daraus, nunmehr am Schluss des 23. Gesangs (XXIII, 136, 5–8): „ Ma son giunto a quel segno il quale s’io passo / vi potria la mia istoria esser molesta; / et io la vo’ più tosto diferire, / che v’abbia per lunghezza a fastidire.“ S. Beer 1987; Cabani 1988; Roggero 2006; Everson 2016. Dennis Green spricht im Hinblick auf entsprechende Praktiken der Rezeption von Dichtung im Mittelalter von einem „intermediate mode of reception“ (Green 1994, S. 171). S. Schaefer 1994, S. 364 f. S. Giesecke 1991, S. 29–36.

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sieren.23 Dies gilt in ganz besonderem Maße und in spezifischer Weise für Versepen wie den Orlando furioso und andere romanzi d’autore, die aus einem genuin oralen generischen Kontext hervorgehen, dem der cantari, von dem sie sich durch ambitioniertere literarische Referenzen, elaboriertere Diktion und komplexere narrative Binnenstrukturen distanzieren, zu dem sie aber zugleich, auch als etablierte schriftliche Textgattung, weiterhin ‚osmotische‘ Beziehungen unterhalten, insofern ein beständiger wechselseitiger Austausch zwischen der oralen oder semi-oralen Textproduktion der cantastorie auf der einen Seite und der hochliterarischen Ritterepik auf der anderen stattfindet.24 Die Präsenz der cantastorie war zur Zeit Ariosts und noch lange danach, zumal in Ferrara, eine höchst vitale, und die Dichtung, die sie hervorbrachten, unterhielt enge Beziehungen zur letteratura colta, die sich ihrerseits nicht scheute, Stoffe, Diktionen und expositorische Schemata des oralen und semioralen epischen Diskurses wie etwa seine Portionierung in canto-Einheiten sowie die Schlussformularik der congedi zu übernehmen. Sequenzen aus dem Orlando furioso wurden, kaum dass er in seiner ersten Fassung erschienen war und Furore gemacht hatte, von den cantastorie für den oralen Vortrag adaptiert,25 während umgekehrt, wie Pigna berichtet, Ariost punktuelle Modifikationen seiner Strophen durch die cantastorie, die seinen Text rezitationstauglicher machen und für eine effektvollere Intonation sorgen sollten, für die definitive Fassung des Furioso übernommen habe.26 Bei den Adressatenapostrophen einiger Proömien und vieler congedi des Orlando furioso, die ausdrücklich ein dem epischen Vortrag beiwohnendes und ihm lauschendes Publikum beschwören, handelt es sich also gewiss um eine Reminiszenz der cantari, aber nicht unbedingt um eine ironische Distanzierung von einem als obsolet verstandenen Genus und dem ihm gemäßen Rezeptionsmodus.27 Gegen eine bloße Ironisierung scheint bereits die Rekurrenz dieser oralisierenden Apostrophen in fast der Hälfte aller congedi zu sprechen, durch die eine ironische Pointe schnell verschlissen wäre. Vor allem ist aber davon auszugehen, dass der Furioso (ebenso wie andere romanzi d’autore) tatsächlich regelmäßig öffentlich – vor höfi23

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Knoop 1996, S. 866: „[…] das laute Lesen (war) als Existenzform der geschriebenen Sprache gerade in den unteren Gesellschaftsschichten aber auch für bestimmte Textbereiche (Belletristik) noch lange nach dem Humanismus und auch über das 18. Jahrhundert hinaus gültig“. S. ferner Stein 2006, bes. S. 260f; Chartier 1990; Messerli/Chartier 2000; Vincent 2000. S. Cavicchi 2011, 248 ff. Ferner Beer 1987; Cabani 1988; Bruscagli 2003a; Roggero 2006. Personifiziert wird diese enge Beziehung von Francesco Cieco da Ferrara als zeitgenössisch prominentem cantastorie, der mit seinem Mambriano zweifellos einen Romanzo von elaborierter Literarizität verfasst hat. Zu Cieco s. Bertoni 1928; Penzenstadler 1987; Everson 2011. S. Haar 2004. S. Pigna, I Romanzi, ed. critica 1997, S. 165–166. Pigna nennt als Beispiel den Eröffnungsvers des 23. Gesangs der beiden ersten Fassungen des Furioso, in dem es heißt: „È gran contrasto in giovenil pensiero“; in der Fassung von 1532 wurde daraus, nunmehr im 25. Gesang: „Oh gran contrasto in giovenil pensiero“. Diese Auffassung vertritt indessen Klaus W. Hempfer, wenn er feststellt, die Thematisierung einer Vortragssituation im Furioso verweise „auf eine Rezeptionssituation, auf die sich der Text nurmehr zitierend bezieht, die ihm selbst aber nicht mehr entspricht.“ (Hempfer 2002 (11982), S. 90).

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schem ebenso wie vor einem breiteren Publikum – und auch privatissime vorgetragen wurde.28 Für Vorträge vor einem größeren Publikum konnten professionelle cantastorie engagiert werden, die Oktaven aus dem Furioso mit musikalischer Begleitung, zumeist mit der lira da braccio, einem Zupfinstrument, vortrugen; Papst Leo X etwa ließ sich eine solche Darbietung vier Dukaten kosten.29 Die Praxis privater Lesungen ist prominent bezeugt durch Isabella d’Este, die in einem Brief an ihren Bruder Ippolito davon berichtet, dass Ariost ihr persönlich, während sie im Kindbett lag, aus dem im Entstehen begriffenen Orlando furioso zu ihrem größten Vergnügen vorgelesen habe: „mi ha adduta gran satisfactione havendomi, cum la narratione de l’opera che ’l compone, facto passare questi due giorni, non solum senza fastidio, ma cum piacere grandissimo“.30 Es ist dies wohl das früheste der später so zahlreichen Rezeptionszeugnisse des Furioso, dessen Beurteilungsgrundlage in diesem Fall aber kein Manuskript oder gar der gedruckte Text ist, sondern ein mündlicher Vortrag durch den Autor selbst. Jene späteren und zum Teil weitaus elaborierteren Rezeptionszeugnisse, kontroverse Positionierungen im Kontext des sogenannten Romanzostreits, können ihrerseits an der ‚Reoralisierbarkeit‘ des Furioso und der dadurch begünstigten Diffusion in sozial niedrigere und illiterate Volksschichten entweder kritisch Anstoß nehmen oder daraus apologetisches Argumentationskapital schlagen. Letzteres besonders dezidiert in einer Intervention Giovanni Bardis, der gegen den kritisch gemeinten Einwand, die Verse von Ariosts Epos würden in Tavernen und Barbiersalons „gesungen“, die Kantabilität und Musikalität von Dichtung gerade als Prüfstein ihrer „perfettione“ oder Poetizität geltend macht und sich dabei auf den Erzpoeten Homer und die Archegeten der Dichtungslehre, u. a. Platon und Aristoteles, glaubt berufen zu können. Auf die rhetorische Frage, ob Ariost Tadel verdiene, weil seine Stanzen buchstäblich in aller Munde seien, antwortet Bardi:

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S. Haar 2004; Roggero 2006; Everson 2016. Auch Hempfer zieht die Praxis des Vorlesens in Betracht: „Wenn der Text nun einerseits seinen schriftlichen Charakter explizit macht, andererseits aber eine Vortragssituation impliziert, so entspräche dies, sieht man einmal von der ironischen Funktionalisierung ab, einer möglichen konkreten Rezeptionssituation, dem Vorlesen des Textes vor einer Zuhörerschaft […].“ (Hempfer 2002 (11982), S. 91) In der Folge kommt er gleichwohl zu dem Ergebnis, dass die im Text thematisierte Vortragssituation nur noch in „zitathaftem Bezug“ (ebd. S. 92) realisierbar sei. Mir scheinen die Relevanz und Funktion der Auditoriumsapostrophen und anderer ‚Oralitätsindikatoren‘ damit aber unterschätzt (wie auch bei Durling, auf den sich Hempfer hier bezieht), was sich nicht zuletzt darin äußert, dass Hempfer den „schriftlichen Charakter“ des Textes explizit gemacht sieht, während die Vortragssituation nur impliziert sei, während sie tatsächlich, wie gesehen, ebenso ausdrücklich und zugleich viel häufiger in Anspruch genommen wird. Wie in der Folge noch deutlich werden soll, geht es mir hier allerdings nicht nur darum, die ‚oralisierenden‘ Elemente des narrativen Diskurses im Furioso mit einer – nicht nur fakultativen und inadäquaten oder uneigentlichen, wie Hempfer anzunehmen scheint – textexternen Pragmatik in Verbindung zu bringen, sondern zu zeigen, wie die für orale Kommunikation konstitutiven Präsenzrelationen, die im Furioso unentwegt beschworen oder behauptet werden, auf die Struktur des (schriftlichen) Textes durchschlagen. S. Cavicchi 2011, S. 286. Brief vom 3. Februar 1507 (zit. nach Everson 2016, S. 210).

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1 Mündlichkeit, Schriftlichkeit, paradoxe Evidenzen No, di vero siccome né ancora merita biasimo l’Ariosto perché se bene alcune sue stanze son cantate sulla cetera da gente basse sono ancor cantate da uomini nobili di molto sapere, lo che è chiaro segno della lor perfettione, hor chi non sa che tutte le poesie son fatte per cantarsi e che più merita loda la poesia fatta in versi che in prosa per esser in essa il verso, il ritmo e il suono conforme alla musica, che secondo Platone, Aristotile, Aristosseno, Vetruvio, Tolomeo, Boetio essa musica non è altro che verso ritmo e suono. […] Essendo adunque cantati li versi dell’Ariosto da uomini volgari ci dà segno che sono tanto pieni di ritmo, e di suono che tirano per forza ciascuno che li legge a imparare a mente per cantarli, chiaro segno della loro perfettione […].31

Die gelehrte Stellungnahme Bardis ebenso wie die vielfach bezeugten zeitgenössischen Praktiken oral-auraler Rezeption, Diffusion und Transformation machen diktionale Qualitäten des Furioso geltend, die ihm strukturinhärent sind und die überhaupt nur im oralen und gegebenenfalls musikalischen Vortrag aktualisierbar sind, während sie bei stummer Lektüre eben gleichfalls ‚stumm‘ bleiben. Die eine orale Präsenzrelation zum Publikum beschwörenden Adressatenansprachen in Proömien und congedi können also einerseits als skriptoraler Reflex dieser etablierten Praxis ‚performativer‘ Textverwendung verstanden werden bzw. als Antizipation einer solchen Verwendung, andererseits als an die lesenden Rezipienten gerichtete implizite Aufforderung, des musikalisch-auditiven Potentials, das dem metrisierten und versifizierten narrativen Diskurs ab origine eingeschrieben ist, und damit zugleich der Defizite stiller Lektüre gewahr zu sein.32 31

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In difesa dell’Ariosto, letto all’Accademia degli Alterati il 24 febbraio 1583, zit. n. Cavicchi 2011, S. 286 f. Zu Bardis difesa s. auch Haar 2004. Mit ähnlichem Tenor, wenngleich ohne poetologische Rechtfertigung, berichtet auch Bernardo Tasso in einem Brief an Giraldi Cinzio, dass die Verse Ariosts überall gesungen werden: „Non sentite voi tutto dì per le strade, per li campi, andarle cantando?“ Zit. n. Sangirardi 2006, S. 239. Montaigne fällt in seinem italienischen Reisejournal, neben der Beobachtung, dass das Volk auch am Sonntag auf dem Feld arbeite, als besonders charakteristisch auf: „de voir ces paysans un luth à la main, et de leur côté les bergères, ayant l’Arioste dans la memoire: mais c’est ce qu’on voit dans toute l’Italie.“ (Montaigne 1962, S. 1297) Diesen Beispielen lassen sich zahlreiche analoge Äußerungen von Torquato Tasso und Malatesta bis hin zu solchen aus dem 19. Jahrhundert an die Seite stellen. S. hierzu Roggero 2006. Zur strukturinhärenten „tensione musicale“ des Furioso und zur „musicalità dell’ottava“ s. Ferroni 2008, S. 216 f. bzw. Sangirardi 2006, S. 180 f. De Sanctis spricht von der „onda musicale“ der Ariostschen Oktaven (De Sanctis 1971, Bd. 2, S. 519). Die musikalisch-performativen Qualitäten des Furioso haben einen eigenen Rezeptionspfad begründet, der sich von dem ‚literarischen‘ schon früh abgelöst hat. Aus dem 16. Jahrhundert sind über 600 MadrigalKompositionen über Stanzen des Furioso überliefert (s. Einstein 1950–51). Beteiligt sind praktisch alle bedeutenden Komponisten der Epoche, von Orlando di Lasso und Palestrina bis zu William Byrd. Zur oralen und musikalischen performance von Dichtung im Cinquecento, namentlich des Orlando furioso, siehe Balsano (Hg.) 1981; Haar 2004; Cavicchi 2011; Richardson 2014. Zu den Verhältnissen im Ferrara des 15. Jahrhunderts s. Lockwood 1984. Zu Theatralisierungen des Furioso im 16. und 17. Jahrhundert sowohl im dramma per musica wie im Sprechtheater s. Döring 1973; Marangoni 2002; Scott 2003; Mariti 2004; D’Amico 2015. Die kantable und musikalische Dimension des Textes und generell seine ‚performativen‘ Qualitäten sind insgesamt unter literaturwissenschaftlicher Perspektive wohl eher unterschätzt worden; zur Kritik an diesem ‚blinden Fleck‘ s. Anderson 2017, bes. S. 12–21. Unterschätzt worden ist damit auch eine Rezeption, die nicht auf diskursivierbare Gehalte zielt, auch nicht unbedingt auf Belustigung, sondern auf Affektstimulation, auf sinnlichen Genuss, auf Zerstreu-

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Dem Orlando furioso klangliche, kantable Qualitäten zu attestieren, die ausschließlich im oralen Vortrag zu realisieren sind, soll selbstverständlich nicht in Frage stellen, dass man es bei Ariosts Epos zugleich mit hochorganisierter „konzeptioneller“ Schriftlichkeit zu tun hat, die nicht ohne Verlust an Informationsdichte in das Medium gesprochener Sprache transponiert werden kann.33 Allein die komprimierte und raffinierte Intertextualität des Furioso als eine seiner zentralen Bedeutungskonstituenten müsste selbst bei einem literarisch kompetenten Publikum von maximaler Konzentrationsfähigkeit und -bereitschaft zum großen Teil unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ausschließlich auditiver Rezeption bleiben. Dies gilt erst recht für eine komplexe intratextuelle Paradigmatik auf mikro- wie auf makrostruktureller Ebene, die auch weit auseinanderliegende Textteile miteinander in Beziehung setzt und so eine Kohärenzstruktur oder Isotopie konstituiert, die über die mündliche Vortragseinheit eines Canto weit hinausgeht und die nur über die Lektüre oder sogar wiederholte Lektüren aktualisierbar wird.34 Der Furioso ist also ein

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ung, die Wonnen des Wohlklangs usw. Das verlorengegangene oder defizitäre Sensorium für die klangliche und kantable Dimension von Dichtung dürfte ein nicht unwesentlicher Grund dafür sein, dass Texte wie der Furioso oder andere Versepen wie Tassos Gerusalemme liberata oder Miltons Paradise Lost aus dem weltliterarischen Kanon, dem sie einmal selbstverständlich angehörten, mehr oder weniger herausgefallen sind (zu einem weiteren Grund, spezifisch den Furioso betreffend, s. unten S. 188, A. 420). Wirksam wird hier wohl auch das ‚realistische‘ Dogma, dass Erzählungen ihre Wahrheitsnähe zu beglaubigen hätten durch eine Sprache, die sich von lebensweltlicher Prosa nicht allzu sehr entfernt und in diese konvertierbar bleibt; ‚Verserzählung‘ ist vor diesem Hintergrund fast schon eine contradictio in adiecto und Versifikation und Metrisierung gelten selber bereits als ein – in diesem Fall unerwünschtes – Fiktionssignal. Bezeichnend sind die Versuche, dem Furioso durch Nacherzählungen in Prosa ein Überleben zu sichern. Vorreiter war hier Italo Calvino, in dessen Orlando furioso (1970) die originalen Oktaven Ariosts zumindest in längeren Auszügen noch erhalten bleiben. Die englische Nachdichtung des Furioso von Guido Waldman (1974) und die deutsche von Thomas R. Mielke (2002) sind dagegen vollständig in Prosa gehalten. Namentlich letztere richtet sich wohl nicht zuletzt an Anhänger der Fantasy-Literatur, in deren Kreisen der Furioso – vermutlich ohne tatsächlich gelesen zu werden – einen diskreten Ruhm als eine Art Architext der Gattung genießt, der seine Spuren in deren Großwerken, vom Herrn der Ringe bis zu Harry Potter, hinterlassen habe. S. hierzu die kleine Fallstudie von Stefano Jossa (Jossa 2016a). Ich beabsichtige, diesen hier nur angedeuteten Aspekten in einem eigenen Aufsatz nachzugehen. Zum Begriff der „konzeptionellen“ Schriftlichkeit s. Koch/Oesterreicher 1985. Die beiden Autoren unterscheiden konzeptionelle von medialer (d. h. auf den Gegensatz ‚graphisch‘ – ‚phonisch‘ zu reduzierender) Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit im Kontext ihrer geläufig gewordenen Gegenüberstellung einer „Sprache der Nähe“ und einer „Sprache der Distanz“, die jeweils primär mit mündlichen respektive schriftlichen Äußerungsformen assoziiert sind. Die Unterscheidung „konzeptionell-medial“ soll aber die dichotomische Relationierung beider Äußerungsformen zugunsten ihrer Skalierung in einem Kontinuum auflösen. Die konzeptionelle Dimension von mündlicher Rede zielt auf jene Äußerungsaspekte, die der Herstellung von kommunikativer Nähe dienen, die konzeptionelle Dimension schriftlicher Texte betrifft dementsprechend die Ausgestaltung kommunikativer Distanz. Mündliche Rede kann aber auch distanzsprachliche Elemente enthalten, während umgekehrt schriftliche Texte, namentlich bestimmte Textsorten wie Brief und Essay, wie aber auch am Furioso zu sehen, nähesprachliche Strategien verfolgen können. Auf diese sehr spezifische und mit der Erzählweise des entrelacement zusammenhängende Paradigmatik komme ich später (Kap. 4) eingehend zurück. Das Erinnerungsvermögen des

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Text, der sowohl gelesen wie auch gehört werden will, bei dem aber wesentliche Textschichten sowohl in dem einen wie dem anderen Rezeptionsmodus virtuell oder stumm bleiben, so dass beide Modi einander komplementär sind. Damit kann aber auch jene zunächst irritierende Interferenz von manifester und programmatisch deklarierter Schriftlichkeit und prätendierter Oralität des Adressatenbezuges im Proömium, in den congedi und an anderen Textstellen plausibel erscheinen. Die Präsenzfiktion dieser Textstellen ist nicht nur als Zitation der cantari und ihrer oralen Erzählperformance zu verstehen, sondern auch und vor allem als durchaus affirmative Reminiszenz eines realpragmatischen Umgangs mit dem Text, einer Praxis, in der sich seit den chansons de geste und auch dem höfischen Roman etablierte Rezeptionsweisen von Texten fortsetzen, die sich bereits im 13. Jahrhundert untereinander hinsichtlich ihres Grades an konzeptioneller Schriftlichkeit deutlich unterscheiden.35

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Lesers/Hörers, das durch diese Erzählweise in besonderem Maße herausgefordert wird, kann zuweilen explizit beschworen werden, bei Boiardo häufiger als bei Ariost, z. B.: „Come doveti aver nella memoria“ (O. I. I, XXI, 37, 7). S. hierzu, mit weiteren Beispielen, Delcorno Branca 1973, S. 37 f. Bei Ariost kommt ein solcher Appell zu offenkundig ironischem Einsatz, wenn der Rezipient aufgefordert wird, sich an eine Szene oder Mini-Episode zu erinnern („sì come io narrai di sopra“; O. F. XXIX, 58), die zehn Gesänge oder über eintausend (!) Oktaven zuvor und auch nur höchst lakonisch, über gerade sieben Verszeilen hinweg, berichtet worden war; die Funktionalität dieses Rückverweises darf man damit wohl, jedenfalls wenn man einen mündlichen Vortrag voraussetzt, für ad absurdum geführt halten. Näheres hierzu in Kapitel 5. Laut Dennis Green gibt es „bis Ende des 12. Jahrhunderts […] nur vereinzelte, verstreute Hinweise auf den möglichen Leser neben dem Zuhörer, aber um diese Zeit beginnen sich die Belege zu häufen.“ (Green 1990, S. 69) Für den höfischen Roman des 13. Jahrhunderts, so Green weiter, sei schließlich eine doppelte Adressatenorientierung, eine dem Text eingeschriebene Antizipation mündlicher wie schriftlicher Rezeption zu konstatieren (ebd.). S. hierzu auch Ernst 1997; Ridder 2002 sowie Schaefer 2004. Zur wechselnden Adressierung der Rezipienten als Leser oder Hörer im Lancelot-Gral-Zyklus, insbesondere in der Estoire del Saint Graal, s. ferner Chase 1994. Wenn Klaus Ridder mit Bezug auf mittelalterliche Autoren von Epen (v. a. Chrétien) feststellt, dass diese „das Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den epischen Texten“ inszenieren (Ridder 2002, S. 30), scheinen damit auch noch die Verhältnisse im Furioso angemessen beschrieben zu sein. Allerdings interpretiert Ridder die fingierte Oralität mittelalterlicher Erzähltexte ausschließlich als Fiktionssignal; es gehe den Autoren dieser Texte gerade nicht darum „die Vortragssituation in den Text hineinzuspiegeln“ (ebd. S. 31). Angesichts der epochalen Dominanz mündlicher Dichtungsrezeption, die Ridder selbst konstatiert („Nicht die Nachahmung von kulturhistorisch dominanter Mündlichkeit steht im Blickpunkt, sondern die diskursive Offenlegung der eigenen Rolle und der Bedingungen literarischer Kommunikation.“ Ebd. S. 34) erscheint mir seine These als zumindest einseitig, wenn nicht fragwürdig und vielleicht zu sehr von einer dichotomischen Relationierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bestimmt, wie sie Koch und Oesterreicher (s. o. A. 33) sowohl unter systematischer wie unter historischer Perspektive als inadäquat nachgewiesen haben. Abgesehen davon stellt sich im Falle des Furioso die Fiktionsproblematik ohnehin insofern anders, als es Ariost nicht mehr – wie laut Ridder dem mittelalterlichen Autor – darum gehen muss, überhaupt ein Fiktionalitätsbewusstsein zu etablieren, sondern er vielmehr, wie ich in der Folge zeigen will, systematisch daran arbeitet, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterlaufen oder zu verschleifen, und dies in der Tat auch als Funktion einer medialen Ambiguisierung seines Textes. Den grundlegenden Unterschied zwischen der fingierten Oralität

1.2 Erzählen „con penna e con inchiostro“ und die Präsenz der Geschichte

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1.2 ERZÄHLEN „CON PENNA E CON INCHIOSTRO“ UND DIE PRÄSENZ DER GESCHICHTE Wenn ich zuvor eine strukturrelevante und affirmative und nicht nur ironisch-zitative Funktion oraler oder sogar kantabler Elemente im narrativen Diskurs des Furioso geltend gemacht habe, dann zum einen deshalb, weil es sich dabei um die Textualisierung einer relevanten und angemessenen Rezeptionspraxis handelt – einer Rezeptionspraxis mithin, die nicht nur realiter ‚auch vorkommt‘, also kontingent oder akzidentell und trivial wäre und dem Text letztlich nicht gerecht werden würde, sondern die im Gegenteil bestimmte Qualitäten des Textes überhaupt erst adäquat zu aktualisieren vermag. Darüber hinaus geht es mir aber noch um etwas anderes: Ich möchte in der Folge einsichtig machen, dass die Kopräsenz von Sprecher und Hörer, die in den congedi des Furioso und an anderen Textstellen für die textexterne Pragmatik in Anspruch genommen wird, in Ariosts Romanzo zum Paradigma von Kommunikation und Interaktion überhaupt avanciert, indem die für orale Kommunikation konstitutiven Präsenzrelationen auch für die schriftliche Kommunikation gültig sein sollen, und dies über logische, pragmatische und von letzteren repräsentierte ‚ontologische‘ Grenzen hinweg. Anders gesagt: Die fingierte oder prätendierte Oralität und die mit ihr assoziierte Relation kommunikativer Nähe, die einerseits auf die generische Vorgeschichte (cantari) verweisen, andererseits eine nach wie vor aktuelle und nicht-kontingente Rezeptionspraxis textualisieren, fungieren zugleich als eine Art diskursives Milieu, in dem die Nivellierung pragmatischer Niveaus im Sinne ihrer Simultaneisierung als eine naheliegende Möglichkeit erscheint. Die Auditoriumsapostrophen, für die ich zuvor einige Beispiele gegeben habe, ließen sich, wie gesagt, als textualisierte Antizipation bzw. ‚Spiegelung‘ einer Rezitationsperformance vor anwesenden Zuhörern für plausibel und ‚legitim‘ halten. Dies gilt jedoch nicht mehr von gewissen autoreflexiven und die Medialität des Diskurses thematisierenden Textpassagen, die hier bislang noch nicht berücksichtigt wurden und bei denen an die Stelle der Fiktion einer mündlichen Erzählperformance die weitaus gewagtere Fiktion eines ‚performativen‘ Schreibens tritt. In den congedi wird auf die schriftliche Konstitution des Textes, die in der dedicatio des Proömiums proklamiert worden war („opera d’inchiostro“), allerdings nur an zwei Stellen explizit Bezug genommen. Dabei ist die erste dieser Stellen, an der es kurz und bündig heißt – Quel che seguì, ne l’altro canto è scritto. (O. F. VIII, 91, 8)

des höfischen Romans und des Furioso würde ich aber darin vermuten, dass im ersteren die Adressierung eines hörenden Publikums mit einer real möglichen textexternen Pragmatik abgleichbar bleibt, während im letzteren – wie ich ebenfalls im Folgenden zeigen möchte – die Simultaneitätsrelation von Textproduktion und Textrezeption darüber hinaus auch für den schriftlichen Text und schließlich für die Relation der erzählenden zur erzählten Welt gelten soll und damit paradoxalisiert wird. Dies wäre aber in der Gegenüberstellung mit konkreten mittelalterlichen Texten zu überprüfen.

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– unproblematisch und ohne weiteres vereinbar mit den Hörerapostrophen der anderen congedi, insoweit sie als Bezugnahme auf einen bereits geschriebenen Text verstanden werden kann, der bei nächster Gelegenheit mündlich vorgetragen werden soll. Mit dem zweiten dieser congedi ändern sich die Verhältnisse allerdings grundlegend; in ihm wird, ohne dass die Fiktion einer Kopräsenz von Sender und Empfänger, Erzähler und Adressat aufgekündigt worden wäre, nicht auf einen bereits geschriebenen und noch zu rezitierenden Text Bezug genommen, sondern auf den Akt skripturaler Textproduktion, der schriftlichen Hervorbringung der Erzählung selbst: Poi che da tutti i lati ho pieno il foglio, finire il canto, e riposar mi voglio. (O. F. XXXIII, 128, 7–8)

Unterstellt wird damit also eine Präsenzrelation, bei welcher der Schreibakt sich in Anwesenheit, vor den Augen der vorwiegend als Hörer konzipierten Rezipienten vollziehen soll – als eine Schreibperformance: In diesem congedo ist der Bezug auf die Vortragssituation ersetzt durch eine Thematisierung des Schreibakts. Der Erzähler – nicht der Autor – weist dabei den Textkonstitutionsprozess als einen sich ad hoc vollziehenden aus, d. h. thematisiert wird nicht nur die Schriftlichkeit des Textes, sondern der Textkonstitutionsprozess wird darüber hinaus als ein performativer Akt stilisiert, den der implizite Rezipient unmittelbar miterlebt.36

In anderen generischen Kontexten könnte die Reflexion der Textgenese als ein sich ‚performativ‘ vollziehender Schreibakt ohne weiteres akzeptabel und ‚unanstößig‘ sein – im Brief etwa, aber auch im Essay Montaignescher Observanz, in dem die intime ‚Dialogizität‘ epistolarer Kommunikation gleichsam internalisiert sein und der ‚Sender‘ zugleich als ‚Empfänger‘ der schriftlichen Äußerung erscheinen kann.37 In einer epischen Erzählung hingegen, namentlich an einer Textstelle, die konventionell der Ansprache eines Auditoriums vorbehalten ist, wirkt ein solcher Bezug auf die schriftliche Textkonstitution als simultan zur Rezeption des Textes sich vollziehend in hohem Maße irregulär, um nicht zu sagen paradox; die Oralitätsfiktion, die der Text zuvor etabliert hat und die er immer wieder erneuert, ist damit jedenfalls durchbrochen. In den congedi begegnet die Konstellation eines ‚performativen‘ Schreibens nur dieses eine Mal. Es gibt aber weitere Textpassagen, an denen der Schreibakt noch ungleich pointierter als Moment der Hervorbringung des Textes, als sein status nascendi herausgestellt und zugleich die Paradoxalität dieser Konstellation durch ihre semantischen Effekte kenntlich wird. Noch relativ diskret in dem folgenden Beispiel: Deh perché a muover men son io la penna, che quelle genti a muover l’arme pronte? che ’l re di Sarza, pien d’ira e di sdegno, grida e bestemmia, e non può star a segno. (O. F. XIV, 108, 5–8) 36 37

Hempfer 2002 (11982), S. 91. „Je parle au papier comme je parle aux premier que je rencontre.“ (Montaigne 1962, S. 767; Essais III, 1). S. hierzu Friedrich 1967 (11949), S. 327–337; Häsner 2006, v. a. S. 162 u. S. 172 f.

1.2 Erzählen „con penna e con inchiostro“ und die Präsenz der Geschichte

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Diese Stelle steht im Kontext der Schlacht um das belagerte Paris. Zwar gelingt es dem Kaiser Karl in dieser langen, über mehrere Gesänge (XIV–XVIII) sich erstreckenden und von zahlreichen Parallelhandlungen unterbrochenen Sequenz, trotz Abwesenheit seiner beiden wichtigsten Paladine Orlando und Rinaldo die überlegenen maurischen Truppen des Königs Agramante zurückzuschlagen, nicht aber den monströsen Rodomonte aufzuhalten, den „re di Sarza“, der sich anschickt, ganz alleine halb Paris abzuschlachten. Die Schreibfeder erscheint in diesen Versen ausdrücklich als das Werkzeug narrativen Berichtens, genauer gesagt, der schriftlichen Protokollierung des sich offenkundig vor den Augen des Berichterstatters vollziehenden Geschehens. Während in den früheren Beispielen eine Gleichzeitigkeit von Textproduktion bzw. -rezitation und Rezeption behauptet wurde, wird man diese, nachdem die oral-aurale Kommunikationssituation einmal als dominante Adressatenorientierung etabliert worden ist, im letzten Beispiel immerhin noch als impliziert ansetzen können. Im Vordergrund steht jetzt aber die ungleich größere logische Zumutung einer Simultaneität von schriftlichem Erzählakt und erzähltem Geschehen. Dabei sieht sich der Erzähler allerdings der Rasanz und vielleicht auch dem Horror der zu berichtenden Ereignisse nicht gewachsen. Die Dinge passieren zu schnell – es handelt sich um eben jene Begebenheiten, deren Report den Erzähler in dem früheren Beispiel (O. F. XIV, 134, 7–8; s. oben S. 23) haben heiser werden lassen –, als dass ihnen der schreibende Chronist und seine Feder noch folgen könnten. Nur unter Vorbehalt ließe sich diese Passage den Verfahren einer rhetorischen oder epischen subiectio ad oculos zurechnen, wie sie in der Rhetorik seit Cicero unter die Kategorie der evidentia gefasst werden. Benannt sind damit unterschiedliche Stilmittel, die darauf zielen, die affektive Teilhabe des Publikums am Berichteten zu stimulieren oder zu steigern. Jan Dirk Müller spricht von der evidentia als einer „Fiktion, die Präsenzeffekte auslösen soll“.38 So stehen, als ein ‚klassisches‘ Beispiel, in der Aeneis lange Sequenzen im historischen Präsens als Tempus narrativer Vergegenwärtigung.39 Bei Quintilian, von dem die ausführlichste Behandlung der evidentia in der Antike stammt, wird u. a. die Figur der hypotyposis unterschieden, mit der „ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so wie er geschehen ist, vorgeführt wird“.40 Milde getadelt wird von Quintilian hingegen die Übertreibung des Verfahrens, die ein Geschehen so „handfest“ (manifestius) präsentiert, als werde es nicht erzählt, sondern vor den Augen des Publikums aufgeführt.41 Die hier besprochene Stelle aus dem Furioso unterscheidet sich aber von 38 39

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Müller 2007, S. 62. Typische Evidentialisierungen in der Aeneis: „migrantis cernas totaque ex urbe ruentis“ (Aeneis, IV, 402). Oder: „Qui (i. e. Latini) sibi iam requiem pugnae rebusque salutem / sperabant, nunc arma volunt foedusque precantur / infectum et Turni sortem miserantur iniquam.“ (Ebd., XII, 241–43) Vollständig lautet die Stelle bei Quintilian: „Illa vero, ut ait Cicero, sub oculos subiecto tum fieri solet, cum res non gesta indicatur, sed ut sit gesta ostenditur, nec universa, sed per partis […].“ (Quintilian, Inst. orat. IX, 2, 40). Zur evidentia s. ferner Lausberg 1960, S. 399 f. (§ 810) u. Ueding (Hg.) 1996, Bd. 3, S. 33–47. Zur evidentia in der mittelalterlichen Poetik s. Reich 2013. „[…] habet haec figura manifestius aliquid: non enim narrari res, sed agi videtur.“ (Quintilian, Inst. orat. IX, 2, 43.

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den mehr oder weniger konventionalisierten Formen der evidentia durch ihre prononcierte Autoreflexivität und vor allem durch die mediale Konkretisierung des Berichts- oder Erzählakts als einen schriftlichen, durch die jegliche Imagination einer Präsenz des erzählten Geschehens erheblich gestört wird. Während der Chronist und sein Schreibgerät an dieser Textstelle von ihrer Aufgabe überfordert zu sein scheinen – ein Unvermögen, das durch die Kontrastierung von muovere la penna und muovere l’arme vielleicht noch unterstrichen werden soll – ist in dem folgenden Beispiel, das nun keiner kodifizierten Praxis epischer Evidentialisierung noch entspricht, die Rolle des Erzählers und seiner Feder dagegen eine insofern deutlich überlegene, als es jetzt nicht mehr um das bloße Notieren von Ereignissen mittels des Schreibgeräts geht, sondern um deren Generierung, um ihre skriptorale Poiesis, wenn man so will: Die Schreibfeder wird zu einem Werkzeug von geradezu magischer Wirkkraft, wird zum Zauberstab. Evidentialisierung steht nicht mehr im Zeichen der Empathiesteigerung oder der Intensivierung mentaler Bilder, sondern der Disponibilität, der Verfügbarmachung des erzählten oder noch zu erzählenden Geschehens. Dabei werden nicht nur manifeste akustische und visuelle Kommunikationskanäle zwischen erzählender und erzählter Welt und die Möglichkeit unmittelbarer Interaktion zwischen Erzähler und Figur beansprucht, sondern letztere soll sogar zu einer Art pirandelloschem Figurenbewusstsein avant la lettre gelangt sein: Di questo altrove io vo’ rendervi conto; ch’ad un gran duca è forza ch’io riguardi, il qual mi grida e di lontano accenna, e priega ch’io nol lasci ne la penna. Gli è tempo ch’io ritorni ove lasciai l’aventuroso Astolfo d’Inghilterra, che ’l lungo esilio avendo in odio ormai, di desiderio ardea che la sua terra; (O. F. XV, 9, 5–10, 4)

Mit dem „gran duca“ ist Astolfo gemeint, eine der prominenteren Figuren des Furioso und ein eher buffonesker Charakter, der aber im weiteren Verlauf der Handlung als Werkzeug der Vorsehung eine entscheidende Rolle bei der Heilung Orlandos von seinem Liebeswahn spielen wird.42 Dieser Figur wird in den zitierten Versen ein Wissen darüber zugeschrieben, nur im Seinsmodus einer Erzählung zu existieren. Wird sie nicht erzählt, ist ihr Sein gleichsam arretiert und eingesperrt in der als Reservoir narrativer Möglichkeiten gedachten Schreibfeder. Arretiert und zur Immobilität verurteilt – allerdings nicht ausgelöscht, denn zwar wird die Figur in dieser Konstellation unzweideutig als Kreatur des Erzählers kenntlich, doch soll sie zugleich über ein Selbstbewusstsein verfügen, das ihre Determiniertheit als bloßes être de papier gleichsam transzendiert, sie zum pirandelloschen „personaggio senza autore“ macht und ihr erlaubt, ihren Schöpfer als solchen zu konzipieren, sich ihm protestierend bemerkbar zu machen und Bitten oder Gebete („priega“) an ihn zu richten.43 Die 42 43

S. hierzu das folgende Kapitel. Tatsächlich weiß Pirandellos personaggio zwar um seinen artefaktiellen Seinsmodus, anders als Ariosts Astolfo jedoch nie, dass es ein Element eben des Textes ist, in dem sich dieses Bewusstsein artikuliert. Die ‚performative‘ Koinzidenz (oder Simultaneität) von Sprechakt und

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Schöpfungsmacht des Erzählers ist also begrenzt oder vielmehr ist sie so substantiell, dass sie sich noch ihren eigenen Effekten fügen – in diesem Fall: die Gebete ihrer Figur erhören, den Wünschen ihrer Kreatur nachkommen muss. Mit der ebenso lakonischen wie prägnanten Metalepse deutet sich die später, in moderner und postmoderner Narrativik, zuweilen in Textumfang aktualisierte Möglichkeit an, eine intradiegetische Figur die extradiegetische Ebene usurpieren und selbst zur Diskursinstanz werden zu lassen.44 Hier indessen handelt es sich um eine für den Romanzo typische formelhafte Prozedur – in freilich untypischer und die Stereotypie der Formularik aufsprengender Variation –, mit der eine Geschehenssequenz, die an früherer Stelle im Text unterbrochen worden war, wieder aufgenommen und fortgeführt wird. Von Astolfo war zuletzt am Ausgang der Episode um Alcina und Logistilla die Rede gewesen (O. F. X, 65), wo der Erzähler ihn ‚zurückgelassen‘ („lasciai“) hatte, um zunächst von Ruggiero und anschließend von Orlando zu erzählen und schließlich von der Schlacht um Paris zu berichten, deren Schilderung jetzt, also an der zitierten Stelle, zugunsten Astolfos unterbrochen wird, um dann im folgenden Gesang wieder aufgenommen zu werden. Ich komme auf diese in der Forschung als entrelacement bezeichnete Erzählweise, die in dem angeführten Beispiel auf recht spektakuläre Weise variiert und letztlich transformiert wird, in Kapitel 4 ausführlich zurück. Festgehalten werden soll hier zunächst, dass auch in diesen Versen eine Präsenzrelation in Anspruch genommen wird, eine Gleichzeitigkeit nicht nur von Textproduktion und -rezeption (diese bleibt impliziert), sondern von Erzählakt und erzähltem Geschehen, wobei der Erzählakt mit besonderer Emphase als ein schriftlicher akzentuiert wird und die Schreibfeder gleichsam als Füllhorn, als magisches Gefäß der noch zu erzählenden Begebenheiten erscheint, die erst dann geschehen, wenn sie erzählt, also aus dem Gefäß entlassen werden. Die technischen Utensilien eines als ‚Schriftsteller‘ konkretisierten epischen Dichters werden auch in dem folgenden Textbeispiel aufgerufen, und wiederum nicht nur als bloße Instrumente der Zeichenfixierung, sondern als Werkzeuge der narrativen Erzeugung von Welten und, wenn es sein muss, auch von deren nachträglicher Revision und Verbesserung. Der Zusammenhang und das Wechselspiel von Autonomie der histoire bei gleichzeitiger Determiniertheit durch den narratori-

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referenziertem Ereignis oder Objekt fehlt hier also. Dies gilt sowohl für die narrative (Tragedia d’un personaggio, 1911) wie auch für die dramatische (Sei personaggi in cerca d’un autore, 1921) Verarbeitung dieses Figurenkonzepts. S. hierzu Häsner 2005, S. 81–87. Als Beispiel nenne ich hier nur At-Swim-Two-Birds (1939) von Flann O’Brian, ein Roman, in dem die erzählten Figuren sich in Zeiten unfreiwilliger Muße, d. h. wenn sie gerade nicht erzählt und deshalb, damit sie sich keinen Ausschweifungen hingeben, vom Autor eingesperrt werden, an demselben sich rächen, indem sie ihn ihrerseits in unvorteilhafter Weise erzählerisch traktieren. Natürlich gibt es zuvor schon Romane und andere Erzähltexte – etwa der Traditionslinie Sterne-Diderot-Jean Paul-E. T. A Hoffmann – mit Figuren, die wissen, dass sie gelesen werden und sich deshalb bemühen, die Leser nicht zu langweilen usw. S. hierzu Häsner 2005, S. 72–81, am Beispiel von Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Ariost bzw. der italienische Romanzo überhaupt dürften für diese extravaganten Erzählweisen ein unmittelbarer, nicht nur über Cervantes Don Quijote (in dem es im Übrigen kein Figurenbewusstsein gibt; s. hierzu Häsner 2005, S. 98) vermittelter Anknüpfungspunkt gewesen sein, wenngleich diesem Zusammenhang meines Wissens noch nachzugehen wäre.

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alen Akt werden in dieser Passage besonders anschaulich. Der Erzähler sieht sich durch das Fehlverhalten einer Figur genötigt, in strafendem Zorn und gewissermaßen aus erzieherischen Gründen den Fortgang der Geschichte zu Ungunsten dieser Figur zu modifizieren; nach dezidiert misogynen Äußerungen eines sarazenischen Ritters wendet er sich in dem Proömium des nachfolgenden canto, vorgeblich empört ob des unhöfischen Gebarens seiner Figur, an die „donne gentil“ unter seinem Publikum und beteuert: […] per quel ch’a biasmo vostro parlò contra il dover, sì offeso sono, che sin che col suo mal non gli dimostro quanto abbia fatto error, non gli perdono. Io farò sì con penna e con inchiostro, ch’ognun vedrà che gli era utile e buono aver taciuto, e mordersi anco poi prima la lingua che dir mal di voi. (O. F. XXIX, 2, 1–8)

Auch hier geht es um Rodomonte, den „re di Sarza“, von dem bereits die Rede war, diesmal jedoch in der Rolle des verschmähten Liebhabers. Nachdem er von seiner Geliebten Doralice zugunsten des Rivalen Mandricardo verlassen wurde, ergeht er sich in einer zornigen Tirade gegen das weibliche Geschlecht („o scelerato sesso, al mondo per una soma, per un grave fio“; O. F. XXVII, 119, 2–3), eben jenem „parlare contra il dover“, für das der Erzähler im zitierten Proömium des übernächsten Gesangs Rodomonte zu strafen ankündigt.45 Wiederum wird unterstellt, Erzählvorgang und erzähltes Geschehen vollzögen sich gleichzeitig. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Geschichte, die als erzählte eigentlich vergangen und abgeschlossen sein sollte, sowohl Disponibilität wie auch Autonomie zugeschrieben werden: Autonomie, da sie sich auf eine Weise entwickelt oder vielmehr eine ihrer zentralen Figuren auf eine Weise sich verhalten hat, die der Erzähler zu missbilligen vorgibt und für die er sich bei seinem weiblichen Publikum entschuldigt; Disponibilität, insofern er zugleich ankündigt, diese Figur dafür zu bestrafen, indem er ihr „mit Feder und Tinte“ ein Schicksal bereitet, das sie wünschen ließe, sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen als schlecht von den Frauen zu reden.46 Wie schon in den zuvor zitierten, Astolfo geltenden Versen wird der erzählten Welt und ihrem Perso45 46

Auf den Kontext von Rodomontes Tirade, der selbst eine paradoxe Simultaneitätsrelation und einen massiven und aufschlussreichen Fiktionsbruch konstituiert, komme ich in Kapitel 5 ausführlich zurück. Am Ende desselben Gesangs lässt sich der Erzähler seinerseits zu aggressiven misogynen Ausfällen hinreißen, die z. T. verbatim ein Echo jenes „parlare contra il dover“ Rodomontes sind. Im Proömium des nachfolgenden 30. Gesangs gibt er sich deswegen zerknirscht und bittet die donne um Verzeihung: Als seinerseits zurückgewiesener Liebhaber sei er wie der dem Liebeswahn verfallene Orlando von seinen Affekten überwältigt worden. Auch damit wird also eine Präsenzrelation zum Publikum unterstellt, insofern für den schriftlichen Diskurs die Spontaneität und vor allem die Irreversibilität mündlicher Rede („quel c’ha detto, non può far non detto“; O. F. XXX, 2, 8) in Anspruch genommen wird, ein Anspruch, dessen Glaubwürdigkeit durch die manifeste und zu Beginn des vorangegangenen Gesangs explizit gemachte („con penna e con inchiostro“) Schriftlichkeit des Diskurses dementiert wird.

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nal ein paradoxaler ‚ontologischer‘ Status zugeschrieben: Die Geschichte bzw. ihre Figuren werden zwar als Konstrukte des Erzählers oder als ihm ‚aus der Feder fließende‘ Kreaturen kenntlich, sollen aber zugleich über, wenn auch begrenzte, Autonomie und Willensfreiheit verfügen: In einem der beiden Beispiele fordert eine Figur im vollen Bewusstsein ihrer nur erzählten Seinsweise die narrative Zuwendung ihres Schöpfers ein, in dem anderen vermag die Figur anscheinend der Kontrolle des Autors sich mindestens temporär zu entziehen, was dann wiederum dessen korrigierendes oder strafendes Eingreifen nach sich zieht, nämlich die Züchtigung des unbotmäßigen personaggio durch Modifikation der Geschichte zu seinen Lasten.47 Hervorgehoben wird in beiden Textpassagen der materiale Schreibakt als Ort und Moment der Generierung narrativer Welten; die Schreibfeder bzw. Schreibfeder und Tinte werden als Werkzeuge dichterischer Schöpfungsmacht benannt und die Präsenzrelation zum Publikum und zu den Figuren, die der Erzähler für sein Erzählen beansprucht, gleichsam skripturalisiert, das heißt: ins Medium schriftlicher Kommunikation transferiert. Wie sind nun solche metaleptischen und paradoxalen Präsenzrelationen zwischen dem schreibenden Dichter und seinem Publikum respektive seinen fiktiven Figuren zu verstehen und zu bewerten, nachdem sie offensichtlich nicht mehr als Referentialisierung einer textexternen Pragmatik plausibilierbar oder ‚entparadoxierbar‘ sind? Soll man sie als bloße virtuose Kadenzen auffassen, als gewagte und (fiktions)ironische Variation eines im oralen Betrieb der cantari verschlissenen und längst mechanisch eingesetzten Formelwerks, mittels dessen die Verknüpfung einer Vielzahl von Handlungssequenzen, wie sie für die cantari ebenso wie für den Romanzo charakteristisch ist, bewerkstelligt wird? Oder wird – und beide Lesarten müssen sich nicht ausschließen – an Stellen wie diesen eine verbindliche Erzähllogik greifbar, so dass ihre Analyse zugleich relevante Einsichten in Struktur und Funktionsweise des Textes insgesamt erwarten lässt? In den folgenden Kapiteln möchte ich plausibel machen, dass sich diese und andere metaleptische Relationierungen von discours und histoire, von erzählender und erzählter Welt, in der Tat mit einer impliziten Poetik verrechnen lassen, die für den Orlando furioso konstitutiv ist. Die von dieser impliziten Poetik bestimmte Erzählweise zielt systematisch darauf, zwischen Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit – genauer: der Simultaneität und Kontiguität – zu postulieren oder illusorisch zu stiften, so dass man auch von einer ‚Poetik der Präsenz‘ sprechen könnte: Erzählende und erzählte Welt sollen ein Kontinuum bilden, in dem chronologische, kausale und ontologische Hierarchien als aufgehoben erscheinen; der Erzähler, die Figuren der Erzählung und potentiell auch die Adressaten letzterer sollen 47

Sergio Zatti sieht mit dieser Stelle eine kompensatorische Funktion der Dichtung zum Ausdruck gebracht; mit der Bestrafung der unhöfisch agierenden bzw. sprechenden Figur halte sich der Dichter schadlos für seine reale Ohnmacht: „subalterno nel sistema politico al signore, il poeta diventa signore nel suo universo poetico rispetto al personaggio.“ (Zatti 1990, S. 158) Diese Interpretation scheint mir aber die Komplexität der Passage und ihren metapoetischen Witz weitgehend zu verkennen und schon deshalb nicht aufzugehen, weil der Dichter als Schöpfer des „universo poetico“ nicht erst für die Bestrafung der Figur zuständig ist, sondern in Wahrheit auch schon ihr Fehlverhalten zu verantworten hat.

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1 Mündlichkeit, Schriftlichkeit, paradoxe Evidenzen

sich unmittelbar in diesem raumzeitlichen Kontinuum begegnen und sogar – das Beispiel mit Astolfo stellt hier einen Grenzfall dar – face-to-face kommunizieren und miteinander interagieren können. Diese Präsenzrelationen unterscheiden sich grundlegend von denen der klassischen evidentia; neben den oben bereits vermerkten Differenzen, darunter die explizite und ‚desillusionierende‘ Schriftlichkeit des Evidenz beschwörenden Erzählakts, tritt insbesondere in den letzten beiden Textbeispielen eine weitere und entscheidende deutlich hervor: Während mit den Mitteln der evidentia die Präsenz der erzählten Ereignisse als eine durch den Erzähler bzw. den Rezipienten der Erzählung imaginierte und auch in der Imagination verbleibende beschworen wird, sollen die Präsenzrelationen zwischen discours und histoire, die für den Furioso charakteristisch sind, intrusiv sein und kausale Ursache-Wirkung-Relationen zwischen beiden Sphären beinhalten.48 Die ‚Poetik der Präsenz‘ ist also nicht einfach eine Poetik der imaginativen Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens, sondern eine der Verfügbarmachung oder, auf das Erzählsubjekt bezogen, eine Ermächtigungspoetik. Die durch die beiden Textstellen um Astolfo und Rodomonte exemplifizierten Verhältnisse entsprechen dem Sachverhalt performativer Koinzidenz: Die erzählte Welt ist gegenwärtig, weil sie im Akt des Erzählens hervorgebracht wird, um sogleich der erzählenden Welt als eine Wirklichkeit sui generis gegenüberzutreten. Ich werde in einem späteren Kapitel über das entrelacement (Kap. 4) zeigen, wie es in einem Prozess der Ausdifferenzierung dieser Erzählweise zu ihrer zunächst beiläufigen ‚Performativierung‘ kommt und eben zu jenen paradoxen Simultaneisierungen von erzählender und erzählter Welt. Zunächst soll es aber um die Implikationen dieser ‚Poetik der Präsenz‘ für ein zentrales Sujet des Furioso, die enkomiastische Herkunftserzählung der Este, gehen. Es liegt auf der Hand, dass eine zirkuläre Kausalitäten generierende, die Zeitenfolge nivellierende und damit die ‚Entgeschichtlichung‘ der Geschichte betreibende Poetik in einer erheblichen Spannung, wenn nicht in einem Verhältnis der Unvereinbarkeit zu dem im Proömium verkündeten genealogischen Programm steht, das Ariost abzuarbeiten vorgibt. Während diesem Programm zufolge die Gegenwart des Erzählers und seines höfischen Publikums über eine detailliert konkretisierte genealogische Kausalkette mit der erzählten Vergangenheit verknüpft und durch diese bedingt sein soll, scheint diese Gegenwart in der Person des Erzählers zugleich über jene Vergangenheit verfügen zu können. Von dieser offenkundig problematischen Relation und ihren Effekten und davon, wie diese Relation im Text selbst, auf der Ebene des discours wie der histoire, thematisiert wird, soll im anschließenden Kapitel sowie – dann in einer breiteren und über den Furioso hinausreichenden Perspektive – im 6. Kapitel eingehend die Rede sein. Dabei wird sich zeigen, dass gerade die paradoxale und metaleptische Erzählweise Ariosts unhintergehbare Konstitutionsbedingungen von ‚Geschichte‘ – wenn auch in hyperbolischer Übertreibung – offenlegt und somit gerade in ihrer Applikation auf die ‚reale‘ Geschichte ‚entparadoxiert‘ wird.

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S. hierzu auch Häsner 2005, S. 22–27, wo das Verhältnis von evidentia und metaleptischen Simultaneisierungen eingehend diskutiert wird.

2 DIE MONDREISE DES PALADINS ASTOLFO UND DES APOSTELS JOHANNES Handlungslogische Peripetie und metapoetischer Exkurs 2.1 DER SCHIFFBRÜCHIGE STAMMVATER UND SEINE ERRETTUNG IM UND DURCH DEN NARRATIVEN DISKURS Die souveräne Schöpfungs- und Verfügungsmacht des Ariost’schen Erzählers, die in den zuletzt zitierten Textstellen sehr effektvoll an den Einsatz von penna und inchiostro gebunden war, kann sich auch manifestieren, ohne in irgendeiner Weise medial konkretisiert, also etwa mit einem Schreibakt assoziiert zu werden. So auch in den folgenden Versen: Ma mi parria, Signor, far troppo fallo, se, per voler di costor dir, lasciassi tanto Ruggier nel mar, che v’affogassi. (O. F. XLI, 46, 6–8)

Diese Stelle steht im Kontext einer ihrem Finale zustrebenden Geschehensverkettung, die mehrere bis dahin parallel laufende Erzählstränge zu einem Ende kommen bzw. konvergieren, aber auch noch einmal neue Verwicklungen entstehen lässt. Unmittelbar zuvor wurde erzählt, wie der zu diesem Zeitpunkt noch heidnische, wenig später aber getaufte Ritter Ruggiero auf dem Seeweg von Frankreich nach Afrika in ein schweres Unwetter gerät und mit der gesamten Schiffsbesatzung über Bord springt, um der unausweichlich scheinenden Havarie seines Schiffes an den Klippen einer Insel zu entgehen.49 Der Erzähler ließ den Leser (oder den Hörer) an dieser Stelle vorerst im Ungewissen, ob und wie Ruggiero in der tobenden See überleben wird, um stattdessen den Weg des steuerlosen Schiffes zu verfolgen, das wider Erwarten – die göttliche Vorsehung will es so – nicht an den Felsen zerschellte, sondern an die Küste Libyens getrieben wurde. Dort fand es der soeben vom Liebeswahn kurierte Titelheld Orlando, der im Begriff stand, sich gemeinsam mit seinen Gefährten Olivier und Brandimarte zu einem Duell mit den sarazenischen Heerführern zu rüsten, das über den Ausgang des schon lange währenden und verlustreichen Krieges zwischen Kaiser Karl und dem maurischen König Agramante entscheiden soll. Erfreut bemächtigt sich Orlando der unversehrt gebliebenen Fracht des Schiffes, des Pferdes, der Rüstung und vor allem des Schwertes Ruggieros, dank dessen er nun wieder angemessen ausgestattet ist, hatte er sich doch im Zustand der Raserei und Selbstvergessenheit seiner eigenen Waffen und Armaturen entledigt. Nachdem der Erzähler dieses Geschehen über gut zwanzig Strophen hinweg verfolgt hat, unterbricht er seinen Bericht just im Moment des Beginns jenes entscheidenden Duells und erinnert sich mit den zitierten Versen des 49

S. O. F. XLI, 21.

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes

vom Ertrinkungstod bedrohten Ruggiero, um endlich dessen Geschick weiter zu erzählen. Auch hier handelt es sich natürlich um eine jener entrelacement-Formeln, mit denen der Erzähler zwischen verschiedenen Handlungssequenzen wechselt und die im Orlando furioso in unübertroffener Variantenvielfalt vertreten sind. Die zitierten Verse unterscheiden sich von der Mehrzahl ähnlicher Stellen allerdings durch ihre subtile Frechheit und durch brisante Implikationen. Im Auge zu behalten ist dabei allerdings die genealogische Programmatik des Textes; wie gesehen präsentiert Ariost seine „opera d’inchiostro“ (O. F. I, 3, 6) von Beginn an als eine dynastische Herkunftserzählung und stellt dieses Unternehmen, wenn auch zunächst nur implizit, in Parallele zur Aeneis: Ebenso wie Vergils Epos die mythische Vorgeschichte Roms in ihrer finalen Ausrichtung auf das goldene Zeitalter des Augustus besingt, so will der Orlando furioso von der Begründung der Ferrareser Dynastie der Este erzählen – von einem Bedingungsgefüge, das von der göttlichen Vorsehung verwaltet sein und, ebenso wie das imperiale Rom, seinen fernen Anfang im antiken Troia genommen und in der glanzvollen Gegenwart des estensischen Ferrara sein geschichtliches Telos gefunden haben soll.50 In den gerade zitierten Verszeilen komprimiert sich nun diese genealogische Kausalität oder Finalität auf ebenso witzige wie subversive Weise: Immerhin soll der beinahe ertrinkende Ruggiero die dynastische Position des „ceppo vecchio“ (O. F. I, 4, 4), des estensischen Stammvaters oder Archegeten besetzen, während es sich bei jenem als „Signor“ apostrophierten textimmanenten Adressaten um den Kardinal Ippolito d’Este handelt, also den Widmungsträger des Orlando furioso, der in ihm immer wieder als die Ferrareser typologische Entsprechung des Vergilschen Augustus gepriesen wird. Zuletzt wurde dieser Nexus im Proömium desselben Gesangs beschworen, wo es von Ruggiero heißt, dass er die herausragenden Tugenden der zukünftigen estensischen Herrscher bereits vollständig verkörpere – „a principio buono era e perfetto“ (O. F. XLI, 1, 8). Wenn nun aber der Erzähler das Leben des dynastischen Erzvaters Ruggiero, indem er es erzählt, ebenso zu retten wie es durch Vorenthaltung erzählerischer Zuwendung leichtsinnig zu verspielen vermag – hielte er dann nicht auch die Existenz von dessen Nachkommen Ippolito in der Hand? Der gesamte genealogische Zyklus zwischen Troia und Ferrara, Hektor (dessen Nachfahre Ruggiero sein soll) und den Este wäre eine bloße Funktion des ihm geltenden narrativen Diskurses. Jegliche an die Sukzession geschichtlicher Zeit gebundene Kausalität erschiene damit suspendiert und das höfische Ferrara zur Zeit Ariosts und seines primären Adressaten Ippolito als bloßer Artefakt, als Effekt einer Vorgeschichte, die keineswegs von der Providenz verwaltet, sondern vom Erzähler dieser Geschichte dirigiert und manipuliert wird, als sei sie gegenwärtig und damit disponibel. Auch hier stellt sich natürlich die Frage, ob es zulässig ist, die logischen Implikationen jener Verse in dieser Weise auszubuchstabieren; es ließe sich einwenden, man habe es mit einer Erzählmetaphorik zu tun, deren Hyperbolik ihrem wörtlichen Verständnis gerade vorbauen solle und die nicht etwa dichterische Wortmagie und Geschichtsmächtigkeit reklamiere, sondern im Gegenteil die ironische oder fikti50

Ich gehe auf die Stellen, an denen dies explizit gemacht wird, später ausführlich ein.

2.1 Der schiffbrüchige Stammvater und seine Errettung

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onsironische Diminuierung des genealogischen Unternehmens betreibe, und dies im Angesicht und in jovialer Anrede des primären Adressaten und Profiteurs dieses Unternehmens. Nicht zuletzt mit Blick auf die Stellung Ariosts am estensischen Hof als familiare und subalterner cortegiano könnte dieser Einwand, der die potentielle Brisanz dieser Stelle zu entschärfen versucht, indem er ihr eine Art sokratischer Ironie attestiert, als naheliegend erscheinen. Er verkennt allerdings, dass diese Ironie nicht nur die Anmaßung des Dichters beträfe, sondern auch die der genealogischen Erzählung selbst; sie diskreditierte damit ein Projekt, das zeitgenössisch prinzipiell durchaus ernst genommen und relativ wenig hinterfragt wurde und das gerade für die Este – von deren Ironietoleranz und überhaupt von deren Neigung und Kompetenz zur Würdigung poetischer Subtilitäten wir im Übrigen wenig wissen – von nachgerade vitaler Bedeutung war und von ihnen auch entsprechend gefördert wurde.51 Auch eine fiktionsironische Lektüre dieser Stelle – grundsätzlich zweifellos eine legitime Option – würde also ihre subversive Brisanz nicht restlos entschärfen. Vor allem aber wird der Einwand gegen ein allzu wörtliches Verständnis dieser drei Verszeilen auch in diesem Fall dem Umstand nicht gerecht, dass eine Logik des Erzählens, die den kategorialen Unterschied und die zeitliche Differenz zwischen erzählter Geschichte und Erzählgegenwart kassiert und beide dem Erzähler zur Disposition stellt, keineswegs, wie beispielhaft bereits zu sehen war, auf diese eine Stelle im Furioso beschränkt ist. Vielmehr ist diese Erzähllogik oder ‚Poetik der Präsenz‘ für den Text sowohl auf mikrostruktureller wie auf makrostruktureller Ebene konstitutiv. Indem die performative Schöpfungs- und Verfügungsmacht des Erzählers unmittelbar in Beziehung gesetzt wird zu einer zentralen Strukturkomponente des Textes, der genealogischen Finalität, die Ruggiero und Ippolito schicksalhaft verbinden soll und von der Ariosts Epos zu erzählen beansprucht, gilt für die Stelle um den zu ertrinken drohenden Stammvater noch mehr als für die zuvor zitierten, dass es sich nicht einfach um einen harmlosen fiktionsironischen Scherz, um einen, wie Robert Durling meint, bloßen „joke“ handelt;52 51 52

Auf die Bedeutung der Genealogie für die Este und generell auf das System des genealogischen Diskurses im 15. und 16. Jahrhundert sowie die Position des Furioso innerhalb dieses Systems komme ich in Kapitel 6 eingehend zu sprechen. Durling 1965, S. 119. Tatsächlich hat die zitierte Stelle um den ertrinkenden Ruggiero in den einschlägigen Kommentaren und Interpretationen durchaus keine besondere Aufmerksamkeit gefunden. Wenn sie überhaupt notiert wird, dann als Exempel für den notorischen „sorriso ariostesco“ oder als ein weiteres und eher unspezifisches Beispiel der sich allerorten im Text manifestierenden fiktionsironischen Verfügungsmacht des Erzählers über die erzählte Geschichte. Ihre ‚genealogische‘ Pointe, obgleich durch die apostrophisch beschworene Präsenz Ippolitos deutlich markiert, wird regelmäßig übersehen. So dient laut Daniela Delcorno Branca die Stelle vor allem der Spannungssteigerung, indem sie die Schilderung des entscheidenden Duells auf Lipadusa aufschiebe. Delcorno Branca parallelisiert die Stelle darüber hinaus mit jener ‚pirandellesken‘, an der Astolfo den Erzähler auffordert, ihn endlich weiterzuerzählen (O. F. XV, 9); in beiden Fällen – so die Autorin in Verkennung der fiktionsironischen Selbstreferentialität und Paradoxalität und damit der eigentlichen Pointe dieser beiden Erzählerinterventionen – würden existentielle Nöte der Figur einen Strangwechsel erzwingen (s. Delcorno Branca 1973, S. 43 f.). Durchaus typisch ist auch die Anmerkung Emilio Bigis, der immerhin als einziger unter den modernen Herausgebern des Orlando furioso diese Verszeilen mit einem Kommentar bedenkt; Bigi schreibt: „Come in altri casi […], l’A., mentre ostenta scherzosa-

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes

tatsächlich können die Verse um den schiffbrüchigen, im und durch den Erzählerdiskurs geretteten Stammvater der Este als hochkomprimierte und präzise mise en abyme einer Textstruktur verstanden werden, in der die konträren Erzählweisen der genealogischen Epik und des entrelacement eine ebenso prekäre wie produktive Verbindung eingegangen sind. Ich komme auf diese Hybridisierung zweier Erzählweisen als der Ermöglichungsbedingung jener ‚opaken‘, in der Ruggiero-Stelle paradigmatisch verdichteten Relationierung von discours und histoire noch mehrfach und eingehend zurück. Zunächst möchte ich aber zeigen, wie in einer der berühmtesten, umstrittensten und auf jeden Fall ungewöhnlichsten Episoden des Furioso, der Mondreise Astolfos und des Apostels Johannes, die implizite Poetik, die in den bisher betrachteten metaleptischen Strangwechseln greifbar wird und die ich als eine ‚Poetik der Präsenz‘ benenne, gleichsam konzeptuellen Rang gewinnt und zu einer poetologischen Programmatik extrapoliert wird. 2.2 PARADOXIA EVANGELICA. POETISCHE LÜGEN ALS GNADENERWEIS Ruggiero sowie sein weibliches Pendant Bradamante, eine Nichte Karls des Großen und ebenfalls troianischer Herkunft, werden im Verlauf des erzählten Geschehens immer wieder über ihre geschichtliche Bestimmung ins Bild gesetzt und auf diese eingeschworen. In mehreren, zum Teil ausgedehnten Szenen wird beiden die mente la sua responsabilità nei confronti del personaggio, sottolinea la natura letteraria del personaggio stesso.“ Abgesehen von der vagen Terminologie („scherzosamente“, „natura letteraria“), der Differenzierungen zum Opfer fallen, die der Literaturwissenschaft im Erscheinungsjahr dieser Ausgabe (Ariosto 1982) durchaus zur Verfügung standen (darunter die Unterscheidung von Autor und Erzähler), dürfte auch Bigis Kommentar die potentielle Brisanz dieser Passage verfehlen. Vor allem entgeht ihm, dass in ihr der gesamte genealogische Zyklus, den der Furioso zu erzählen (oder zu ‚besingen‘) beansprucht, in einer Konfiguration von geradezu ‚szenischer‘ Kopräsenz aller beteiligten Instanzen (des Ahns, seines späten Nachkommen, der zugleich ‚Zeuge‘ des genealogisch relevanten Geschehens ist, und schließlich des ‚Chronisten‘ der genealogischen Abfolge) abgebildet wird. Damit wird aber auch der „responsabilità“ des Autors (oder vielmehr des Erzählers als Autor-persona) eine Zuständigkeit zugewiesen, die deutlich hinausreicht über den fiktiven „personaggio“ und dessen „natura letteraria“, nämlich ihr den Verlauf der Geschichte selbst überantwortet. Auch Daniel Javitch zielt am doppelbödigen Witz der Stelle vorbei: „By flippantly suggesting that if he doesn’t return to his chief protagonist Ruggiero will drown – which simply can’t happen because he needs him to conclude his poem – Ariosto again reveals how much his characters are always and quite securely in his control.“ (Javitch 2003, S. 112) Die Parenthese übersieht das Entscheidende: Wenn Ruggiero ertränke, scheiterte nicht nur das poem, sondern auch die Instaurierung der Este-Dynastie; „Ariosto“ reklamiert nicht nur Kontrolle über seine Figuren, sondern über die Geschichte selbst. Wenn Javitch ebenso wie Bigi Autor und Erzähler umstandslos gleichsetzt, trivialisiert er im Übrigen seinen Befund, denn dass Ariost Kontrolle über seine Figuren besitzt darf man getrost voraussetzen, während er sie seinem Erzähler durchaus gelegentlich entgleiten lassen kann, was auch in der Passage um den ertrinkenden Ruggiero zumindest als Möglichkeit angedeutet und an anderen Stellen sogar als eingetreten behauptet wird (z. B. O. F. XXXII, 1–2; s. hierzu unten S. 94, A. 170).

2.2 Paradoxia evangelica. Poetische Lügen als Gnadenerweis

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glanzvolle Zukunft des von ihnen zu begründenden Geschlechts offenbart.53 Eine dieser Prophezeiungen unterscheidet sich aber von den anderen signifikant und in mehrfacher Hinsicht. Zum einen dadurch, dass sie an einem supraterrestrischen Ort, dem Mond, verkündet wird und auch nicht, wie sonst, mehr oder weniger obskuren und hinsichtlich ihrer christlichen Rechtgläubigkeit fragwürdigen Magiern oder aber einer Fee, die Ariost eigens zu diesem Zweck erfunden hat, anvertraut ist, sondern keinem Geringeren als dem Apostel Johannes; zum anderen ist ihr fiktionsimmanenter Adressat dieses eine Mal nicht Bradamante oder Ruggiero, sondern der englische Herzog Astolfo, Paladin Karls des Großen sowie ein Freund des Titelhelden Orlando und eben jene Figur, die Ariost an einer früheren Stelle seiner Erzählung mit Figurenbewusstsein begabt hatte.54 Sowohl der jenseitige Redeort als auch der außerordentliche Status des Sprechers Johannes zeigen an, dass dieses Enkomion eine andere Funktion im Text erfüllt als die sonstigen Este-Prophetien, und auch, dass Astolfo von dem vorausgesagten und in einer fernen Zukunft liegenden Geschehen unmittelbar nicht affiziert ist und keinerlei Handlungs- oder Verhaltensverpflichtungen für ihn daraus resultieren, spricht für eine gegenüber den anderen Este-Enkomien veränderte Zielsetzung und Reichweite, nämlich die einer Metaebene, auf der das Verfahren und die Bedingungen genealogisch-enkomiastischen Erzählens selbst thematisiert und verhandelt werden. Von Ariost auf den Mond geschickt wird Astolfo, damit er dort den Verstand wieder einsammle, den Orlando über seiner ebenso verwerflichen wie unerwiderten Liebe zur heidnischen Königstochter Angelica verloren hat. Dass Astolfo dabei von einem leibhaftigen Apostel als „interprete“ (O. F. XXXIV, 82, 2) begleitet wird, unterstreicht die Bedeutsamkeit des Unternehmens. Johannes führt den Ritter durch die allegorischen Landschaften des Mondes und klärt ihn darüber auf, dass er ein 53 54

Ich gehe in Kapitel 6 ausführlich auf diese dynastischen Prophezeiungen und auch auf ihren zeitgenössischen historiographischen Hintergrund ein. Astolfo ist die von allen kausallogischen Zwängen am wenigsten belastete Figur des Furioso und gleichsam die Personifikation anstrengungslosen Gelingens. Stets verfügt er über magische Hilfsmittel, die seine an sich limitierten Kräfte potenzieren und ihn Heldentaten vollbringen lassen, die eigentlich – ohne dass ihm dies hinreichend bewusst wäre – jenseits seiner Intentionen wie auch seiner ritterlichen Fähigkeiten und Tugenden liegen. Zur Figur des Astolfo als „homo fortunatus“ s. Santoro 1989d, ferner Ascoli 1987, S. 271 f. sowie Casadei 2011, S. 250, v. a. aber Alice Spinelli (Spinelli 2015b) mit einer höchst instruktiven (Namens-) Geschichte und differenzierten Charakterisierung der Figur entlang ihres Curriculums zwischen altfranzösischen Chansons de geste über die cantari bis hin zu Boiardo und Ariost. Spinelli verfolgt sehr konzise den Statuswandel Astolfos als potentiell komischer ,Antiheld‘, der in der gleichsam konstitutionell antiheroischen Erzählwelt des Furioso schließlich zum paradigmatischen personaggio avanciert: „Astolfos ‚Subgeschichte‘ [offenbart] im Furioso ein rinascimentales, weitgehend säkularisiertes Gedankensystem, das nicht mehr der individuellen Tugend, sondern der kapriziösen Zufälligkeit einen bestimmenden Rang im menschlichen Leben einräumt.“ (Ebd. S. 42) Auf die oben zitierte Figurenmetalepse, die Astolfo mit Figurenbewusstsein begabt, geht Spinelli nicht ein. Vielleicht erklärt der komödiale Charakter dieser Figur auch, dass gerade ihr die wohl spektakulärste Metalepse im ganzen Text zugeschrieben ist (O. F. XV, 9; s. oben S. 15) – ein veritables Aus-der-Rolle-Fallen, das in der zeitgenössischen Komödie, zu der Ariost bekanntlich einige gewichtige Beiträge geleistet hat, durchaus häufig vorkommt, während mir in der zeitgenössischen Narrativik nichts Vergleichbares bekannt ist.

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes

Werkzeug der göttlichen Vorsehung sei, die dafür Sorge trage, dass Orlando, nachdem er seine Verfehlungen für eine angemessene Zeit gebüßt habe, wiederhergestellt werde und die christliche Seite zum Sieg über die Sarazenen führe. Allerdings geht die Episode der Mondreise nicht in dieser handlungslogischen Funktion auf, was nicht zuletzt daran offenkundig wird, dass ihr Zweck, die Bergung der Ampulle, in der Orlandos senno verwahrt wird, bereits nach dem ersten Drittel der insgesamt mehr als 50 Oktaven umfassenden Sequenz (O. F. XXXIV, 70–92; XXXV, 1–29) erreicht ist. Die restlichen zwei Drittel stellen eine Digression vom epischen oder romanzesken Geschehen dar, deren Gewicht allerdings sowohl durch den dominanten Sprecher, den heiligen Apostel, durch den außerirdischen, sublunarer Kontingenz entzogenen Redeort und natürlich durch das in diesem Kontext Gesagte signalisiert ist. Die gesamte Mondepisode kulminiert in einem apologetischen Diskurs des Apostels über Funktion und Macht der Dichtung, der insofern als skandalös gelten kann, als er, grob gesagt, der Dichtung eben jene ‚schöpferische‘ Kraft zuschreibt, die in den am Eingang dieses Kapitels zitierten Versen um den unerzählten und deshalb zu ertrinken drohenden dynastischen Stammvater, und sei es auch scherzosamente, vom Erzähler in Anspruch genommen wurde: Die Dichter, zu denen Johannes als Autor eines Evangeliums sich selbst zählt, teilen Lob und Tadel nach eigenem Ermessen und entsprechend der Wertschätzung und den Remunerationen zu, die sie von den besungenen oder zu besingenden Fürsten erhalten. Wenngleich also Astolfos und Johannes’ Mondreise zweifellos eine Peripetie der Handlung markiert, lässt sie sich doch ebensosehr als das metapoetische Zentrum des gesamten Textes verstehen. Dies aber nicht nur, weil des Apostels Dichtungsapologie die mit Abstand elaborierteste metapoetische Aussage ist, die sich im Furioso überhaupt findet, sondern auch, weil die gesamte Episode mit komplexen literarischen und nicht-literarischen Referenzen orchestriert ist und in ihrem ganzen Zuschnitt auf das ‚poetologische‘ Finale hinführt. Auf der Suche nach Orlandos verlorenem Verstand passieren Astolfo und Johannes eine Abfolge allegorischer Szenarien, die in ihrer Gesamtheit die Zyklen des menschlichen Lebens und der Geschichte repräsentieren. Die Oberfläche des Mondes erweist sich nämlich als voller figuraler „gran misteri“ und „incogniti sensi“ (O. F. XXXV, 17, 6), die sich auf irdische Begebenheiten zeichenhaft beziehen. Das Prinzip semiotischer Korrespondenz zwischen Mond und Erde wird vom Apostel auch explizit benannt: – Tu dei saper che non si muove fronda là giù, che segno qui non se ne faccia. Ogni effetto convien che corrisponda in terra e in ciel, ma con diversa faccia. (O. F. XXXV, 18, 1–4)

Angezeigt wird so zum einen die allegorische Struktur des Mondes und der zu ihm führenden Reise, gewiss auch in Anspielung auf die Dantesche Jenseitsreise und ihren allegorischen Apparat. Ich komme darauf zurück. Zum anderen und ganz unmittelbar dürfte diese Stelle aber auch als Verweis auf den zeitgenössischen astrologischen Diskurs zu lesen sein. Die von Johannes behauptete semiotische Korrespondenz zwischen Mond und Erde kann als Reminiszenz eher populärer Vorstellun-

2.2 Paradoxia evangelica. Poetische Lügen als Gnadenerweis

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gen verstanden werden, die ein Spiegelungsverhältnis zwischen beiden Himmelskörpern annehmen, oder auch als Rekurs auf ambitioniertere astrologische Theoreme, die ein komplexes Signifikations- oder sogar Kausalitätsverhältnis zwischen astralen Konfigurationen und irdischen Ereignissen und Zuständen postulieren.55 Jedenfalls bedarf die so beschaffene semiotische oder allegorische Mondoberfläche der kompetenten Auslegung, für die der als „scrittor de l’oscura Apocalisse“ (ebd. XXXIV, 86, 2), als „interprete“ (ebd. XXXIV, 82, 3) und „dottor“ (ebd. XXXIV, 80, 2) einschlägig ausgewiesene Apostel prädestiniert ist. Ein Tal, das Astolfo und der Apostel zunächst durchwandern, wird von letzterem als Archiv oder Depot all dessen gedeutet, was auf Erden verlorenging und unentwegt wieder verlorengeht: Da l’apostolo santo fu condutto in un vallon fra due montagne istretto, ove mirabilmente era ridutto ciò che si perde o per nostro difetto, o per colpa di tempo o di Fortuna: ciò che si perde qui, là si raguna. (O. F. XXXIV, 73, 3–8)

Unter anderem finden sich hier untergegangene Imperien und vergeudete Reichtümer, eitle Pläne und nichtige Gebete, Ruhm, Liebesschmerz, sowie die bei Müßiggang und Spiel vergeudete Zeit. Deponiert oder inventarisiert sind die Ablagerungen menschlicher Eitelkeiten und Obsessionen in bizarren Figurationen: Geschwollene Blasen, aus denen tumultuarisches Geschrei dringt, stehen für die längst untergegangenen Despotien der Perser und Assyrer, geplatzte Zikaden für den Fürsten entbotene Schmeicheleien, verschüttete Suppe für zu spät, nämlich postmortal dar55

Zu den astrologischen Anspielungen der Mondepisode s. Kremers 1973, S. 60 und besonders Savarese 1984, u. a. mit folgendem Zitat Celio Agostino Curiones (1538–1567), der die Mondflecken als Spiegelungen der terrestrischen Kontinente erklärt: „Lunare enim corpus speculo simile esse […] et ipsarum macularum figura optime orbis terrarum imaginem, et ex tam longinquo tractu perspici potest; prae se fert: quemadmodum quilibet videre potest“ (ebd. S. 77). Zur zeitgenössischen Virulenz derartiger Vorstellungen und auch komplexer gedachter Korrespondenzverhältnisse zwischen sublunaren und himmlischen Zuständen und Vorgängen sowie zur Parallelisierung von Astrologie und Dichtung s. Garin 1982; zur ‚Poetisierung‘ der divinatorischen Astrologie in Palingenios Zodiacus Vitae (1536) schreibt Garin abschließend: „Resta una grande favola che ha come personaggi le immagini celesti, ed è carica di significati morali piuttosto che metafisici. È soprattutto un grande affresco poetico che sfuma nel sogno. Gli astrologi di professione continuano a comporre oroscopi, ma nei cieli dello Zodiacus Vitae vanno volando Astolfi ed Ippogrifi.“ (Ebd. S. 121). Zur prominenten Stellung von Astrologie und Astrologiekritik im Ferrara zur Zeit Ariosts s. ferner Vasoli 1977. Vasoli legt nahe, dass Ariost den astrologiekritischen Auffassungen Picos della Mirandola nahestand. Auch Cesare Segre erkennt astrologische Reminiszenzen in der Mondepisode und kommt zu dem Schluss, in der Ariostschen terra-luna-Relation bilde sich das für den Furioso gültige Verhältnis von realtà-poesia ab: „Mediante il discorso di San Giovanni, l’Ariosto sostituisce una specularità (o una complementarità) all’altra. La specularità (o complementarità) terra/luna è sostituita ora dalla specularità realtà/poesia“. (Segre 1987, S. 15). Die Mondepisode wäre also eine Poetik in den Proportionen einer Kosmologie; auf diesen Aspekt, der die Qualifizierung der Episode als metapoetisches Zentrum des ganzen Textes stützen würde, gehe ich hier indessen nicht weiter ein. S. dazu aber Häsner 2005, S. 136–142.

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes

gebrachte Almosen, die Konstantinische Schenkung figuriert als stinkender Haufen verfaulender Blumen. Die weitaus gewichtigste Verlustentität ist aber der den Menschen fortwährend entweichende Verstand, der als flüchtige Essenz in akkurat beschrifteten Flaschen aufbewahrt wird: „Senno d’Orlando“ (ebd., 83, 8) steht auf der größten dieser Flaschen, doch findet Astolfo auch „gran parte“ (ebd. 84, 3) des eigenen Verstandes in dieser Weise auf dem Mond konserviert. Weitaus größeres Erstaunen erweckt bei ihm freilich, dass auch der Intellekt derer, die auf Erden den Ruf unversehrter Geisteskraft genießen, in großen Portionen auf dem Mond deponiert ist; besonders hervorgehoben werden Philosophen („sofisti“), Astrologen und Dichter (s. ebd. 85, 7–8). Während also jede Manifestation menschlichen Handelns und Strebens unweigerlich auf dieser lunaren metaphorischen Mülldeponie endet, bleibt der fatalste unter den menschlichen difetti, die Torheit, stets auf der Erde – „sol la pazzia non v’è poca né assai; che sta qua giù, né se ne parte mai“ (ebd. 81, 7–8). Neben dem blinden Walten der Fortuna und der alles vertilgenden Zeit, die an späterer Stelle der Mondepisode noch ihre eigene allegorische Figuration finden wird, ist die pazzia das eigentliche movens jener unerbittlichen Mechanik, die noch die schönsten Hoffnungen und ehrgeizigsten Pläne auf dem Mond als allegorische res significantes sedimentieren lässt. Doch ist der Mond nicht nur Zeichen, sondern auch Vorzeichen irdischen Geschehens. Während er sich in einer ersten Etappe als allegorische Chronik universalen und unvermeidlichen Scheiterns darstellte, lernt Astolfo ihn anschließend, nachdem ihm gewährt worden ist, seinen eigenen bereits geminderten Verstand wiederherzustellen (ebd. 86, 1–8),56 in seiner komplementären Funktion kennen: als Agentur der Vorsehung und Manufaktur der irdischen Schicksale (ebd. 87–91). Der Apostel führt ihn zu einem Palast, in dem die zukünftigen und gegenwärtigen menschlichen Individualexistenzen verwaltet werden; als textile Präfigurationen, in Gestalt von mehr oder weniger farbigen Vliesen, harren sie des Moments, an dem die in ihnen gebündelten Lebensfäden durch die am selben Ort tätigen Parzen, die antiken Schicksalsgöttinnen, abgespult werden. Neben dem Palast der Parzen als Fabrik und Depot zukünftiger Schicksale befindet sich ein Fluss; ein Greis ist unentwegt damit beschäftigt, die Namensschilder, die den Vliesen zur Identifikation beigegeben sind, beiseite zu schaffen, wenn diese einmal abgewickelt sind, also das durch sie figurierte Leben an sein Ende gelangt ist. Der Alte trägt diese Schilder in seinem Mantel zum Fluss und schüttet sie in dessen trübe und reißende Fluten. Schnell sind sie den Blicken entschwunden, doch einige wenige, besonders glanzvolle, werden von Schwänen geborgen und zu einem Tempel gebracht, in dem sie für die Ewigkeit aufbewahrt werden (O. F. XXXV, 10–16). Bei dem Fluss, so erfährt Astolfo, handelt es sich um Lethe, den mythischen Strom des Vergessens, während jener Alte eine Personifikation der alle Erinnerung tilgenden Zeit ist. Die Schwäne jedoch stehen für die wahren Dichter – „sacri ingegni“ – die im Gegensatz zu bloßen Kupplern („ruffiani“) und Schmeichlern („adulatori“) den 56

Dies allerdings unter Hinweis darauf, dass er später seines Verstandes wieder verlustig gehen werde – eine Episode, die Ariost dann in den Cinque Canti erzählt (IV, 54 ff.). Auch die im Beisein eines Heiligen gewährte Erleuchtung steht also unter Vorbehalt und unterliegt dem universalen Gesetz der Flüchtigkeit alles Irdisch-Menschlichen.

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Nachruhm weniger Auserwählter bewahren, indem sie deren Namen im Schrein der Dichtung an die Nachwelt überliefern und ihre Unsterblichkeit garantieren (s. ebd. 12–23).57 Die Ausdeutung der lunaren Zeichenwelt durch den Apostel evoziert ein Bild von Geschichte, das der genealogischen Geschichtskonstruktion, der sich Ariost im Proömium des Furioso vorgeblich verpflichtet, deutlich kontrastiert. Dem im Kern zuversichtlichen Geschichtsbild der Genealogie, das auf Kontinuität und Stabilität von Herrschaft sowie auf Erhalt bzw. Akkumulation von Tugenden wie Besitztümern setzt, stellt der Diskurs des Apostels eine Verfallsgeschichte entgegen, einer fürsorglichen Providenz die blinde Fatalität permanenter Erosion und Destabilisierung.58 Vor allem aber ist dieser Diskurs kaum vereinbar mit der heilsgeschichtlichen Botschaft, für die sowohl der Evangelist wie auch der Johannes der „oscura Apocalisse“ (O. F. XXXIV, 86, 2) stehen. Ariosts Johannes vermittelt vielmehr die vollkommen profane Sicht auf eine conditio humana im Zeichen irreversibler Flüchtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen: Das menschliche Leben unterliegt strikter Prädestination und jegliches Streben und Handeln sind unweigerlich von Täuschungen, Selbsttäuschungen und Obsessionen bestimmt und letztlich zum Scheitern verurteilt. Die Antriebskraft dieser Fatalität ist, neben dem blinden Walten der Fortuna und der alles vertilgenden Zeit, die pazzia, die als eine universale Kraft vorgestellt wird, die niemanden, auch nicht die für weise Gehaltenen, verschont.59 Als einzige irdische Entität bleibt die pazzia stets auf der Erde und hat dort entscheidenden Anteil an der mondwärts gerichteten Diffusion aller anderen Entitäten; ihr Ausmaß wird an der gewaltigen Menge ihres Gegenstücks ersichtlich, des senno, der auf Erden unentwegt sich verflüchtigt, um auf dem Mond wieder eingefangen und, auf Flaschen gezogen, verwahrt und archiviert zu werden. In dieses Tableau der „debolezze umane“ (Pio Rajna) oder eines „vanitas vanitatum d’ispirazione laica“ (Cesare Segre),60 das zwar dem Autor des die Bibel beschließenden eschatologischen Buches in den Mund gelegt ist, das aber den christlichen Heilsplan vollständig ausblendet, trägt sich nun die Dichtung ein: Als Versprechen 57

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Die Metaphorisierung der ‚wahren‘ Dichter als Schwäne bleibt in den mir vorliegenden Ausgaben des Furioso unerläutert und ohne Nennung einer Quelle; sie könnte aber auf Vergil, Eklogen 9, 30–36 zurückgehen, wo die Schwäne als vates den minderrangigen poetae gegenüberstehen, die ihrerseits – vielleicht weniger scharf als bei Ariost, der sie als Geier und Krähen schmäht – als schnatternde Gänse figurieren. Auf Logik und Ethos genealogischer Geschichtskonstruktionen komme ich ebenfalls in Kapitel 6 näher zu sprechen. Als mögliche Quelle dieser ‚universalistischen‘ Konzeption der Torheit wurde Erasmus’ Encomion moriae geltend gemacht (s. etwa Rajna 1900, S. 547; Salinari 1968; Ferroni 1975). Ohne diese Möglichkeit rundum zu bestreiten, möchte ich doch zu bedenken geben (auch weil die angeblichen Verbalreminiszenzen, die als Beleg genannt werden, nicht wirklich überzeugend sind), ob es sich nicht eher um eine Systemreferenz als um den zitativen Bezug auf einen einzelnen Text handelt. Tatsächlich hatte der Diskurs über die universelle Präsenz der Torheit und der Ehrgeiz ihrer gleichsam taxonomischen Erfassung – ich nenne hier nur Sebastian Brants Narrenschiff (dtsch. 1494; lat. 1497) als Beispiel – generischen Charakter. Auf eine weitere Parallele zwischen der Mondepisode und Erasmus’ Lob der Torheit, bei der es sich ebenfalls nicht um ein Zitat handeln muss, komme ich gleich zu sprechen. Rajna 1900, S. 546; Segre 1966, S. 93.

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postmortalen Weiterlebens und letztlich als Gnadeninstanz ist sie es, die Erlösung auch dem eigentlich Unwürdigen verheißt („Oltre che del sepolcro uscirian vivi, / ancor ch’avesser tutti i rei costumi“; O. F. XXXV, 24, 5–6)61 – solange er nur die Dichter hinreichend würdigt und dies durch ihre auch materielle Wertschätzung unter Beweis stellt. Noch bevor die Dichtung explizit und zunächst über eine konventionelle Allegorie als heilbringende Kraft in den Diskurs eingeführt wird, war sie bereits implizit gegenwärtig in jenem dem Apostel in den Mund gelegten Lobpreis Ippolitos d’Este, von dem bereits die Rede war. Anstoß zu diesem Enkomion gab eine Szene (O. F. XXXIV, 87, 5–9), in der Astolfo die ebenfalls auf dem Mond residierenden und in einem Schloss beherbergten antiken Parzen dabei beobachtet, wie sie die menschlichen Schicksale oder Lebensfäden abwickeln. Bevor ihre Zeit gekommen ist, präexistieren die Sterblichen in Form mehr oder weniger farbiger textiler Vliese auf dem Mond. Das prächtigste, alle anderen überglänzende unter diesen Vliesen präfiguriert nun, wie Astolfo auf Nachfrage von Johannes erfährt, den zukünftigen Ippolito d’Este. In seiner damit initiierten Lobrede auf das estensische Ferrara und insbesondere auf den zukünftigen Ippolito (O. F. XXXV, 4, 5–9) reproduziert der Apostel einen enkomiastischen Diskurstyp, der für den Furioso als genealogischenkomiastisches Epos, das er zu sein beansprucht, insgesamt konstitutiv ist und der einige Oktaven später, nach des Apostels difesa della poesia, mit dem Odium des Korrumpierbaren behaftet sein wird. Vor allem aber nimmt dieses Enkomion die potentielle Häresie der auf es folgenden difesa in gewisser Weise vorweg, insofern es nämlich selbst als miniaturisiertes und profaniertes Duplikat des Johannesevangeliums modelliert ist – eines ‚Evangeliums‘ allerdings, das in diesem Fall nicht den Himmelsfürsten, sondern den weltlichen Fürsten (oder den wie ein weltlicher Fürst und Kriegsherr agierenden Kardinal) Ippolito d’Este zum Gegenstand hat. Ein Vorbild dieser enkomiastischen Sequenz mag, ohne dass hier spezifische Verbalreminiszenzen nachweisbar wären, die Rom-Prophezeiung im sechsten Buch der Aeneis sein;62 der Beginn und das Ende der prophetischen Lobrede des Apostels verweisen aber in prägnanter Weise jeweils auf die Eröffnungs- und Schlussformeln des Johannes-Evangeliums. Dabei ist vor allem der Bezug auf dessen Prolog bedeutsam, in dem bekanntlich unter Beschwörung der ersten Worte der Genesis die Worthaftigkeit des göttlichen Schöpfungsaktes und Jesus als Fleischwerdung des Gotteswortes postuliert werden:63 61 62 63

Zatti spricht von einer „laicizzazione dell’immortalità cristiana“ (Zatti 1990, S. 143). Besonders Aeneis VI, 780 ff. Einzelne Syntagmen und Metaphern verweisen auf Vergils Georgica und auf Petrarca. Siehe hierzu die Kommentare Bigis (Ariosto 1982) und Ceseranis (Ariosto 1997). S. hierzu Theologische Realenzyklopädie, die Einträge „Logos“, Bd. XXI (1991), S. 432–444; „Wort Gottes“, Bd. XXXVI (2004), S. 291–329, bes. S. 320 f.; Conzelmann 1984, S. 370– 377; Hetzel 2014, S. 370–374. Auch Pulci zitiert am Beginn seines Morgante den Anfang des Johannesevangeliums, gleichfalls auf zweideutige, wenn auch weniger komplex kontextualisierte Weise, indem er Glaubensgewissheit zu bloßer subjektiver Meinung („a parer mio“) degradiert und profaniert: In Principio era il Verbo a presso a Dio, Ed era Iddio il Verbo e ’l Verbo lui;

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In Principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum. hoc erat in Principio apud Deum […] et Verbum caro factum est […].

Die Geburt Ippolitos wird nun ihrerseits mit Bezug auf die Geburt des Gottessohnes als der Inkarnation des göttlichen Verbum datiert. Auf die Frage nach der zukünftigen Identität jenes besonders reich ornamentierten, unter allen anderen hervorragenden vello erfährt Astolfo vom Apostel, che venti anni principio prima avrebbe che col .M. e col .D. fosse notato l’anno corrente dal Verbo incarnato. (O. F. XXXV, 4, 6–8)

Das mit diesem ebenso umständlichen wie ‚theologisch‘ elaborierten und dadurch besonders hervorgehobenen Verweis auf Ippolitos Geburtsjahr (tatsächlich 1479) anhebende Enkomion geht über fünf Oktaven und endet mit einer Klausel, die, nachdem das Johannesevangelium durch die Zitierung seines Prologs einmal als Referenz aufgerufen ist, nicht ohne weiteres als zufällige Parallelbildung durchgehen kann.64 Sowohl in der Bibel als auch bei Ariost vernimmt man das demütigresignative Eingeständnis des ‚Chronisten‘ Johannes, dass die Fülle der zu berichtenden Wundertaten bzw. Verdienste der Gepriesenen, dort Jesus von Nazareth, hier Ippolito d’Este, unerschöpflich sei. Im Johannesevangelium heißt es hierzu: Sunt autem et alia multa quae fecit Iesus quae si scribantur per singula nec ipsum arbitror mundum capere eos qui scribendi sunt libros.

Im Orlando Furioso hingegen liest man, in gebührender Verkleinerung des Sachverhalts, heruntermodulierter Diktion und mit derselben Ironie, die sonst das Schalten und Walten des extradiegetischen Erzählers beim Wechsel zwischen unterschiedlichen Handlungssequenzen begleitet und die den Fortgang des Geschehens davon abhängig zu machen scheint, ob und wie es erzählt wird:

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Questo era nel principio, al parer mio, E nulla si può far sanza Costui. (Morgante I, 1, 1–4) S. hierzu Quint 1983, S. 81, mit einer, wie mir scheint, recht forcierten Interpretation. In den meisten Kommentierungen der Mondepisode wird von der Anspielung auf den johanneischen Logosprolog, die mir auffällig zu sein scheint, kein besonderes Aufheben gemacht. Dies auch nicht in jenen Interpretationen, die im Gefolge Durlings Ariost eine ambitionierte ‚dichtungstheologische‘ Programmatik verfolgen sehen, die das dichterische Werk als mikrokosmisches Analogon des von Gott erschaffenen Makrokosmos versteht und den Dichter als deus occasionatus, als Analogon des Schöpfergottes. Der Verweis auf den Logosprolog wäre m. E. das einzige Indiz, das für eine solche Interpretation spräche, die ich gleichwohl für falsch halte (s. hierzu weiter unten). Einer der wenigen, die den Verweis auf den neutestamentarischen Logosprolog überhaupt notieren, ist David Quint (Quint 1983, S. 90), der diese Reminiszenz mit seiner Interpretation verrechnet, nach der die Mondepisode die unentrinnbare Selbstreferentialität des literarischen Diskurses und den Text als geschlossenes semiotisches System propagiere. Ich komme auf diese Interpretation (die ich nicht teile) in Kapitel 6 noch etwas näher zurück. Unter Verweis auf Quint geht ferner Ascoli auf diese Stelle ein (Ascoli 1987, S. 275 f.).

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes […] e s’io vorrò narrar li alti suoi merti, al fin son sì lontano, ch’Orlando il senno aspetterebbe invano. (O. F. XXXV, 9, 6–8)

Der sehr intrikate Verweis auf den Bibeltext, der die Geburt Ippolitos mit der Jesus’ von Nazareth als dem Verbum incarnatum in Parallele stellt, insinuiert, auch der estensische Kardinal sei die ‚Inkarnation‘ eines zuvor gesprochenen Wortes. Bedenkt man den Fortgang der apostolischen Ausführungen und vor allem ihr Finale (von dem gleich noch eingehender die Rede sein wird), kann es sich dabei nur um ein Dichterwort handeln. Die profanierende Zitation des Bibeltextes gibt also das Gleiche zu verstehen, was in den eingangs zitierten Versen um den vom Ertrinkungstod bedrohten Ruggiero scherzhaft impliziert war: Die Herrscher sind Kreaturen dichterischer Sprachmächtigkeit, ihre Genesis ist letztlich Poiesis, die Geschichte und ihre Figuren performative Zeugungen im und durch das Dichterwort. Allerdings gibt es einen signifikanten Unterschied zur performativen Schöpfungsmacht des Gotteswortes: Anders als in der Genesis oder im Johannesevangelium ist im Furioso, wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe, nicht das gesprochene, sondern das geschriebene Wort schöpfungsmächtig. Gerade wenn der Dichter bei Ariost besonders artikuliert als Schöpfer der erzählten Welt hervortritt, spricht oder singt er nicht, sondern er schreibt, wobei auf der Materialität seines Schöpfungsaktes eine besondere Emphase dadurch liegt, dass die Werkzeuge, derer er bedarf – penna, inchiostro und an einigen Stellen auch carta – explizit benannt werden. Wenn also, der zuvor erörterten These entsprechend, im Kontext der Mondreise die Schöpfungsmacht des Dichterwortes der Schöpfungsmacht des göttlichen Logos assoziiert wird, kann man wohl in der Konkretisierung des schriftlichen Schöpfungsaktes in seiner profanen Dinglichkeit und Handwerklichkeit zugleich eine Distanzierung von jeglichen ‚theologischen‘ Implikationen erkennen, sowohl von der christlich-neuplatonischen Logosmystik wie auch vom antiken epischen Sänger, dem priesterlichen vates, der ebenfalls spricht oder singt, aber gewiss nicht schreibt. Auf diese Entsakralisierung dichterischer Schöpfungsmacht wird im Zusammenhang einer anderen Passage der Mondepisode noch einmal zurückzukommen sein. Zunächst allerdings bleiben die sich an das ‚evangelische‘ Ippolito-Enkomion anschließenden expliziten Ausführungen des Apostels zur Dichtung noch ganz im Rahmen geläufiger dichterischer Immortalisierungstopik.65 In Auslegung jener 65

Loci classici sind Homer, Ilias VI, 359; Horaz, Carmina IV, 8, 28; Ovid, Amores I, 10, 62. Zur dichterischen Verewigung siehe auch die weiteren Belege und pointierten Anmerkungen in Curtius 1993 (1948), S. 469 f. Burckhardt betont die Bedeutung des Motivs für die Renaissance: „Der Poet-Philologe in Italien hat aber, wie bemerkt, auch schon das stärkste Bewusstsein davon, dass er der Austeiler des Ruhms, ja der Unsterblichkeit sei; und ebenso der Vergessenheit.“ (Burckhardt 1976, S. 141). Auch Boiardo variiert diesen Topos: Se a quei che triunfarno il mondo in gloria, Comme Alexandro e Cesare romano, Che l’un e l’altro corse con vitoria Dal Mar di Megio al’ultimo Oceàno, Non avesse socorso la Memoria,

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allegorischen Szene, in der zwei Schwäne die Namen weniger Auserwählter in einen „Tempel der Unsterblichkeit“ überführen, während alle anderen dem Strom des Vergessens überantwortet werden, heißt es von den als „sacri ingegni“ (ebd. 23, 6) gefeierten Dichtern, dass nur sie es vermögen, die „uomini degni“ dem Vergessen zu entreißen, während die präpotenten, als Krähen und Geier figurierenden ‚falschen‘, nämlich lügenhaften und schmeichlerischen Dichter an dieser Aufgabe scheitern. Doch seien die wahren Dichter selten („Son, come i cigni, anche i poeti rari“), und dies nicht zuletzt „per gran colpa dei signori avari“ (XXXV, 23, 1–6), die jene „sacri ingegni“ darben lassen. Diese durchaus von konventionellen Motiven getragene difesa della poesia wechselt aber unvermittelt und drastisch ihre Vorzeichen, wenn der Apostel in der Folge erklärt, dass das Bild, das sich die Nachwelt von geschichtlichen Ereignissen und ihren Protagonisten mache, ausschließlich ein Produkt dichterischer Willkür sei, die ihrerseits positiv oder negativ beeinflusst werde von der Freigiebigkeit oder dem Geiz derer, die von den Dichtern besungen, gerühmt, getadelt oder totgeschwiegen werden; mit den Worten Ascolis: „even the ‚swans‘ are flatterers who sacrifice the value of historical truth at the altar of economic reward“.66 Nachdem Johannes zunächst den Geiz der Fürsten an den Pranger gestellt hat, die ihre Unsterblichkeit verspielen, indem sie die Dichter gering schätzen und knapp halten – Credi che Dio questi ignoranti ha privi de lo ’ntelletto, e loro offusca i lumi; che de la poesia gli ha fatto schivi, acciò che morte il tutto ne consumi. Oltre che del sepolcro uscirian vivi, ancor ch’avesser tutti i rei costumi, pur che sapesson farsi amica Cirra, più grato odore avrian che nardo o mirra.

– fährt er fort, indem er die geschichtsstiftende Macht der Dichter mit prominenten Beispielen belegt: Non sì pietoso Enea, né forte Achille fu, come è fama, né sì fiero Ettorre; e ne son stati e mille e mille e mille che lor si puon con verità anteporre: ma i donati palazzi e le gran ville dai descendenti lor, gli ha fatto porre in questi senza fin sublimi onori da l’onorate man degli scrittori.

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Ascoli 1987, S. 275.

Sarìa fiorito il suo valor invano: L’ardir e ’l senno e l’inclite vertute Sarìan tolte dal Tempo e al fin venute. (O. I. II, XXII, 1; vgl. auch die anschließende Oktave)

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes Non fu sì santo né benigno Augusto come la tuba di Virgilio suona. L’aver avuto in poesia buon gusto la proscrizion iniqua gli perdona. Nessun sapria se Neron fosse ingiusto, né sua fama saria forse men buona, avesse avuto e terra e ciel nimici, se gli scrittor sapea tenersi amici. Omero Agamennon vittorioso, e fe’ i Troian parer vili et inerti; e che Penelopea fida al suo sposo dai Prochi mille oltraggi avea sofferti. (O. F. XXXV, 24, 1–27, 4)

Wie man sieht, bleiben in Johannes’ Totalrevision der episch überlieferten Geschichte selbst Homers Hektor, immerhin der Urahn Ruggieros und damit auch der Este, sowie Augustus, der immer wieder in typologische Korrespondenz zu Ippolito d’Este gesetzt wird, nicht ungeschoren. Johannes’ völlige Umwertung geschichtlicher Überlieferung ist aber nicht nur ein brisanter Kommentar zu einer Textgattung und ihren kanonischen Repräsentanten, den Erzpoeten Homer und Vergil, sondern auch zu dem Text selbst, in dem diese die traditionelle Topik invertierende Dichtungsapologie einer an Autorität kaum zu überbietenden Figur in den Mund gelegt wird;67 als genealogische Huldigung der Ferrareser Este-Dynastie, die ihrerseits troianischen Ursprungs sein soll, situiert sich der Orlando furioso in einer Genealogie von Texten, deren prominenteste Exemplare, Ilias, Odyssee und Aeneis, jetzt das Verdikt schierer, die historische Wahrheit gezielt verfehlender Willkür trifft.68 In der Reichweite dieses Verdikts liegt aber auch des Apostels eigene und, wie gesehen, sein Evangelium zitierende Este-Eloge, die er wenige Oktaven zuvor intoniert hat und die ebenfalls dem inkriminierten enkomiastischen Diskurstyp angehört. Zum häresieverdächtigen Skandalon wird Johannes’ Dichtungsapologie indessen erst in ihrem Schlussteil: Nachdem der Apostel zunächst eine längere Liste prominenter Geschichtsfälschungen aufgeführt hat, gibt er zu verstehen, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um das grundlegende Prinzip dichterischer Geschichtsüberlieferung handelt – E se tu vuoi che ’l ver non ti sia ascoso, tutta al contrario l’istoria converti: che i Greci rotti, e che Troia vittrice, e che Penelopea fu meretrice. (O. F. XXXV, 27, 5–8)

–, um sich dann selbst unter die so kompromittierten scrittori einzureihen –

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Dass auch einem Evangelisten nicht unter allen Umständen zu glauben ist, darf man indessen aus einer Replik schließen, mit der eine Figur der Glaubwürdigkeit einer intradiegetisch vorgetragenen Erzählung widerspricht (der sogenannten Fiammetta-Episode, auf die ich später noch näher eingehe), von der sich auch der Erzähler im Proömium desselben Gesangs bereits distanziert hatte: „A chi te la narrò non do credenza, / s’evangelista ben fosse nel resto“ (O. F. XXVIII, 77). S. Hempfer 1995, S. 83.

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Non ti maravigliar ch’io n’abbia ambascia, e se di ciò diffusamente io dico. Gli scrittori amo, e fo il debito mio; ch’al vostro mondo fui scrittore anch’io. (O. F. XXXV, 28, 5–8)

–, nämlich als Verfasser des Johannesevangeliums, das nun in der von ihm selbst zuvor ausgerichteten Perspektive als ein weiteres lügenhaftes Herrscherenkomion erscheinen kann, nur dass es sich bei dem Gepriesenen um den Gottessohn handelt – „even if the prince in question happens to be the Prince of Peace.“69 Der Schlüssel zum adäquaten Verständnis der Rede Johannes’, die einige Perplexität bei ihren Interpreten verursacht hat, liegt zweifellos in ihrer paradoxalen Modalisierung.70 Paradoxal ist diese Rede in zweifacher Hinsicht: Wenn alle Dichter lügen und wenn der, der dies behauptet, sich selbst zu den Dichtern zählt, hat man es zum einen mit der Konstellation des sogenannten Epimenides- oder LügnerParadoxons zu tun, das einen Mann aus Kreta behaupten lässt, alle Kreter seien 69 70

Chiampi 1983, S. 341. Die Auszeichnung von Johannes’ Dichtungsapologie als ‚paradox‘, die man in der Forschungsliteratur häufig findet, bleibt zumeist sehr allgemein, so etwa in Bigis Kommentar dieser Stelle, der von einer „forma paradossale“ spricht, ohne auf einen bestimmten, eventuell auch historisch spezifizierbaren Diskurstyp zu zielen. Auch Casadei diagnostiziert für Johannes Dichtungsapologie Paradoxalität – vage wie Bigi insofern, als er von einem „tono paradossale“ spricht, präziser als dieser aber, insofern er den Diskursmodus des Paradoxalen als Bedingung der Möglichkeit von Johannes’ als potentiell häretisch erkannten Ausführungen ausweist: „Certamente, il tono è paradossale, e solo in questo modo si può accettare il discorso dell’Evangelista, che altrimenti porterebbe (e mancherebbe un niente) all’eresia della falsità dei vangeli stessi; tuttavia, attraverso questo paradosso e per interposta persona, il narratore-quasiautore e riuscito a dire che la buona poesia fa la storia, ovvero che i buoni poeti sono più forti dei loro signori.“ (Casadei 2011, S. 252). Casadei verkennt aber wiederum, dass gerade die paradoxale Zuspitzung der Ausführungen Johannes in ihrem zweiten Teil das Attribut „buono“ für die Dichter und die Dichtung (und ebenso für die zu verewigenden Fürsten) preisgibt. Die Diskurshoheit und Schöpfungsmacht der Dichter wird von ihren moralischen Qualitäten ebenso abgekoppelt wie die dichterische Immortalisierung des Fürsten von seinen tatsächlichen Verdiensten und Tugenden. Von Paradoxalität, sogar von einem „crescendo di paradossi“, spricht hinsichtlich der Rede des Apostels auch Petersen (Petersen 1990, S. 208), lässt diese aber in der Ironie aufgehen, die sie etwas undifferenziert dem Diskurs des Furioso insgesamt attestiert (s. hierzu auch weiter unten, S. 183). Ausführlicher lässt sich Zatti auf das „elogio paradossale“ Giovannis ein, konfrontiert es mit Erasmus’ Lob der Torheit und stellt es in instruktiver Weise in den Kontext eines – vorrangig lukianesken – serio ludere (Zatti 1990, S. 130 f.). Er vereindeutigt die Paradoxalität von Johannes’ Rede aber letztendlich und reduziert ihren Effekt auf ein diplomatisches und ein wenig triviales ‚einerseits-andererseits‘: „la poesia è utile (al potere) in quanto manipola la verità storica, ma è anche utile (alla verità) in quanto denuncia questa manipolazione.“ (ebd. S. 145 f.). Zattis Interpretation ist zuweilen recht assoziationsfreudig, etwa wenn sie behauptet, dass dem exzentrischen Ort des Mondes, der einen externen Blick auf die Erde erlaube, eine exzentrische Logik, die des Paradoxons, der karnevalesken Verfremdung und der Inversion, entspreche (ebd. S. 128; s. auch S. 135). Eine pointierte Analyse der irreduziblen Ambiguität von Johannes difesa bietet Weaver 2003 (11977), S. 142. Die Schlussfolgerung der Autorin, die Rede des Apostels gehe in einer Poetik auf, die für ihre Fiktion exklusive Wahrheitsbedingungen beanspruche („poetry as fiction with its own rules and system of truth“, ebd.) erscheint mir aber als zu harmonisierend und optimistisch.

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes

Lügner. Wenn man die Rede des Apostels vor dieser Folie lesen wollte, wäre seine Behauptung von der notorischen Lügenhaftigkeit der Dichter, zu deren Menge er nach eigenem Bekunden ja selbst gehört, ihrerseits als lügenhaft oder unzutreffend ausgewiesen, wodurch aber wiederum die Möglichkeit der Gültigkeit dieser Behauptung als wiederhergestellt erscheint usw. Die narrative Kontextualisierung derartiger logischer Sophismata eröffnet natürlich, hier wie auch im Fall der Epimenides-Anekdote, Auswege aus dem logischen Dilemma, Möglichkeiten der Disambiguierung, die etwa darauf bestehen, dass solche Aussagen nicht wörtlich zu nehmen sind, dass sie im Affekt getroffen werden, dass nicht alle, sondern nur einige Kreter bzw. Dichter gemeint sein können oder dass mit Johannes Suada nur ein dichtungskritischer Gemeinplatz aufgerufen sei, der Dichtung und Lüge gleichsetze usw. Laut Russell würde nur eine rigoros ‚entnarrativierte‘ Reduktion der EpimenidesAnekdote („Ein Mann sagt: Ich lüge gerade“) eine echte logische Antinomie konstituieren.71 Ironie, die man der Rede des Apostels ja durchaus konzedieren könnte, ist im Übrigen in derartigen logischen Problemstellungen nicht vorgesehen. Nun wird Ariost, falls ihm das Epimenides-Paradoxon (das er etwa aus den PaulusBriefen – Titus 1,12 – kennen konnte) überhaupt vor Augen stand, schwerlich an der Exemplifizierung eines aussagenlogischen Problems interessiert gewesen sein. Ohnehin dürfte eine relevantere Referenz für Johannes’ Dichtungsapologie die Gattung oder Textsorte der paradoxalen Epideixis oder Enkomiastik sein, die allerdings ihrerseits logische Paradoxien nach Art des Epimenides-Paradoxons im Repertoire hatte. Konstitutiv für dieses Genus ist aber, ganz allgemein gesprochen, die systematische Dissoziierung von Aussageinhalt, Aussagemodus und – gegebenenfalls – Aussagesubjekt: Die oratorischen oder auch lyrischen Register epideiktischer Lobrede werden auf einen entweder nichtigen oder potentiell obszönen (Lukians Lob der Fliege, Francesco Bernis Lode dell’anguilla) oder schlechthin negativen (Favorinus’ Lob des Quartfiebers, Bernis Capitoli della peste) Gegenstand angewendet; in Erasmus Lob der Torheit – wohl das berühmteste Exemplar der Gattung – kommt die autoreferentielle Komplikation hinzu, das Objekt der Lobrede zugleich zu ihrem Subjekt zu machen:72 Die Stultitia, die personifizierte Torheit, spricht zu ihrem eigenen Lob und konstituiert damit einen auch aussagenlogisch potentiell paradoxen Sachverhalt.73 Denn während törichte Rede per definitionem der Äußerung von Unwahrem assoziiert ist, spricht Erasmus’ Stultitia sehr wohl logisch korrekte, dem rhetorischen aptum entsprechende und konsensfähige (und vom moralphilosophischen Diskurs der Epoche zumindest partiell geteilte), also als ‚wahr‘ auszuzeichnende Sachverhalte aus. Damit wird aber die definitorische Zuordnung von ‚Torheit‘ und ‚unwahrer Rede‘ selber als ungültig (oder nur bedingt gültig) ausgewiesen, damit aber wiederum die Triftigkeit zumindest jener Aussagen der Stultitia unterlaufen, die gerade die Segnungen von Wahrheitsverweigerung, Unwissenheit, Amnesie usw. preisen, aber unter den Voraussetzungen der Wahrheitsverweige71 72 73

Russell 1908, S. 222. S. hierzu auch Zatti 1990, S. 130. Die folgenden Anmerkungen zu Erasmus Enkomion moriae schließen an ausführlichere Darlegungen an, die ich zusammen mit Angelika Lozar in Häsner/Lozar 2006 vorgetragen habe. S. ebd. S. 49–53.

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rung, Unwissenheit und Amnesie gar nicht zu treffen sind. Die Komplexität von Erasmus’ Lob der Torheit lässt sich gewiss nicht allein auf diesen Kunstgriff zurückführen; er ist aber der strukturelle Kern einer intendierten (und in der Vorrede von Erasmus auch explizit in Anspruch genommenen und in ihrer Spannbreite bereits angedeuteten) Polyvalenz der Textaussage, die irreduzibel ist. Vereitelt wird durch die Dissoziierung von Aussagesubjekt, Aussagemodus und Aussageinhalt nicht zuletzt jegliche argumentatio ad hominem, also die Möglichkeit, die Gültigkeit von Aussagen über eine Rückführung auf das Aussagesubjekt entweder zu validieren oder zu diskreditieren, sie also positiv oder negativ zu ‚autorisieren‘. Dieser Effekt ist in jedem Fall auch für den Diskurs des Apostels Johannes bei Ariost zu veranschlagen, wenn auch mit gegenüber Erasmus umgekehrten Vorzeichen, da im Furioso eine Sprecherinstanz, die im christlichen Kontext, als Empfänger göttlichen Offenbarungswissens, geradezu eine Verkörperung von Wahrheit ist, hier der Manipulation von Wahrheit das Wort zu reden scheint und einem dichterischen ‚Ethos‘ Ausdruck verleiht, das sowohl vom biblisch-christlichen Tugend- und Gebotskanon wie auch von der poetologischen doxa eklatant abweicht und auch in diesem Sinne ‚paradox‘ oder ‚adox‘ ist. Attraktivität und Potential paradoxaler Rede, die diese, nach dem bekannten Befund Rosalie Colies, gerade in der Renaissance als einer Epoche epistemologischer Labilität ‚epidemisch‘ haben werden lassen, dürften entscheidend damit zu tun haben, dass sich dieser Redetyp, zumindest in seinen ambitionierteren Durchführungen, jeder Vereindeutigung widersetzt und nicht restlos disambiguierbar oder ‚entparadoxierbar‘ ist; jede Bedeutungsfixierung hinterlässt einen semantischen Rest oder Überschuss, der sie relativiert oder ihr die Grundlage entzieht.74 Insgesamt wären die Funktionen paradoxaler Diskurse in der Renaissance, ihre verschiedenen Ausprägungen und die interpretativen Spielräume, die sie eröffnen, wohl noch genauer auszuloten; zumindest hinsichtlich der komplexeren Versionen ginge es darum, sie nicht nur als rein taktisch eingesetztes Transportmedium und Einkleidung ‚problematischer‘ Inhalte zu begreifen, die vorab ihrer Verbalisierung bereits ‚gedacht‘ und ‚durchdacht‘ wurden, sondern als Erzeugungsmodus dieser Inhalte, als diskursive Versuchungsanordnung von Denkmöglichkeiten. Einfach konstruierte Enkomien mit trivialem Gegenstand dürften allerdings weitgehend in der selbstreferentiellen Funktion aufgehen, ein bereits konventionalisiertes oder sogar ‚automatisiertes‘ Verfahren epideiktischer Lobpreisung zu ridikülisieren und zu denunzieren; für komplexe paradoxale Lobreden wie Erasmus’ Enkomion oder eben Johannes’ Dichtungsapologie gilt dies aber offenkundig nicht. Gewiss dürfen paradoxe Lobreden nicht wörtlich verstanden werden, ebensowenig ist es aber zulässig, ihre Aussage einfach mit entgegengesetzten Vorzeichen zu versehen, also ostentative Positivierung als Herabsetzung zu lesen und vice versa. Aber auch Interpretationen, die sie auf ihre trivialste Bedeutung reduzieren oder sie mit einer einschlägigen opinio comunis abgleichen, werden ihnen nicht oder nur ausnahmsweise gerecht; sie verkennen oder unterschätzen eine zentrale Funktion dieser Textsorte, nämlich 74

Grundlegend zur rinascimentalen „Paradoxia Epidemica“ nach wie vor Colie 1966; s. ferner Longhi 1983, S. 138–181; Schulz-Buschhaus 1991; Schulz-Buschhaus 1993; Hartung 2003; Häsner/Lozar 2006; Traninger 2012.

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gerade der sanktionsfreien oder risikomindernden Ausstellung und Erprobung anzüglicher, heterodoxer, skandalöser oder schlicht ‚unvernünftiger‘ Positionen einen Diskursraum zu eröffnen. Eine Interpretation etwa, nach der es in Erasmus’ Lob der Torheit darum ginge, „die Ansprüche des stoischen Ideals gewissermaßen zu humanisieren und die Einseitigkeit einer Moral zu korrigieren, die allzu viel vom Intellekt und allzu wenig von den Affekten hält“,75 erschiene mir deshalb allzu sehr von dem Interesse geleitet, die paradoxe und transgressive Rede der Stultitia und ihre proliferative Semantik einzuhegen und in den Kanon des philosophisch bereits Konzeptualisierten, etwa eines Epikuräismus, wie er in Vallas De voluptate propagiert wird, zurückzuführen. Reduktive oder harmonisierende Interpretationen dieser Art können im übrigen die oft komplexe Kontextualisierung und aufwendige Ausgestaltung paradoxaler Diskurse kaum plausibel machen. Im Falle der Dichtungsapologie von Ariosts Johannes verstehe ich vor allem solche Interpretationen als unangemessen trivialisierend, die diese Apologie als scherzhafte Digression auffassen, deren Funktion mehr oder weniger darin aufgehe, die Fürsten zu mehr Großzügigkeit gegenüber den Dichtern anzuhalten. So etwa Bigi, der, wenn auch mit Vorbehalten, in seiner Kommentierung dieser Sequenz feststellt: Questa digressione (st. 23–30) sembra apparentemente destinata soltanto ad ammonire, con tono tra serio e scherzoso, i principi […] a non lasciar ,mendicare i sacri ingegni‘ dei poeti, che con il loro canto possono dare e togliere la fama ai principi stessi.

Darüber hinaus erwägt Bigi ein „significato più profondo“, das auf die Widerstände ziele, die der zivilisatorischen Aufgabe der Dichtung und des Dichters sich entgegenstellten und das letztlich mit dem Gehalt der Schwanenallegorie zusammenfiele.76 Die ‚skandalösen‘ Implikationen der Sequenz scheint Bigi gar nicht wahrzunehmen. Weder die rigorose Umwertung geschichtlicher Überlieferung und ihres Wahrheitswertes durch den Apostel noch die Konsequenzen für das genealogische Projekt, das der Furioso zu verfolgen beansprucht, noch die brisanten theologischen Schlussfolgerungen, die des Apostels Rede nahelegt, sind von Bigis Interpretation auch nur berührt, geschweige denn ‚erklärt‘.77 75 76

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So Schulz-Buschhaus 1991, S. 268. S. auch, mit ähnlichem Tenor, Zatti 1990, S. 131. „Ma non mi sembra azzardato attribuire a tale digressione […] un significato più profondo, che investe ed esprime, sia pure in forma paradossale, la complessa e problematica concezione che l’A. ha della poesia: una concezione in cui alla idea umanistica dell’arte come strumento di civiltà, e in particolare come attività che seleziona e tramanda ai posteri le azioni e i nomi degli uomini meritevoli di essere assunti quali esempi, si accompagna la coscienza spregiudicata della difficoltà che essa incontra nell’esplicare tale funzione, sia per la scarsità delle persone veramente degne di lode e di memoria, sia perché i poeti medesimi sono sottoposti essi pure alle tentazioni e imperfezioni proprie degli altri uomini, e quindi costretti a scendere spesso a compromessi con la propria coscienza.“ Bigis Kommentar repräsentiert durchaus den Mainstream v. a. älterer Interpretationen der poetologisch relevanten Aussagen Johannes’, die das Skandalon dieser Aussagen, zumeist unter Narkotisierung ganzer Textschichten, weitgehend verkennen; so etwa Baillet 1977, Alexander 1982 und Fichter 1982. Robert Durling zählt Johannes’ Dichtungsapologie zu den „less serious parts of the poem“ (Durling 1965, S. 146) und bestreitet ihre Relevanz für das genealogisch-enkomiastische Programm des Furioso (s. hierzu auch unten, S. 158). Mario Santoro verweigert sich in seiner Gesamtinterpretation der Mondepisode, die vor allem deren gegen-

2.2 Paradoxia evangelica. Poetische Lügen als Gnadenerweis

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Ich will an dieser Stelle aber nicht weiter auf die Interpretabilität von Johannes paradoxem Dichterlob eingehen, das namentlich hinsichtlich seiner ‚theologischen‘ Insinuationen und Implikationen einer gesonderten Behandlung bedürfte, sondern mich darauf beschränken, diese Passage im Lichte jener eingangs zitierten und gleichfalls paradoxalen Verse zu lesen, in denen der Erzähler den Stammvater der Este so lange unerzählt ließ, bis dieser beinahe ertrunken wäre. In dieser Perspektive kann Johannes’ Dichtungsapologie ungeachtet ihrer paradoxalen Modalisierung als adäquate und gültige Konzeptualisierung der Erzählpraxis des Furioso verstanden werden. Ihre moralischen Konnotationen und ihre theologischen Impliwartskritische Aspekte herausarbeitet, ebenfalls den brisanten Implikationen der Rede Johannes’ sowohl für die Este-Enkomiastik wie auch für den epistemischen Status der Heiligen Schrift und erkennt in dieser Rede lediglich ein Dementi zum „umanistica fede nell’itinerario dalla feritas alla humanitas per opera delle lettere […].“ (Santoro 1989e, S. 260) Auch Dieter Kremers weicht in seiner ambitionierten und anregungsreichen Interpretation des Furioso, die der Mondepisode zu Recht eine zentrale Funktion für den Gesamttext zuspricht, den irritierenden und potentiell häretischen Konsequenzen der Dichtungsapologie des Apostels aus: „Die transzendente Dimension des Evangeliums übergehend bzw. ausscheidend, zieht er [Ariost mittels der Rede des Apostels Johannes] auch den christlichen Glauben auf die Erde herab, um ihn mit den übrigen Werten gleichzusetzen und auf diese Weise die strikte Immanenz seiner dichterischen Welt zu bewahren.“ (Kremers 1973, S. 152) Neuere, insbesondere dekonstruktivistische Interpretationen der Mondepisode (v. a. Quint 1977; Chiampi 1983; Petersen 1990) zeigen sich zwar aufgeschlossener gegenüber den internen Diskrepanzen und Paradoxien der ganzen Sequenz und ihrem potentiell häretischen haut-goût, neigen aber ihrerseits dazu, einzelne Aspekte zu verabsolutieren und andere, gegenläufige, zu ignorieren. Während Bassi 2004 und Mac Carthy 2009 gegenüber dem bereits Bekannten kaum Neues bieten, vermittelt Rivoletti 2007 interessante Einsichten in ein „System intratextueller Bezüge“ (ebd., S. 237), das die poetologischen Ausführungen des Apostels Johannes mit anderen, z. T. weit entfernten Textstellen des Furioso auf subtile Weise verbindet und dem komplexen enkomiastikkritischen Diskurs Ariosts, der sich gleichsam im Rücken der expliziten Este-Enkomiastik entfaltet, neue Facetten hinzufügt und sein Gewicht und seine Bedeutung für den Gesamttext bestätigt. Rivolettis Befund, nach dem Ariosts „Kritik an der Dichtung als Lüge […] nicht eine beliebige Art der Verfälschung der Wirklichkeit [betrifft], sondern [darauf zielt], ganz bestimmte gesellschaftliche Mechanismen zu beleuchten, die auf das literarische Schreiben Druck ausüben“ (ebd. S. 240) scheint mir aber zu kurz zu greifen. Eine der eindringlichsten, in eine Gesamtinterpretationen des Furioso eingebettete Analyse der Mondepisode stammt von Sergio Zatti (Zatti 1990), von dem ich einzelne Beobachtungen in meiner Interpretation aufgegriffen habe. Dem abschließenden Befund Zattis, Johannes’ Dichtungsapologie betreffend, den ich weiter oben (Anm. 70) bereits zitiert habe, kann ich mich aber nicht anschließen; er scheint mir kaum über den Kommentar Bigis hinauszugehen. Hinsichtlich der Rede des Apostels folge ich weitgehend der Analyse und Interpretation in Hempfer 1995, wo diese Rede gerade wegen ihrer komplexen Diskrepanzstruktur sowohl als gültige Thematisierung der impliziten Poetik des Orlando Furioso aufgefasst wird wie auch als paradigmatische Veranschaulichung der rinascimentalen episteme und der für sie charakteristischen Pluralisierung und Relativierung von Wahrheit. Gegenüber Hempfer versuche ich die Kontextualisierung der Dichtungsapologie des Apostels stärker herauszuarbeiten. Neuere Arbeiten, u. a. von Marco Dorigatti und Riccardo Bruscagli, die den genealogischen Diskurs des Furioso in angemessenerer Weise ernst nehmen wollen, als dies in einem überwiegenden Teil der Forschungsliteratur zuvor üblich war, gelingt dieses Vorhaben freilich zumeist nur zum Preis weitgehenden Ausblendens der ‚subversiven‘ Ambiguisierung dieses Diskurses, insbesondere der brisanten Rede des Apostels; auf diese Arbeiten komme ich in Kapitel 6 eingehender zurück.

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kationen beiseite gelassen, behauptet sie eine Diskurshoheit der Dichtung über die Geschichte, die der des Erzählers über die ‚Geschichte‘ entspricht: Der Diskurs der (epischen) Dichtung ist irreduzibel; nur das, worüber die Dichtung spricht, ist und bleibt wirklich im Sinne von ‚diskursiv zugänglich‘. Es gibt keine Geschichte außerhalb des (dichterischen) Diskurses über sie. Diese Hegemonie der Dichtung über die Geschichte, die durch die Parallelisierung enkomiastischer Dichterrede mit der performativen Schöpfungsmacht des göttlichen Wortes noch bestärkt wird, ist der Verfügungsmacht des Erzählers über seinen Erzählstoff nicht nur homolog; indem für diesen Erzählstoff beansprucht wird, er sei ein historischer – sein Gegenstand ist ja ausdrücklich die Genese des Hauses Este – darf Johannes’ Dichtungstheorie auch als eine unmittelbar pertinente Aussage über die Konstitutionsbedingungen des Textes, in welchem sie vorgebracht wird, also des Orlando furioso, verstanden werden.78 2.3 DIE JENSEITSREISE ALS METAPOETISCHES NARRATIV Es wäre müßig, für diese im Modus des Paradoxons formulierte Poetik eine Entsprechung im zeitgenössischen poetologischen Diskurs zu suchen. Zwar wird der Dichtung auch in den horazisch inspirierten humanistischen Poetiken ein prominenter Rang zugewiesen, mit besonderer Emphase etwa bei Pontano, der sie in seinem Dialog Actius als priesterliche und zivilisationsstiftende Kraft feiert.79 Die Dichtung, so lässt Pontano seinen Sprecher Actius (der akademische nom de plume Jacopo Sannazaros) sagen, habe den Menschen als erste von Gott berichtet, sie habe – eine offenkundige Anspielung auf Dante – die Seelen der Frommen in den Himmel erhoben und die der Unfrommen in den Tartarus verstoßen, den Guten ihren Lohn, den Bösen ihre Strafe zugeteilt, die Menschen aus den Wäldern und Höhlen hervorgeholt; sie biete, so Actius weiter, der Sterblichkeit Paroli und stelle das Vergangene als gegenwärtig vor Augen.80 Die Dichtungslehre von Ariosts Johannes geht indessen, zumin78

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Ascoli wirft die Frage auf, ob für Johannes’ Rede eine Differenzierung von ‚Dichtung‘ und ‚Historiographie‘ zu veranschlagen wäre und die vom Apostel behauptete Manipulation geschichtlicher Wahrheit ausschließlich für die Dichtung zu gelten hätte (s. Ascoli 1987, S. 276); Ascoli verneint diese Frage und ich stimme ihm darin zu. Über die Doppelbedeutung von istoria („tutta al contrario l’istoria converti“; O. F. XXXV, 27, 6) im Sinne von ‚erzählter Geschichte‘ und ‚ereigneter Geschichte‘ geht Johannes einfach hinweg. Ich möchte hinzufügen, dass von einer Rede, in der die Bibel nonchalant als Dichtung ausgegeben wird, auch keine Differenzierung von Dichtung und Geschichtsschreibung und ihres jeweiligen Wahrheitswertes zu erwarten ist. Zu Pontanos Actius und zur hochgradig digressiven Vielstimmigkeit dieses Dialogs, die ich hier nicht berücksichtigen kann, s. Müller 2003. „Quibus igitur verbis aut quonam ore gestuque assurgemus Poeticae? quae princeps de Deo et disseruit et eius laudes cecinit, instituitque sacra, unde primi poetae sacerdotes vocati, verbisque eum placavit et cantibus, docuitque habere rerum humanarum curam, benigneque cum probis agere, excandescenter cum improbis. Haec prima excitavit ad virtutem homines, dum animae immortalitatem profitetur, haec e terris piorum animos in coelum devexit, impiorum detrusit in Tartara; haec bonis tandem praemia retribuit, malos poenis postremisque insecuta est cruciatibus. Salve igitur, doctrinarum omnium mater foecundissima; salve iterum! Tu enim

2.3 Die Jenseitsreise als metapoetisches Narrativ

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dest in ihrem zweiten, mit der Lizenz des Paradoxalen ausgestatteten Teil deutlich darüber hinaus, wobei sie die Position des Dichters weiter stärkt und zugleich profaniert. Sie stärkt diese Position, weil sie den Dichter nicht erst als Stifter von Religion, Moral und Sittlichkeit auf den Plan treten lässt, sondern seine Wirkungsmacht bereits im Vorfeld einer pastoralen, erzieherischen und richterlichen Berufung ansetzt, nämlich als die einer Instanz, die Geschichte überhaupt diskursiv verfügbar macht und damit erst die Voraussetzung für moralische wie auch für Wahrheitsurteile und sonstige Verdikte schafft. Bei Pontano dagegen ist die Dichtung (die bei ihm im Wesentlichen als epische Dichtung verstanden wird) keineswegs wahrheitsindifferent; sie ist ebenso wie die Geschichtsschreibung einer Wahrheit verpflichtet, die allerdings unproblematisiert bleibt und deren Zugänglichkeit vorausgesetzt ist. Dabei unterscheidet sich die Dichtung von der Geschichtsschreibung, abgesehen davon, dass erstere über das Privileg von Vers und Metrum verfügt, während letztere sich ausschließlich der Prosarede bedient, nur graduell;81 beide folgen der Natur und streben wie diese nach Mannigfaltigkeit;82 beide kommen darin überein, die Dinge, von denen sie sprechen, zu erleuchten und zu verewigen.83 Der Dichtung indessen werden größere Freiheiten konzediert, Wahres mit Erfundenem anzureichern und auszuschmücken, um so nicht nur, wie die Geschichte, zur Erklärung (explicatio) der Wahrheit zu gelangen, sondern Bewunderung und Erstaunen (admiratio) zu erwecken, sowohl für das Berichtete wie auch für den poetischen Bericht selbst.84 Profaniert wird die Figur des

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mortalitati occurristi inventorum ac scriptorum tuorum perpetuitate; tu e silvis homines eruisti atque e speluncis. Per te noscimus, per te praeterita ante oculos cernimus, per te Deum sapimus religionemque retinemus ac pietatem Deoque ipsi accepti supernam etiam in sedem ab eo evocamur arasque cum ipso meremur et templa.“ (Pontano 1984, S. 510. Die Stelle bei Horaz, deren sie überbietendes Echo die gerade zitierte Passage sein dürfte, ist Ars poetica, 391–401: „silvestris homines sacer interpresque deorum / caedibus et victu foedo deterruit Orpheus, / dictus ab hoc lenire tigres rabidosque leones; / dictus et Amphion, Thebanae conditor urbis, / saxa movere sono testudinis et prece blanda / ducere quo vellet. fuit haec sapientia quondam, / publica privatis secernere, sacra profanis, / concubitu prohibere vago, dare iura maritis, / oppida moliri, leges incidere ligno. / sic honor et nomen divinis vatibus atque carminibus venit.“ Auch Ariost zitiert in seiner Satira VI, 70–87 diese Horaz-Stelle, allerdings insofern mit einer signifikanten Abtönung, als er zu verstehen gibt, dass poetische Unwahrheiten als Mittel zum guten, nämlich zivilisatorischen Zweck durchaus legitim seien: „Indi i scrittori féro all’indotta plebe / creder ch’al suon de le soavi cetre / l’un Troia e l’altro edificasse Tebe“. (Satira VI, 82– 84; zit. n. Ariosto 1987) S. hierzu Casadei 2008, S. 179 u. Casadei 2011, S. 243 f., mit Hinweis auf analoge Vorstellungen in der Ars poetica Girolamo Vidas, der im 46. Gesang des Furioso (XLVI, 13,5) namentlich genannt wird. „Eam maiores nostri quandam quasi solutam poeticam putavere, recteque ipsi quidem; pleraque enim habent inter se communia“ (Pontano 1984, S. 420; Sprecher ist hier und in den folgenden Zitaten Altilius = Gabriele Altilio). „[…] una vero re potissimum sibi ipsae conciliantur, quod utraque naturam sequitur, qua magistra et duce ambae quoque varietati student, cum ea ipsa natura cum primis varietate laetetur et decorum illud quod ab eadem rei est cuique attributum cum venustate sequatur ac dignitate etiam summa.“ (Pontano 1984, S. 422). „Hoc tamen ipso mirifice conveniunt, quod utriusque propositum est quod susceperit dicendum illustrare et quoad possit sempiternum id efficere.“ (ebd.) „[…] proposito vero omnino pene aut maxime profecto differunt, cum altera veritati tantum explicandae, quamvis et exornandae quoque intenta esse debeat, poetica vero satis non habeat

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes

Dichters bei Ariost hingegen, weil seine Wirkungsmacht nicht mehr auf numinoser Inspiration gründet, die ihn mit divinatorischen Fähigkeiten begabte und als priesterlichen Seher, als vates oder sacerdos wie bei Pontano, mit privilegiertem Zugang zur Wahrheit, auftreten ließe.85 Zwar werden auch bei Ariost die Dichter zunächst noch als „sacri ingegni“ (O. F. XXXV, 23, 6) gepriesen, doch lässt sie, wie gesehen, der „apostolo santo“ anschließend als vollständig innerweltliche, weder moralisch noch kognitiv privilegierte, sondern durch die Kontingenzen der Lebenswelt korrumpierte oder korrumpierbare Instanzen agieren. Diese Profanierung der Dichterrolle dürfte bereits durch das opportunistische Kalkül, das Johannes dieser Rolle zuordnet, hinreichend belegt sein. Erinnert sei hier auch daran, dass in der Szene, die Astolfo mit dem von der Erde auf den Mond diffundierten senno konfrontiert, die Dichter (zusammen mit den Philosophen – „sofisti“ – und den Astrologen) als besonders von Verstandesverlust bedrohte Spezies ausgezeichnet sind (O. F. XXXIV, 85, 7–8). Schließlich und vor allem wird die ‚Entweihung‘ des Dichters (die nicht mit einer Abwertung der Dichtung zu verwechseln ist) offenkundig an der Art und Weise, wie Ariost mit dem ehrwürdigen poetischen Narrativ der Jenseitsreise und Jenseitsschau umgeht. Wie bereits angemerkt, besitzt Astolfos Mondreise metapoetische Qualitäten nicht nur wegen der in ihrem Verlauf vorgetragenen Schwanenallegorie und der anschließenden Dichtungsapologie des Apostels. Diese explizit der Dichtung geltenden Ausführungen sind vielmehr eingebettet in eine komplexe Verweisstruktur, durch die Paradigmata und Sinnsysteme aufgerufen werden, die selber in der einen oder anderen Weise poetologische Konnotationen tragen, wie man an der Zitierung des johanneischen Logosprologs bereits sehen konnte, durch die der epische oder enkomiastische Diskurs des Dichters dem göttlichen Verbum und seiner Schöpfungsmacht assoziiert wurde. Poetologisch konnotiert ist aber vor allem das durch Astolfos Mondfahrt aktualisierte Paradigma der Jenseits- bzw. Himmelsreise selbst. Die strukturbildende intertextuelle Referenz der Mondepisode ist zweifellos Dantes Commedia. Astolfos Himmelsreise ist der Abschluss einer vertikalen Reise, die den Paladin zunächst in die Unterwelt (O. F. XXXIV, 4–47) und dann in das paradiso terrestre (ebd., 48–67) geführt hatte, wo er auf den Apostel Johannes traf und über die providentielle Gefügtheit seiner vorangegangenen und auch seiner unmittelbar bevorstehenden Abenteuer belehrt wurde.86 Die gesamte Reise Astolfos zitiert ganz offensichtlich Dantes opus doctrinale, dessen didaktisch-exegetisches Schema sie ferner übernimmt, wobei mit

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neque decorum suum servaverit nisi multa etiam aliunde comportaverit, nunc ex parte aut vera aut probabilia, nunc omnino ficta neque veri ullo modo similia, quo admirabiliora quae a se dicuntur appareant.“ (ebd.) S. Pontano 1984, S. 329 ff., u. a.: „Quam paucissimi vel rarissimi potius existunt poetae, quorum ingenii etiam vis e coelo manare credita est!“ (ebd. S. 330) Oder: „Quodque poetica vis vaticinantium habetur persimilis, unde poetae et ipsi vates dicuntur“ (ebd. S. 332). Sprecher ist Pardus = Giovanni Pardo. Zur Figur des Dichters als vates bei Horaz s. Fuhrmann 1992, S. 116–120. Eleonora Stoppino moniert zu Recht, dass die kohärenzstiftenden Elemente der gesamten Jenseitsreise Astolfos in der Forschungsliteratur unterbelichtet sind (Stoppino 2018). Auch ich gehe hier auf die ersten Etappen dieser Reise nicht ein. Stoppino will zeigen, dass bereits in diesen Etappen, namentlich im Ariost’schen Inferno, der Wahrheitsgehalt von Erzählungen zentrales Thema ist. Wenngleich dieser Befund durchaus auf der Linie meiner Interpretation liegt, finde ich Stoppinos Argumente nicht durchweg überzeugend.

2.3 Die Jenseitsreise als metapoetisches Narrativ

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dem Apostel Johannes der autoritative Status der kommentierenden Begleiter Dantes – Vergil, Beatrice und Bernhard von Clairvaux – sogar noch als überboten erscheint.87 Sie übernimmt von Dante ferner zahlreiche histoire-Elemente, einzelne Syntagmen und Lexeme, um diese freilich ausnahmslos in einer dem Referenztext konträren Weise zu montieren und zu kontextualisieren.88 Der rigorosen Reduktion des Umfangs der Jenseitsreise Dantes zur bloßen Episode entspricht eine ebenso rigorose Trivialisierung und Travestierung ihrer Motive, Zielsetzungen und Resultate. Die unüberbietbare Heilsferne des Inferno erlebt ein unbekümmerter und mit potenten magischen Utensilien ausgestatteter Astolfo gerade noch als unerträgliche sensorische Belästigung, der es sich rasch zu entziehen gilt (s. O. F. XXXIV, 45, 7–8), und die Annehmlichkeiten des paradiso terrestre unterscheiden sich nicht von denen eines besseren Gasthauses (s. ebd. XXXIV, 61, 1–4). Vor allem endet das Analogon der aufwendigen Sphärenreise des Paradiso bei Ariost bereits auf dem Mond. In der Commedia entspricht die topographische Aufstiegsbewegung des Protagonisten bekanntlich einer Gnoseologie, die bestimmte Erkenntnisstufen und Annäherungen an das primum verum korrespondierenden kosmologischen Niveaus zuordnet. Noch die Transzendenz Gottes, d. h. die absolute Wahrheit, findet in dem Diagramm des Stufenkosmos jenseits der äußersten Himmelsschale ihren Ort, während die Erde den Punkt maximaler Gottes- und Wahrheitsferne bezeichnet. Der Aufstieg in dem sphärisch gestuften Kosmos führt zu sukzessivem Erkenntniszuwachs.89 Indem nun bei Ariost die Himmelsreise Astolfos bereits auf dem Mond, dem die erste Himmelsschale besetzenden Gestirn ihren Zielpunkt erreicht und ihre Erfüllung findet, ist das kosmologische Erkenntniscurriculum auf sein Minimalformat reduziert. Dabei stellt sich jedoch bei Astolfo nicht einmal die vergleichsweise geringe spirituelle Erleuchtung ein, die der Aufstieg auf dieses unterste Niveau des Sphärenkosmos erwarten ließe. Vielmehr bietet der Mond nur ein Abbild sublunar-kontingenter Wirklichkeit: Seine allegorischen Zeicheninventare sind nicht Vorschein eines ‚höheren‘ Sinns, sondern sie verweisen auf irdische visibilia und präsentieren Astolfo ein satirisches Panorama menschlicher Torheit. Nicht die Gottesschau steht am Ende seiner Reise als deren kognitiver und spiritueller Ertrag, sondern ein vergleichsweise profanes Wissen um die Fragilität der menschlichen Existenz sowie die als Remedium dieser Hinfälligkeit wirksam werdende Macht der Dichtung. Dabei liegt durchaus auf der Hand, 87 88

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Seinen sehr kurzen Besuch des Inferno bewältigt Astolfo allerdings noch ohne jede Begleitung. S. hierzu vor allem Kanduth 1971 und Penzenstadler 1989, die den „karikierenden“ (Kanduth) oder parodistischen Rekurs Ariosts auf die Commedia detailliert herausarbeiten. Zu den allgegenwärtigen Dante-Bezügen im Furioso generell s. ferner: Segre 1966; Blasucci 1969; Javitch 1984; D’Alfonso 1989; Jossa 1996, S. 79–89; Rivoletti 2007, S. 253–258; Ferroni 2008, S. 171–174. Zur vorwiegend, aber nicht ausschließlich parodistischen Intertextualität dieser Sequenz, die neben fiktionalen, genuin dichterischen Quellen auch andere, v. a. astrologische, kosmologische und theologische Diskurse zitiert, siehe ferner Santoro 1989e; Savarese 1984; Häsner 1989; Guidi 1991; Klettke 2006; Borsetto 2008; Gulizia 2008. Im zweiten Traktat des Convivio (II, XIII–XIV) analogisiert Dante das System der Planetensphären mit dem der artes liberales, wobei die einzelnen Planeten entsprechenden Disziplinen des Trivium (Mond, Merkur, Venus entsprechend Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und Quadrivium (Sonne, Mars, Jupiter, Saturn entsprechend Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie) zugeordnet sind.

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welche Relevanz dieses Wissen für den Rezipienten des Furioso hat, der jetzt zu erkennen vermag, wie die Dichtung, die er liest, verstanden werden will. Unerfindlich bleibt indessen, welche Bedeutung dieses Wissen für den Jenseitsreisenden Astolfo und für die – ausschließlich militärische – Rolle, die er im nachfolgenden Geschehen noch zu spielen hat, haben sollte. Im Unterschied zur Sphärenreise der Commedia und auch im Unterschied zur Katabasis des Helden in der Aeneis, in denen die fiktionsimmanenten Adressaten – Dante bzw. Aeneas – unmittelbar von den ihnen – etwa durch Vergil in der Commedia oder durch die Sibylle in der Aeneis – zuteil werdenden Belehrungen profitieren, gilt dies für Astolfo keinesfalls. Vielmehr zielt der didaskalische, der conditio humana und der Funktion der Dichtung geltende Diskurs des Apostels gewissermaßen an seinem fiktiven Adressaten vorbei unmittelbar auf den Leser oder den Hörer; auch dies sehe ich als eine Bestätigung der primär metapoetischen Funktion der Mondepisode. Der Rekurs auf die Dantesche Jenseitsreise ist aber nicht nur als parodistische Einzeltext-, sondern auch als Systemreferenz zu werten. Zum einen werden über ihn elaborierte Theoreme und Sinnsysteme aufgerufen, freilich zugleich in ihrer Bedeutsamkeit herabgestuft oder relativiert. Aufgerufen werden mit Dantes poema sacro vor allem eine mittelalterliche Sphären- und Emanationskosmologie (neu-) platonischer Provenienz sowie ein in demselben ideengeschichtlichen Kontext zu situierendes Konzept des Dichters als Theologen und der Dichtung als privilegierten Zugang zu einer unanfechtbaren Wahrheit, als Offenbarungsmodus.90 Auch die logosspekulative Philosophie, auf die mit dem Verweis auf die Eröffnung des Johannesevangeliums angespielt wird, dürfte diesem neuplatonischen Kontext zuzurechnen sein.91 Zum anderen unterhält Astolfos Reise keineswegs ausschließlich intertextuelle Relationen zur Commedia, sondern auch zu anderen Texten, die in ganz unterschiedlicher Weise Jenseitsreisen zum Gegenstand haben. Einerseits handelt es sich dabei um Reminiszenzen an Ciceros Somnium Scipionis und die Unterweltreise im sechsten Buch der Aeneis, und damit an Texte, die ihrerseits als Inspirationsquellen der Commedia gelten und in denen Reisen in ein wie auch immer geartetes ‚Jenseits‘ ebenfalls die Grenzen irdischen Wissens überschreitbar machen sollen.92 Andererseits rekurriert Astolfos Mondreise auf zumindest zwei Texte – Lukians Ikaromenippo und Leon Battista Albertis Somnium –, in denen das Modell der Jenseitsreise parodistisch usurpiert und in seiner Validität als (dichterisches) Erkenntnismedium entwertet oder jedenfalls ambiguisiert wird. Lukians Ikaromenippo dürfte der Architext der satirisch-parodistischen Himmelsreise sein. Die Reise, die Lukian seinen Menippo unternehmen lässt, erweist letztlich die triviale 90

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S. hierzu, insbesondere zum divinus furor bei Ficino und dazu, wie dessen Vorstellungen einer theologia poetica Eingang in Landinos Dante-Kommentar gefunden haben, Zintzen 2000, S. 427–439. Zur Selektivität von Landinos Ficino-Rekurs und zur konfliktuösen Koexistenz von Regelpoesie und Inspirationspoetik in seinen dichtungstheoretischen Texten s. hingegen Huss 2003. Ascoli verweist auf Picos Heptaplus und auf Bembos Asolani als möglichen Quellen für neuplatonische Anspielungen, die Ascoli v. a. in den von Johannes behaupteten Korrespondenzrelationen zwischen Mond und Erde erkennt. S. Ascoli 1987, S. 272 f. S. Rabuse 1968.

2.3 Die Jenseitsreise als metapoetisches Narrativ

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Differenzlosigkeit von Erde und angeblich deren Nichtigkeit und Disharmonie enthobener Sphärenwelt; die in letzterer residierenden Götter sind ebenso von der universalen Torheit und Zanksucht verdorben wie die Menschen, namentlich die Philosophen. Die von Menippo erhoffte Erleuchtung bleibt jedenfalls vollständig aus.93 Während es sich beim Ikaromenippo eher um eine generische Referenz handelt, der sich schwerlich einzelne Zitate zuordnen ließen, kann Albertis Somnium neben der Commedia als der wichtigste Quellentext der Mondreise Astolfos gelten. Eine lange Sequenz, die Pio Rajna noch für eine Originalerfindung Ariosts gehalten hatte – die Sequenz des ‚Tals der verlorenen Dinge‘, in dem die irdischen Verluste metaphorisch verwahrt werden – geht vollständig, z. T. verbatim, auf Alberti zurück.94 Allerdings ist die Jenseitsreise bei Alberti ein Traumerlebnis und das geträumte Jenseits kommuniziert mit dem Diesseits über eine Kloake. Der Protagonist wird durchweg negativiert und als notorischer Lügner ausgewiesen. Er ist jedoch Sprachrohr gegenwartskritischer, scharf satirischer – vor allem gelehrtensatirischer – Einsichten, die ihm seine Reise verschafft und die durchaus als gültig aufgefasst werden dürfen.95 Die affirmative Aktualisierung des Paradigmas der Jenseitsreise signalisiert zumeist die Gewichtigkeit der ihm anvertrauten Botschaft, kann prophetisches Wissen legitimieren und beansprucht für die dichterische Aussage die Evidenz und Würde eines Offenbarungswissens. In jedem Fall handelt es sich um einen besondere Dignität beanspruchenden Modus dichterischer Aussage, der gerade ihren ‚dichterischen‘, mit ‚Lüge‘ assoziierten Status zu transzendieren beansprucht. Dagegen werden in den Parodien des Genres die jenseitige Lokalisierung des Erkenntnisvorgangs, die prätendierte Exklusivität der vermittelten Wahrheit und der Anspruch numinoser Inspiration zum Indiz für Unglaubwürdigkeit. Vor eben diesem Hintergrund dürfte auch das Proömium zum 35. Gesang des Furioso zu lesen sein, das sich genau in der Mitte der Mondsequenz befindet und das auch als metapoetischer Kommentar zur metapoetischen Episode gelesen werden kann.96 In diesem Proömium wendet sich der Erzähler in direkter Apostrophe an die von ihm geliebte Frau und erklärt, dass es keiner Himmelreise bedürfe, um seinen eigenen geschwächten Verstand wiederherzustellen: Chi salirà per me, madonna, in cielo a riportarne il mio perduto ingegno? che, poi ch’uscì da’ bei vostri occhi il telo che ’l cor mi fisse, ognior perdendo vegno. Né di tanta iattura mi querelo, pur che non cresca, ma stia a questo segno; ch’io dubito, se più si va sciemando, di venir tal, qual ho descritto Orlando. 93 94 95 96

S. hierzu Häsner 1989, bes. S. 203 f. Zu möglichen Lukian-Bezügen der Mondepisode s. ferner Pampaloni 1974 sowie Klettke 2006. S. hierzu Garin 1964; Segre 1966; Pampaloni 1974; Häsner 1989. S. Ponte 1972; Häsner 1989. S. hierzu Hempfer 2002 (11982), S. 93 f. Ferner Pich 2015 mit der bislang eingehendsten Kommentierung dieses – auch wegen seiner ‚Lyrizität‘ (Ferroni spricht von einem „omaggio madrigalesco“; Ferroni 2008, S. 204) – außerordentlichen Proömiums; auf die metapoetischen Aspekte, die ich im Folgenden hervorhebe, geht Pich allerdings nicht ein.

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2 Die Mondreise des Paladins Astolfo und des Apostels Johannes Per riaver l’ingegno mio m’è aviso che non bisogna che per l’aria io poggi nel cerchio de la luna o in paradiso; che ’l mio non credo che tanto alto alloggi. Ne’ bei vostri occhi e nel sereno viso, nel sen d’avorio e alabastrini poggi se ne va errando; et io con queste labbia lo corrò, se vi par ch’io lo riabbia. (O. F. XXXV, 1–2.)

Diese Strophen können als das Echo einer analogen Passage im Eingangsproömium des Furioso gelesen werden. In dieser wurde ebenfalls und erstmals die Geliebte des Erzählers als verantwortlich für dessen virulenten und ständig sich steigernden Liebeswahn ins Spiel gebracht. Sie erschien dort gleichsam als destruktive Muse, die den Erzähler-Dichter durch Liebesentzug in einen Wahnsinn zu treiben droht, der dem des Titelhelden ähnelt und der den Dichter daran hindern könnte, sein eben begonnenes Werk zu vollenden. Nachdem der Erzähler die ,unerhörte‘ Geschichte – „cosa non detta in prosa mai né in rima“, O. F. I, 2, 2 – des dem Liebeswahn erliegenden Orlandos – „che per amor venne in furore e matto“ (ebd. 2, 3) – angekündigt hat, knüpft er das Gelingen seines erzählerischen Projekts an die Bedingung, se da colei che tal quasi m’ha fatto, che ’l poco ingegno ad or ad or mi lima, me ne sarà però tanto concesso, che mi basti a finir quanto ho promesso. (Ebd., 5–8)

Anders als in den zuerst zitierten Strophen, wo sie direkt („madonna“) adressiert wird, ist hier von der Geliebten des Erzählers in der dritten Person („colei“) die Rede; beiden Passagen ist aber gemeinsam, dass sie jeweils eine Art Antiklimax zu ihrem unmittelbaren Kontext bilden, und zwar eine Antiklimax mit metapoetischen Konnotationen. Die Stelle aus dem Eingangsproömium realisiert und annonciert in durchaus als programmatisch zu verstehender Weise eine gattungspoetische Transgression, die sich für den gesamten Text als konstitutiv erweisen wird. Nach dem durchaus hochepischen Beginn der ersten Oktave („Le donne, I cavallier, l’arme, gli amori, / le cortesie, l’audaci imprese io canto“) führt sie eine Erzählerfigur und eine Diktion ein, deren Provenienz eben nicht ‚episch‘, sondern im Umfeld der cantari und des romanzo zu situieren ist.97 Die ,metapoetische‘ Antiklimax des Proömiums 35 ist dagegen zu lesen als ironische Distanzierung von einem besonders ambitionierten und mit gesteigertem Wahrheitsanspruch verbundenem poetischem Narrativ – dem der Himmelsreise – und der diesem Narrativ assoziierten Figur des poeta vates, die hier nicht zuletzt durch den für die gesamte Sequenz strukturgebenden Rekurs auf Dantes Paradiso aufgerufen ist.98 In beiden Fällen wird mit der 97 98

S. hierzu Hempfer 2013, S. 62 f. Ich komme später auf das Eingangsproömium des Furioso noch eingehender zurück. Ein weiteres Proömium, in dem eine inspirationspoetische Programmatik zitiert wird, ist das den 3. Gesang (O. F. III, 1–4, 4) einleitende, das ebenfalls von einer Invokation eröffnet wird („Chi mi darà la voce e le parole“); mit ihr schickt sich der Erzähler an, das im Hauptproömium angekündigte genealogische Erzählprogramm mit einem ersten estensischen Ahnenkatalog

2.3 Die Jenseitsreise als metapoetisches Narrativ

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Figur der widerspenstigen Geliebten eine, wenn auch stilisierte und ihrerseits literarisch konnotierte, Lebensweltlichkeit für die Textkonstitution verantwortlich gemacht, die jegliche zunächst reklamierte Bedeutsamkeit und generische ,Würde‘ des Diskurses wieder zu kassieren oder jedenfalls zu redimensionieren scheint. Die Mondepisode konstituiert in ihrer Gesamtheit einen vielstimmigen metapoetischen Diskurs, der in den explizit dichtungsprogrammatischen Ausführungen des Apostels Johannes kulminiert, ohne in ihnen aufzugehen. Die gesamte Episode ist imprägniert mit vorwiegend ironischen oder trivialisierenden Referenzen auf Sinnsysteme, die ihrerseits poetologische Konnotationen oder Implikationen tragen – seien es die spekulativen Hypothesen einer astrologischen Semiotik oder neuplatonischen Sphärenkosmologie, seien es das System der allegorischen Hermeneutik oder die biblische Logosmystik. Vor allem aber der Bezug auf das Narrativ und Paradigma der Jenseitsreise hat – weit entfernt davon, bloßer Vorwand für die Ausstellung eines satirischen Gegenwartspanoramas zu sein, wie dies Pio Rajna mit gewohnter Apodiktik behauptete99 – selbst dichtungstheoretische und auch dichtungskritische Valenzen. Mehr noch als die anderen erwähnten Reminiszenzen wird das Jenseitsreisen-Narrativ als ironisches Komplement und Korrektiv der dichtungsapologetischen Aussagen Johannes’ wirksam. Während letztere (wenn auch in paradoxaler Modalisierung) für das Dichterwort souveräne Geschichtsmächtigkeit postulieren – ein Vermögen, das zuvor bereits der Schöpfungsmacht des Verbum Dei assoziativ an die Seite gestellt wurde – spezifiziert und relativiert Ariosts Adaption der Jenseitsreise dieses Postulat des Apostels, indem sie den mit der poetischen Reise in transzendente Bezirke verbundenen Anspruch bestreitet, privilegierten Zugang zu einer Wahrheit zu gewährleisten, die jenseits oder vorab aller Diskurse läge, und indem sie das damit assoziierte Bild des Dichters als vates, als Künder sakrosanten Offenbarungswissens, zurückweist: Die Geschichte mag ein poetisches Konstrukt und mithin das Dichterwort geschichtsmächtig sein, auf numinose Inspiration kann es jedoch keinen Anspruch erheben. Diese poetische oder poetologische Programmatik, die im komplex orchestrierten Diskurs der Mondepisode Konturen annimmt, ist der narrativen Praxis des Furioso, die in der Passage um den schiffbrüchigen Ruggiero in geradezu emblematischer Verdichtung greifbar wird, kongruent; eine narrative Praxis, die das Geschehen, von dem sie erzählt, im Akt des Erzählens hervorbringt, gewinnt konzeptuellen Rang. Im Folgenden möchte ich die Kongruenzrelation zwischen narrativer Praxis und metapoetischem Diskurs noch etwas näher in den Blick nehmen.

99

(ebd. 9–57), dem später weitere folgen, zu realisieren und zu konkretisieren. Indem er sich dabei direkt an die Musen bzw. an Apollo wendet, ist die inspirationspoetische Reminiszenz weitaus expliziter als in XXXV, 1–2. Sie wird aber in analoger Weise in ihrer Verbindlichkeit relativiert. Auch auf dieses Proömium sowie den Gesang, den es einleitet, komme ich weiter unten ausführlicher zurück. „[…] la satira non ha più che fare col mondo cavalleresco né coi viaggi oltraterreni; questi danno solo il pretesto, o se si vuole la cornice, per esporre alla vista e alla derisione universale le debolezze umane.“ (Rajna 1900, S. 546)

3 SYSTEMREFERENZEN, METAPOETISCHE KOMMENTARE UND NARRATIVE PRAXIS 3.1 ERZÄHLERISCHES KNOWING HOW UND POETOLOGISCHES KNOWING THAT Die Vorstellung, Geschichte sei ein narratives Konstrukt und der Dichter dessen hegemonialer Schöpfer, kann schwerlich erklärt werden als bloße Radikalisierung oder hyperbolische Zuspitzung einschlägiger humanistischer Dichtungskonzeptionen, und sie bedarf einer solchen oder einer anderen ideengeschichtlichen Herleitung auch nicht als der Bedingung ihrer Möglichkeit. Sie entspringt keinem theoretischen Kalkül und sie besitzt zunächst auch keinen konzeptuellen und programmatischen Status; vielmehr gewinnt sie zuerst, noch bevor sie in Johannes zornig vorgetragener Rede (s. O. F. XXXV, 30, 5–6: „Così dicendo, il vecchio benedetto / gli occhi infiammò“) zu paradoxalem Ausdruck findet, Konturen als narratives knowing how – als eine diskursive Praxis, die es im Prozess ihrer Ausdifferenzierung gelernt hat, mit einer beständig expandierenden Menge potentiellen Erzählstoffes und sich vermehrender Geschichten so umzugehen, als seien diese unabgeschlossen und mithin disponibel. Dieses narrative knowing how bildet sich im Schnittpunkt unterschiedlicher, z. T. als inkompatibel erscheinender generischer Traditionen heraus: der antiken Epik, der mittelalterlichen Karls- und Rolandsepik und des arthurischen Romans, der italienischen oralen bzw. semioralen cantari, aber auch der Trecentonovellistik, der petrarkistischen Liebeslyrik sowie der römischen Komödie. Der ideale und als solcher von der Literaturgeschichte auch kanonisierte Ort derartiger Hybridisierungen ist der Romanzo als gattungspoetisch nicht oder noch nicht kodifiziertes Genre.100 Dabei meint ‚Hybridisierung‘ von Gattungstraditionen nicht nur eine Assemblage von Sujets, Motiven, Ereignis-, Handlungs- und Figurentypen, sondern auch die Überlagerung, Kontamination und Konfrontation von Schreib- und Erzählweisen sowie ihnen zugehöriger stilistischer Register. Nicht zuletzt gehen die sich überschneidenden Filiationsketten zwischen Rolandslied, dem Perceval Chrétiens, den Prosaerzählungen um König Artus und Lancelot, den cantari als divulgativer und semioraler Tradierungsetappe sowie schließlich den Orlandi Boiardos und Ariosts einher mit beständigem Anschwellen des zu integrierenden Erzählstoffes sowie einer proliferativen Vermehrung des Personals und sich steigernden Komplikationen seiner Konfigurierung. Die erzählte oder zu erzählende Welt wird, mit einem ersten Höhepunkt im französischen Lancelot-Gral-Zyklus, zunehmend polyzentrisch, sie fächert sich auf in eine Vielzahl von sich kreuzenden, divergierenden und u. U. wieder konvergierenden Handlungssequenzen, wobei der Dezentrierung der Handlung eine der Figuren und der räumlichen Kons100 Zur generischen Hybridität des Furioso s. Sangirardi 2009 und Hempfer 2013 mit teils konvergierenden, teils gegensätzlichen Befunden.

3.1 Erzählerisches knowing how und poetologisches knowing that

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tellationen entsprechen kann, so dass es weder einen Haupthelden noch einen zentralen Handlungsort gibt. Unter diesen Bedingungen entwickeln sich Verfahren eines narrativen ‚Managements‘, eben ein knowing how, das sich an der Bewältigung, Organisation und Strukturierung von Erzählwelten zu bewähren hat, die ebenso multifaktoriell konditioniert, ebenso polymorph, unbeherrschbar und potentiell unabschließbar erscheinen wie die geschichtliche Welt selbst und deshalb als gültige Repräsentation von deren Kontingenz gelten können. Dieses knowing how kann schließlich, zumindest partiell, zu einem konzeptuellen und programmatischen Wissen, zu einem knowing that, extrapoliert werden und dabei mehr oder weniger selektiv (oder eklektisch) Referenzen herstellen zu diversen, nicht nur poetischen oder poetologischen Sinnsystemen, die diesem knowing that in der einen oder anderen Weise affin oder kongruent sind. Eben dies geschieht, wie ich zu zeigen versucht habe, in der Mondepisode, die man in ihrer Gesamtheit als ein dichtungsprogrammatisches, metapoetisches Tableau lesen kann, das die erzählerische Praxis des Furioso abbildet und, zumindest partiell, expliziert. Die Unterscheidung von knowing how und knowing that, auf die ich hier rekurriere, geht auf Gilbert Ryle zurück; sie ist Gegenstand eines Vortrags, den Ryle 1945 vor der Aristotelian Society in London gehalten hat und der zunächst im Publikationsorgan dieser Gesellschaft veröffentlicht wurde, um dann als zweites Kapitel in Ryles Hauptwerk The Concept of Mind (1949) einzugehen.101 Während es sich laut Ryle beim „knowing how to do things“ um ein Wissen oder vielmehr ein (intelligentes) Können handelt, das nicht Applikation eines vorgängigen theoretischen oder konzeptuellen Wissens ist, sondern sich vollständig in seinem Vollzug aktualisieren kann, soll als knowing that dagegen ein Wissen gelten „that something is the case“, ein Wissen, das sich in einer bestimmten Menge von Propositionen diskursivieren lässt.102 Ryle wendet sich damit gegen die Priorisierung theoretischen oder konzeptuellen Wissens gegenüber einem Wissenstypus, eben dem des knowing how, der sich als seine eigene performance realisiere und nicht lückenlos als ein knowing that konzeptualisiert werden könne. Die Hierarchisierung von Wissenstypen zugunsten des konzeptuellen oder theoretischen Wissens, die Ryle als eine „intellectualist legend“ erkennt,103 wird von ihm umgekehrt: I want to turn the tables and to prove that knowledge-how cannot be defined in terms of knowledge-that and further, that knowledge-how is a concept logically prior to the ǀ concept of knowledge-that.104

Das intellektualistische Vorurteil, gegen das Ryle aus wissenschaftstheoretischer Sicht argumentiert, findet im literaturwissenschaftlichen Kontext seine Entsprechung in den notorischen und oft vage bleibenden Korrelierungen dichterischer mit anderen, epistemisch als höherrangig geltenden Diskursen unterschiedlichster Pro101 Ryle 1945/46. S. dazu Kemmerling 1975; Hempfer/Traninger 2007; Pfister 2007. Einen Überblick über die anhaltende Diskussion gibt Fantl 2016. 102 S. Ryle 1945/46, S. 4. 103 Ebd. S. 8. 104 Ebd. S. 4 f. Schärfer noch im folgenden Zitat: „In short the propositional acknowledgement of rules, reasons or principles is not the parent of the intelligent application of them; it is a stepchild of that application.“ (Ebd. S. 9).

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3 Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis

venienz, wobei diese Diskurse mehr oder weniger explizit als Voraussetzung oder Ermöglichungsbedingung jener behandelt werden, so dass sich etwa Erzählstrukturen als Narrativierung von Denkweisen oder sogar bestimmter Philosopheme oder Theologeme erklären sollen. So hatte bereits Erich Köhler, ohne Bezug auf den Romanzo und Ariost, die mittelalterliche Erzählweise des entrelacement als Ausdruck krisenhaft veränderter Vorstellungen von Zeit und Kausalität gedeutet, unter Verzicht auf jegliche Begründung, ganz im Vertrauen auf die Suggestivität dieser Parallelisierung und ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es sich vielleicht auch umgekehrt verhalten und diese Erzählweise selbst die Vorstellung multifaktorieller Kausalitäten befördert haben könnte.105 Mit spezifischem Bezug auf den Romanzo wurde das Agieren der immer prägnantere Konturen annehmenden ‚allmächtigen‘ und ‚demiurgischen‘ Erzählerfigur mit der Problematik des freien Willens in Parallele gestellt und mit den diffizilen Distinktionen der scholastischen Theologie in Beziehung gebracht, die von dieser getroffen worden waren, um die göttliche Allmacht mit dem Postulat menschlicher Willensfreiheit zu versöhnen.106 In der charakteristischen Schöpfungs- und Verfügungsmacht des romanzesken Erzählers, die zugleich vorgibt, durch den Eigensinn der Geschichte und ihrer Figuren begrenzt zu sein, sollen jene theologisch-philosophischen Konzepte ihre narrative Veranschaulichung finden, wobei zumeist eher insinuiert als behauptet wird, diese Konzepte seien der Ermöglichungsgrund für die Erzählweisen, durch die sie angeblich zur Darstellung gebracht werden.107 Sehr explizit ist in dieser Hinsicht allerdings Robert Durling, dessen Studie zur Erzählerfigur in der Renaissanceepik sicher zu den einflussreichsten Beiträgen der post-crocianischen Ariost-Forschung gehört und auch noch fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen eine einschlägige Referenz ist, wenn es darum geht, Ariosts Epos einen philosophisch-theologischen Unterbau und einen ‚weltanschaulichen‘ Gehalt zu attestieren und damit, als hätte es dies nötig, seine Kanontauglichkeit zu bekräftigen. Durling erkennt eine „analogy between the poem and the cosmos and between the artist and God“ als Grundstruk105 Köhler 1962, S. 222: „Dahinter [hinter dem entrelacement im Prosa-Lancelot] steht eine neue Erfahrung der Zeit, der den ewigen Sonntag der früheren Artusromane ablösenden, vielgliedrig simultanen Ursachenverkettung des Lebens, steht das in das dichterische Bewusstsein gerückte Krisenerlebnis der fatalen Nichtumkehrbarkeit geschichtlichen Geschehens […].“ 106 S. Langer 1990, bes. S. 25–42. 107 Langer etwa will offen lassen, ob der Rekurs der von ihm behandelten Autoren (u. a. Pulci, Ariost, Rabelais, Montaigne) auf Konzepte der nominalistischen Theologie ein bewusster war: „Whether or not the respective authors were actually conscious of their use of hypothetical necessity is a secondary question: the intentional or unintentional use of conceptual paradigms is less interesting than, simply, their presence in the texts.“ (Langer 1990, S. 29) Wie es zu dieser „Präsenz“ in den Texten kommt, wüsste man aber schon gerne genauer, auch wenn Langer die Frage für zweitrangig hält. Ohne auf Foucault einzugehen und ohne die entsprechende Begrifflichkeit scheint Langer eine Art epistemologischer Konfiguration anzusetzen, ein mögliche Denkhorizonte begrenzendes Diskursfeld, das durch theologische Konzeptualisierungen definierbar ist. S. hierzu ebd., S. 20–24, Kap. „Theology and Literary Analysis“. Das ändert aber nichts daran, dass die Konstatierung bloßer Strukturähnlichkeiten mysteriös und ohne jeden Erkenntniswert bleibt, wenn nicht ein wie auch immer geartetes Bedingungsverhältnis zwischen den korrelierten Entitäten plausibel gemacht werden kann.

3.1 Erzählerisches knowing how und poetologisches knowing that

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tur des Furioso.108 Er wird nicht müde, diese Analogie in allen ihren Facetten durchzubuchstabieren,109 und er insistiert darauf, dass sie nicht nur vom Autor intendiert ist, sondern den programmatischen und produktionsästhetisch wirksamen Kern seiner Dichtung darstellt: The analogy of the Poet and God is thus no merely incidental play of wit. It is at the core of allmost all of the Poet’s references to his handling of the poem […]

– oder: I am saying that Ariosto intended the poem to be an analogue of the cosmos both in structure and in content.110

Die Behauptung, Ariost habe die Relation seiner Erzählerfigur zur erzählten Welt – ein Verhältnis, das Durling durchaus hellsichtiger analysiert als alle Kommentatoren des Furioso vor ihm – als Analogie der Relation des Schöpfergotts zur von ihm erschaffenen Welt gestaltet und seine Erzählwelt als mikrokosmisches Analogon des von Gott verantworteten Makrokosmos erscheint mir indes als abwegig;111 abwegig auch vor dem Hintergrund der ‚Genese‘ dieser Erzählerfigur in der entrelacement-Literatur seit Chrétien, eine Genese, die sich in ihren einzelnen strukturgeschichtlichen Stationen nachzeichnen lässt (was ich im nächsten Kapitel tun werde), die bei Ariost einen Kulminationspunkt erreicht und die sich jedenfalls zwanglos ohne jegliche ‚theologische‘ Impulse erklären lässt. Vom entrelacement und von der Strukturgeschichte dieser spezifischen Form mehrsträngigen Erzählens, die den Erzähler überhaupt erst in die prominente Position befördert, die er bei Ariost besetzt und in der er scheinbar gottähnlich agieren kann, weiß Durling indessen nichts zu sagen.112 Die Referenzen auf Durlings Interpretation des Furioso sind bis heute zahlreich; auf ihn beziehen sich etwa Ulrich Langer, der noch elaboriertere theologische Distinktionen als Durling glaubt auf das Ariostsche Erzählen anwenden zu können,113 oder Sergio Zatti, der wie Durling von einer Korrespondenz zwischen 108 Durling 1965, S. 123. 109 S. etwa ebd. S. 126: „The poem is a musical harmony that combines the grave and the acuto (VII, 29); like the cosmos, the poem evinces order (II, 30; XIII, 80–81), plenitude (XII, 80), variety (II, 30) and unity (la grande tela).“ Durling missinterpretiert hier und anderswo poetologische Maximen (s. hierzu das folgende Unterkapitel 3.2.) als kosmologische Theoreme. Tatsächlich kann er für seine ‚kosmologische‘ und ‚theologische‘ Interpretation des Furioso keinen einzigen überzeugenden Beleg im Text selber nachweisen; die These einer Analogie zwischen „poem“ und „cosmos“, „Poet“ und „God“ beruht selbst vollständig auf Analogiebildungen. 110 Ebd. S. 130 und S. 250, A. 5. 111 Zur Kritik der Auffassung Durlings s. auch Ascoli 1987, S. 97 f. und Hempfer 1995, S. 74. 112 Durling spricht von „shift“ und „transition“; der Begriff entrelacement oder seine englische Entsprechung interlace kommen bei ihm nicht vor. Die ‚Vorgeschichte‘ der Ariost’schen Erzählweise zwischen Chrétien und den cantari fehlt bei Durling vollständig; die obligatorischen Strangwechsel Boiardos (Durling 1965, S. 96–98) und Ariosts (ebd. S. 114–119) behandelt er, ohne auf die vorangegangenen Permutationen und Transformationen dieser Erzählweise, die bei ihm einfach mit dem Gebot der varietà (s. hierzu das folgende Unterkapitel) verrechnet wird, einzugehen. 113 Während Durling das cusanische Konzept des deus occasionatus in Anschlag gebracht hatte, rekurriert Langer u. a. auf die scholastische Unterscheidung von potentia dei absoluta und po-

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3 Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis

Mikrokosmos und Makrokosmos spricht, „che costituisce il fondamento ontologico del suo [i. e. Ariosto] universo narrativo“114 – ein Befund, der nirgendwo eine seinem Gewicht angemessene Begründung und Plausibilierung durch entsprechende Nachweise im Text erfährt. In der Tradition Durlings steht auch Albert R. Ascoli, der mit großem argumentativen Aufwand und ungleich differenzierter und kenntnisreicher als Durling das ideengeschichtliche Diagramm einer genuin humanistischen und rinascimentalen Bildungsprogrammatik und Anthropologie entwirft, als deren Protagonisten er Pico della Mirandola erkennt und in das er den Furioso glaubt eintragen zu können, um so seine komplexe Struktur zu erklären. Wenngleich Ascolis Ausführungen anregend sind und zum Teil durchaus plausibel erscheinen, werden auch bei ihm die ‚Kanäle‘ oder Tradierungswege, über die bestimmte theoretische Diskurse ihre Wirkung im Text des Furioso entfaltet haben sollen, zumeist nur vage benannt, oder spekulativ erschlossen oder bleiben vollständig mysteriös. Auch Parallelisierungen von Textstrukturen und theoretischen Diskursen oder anderen diskursiven Praktiken, die diesen Diskursen keinen Quellen- oder Ursachenstatus zuschreiben oder einen solchen insinuieren, können irreführend oder im besten Fall irrelevant sein. So etwa bei Praloran, der die komplexe und auch irritierende Zeitbehandlung Ariosts, die sich zwanglos als Aktualisierung strukturinhärenter Möglichkeit des entrelacement erklären ließe und partiell auch so von Praloran erklärt wird,115 gleichwohl auf hochspekulative Weise mit den

tentia dei ordinata (S. Langer 1990, S. 3–24). Die Gott-Dichter-Analogie als produktionsästhetischen Impuls Ariosts auszuschließen, heißt nicht, dass diese Analogie nicht als Beschreibung der Relation von Erzähler und erzählter Welt im Furioso oder anderen Texten in einem gewissen Umfang ‚funktionieren‘ könnte. Gerade die metaleptischen entrelacement-Formeln Ariosts, von denen ich einige besonders prägnante bereits zitiert und besprochen habe, gestalten eine problematische, weil konfliktuöse Konstellation zwischen dem Erzähler (als ‚Schöpfer‘ der erzählten Welt) und seinen zuweilen widerspenstigen Kreaturen, die sich einer Charakterisierung in theologischen Begriffen partiell durchaus fügt. Wenn in einer dieser Metalepsen (O. F. XV, 9) der mit Figurenbewusstsein ‚begnadete‘ Astolfo sich geradezu im Modus des Gebets an den Erzähler zu wenden scheint, mag dies sogar als implizite (allerdings bereits ironische) Anspielung Ariosts auf die Gottähnlichkeit des Dichters zu verstehen sein. Langer appliziert die verschiedenen scholastischen Kategorisierungen göttlicher Allmacht auf einen metaleptischen Strangwechsel in Pulcis Morgante (XXIII, 4), verkennt dabei aber weitgehend die erzählstrukturelle Funktion dieser Metalepse (s. Langer 1990, S. 35 f.). So oder so bleibt die Lektüre des Furioso oder anderer zeitgenössischer Texte im Schlüssel theologischer oder theologisch inspirierter Konzepte eine bloße Analogiebildung auf Seiten des Interpreten, derer es nicht bedarf, um die spezifische Erzählstruktur, die in diesen Metalepsen oder auch in anderer Weise sichtbar wird, zu erklären. Auch wenn ein Autor explizit die Gott-Dichter-Analogie in Anspruch nimmt – was Ariost durchaus nicht, Tasso indessen, freilich unter anderen epistemologischen und poetologischen Vorzeichen, sehr wohl tut (s. etwa Tasso 1959 (Discorsi dell’arte poetica), S. 387; hierzu Kerl 2014, S. 231–239) –, ist die Annahme in keiner Weise zwingend, dass diese Analogie in irgendeiner Weise produktionsästhetisch wirksam geworden sein muss und es sich nicht nur um eine post festum aufgebotene, ev. apologetische Konzeptualisierung handelt. 114 Zatti 1990, S. 136. S. auch Doyle 1980; Gregory 2006. 115 Praloran spricht unnötigerweise von Ariosts „conception of time“ (Praloran 2015, S. 182). Ich komme in Kapitel 5 darauf zurück.

3.1 Erzählerisches knowing how und poetologisches knowing that

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Überlegungen Leonardos zur malerischen Perspektive in Verbindung bringt.116 Sinnvoll und eventuell aufschlussreich wäre eine solche Parallelbildung oder der Befund einer Konvergenz oder Homologie malerischer und narrativer Strukturen aber nur, wenn zugleich eine Abstraktionsebene benannt bzw. definiert werden würde – etwa die einer epistemologischen Konfiguration im Sinne Foucaults – auf der ein fiktionaler Text wie der Orlando furioso und die malereitheoretischen Reflexionen Leonardos überhaupt kommensurabel wären. Dies sind aber nicht die Ambitionen Pralorans. Nun liegt mir fern, Systemreferenzen, Korrelationen zwischen philosophischen, theologischen, poetologischen oder sonstigen theoretischen Diskursen und dem aktualen Text des Orlando furioso grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich habe hier selbst bereits auf Ariosts offenkundige Anspielungen auf astrologische und andere Theoreme, auch solche poetologischer Observanz und Relevanz, im Kontext der Mondepisode hingewiesen, und ich werde später auf den genealogischen Diskurs der Epoche als eine zentrale und konstitutive Systemreferenz des Furioso ausführlich zu sprechen kommen. Denn zweifellos war Ariost ein humanistisch gebildeter Autor; mit der intellektuellen Elite Italiens, deren prominenteste Vertreter im 46. Gesang des Furioso in einem langen Katalog (O. F. XLVI, 1–19) als ideales Publikum des sich seinem Finale nähernden epischen Projekts namentlich beschworen werden, stand er in direktem Kontakt, mit einigen Exponenten dieser Elite, etwa mit Pietro Bembo, Celio Calcagnini, Baldassarre Castiglione oder mit Gianfrancesco Pico della Mirandola (dem Neffen Giovannis), war er befreundet. Die zeitgenössisch aktuellen und virulenten Kontroversen in den verschiedenen Bereichen des Wissens und die Theorien und Hypothesen, die dabei verfochten wurden, dürften ihm bekannt gewesen sein, entweder aus eigener Lektüre oder auch ‚aus zweiter Hand‘, aufgrund persönlicher Kontakte. Tatsächlich kann die Bedeutung mündlicher Kanäle des Wissensaustauschs und der Wissensvermittlung auch für das typographische Zeitalter, an dessen Beginn Ariost steht, schwerlich überschätzt werden. Nicht zuletzt die umfangreiche Dialogliteratur der Epoche, wenngleich sie zumeist fiktive und hochgradig idealisierte Gespräche zur Darstellung bringt, bezeugt den außerordentlichen Rang, der dem mündlichen gelehrten Austausch von Wissen und von Meinungen zugemessen wurde.117 Die gelegentlich konstatierte Diskrepanz zwischen Ariosts ‚Enzyklopädie‘, d. h. dem im Orlando furioso greifbar werdenden literarischen und nicht-literarischen Wissen, und der bescheidenen ‚Bibliothek‘ seines Autors und dessen – nach Zeugnis des Sohnes 116 S. Praloran 1999, S. 45. Mein Einwand beruht nicht darauf, dass Leonardos Schriften überhaupt erst im 17. Jahrhundert veröffentlicht wurden und Ariost sie also schwerlich kennen konnte; die Diskussionen, die in diesen Schriften kondensieren, mögen durchaus virulent gewesen sein und Ariost war immerhin mit anderen Malern wie Dosso Dossi und Tizian befreundet, sodass er also von ähnlichen Überlegungen gehört haben mag. Mir geht es vielmehr darum, dass es eines solchen Anstoßes nicht bedarf, um die spezifischen Strukturen des Furioso zu erklären. 117 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zum Renaissancedialog nenne ich hier nur Cox 1992; Honnacker 2002; Hempfer (Hg.) 2002 und 2004; Guthmüller/Müller (Hg.) 2004 sowie Baumann/Becker/Laureys (Hg.) 2015. Ariost selbst erscheint als Dialogfigur in Celio Calcagninis Dialog Equitatio.

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3 Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis

Virginio – nur begrenzten Lektüren,118 mag sich also auch mit einem essentiellen Anteil oral-auraler Wissensaneignung erklären. Dies umso mehr, als das estensische Ferrara seit den Zeiten Borsos d’Este eines der kulturellen Zentren Italiens und nicht nur Italiens war, so dass man alles in allem getrost davon ausgehen kann, dass Ariosts Bildung und theoretisches Wissen, auch wenn er selbst kein Gelehrter war, sich auf der Höhe der Zeit befanden. Natürlich war dieses Wissen ein Fundus, aus dem er schöpfen konnte, und gewiss ist es in Konzeption und Genese des Furioso eingegangen. Gleichwohl erscheint das verbreitete und sogar vorherrschende Verfahren fragwürdig und anfechtbar, eine komplexe erzählerische Praxis sowie die semantischen Implikationen und Pointen, die diese Praxis hervortreibt oder ‚emergieren‘ lässt, als Effekt einer theoretischen Disposition zu erklären, die dieser Praxis konzeptuell vorangehen und sie sogar erst ermöglichen soll. Fragwürdig erscheint insbesondere, eine Resonanz theoretischer Diskurse im Text des Furioso ausschließlich auf Basis von Ähnlichkeitsrelationen oder Analogien zwischen diesen Diskursen oder ihnen zugehöriger Theoreme und bestimmten Textphänomenen zu behaupten. Der einzelne Textphänomene oder die gesamte Textstruktur erklärende Rekurs auf einschlägige Theoreme poetologischer, philosophischer oder sonstiger Provenienz müsste stattdessen entweder die Evidenz eines Zitats besitzen oder er wäre dann legitimer Weise anzunehmen, wenn diese Textphänomene anders nicht erklärbar wären. Beide Bedingungen sind aber in den genannten Beispielen durchweg nicht erfüllt: So gibt es, wie gesagt, in Ariosts langem und, was seine intertextuellen Beziehungen angeht, durchaus auskunftsfreudigen und transparenten Epos keine einzige Stelle, die bezeugte, dass die Gott-Dichter-Analogie und ihr platonischer oder neuplatonischer Kontext eine Referenz Ariosts für seine Erzählpraxis gewesen sein könnte.119 Hinzugefügt sei, dass selbst wenn der Rekurs auf theoretische Diskurse auf Zitatebene greifbar und nachweisbar ist, dies nicht heißen muss, er besitze Ursachen- oder Impulsstatus für die jeweiligen Textphänomene; vielmehr kann das Zitat auch Absicherung, Verstärkung oder überhaupt Semantisierung einer Position sein, die mit dem oder im Text selbst ‚erschrieben‘ wurde und die mit den zitierten Diskursen oder Theoremen konvergiert oder jedenfalls eine gemeinsame Schnittmenge hat. In Umkehrung ‚intellektualistischer‘ Hypothesen (im Sinne Ryles), deren Verfechter glauben, Merkmale oder die spezifische Struktur des Furioso im Rückgriff auf ein Ariost angeblich verfügbares ideengeschichtliches Wissen erklären zu können, möchte ich hier plausibel machen, dass weder die Erzählpraxis Ariosts, sein narratives knowing how, noch die Dichtungsapologie Johannes’ über ihre Rückbindung an poetologische oder andere theoretische Konzepte als ihrem Ermöglichungsgrund ‚erklärt‘ werden können oder müssen; vielmehr ist es diese Erzählpraxis selbst, die in den ebenso paradoxalen wie prägnanten 118 S. hierzu Fortini 2000. Diese vermeintliche Diskrepanz könnte aber auch ein Effekt jener forcierten ‚ideengeschichtlichen‘ interpretativen Zuweisungen sein, die Quellen und Bezüge in den Text hineinlesen, die es dort gar nicht gibt. 119 Es sei denn jene Anspielung auf den Logosprolog des Johannes-Evangeliums, von der und von deren ironischer Kontextualisierung im vorigen Kapitel die Rede war. Diese Stelle spielt aber weder bei Durling noch bei den anderen ‚theologischen‘ Interpreten der Ariostschen Dichterfigur eine Rolle.

3.2 Faden und Gewebe – Geschichte und Wahrheit

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Ausführungen des Apostels die Konturen eines poetologischen knowing that annimmt, der umfangreichsten, explizitesten und komplexesten Konzeptualisierung seiner narrativen dichterischen Praxis, die sich in Ariosts Romanzo findet und die seine ‚Erzählperformance‘ zwar nicht erschöpfend auf den Begriff bringt, ihr aber äquivalent oder ‚kongenial‘ ist. Die Konstitution dieses erzählerischen knowing how – eines komplexen Wissens, das in den meisten ideengeschichtlich fundierten Untersuchungen des Furioso gar nicht als ein solches in Betracht gezogen wird – beziehe ich hier vor allem auf die Erzählweise des entrelacement, obwohl dieses knowing how zweifellos noch andere Konstituenten und Komponenten aufweist, die etwa auf der Ebene der Diktion und der stilistischen Register (darunter die verschiedenen Spielarten der ‚Ariost’schen Ironie‘) zu fixieren wären. Ich verfolge diesen Prozess der Ausdifferenzierung und Transformation des entrelacement im Kapitel 4 en détail, zuvor soll es aber noch um eine andere, gegenüber der Mondepisode und der dichtungsapologetischen Rede des Apostels Johannes weitaus lapidarere Manifestation von poetologischem knowing that im Orlando furioso gehen. 3.2 FADEN UND GEWEBE – GESCHICHTE UND WAHRHEIT: SPIELRÄUME DES METAPOETISCHEN DISKURSES IM FURIOSO Johannes’ Dichtungsapologie als irritierender oder sogar skandalöser Höhepunkt der Mondepisode ist zweifellos die mit Abstand elaborierteste – sowohl umfangreichste wie auch komplexeste – Exposition von metapoetischem knowing that im Furioso. Wenn es in älterer und neuerer Forschungsliteratur zu Ariosts Romanzo und in den Kommentaren seiner verschiedenen modernen Ausgaben um explizite Aussagen zur Textkonstitution und die mehr oder weniger programmatische Ausstellung erzählerischen Wissens geht – also um poetologisches knowing that –, wird allerdings so gut wie nie auf die Dichtungsapologie Johannes’ und die Mondepisode Bezug genommen. Eine obligatorische Referenz ist hingegen die folgende Stelle: Ma perché varie fila e varie tele uopo mi son, che tutte ordire intendo, lascio Rinaldo e l’agitata prua, e torno a dir di Bradamante sua (O. F. II, 30)120 120 An anderen Stellen wird eine analoge Programmatik formuliert, etwa in O. F. VIII, 21, 5–8 sowie, diesmal mit musikantischer Metaphorik, in VIII, 29: „Signor, far mi convien come fa il buono / sonator sopra il suo instrumento arguto, / che spesso muta corda, e varia suono, / ricercando ora il grave, ora l’acuto.“ In XIII, 80, 5–81, 2 heißt es zunächst mit kulinarischer, dann erneut mit textiler Metaphorik: „Come raccende il gusto il mutar esca, / così mi par che la mia istoria, quanto / or qua or là più variata sia, meno a chi l’udirà noiosa fia. / Di molte fila esser bisogno parme / a condur la gran tela ch’io lavoro.“ Weitere Stellen: XIV, 65; XXII, 3 u. ö. Von den zahlreichen Kommentierungen dieser Stellen nenne ich hier nur: Durling 1965, S. 117 f.; Delcorno Branca 1973, S. 42 f.; Stierle 1980, S. 302; Javitch 1980, S. 66 f.; Penzenstadler 1987, S. 185; Tognoli 1989, S. 65; Hempfer 1995, S. 79f; Sangirardi 2006, S. 172 f.; Tomasi 2016, S. 60 f. Eine ‚skulpturale‘ Metaphorik des Erzählens („sculpire in così

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3 Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis

Während die zahlreichen und für die Textstruktur des Furioso wie des romanzo überhaupt konstitutiven Wechsel zwischen unterschiedlichen narrativen Sequenzen und deren Personal zumeist einfach benannt und vollzogen werden, wird hier einem solchen Wechsel eine Begründung vorangeschickt und ein dem Verfahren zugrunde liegendes ‚kompositorisches‘ Prinzip benannt. Die Gewebe-Metaphorik dieser Stelle mag, wie Ceserani in seinem Kommentar (Ariosto 1996) vermutet, auf ein Petrarca-Sonett zurückgehen.121 Die Maxime, die in diesen Verszeilen formuliert wird, dürfte aber darüber hinaus auf Horaz verweisen und den in seiner Poetik geforderten Ausgleich zwischen dem unum oder totum des Textes und der ebenfalls gebotenen variatio seiner Teile.122 Der zweite Teil des Zitats spezifiziert dagegen die poetologische Maxime antiker Provenienz mittels des Rekurses auf eine genuin mittelalterliche Tradition und deren charakteristische Erzähltechnik: eben jenes schon mehrfach erwähnte entrelacement als ein namentlich für den arthurischen Roman strukturbildendes Verfahren, polyzentrische und figurenreiche Erzählungen diskursiv zu organisieren oder, in der Metaphorik der Ariostschen Verse wie auch des modernen terminus technicus, ein Bündel unterschiedlicher Erzählfäden zu einer komplexen Textur zu verarbeiten.123 Aufgerufen sind diese Tradition und ihre Erzählweise ganz unverkennbar durch die für sie spezifische Formularik des lascidegna pietra“) findet sich, in diesem Fall ohne jeden unmittelbaren Zusammenhang mit einem Strangwechsel, sondern in Vorbereitung eines epischen genealogischen Katalogs, in O. F. III, 3–4, im Kontext des weiter oben besprochenen Musenanrufs. 121 Petrarca, Canzoniere, XL, 2 („la tela novella ch’ora ordisco“). Die Metaphorik scheint aber schon in der Antike generisch zu sein. Ich verweise nur auf den Begriff des exordium, der ursprünglich der Sphäre der Textilverarbeitung entstammt (exordior, [ein Gewebe] anfangen) und dort das initiale Spannen der strukturgebenden Kettfäden benennt. Die Tätigkeit des Webens wird im Furioso mit einer gewissen Rekurrenz dem Dichten oder dem Erzählen metaphorisch assoziiert (s. hierzu Ascoli 1987, S. 161 f.); vor diesem Hintergrund darf vielleicht auch die Darstellung der Parzen in der Mondepisode, die der expliziten Dichtungsallegorie unmittelbar vorausgeht, als poetologisch konnotiert gelten, insofern die paganen Gottheiten textile Präfigurationen der zukünftig auf Erden Geborenen verwalten und deren Lebensfäden, ist ihre Zeit gekommen, abwickeln, während (wenn man die Metapher weiterspinnen wollte) die einmal abgewickelten Lebensfäden von den Dichtern erneut zu einer ‚Textur‘ verarbeitet und so unsterblich werden können. 122 Unter anderem heißt es bei Horaz: „qui variare cupit rem prodigialiter unam, / delphinum silvis adpingit, fluctibus aprum. / In vitium ducit culpae fuga, si caret arte. / Aemilium circa ludum faber imus et unguis / exprimet et mollis imitabitur aere capillos, / infelix operis summa, quia ponere totum / nesciet.“ (Ars poetica, 29–35) Hierzu Fuhrmann 1992, S. 129 f. Zur an der zitierten Furioso-Stelle greifbar werdenden „precettistica oraziana“ s. Casadei 2008, S. 177 f. 123 In den Kommentierungen der zitierten Stelle (und analoger metanarrativer Verlautbarungen) wird oft zu ausschließlich auf den Aspekt der variatio abgehoben, so z. B. bei Brand 1977: „l’effetto principale della tecnica è garantire la varietà“ (S. 515). Ohne jeden Bezug auf diese und ähnliche Stellen wird die variatio in Javitch 2005 zum fundierenden und letztlich zum einzigen Prinzip der Textkonstitution des Orlando furioso erhoben. Eine über einzelne Textelemente, Sequenzen oder Episoden hinausreichende Kohärenzstruktur ist unter dieser Voraussetzung aber kaum vorstellbar und wird von Javitch auch nicht erwogen. Siehe hierzu auch weiter unten S. 94, A. 172. Dass die variatio im Furioso nicht das allein gültige oder auch nur zentrale Prinzip der Textkonstitution sein kann, betonen hingegen Penzenstadler 1987, S. 185 und Hempfer 1995, S. 79 f.

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are-tornare, mit der ein Wechsel oder die Rückkehr von einer Handlungssequenz zu einer anderen initiiert wird. Ich komme auf diese Formularik und ihre ‚Evolution‘ zwischen Chrétiens Perceval und dem Orlando furioso im anschließenden Kapitel ausführlich zurück. Wenn die zitierte Passage, in der das Prinzip seines Erzählens vom Erzähler explizit benannt zu werden scheint, ebenso als Ausdruck von poetologischem knowing that gelten soll wie Johannes’ Dichtungsapologie, fragt sich allerdings, ob und inwieweit die beiden Textstellen – in der Folge kurz P1 und P2 – überhaupt kommensurabel sind. Ganz offensichtlich unterschieden sind sie zunächst durch die Sprecherinstanz: während im Fall von P1 der Erzähler als figure of the poet spricht, wird P2 von einer intradiegetischen Figur vorgetragen. Wenn aber Johannes’ Dichtungsapologie, wie ich über ihre Gegenüberstellung mit jener als paradigmatisch erkannten Textpassage um den ertrinkenden Ruggiero versucht habe einsichtig zu machen, auch Erzählweise des Orlando furioso angemessen beschreibt, wird man den Apostel ebenso (und natürlich mit analogen Vorbehalten) als Sprachrohr des Autors gelten lassen können wie den Erzähler. Ein gewichtigerer Einwand gegen die Parallelisierung von P1 und P2 betrifft die unterschiedliche Referenz und Reichweite beider Propositionen: P1 spricht vom Erzählen als techne, als regelgeleitetes operatives Verfahren der histoire-Konstitution oder einer textinternen dispositio. Genauer gesagt, fordert P1 die systematische Integration einzelner Handlungssequenzen zu einer polyzentrischen histoire oder, um im Bild zu bleiben, die Verknüpfung einzelner Erzählfäden zu einem komplexen narrativen Gewebe oder ‚Teppich‘124– ein Verfahren, das eindeutig die längst konventionalisierte (und in den Cantari auch bereits trivialisierte) Erzählweise der arthurischen wie auch der späteren franko-italienischen und italienischen Ritterepik als Referenz aufruft und für das sich seit den Forschungen Ferdinand Lots zum Prosa-Lancelot eben die gleichfalls textile Metapher eines entrelacement als Fachterminus etabliert hat.125 In P2 dagegen geht es um die immortalisierende und zivilisatorische Macht von Dichtung, um ihre soziale und ‚politische‘ Funktion und schließlich um den epistemischen Status dichterischer Fiktionen, und damit, wenn man so will, um die poetische inventio. Das paradoxal modalisierte, aber gleichwohl emphatische und epistemologisch ambitionierte Dichtungskonzept von P2 zielt auf die Verfügungsmacht des Dichters über den Wahrheitsstatus oder die Gültigkeit geschichtlicher ‚Tatsachen‘; Reichweite und Geltungsanspruch dieser Proposition sind damit ungleich größer als die von P1, die, regelpoetisch restriktiv und epistemisch ‚neutral‘, lediglich ein Gelingen oder Nicht-Gelingen narrativer Vertextung ins Auge fasst sowie implizit eine bestimmte Wirkungsabsicht verfolgt, nämlich dem Rezipienten zu gefallen und ihn nicht zu ermüden.126 Insofern aber Johannes’ Dichtungsapologie über einen Diskurs und eine Textgattung spricht, denen auch der Orlando Furioso zugehört – den Diskurs der Enkomiastik und die Gattung der Epik (im weiten 124 Zur „tapestry metaphor“ im Furioso s. Alexander 1982. 125 S. Lot 1954. Näheres im folgenden Kapitel. 126 Explizit gemacht wird der Zusammenhang von variatio und Vergnügen bzw. Vermeidung von Langeweile und Ermüdung beim Leser/Hörer dagegen in den bereits zitierten (A. 120) Versen O. F. XIII, 80–81.

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Sinn) –, ist P2 auch als Aussage über die Konstitutionsbedingungen des Textes, in dem sie getroffen wird, unmittelbar pertinent. Dies gilt umso mehr, als der Furioso die in Johannes’ Rede als ‚unwahr‘ inkriminierten Geschichten direkt (Ruggiero als Abkömmling Hektors, der so „fiero“ gar nicht war) oder indirekt (Ippolito d’Este als typologische Entsprechung des Augustus, der „non fu sì santo né benigno“ wie es Vergil berichtet) fortsetzt. Letztlich sieht Johannes, wie bereits festzustellen war, den Dichter im Kontinuum der Geschichte in einer Weise agieren, die dem Agieren des Erzählers im Kontinuum der erzählten Geschichte weitgehend kongruent ist – nämlich als denjenigen, der den geschichtlichen Akteuren überhaupt erst eine Existenz zuweist und sie mit bestimmten positiven oder negativen Attributen versieht oder aber ihnen das eine wie das andere vorenthält und sie damit nihiliert. Vergleichbar sind beide Propositionen also darin, dass sie Aussagen machen über die Fähigkeit, Möglichkeit oder Aufgabe von erzählender Dichtung, ‚geschichtliches‘ Material auszusondern, hinzuzufügen, zu ordnen und zu bewerten – mithin über es zu disponieren. Dabei fehlt freilich in P1 das Moment der Aleatorik oder wird jedenfalls nur schwach markiert („lascio“); in anderen metanarrativ einschlägigen Interventionen des Erzählers, die ebenfalls die Technik des entrelacement aufrufen und praktizieren, tritt dieses Moment, das Ausspielen narratorialer Verfügungsmacht, allerdings deutlich hervor, besonders schlagend in der Textstelle mit dem beinahe ertrinkenden Ruggiero, aber auch in den Astolfo und Rodomonte geltenden metaleptischen Erzählerinterventionen, die ich bereits im ersten Kapitel zitiert und kommentiert habe. In Anbetracht ihrer Differenzen wie Parallelen ließe sich zumindest festhalten, dass P1 und P2 die Spannbreite eines poetischen knowing that markieren, soweit dieses in Ariosts Epos überhaupt expliziert wird. Nun ist freilich auch kaum zu übersehen, dass weder P1 noch P2 und auch beide zusammen nicht die narrative Textur des Furioso und ihre Konstitutionsbedingungen hinreichend benennen. Was P1 angeht, so konfligiert diese erzählprogrammatische Bekundung zum einen mit anderen Aussagen des Erzählers zur Textkonstitution; so ist die Beschwörung des furor poeticus im Proömium von Canto III als Bedingung für das Gelingen des Textes mit dem ‚nüchternen‘ und souveränen dispositionellen Kalkül, das sich in P1 artikuliert, kaum abzugleichen.127 Entsprechendes gilt für die zahlreichen Selbstpositionierungen des Erzählers als biederer Chronist, der ganz seinen Quellen und der von diesen vorgegebenen Ordnung und Chronologie der Ereignisse verpflichtet wäre, und der, nähme man diesen Anspruch beim Wort, gar keinen Spielraum hätte, seinen Text nach horazischen kompositorischen und wirkungsästhetischen Maximen zu arrangieren.128 Wenngleich sowohl der inspirationspoetische wie auch der ‚chronikalische‘ Gestus ironisch imprägniert sind, bezeugen sie beide doch eine Verfügbarkeit und Austauschbarkeit unterschiedlicher und miteinander inkompatibler Erzählerrollen, die den Erzählerdiskurs und seine Selbstpräsentation insgesamt unter einen Verbindlichkeitsvorbehalt stellen. Zum anderen aber und vor allem scheint P1 der narrativen Makrostruktur des Furioso nur partiell gerecht zu 127 S. hierzu weiter oben S. 62, A. 98 sowie Kap. 6, S. 146–152. 128 Zur sogenannten Turpinschen Chronik, auf die Ariosts Erzähler sich als Quelle seiner Erzählung zu beziehen vorgibt, s. weiter unten, S. 99.

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werden. Tatsächlich ist die Erzählweise des entrelacement bereits an ihrem Ursprung bei Chrétien oder im Prosa-Lancelot und erst recht, wenngleich in anderer Weise, im Orlando furioso weitaus vielschichtiger, als es die textile Metaphorik sowohl Ariosts selbst wie auch des modernen Forschungsterminus zu erfassen imstande ist, und sie geht auch keineswegs auf in einer bloßen Technik linearer Verkettung oder Verknüpfung alternierender Handlungssequenzen. Allein die Mondepisode kann sowohl mit ihrem komplexen internen Aufbau wie auch aufgrund ihrer Positionierung als eine Art mise en abyme des Gesamttextes bezeugen, dass Ariost Strukturen generiert, die schwerlich noch dem fiktiven Erzähler als Dichterpersona zugerechnet werden können, sondern jenseits seiner ihm mehr oder weniger explizit zugeschriebenen Intentionen liegen. Natürlich ließe sich fragen, ob ein solches Erzählen überhaupt noch dem entrelacement subsumierbar ist. Andererseits ist diese Erzählweise ungemein flexibel und adaptionsfähig und insofern gerade einem ‚omnivoren‘ Genus wie dem Romanzo, das sich wegen seiner geringen oder fehlenden gattungspoetischen Kodifizierung unbefangen andere Gattungen, Textbausteine und Diskurse ‚einverleibt‘, kongenial. Nicht erst bei Ariost erfährt das entrelacement Permutationen, Transformationen und Überblendungen mit anderen Erzählweisen, die sein Funktionsspektrum wie auch sein implizites poetologisches Gewicht vergrößern und dadurch die zuvor konstatierte Diskrepanz zwischen P1 und P2 verringern. In gewisser Weise ist die Transformation der in P1 indizierten Erzählweise und ihr damit verbundener Komplexitätszuwachs überhaupt eine Voraussetzung für P2. Besonders sinnfällig wird dies in der Verbindung der zyklischen, prinzipiell offenen und erzählsubjektzentrierten narrativen Struktur des entrelacement mit der teleologischen Stringenz und Objektivität einer genealogischen Erzählung nach dem Vorbild der Aeneis bei Boiardo und – ungleich konsequenter – bei Ariost. Die Szene mit dem beinahe ertrinkenden Ruggiero gibt eine Vorstellung von der potentiellen Konfliktualität dieser Liaison und zugleich von ihrer Produktivität. Das genealogische Erzählprogramm, das der Orlando furioso seit seinen ersten Strophen explizit verfolgt und das einen Kohärenz- und Gelingensdruck auf den Text ausübt, ihm einen ordo auferlegt, der nicht von der Horazischen Einheitsmaxime herrührt, wird aber ebenfalls von jener textilen Metapher, die so oft als Ariosts verbindliche Selbstexplikation seiner Erzählweise im Sinne des varietas-Prinzips verstanden wird, überhaupt nicht berührt. Was nun P2 angeht, so wird auch diese dem Apostel Johannes in den Mund gelegte dichtungstheoretische Proposition der erzählerischen Praxis, die in Ariosts Romanzo zu performativem Ausdruck kommt und seine komplexen Strukturen generiert, nicht vollständig gerecht. Vor allem ist das Verhältnis von dichterischer Erfindung, von narrativer Verfügungsmacht und historischer Faktizität, von Fiktion und gegenwärtiger wie vergangener Lebenswelt, das im Furioso modelliert wird, komplizierter und vielschichtiger als dies Johannes’ Dichtungsapologie postuliert. Tatsächlich ragt die empirische Faktizität nicht nur in Gestalt fürstlicher Remunerationen (oder deren Vorenthaltung) beständig in den poetischen Fiktionsraum hinein, erweitert seinen Horizont und limitiert zugleich seinen Geltungsradius. Das ‚Einfallstor‘ einer widerspenstigen Empirie ist dabei gerade der autoreflexive Erzählerdiskurs, der diese Empirie und den Druck oder die Nötigungen, die sie auf die

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Textkonstitution ausübt, durch beständige Apostrophierung der spröden Geliebten des Erzählers sowie vor allem des Widmungsträgers Ippolito als Repräsentanten der Este-Familie präsent hält.129 Insbesondere aber jene Textpassagen, in denen der Erzähler mit ironiefreier Empathie auf ganz gegenwärtige Schrecken des Krieges zu sprechen kommt, die Italien und Ferrara und damit auch seine eigene Lebenswirklichkeit heimgesucht haben, lassen deutlich werden, dass die historische Faktizität nicht nur über das Medium herrscherlicher Wert- oder Geringschätzung auf die Erfindungskraft des Dichters und seine Bereitschaft zu Lob und Tadel einwirkt, sie limitiert oder stimuliert, sondern dass hier noch andere Konditionen und Faktoren im Spiel sind und die Textkonstitution bestimmen. Die Ohnmacht der realgeschichtlichen Akteure gegenüber der Eigendynamik des Krieges scheint an diesen Stellen ein Echo zu finden in der Ohnmacht des Dichters, die entfesselte Empirie noch einem intelligiblen Plan einzufügen und die Rolle einer Vorsehung ex eventu spielen zu können.130 Ich komme darauf zurück. Ähnliches gilt aber auch für das genealogisch-enkomiastische Projekt des Furioso insgesamt, das ebenfalls nicht ausschließlich opportunistischem und aleatorischem Kalkül folgt, sondern sowohl dem Druck und den Obligationen einer umstrittenen und immer wieder neu verhandelten Faktizität unterliegt wie auch einer epistemologischen Disposition folgt, die in der Genealogie ein valides und unverzichtbares Organon geschichtlicher Sinnstiftung erkennt. Auch davon wird später noch zu sprechen sein. Die zumindest partielle Differenz zwischen manifester Textstruktur bzw. Textbedeutung und deren Kommentierung im Furioso selbst findet bei den zeitgenössischen Rezipienten von Ariosts Romanzo ein Echo in der schieren Inkongruenz zwischen kommentiertem Text und Kommentar. Es erscheint mir angebracht, hierzu und zu der resultierenden Problematik an dieser Stelle einige Anmerkungen zu machen, gerade auch, weil diese Problematik in den meisten aktuelleren Interpretationen des Furioso, wenn nicht völlig ignoriert, so doch umgangen wird, nicht zuletzt durch eine zumeist selektive Inanspruchnahme zeitgenössischer Beobachtungen und Aussagen zu Ariosts Text für die eigene Interpretation.

129 Die vieldiskutierte Frage, ob oder ob nicht mit „colei“ (O. F. I, 5) oder „madonna“ (ebd. XXXV, 1, 1) Ariosts Konkubine Alessandra Benucci gemeint sei, mit der er ein langjähriges geheimes Liebesverhältnis unterhielt, bevor er sie um 1530 heiratete, scheint mir für die epistemologische Funktion der Geliebteninvokation nur sekundär zu sein. Entscheidender ist, dass mit der sich entziehenden Geliebten, die den Dichter in den Wahnsinn zu treiben droht, eine kontingente Empirie beschworen wird, die nicht seiner Kontrolle unterliegt. Im Übrigen hätte ich kein Problem mit der Annahme, Alessandra Benucci sei eine Referentialisierungsoption für alle Rezipienten, die von ihrem Verhältnis zu Ariost wussten, d. h. einer seit der ersten Fassung des Furioso von 1516 beständig steigenden Zahl. Dass ein Dichter, wenn er denn eine Geliebte hat, nicht auch an diese bei Abfassung seiner Dichtung denken dürfe, sondern ausschließlich an die einschlägige literarische Topik, scheint mir auch bei einem vormodernen Autor eine unnötige Annahme zu sein. 130 Zu den Reflexen und Reflexionen zeitgenössischen Kriegsgeschehens im Orlando furioso, etwa anlässlich der blutigen Schlachten von Ravenna und Polesella, in die Ferrara entscheidend involviert war, s. Durling 1965, S. 138–147; Pampaloni 1971b; Murrin 1994; Bolzoni 2002; Valleriani 2010. Ich komme darauf in Kapitel 6 ausführlich zurück.

3.3 Exkurs zur Diskrepanz zeitgenössischer und ‚moderner‘ Interpretationen

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3.3 EXKURS ZUR DISKREPANZ ZEITGENÖSSISCHER UND ‚MODERNER‘ INTERPRETATIONEN DES FURIOSO, ODER: IST DER ORLANDO FURIOSO KLÜGER ALS SEIN AUTOR? Der heutige Leser und Interpret von Ariosts Orlando furioso ist einerseits in der glücklichen Lage, über eine präzedenzlose Fülle elaborierter zeitgenössischer Rezeptionszeugnisse verfügen zu können – ein Umstand, den er vor allem dem sogenannten Romanzostreit zu verdanken hat, also jener vor dem Hintergrund einer Neuentdeckung und Relektüre der Aristotelischen Poetik ausgetragenen Kontroverse um die Superiorität Ariosts oder Tassos. Andererseits stellt ihn eben diese große Zahl zeitgenössischer Kommentierungen des Ariost’schen Epos vor ein Problem, über das sich die Interpreten historischer Texte, deren Überlieferung nicht gleichermaßen von zeitgenössischen Kommentaren flankiert ist, leichter hinwegtäuschen können. Gerade der wissenschaftliche Leser des Furioso sieht sich nämlich damit konfrontiert, dass seine eigene mehr oder weniger ambitionierte Interpretation dieses Textes ebenso wie die anderer moderner Interpreten gleich welcher Couleur in jenen zeitgenössischen Kommentaren keine oder höchstens punktuelle Entsprechung und immer nur unzureichende Bestätigung findet. Dies gilt natürlich auch für die hier vorgelegte Interpretation des Furioso, gerade auch der Mondepisode, die sich schwerlich auch nur auf eine der historischen Kommentierungen berufen könnte. Dabei erscheinen diese zeitgenössischen Kommentare, auch die differenziertesten unter ihnen, gegenüber dem kommentierten Text aus heutiger Sicht stets als subkomplex, was umso schwerer wiegt, als es sich bei ihnen zum größeren Teil um gelehrte Stellungnahmen handelt, von denen angenommen werden darf, dass sie den historisch avanziertesten Stand hermeneutischer Kompetenz repräsentieren. Ein grundlegender Unterschied zwischen prämodernen und modernen Interpretationen dürfte darin bestehen, dass moderne (wissenschaftliche) Leser im Furioso komplexe sinn- und bedeutungskonstitutive und in einer integrativen textuellen Makrostruktur aufgehende Isotopien erkennen, die es ihren Interpretationen ermöglichen, ein Maximum an Textdaten zu berücksichtigen. Dagegen sehen sie sich bei den zeitgenössischen Kommentaren einem zumeist fragmentarisierenden Zugriff auf den Gesamttext gegenüber, der einzelne Stellen oder Aspekte mehr oder weniger umstandslos isoliert und privilegiert und der für kohärenzstiftende Relationen entweder blind ist oder sie nur unzureichend zu konzeptualisieren vermag.131 Dies 131 Ein aufschlußreiches Beispiel und ein besonders relevanter Sonderfall „kohärenzinsensitiver“ zeitgenössischer Kommentare sind die häufigen allegorischen Auslegungen des Furioso. S. hierzu Hempfer 2017. Tatsächlich halten sich dekontextualisierende Lektüren bis in die Neuzeit, wobei sie nun auch ausdrücklich gerechtfertigt werden können. So heißt es etwa in Ludwig Tiecks Phantasus vom Orlando furioso: „(…) wir tun wohl nicht Unrecht, wenn wir über die vollendete Schönheit des Einzelnen, über diese Fülle der Gestalten, über diesen zarten blumenartigen Witz, über diese ernste und milde Weisheit eines heitern Sinns die Zusammensetzung vergessen.“ (Tieck 1985, S.108) Neu ist vielleicht, dass man jetzt nach relativ abstrakten, nicht von normpoetischen Vorgaben diktierten Formeln für einen ‚Gesamtcharakter‘ sucht. Die berühmteste und wirkmächtigste dieser Formeln ist sicher die auf De Sanctis zurückgehende Crocesche armonia. Wenn De Sanctis und vor allem Croce dem Furioso dieses Prädikat

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gilt auch und insbesondere für die semantischen Oppositionen, Paradoxa und Oxymora, propositionalen Antithesen und Diskrepanzen, die dem modernen oder postmodernen Verständnis des Furioso selbst als strukturbildend gelten und die ihn geradezu als „poema della contraddizione“ (Ferroni) und als einen Text auszeichnen sollen, der eben wegen seiner „Diskrepanzstruktur“ (Hempfer) als paradigmatisch für den epistemologischen Pluralismus der Epoche verstanden werden kann.132 Eine entsprechende Perspektive auf den Furioso steht dem zeitgenössischen Interpreten freilich nicht zu Gebote. Wenn ihm die Ambivalenzen, Paradoxien oder Diskrepanzen, die Ariosts Epos aus moderner Sicht geradezu methodisch hervorzubringen scheint, überhaupt in den Blick geraten, werden sie in der Regel gerade nicht wie in (post-)modernen Interpretationen als Strategien gewürdigt, die Komplexität der Textaussage zu steigern und sie eventuell um heterodoxe oder gar subversive Implikationen und Subtexte zu bereichern, sondern sie werden sogleich als Kunstfehler deklariert oder als Ausweis mangelnder Kontrolle des Autors über seinen Text.133 So vermerkt Alberto Lavezuola in seinen Osservationi sopra il Furioso von 1584 zwar einen offenkundigen Gegensatz zwischen der Alcina-LogistillaEpisode und ihrer unmittelbaren Fortführung, vermag diesen Gegensatz aber nur als Lapsus des Autors zu erklären: In dieser Episode (O. F. VI–X) hat Ruggiero ein aufwendiges allegorisches Läuterungsprogramm zu durchlaufen, das ihm, dem als Begründer einer ruhmreichen Herrscherdynastie Auserkorenen, die Suprematie der ragione gegenüber den Begierden als Verhaltensgebot verinnerlichen soll. Kaum hat er jedoch, anscheinend belehrt und sittlich gefestigt, das der Tugend und Vernunft geweihte Reich Logistillas hinter sich gelassen, erliegt er widerstandslos den Reizen der schönen Angelica und versucht (dabei freilich an der ‚Tücke des Objekts‘ scheiternd) mit eben der selbstvergessenen sensualistischen Inbrunst, die ihm bei Logistilla ausgetrieben werden sollte, über die nackte und scheinbar wehrlose Königstochter herzufallen. Sowohl das didaktische Läuterungsgeschehen wie auch der allegorische Modus, dem seine Darstellung anvertraut ist, erscheinen damit kompromittiert. Lavezuola indessen ist nicht nur offenkundig taub für die beträchtliche Komik der Konstellation; er erkennt in ihr auch kein kalkuliertes, womöglich süffisantes Gegeneinanderausspielen unterschiedlicher Normsysteme, das Ariost beilegen, zielt dies aber nicht auf eine narrative Struktur (ein Konzept, das zumindest Croce ohnehin abgelehnt hätte), sondern vielmehr auf die Diktion oder den Stil bzw. das ihm zugrundeliegende sentimento als Ort der Kohärenzbildung. Als narrative Großstruktur wird der Furioso wohl erst unter strukturalistischen und poststrukturalistischen Vorzeichen beschreibbar (z. B. Dalla Palma 1984 oder Praloran 1999 u. ö.), jedenfalls dann, wenn dabei eine Beschreibungsdichte und ein Differenzierungsniveau übertroffen werden soll, das seine Kategorien im Wesentlichen über die Kontrastierung von ‚Epos‘ vs. ‚Romanzo‘ gewinnt. 132 Dies ist die von Klaus W. Hempfer in zahlreichen Publikationen dargelegte These. S. etwa Hempfer 1987, 1995 u. ö. 133 Ich habe hierfür bereits das Beispiel Sperone Speronis angeführt, der die mediale ‚Zweigleisigkeit‘ des Furioso, seine Orientierung auf eine aurale wie auf eine lektoriale Rezeption, offenkundig und nachvollziehbar nicht als Reflex epochaler Komplikationen und Verwerfungen des Kommunikations- und Mediensystems und erst recht nicht als eine Strategie würdigen konnte, durch Entgrenzung medialer Zustände zugleich epistemische und ‚ontologisch‘ Grenzen zu verschleifen, sondern sie als Kunstfehler beanstandet. S. oben, S. 20, A. 12.

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seinen Erzähler im Proömium des der Episode nachfolgenden Gesangs (O. F. XI, 1–3) durchaus explizit machen lässt,134 sondern tadelt sie als Verstoß des Autors gegen das aptum: […] non par che dicevolmente l’Ariosto habbia nel fine di questo canto introdotto Ruggiero a voler prendere carnal diletto con Angelica, e tanto più, che questo fatto occorre subito dopo la partita da Logistilla.135

Ein weiteres und für die Fragestellung dieses Bandes besonders einschlägiges Beispiel gibt ebenfalls Lavezuola, wenn er zwar als einer der wenigen zeitgenössischen Kommentatoren überhaupt eine Diskrepanz zwischen der genealogisch-enkomiastischen fabula des Furioso und der Dichtungsapologie des Apostels Johannes in der Mondepisode notiert, diese Diskrepanz dann aber wiederum nur als einen Fehler, als eine Ungeschicklichkeit oder Gedankenlosigkeit des Autors bemängelt und nicht etwa als bewusst verfolgte Diskursstrategie in Betracht zieht: Volendo egli dedurre l’origine della casa Estense da Astianatte, che campò, come egli dice dalle mani d’Ulisse, et dal furor de’ Greci, come appare nel Canto che segue 36 alla strofe 70 pare che tolga à se medesimo, et a quegli, che stimassero tale nobilissima famiglia esser da’ Troiani discesa totalmente la credenza, et ciò sia un mero sogno, et bugia, ò chimera fabricata da lui. Disfà egli dunque tutta la sua trama ordita, et par che non s’avvegga dell’ inconveniente in ch’egli cade, et conta la sua principale intentione, che era di ritrovare alla detta serenissima casa antichissimi Principi, la quale o venga di là, o d’altrove, si sa che non si mostra inferiore à niuna di nobiltà, che hoggi di risplenda in Italia, et fuori. Questo è un volere à guisa di Penelope guastare tutto il lavoro, fatto il giorno.136

Wie man sieht, stört sich Lavezuola keinesfalls an den prekären und potentiell häretischen Implikationen der Rede Johannes’ hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Neuen Testaments oder der enkomiastischen Dichtung und der geschichtlichen Überlieferung im Allgemeinen. Überhaupt vermeidet Lavezuola jede grundsätzliche Schlussfolgerung, die seine Beobachtung nahelegen könnte. Man kann nicht einmal sagen, dass er die Konsequenzen der apostolischen Rede für das genealogisch-enkomiastische Projekt Ariosts in ihrer grundlegenden Brisanz erkennen 134 S. hierzu Hempfer 2017, S. 263. 135 Alberto Lavezuola, Osservationi del Sig. Alberto Lavezuola, sopra il Furioso di M. Lodovico Ariosto. Nelle quali si mostrano tutti i luoghi imitati dall’ Auttore nel suo poema, in: Orlando Furioso di M. Lodovico Ariosto Nuovamente adornato di Figure di Rame da Girolamo Porro Padovano Et Di Altre cose che saranno notate nella seguente facciata, Venetia: Francesco de Franceschi 1584, fol. 1r-43v, hier: fol.10. Zit. n. Hempfer 2017, S. 262. 136 Lavezuola, Osservationi (wie A. 135), 30r/v. Zit. n. Rivoletti 2007, S. 247. S. zu dieser Stelle auch Hempfer 1987, S. 206 f. Christian Rivoletti möchte in der zitierten Passage einen Beleg dafür erkennen, dass auch zeitgenössische Kommentatoren einen Blick für weitgespannte intratextuelle Bezüge und durch sie gestiftete Kohärenzrelationen haben konnten (s. Rivoletti 2007, S. 246–249). Mir scheint aber Lavezuolas Kommentar insofern eher das Gegenteil zu belegen, als er solche Bezüge gerade nicht mit komplexitätssteigernder Kohärenz verrechnet, sondern sie als Unterminierung von Kohärenz durch auktoriale Nachlässigkeit versteht. Immerhin könnte man angesichts dieser Stelle bei Lavezuola einräumen, dass es bei den zeitgenössischen Kommentatoren zwar einen Sinn für Kohärenzrelationen geben kann, der sich von dem moderner Interpreten aber grundlegend dadurch unterscheidet, dass er auf Widerspruchslosigkeit zielt.

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würde;137 Sorgen macht ihm vielmehr ein bloßes Detail, nämlich dass die wohlverdiente Reputation der „nobilissima famiglia“ der Este Schaden nehmen könnte, nachdem Johannes erklärt hatte, Troia sei in Wirklichkeit gar nicht zerstört worden, sondern siegreich aus dem Konflikt hervorgegangen. Die Herkunftserzählung, die das Haus Este von dem aus Troia entkommenen Astyanax abstammen lässt – eine Erzählung, die Lavezuola selbst, ohne die „antichissima“ Herkunft der Este grundsätzlich anzuzweifeln, offenkundig nicht für bare Münze nehmen möchte – sei dadurch unglaubwürdig geworden.138 Wenngleich zeitgenössische Kommentare hinter den komplexen und über lange Textstrecken sich entfaltenden Sinnverknüpfungen, die moderne Interpreten im Furioso erkennen und herausarbeiten, zurückbleiben, können sie dennoch als Korrektiv ‚modernistischer‘ Überinterpretationen und der Versuchung anachronistischer Projektionen wirksam werden. Dies gilt etwa für ein vorbehaltlos affirmatives Verständnis der genealogisch-enkomiastischen Geschichtskonstruktion, das auch durch Lavezuolas zitierten Kommentar bezeugt wird, der ja nicht das Konstrukt als solches, sondern nur Details seiner Durchführung infrage stellt. Moderne Interpretationen der genealogischen Enkomiastik Ariosts, die diese als durchgehend ironisch verstehen wollen, obwohl eine solche Lesart zeitgenössisch schwerlich bezeugt ist, sind damit zwar noch nicht widerlegt, ihnen ist aber ein Begründungsdruck auferlegt, dem sie weitgehend nicht gerecht werden. Ich komme darauf im 6. Kapitel ausführlich zurück. Noch relevanter ist vielleicht, dass die zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse den Blick auf heute unterschätzte und ‚übersehene‘ oder in Vergessenheit geratene Bedeutungs- und Funktionsaspekte des Textes lenken, etwa auf die oral-aurale Dimension des Furioso, von der im ersten Kapitel die Rede war und die im Übrigen als eine zumindest partielle Erklärung für seine aus heutiger Sicht fragmentarisierende, Kohärenzstrukturen verkennende Rezeption in Betracht zu ziehen ist.139 Dennoch kann die Abgleichbarkeit moderner Interpretationen mit zeitgenössischen Kommentaren schwerlich ein ultimatives Kriterium für die Gültigkeit dieser Interpretationen sein. Dies liefe letztlich auf den Verzicht auf erst heute als relevant erkannte Fragestellungen hinaus und auf die Preisgabe von Einsichten in die ‚Funktionsweise‘ von Texten, die seit den Kontroversen über die Auslegung der Aristotelischen Poetik gewonnen wurden und mit denen man, selbst bei äußerster Skepsis gegenüber dem Fortschritt in den Geisteswissenschaften, doch wird rechnen dürfen. Vielmehr bezeugen diese frühen Kommentare eine grundlegende und vielleicht, gerade in Zeiten eines Umbruchs des Literatur- und 137 Dagegen Hempfer 1987, S. 206 f. 138 Angemerkt sei, dass das Bild der ihr textiles Tagewerk wieder auflösenden Penelope als schlecht gewählt gelten könnte, insofern Penelope mit ihrem Tun sich ja ihre Freier vom Hals halten will und also durchaus eine strategische Absicht verfolgt, was Lavezuola Ariost in diesem Fall gerade absprechen möchte („et par che non s’avvegga dell’ inconveniente in ch’ egli cade“). 139 Nur partiell wäre diese Erklärung, weil die inhärente ‚Klanglichkeit‘ des Furioso und anderer Texte zwar einen auralen Rezeptionshabitus gefordert oder gefördert haben mag, der nicht auf ausgreifende textuelle Kohärenzrelationen fokussiert gewesen sein kann, die Kommentargrundlage der gelehrten Rezeption des Furioso aber zweifellos der gedruckte Text ist. Lavezuola etwa, in dieser Hinsicht ein Vorläufer Pio Rajnas, weist minutiös die Quellen nach, auf die Ariost zurückgreift.

3.3 Exkurs zur Diskrepanz zeitgenössischer und ‚moderner‘ Interpretationen

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Mediensystems, unvermeidliche Ungleichzeitigkeit und Diskrepanz zwischen historisch gegebenen dichterischen, insbesondere narrativen Möglichkeiten und deren zeitgenössischer Konzeptualisierung. Wenn aber eine solche Diskrepanz zwischen poetischem oder produktionsästhetischem knowing how und poetologischem (oder sonstigem theoretischem) knowing that zu konstatieren ist, gilt sie unweigerlich auch für den Autor selbst. Die in der Kapitelüberschrift gestellte Frage soll diese Verhältnisse pointieren. Ist der Orlando furioso also klüger als sein Autor? Insoweit das Attribut ‚klug‘ nur einem vernunftbegabten Lebewesen zugesprochen werden kann und dessen sprachliches oder nichtsprachliches Verhalten auszeichnet, sollte ein Text als bloßer Artefakt natürlich nicht für ‚klug‘ oder gar ‚klüger‘ gehalten werden können. Andererseits nimmt der alltägliche Sprachgebrauch eine solche Zuordnung durchaus vor, indem er davon spricht, ein Satz, eine Rede oder ein Text seien ‚klug‘ und damit die sprachliche Äußerung von ihrem Subjekt ablöst, u. U. insinuierend, auch ein dafür nicht Prädestinierter könne einmal etwas Kluges sagen. Zum Ausdruck gebracht werden soll auf diese Weise natürlich, dass dieser Text oder jene Rede richtige oder wichtige Aussagen treffen, dass sie Wahres oder Gültiges über ihren Gegenstand sagen usw. Mir kommt es hier auf Folgendes an: Wenn ein Text in diesem Sinne als ‚klug‘ gelten kann, wird man ihn gegebenenfalls auch für ‚klüger‘ als seinen Autor und dessen Zeitgenossen halten können, nämlich dann, wenn dieser Text eine Aussage transportiert, die so heterodox und/oder so komplex ist, dass sie weder vom Autor noch von seinen zeitgenössischen Lesern in anderer Weise diskursivierbar – sagbar oder auch denkbar – wäre, als es eben in diesem oder mit diesem Text geschieht. Diese Möglichkeit scheint mir von einem Text wie dem Furioso auf exemplarische Weise bezeugt zu sein. Spätere Lesergenerationen mögen Lektüremodelle, hermeneutische Verfahren, Perspektiven auf und Fragen an Texte sowie diskursive Modi oder Sprechweisen ausbilden, die der komplexen Aussage des für sie historisch gewordenen Textes gerechter werden, als dies den Zeitgenossen (den Autor inbegriffen) möglich war und die diese Aussage transferierbar oder permutierbar in andere Äußerungsweisen und -formate machen. Dies schließt natürlich die Möglichkeit ein, dass unter historisch späteren und ‚fortgeschritteneren‘ Voraussetzungen erarbeitete Auslegungen und Interpretationen ihrerseits ‚veralten‘ und schließlich auch wieder als subkomplex oder inadäquat wahrgenommen werden können – wie von uns etwa die Interpretationen eines Francesco De Sanctis, eines Pio Rajna oder eines Benedetto Croce, die zu ihrer Zeit erhellend gewesen sein mögen, deren geschichtsphilosophische, ästhetische und moralische Prämissen heute aber als nicht mehr verbindlich, wenn nicht als obsolet erscheinen. Auch verläuft die Geschichte einer sukzessiven Ausdifferenzierung und Erweiterung sinn- und bedeutungserschließender interpretativer Verfahren diskontinuierlich, d. h. sie kennt Rückschritte, etwa im Fall der Rhetorik, die lange Zeit als kompromittiert galt und deren analytisches Potential erst wiederentdeckt werden musste. Schließlich können historische Rezeptionsmodi und Sensorien und damit auch bestimmte Sinnhorizonte eines Textes sowie Affekte oder Sensationen, die er auslösen mag – eventuell irreversibel – verlorengehen, wie ich es im ersten Kapitel am Beispiel der oral-auralen Dimension eines Textes wie dem Orlando furioso versucht habe zu verdeutlichen.

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3 Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis

Im Hintergrund der Frage nach dem ‚klügeren‘ Text steht das Postulat einer spezifischen kognitiven Leistungsfähigkeit poetischer Texte, eines Potentials, das ihnen stets, wenn auch mit stark variierender Begründung, zugesprochen wurde. Während Sprache überhaupt Funktionen eines sekundären Erkenntnisorgans erfüllen soll, scheinen die spezifische Modalisierung poetischer oder fiktionaler Texte, ihre Sprachmittel, Komplikationen und exklusiven Lizenzen – nicht zuletzt die Lizenz, von erfundenen Dingen sprechen zu dürfen, ohne der Lüge geziehen zu werden oder im Interesse einer ‚höheren Wahrheit‘ lügen zu dürfen – in besonderem Maße geeignet zu sein, diskursive Leerstellen zu sondieren, die toten Winkel nichtfiktionaler Diskurse auszuleuchten, neue semantische Felder zu erschließen, Sinnverknüpfungen zu generieren und Denkmöglichkeiten zu erproben, die andernorts sanktioniert sind oder die innerhalb der Grenzen nicht-poetischer, theoretisch-argumentativer oder strikter Faktizität verpflichteter Diskurse nicht sagbar und vielleicht nicht einmal denkbar sind. Es geht, mit anderen Worten, um ein spezifisches Potential poetischer oder fiktionaler Texte, semantische Überschüsse, Subtexte und „collateral truths“ zu generieren,140 deren konkreten Gehalt der Autor nicht antizipiert haben mag, mit denen er aber durchaus, indem er seinen Diskurs mit den komplexen Mitteln der Dichtung orchestrierte, rechnen konnte. Es ist hier nicht der Ort, die textstrukturellen Korrelate dieses Potentials, das man sich primär als Funktion eines spezifischen dichterischen knowing how denken muss, in systematischer Weise zu beschreiben.141 Aus den Darlegungen und Analy140 Der Begriff „collateral truth“ findet sich, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, erstmals in The Garden of Cyrus (1658) von Sir Thomas Browne, einer hermetisch-esoterischen Untersuchung über das Verhältnis von art und nature; die Generierung ‚kollateraler Wahrheiten‘ oder Erkenntnisse wird dort für eine zwar nicht poetische, aber essayistisch-digressive Schreibweise in Anspruch genommen: „such discourses allow excursions and venially admit of collateral truths, though at some distance from their principals.“ (Sir Thomas Browne’s Works: Including His Life and Correspondance, London 1835, Bd. 3, S. 382). Ich verdanke die Kenntnis dieses Ausdrucks dem Vortrag von André Otto auf einer Tagung zum Essay in Wolfenbüttel im Oktober 2017. 141 Ich erlaube mir aber, an dieser Stelle auf eigene Arbeiten zur Gattung des Dialogs zu verweisen, in denen ich textstrukturelle Bedingungen semantischer Überschüsse und propositionaler ‚Offenheit‘ herausgearbeitet habe, die cum grano salis auch für andere fiktionale Genera gültig sein dürften (Häsner 2002 u. v. a. Häsner 2004). Der Dialog als Gattung des theoretischen Diskurses ist im hier diskutierten Zusammenhang sowohl unter systematischer wie auch unter historischer Perspektive von spezifischem Aufschlußwert. Als ‚hybride‘ Gattung operiert der Dialog an der Grenze zwischen fiktionalem und argumentativem Diskurs; während er gegenüber anderen Textformen des theoretischen oder argumentativen Diskurses die für fiktionale Gattungen typischen strukturellen Komplikationen aufweist (v. a. eine oder mehrere textinterne fiktive Kommunikationsebenen), erscheint er gegenüber poetischen Texten wie dem Orlando furioso als niederkomplex. Gerade deshalb eignet er sich als Paradigma einer Modellbildung, die unter systematischer Perspektive nach den Ermöglichungsbedingungen absichtsvoll ‚offener‘ Textbedeutungen und alternativer Referentialisierungsoptionen fragt. Von historischem Interesse ist der Dialog im vorliegenden Zusammenhang, weil er bekanntlich gerade zur Zeit Ariosts ein zentrales und epistemologisch signifikantes Genus des Theoriediskurses war. Ich nenne hier nur Castigliones Libro del Cortegiano, dessen Ambiguitäten und Diskrepanzen generierender und eine plurale Episteme abbildender Diskurs sich in den Grenzen der unterschiedlichen Gattungen durchaus mit dem des Furioso in Parallele stellen lässt. Analog zu dem,

3.3 Exkurs zur Diskrepanz zeitgenössischer und ‚moderner‘ Interpretationen

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sen der vorangegangenen wie auch der noch folgenden Kapitel dürfte aber ersichtlich werden, dass dieses Vermögen poetischer und fiktionaler Texte, einen surplus von Bedeutung hervorzubringen, nicht zuletzt von Ebenenbildungen, der Überlagerung von Ebenen der énonciation abhängt. ‚Ebenenenbildung‘ meint einmal die für fiktionale Texte spezifische Ausbildung einer oder mehrerer textinterner Kommunikationsebenen: im Falle narrativer Texte, der zwischen fiktivem Erzähler und fiktivem Leser sowie der zwischen den erzählten Figuren, wobei es im Falle intradiegetischer Binnenerzählungen oder Text-im-Text-Strukturen zur weiteren Ausdifferenzierung textinterner pragmatischer Niveaus kommen kann. Ebenenbildungen dieser Art, die in faktualen oder argumentativen Texten generell nicht vorgesehen sind,142 resultieren in einer prinzipiell irreduziblen Vielstimmigkeit des poetischen Textes und erlauben kohärenzstiftende Korrespondenz- und Spiegelungsrelationen zwischen den einzelnen Niveaus, am prägnantesten in Form der mise en abyme; nicht zuletzt ermöglichen sie, dass Grenzen zwischen unterschiedlichen Welten oder Weltzuständen sowie Text-Welt-Grenzen im Text selbst zur Darstellung gebracht und damit auch transgredierbar oder schleifbar werden können, besonders spektakulär und mit paradoxen Effekten in metaleptischen Relationierungen von Erzählerdiskurs und erzählter Welt und ihrer Aufhebung zeitlicher und kausaler Ordnungen. ‚Ebenenbildung‘ zielt aber auch auf die Überlagerung von Erzähltraditionen (etwa von antiken, mittelalterlichen und ‚cantarinesken‘ Erzählweisen und Erzählstoffen), unterschiedlichen Gattungen und Textsorten sowie der ihnen entsprechenden Stillagen, diktionalen und rhetorischen Registern, schließlich und nicht zuletzt von epistemisch hierarchisierten Diskursen – etwa, wie im Furioso, dem der Geschichtsschreibung und dem der epischen Fiktion. All dies führt zu Interferenzen und Transgressionen, die außerhalb der Dichtung und ihrer Fiktionen unzulässig wären und entsprechend sanktioniert sind und auch in normativen Poetiken als prowas ich hier bereits ausgeführt habe und in der Folge noch weiter ausführen werde, verfügen die Dialogautoren der Epoche offenkundig über ein präkonzeptuelles Wissen – ich würde auch hier von knowing how sprechen – um die Möglichkeiten einer ‚offenen‘ Argumentbildung im (fiktionalen) Modus des Dialogs, während die einschlägigen Dialogpoetiken, etwa die eines Carlo Sigonio (De dialogo, 1562), die gattungspoetisches knowing that normativ festschreiben, diese Möglichkeiten gerade einschränken und disziplinieren wollen. Auch Tasso, der selbst in seinen Dialogen eine komplexe und von den Möglichkeiten der Fiktionalisierung profitierende und ‚Kollateralerkenntnisse‘ generierende Argumentbildung verfolgt, ist in seiner Dialogpoetik (Dell’arte del dialogo, 1586) eher restriktiv, wenn auch nicht im selben Maße wie Sigonio (s. hierzu Häsner 2015). Lediglich Sperone Speroni scheint in seiner Apologia dei dialogi (1574) konzeptuelles Wissen um die evasive Dynamik einer Argumentbildung im Modus des Dialogs zu fixieren, wenn er diesbezüglich von einem gioco, einem Diskursspiel spricht (s. hierzu Hempfer 2004a). Noch rund 200 Jahre später wird David Hume (Dialogues Concerning Natural Religion, 1779), nachdem er den Dialog im Zeichen eines „order, brevity, and precision“ einfordernden Diskursideals zunächst verabschiedet hat, ihm gleichwohl ein Funktionsreservat vorbehalten, nämlich im fingierten Gespräch Problemkomplexe und Fragen zu erkunden, für die gültige und konsensfähige Antworten von vornherein nicht oder vorerst nicht zu erwarten sind (s. Häsner 2006, S. 148 f.). 142 Die signifikante Ausnahme ist hier natürlich der in der vorigen Fußnote genannte Dialog, der eben deshalb stets als problematisch empfunden und spätestens im 19. Jahrhundert aus dem Kanon ‚wissenschaftsfähiger‘ Gattungen verbannt wurde.

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3 Systemreferenzen, metapoetische Kommentare und narrative Praxis

blematisch behandelt werden können. Auch die Möglichkeiten der für poetische Texte spezifischen Kohärenzbildung basieren nicht zuletzt auf den verschiedenen, zuvor angedeuteten Formen der Ebenenbildung; als ein komplexes Beispiel verweise ich auf die Erzählweise des entrelacement und die für sie konstitutiven syntagmatischen und paradigmatischen Korrespondenzrelationen, von denen im folgenden Kapitel noch die Rede sein wird. Diese semantische Überschüsse begünstigenden Strukturelemente poetischer Texte, die ich hier nur andeuten kann, werden in Texttheorien des 16. Jahrhunderts, in denen der Rhetorik ebenso wenig wie in denen der Poetik, nicht thematisiert geschweige denn konzeptualisiert, und wenn, dann höchstens punktuell. Unter inspirationspoetischen Vorzeichen weiß man zwar um Bedeutungsüberschüsse poetischer Rede, jedoch nicht als Effekt spezifischer Struktureigenschaften dieser Rede, sondern einer exklusiven Gabe des Dichters, numinose Eingebungen zu empfangen und zu artikulieren – eine Gabe, die bei Ariost offenkundig ironisiert wird. Poetologisch behandelt wird allerdings die kognitive, admiratio oder meraviglia stiftende Funktion der rhetorischen Tropen, etwa bei Giovanni Pontano (Actius, 1499) oder, nunmehr im 17. Jahrhundert, im Kontext der barocken Literaturästhetik und systematischer als bei Pontano, bei Emanuele Tesauro (Il Cannocchiale aristotelico, 1654). Jedoch ist die jähe Erleuchtung, die in Folge einer gelungenen Metapher sich einstellen soll, keine Funktion der Fiktionalität, sondern des spezifischen Redeschmucks dichterischer oder oratorischer Rede, mithin der Diktion und also kein Spezifikum fiktionaler Texte. Eine systematische Unterscheidung pragmatischer Ebenen, von Autor-, Erzähler- und Figurenrede findet man in diesen theoretischen Kontexten ohnehin nicht. Die Interferenzen oder die Amalgamierung unterschiedlicher generischer Traditionen werden zwar thematisiert, aber dies zumeist unter restriktiven und normativen Vorzeichen, etwa im Kontext des Romanzo-Streits, wo die Hybridisierung epischer Schreibweisen in Ariosts Orlando furioso bei dessen Gegnern kritischen Verdikten verfällt. Während semantischen Mehrwert fördernde Strukturen und Elemente also nicht oder nur sehr punktuell Gegenstand eines programmatischen knowing that werden, gehören sie sehr wohl zum Repertoire des poetischen knowing how, das sich dieser Strukturelemente praktisch bedient, sie mehr oder weniger virtuos zur Anwendung bringt, ohne imstande sein zu müssen, sie bzw. ihre Funktion und ihre Effekte in angemessener Weise explizit zu machen. So gibt es auf produktionsästhetischer Seite seit dem höfischen Roman und vor allem seinen Prosaauflösungen offenkundig ein differenziertes Wissen um die Möglichkeiten, komplizierte polyzentrische histoire-Strukturen narrativ zu beherrschen,143 dem aber auch bei einem zweifellos hochreflexiven Dichter wie Ariost kein gleichermaßen konzises und artikulierbares explizites Wissen entspricht. Das heißt, semantischen Mehrwert generierende oder begünstigende Texteigenschaften sind einem dichtungspraktischen Wissen verfügbar, das epistemisch gewissermaßen unterdeterminiert ist oder jedenfalls nur durch epistemische Basispostulate ohne spezifischen Epochenindex – Raum, Zeit und Kausalität betreffend – determiniert ist und das 143 Ein Wissen, wohlgemerkt, das seinerseits fragil ist und zumindest partiell und temporär wieder verlorengehen kann, wie etwa die Trivialisierung des entrelacement in den cantari und möglicherweise auch die Geschichte mehrsträngigen Erzählens nach Ariost bezeugen.

3.3 Exkurs zur Diskrepanz zeitgenössischer und ‚moderner‘ Interpretationen

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weniger konzeptuellen Vorgaben folgt als vielmehr auf die Herausforderungen des ‚Materials‘ – im hier relevanten Fall: einer Vielzahl zu erzählender Geschichte(n) und ihrer Verknüpfung – reagiert und versucht, diesen Herausforderungen im Rückgriff auf tradierte Verfahren, diese erweiternd und an eigene Zwecke anpassend, gerecht zu werden. In der souveränen Beherrschung des einschlägigen knowing how erweist sich der Autor Ariost freilich als ebenso klug, wie es sein Text nur sein kann. Im folgenden Kapitel werde ich einen sich zunächst auf mikrostruktureller Ebene manifestierenden und zentralen Aspekt dieses narrativem knowing how herausarbeiten, der dieses deutlich über P1 – Ariosts ‚textilmetaphorischer‘ Explikation des eigenen Erzählens – hinausgehen bzw. davon abweichen lässt, indem er die mit dem entrelacement assoziierte Erzählweise, auf die P1 verweist, modifiziert und letztlich transformiert. Diese Modifikation oder Transformation resultiert vor allem aus der Amplifikation einzelner Elemente des entrelacement, die ihm von Beginn an inhärent sind, aber zunächst, etwa bei Chrétien oder im Lancelot-GralZyklus, nur diskret oder beiläufig in Erscheinung treten.

4 DIE ERZÄHLWEISE DES ENTRELACEMENT, IHRE ‚PERFORMATIVIERUNG‘ UND DIE ENTGRENZUNG VON ERZÄHLGEGENWART UND ERZÄHLTER VERGANGENHEIT 4.1 DAS ENTRELACEMENT – ASPEKTE SEINER DIVERSIFIKATION ZWISCHEN CHRÉTIEN UND ARIOST Ferdinand Lot, der den Begriff entrelacement in seiner Étude sur le Lancelot en prose eingeführt hat, erläutert das damit gemeinte Verfahren wie folgt: Aucune aventure ne forme un tout se suffisant à lui-même. D’une part des épisodes antérieurs, laissés provisoirement de côté, y prolongent des ramifications, d’autre part des épisodes subséquents, proches ou lointains, y sont amorcés. C’est un enchevêtrement systématique. De ce procédé de l’entrelacement les exemples se pressent sous la plume.144

Zwischen den einzelnen in dieser Weise verflochtenen oder ineinander geschachtelten Geschehenssequenzen oder ‚Episoden‘ ergeben sich Scharnier- oder Nahtstellen, die zumeist besetzt sind von formelhaften Wendungen nach dem Muster „Le conte cesse de parler d’un tel et parle maintenant de tel autre“.145 In Chrétiens Perceval, der gemeinhin als der Architext eines Erzählens im Modus des entrelacement gilt, liest sich dies folgendermaßen:

144 Lot 1954 (11918), S. 17. Das kompositorische Prinzip, auf das Lot hier abzielt, kann man im Prosa-Lancelot fiktionsimmanent bereits expliziert finden, wenn auch ohne die textile Metaphorik. Die Schreiber am arthurischen Hof, die damit beauftragt sind, die mündlichen Berichte der von ihren Aventiuren heimgekehrten Ritter schriftlich zu fixieren, tun dies nach den folgenden Richtlinien: „Si misent en escrit les aventures mon signour Gauvain tout avant, pour / ce que c’estoit li conmencemens de la queste; et puis lé Hector, pour ce que de cel conte estoit branche; et puis les aventures a tous les autres compaingnons. Et tout ce fu del conte Lanselot, et tout cil autre furent branches de cestui; et li contes Lanselos fu branche del Graal, si com il i fu ajoustés.“ (Zitate aus dem Lancelot-Gral-Zyklus hier und im Folgenden nach der von Daniel Poirion und Philippe Walter in der Bibliothèque de la Pléiade herausgegebenen dreibändigen Ausgabe: Le livre du Graal, Paris 2001–2009. Hier: ebd., Bd. 2 (Lancelot), S. 920 f.). Wie man sieht, soll zwischen den einzelnen Teilen oder Gliedern des Gesamtgefüges eine strikte Hierarchie bestehen. Es versteht sich, dass der von jenen Schreibern fiktionsimmanent produzierte Bericht nicht identisch sein kann mit dem aktualen Text des Lancelot-Gral-Zyklus, aber auch nicht mit dem conte als der fiktionsimmanent beständig beschworenen Quelle der Erzählung. S. hierzu auch unten, A. 185. 145 Frappier 1961, S. 348, Anm. 1. Ruberg spricht von „Schaltstellen beim Gleiswechsel“ (Ruberg 1965, S. 129), Kennedy von „formal switches“ (Kennedy 1986, S. 156–201), Chase von „transition formulas“ (Chase 1994), Merveldt von „gliedernde(n) Schaltformeln“ und „Scharniersätzen“ (Merveldt 2004), Pampaloni hinsichtlich des italienischen Romanzo von „indicatori di trapasso“ (Pampaloni 1971a, S. 134), Brand, weniger treffend, von „rotture“ (Brand 1977, S. 515).

4.1 Das entrelacement – Aspekte seiner Diversifikation zwischen Chrétien und Ariost

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De Perceval plus longuement Ne parole li contes ci, Einçois avroiz molt asez oï De mon seignor Gavain parler Que plus m’oiez de lui conter. (Perceval, vv. 6514–18)

Ähnliche Formeln finden sich aber bereits im zeitlich etwas früheren Érec et Énide – Or redevons d’Erec parler (Érec et Énide, v. 1242)

– und ebenso im Charroi de Nîmes, einer chanson de geste aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.146 Schließlich begegnet einem diese Formularik auch in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, etwa bei Villehardouin oder Ernoul.147 Während nun aber bei Chrétien und im höfischen Roman ebenso wie in den anderen erwähnten Gattungen die Mehrsträngigkeit überschaubar bleibt und die sie organisierenden Formeln dementsprechend auch nur vereinzelt vorkommen, sind sie im extrem polyphonen Lancelot-Gral-Zyklus mit seinen zahllosen parallel laufenden und ineinander geschachtelten Aventiuren allgegenwärtig.148 Zumeist folgen sie dem kaum variierten Schema Or dist li contes;149 ich nenne einige Beispiele: – Mais atant se taist li contes de lui et parole de Lancelot. (Le Livre du Graal 2003, Bd. 2 (Lancelot), S. 1308) – Or dist li contes que quant Galaad se fu partis de ses compaingnons […]. (Le Livre du Graal 2009, Bd. 3 (La Quête du saint Graal), S. 843) – Si laisse ore li contes a parler d’els et retorne a paller de Galaad. (Ebd. S. 881) – Mais atant se taist ore li contes de lui, et retourne a parler de Lanselot del Lac […]. (Ebd. S. 963).

Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, und sie finden sich in derselben oder ähnlicher Form auch in anderen und späteren Ausarbeitungen arthurischer Erzählstoffe; so sind sie etwa obligatorisch in Thomas Malorys Bearbeitung des ArtusLancelot-Stoffes – z. B.: Here leaveth the tale of Sir Lancelot, and speaketh of Sir Gawein (Le Morte Darthur, XV, 6; S. 350)

Bei Malory ist die Instanz des conte (oder eben des tale), die im Prosa-Lancelot als anonymes Subjekt der Erzählung erscheint („Or dist li contes“), allerdings zumeist

146 S. hierzu Roellenbleck 1979, S. 2. 147 S. Frappier 1961, S. 347 ff.; Köhler 1962, S. 222; Pauphilet 1968 (11921), S. 163; Baumgartner 1987, bes. S. 177 f. 148 Laut Ruberg können bis zu vierzehn parallele Handlungen gleichzeitig verfolgt werden (Ruberg 1965, S. 129). Zu einer detaillierten Bestandsaufnahme der Verhältnisse im Lancelot propre s. Chase 1986. 149 Zu den morphologischen und vor allem funktionalen Unterschieden, die es gleichwohl gibt, s. Kennedy 1994 und Chase 1994.

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4 Die Erzählweise des entrelacement

schon ersetzt durch ein die Erzählinstanz hervorhebendes bzw. die Kommunikationsgemeinschaft von Erzähler und Adressaten evozierendes „we“:150 Now leave we Sir Tristram de Lyonesse, and speak we of Sir Lancelot du Lake, and of Sir Galahad […]. (Ebd. XI, 1; S. 281)

– oder: Now turn we unto Queen Guenivere and to the fair Lady Elaine […]. (Ebd. XI, 9; S. 288)

Aber auch in den chansons de geste kann, wie bereits erwähnt, das Verfahren zum Einsatz kommen, etwa in dem auf das späte 13. Jahrhundert zu datierenden Aspremont: Lairai de Karl, si dirai d’Agolant (La chanson d’Aspremont, zit. n. Stierle 1980, S. 272, Anm. 22)

Das entrelacement bedeutet eine „Komplizierung der narrativen Struktur“.151 Als ein spezifisches Verfahren, zwischen separaten Handlungssequenzen mit partiell oder vollständig unterschiedlichem Personal hin und her zu wechseln, ist es eine Innovation der mittelalterlichen Epik, zumindest als eine die Makrostruktur ganzer Texte bestimmende Erzählweise. Selbstredend kennt bereits die antike Erzählliteratur Mehrsträngigkeit. So finden sich etwa auch in Ilias und Aeneis integrative Formeln der Art „Während x nach A ging, begab sich y nach B“, die der Notwendigkeit Rechnung tragen, dass gleichzeitiges Geschehen mit den Mitteln sprachlichen Erzählens nur sukzessive dargestellt werden kann. Allgegenwärtig sind derartige Formeln etwa im spätantiken Roman, und natürlich sind sie auch dem Mittelalter wohlbekannt; in der entrelacement-Literatur kommen sie neben den ‚eigentlichen‘ entrelacement-Formeln ebenfalls zum Einsatz.152 Während diese Synchronisierungsfor150 Zur Substitution des conte durch ein Erzähler-Ich (oder durch ein emphatisches ‚wir‘) s. u. S. 99 f. Im Prosa-Lancelot gibt es zwar auch ein Erzähler-Ich, das aber vorwiegend phatische Funktionen zu erfüllen scheint und die Kommunikationsgemeinschaft mit den Rezipienten beschwört bzw. aufrechterhält, nicht aber die Organisation der Erzählung zu verantworten hat, die durch den conte vorgegeben ist. Zur Komplikation dieser Verhältnisse namentlich in der Estoire del Saint Graal s. aber Chase 1994. 151 Ihring 1999, S. 57. 152 Zu expliziten Synchronisierungen und generell zur zeitlichen Relationierung unterschiedlicher Handlungssequenzen bei Chrétien sowie in den Chansons de geste und im antikisierenden Roman s. Kullmann 1999, S. 28 ff. Beispiele im Orlando furioso wären etwa VII, 33, 1–2 („Stava Ruggiero in tanta gioia e festa, / mentre Carlo in travaglio et Agramante“); XVIII, 146; XXVI, 88; XL, 30; XLI, 68. Diese zumeist durch Zeitadverbien (mentre; in questo tempo etc.) eingeleiteten Relationierungen parallel laufender Handlungsfolgen treten aber im Furioso nur vereinzelt auf und sind damit viel seltener als die omnipräsenten entrelacement-Formeln. In der weiterhin dem entrelacement verpflichteten Ritterliteratur nach Ariost findet man sie dagegen häufiger. S. hierzu Sacchi 2006, S. 251. Die expliziten und gleichfalls formelhaften Synchronisierungen zweier Handlungsfolgen werden gelegentlich dem Konzept des entrelacement subsumiert, so dass auch schon einem Homer dieses Verfahren zu attribuieren wäre, bei dem es etwa heißen kann: „Willig folgte der Bote dem edlen Herrn Agamemnon. / Iris brachte indessen der schimmernden Helena Botschaft“ (Ilias III, 120 f.). Karlheinz Stierle unterscheidet zwi-

4.1 Das entrelacement – Aspekte seiner Diversifikation zwischen Chrétien und Ariost

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meln aber Gleichzeitigkeit oder zeitliche Nähe zweier Geschehensfolgen explizit anzeigen, kann beim entrelacement die zeitliche Relation der parallelisierten Sequenzen prinzipiell unbestimmt bleiben.153 In der einschlägigen Forschungsliteratur hat man sich freilich vielfach darauf versteift, es ginge bei dieser Erzählweise vor allem um temporale Verhältnisse, um die Synchronisierung unterschiedlicher Geschehenssequenzen, und ihre Spezifik liege eben darin. Sehr präzise formuliert dies etwa Emmanuele Baumgartner: L’entrelacement consiste en effet à disposer le long d’un | même segment temporel (par exemple une quête d’un an … ou de dix) les aventures de plusieurs chevaliers. Aventures que le récit relate successivement, bien entendu, mais en les interrompant chacune à des moments cruciaux et ce jusqu’au point où les différentes aventures / les différents personnages convergent / se retrouvent dans un même espace. L’enjeu le plus évident de cette technique est donc de créer des effets de suspens dans le récit, mais aussi et surtout de proposer une vision synoptique et plurielle d’un espace-temps romanesque qui, théoriquement, ne connaît plus de limite.154

In der Tat können mit der Erzählweise des entrelacement komplexe zeitliche Schichtungen und Phasenverschiebungen zur Darstellung gebracht, allerdings auch, wie man im folgenden Kapitel (Kap. 5) noch sehen wird, gezielt opak gehalten werden. Dorothea Kullman hat indessen darauf hingewiesen, dass es in dem literaturgeschichtlichen Kontext, in dem das entrelacement gängig wird, bereits erprobte und dabei elegantere Verfahren gab, auch komplizierte zeitliche Relationen auf transparente Weise darzustellen, und dass mittelalterlichen Autoren diese Verfahren auch durchaus bekannt waren und zur Verfügung standen.155 Neben der expliziten und formelhaften Synchronisierung durch Zeitadverbien können etwa intradiegetische Erzählungen, indem sie ein auf der primären Erzählebene unberichtet gebliebenes Geschehen nachtragen, in dieser Funktion zum Einsatz kommen. Als Analepsen fungierende Binnenerzählungen sind für die Episodenverkettung im spätantiken Roman zentral, aber auch im antikisierenden und im arthurischen Roman sowie im Romanzo ein probates Mittel, um mehrsträngige zeitliche Abläufe narrativ zu organisieren.156 Wenngleich also das narrative ‚Management‘ komplexer zeitlicher Ordnungen durchaus zum Funktionsspektrum eines Erzählens

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schen einem „narrativen“ und einem „epischen“ entrelacement und sieht letzteres bereits in der Ilias verwirklicht, in der, so Stierle, „der Blick des Erzählers sich einmal der einen Partei, einmal der anderen zuwendet und so eine epische Totalität zur Darstellung bringt“ (Stierle 1980, S. 272). Meines Erachtens vermengt Stierle damit ohne Not ganz Unterschiedliches und verschenkt letztlich das analytische Potential des entrelacement-Konzepts und verfehlt seine epochale Spezifik. S. Kullmann 1999, S. 28, zu den Verhältnissen im Perceval: „Es geht offenkundig nicht um das genaue zeitliche Verhältnis zwischen den Handlungen Gauvains und denen Percevals, sondern einfach um die Existenz zweier Handlungsstränge (und ihren inhaltlichen Bezug aufeinander).“ S. auch ebd. S. 35. Baumgartner 1987, S. 177 f. S. auch Brand 1977, S. 514, der dem entrelacement ebenfalls die Funktion der Synchronisierung („mantenere sulla stessa scala cronologica“) verschiedener Handlungsstränge zuordnet, zugleich aber die varietà als „effetto principale“ der Erzählweise bestimmt. S. Kullmann 1999, S. 37 f. Zur Funktion von Binnenerzählungen in Boiardos Orlando innamorato und im Furioso s. Gomez-Montero 1996 sowie Izzo 2008 u. 2013.

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4 Die Erzählweise des entrelacement

im Modus des entrelacement gehören kann, liegt das Spezifische und Innovative dieser Erzählweise dennoch in etwas anderem, nämlich der ostentativen und rekurrenten Markierung des Erzählakts selbst, die bei anderen Verfahren mehrsträngigen Erzählens, etwa jenen expliziten Synchronisierungen, durchaus fehlt und auch entbehrlich ist.157 Beim entrelacement handelt es sich mithin um einen genuin autoreflexiven Modus der diskursiven Verwaltung von Erzählwelten, in denen mehrere, u. U. viele Handlungs- oder Geschehenssequenzen parallel laufen, um eventuell, aber keineswegs zwingend, zu konvergieren und auch wieder zu divergieren. Dorothea Kullmann fasst die Tendenz zu einer Fokussierung auf den Erzählakt selbst, die in Chrétiens Perceval vielleicht erstmals strukturbildend wird, folgendermaßen zusammen: Wir scheinen somit ungefähr um 1180 mit einem gestiegenen ‚erzähltechnischen Bewusstsein‘ rechnen zu müssen, das nicht gleichzusetzen ist mit bloßem Autorbewusstsein, wie es sich ja auch schon in frühen Prologen in Epos und Roman beobachten lässt. Es geht in den ‚Erzählereinschüben‘ nicht mehr nur um Ankündigung des Stoffes oder Abschluss der Erzählung, es geht auch nicht mehr nur um allgemeine Aussagen über das Zielpublikum oder über Sinn und Zweck der Dichtung, es geht um eine Verdeutlichung des Aufbaus der Dichtung, um die Veranschaulichung eines erzähltechnischen Verfahrens.158

In der einschlägigen Forschung interessiert man sich allerdings vorwiegend für die spezifische Architektur oder Textur der im Modus des entrelacement stehenden Erzählwelten, ihre modularen Einheiten, ihren inneren Aufbau und die sie zusammenhaltende bzw. sie expandierende Logik und nur selten und eher beiläufig für den autoreflexiven Modus der Konstituierung dieser Erzählwelten sowie die Funktion und den Status der Erzählinstanz, die bei dieser Erzählweise notwendig, wenn auch zunächst auf diskrete Weise, ins Spiel gebracht wird.159 Im Vordergrund steht die 157 Wenn intradiegetische Erzählungen den Erzählakt explizit thematisch werden lassen, handelt es sich um eine grundsätzlich andere Art der Metanarration, die nicht, wie im Falle des entrelacement, auf den aktualen Text (der überdies zumeist als schriftlicher ausgewiesen ist) gerichtet ist, sondern auf die fiktive mündliche Binnenerzählung. Auch Synchronisierungsformeln können eine autoreflexive Form annehmen, dies geht jedoch zumeist mit ihrer metaleptischen Transformation oder Paradoxalisierung einher nach dem Muster: ‚Während x nach A geht, haben wir Zeit das Geschehen in B genauer zu betrachten.‘ So etwa in folgendem Beispiel aus dem Mambriano, gleichsam der Kombination einer entrelacement- und einer Synchronisierungsformel: „E mentre che costui traversa il mare / Voglio a Rinaldo un poco ritornare.“ (Mambriano, II, 29, 7–8). Genette führt in seinem „Discour du récit“ eine analoge Wendung bei Balzac („Pendant que le vénérable ecclésiastique monte les rampes d’Angoulême, il n’est pas inutile d’expliquer le lacis d’intérêts dans lequel il allait mettre le pied.“) als Beispiel für eine ‚unschuldige‘ (was immer dies heißt) Metalepse an (s. Genette 1972, S. 244). Ich diskutiere diese hier nur angedeuteten Zusammenhänge näher in Häsner 2005, S. 112–117. 158 Kullmann 1999, S. 44. 159 Die Literatur zum entrelacement ist umfangreich. Was die mittelalterliche, insbesondere die altfranzösische Literatur angeht, stütze ich mich, neben den bereits zitierten ‚klassischen‘ Untersuchungen Lots, Frappiers und Pauphilets v. a. auf Vinaver 1971; Ryding 1971; Chase 1983, 1986 und 1994; Kennedy 1986 und 1994; Baumgartner 1987; Brandsma 1987; Kelly 1992 und 2003; Wild 1993; Wyss 1999; Wolfzettel (Hg.) 1999; Kullmann 1999; Waltenberger 1999; Merveldt 2004; Whitman 2006. Zum entrelacement in den italienischen cantari und im Romanzo: Delcorno Branca 1968 u. 1973; Pampaloni 1971; Brand

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Beobachtung, dass sich die structure entrelacée von anderen polyzentrischen Erzählstrukturen darin unterscheidet, dass ihr eine Dynamik infiniter Proliferation und fortgesetzter Ramifikation inhärent ist, die sich intratextuell sowohl in der exponentiellen Auffächerung des oder der zentralen plots einzelner Texte und intertextuell in einer höchst fruchtbaren Zyklizität der durch sie inaugurierten bzw. kontinuierten Tradition manifestiert und die Grenze zwischen Einzeltexten tendenziell zur Auflösung bringt: „a narrative world in progress“, wie Praloran das Unabgeschlossene und scheinbar Unabschließbare der mittelalterlichen und rinascimentalen Ritter-Literatur in ihrer Gesamtheit pointiert.160 Immerhin war die von der Erzählweise des entrelacement geprägte kavallereske Literatur, die sich nicht nur und nicht einmal primär aus den Stoffen des höfischen Romans und der Erzählungen um Artus und die Gralsritter speiste, sondern auch und vor allem aus denen der Karlsund Rolandsepik und beide Erzähltraditionen schon sehr früh in Kontakt und schließlich, namentlich in Italien, zur Fusion brachte,161 eine epochale bzw. Epochen überdauernde Erfolgsgeschichte. Europaweit zirkulierten Hunderte zumeist umfangreicher Vers- und Prosaerzählungen, in denen die in den jeweils früheren Texten nur marginalen Figuren oder Orte nach und nach ins Zentrum rücken konnten und zunächst nur virtuell gebliebene Handlungs- und Konfliktpotentiale aktualisiert und auserzählt wurden, dies sicher auch, worauf Praloran hinweist, in Folge einer fragmentarisierenden und selektiven Über-lieferung und Lektüre der oft umfangreichen und komplexen Hypotexte.162 Aber auch die chansons de geste selbst brachten vielfältige Ramifikationen hervor, noch bevor matière de France und matière de Bretagne spätestens in ihren franko-italienischen Filiationen und in den cantari zusammenflossen und sich wechselseitig bereicherten. Ich nenne hier nur die sogenannten Verschwörerepen um Renaud de Montauban, der es dann als Rinaldo di Montalbano in Italien zu besonderer Popularität brachte und in den Cantari wie auch im Romanzo, bei Boiardo und bei Ariost, und schließlich in Tassos Rinaldo und sogar in seiner Gerusalemme liberata eine eigene literarische Karriere durchlief. Die arthurische Tradition und die Gralsthematik konnten sich über den Untergang der arthurischen Welt hinaus fortsetzen, indem entweder die Vorgeschichte Artus’ und seiner Ritter ‚nachgetragen‘ oder die Geschichten ursprünglich marginaler oder völlig neu erfundener Figuren auserzählt und darüber die ohnehin schon komplexen genealogischen Reihen, die das Personal der arthurischen Welt 1977; Barlusconi 1977; Roellenbleck 1979; Stierle 1980; Hempfer 2002 (11982); Ceserani 1984; Penzenstadler 1987; Javitch 1988; Zatti 1990; Quint 1997; Praloran 1999 und 2009; Häsner 2005; Tomasi 2016. Weitere Titel nenne ich im jeweiligen konkreten Zusammenhang. 160 Praloran 2015, S. 174. S. auch Bruckner 2000, S. 14: „Any given romance appears simultaneously as a whole or a fragment with respect to that larger intertextual dialogue.“ Zum Zusammenhang von entrelacement, Digressivität und Zyklizität s. auch Kelly 2003. 161 Bereits Chrétien griff auf Elemente der chansons de geste zurück. S. hierzu Kullmann 1992. Zur konfliktuösen wie auch produktiven Interaktion von Chansons de geste und Roman (sowie anderer Gattungen) bereits im französischen 12. Jahrhundert s. Gaunt 2000. Einen Überblick über die Filiationsverhältnisse in Italien gibt Delcorno Branca 1974. 162 S. Praloran 1999, S. 4 f. S. auch, mit Bezug auf den Lancelot propre, Delcorno Branca 1992.

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untereinander in Beziehung setzen, weiter verlängert und diversifiziert wurden.163 Schon innerhalb des Lancelot-Gral-Zyklus wird beständig auf weitere Geschehnisse und Taten anderer Ritter verwiesen, die nicht erzählt werden, z. B.:164 Si trova mainte aventure qu’il mist a fin, dont li contes ne fait mie mencion pour ce que trop i eust a faire s’il volsist chascune raconter par soi. (Le Livre du Graal 2009, Bd. 3 (La Quête du saint Graal), S. 1074)

Auch im Furioso wird auf potentielle Geschichten verwiesen, die zwar erzählenswert wären, aber im aktualen Text nicht mehr oder noch nicht zu Ende erzählt werden; das berühmteste Beispiel ist die Figur der Angelica, die im 30. Gesang aus der Erzählung verabschiedet wird, jedoch mit der Aufforderung, ihre Geschichte möge von jemand anderem „con miglior plettro“ (O. F. XXX, 16, 8) weitererzählt werden – eine Aufforderung oder Anregung, der dann in der Tat zahlreiche italienische, spanische und französische Autoren nachkamen, prominente wie Aretino und Lope de Vega und weniger prominente wie Vincenzo Brusantino mit einer Angelica innamorata (1550).165 Der Orlando furioso selbst ist bekanntlich ‚nur‘ die Fortsetzung von Boiardos Orlando innamorato, der seinerseits sowohl des Autors Vertrautheit mit der arthurischen Tradition und deren Personal bezeugt wie auch Material und Erzählweisen der bereits vielfältig diversifizierten cantari-Dichtungen aufgreift, um sie durch eigene Erfindungen und andere literaturgeschichtliche Referenzen, vor allem der antiken Epik, zu bereichern und auf ein neues Niveau literarischer Komplexität zu heben.166 Aber auch die Übertragung in ganz unterschiedliche Funktionskontexte, politische und soziokulturelle Rahmenbedingungen und deren spezifische Produktions- und Rezeptionsweisen – die dynastisch-propagandistische Funktionalisierung der Ritterepik, die ich in Kapitel 6 eingehender behandeln werde, mag als ein Beispiel dienen – sowie die dadurch erforderte oder ermöglichte Integration neuer extraliterarischer Elemente trug zur anhaltenden Vitalität und fortwährenden Reaktualisierung dieser Erzähltradition bei.167 Das spezifische Proliferationpotential eines Erzählens im Modus des entrelacement, die Dynamik immer weiterer Verzweigungen seiner plots, profitiert entschei163 S. hierzu die entsprechenden Beiträge in Kibler (Hg.) 1994; Dover (Hg.) 2003 sowie Krueger 2000; Bruckner 2000; Praloran 1999 u. 2009a. 164 S. hierzu Kennedy 1994, S. 32 f. Zum ‚Aussparen‘ und ‚Vergessen‘ einzelner Handlungsfolgen im Prosa-Lancelot s. auch Merveldt 2004, S. 113–116. 165 S. hierzu die Anmerkung Bigis in Ariosto 1982 sowie Sacchi 2006. Auch andere Figuren Ariosts (der diese seinerseits zumeist von Boiardo übernommen hat) konnten zu Titelhelden oder -heldinnen späterer epischer Werke aufsteigen, so etwa Marfisa, die Schwester Ruggieros, in Danese Cataneos L’amor di Marfisa (1562). 166 S. Bruscagli 2003. Zu den ‚klassischen‘ Reminiszenzen Boiardos s. Zampese 1994. Zur „presenza dei romanzi arturiani“ im Orlando innamorato und im Orlando furioso siehe Praloran 2009 sowie Delcorno Branca 1973 (zu Ariost) und Bruscagli 2003 (zu Boiardo). Die Literatur zum Verhältnis Boiardo-Ariost ist umfangreich. Ich nenne hier nur Sangirardi 1993; Montagnani 2007; Matarrese 2007. 167 S. hierzu Krueger 2000, S. 4. Zu den gegenüber den italienischen Verhältnissen entgegengesetzten Entwicklungen vor allem in Spanien und England, die keine weitere Expansion und Diversifikation, sondern eine Reduktion der polyphonen Plot-Strukturen des arthurischen Romans mit sich brachten, siehe Praloran 2015.

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dend davon, dass die Initialisierung eines neuen Erzählstrangs nicht aus der Geschehensdynamik und Handlungslogik des bis dahin erzählten Geschehens resultieren und mit dieser abgeglichen werden muss, sondern dass sie ausschließlich aus dem Diskurs heraus motiviert sein kann. Die Parallelführung von Erzählsträngen durch explizite Synchronisierung – „Während x nach A ging, begab sich y nach B“ – muss einsichtig machen bzw. impliziert, dass ein handlungslogischer und temporaler Nexus zwischen den in Relation gesetzten Handlungssequenzen besteht. Die Erzählweise des entrelacement – „Ich erzähle [die Geschichte spricht] jetzt nicht mehr von x, sondern von y“ – ist dagegen prinzipiell von dieser Obligation befreit, insofern sie, eventuell autorisiert durch den Bezug auf eine textexterne Quelle (den conte oder die istoria), einfach eine andere Geschichte erzählt oder eine bereits früher begonnene Geschichte weitererzählt, die zwar mit der zuvor erzählten in einem unmittelbaren handlungslogischen Zusammenhang stehen kann und dies auch häufig tut, aber nicht zwingend stehen muss. Gerade die alsbald stereotyp gewordene, repetitiv eingesetzte und formelhafte autoreflexive Wendung, wenngleich sie in ihren frühen Formen und bevor Pulci, Boiardo, Cieco und Ariost daraus einen kunstvoll und mit ironischer Virtuosität eingesetzten Textbaustein machen, schwerfällig und umständlich wirken mag, begünstigt eine ‚Poetik der Digression‘, die prinzipiell unbegrenzte Anlagerung immer neuer Geschichten, Episoden und Subepisoden an den primären plot, ohne dem Kohärenz- und Plausibilitätsdruck anderer Weisen mehrsträngigen Erzählens zu unterliegen. Darin liegt zum einen die Möglichkeit oder das Versprechen einer Approximation an den ‚chaotischen‘ Phänomenreichtum der geschichtlichen Erfahrungswelt mit den Mitteln der Narration, zum anderen aber auch eine Gefahr des Scheiterns an der Fülle des Materials und zugleich die Versuchung einer Aleatorik unkontrollierter Diversifikation, die mit jener Horazischen Kohärenzmaxime konfligiert, die Ariost in den weiter oben zitierten Versen in Anspruch nimmt.168 Wenn Ariost, in ironischer Anspielung auf eine konstitutionelle Gefährdung des entrelacement, der typischerweise gerade viele cantari, deren Handlungsfolgen oft ins Leere laufen,169 erlegen sind, 168 Laut Ihring ist die Versuchung unkontrollierter Proliferation schon für den Lancelot-Gral-Zyklus zu konstatieren: „Die inhaltliche Struktur des Lancelot-Gral ist […] dadurch gekennzeichnet, dass sie kein Zentrum hat und eigentlich auch keine Richtung: Zwar ist aufgrund der Bindung an die Stofftradition als Ziel der Handlung die Erlösung der Gralshüter beziehungsweise der Untergang der arthurischen Welt vorgegeben. Aber insofern der Zyklus wie ein Bienenhaus gebaut ist, an das sich durch die entrelacement-Technik immer neue Erzählwaben anlagern, erweckt er den Eindruck, als solle das Ende des Artusrittertums so lange wie möglich hinausgezögert werden. Die paradigmatische Darstellungsweise der Proliferation zahlloser, parallelphasenverschobener Ritteraventiuren ist so dominant, dass die syntagmatische Ausrichtung des Ganzen auf den Tod des edlen König Artus eher in den Hintergrund tritt.“ (Ihring 1999, S. 57 f.) Andererseits wurde aber in der Forschung seit Lot 1954 (11918) und insbesondere seit Vinaver 1971 immer wieder auf der Homogenität des Zyklus bestanden bzw. darauf, dessen scheinbare Heterogenität oder bloße Konnektivität als planvolle Komplexität verstehbar machen zu können; so etwa Micha 1987 („un, de conception et de facture“, ebd. S. 16) und Kelly 2003, der dafürhält, dass gerade der Lancelot-Gral-Zyklus die kritischen Vorbehalte Horaz’ gegen zyklische Dichtungen und deren vermeintlich strukturlose Digressivität widerlege. Auch Chase 1986 betont die strukturelle Kohärenz des Lancelot. 169 S. hierzu Delcorno Branca 1968 und 1973; Cabani 1988.

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seinen Erzähler an einer Stelle behaupten lässt, die Übersicht über die Vielzahl von Erzählfäden verloren zu haben, bekräftigt er damit allerdings nur die tatsächliche souveräne Kontrolle über das von ihm geschaffene narrative Gewebe und lässt, da wir es mit einem schriftlichen Text zu tun haben, noch die angeblich versehentliche Aberration vom eingeschlagenen narrativen Pfad als Teil des dichterischen Plans sichtbar werden.170 Es ist letztlich diese handlungslogisch nicht zwingend gebotene Verknüpfung verschiedener Erzählstränge, die eine Spezifität der entrelacement-Literatur begünstigt, auf der in der Forschung weitaus mehr insistiert wurde als auf der strukturellen Autoreflexivität der Erzählweise. Während die syntagmatische Bindung zwischen einzelnen Episoden oder Erzählsträngen, gleichsam ihre linear-sequentielle Ordnung, schwach bleiben mag, kann sich zwischen ihnen eine diskontinuierliche und kompositive Ordnung ausbilden: paradigmatische Korrespondenzen, Symmetrien, Oppositionen, motivische oder thematische Isotopien oder sogar ein komplexes leitmotivisches Netz, das sich über den gesamten Text legt.171 Das Paradigma ist hier wiederum Chrétiens Perceval mit der Parallelführung zweier Handlungsfolgen (Perceval-Gauvain), die sich ineinander ‚spiegeln‘ und wechselseitig kommentieren. Im Orlando furioso sind die Canti 10 und 11, in denen Ruggiero und Orlando analogen Herausforderungen konfrontiert sind, um sehr gegensätzlich auf sie zu reagieren, gewissermaßen ein intertextuelles Echo der Konstellation im Perceval.172 Sowohl bei Chrétien wie bei Ariost geht es, grob gesagt, darum, ein ritterli170 S. O. F. XXXII, 1–2, wo sich der Erzähler dafür entschuldigt, eine Figur wegen der an ihn gestellten Ansprüche anderer Figuren für längere Zeit aus den Augen verloren zu haben. Nachdem er die umgehende Fortsetzung des ‚vergessenen‘ Erzählfadens angekündigt hat, erzählt er freilich zunächst doch wieder etwas anderes. Bei dem ‚vergessenen‘ Erzählfaden handelt es sich immerhin um den genealogischen Erzählstrang, der in diesem Fall der (fiktiven) estensischen Urahnin Bradamante folgt. Wie an der Stelle um den ertrinkenden Ruggiero wird auch hier die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Erzählsträngen und zugleich die arbiträre Verfügungsmacht des Erzählers über deren jeweilige Priorisierung ostentativ verdeutlicht. 171 Zur Unterscheidung von „thematischem“ und „syntaktischem“ entrelacement s. Chase 1983 und 1986. Zum entrelacement als ‚syntagmatischer‘ und ‚paradigmatischer‘ Kohärenzstruktur im arthurischen Roman und im Furioso s. auch Praloran 1999, S. 6. Ferner Weaver 2003 (11977), die zur Technik des entrelacement im Furioso feststellt, dass diese „creates various and suggestive connections through analogies among separated episodes and through the mere iuxtaposition of episodes that are superficially unlike but which in their immediate context take on new meanings. One could call these two types of relationships among episodes paradigmatic and syntagmatic.“ (ebd. S. 144) Delcorno Branca spricht von „rispondenze di struttura“ (Delcorno Branca 1973, S. 39). 172 Die Episode (O. F. XI, 33–80), in der Orlando Olimpia vor einem anthropophagen Meeresungeheuer, der „Orca maritima“, rettet, ist als Gegenstück zur Errettung Angelicas vor demselben Ungeheuer durch Ruggiero (O. F. X, 92–115; XI, 1–2) erst der letzten Fassung des Furioso hinzugefügt worden. Während Ruggiero die Orca durch Einsatz magischer Hilfsmittel außer Gefecht setzt und sich, nachdem er sie gerettet hat, selbst an der anscheinend wehrlosen Angelica sexuell vergreifen will (dabei allerdings auf komische Weise scheitert), besiegt Orlando die Bestie aus eigener Kraft und Klugheit, schlägt sie nicht nur vorübergehend in die Flucht, sondern schafft sie endgültig aus der Welt und verhält sich gegenüber der erretteten Dame im Übrigen ohne Fehl und Tadel. Javitch bestreitet für Ariost (auf den Perceval und überhaupt auf die Technik des entrelacement und deren implizite Poetik geht er nicht ein), dass die beiden direkt

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ches Tugendideal in unterschiedlichen Stadien seiner Vollendung bzw. der Abweichung von diesem Ideal vorzuführen. Während aber im Perceval diese Juxtaposition den gesamten – allerdings unvollendet gebliebenen – Text strukturiert, ist sie im Furioso auf zwei Gesänge komprimiert und ein bloßer Teilaspekt seiner Paradigmatik. Nicht zuletzt kommt hier zum Tragen, dass in Ariosts Epos weitaus mehr ‚Bälle im Spiel‘, sprich: ungleich mehr Figuren und Handlungen in Beziehung zu setzen und zu ‚balancieren‘ sind als bei Chrétien, damit aber potentiell auch mehr thematisches Material, Motive, Konfigurationen, ideologische Konflikte, semantische Oppositionen zu Verfügung stehen, die über die Relationierung unterschiedlicher Handlungen mit unterschiedlichen Protagonisten jeweils eine eigene Kohärenzebene konstituieren können. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies an der zentralen Thematik von Frauenlob und Frauentadel, die sich zwar in einigen Gesängen (O. F. XXVII–XXX) verdichtet, die aber den gesamten Text durchdringt und sowohl ein Tableau unterschiedlicher weiblicher Phänotypen hervorbringt und in parallel laufenden Erzählsträngen kontrastiert (z. B. Doralice-Isabella in den Canti 27 und 29 oder Angelica und Olimpia in den Canti 10 und 11), wie auch möglicher, dabei extrem divergierender ‚propositionaler‘ Haltungen zur querelle des femmes.173 Analoges gilt für die titelgebende Thematik der pazzia bzw. des furore als ihrer Steigerungsform, die immer wieder anderen Konfigurationen anvertraut sein kann und darüber in ihrer ganzen und widersprüchlichen phänomenalen Breite zur Anschauung gebracht wird.174 Korrespondenzen zwischen weit auseinanderliegenden Sequenzen und Episoden können sich aber auch über einzelne Requisiten wie Waffen und Rüstungen herstellen, indem diese, ihre Besitzer wechselnd, als bedeutungstragende und isotopiestiftende Elemente durch die einzelnen Gesänge zirkulieren.175 Auf mikrostruktureller Ebene können schließlich signifikante intratextuelle Verbalreminiszenzen und die Rekurrenz einzelner Syntagmen Isotopien stiften.176 Diese über längere Textstecken sich konstituierenden Verweis- und Kohärenzstrukturen erschließen sich zumeist nur lesender Rezeption und sind damit ein Aspekt struktureller Schriftlichkeit. Wenngleich die strukturgebende Autoreflexivität des Erzählakts – von seiner ausbaufähigen und immer differenzierter werdenden Semantisierung wird gleich noch die Rede sein – die entscheidende Innovation des entrelacement darstellt, unterscheidet sich die von ihm geprägte Literatur also auch hinsichtlich weiterer Merkmale von anderen Formen mehrsträngigen Erzählens in signifikanter Weise:

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aufeinanderfolgenden Episoden eine semantische Opposition konstituieren; es handele sich dabei ausschließlich um eine performance poetischer variatio, der ostentativen Zurschaustellung erzählerischer Virtuosität, die ein und dasselbe Narrativ ganz unterschiedlich zu orchestrieren imstande sei. S. Javitch 2005, bes. S. 9 ff. Diese mir schwer nachvollziehbare Position scheint einem Argumentationszwang zu folgen, der die varietas als das zentrale und strukturkonstitutive poetische Prinzip Ariosts nachweisen will. S. hierzu Durling 1965; Benson 1979; Hempfer 2002 (11982); Jordan 1999; Mac Carthy 2005. S. hierzu Weaver 2003 (11977). S. Delcorno Branca 1973. Ich werde dies später (Kap. 6) noch an einem konkreten Beispiel erläutern. Hierzu Cabani 1990 u. Rivoletti 2007.

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Zum einen durch eine spezifische Ramifikations- oder Verkettungsdynamik, die aus der Logik des Diskurses und nicht der histoire resultiert, zum anderen durch die Begünstigung komplexer paradigmatischer kohärenzbildender Strukturen oder Isotopien. Im entrelacement vereinigen sich damit zwei widerstreitende Tendenzen, eine proliferative, zentrifugale und eine zentralisierende, das Erzählsubjekt als ‚Gravitationszentrum‘ des Erzähluniversums in Stellung bringende. Dennoch ist die konstitutionelle Autoreflexivität des entrelacement seine eigentliche differentia specifica, denn die Fokussierung auf den Erzählakt selbst ist die strukturelle Voraussetzung jener anderen Merkmale, da sie die ausschweifende Digressivität, die für die entrelacement-Literatur insgesamt charakteristisch ist, überhaupt erst ermöglicht. Dieser Aspekt, die ubiquitäre Präsenz der Erzählinstanz, wird aber in einem großen Teil der Literatur zum entrelacement (vor allem in der italienischen Forschung) nur beiläufig behandelt oder findet gar keine Beachtung, jedenfalls nicht als narratologisch relevante Größe.177 Nicht zuletzt kommt damit aber das Entwicklungspotential der das Erzählsubjekt exponierenden Strangwechselformularik – auch über die Ritterepik und Ariost hinaus178 –, welches sich in signifikanten Modifikationen und Transformationen niederschlägt, nicht in den Blick. Tatsächlich lässt sich von einer Evolution der autoreflexiven Strangwechselformularik sprechen, von ihrer synchronen und diachronen Ausdifferenzierung, die den Erzählakt und sein Subjekt zunehmend in den Vordergrund rückt und dominant werden lässt – dominant sowohl hinsichtlich der schieren Frequenz von Interventionen des Erzählers wie auch seines Status und seiner Funktion, die ihn immer stärker als generatives Zentrum der Erzählung und schließlich der erzählten Welt selbst in Stellung bringt und damit auch deren structure entrelacée transformiert. 4.2 TYPEN VON ENTRELACEMENT-FORMELN Die zunehmende Häufigkeit der Strangwechsel erklärt sich schlüssig aus der Expansion und Ausdifferenzierung des verfügbaren Erzählmaterials, der Diversifikation der zentralen plots und der Vermehrung des zu konfigurierenden Personals. Ein Vergleich der Strangwechselfrequenz von Perceval und Orlando furioso, also zweier Texte, die entgegengesetzte Pole einer gut vierhundertjährigen Erzähltradition besetzen, mag dies verdeutlichen. Im Perceval gibt es drei ‚Kreuzungen‘ oder Schnittstellen zwischen dem Perceval und dem Gauvain geltenden Erzählstrang (vv. 4814 f.; vv. 6214 ff.; vv. 6514 ff.). Die eine dieser Stellen wurde bereits zitiert, die beiden anderen lauten:

177 In den älteren Aufsätzen Pampalonis, Brands und Delcorno Brancas zum entrelacement im Furioso sind die autoreflexive Erzählerfigur und ihre operative Funktion ebenso ein nahezu blinder Fleck wie in den neueren und insgesamt differenzierteren Arbeiten Pralorans. Auf Praloran komme ich diesbezüglich im folgenden Kapitel zurück. Zum autoreflexiven Erzähler im Furioso siehe dagegen Durling 1965 (der allerdings nicht auf das entrelacement eingeht); Hempfer 2002 (11982); Penzenstadler 1987; Häsner 2005. 178 S. hierzu Häsner 2005, S. 51–81.

4.2 Typen von entrelacement-Formeln

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Des aventures qu’il trova M’orres conter molt longuement (vv. 4814 f.)179

– und: De monseignor Gavain se taist Ichi li contes a estal, Si comenche de Percheval. (vv. 6214 ff.)

Im Orlando furioso findet man, bei ungleich höherem Figurenaufkommen und entsprechender Fragmentierung des plots in zahllose Nebenstränge, Episoden und Subepisoden, Dutzende solcher Verzweigungen, die zum weitaus größten Teil durch entrelacement-Formeln markiert und bewältigt werden.180 Dabei verteilt sich die Zahl parallel geführter Erzählstränge und damit die Häufigkeit von Strangwechseln ungleichmäßig über den Text; sie steigert sich sukzessive und erreicht ihren Höhepunkt in den Canti XIX–XXIX.181 Danach kommt es wieder zu einer schrittweisen Entflechtung der Textur, indem einzelne Handlungssequenzen zu Ende geführt werden (etwa mit dem Tod einer Figur) oder konvergieren; erst in den letzten drei Gesängen schreitet die Erzählung rein linear voran und berichtet ausschließlich noch von Ruggiero und Bradamante und den letzten Herausforderungen, die sich ihrer Hochzeit und damit der Begründung der Este-Dynastie entgegenstellen. Die höhere Frequenz der durch explizite Interventionen des Erzählers initiierten Strangwechsel lässt offensichtlich ein Bedürfnis entstehen bzw. eröffnet Möglichkeiten, die originäre und längst stereotyp gewordene Strangwechselformularik zu modulieren, zu variieren und zu resemantisieren.182 Es eröffnet sich damit ein Spielraum für eine zunehmend individualisierte Ausgestaltung und Motivierung des Strangwechsels, die letztlich in einer Ermächtigung des Erzählsubjekts resultiert, über die erzählte Geschichte und ihr Arrangement im Textraum frei zu disponieren. Vor dem Hintergrund der gerade in groben Zügen skizzierten Entwicklung lassen sich drei grundlegende Typen von entrelacement-Formeln unterscheiden, und zwar nach Maßgabe der Positionierung der Autorisierungsinstanz, d. h. der den Strangwechsel motivierenden, legitimierenden oder autorisierenden Instanz, ent179 An dieser Stelle kreuzen sich die Wege der beiden Protagonisten Perceval und Gauvain; nachdem die Erzählung zuvor von Perceval berichtet hat, verfolgt sie jetzt, bis zum nächsten Strangwechsel (das anschließende Zitat), die Geschicke Gauvains. Hier ist der Strangwechsel also aus dem Geschehen selbst heraus motiviert. 180 S. Pampaloni 1971; Brand 1977. 181 S. hierzu Brand 1977, bes. S. 524 f. 182 S. dazu auch Penzenstadler 1987, S. 161. Damit soll kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen der quantitativen Diffusion und Expansion der Materie, der Diversifikation der zentralen plots und der Ausdifferenzierung der entrelacement-Formularik behauptet werden. Gerade im Prosa-Artusroman kontrastieren eine bis dahin unerreichte Komplexität und Polyzentrik des Erzählstoffs der weitgehend stereotypen Strangwechselformularik, wie überhaupt die narrative Stimme gegenüber dem Chrétienschen Versroman zurückgenommen erscheint. S. dazu Wild 1993, S. 251 ff. u. S. 281 sowie Bruckner 2000, S. 18. Die Verhältnisse sind allerdings in den einzelnen Teilen des Zyklus nicht einheitlich. S. hierzu Chase 1994.

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weder ‚außerhalb‘ des aktualen Textes, auf discours-Ebene oder, in paradoxaler oder metaleptischer Konfiguration, auf der Ebene der histoire selbst.183 Es sei betont, dass es Übergangsformen gibt, dass die in der Folge aufgeführten Typen untereinander kombinierbar sind und dass gerade bei Pulci, Boiardo, Cieco und Ariost als den Endpunkten einer literarischen Reihe und ihren erzähltechnisch avanziertesten Exemplaren prinzipiell alle Möglichkeiten zu finden sind: 1) In den entrelacement-Formeln dieses Typs soll für den Wechsel des Erzählstrangs eine textexterne Instanz verantwortlich sein, die Glaubwürdigkeit oder Wahrhaftigkeit der Erzählung garantiert. Im mittelalterlichen Prosaroman und im höfischen Roman ist dies die nicht näher spezifizierte und gerade deshalb sakrosante testimoniale Autorität des conte, auf die sich der zumeist anonym und eigenschaftslos bleibende Erzähler beruft und hinter der er, ohne eigene auktoriale Zuständigkeiten zu beanspruchen, mehr oder weniger verschwindet.184 Diese Versionen einer entrelacement-Formel folgen regelhaft dem Muster ‚Die Geschichte spricht nicht mehr von x‘: „Or dist li contes“; „Torna la storia“ o. ä. Auch in diesen Formeln werden also der Akt des Erzählens und sein Subjekt explizit benannt; freilich erscheint der Erzähler als bloße textinterne Agentur der Tradierung einer bereits erzählten, beglaubigten und hinsichtlich ihrer internen Ordnung kodifizierten Geschichte.185 Bis in die cantari-Tradition findet man diese unspezifische Testimo183 Eine integrale Geschichte des entrelacement zwischen Perceval und Orlando furioso oder auch darüber hinaus existiert bislang nicht. Einen größeren Bogen zwischen den verschiedenen Stationen der Geschichte dieser Erzählweise schlagen, aus der Perspektive des italienischen Romanzo, am ehesten Daniela Delcorno Branca und Marco Praloran in ihren in A. 159 näher benannten und in weiteren Studien. Einen prägnanten und erhellenden Überblick gibt Georg Roellenbleck in einem allerdings nie zum Druck gegebenen Vortrag auf dem Romanistentag 1979, dessen Manuskript mir vorliegt (Roellenbleck 1979). Die in der Folge skizzierte Typologie von entrelacement-Formeln beansprucht natürlich in keiner Weise, eine solche Geschichte zu sein oder sie zu ersetzen; sie schlägt lediglich einige Parameter vor, an denen eine solche Geschichte sich ausrichten könnte. 184 Brandsma spricht von einem „hidden impersonal narrator“ (Brandsma 1987, S. 271). Zu den komplexen und auch verwirrenden Verhältnissen in der Estoire del Saint Graal, dem ersten (wenn auch später entstandenen) Teil des Lancelot-Gral-Zyklus, in dessen Vorrede ein Eremit sich als Transskribent eines von Jesus Christus persönlich verfassten Buches über den Heiligen Gral präsentiert, s. Chase 1994. 185 Ruberg 1965, S. 134, im Hinblick auf den Prosa-Lancelot: Der Erzähler wolle den Eindruck vermeiden „durch die ständige Schachtelungsinterruption eigenmächtig die Einheit der Geschehensabläufe zu zerstückeln. Er gibt zu verstehen, dass die Führung und erzählerische Zuordnung des Geschehens nicht in seiner Hand liegt, sondern in der ‚historia‘ vorgegeben ist.“ Er berufe sich „auf eine dem wahren Verlauf objektiv nachgeschriebene Quelle. […] Artus selbst habe seine Schreiber beauftragt, die Berichte, die die Ritter von der Tafelrunde erstatten, schriftlich niederzulegen. Der Erzähler versäumt nicht, solche Szenen der protokollarischen Fixierung in die Wiedergabe des Gesamtgeschehens aufzunehmen.“ Die ‚Protokollanten‘ werden namentlich genannt (s. Le Livre du Graal 2003, Bd. 2 (Lancelot), S. 920). Der conte, auf den der Erzähler sich beruft, kann allerdings nicht mit dem von jenen Schreibern fixierten Bericht identisch sein, was sich schon daraus ergibt, dass die berichtenden Ritter bestimmte Ereignisse, die ihnen widerfahren sind, ausdrücklich nicht erzählen: „Et li rois le conjure sor son sairement qu’il li die, voiant la compaingnie, les aventures qui avenues li estoient, puis qu’il estoit partis de laiens. Il en reconnut grant partie et grant partie lor en cela; si les oi moult vo-

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nialtopik, etwa wenn es heißt: „Ben dice el libro e l’autore mi conta“ oder auch „Dice l’autore e ’libro mi dimostra“.186 Der dem Erzähler oder der Erzählstimme zugemessene Dispositionsspielraum tendiert in diesen Fällen gegen Null; er erweitert sich indessen, wenn der Erzähler auf mehrere, eventuell konkurrierende oder sich widersprechende Quellen rekurriert, deren Validität er zu taxieren hat, um sie eventuell gegeneinander auszuspielen oder zu verwerfen. Bei Boiardo und Ariost ist die unspezifizierte Autorisierungsinstanz des conte zumeist durch eine individuelle Quelle ersetzt, nämlich die dem Erzbischof Turpin als einem Kombattanten Karls des Großen zugeschriebene Chronik. Diese sogenannte Pseudo-Turpinsche Chronik (Historia Karoli Magni et Rotholandi) firmiert auch schon in den cantari als „auctoritas per eccellenza“, wenn eine solche auctoritas überhaupt namhaft gemacht wird;187 sie hat als testimoniale schriftliche Quelle vielfältige Funktionen, darunter auch die, einen Wechsel des Erzählstrangs zu begründen, z. B. in der folgenden Passage aus dem Orlando innamorato: Ma parlar più di ciò lassa Turpino, E torna a dir de Astolfo paladino. (O. I. I, IX, 36, 7–8)

– oder auch: Or Turpin lascia questa diceria, E torna a racontar l’alta novella De il re Agricane […]. (O. I. I, XIV, 10, 5–7)188

Ähnlich heißt es im Orlando furioso: Turpin, che tutta questa istoria dice, fa qui digresso, e torna in quel paese dove fu dianzi morto il Maganzese. (O. F. XXIII, 38, 5–8)

Während in den mittelalterlichen Texten der Bezug auf eine schriftliche Quelle, selbst wenn diese fiktiv ist, die Wahrheit der Erzählung beglaubigen soll,189 ist der Bezug auf Turpin oder auch auf andere, nicht näher spezifizierte Quellen bei Boiardo und Ariost stets ironisch.190 So weigert sich in O. F. XXIX, 6–7 der Erzähler den Fortgang eines Geschehens wegen der sich widersprechenden Quellen weiter

186 187 188 189 190

lentiers li rois et la roine, si les fist li rois metre en escrit pour ce que aprés lor mort fuissent ramenteues.“ (Ebd., S. 1437) Der Erzähler oder der conte, auf den er sich beruft, wissen also mehr als jene ‚Protokolle‘. S. hierzu auch Kennedy 1994, S. 32 u. S. 47 f. La Spagna, IV, 38 und XIII, 8. Zahlreiche Beispiele aus anderen cantari in Cabani 1988, S. 134 f. Cabani 1988, S. 136. S. auch Orlando Innamorato II, 20, 41 u. ö. S. Ernst 1997, S. 259: „Skripturalität gilt im Mittelalter weithin als Garant der veritas“. Die ironische Referenz auf Turpin ist freilich keine Erfindung Boiardos oder Ariosts, sondern gehört selbst bereits zum topischen Bestand der Ritterepik. Grundsätzlich fiktionsironisch ist diese Referenz spätestens seit Luigi Pulcis Morgante. S. hierzu Zatti 1990, S. 173–212; Hempfer 1995, S. 58 ff.

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zu verfolgen, solchermaßen ‚epistemische‘ Skrupel geltend machend, die ihm an anderen Stellen vollkommen fremd sind. In O. F. XI, 80–82 geht das einen Strangwechsel anzeigende „ritorniamo“ dem ‚Eingeständnis‘ des Erzählers voraus, tatsächlich gar nichts Neues über Orlando (um den es hier geht) berichten zu können, weil der einsilbige Paladin es vorgezogen habe, Taten zu vollbringen statt – anders als die stets redseligen arthurischen Ritter – von diesen zu erzählen, und auch keine Zeugen zugegen waren, die für den anstehenden ‚Berichtszeitraum‘ von seinen „opre virtuose“ hätten Zeugnis ablegen können: Credo che ’l resto di quel verno cose facesse degne di tenerne conto; ma fur sin a quel tempo si nascose, che non è colpa mia s’or non le conto; perché Orlando a far l’opre virtuose, più che a narrarle poi, sempre era pronto: né mai fu alcun de li suoi fatti espresso, se non quando ebbe i testimonii appresso. (O. F. XI, 81)

Die Komik dieses vorgeblichen Chronistenskrupels resultiert hier und an anderen Stellen aus dem Kontrast zur zumeist vorausgesetzten Allwissenheit des Erzählers, der mitunter sogar Augenzeugenschaft für seinen Bericht beansprucht und der generell auf keinerlei Zeugnisse angewiesen ist und detaillierte Auskünfte zu geben weiß über Geschehnisse und Zustände – z. B. Gedanken und Gefühle seiner Protagonisten –, die schlechterdings keine Zeugen haben konnten. Die ironische Applikation des Verfahrens testimonialer Beglaubigung des Erzählten führt aber tendenziell zur Preisgabe dieses Verfahrens; in systematischer (nicht unbedingt auch in chronologischer) Hinsicht bezeichnet diese Variante damit einen Übergang zu dem folgenden Typus der Strangwechselformularik. 2) In diesen Fällen fehlt jegliche testimoniale Autorisierung oder Quellenfiktion; der explizite Rekurs auf eine mehr oder weniger autoritative textexterne Instanz unterbleibt und der Erzähler selbst erscheint als auktoriales Subjekt der histoire, als Urheber der Erzählung und verantwortlich für den Strangwechsel: Ma lasciam qui il parlar di tal sembiante E conteremo di quell’Amostante. (La Spagna XVI, 19)

Oder: Lassamo hormai di parlar di costei, che logo e tempo n’andarò parlando di una sua figlia […]. (Innamoramento di Carlo Magno, XIII, 13; zit. n. Delcorno Branca 1973, S. 33)

Oder: Ma al presente io lasso qui la cossa Per tornare a Renaldo […] (O. I., I, XVI, 60, 5–6)

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Im Orlando furioso ist dieser Typus in zahlreichen Varianten vertreten, etwa durch die bereits zitierten Verse – lascio Rinaldo e l’agitata prua, e torno a dir di Bradamante sua. (O. F. II, 30, 7–8)

– oder auch durch das folgende Beispiel, in dem das obligatorische lasciare durch diferire ersetzt ist: ma diferisco a ricontar chi fosse: e torno all’altra […]. (O. F. XIII, 42, 8–43, 1)

Zuweilen kann auf lasciare/tornare oder entsprechende Verben, die Abbruch bzw. (Wieder-) Aufnahme eines Erzählfadens benennen, völlig verzichtet werden, z. B. hier – Ma non dirò d’Angelica or più inante; che molte cose ho da narrarvi prima: […] (O. F. XII, 66, 1–2)

– oder in den folgenden Versen, in denen auch bereits die spätere Fortführung des vorübergehend aufgegebenen Erzählfadens angekündigt wird: Bisogna, prima ch’io vi narri il caso, ch’un poco dal sentier dritto mi torca (O. F. VIII, 51, 1–2)

Dabei kann die Motivation für das jeweilige diskursive Arrangement des erzählten Geschehens unbestimmt bleiben oder mit erzählökonomischen beziehungsweise poetologischen Erfordernissen begründet werden wie in jener im vorigen Kapitel ausführlich besprochenen Stelle aus dem Furioso (O. F. II, 30) mit ihrer ‚textilen‘ Erzählmetaphorik. Schließlich kann der Strangwechsel ‚dezisionistisch‘ vollzogen und von einem bloßen ‚Wollen‘ oder ‚Nicht-Wollen‘ des Erzählers abhängig sein, das auf keinerlei Begründung oder Rechtfertigung mehr angewiesen ist,191 z. B: Non però di costei voglio dir tanto, ch’io non ritorni a quei duo cavallieri […] (O. F. XXXIII, 78, 1–2)

– oder: Ma voglio a un altra volta differire a ricontar ciò che di questo avenne. (O. F. XVIII, 8, 1–2)

191 S. Hempfer 2002 (11982), S. 94 f.

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– oder, besonders resolut: Ma voglio questo canto abbia qui fine, e di quel che voglio io, siate contenti […] (O. F. XXXVI, 84, 5–6)192

Zu diesem Formeltyp gehört schließlich auch ein vorgebliches „affektisches Einwirken des Erzählten auf den Erzähler“193 als Anlass oder ‚Auslöser‘ eines Strangwechsels. So kann im Furioso die erzählerische Vergegenwärtigung der angst- und qualvollen Lage einer Figur mit folgender Begründung zugunsten eines weniger ‚düsteren‘ Geschehens verweigert oder aufgeschoben werden: Io nol dirò; che sì il dolor mi muove, che mi sforza voltar le rime altrove, e trovar versi non tanto lugubri, fin che ’l mio spirito stanco si riabbia; (O. F. VIII, 66, 7–67, 2)

Eine solche Strangwechselmotivierung bezeugt natürlich weniger die Empathie des Erzählers für seine Figuren als vielmehr seine fiktionsironisch ausgespielte Verfügungsmacht über das Erzählen ihrer Geschichte. Das von ihm behauptete überwältigende Mitgefühl für sein Personal ist nicht zuletzt deshalb unglaubwürdig, weil damit die Spontaneität mündlicher Rede für eine Erzählung in Anspruch genommen wird, von der mehrfach bekräftigt wird, sie sei eine schriftliche. Hier, wie in den anderen diesem Typus zugehörigen Strangwechselformeln, geht es offenkundig darum, den Erzähler selbst als ‚Quelle‘ oder Urheber der Geschichte und als einzigen, wenn auch u. U. unzuverlässigen und seinen Affekten ausgesetzten Garanten ihrer Kohärenz in Szene zu setzen. Die avanciertesten Durchführungen dieses Formeltyps lassen, insbesondere wenn sie zu rekurrentem Einsatz kommen, das entrelacement als Expositions- und Organisationsmodus einer heteromorphen und polyzentrischen Ereignisvielfalt erscheinen, die als fiktionale Repräsentation kontingenter Regellosigkeit und Unvorhersehbarkeit gelten kann und die sich erst im Focus der durch die Erzählinstanz geleisteten perspektivischen Zusammenschau zu integraler und sinnhafter Totalität fügt. In seiner Radikalisierung, die das entrelacement vor allem im italienischen 192 Besonders ostentativ artikuliert sich die Aleatorik des Strangwechsels in folgender Passage aus dem Orlando innamorato, in der sich der Erzähler vorgeblich nicht scheut, Lesererwartungen zu enttäuschen: Il re, turbato, incomenciò gran pianto, Stimando che sia morto Rodamonte; Ma i’ vuò piangendo abandonar alquanto, Per tornar a quei doi che a fronte a fronte D’ardir e di forteza se dan vanto: Forsi stimati ch’io parli del conte, Qual con Ranaldo a guera era venuto? Ma io dico Rodamonte e Ferraguto. (O. I. II, XXII, 35) 193 Penzenstadler 1987, S. 93.

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Romanzo und namentlich bei Ariost erfährt, wird das Prozedere der Verflechtung oder Komposition der einzelnen histoire-Stränge zu einem fugierten Handlungsund Ereignisgefüge selbst zum übergeordneten metanarrativen Sujet, dem die Geschehensabläufe der einzelnen Erzählstränge subordiniert sind, und zwar auch dann, wenn für sie historische Faktizität und sogar von der göttlichen Providenz garantierte Finalität beansprucht wird. Die konsequente Ausrichtung des erzählten Geschehens auf die Perspektive und die dispositionellen Entscheidungen des Erzählers lässt in der Tat jegliche präsupponierte Faktizität oder intersubjektive, durch die Überlieferungsautorität verbürgte Gültigkeit der Geschichte fragwürdig werden und resultiert gleichsam in ihrer De-Objektivierung: Die histoire als Gefüge einzelner Handlungs- und Geschehensstränge wird kenntlich als bloßes Konstrukt ihrer narratorialen Exposition und Verknüpfung. Das Subjekt dieser diskursiven Operationen, also der Erzähler, tritt nicht mehr als subalterne, der inneren Logik des Geschehens verpflichtete und ihr assistierende Vermittlungsinstanz auf, sondern als Schöpfer dieses Geschehens.194 3) Von den beiden zuvor beschriebenen Typen entrelacement-spezifischer Strangwechselformularik hebt sich ein dritter Typus dadurch ab, dass in ihm – mit einschneidenden Konsequenzen, wie man sehen wird – die verba dicendi oder narrandi fehlen. Statt des Paradigmas (in seiner jetzt vorrangig interessierenden italienischen Fassung): α) lascio a dire di x, torno a dire di y – gilt jetzt: β) lascio x, torno a y. Auch hier zunächst ein Beispiel aus der Spagna – Lasciamo Ferraù e ritorniamo al forte Orlando di vittoria bramo. (La Spagna, V, 4)

– sowie eines aus dem Orlando innamorato: Ma al presente io lasso qui la cossa Per tornare a Renaldo […]. (O. I. I, XVI, 60, 5–6)195

Grundsätzlich könnte man die Einsparung der verba dicendi schon aus Gründen sprachlicher Ökonomie für eine naheliegende, sich geradezu aufdrängende Option 194 Roellenbleck 1979, S. 7: „(…) das Mittel des Entrelacement wird mit überlegenem Kunstverstand eingesetzt, als eine ‚Meta-Technik‘ (es war in seinem eigentlichen Gebrauch längst traditionell geworden, und keineswegs mehr originell), um eine ganz andere Dimension des Erzählens als die realistische Vollständigkeit und Gleichzeitigkeit von Handlungen zu realisieren: den Erzähler in seiner Machtvollkommenheit als freier Schöpfer und Beherrscher seines Werks“. S. auch Praloran 2009, S. 156: „La tecnica narrativa trascendentale ariostesca è il correlato formale di questo mondo-caos, dominato e compreso solo dal narratore: l’artifex.“ Zu Praloran s. aber die kritischen Einwände weiter unten, Kap. 5. 195 Auch die oben zitierte Formel aus Malorys Morte Darthur („Now we turn unto Queen Guenivere and to the fair Lady Elaine“) entspricht diesem Typus.

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halten. Im Lancelot-Gral-Zyklus wüsste ich dafür aber keine Beispiele zu nennen; vielleicht steht die dezidierte Skriptoralität des arthurischen Romans einer solchen ‚Nachlässigkeit‘ entgegen,196 und auch der Umstand, dass für seine charakteristischen Strangwechsel kein personales Erzähler-Ich verantwortlich ist, sondern die abstrakte und anonyme Instanz des conte, dürfte der Semantik einer ‚szenischen‘ Relationierung von erzählter und erzählender Welt, wie sie mit der reduzierten Formularik einhergeht, nicht förderlich sein. Aber wie dem auch sei: Der literaturhistorische Ort, an dem diese Reduktionsformen der entrelacement-Formularik zuerst regelmäßig auftreten und beinahe obligatorisch werden, ist nicht der strukturell schriftliche mittelalterliche Roman, sondern das auf mündliche Erzähl-performances ausgerichtete Genus der cantari. Man darf annehmen, dass es sich zunächst um eine der oralen Vortragsroutine geschuldete Verschleifung handelt, die eine zumal bei hochfrequentem Einsatz offenbar werdende Umständlichkeit und Monotonie der tradierten Strangwechselformeln durch ihre lakonische Reduktion zu vermeiden trachtet. Ebenso in Betracht zu ziehen ist aber auch der phatische Ehrgeiz eines oralen, von Zeigegesten unterstützten, eventuell musikalisch begleiteten Erzählens, das sich anschickt, eine quasi-theatrale Kommunikationssituation zu beschwören, in der für Sprecher, Zuhörer bzw. Zuschauer und Figuren der erzählten Welt eine, wenn auch illusorische, gemeinsame Deixis gültig sein soll. Dennoch wird in Fällen wie dem Zitat aus der Spagna und ähnlicher entrelacement-Formeln der Hörer und erst recht der Leser die eingesparten verba dicendi wohl stillschweigend restituieren, ohne die brisanten Implikationen der Reduktionsform zu aktualisieren. Wenn man indessen Formeln wie diese ‚beim Wort nimmt‘ – und eben ein solches literales Verständnis liegt ihren sogleich näher zu betrachtenden Amplifikationen zugrunde –, hat man es mit veritablen, wenn auch lapidaren Metalepsen zu tun, die das Verhältnis von discours und histoire radikal redefinieren, indem sie es verräumlichen. Die chronologische Relation von Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit wird durch eine simultane topologische Relation ersetzt; an die Stelle einer absoluten und irreversiblen zeitlichen Abfolge – Anteriorität des zu erzählenden Geschehens, Posteriorität des Erzählvorgangs – tritt relative räumliche Distanz: Das erzählte Geschehen und sein Personal sollen sich mehr oder weniger weit vom Erzähler (und implizit auch vom Hörer/Leser) entfernt befinden. Mit der Streichung des verbum dicendi geht die Suggestion oder Evokation eines homogenen Raum-Zeit-Kontinuums einher, in dem die simultane Kommunikation und Interaktion zwischen Erzähler und Figur und – zumindest potentiell – auch zwischen diesen beiden und dem Leser bzw. Hörer möglich sein sollen. Homogen ist dieses Kontinuum insofern, als in ihm, ganz wie in einer teichoskopischen Berichtssituation, für den Erzähler oder Berichterstatter, die erzählte Welt und deren Figuren sowie für den Adressaten der Erzählung oder des Berichts dieselbe Deixis, dasselbe raum-zeitliche Koordinatensystem gültig sein sollen. Der Erzähler positioniert sich also als ein Teil der erzählten Welt, und zwar nicht in einem früheren Seinszustand, als erlebendes Ich – was logisch unproblematisch wäre –, sondern in seiner narratorialen Funktion: Das Erzählen erscheint parado196 S. hierzu Ernst 1997.

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xerweise nicht mehr als reines Sprech-Handeln, sondern zugleich als ein Agieren im Raum der erzählten Welt; ihm werden damit die Eigenschaften und das Wirkpotential eines performativen Sprechakts attestiert, der das, was er benennt, zugleich zur Existenz bringt.197 Dem entspricht auf Seiten der erzählten Welt, dass diese zwar mit den Mitteln der Narration hervorgebracht wird, gleichwohl aber von szenischer Präsenz sein soll. Als im Medium der Erzählung suspendierte, aber zugleich szenisch gegenwärtige, der Augenzeugenschaft von Erzähler und Rezipienten verfügbare, wäre die erzählte Welt mit dem höherwertigen ontologischen Index einer Realität sui generis versehen. Wörtlich verstanden, impliziert bereits die schlichte, aber gleichwohl transgressive oder metaleptische entrelacement-Formel des Paradigmas β (lascio x, torno a y) eine massive Substantialität oder ‚Hypostase‘ der erzählerisch evozierten Welt; dem narratorialen Akt weist sie ein gleichsam magisches Potential der Wirklichkeitsgenerierung zu. Nun wird, wie gesagt, ein literales Verständnis dieser strukturell metaleptischen Erzählformeln und damit eine Aktualisierung ihrer paradoxalen Bedeutungsressourcen durch die naheliegende Rezeptionsoption blockiert, die ausgesparten verba dicendi einfach wieder einzusetzen. Genau diese Option gilt aber nicht mehr in gleicher Weise für Amplifikationen des Paradigmas lascio x, torno a y, in denen die syntaktische Position der eliminierten verba dicendi neu belegt wird: Entweder werden die den Wechsel der narratorialen Hinwendung benennenden bzw. vollziehenden Verben – also lasciare/tornare oder entsprechende Tätigkeitsworte – nunmehr mit einer Orts- oder Zustandsbeschreibung als grammatischem Objekt verbunden oder sie fungieren erneut als modifizierende Verben, jetzt aber keines verbum dicendi, sondern eines Verbs, das ein körperliches Agieren oder jedenfalls eine nicht oder nicht ausschließlich diskursive Aktivität benennt; die umstandslose Wiederherstellung der nicht-paradoxalen Ausgangsform durch den Rezipienten wäre so vereitelt. Das folgende Paradigma trägt beiden gerade angeführten Möglichkeiten der Substitution des verbum dicendi Rechnung:

197 Klaus W. Hempfer spricht hinsichtlich eines solchen Erzählens – das er vor allem in postmodernen Texten untersucht, aber dessen wesentliche Ingredienzen er bereits bei Ariost und im italienischen Romanzo vorfindet – von „pseudo-performativem“ Erzählen (Hempfer 1999). Das Präfix pseudo- stellt zweifellos eine angemessene Präzisierung dar, insofern dieses Erzählen, das hier durch die metaleptischen entrelacement-Formeln exemplifiziert sein soll, die Bedingungen eines performativen Sprechakts im Sinne Austins ebenso wenig erfüllt wie die theatraler Performanz, sondern die Erfüllung dieser Bedingungen nur prätendiert. Wenn ich hier auf das Präfix dennoch verzichte, dann zum einen um seine – wenn auch nicht intendierten – abwertenden Konnotationen zu vermeiden, zum anderen und vor allem aber, weil das Syntagma ‚performatives Erzählen‘ bereits eine contradictio in adiecto ist, insofern es zwei per definitionem gegensätzliche Sprachhandlungen – die narrative und eben die performative – zusammenspannt und damit das ‚Uneigentliche‘ und Paradoxale dieses Erzählens bereits hinreichend indiziert sein dürfte. Zu einer ausführlichen Diskussion der problematischen Übertragbarkeit des Austinschen bzw. des ‚dramatischen‘ oder theaterwissenschaftlichen Konzepts von Performativität (bzw. performance) auf Texte, namentlich narrative Texte, siehe Häsner et al. 2011 sowie Hempfer 2018, Kap. 3.

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γ) lascio andare x, torno a y in A Auch hier zunächst ein einfaches Beispiel aus der Spagna: Lascierem qui Ghione cavalcare perch’a Marsilio mi convien tornare. (La Spagna, XXVII, 10)

– sowie zwei bereits etwas aufwendiger semantisierte Strangwechsel aus dem Orlando furioso: Ma lascio lui, ch’al suo frate Aquilante et ad Astolfo in Palestina torno, […] (O. F. XVIII, 70, 3–4)

– oder: Lascianlo andar, che farà buon camino e torniamo a Rinaldo paladino. (O. F. IV, 50, 7–8)

Im ersten Beispiel aus dem Furioso ist die Position des ‚ursprünglichen‘ verbum dicendi durch das „in Palestina“ besetzt, im zweiten Beispiel durch das „andar“, wobei das anschließende „che farà buon camino“ zu verstehen gibt, das Geschehen gehe auch dann weiter, wenn es gerade nicht erzählt wird, sei also autonom gegenüber dem Erzählakt.198 Die meisten metaleptischen Strangwechselformeln im Furioso beschränken sich darauf, Gleichräumlichkeit und Gleichzeitigkeit von discours und histoire zu prädizieren, ohne die logischen Implikationen dieser Prädikate zu aktualisieren und weiteres semantisches Kapital aus ihnen zu schlagen.199 So auch im folgenden Beispiel, dem ganz lapidaren ersten Strangwechsel im Furioso überhaupt, der in gewisser Weise alle oder jedenfalls einen großen Teil der nachfolgenden initialisiert, indem er die Dynamik der verschiedenen inchieste, die Ritter, Ritterinnen und andere Damen einander suchen lassen, in Gang setzt:

198 Impliziert ist damit auch, es gebe im Geschichtskontinuum Intervalle, in denen zwar Zeit abläuft, aber nichts oder jedenfalls nichts Erzählenswertes geschieht; ganz explizit gemacht wird dies in der folgenden Passage aus dem Mambriano, wo die offensichtlich ereignisleere Dauer einer Schiffspassage in der erzählten Welt dem Erzähler Gelegenheit gibt, sich einem anderen Geschehensablauf zuzuwenden, ohne Gefahr zu laufen, Wichtiges zu verpassen: E con prospero vento ogni giornata Solcavan l’onde drieto Mambriano. Ma perchè molto lunga è questa andata, Tornar mi voglio al Senator romano. (Mambriano, IX, 49, 3–6) 199 Die Mehrzahl der entrelacement-Formeln im Furioso entspricht dem metaleptischen Typus; gelegentlich ist das verbum dicendi nur auf einer Seite der Strangwechselformel eingespart. Weitere Beispiele neben den zitierten und besprochenen: O. F. III, 6, 1–3; VIII, 51; X, 35, 1–2; XI, 21, 5; XI, 28, 5; XII, 66; XIII, 80; XVI, 19, 5–6; XX, 98; XXII, 4, 5–5, 1; XXVII, 7; XXX; 75; XXX, 95, 7–96, 4; XXX, 128; XXXIII, 5, 3–4; XXXVIII, 23; XXXIV, 19; XXXIX, 19, 1–4; XLIV, 18, 7–8 u. ö.

4.2 Typen von entrelacement-Formeln

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ma seguitiamo Angelica che fugge. (O. F. I, 32, 8)

Immerhin evoziert die durch seguire und fuggire aufgerufene Semantik des Fliehens und Verfolgens mehr als ein in dieser Position obligates (ri)tornare die gleichsam dreidimensionale Tiefe des erzählten Raums sowie ein Bedingungsverhältnis von Erzähler- und Figurenaktivitäten: Der Erzählvorgang erscheint unmittelbar diktiert von der Dynamik der fliehenden Figur, die – es handelt sich um die begehrteste und zugleich ungreifbarste Frau in der Welt des Furioso, deren Unerreichbarkeit schließlich auch den vergeblich um sie werbenden Titelhelden um den Verstand bringt – nicht nur ihren zahlreichen männlichen Verfolgern zu entkommen sucht, sondern anscheinend auch dem Erzähler.200 Deutlicher als ein semantisch vergleichsweise indifferentes (ri)tornare lässt die Metaphorik des Fliehens und Verfolgens erkennen, dass es bei derartigen Formeln auch um den Abgleich von erzählter Zeit und Erzählzeit gehen kann; die sich unweigerlich vergrößernde Kluft zwischen beiden wird in den Begriffen räumlicher Distanz redefiniert, die es zu überwinden gilt. Der Akzent liegt bei dem letzten Beispiel insgesamt auf der Räumlichkeit der Relation, nicht auf deren Simultaneität; diese ist aber auf jeden Fall vorausgesetzt.201 Entrelacement-Formeln wie die gerade zitierten sind nicht mehr umstandslos rekonvertierbar in die originäre, nicht-metaleptische Ausgangsform; statt eine diskursive Operation zu benennen – die temporäre erzählerische Priorisierung einer Geschehenssequenz auf Kosten einer anderen – beschwören sie einen tatsächlichen szenischen Wechsel des Schauplatzes durch den Erzähler und mit ihm den Leser (oder den Hörer): Das Erzählen und das Lesen (oder Hören) nehmen die illusorische Form eines Umherstreifens in der fiktiven Welt der histoire an, gleichsam im Gefolge ihrer cavalieri erranti. So auch in den folgenden Beispielen, in denen das notorische (ri)tornare durch ein semantisch spezifischeres und gezieltere Aktivitäten anzeigendes (ri)trovare ersetzt ist: Ma tempo è omai di ritrovar Ruggiero, che scorre il ciel su l’animal leggiero. (O. F. VI, 16, 7–8)

Oder, dieses Mal erneut begründet mit der poetologischen Maxime der variatio: Ma perché non convien che sempre io dica, né ch’io vi occupi sempre in una cosa, io lascerò Ruggiero in questo caldo, e girò in Scozia a ritrovar Rinaldo. (O. F. VIII, 21, 5–8) 200 Seguire kann auch in nicht-metaleptischer Weise zum Einsatz kommen: „la sua storia io vo’ seguire“ (O. F. VIII, 30, 1). Die ‚Geschichte‘ ist nicht selbst Subjekt der Erzählung („la storia dice“), aber sie ist dem Erzählakt vorgeordnet; je nach Bedeutung von storia (Geschehen vs. Erzählung) gab es sie entweder schon, bevor sie erzählt wird, oder sie wurde bereits zuvor erzählt. 201 Das Beispiel bezeugt im Übrigen, dass die entrelacement-Formel auch inkomplett oder asymmetrisch, d. h. unter Aussparung eines ihrer Glieder, in diesem Fall der Wiederaufnahme (tornare) eines Erzählstrangs, zum Einsatz kommen kann.

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Oder: Chi sia dirò, ma prima dar le spalle a Francia voglio, e girmene in Levante, tanto ch’io trovi Astolfo paladino, che per Ponente avea preso il camino. Io lo lasciai ne la città crudele […] (O. F. XXII, 4, 5–5, 1)

Was durch den metaleptischen Erzählmodus in jedem Fall impliziert ist – die Persistenz des Geschehens und anhaltende Aktivität seiner Akteure jenseits ihrer narrativen Versprachlichung – wird durch das trovare deutlicher als in den früheren Beispielen akzentuiert; wenn das Personal des wiederaufzunehmenden Erzählstranges erst gefunden werden muss, wird zugleich insinuiert, dass es dem Erzähler verloren gehen könnte, also zu einem autonomen Sein jenseits seiner erzählten Existenz imstande wäre. Das letzte Beispiel bezeugt auch insofern eine fortgeschrittene Amplifikationsstufe der spatialisierenden Metaphorik, als jetzt ein selbst schon bildhafter Ausdruck in die Position eines hypothetischen lasciare a dire di Francia (oder di x in Francia) bzw. seiner transgressiven Reduktionsform lascio x in Francia eingerückt ist: „Dar le spalle a Francia“ ist zweifellos semantisch bestimmter als das polyvalente und syntaktisch multifunktionale, nämlich als modifizierendes Verb einsetzbare lasciare und es ist definitiv nicht rekonvertierbar in die nicht-metaleptische Ausgangsform. Eine weitere Steigerung der spatialisierenden, ‚szenischen‘ Metaphorik bezeugt das folgende Beispiel, in dem die Rezipienten („voi“) explizit in die Präsenzrelation zu dem erzählten Geschehen einbezogen werden: Prima che più io ne parli, io vo’ in Olanda tornare, e voi meco a tornavi invito; che, come a me, so spiacerebbe a voi, che quelle nozze fosson senza noi. (O. F. IX, 93, 5–8)

In ihrem ersten Teil ließen sich diese Verse als eine Kombination der Paradigmen α und β beschreiben: Ein nicht-transgressives „prima che più io ne parli“ (entsprechend: lascio a dire di x) ist mit einem diskret metaleptischen „io vo’ in Olanda tornare“ (entsprechend: torno a y in A) verbunden. Der starke paradoxe Effekt resultiert aber vor allem aus der Forcierung der Metaphorik im zweiten Teil der Passage, durch die potentielle Bedeutungsgehalte der metaleptischen Konfiguration semantisch aktualisiert werden; im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen, in denen die Autonomie der Geschichte durch das trovare lediglich mehr oder weniger deutlich impliziert erscheint, werden jetzt die möglichen Folgen dieser Autonomie explizit benannt: Die histoire soll sich unabhängig von ihrem Erzählt-Werden und gleichsam hinter dem Rücken des Erzählers und seiner Adressaten ereignen und von diesen auch versäumt werden können.202 202 Beiläufig sei auf eine strukturelle Ähnlichkeit derartiger Metalepsen mit dem komödialen Ad spectatores hingewiesen, etwa (um ein zeitgenössisches Beispiel anzuführen) der folgenden Replik aus Machiavellis Mandragola (V, 6), in der die Figur des Frate Timoteo sich zunächst

4.2 Typen von entrelacement-Formeln

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Wenn in dem letzten Beispiel vor allem die Autonomie der Geschichte akzentuiert wurde, wird in Passagen wie der folgenden eher ihre Disponibilität betont – oder, genauer gesagt, das paradoxe Wechselspiel von narratorialer Dispositionsgewalt und ‚ontologischer‘ Eigenständigkeit der Figuren. Am Ende einer proömialen Abschweifung, die u. a. dem Verhältnis von Malerei und Dichtung galt, kehrt der Erzähler zu seinen Figuren zurück, die, im Begriff eine Bildersequenz prophetischen Gehaltes zu betrachten, seiner harren: Ma ritornando ove aspettar mi denno quei che la sala hanno a veder dipinta, […] (O. F. XXXIII, 5, 3–4)

Oder, an anderer Stelle: Di chi si fosse, io non voglio or contare, perc’ho più d’uno altrove che m’aspetta. (O. F. XLII, 23, 5–6)

Die gerade nicht erzählten Figuren sind zum Warten verurteilt, d. h. das Geschehen, in das sie verstrickt sind, ist gleichsam eingefroren, der Ablauf erzählter Zeit arretiert zum Zweck ihres Abgleichs mit der Erzählzeit.203 Wenngleich die Arretierung des Zeitablaufs einerseits die Abhängigkeit der Figuren vom Erzähler unterstreicht, prädiziert ihnen andererseits der Zustand des Wartens, in dem sie sich befinden sollen, einen wenn auch immobilen Existenzzustand, der von seiner narrativen Aktualisierung unabhängig ist. Wie man bereits sehen konnte, kann die zur Immobilität verdammte Figur zugleich mit einem ‚pirandellesken‘ Bewusstsein eben dieser prekären Existenz ausgestattet sein. In der Tat repräsentiert die Semantik der auf ihren Erzähler wartenden Figur bereits eine Vorstufe explizit sich artikulierenden paradoxen Figurenbewusstseins, mit dem bei Ariost, wie man sich erinnern wird, die Figur des Astolfo ausgestattet ist, worauf ich sogleich noch einmal zurückkomme. an die anderen Spielfiguren wendet, dann aber an die Zuschauer: „Andianne tutti in chiesa, e quivi direno l’orazione ordinaria; dipoi, doppo l’ufizio, ne andrete a desinare a vostra posta. – Voi, aspettatori, non aspettate che noi usciàn piú fuora: l’ufizio è lungo e io mi rimarrò in chiesa, e loro per l’uscio del fianco se ne andranno a casa. Valete!“ Keinesfalls fällt Machiavellis Timoteo mit seiner Zuschaueranrede aus der Rolle, denn er kommuniziert durchaus in seiner Rollenidentität mit dem Publikum und nicht als Frate-Darsteller; er verbleibt also in der Immanenz des Spielgeschehens, dessen raum-zeitliche Deixis für ihn Gültigkeit behält. Daraus resultiert gewissermaßen eine potenzierte Illusion: Das szenisch dargestellte Geschehen wird einerseits qua dargestelltes, in den Seinsmodus der dramatischen Fiktion gebanntes, ausgewiesen; andererseits und zugleich wird jedoch für dieses Geschehen in all seiner Mittelbarkeit und Fiktivität ein autonomer Seinsstatus in Anspruch genommen: Es soll sich jenseits seiner Bühnenpräsenz und unabhängig von seiner Rezeption durch ein Publikum fortsetzen können. Ein Ad spectatores wie das zitierte ist den hier besprochenen Metalepsen strukturhomolog. Näher ausgeführt habe ich dies in Häsner 2005, S. 17–19. Dort diskutiere ich auch einen möglichen ‚genetischen‘ Zusammenhang von metaleptischer entrelacement-Formularik und dramatischem Ad spectatores und vergleichbaren Transgressionen (s. ebd. S. 116 f.). 203 Vgl. auch O. F. XVI, 19, 5–6: „Ma Carlo un poco et Agramante aspette; / ch’io vo’ cantar de l’africano Marte“; ferner O. F. XLIV, 18, 7–8: „Ma quivi stiano tanto, ch’io conduca / insieme Astolfo, il glorioso duca.“

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4 Die Erzählweise des entrelacement

Auch das Ende der Mondepisode ist durch einen metaleptischen Strangwechsel markiert, ‚metaleptisch‘ in diesem Fall sogar im Wortsinn, nämlich als ‚Sprung‘ von einer Sphäre in eine andere: Resti con lo scrittor de l’evangelo Astolfo ormai, ch’io voglio far un salto, quanto sia in terra a venir fin al cielo; ch’io non posso più star su l’ali in alto. Torno alla donna a cui con grave telo mosso avea gelosia crudele assalto. Io la lasciai ch’avea con breve guerra tre re gittati, un dopo l’altro, in terra; (O. F. XXXV, 31, 1–8)

Formal ungewöhnlich ist dieser Strangwechsel, weil hier die einschlägige Formularik (lascio x in A, torna a y in B) sozusagen chiastisch gedoppelt wird; während in der ersten Hälfte restare bzw. fare un salto anstelle der konventionellen Ausdrücke stehen, wird in den Versen 5–8 das metaphorische fare un salto als ein tornare wiederholt und gleichsam auf die ‚reguläre‘ Formel zurückgeführt, aber in spiegelbildlicher Umkehrung insofern, als zuerst der Akt der Rückkehr zum zeitweilig unterbrochenen Erzählfaden („torno alla donna“) und dann der des vorangegangenen Unterbrechens („io la lasciai“) genannt wird. Inhaltlich ist an dieser Passage zunächst die, wenn auch nur vorübergehende, Erweiterung des narratorialen Aktionsraums in eine supraterrestrische Dimension zu vermerken, vor allem aber (und damit zusammenhängend) die metapoetischen Konnotationen dieser Verse. Das Bild des geflügelten Erzählers, der seinen Flug abbricht oder abbrechen muss, lässt unweigerlich an die Schwäne denken, die wenige Strophen zuvor die wahren Dichter allegorisch repräsentierten, beziehungsweise an die Krähen und Geier, die für die falschen und betrügerischen Dichter standen und denen die Kraft fehlte, die erinnerungswürdigen Namen den Fluten des Vergessens zu entreißen (s. O. F. XXXV, 13–15). Auch wenn sich nicht entscheiden lässt, ob das „io non posso più star su l’ali in alto“ auf die Verantwortung für die zurückgelassene „donna“ (es handelt sich um Bradamante, die promessa sposa des Este-Stammvaters Ruggiero) zielt, oder auf ein Unvermögen oder einen Unwillen des Erzählers, sich weiterhin in solchen Höhen der poetischen Imagination zu bewegen, so wird diese zweite Möglichkeit doch von dem Proömium desselben Gesangs nahegelegt. Dort hatte, wie man sich erinnern wird (s. Kap. 2, S. 61 f.), der Erzähler die Bedeutung und Notwendigkeit der poetischen Himmelsreise grundsätzlich in Frage gestellt und damit zugleich auch das literarische Modell einer solchen Reise – namentlich in seiner Danteschen Realisation – und den ihr assoziierten Dichtertypus des priesterlichen Sehers. Die fortschreitende Amplifikation der spatialisierenden Erzählmetaphorik lässt ihre metapoetischen Valenzen hervortreten; das paradoxe semantische Potential der metaleptischen Strangwechselformularik wird zunehmend aktualisiert und einer mehr oder weniger elaborierten poetologischen, ästhetischen, erkenntnistheoretischen oder sonstigen Programmatik verfügbar, während umgekehrt ihre narrative Verkettungsfunktion in den Hintergrund tritt und sich schließlich völlig von ihr

4.2 Typen von entrelacement-Formeln

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ablösen kann.204 Zwei Passagen, die dies in besonders effektvoller Weise bezeugen und die zu den gewagtesten Metalepsen im Furioso gehören, habe ich im ersten Kapitel bereits zitiert und eingehend kommentiert (s. o. S. 32–35). In dem einen Fall (O. F. XV, 9) findet die Autonomie und ‚Substantialität‘ der histoire, durch ihre Präsentation als eine szenisch gegenwärtige immer schon impliziert, gleichsam performative Bestätigung, indem eine Figur der erzählten Welt sich ihrer ‚papiernen‘ Seinsweise bewusst wird und intentional Effekte in der Welt des Erzählers, auf der Ebene des extradiegetischen Diskurses, hervorzubringen imstande sein soll. Mit dem Bewusstsein ihrer in den Aggregatszustand eines schriftlichen Textes gebannten Existenz ausgestattet, fordert die artefaktielle Figur – „il qual mi grida, e di lontano accenna, / e priega ch’io nol lasci ne la penna“ – bei ihrem Autor das Recht auf Fortsetzung oder vielmehr Fortschreibung dieser Existenz ein. Das „lasci ne la penna“ kann in diesem Kontext als eine Verschmelzung der Strangwechselschemata lascio a dire di x und lascio x in A verstanden werden: An die Stelle des verbum dicendi tritt das Instrument schriftlichen Erzählens, die Schreibfeder, solchermaßen – und sei es auch fiktionsironisch – eine Art Magie des physischen Schreibakts und seiner Werkzeuge geltend machend. Wenngleich weniger pointiert und ohne mediale Konkretisierung, wird auch in den folgenden Versen – ebenfalls ein metaleptischer Strangwechsel – zu verstehen gegeben, dass die Figuren, in diesem Fall der Titelheld persönlich, selbst die Initiative ergreifen und die Priorisierung ‚ihrer‘ Geschichte gegenüber der anderer Figuren einfordern können: Ma non dirò d’Angelica or più inante; che molte cose ho da narrarvi prima: né sono a Ferraù né a Sacripante, sin a gran pezzo per donar più rima. Da lor mi leva il principe d’Anglante, che di sé vuol che inanzi gli altri esprima le fatiche e gli affanni che sostenne nel gran disio, di che a fin mai non venne. (O. F. XII, 66)205

Ohne paradoxes Figurenbewusstsein, aber nicht minder spektakulär in Szene gesetzt, wird das Wechselspiel von narratorialer Dispositions- und Schöpfungsmacht einerseits, Autonomie und Widerspenstigkeit der narrativ gezeugten Welt anderer204 Ich habe an anderer Stelle das Amplifikationspotential und den Funktionsspielraum der metaleptischen entrelacement-Formularik an einem breiteren Spektrum von Beispielen näher untersucht – über Ariost hinaus bis zum historischen Roman des 19. Jahrhunderts (Scott, Manzoni, Hugo, Dumas, teilweise mit expliziter Reminiszenz Ariosts) –, in denen diese Formularik, wenig überraschend, erneut reüssiert und schließlich bis hin zu Proust und vor allem Gide, wo sie, wohl eher unerwartet, ebenfalls zum Einsatz kommt. S. Häsner 2005, S. 43–81. 205 Ähnliche Figurenmetalepsen finden sich auch in Boiardos Orlando Innamorato, etwa II, XVII, 38, 1–4: Or lassiamo costor tuti da parte, Che nel presente n’è detto abastanza; Però che ’l conte Orlando e Brandimarte Mi fa bisogno di condur in Franza […].

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4 Die Erzählweise des entrelacement

seits, auch in der anderen im ersten Kapitel bereits besprochenen Passage, in der der Erzähler, sich an die Hofdamen wendend, versprach, eine unbotmäßige Figur „con penna e con inchiostro“ (O. F. XXIX, 2, 5) zu züchtigen. Die hegemoniale Verfügungsgewalt des Erzählers gewinnt hier überhaupt erst Konturen vor dem Hintergrund einer Autonomie der erzählten Welt, die sich jener Verfügungsgewalt zumindest temporär auch entziehen können soll. Im Unterschied zu den bisher besprochenen Beispielen handelt es sich allerdings nicht um den Vollzug eines Strangwechsels, sondern um die Ankündigung eines narratorialen Eingriffs in den Geschehensablauf auf der Basis metaleptischer Kopräsenz von Erzählvorgang und erzähltem Geschehen. Man hätte es also mit der zwar lapidaren, aber implikationsreichen Proklamation einer Erzähllogik zu tun, die ansonsten einfach exekutiert wird. Besonders eindringlich wird sie dies nun in jenen am Eingang des zweiten Kapitels zitierten Versen, die ich hier als mise en abyme der Gesamtstruktur des Furioso verstehen möchte und in denen der Erzähler, gewissermaßen im Angesicht seines als „Signor“ apostrophierten Dienstherrn, zu verstehen gibt, dass es in seiner Hand liegt, dessen Vorfahren und in der (genea-)logischen Konsequenz ihn selbst aus der ‚Geschichte‘ zu tilgen. Die Stelle sei noch einmal zitiert: Ma mi parria , Signor, far troppo fallo, se, per voler di costor dir, lasciassi tanto Ruggier nel mar, che v’affogassi. (O. F. XLI, 46, 6–8)

Auch hier hat man es natürlich mit einer metaleptisch transformierten entrelacement-Formel zu tun, mit der performative Koinzidenz zwischen Erzählakt und erzähltem Geschehen behauptet wird. Das obligatorische lasciare ist dabei auf einen vorangegangenen Strangwechsel bezogen und macht diesen rückgängig; deshalb seine ‚irreguläre‘ Zuordnung zum wiederaufgenommenen statt zum suspendierten Erzählstrang. Extravagant ist diese Strangwechselformel aber vor allem, weil „lasciassi nel mar“ jetzt das Prädikat einer irrealen Konsekutivperiode bildet und eine alogische Folgebeziehung, ein paradoxaler Kausalnexus mit „affogare“ benannt bzw. illusorisch hergestellt ist. In diesem Fall bringt lasciare also explizit und vielleicht deutlicher noch als in den zuvor betrachteten Passagen eine Verfügungsmächtigkeit des Erzählers zum Ausdruck, und zwar – um dies noch einmal zu unterstreichen – nicht nur die Dispositionsgewalt über das diskursive Arrangement des zu erzählenden Geschehens im Textraum, wie es dem nicht-transgressiven Paradigma α entspräche, sondern über dieses Geschehen selbst, gleichsam über die zu erzählenden Ereignisse in actu. Die Position des Erzählers ist wiederum nicht die eines bloßen Zeugen des Geschehens und quasi-teichoskopischen Berichterstatters, wie es der klassischen evidentia entspräche, sondern der Gang der Dinge scheint direkt von ihrer Narrativierung und damit vom Erzählerkalkül abhängig zu sein. Siehe auch O. I. II, XIV, 1 u. II, XVI, 1. Die unmittelbare Anregung für Astolfos paradoxes Figurenbewusstsein dürfte Ariost aber in folgender Stelle aus Ciecos Mambriano (XLI, 12, 6–8) gefunden haben: Acciò che Astolfo di me non si lagni, Voglio lasciarli per alquanti giorni, Perché gli è tempo ormai che a lui ritorni.

4.3 Entrelacement und erzählerisches knowing how

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Die Investition von weiterer Erzählzeit in den vorübergehend suspendierten Erzählstrang, dessen Protagonist Orlando ist – also „di costor dir“ – hätte unmittelbar letale Folgen für Ruggiero, den Protagonisten des anderen Erzählstrangs. Erneut wird der ambivalente Status der erzählten Geschichte offenbar: Zwar ist der Verlauf des Geschehens von narratorialem Einwirken abhängig, aber zugleich hat es die Schöpfungsmacht und Dispositionsgewalt des Erzählers mit einer irreduziblen Autonomie oder Trägheit der histoire zu tun: Die Geschichte ereignet sich so oder so, ohne die Intervention des Erzählers würde sie freilich anders verlaufen; ihrem Trägheitsmoment oder ihrer unkorrigierten Eigendynamik folgend, also unter der Bedingung anhaltender narratorialer Absenz, ließe die histoire Ruggiero im Meer ertrinken. Der metaleptische oder performative Zugriff auf die Geschichte – die im Orlando furioso nicht zuletzt die Geschichte der Este und Ferraras ist – bringt sowohl die Schöpfungsmacht und Dispositionsgewalt des Erzählers zur Geltung wie auch die Widerspenstigkeit des ‚Materials‘, d. h. der Geschichte und ihres Personals. 4.3 ENTRELACEMENT UND ERZÄHLERISCHES KNOWING HOW. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK In der Mondepisode hatte der Apostel Johannes den Fürsten, sofern sie nur den Poeten hinreichend Ehre erwiesen, Unsterblichkeit im ‚Tempel‘ der epischen Dichtung in Aussicht gestellt und ihnen die Wirkungs- und Verfügungsmacht des Dichterwortes vor Augen geführt: In der Hand der Dichter liege nicht nur, wer und was überhaupt erinnert wird, sondern auch in welcher Weise der Geschichte und ihrer Gestalten gedacht werde, welche Verdienste, Taten und Untaten ihnen einst zugeschrieben werden würden. Johannes beansprucht damit für die Dichtung eine Diskurshoheit über die Geschichte, die der Schöpfungs- und Verfügungsmacht des Erzählers über den zu erzählenden Stoff äquivalent ist. Dies gilt umso mehr, wenn das Erzählen im Modus eines ‚performativierten‘ entrelacement mit dem Anspruch der Wirklichkeitsgenerierung auftritt, als ein narrativer Schöpfungsakt, der so potent sein soll, dass die Fiktionen, die er hervorbringt, zu einer Realität sui generis werden, die auf die Welt, in der sie hervorgebracht wurde, zurückwirkt oder sie ihrerseits zu konditionieren vermag. Die komplex kontextualisierte, von einschlägigen Systemreferenzen flankierte Apologie des Apostels kann mithin als Extrapolation von Bedingungen der Textkonstitution auf die Geschichte verstanden werden, als Manifestation eines poetischen knowing that, das in und mit dem Text vorgeführtes oder praktiziertes erzählerisches knowing how in einer diesem adäquaten Weise diskursiviert und generalisiert. Anders gesagt: Ariost lässt den Apostel verkünden, was er mit seinem genealogisch-enkomiastischen Epos ‚tut‘. Die Art dieses ‚Tuns‘, die an jener Stelle mit dem zu ertrinken drohenden estensischen Stammvater Ruggiero in emblematischer Verdichtung sinnfällig wird, soll im abschließenden Kapitel, in dem es um den Furioso und seine Position im System des genealogischen Diskurses gehen wird, nochmals eingehend thematisiert werden. Die Genese und Ausdifferenzierung eines in dieser Weise extrapolierten erzählerischen knowing how – oder jedenfalls einer substantiellen und strukturgebenden Komponente dieses knowing how – waren Gegenstand des vorliegenden Kapitels.

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4 Die Erzählweise des entrelacement

Vor allem ging es mir darum, zu zeigen, dass die Diversifikationen des entrelacement zwischen Perceval und Orlando furioso zuallererst auf der Ebene narrativer Mikrostrukturen stattfinden und sich über Verschleifungen und Permutationen von Formeln vollziehen, die ursprünglich als stereotype ‚Schaltmodule‘ zum Einsatz kommen, deren Funktion es ist, eine Vielzahl unterschiedlicher narrativer Sequenzen oder Erzählstränge zu integrieren und dies zugleich als Leistung einer mehr oder weniger konkretisierten Erzählinstanz deutlich werden zu lassen. Diese Diversifikationen lassen sich zwanglos als Variationen des tradierten Verfahrens und als seine Anpassung an neue Herausforderungen erklären: Anpassung zum einen an die kumulative Vermehrung des zu erzählenden Stoffes, zum anderen an eine veränderte Kommunikationssituation, in der, während einer von den Cantari geprägten Tradierungsetappe, ein oral-aurales Element dominant wird, das zwar auch für die Rezeption der arthurischen und erst recht der ‚fränkischen‘ Epik anzusetzen ist, das dort aber nicht in derselben Weise, etwa in der Form von Hörerapostrophen, ‚textualisiert‘ wird. Keineswegs muss ein theoretisches knowing that oder der Wandel einer ‚weltanschaulichen‘ Disposition als Impuls oder Ursache dieser Veränderungen angenommen werden, weder eine epochale Neuorientierung im Verständnis von Kausalität, Raum und Zeit noch eine aparte geschichtliche Tendenz der Subjektivierung, die in der Erzählweise des entrelacement ihr Medium gefunden hätte. Sehr wohl postuliert werden darf allerdings ein initialer Ehrgeiz, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern möglichst viele in einer gegebenen literaturgeschichtlichen Situation vorfindliche, z. T. aus unterschiedlichen Regionaltraditionen stammende (Partial-) Geschichten (Lancelot, Gauvain, Tristan, Perceval, Palamédès usw.) und ihre verschiedenen Versionen zu einem mehr oder weniger strukturierten narrativen Geschehens- und Sinnzusammenhang zu vereinen – und damit in der Tat einen Erzählkosmos zu schaffen, in dem komplexe Kausalitäten und Sinnbezüge gestaltbar werden, die den Verhältnissen in der geschichtlichen Erfahrungswelt als analog oder sogar als konsubstantiell erscheinen können. Die Verschaltung einer Vielzahl von Handlungsfolgen mit entsprechend vielen Protagonisten stellt eine erzählerische Herausforderung dar, die der beständigen Präsenz eines Erzählsubjekts bedarf, das als Organisator der polyzentrischen Erzählwelt fungiert und deren Konstituierung reflektierend oder kommentierend begleitet. Die Orte, an denen dieses Erzählsubjekt vor allem in Erscheinung tritt, sind eben die über den Text verteilten, rekurrenten entrelacement-Formeln. Entscheidend (wenn auch in der Forschung nicht hinreichend gewürdigt) scheint mir zu sein, dass die entrelacement-Formularik keine akzidentelle Zutat darstellt und ihre Autoreflexivität kein ‚Extra‘ ist, das von ihr abzulösen wäre, sondern ein irreduzibles Strukturelement entrelacement-spezifischer Vielsträngigkeit. Entrelacement-Formeln sind von Beginn an und selbst in ihren schlichtesten Durchführungen autoreflexiv, d. h. sie lassen die Textkonstitution thematisch werden, auch wenn die Erzählinstanz, die sich in diesen Formeln artikuliert, wohl erst im Romanzo als eigene ‚Stimme‘ mit einer eigenen ‚Geschichte‘ Konturen gewinnt, die sich dem Chor der ‚Stimmen‘ der erzählten Welt gegenüberstellt. Entrelacement-Formeln sind also nicht nur Scharniere zwischen unterschiedlichen Handlungssequenzen und gehen nicht in ihrer Verkettungs- und Synchronisierungsfunktion auf. Tatsächlich sind sie privilegierte

4.3 Entrelacement und erzählerisches knowing how

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Orte im Text, an denen das Verhältnis von erzählender und erzählter Welt, von Bericht und Quelle, von Text und Nicht-Text, von Wirklichkeit und Fiktion ‚definiert‘ und im Zuge der Evolution und Ausdifferenzierung dieser Formularik immer wieder neu verhandelt wird. Während sich in den entrelacement-Formeln ein spezifisches narratives knowing how manifestiert, sind sie zugleich Kondensationskerne eines poetologischen knowing that, das sich gerade in den metaleptischen Varianten dieser Formeln mit aperçuhafter Lakonie („Io farò sì con penna e con inchiostro“) artikulieren kann. Wenngleich also der Modifikation des entrelacement, die letztlich auf seine Transformation hinausläuft, kein ‚programmatisches‘ Kalkül vorhergehen muss, hat sie gleichwohl umso gravierendere ‚programmatische‘ Implikationen und Effekte; vor allem resultiert sie in einer radikalen Redefinition des Verhältnisses von discours und histoire: Die originär dem mündlichen Vortrag zuzuordnende und zunächst vermutlich unambitionierte Tilgung des verbum narrandi jener Strangwechselformeln führt zu einer poetologisch wie auch epistemologisch brisanten Neubestimmung dieses Verhältnisses im Sinne seiner Simultanisierung und Spatialisierung: Erzählgegenwart und erzählte Vergangenheit sollen ein Kontinuum bilden, in dem das Personal der erzählenden und das der erzählten Welt einander kopräsent und sogar Kommunikation und Interaktion zwischen ihm möglich sein soll. Eine entscheidende Station dieser Entwicklung sind die Cantari, die der kavalleresken Epik fränkischer oder bretonischer Provenienz ein orales und performatives Element hinzufügen oder dieses verstärken. Das Attribut ‚performativ‘ zielt hier zunächst einfach auf die orale und gegebenenfalls musikalische Vortragssituation als das authentische Medium der Cantari. Das diskursive Milieu einer oralen performance dürfte indessen ursächlich sein für die so folgenreiche Einsparung der verba dicendi oder diese jedenfalls begünstigen, wie sich aus der starken Präsenz performativierter entrelacement-Formeln in den cantari schließen lässt. Im Medium des schriftlichen Textes resultiert der Wegfall der verba dicendi in einer Performativierung des Erzählens selbst. Die Performativität der oralen Vortragssituation, die im schriftlichen Text zunächst und logisch unproblematisch über Hörerapostrophen zitativ beschworen werden kann, wird für den schriftlichen Diskurs selbst und schließlich für das Verhältnis dieses Diskurses zur erzählten Welt in Anspruch genommen und damit paradoxalisiert. Das Erzählen soll jetzt die Funktion eines performativen Sprechakts erfüllen, der im Raum der erzählten Geschichte und simultan zu deren Ablauf vollzogen wird oder vielmehr mit dieser Geschichte koinzidiert, weil er sie in seinem Vollzug überhaupt erst hervorbringt. Paradoxal sind diese Verhältnisse insofern, als in ihnen die antithetischen Eigenschaften des Narrativen (als sprachliche Bezugnahme auf vergangenes Geschehen) und des Performativen (im Sinne einer Koinzidenz von Sprechakt und referenziertem Ereignis) zur Konvergenz gebracht sind oder – da diese Konvergenz nur eine prätendierte sein kann – zu sein scheinen. Das Potential dieser Konstellation, ihre semantischen und ‚programmatischen‘ Effekte und Implikationen, die namentlich Ariost ausspielt und in Applikation auf sein genealogisches Sujet fruchtbar werden lässt, manifestieren sich nicht zuletzt in einem komplexen Wechselspiel zwischen performativer narratorialer Schöpfungs- und Verfügungsmacht einerseits, Autonomie und Eigen-

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gesetzlichkeit der erzählten Welt andererseits. Während in den beiden nicht-metaleptischen Typen 1 und 2 der oben ausgeführten Typologie entweder durch eine anonyme Erzählinstanz aufgerufene textexterne Instanzen (conte; istoria; Turpin oder andere Quellen) oder ein zunehmend prominenter werdendes Erzählsubjekt selbst Entscheidungen über den Fortgang der Erzählung treffen und autorisieren, so scheint dieses Erzählsubjekt im Typ 3 unter dem unmittelbaren visuellen und/oder akustischen Eindruck und schließlich auch dem – im Grenzfall sogar intentional ausgeübten – Druck einer Geschichte zu stehen, die sich simultan zum Erzählvorgang ereignen, von massiver Präsenz und deshalb durch den Erzähler und den Leser ‚teichoskopisch‘ wahrnehmbar und ‚erfahrbar‘ und ihrerseits manipulierbar sein soll. Damit geht es nicht mehr um die Autorisierung des Strangwechsels, sondern um die Motiviertheit bzw. Determiniertheit des Erzählvorgangs durch eine zwar fiktive, aber der erzählenden Welt konsubstantielle Geschichte, deren Autonomie und Substantialität sich in unterschiedlichen Konkretisationsgraden manifestieren kann: als schiere ‚physische‘ Präsenz, als diskursiver Steuerung widerstrebende Eigendynamik der Geschichte und Renitenz ihrer Figuren, schließlich als artikulierte Selbstbewusstheit ihres Personals über die Bedingtheit seines erzählten Seins und die zumindest als Möglichkeit sich andeutende Usurpation der extradiegetischen Diskursebene, die den Erzähler tendenziell selbst zum Erzählten werden ließe. Wenn also die Ausdifferenzierung der entrelacement-Technik generell im Zeichen einer zunehmenden Akzentuierung des narrativen Aktes und Prominenz eines autoreflexiven Erzählsubjekts steht, so bezeugen metaleptische entrelacement-Formeln gewissermaßen eine paradoxe Überkompensation dieser Tendenz: Während die immer stärker auf das Erzählsubjekt bezogene und von diesem verantwortete Exposition polymorpher Erzählwelten in der Auflösung des Realitätsstatus dieser Welten resultieren, d. h. ihnen jede Referenz außerhalb des sie konstituierenden Diskurses verweigern kann, mündet metaleptisches Erzählen gerade in einer – natürlich illusorischen und auch potentiell komischen – Reifizierung der erzählten Welt, die, autonom und eventuell sogar mit artikulationsfähiger Willensfreiheit ausgestattet, ihren Ursprung im Narrationsakt hinter sich lassen, alle Determiniertheit abschütteln und die Begrenztheit ihres nur artefaktiellen und mittelbaren Seins überschreiten können soll. Allerdings ist es gerade die scheinbare Selbstbescheidung oder Selbstlimitierung der erzählerischen Omnipotenz, der doppeldeutige Anspruch einer realitätsstiftenden Sprachmagie, die vor ihren eigenen Effekten kapitulieren muss, in dem sich die Subjektivierung des Erzählens zu seiner Apotheose steigert – einer ‚Verklärung‘ freilich, die gänzlich profane Züge trägt. Auf den vorangehenden Seiten dieses Kapitels habe ich Ariosts erzählerisches knowing how ausschließlich als Funktion der Erzählweise des entrelacement, deren Ausdifferenzierung und souveräner Aneignung und Refunktionalisierung beschrieben. Vor allem ging es mir darum, zu zeigen, wie die Modifikation kleinster mikrostruktureller Einheiten prägnante semantische Effekte hervortreibt – Effekte, die sich mit den Begriffen ‚Spatialisierung‘ und ‚Simultanisierung‘ charakterisieren lassen –, die im Furioso in einer implizit bleibenden ‚Poetik der Präsenz‘ aufgehen und an die eine poetologische Programmatik unmittelbar anschließen kann und bei Ariost auch tatsächlich anschließt. Nun ist Ariosts narratives knowing how nicht mit

4.3 Entrelacement und erzählerisches knowing how

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der, wenn auch innovativen, Aneignung des entrelacement gleichzusetzen, wenngleich es sich dabei zweifellos um ein die Makrostruktur des Furioso bestimmendes Erzählmodell handelt. Dennoch hätte eine umfassende, an dieser Stelle nicht vorgesehene und nicht zu leistende Rekonstruktion von Ariosts narrativen Kompetenzen andere Konstituenten und Elemente zu berücksichtigen, die gleichfalls poetologisch und/oder epistemologisch implikativ und proliferativ sein können. Zu diesen erzählerischen Kompetenzen, diesem knowing how, gehört der hochvirtuose Umgang mit Reim und Metrum und dem spezifischen Druck, den gerade die Oktave auf Syntax und Semantik des erzählerischen Diskurses ausübt. Dazu gehört ferner, zumindest in einem weiteren Sinne, die souveräne Verfügung über eine Pluralität von Diskursen und Diktionen, die Ariost in seiner spezifischen (literatur-) geschichtlichen Situation vorfindet: Er steht ja nicht nur vor den ‚stofflichen‘ Überlieferungsgebirgen antiker und mittelalterlicher Erzähltraditionen, sondern auch vor einer Vielfalt poetischer Stilgesten sowie rhetorischer Register und diskursiver Modi (der Rückgriff auf die paradoxale Epideixis war dafür exemplarisch), deren gekonnter und oft subtiler Einsatz dem Diskurs des Orlando furioso ein polyphones Gepräge verleiht, das ihn von vorgängigen Texten der kavalleresken Tradition, auch noch von Boiardos Orlando innamorato, deutlich und ‚auf den ersten Blick‘ unterscheidet. Hier ist natürlich vor allem an die berühmte Ariost’sche Ironie und ihre zahlreichen Facetten zu denken, die zwar keine narrative Fakultät im engeren Sinne ist, aber gleichwohl, wie mehrfach deutlich werden konnte, Effekte für die narrative Struktur und die Selbstreflexion des Erzählers generiert, und selbst wenn man Ariosts Epos nicht für durchgehend ‚ironisch‘ halten möchte, dennoch von fundamentaler Bedeutung ist für die Perspektivierung und Taxierung des spezifischen Wahrheitswert des erzählten Geschehens und generell für die Rezipientenlenkung. Auf andere Aspekte eines im engeren Sinne narrativen knowing how gehe ich im folgenden Kapitel und in diesem Fall ohne systematischen Anspruch anhand zweier einigermaßen spektakulärer Fallbeispiele ein. In beiden Fällen geht es um Ariosts Disposition temporaler Strukturen, die zwar mit der metaleptischen Redefinition des entrelacement unmittelbar zusammenhängt, aber, wie vor allem das zweite dieser Beispiele zeigen wird, nicht in dieser aufgeht. Dieses Beispiel – es handelt sich um die sogenannte Fiammetta-Episode aus dem 28. Gesang – wird darüber hinaus Gelegenheit geben, Ariosts Umgang mit dem ‚textarchitektonischen‘ Modul der Binnenerzählungen oder Erzählung zweiten Grades, das er in einer von der kavalleresken Erzähltradition abweichenden Weise zum Einsatz bringt, etwas näher zu beleuchten. Wie Annalisa Izzo überzeugend dargelegt hat, sind diese Binnenerzählungen als novelleske Digressionen, als die sie zumeist gesehen werden, insofern unzutreffend charakterisiert, als sie unmittelbar in den Handlungsverlauf integriert sind und ihrerseits diesen vorantreiben bzw. seine weitere Verzweigung initialisieren können.206 Wenngleich die zahlreichen und zum Teil umfangreichen intradiegetischen Erzählungen im Orlando furioso also zur Ausdifferenzierung und Polyzentrik der erzählten Welt beitragen, erscheint es mir dennoch, anders als Izzo, nicht sinnvoll, diese komplexitätssteigernden Binnen206 Izzo 2013; s. auch Gómez-Montero 1996.

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4 Die Erzählweise des entrelacement

strukturen dem Begriff des entrelacement zu subsumieren und damit dessen Konturen und historische Spezifität aufzuweichen. Die Begründung ergibt sich aus den vorangehenden Darlegungen zu dieser Erzählweise. Im daran anschließenden, vorletzten Kapitel wird es schließlich um Ariosts Adaption einer Erzähllogik gehen, deren Modell die Aeneis ist, die aber auch andere, nicht-poetische Referenzen hat. Wie schon mehrfach angedeutet, besteht zwischen der Erzählweise des entrelacement, namentlich in der extrem erzählsubjektzentrierten Interpretation Boiardos und Ariosts, und der Vergilschen Präsupposition teleologischer Objektivität des ‚geschichtlichen‘ Verlaufs eine deutliche und in einzelnen Strangwechseln sichtbar ausgetragene Konkurrenz und ein fundamentales Kompatibilitätsproblem. Ariosts höchst ‚kreativer‘ Umgang mit dem daraus resultierenden Konfliktpotential ist auch vor dem Hintergrund eines zeitgenössisch omnipräsenten und nicht nur poetischen genealogischen Diskurses zu würdigen und ebenfalls ein Aspekt seines narrativen knowing how.

5 EXTRAVAGANTE ZEITLICHE VERHÄLTNISSE Vergangene Zukunft – zukünftige Vergangenheit 5.1 EIN VORZEITIGER AUFTRITT DES TITELHELDEN ALS PAZZO (O. F. XIX, 42) Im 19. Gesang des Furioso lässt der Erzählerdiskurs ein Zeitfenster sich öffnen und sogleich wieder schließen, das den Titelhelden für einen kurzen Moment im Zustand des Liebesfurors zeigt, von dessen Zustandekommen indessen erst sehr viel später im Text die Rede sein wird. Hier könnte der Eindruck eines Anachronismus und eines logischen Defekts der Erzählung entstehen, der sich allerdings bei genauerer Betrachtung als ungerechtfertigt erweist. Erzählt wurde zuvor, wie Angelica den schwer verwundeten Medoro findet, in Liebe zu ihm entbrennt, ihn gesund pflegt und schließlich heiratet: Die unnahbare Schöne, von den ruhmreichsten Rittern der Heiden und der Christen, vor allem aber von dem alle anderen an Tapferkeit und cortesia überragenden Orlando vergeblich begehrt, hat ihr Herz am Ende ausgerechnet an einen einfachen sarazenischen Fußsoldaten verloren. Nachdem Medoro dank hingebungsvoller Fürsorge Angelicas wiederhergestellt ist, begeben sich beide auf die Suche nach einem Schiff, das sie ins ferne Cathai bringen soll, die Heimat der schönen Königstochter. Als sie am Strand bei Barcelona entlangreiten, stoßen sie auf einen nackten, „wie ein Schwein“ mit Kot bedeckten und offenkundig Wahnsinnigen, der sie bedrängt. Die kurze Episode dieser Begegnung währt nur sieben Verszeilen, um dann, ohne zu einem Abschluss gebracht worden zu sein, mit einer der üblichen (in diesem Fall nicht-metaleptischen) Formeln zugunsten eines anderen Geschehens vorerst aufgegeben zu werden: Ma non vi giunser prima, ch’un uom pazzo giacer trovaro in su l’estreme arene che, come porco, di loto e di guazzo tutto era brutto e volto e petto e schene. Costui si scagliò lor come cagnazzo ch’assalir forestier subito viene; e diè lor noia, e fu per far lor scorno. Ma di Marfisa a ricontarvi torno. (O. F. XIX, 42)

Bei dem „uom pazzo“ handelt es sich um niemand anderen als Orlando, der eben wegen der Liebe Angelicas zu Medoro den Verstand verloren hat und unterdessen zur rasenden Bestie mutiert ist. Leser oder Hörer der Geschichte, die ihren Fortgang nicht kennen, können dies allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, allenfalls könnten sie, nachdem Titel und Eingangsproömium den Verstandesverlust des Paladins bereits als unerhörtes Ereignis angekündigt hatten, erahnen, wer dieser pazzo sein mag. Eine solche Vermutung, wenngleich letztlich zutreffend, wäre zu diesem Zeitpunkt dennoch gewagt, hatten doch die letzten Auftritte Orlandos (in

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5 Extravagante zeitliche Verhältnisse

den Canti IX–XIII) ihn durchaus noch als strahlenden Ritter und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wie ritterlichen Tugenden gezeigt und ihn zahlreiche Heldentaten zugunsten Hilfesuchender vollbringen lassen: In den Canti IX und XI rettet er mehrfach Olimpia das Leben und tötet den niederträchtigen Cimosco, der mit seiner Arkebuse Nachbarn und Untertanen terrorisiert; en passant vernichtet Orlando dieses schändliche, jegliche Ritterlichkeit sabotierende Gerät („abominoso ordigno“), solchermaßen den Fluch der Feuerwaffe zumindest für ein paar weitere Jahrhunderte von den Menschen fernhaltend. In Canto XIII schließlich rettet Orlando Isabella aus den Händen einer Räuberbande. Doch auch nach der Mikroepisode, die ihn als Wahnsinnigen zeigt und als „Schwein“ und „Köter“ figurieren lässt, erscheint der mental und in seiner äußeren Erscheinung noch vollständig integre Orlando ein weiteres Mal – in Canto XXIII –, jetzt um den unschuldig zu Tode verurteilten Zerbino zu retten. Unmittelbar daran anschließend stößt Orlando freilich auf in Bäume geritzte und auf Felsen geschriebene arabische Inschriften und Verse, die von der Liebe Angelicas und Medoros künden. Nachdem der Ritter, der (wie man hier erfährt) nicht nur des Lateinischen, sondern auch des Arabischen mächtig ist, zunächst einigen hermeneutischen Scharfsinn aufgebracht hat, um die offen zutage liegende Wahrheit dieser Inschriften interpretatorisch wieder zu kassieren, verdichtet sich sein anfänglicher Verdacht schließlich doch zu unwiderlegbarer Evidenz. Er verfällt darüber zunächst der Melancholie und der Depression und gerät schließlich in einen Zustand der Raserei und des selbstvergessenen Wahns – er wird mithin zu jenem „uom pazzo“, als dem ihm Angelica (und der noch unwissende Leser bzw. Hörer) bereits vier Gesänge zuvor begegnet waren. Zu dem Zeitpunkt des impazzimento Orlandos im 23. Gesang könnte also der Leser oder Hörer – wenn er denn die zwar bizarre, aber kurze und beiläufig erzählte Episode über der dichten Abfolge sonstigen Geschehens nicht schon längst vergessen hat – erstmals eine begründete Hypothese über die Identität jenes pazzo wagen, der einige Gesänge zuvor so erratisch durch den Text gestreunt war. Explizit vom Erzähler wieder aufgenommen („io vi narrai di sopra“, XXIX, 58, 5) und zu Ende geführt wird diese Mikroepisode aber erst im 29. Gesang (XXIX, 58–66), also geschlagene zehn Gesänge später. Hier wird dann auch endlich die Identität des „uom pazzo“ gelüftet und berichtet, wie Angelica, ohne ihn in seinem völlig verwahrlosten Zustand zu erkennen und ohne ihrerseits von ihm erkannt zu werden, sich seinem gewalttätigen Affront mit Hilfe des magischen Rings, der sie schon vor den Zudringlichkeiten Ruggieros bewahrt hatte, und mit ein wenig Glück entziehen konnte. Zweifellos geht von der Art und Weise, wie in dieser Sequenz unterschiedliche Handlungsfolgen der histoire diskursiv bedacht und zeitlich zueinander in Beziehung gesetzt werden, eine gewisse Irritation aus, ohne dass sich leichthin sagen ließe, worin diese Irritation eigentlich besteht und an welchem Moment der Lektüre oder des Vortrags sie sich einstellt. Grundsätzlich hat man es mit einer Konstellation zu tun, die sich unweigerlich ergibt, wenn mit den Mitteln des Erzählens zwei oder mehr Handlungsstränge parallel geführt werden und an einem bestimmten Punkt konvergieren oder sich kreuzen sollen. Im konkreten Fall ist der eine Handlungsstrang, der ‚Angelica‘-Strang (A), dem anderen, dem ‚Orlando‘-Strang (O), in seiner zeitlichen Entwicklung voraus, d. h. er ist über einen Zeitpunkt hinaus erzählt

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worden, an dem die beiden Ereignisfolgen noch synchron waren. Wenn es unter diesen Voraussetzungen dennoch zu einer Begegnung zwischen dem Personal von A und O kommen soll, heißt dies logischerweise, dass im erzählten Ereigniskontinuum von O eine Diskontinuität, eine Lücke entsteht, die, falls sie nicht trivial ist, früher oder später geschlossen werden muss, wenn die Verhältnisse für den Rezipienten nachvollziehbar und verstehbar werden oder bleiben sollen. Es muss also nachträglich, nach der Zusammenführung der beiden Erzählstränge, ein bestimmtes Quantum an Erzählzeit in O investiert werden, um die Ereignisse auf den Stand zu bringen, an dem sie sich mit A kreuzen. Genau dies, der zeitliche Abgleich oder die Synchronisierung zweier Ereignisfolgen oder Erzählstränge, eine durchaus probate Übung in einem Text wie dem Orlando furioso, geschieht auch hier. Dabei bleiben die chronologischen und kausalen Relationen zwischen den beiden Erzählsträngen zwar durchaus intakt, aber – und darin liegt das ‚extravagante‘ und irritierende Moment der Sequenz – der Abgleich oder die Schließung der Lücke, also der Bericht, wie Orlando in den Zustand geraten war, in dem Angelica ihn in XIX, 42 antraf, erfolgt mit außerordentlicher Verzögerung. Die Textstrecke, die zum Abgleich oder zur Re-Synchronisierung beider Handlungsstränge in Anspruch genommen wird und vom Leser (oder Hörer) überbrückt werden muss, ist mit zehn Gesängen oder mehr als 1100 Oktaven extrem lang. Zur Irritation wird dies freilich für den Rezipienten, sei er ein Leser oder ein Hörer, überhaupt erst, nachdem er die gesamte Textstrecke zurückgelegt hat, also in der Rückschau auf jene Mikroepisode, die erst jetzt, nach Klärung der Identität des in ihr auftretenden pazzo, als Vorschau auf das zentrale Ereignis des impazzimento Orlandos im 23. Gesang erkannt werden kann. Anders gesagt: Der flüchtige Auftritt des dem Wahn verfallenen Orlando kann als Ankündigung eines Zukünftigen erst dann verstanden werden, nachdem dieses Zukünftige tatsächlich eingetreten ist. Nun ließen sich für diese extravagante Zeitdisposition durchaus plausible Gründe in der Ökonomie der structure entrelacée selbst anführen, deren Polyzentrik eben auf dieser Textstrecke ihr Maximum erreicht und die keineswegs auf das Angelica und Orlando betreffende Geschehen beschränkt ist; gerade in den Gesängen XIX–XXIX sind die Zahl parallel geführter Handlungsstränge und die Frequenz von Strangwechseln und damit der Aufwand an Erzählzeit, um das hier besonders dichte narrative ‚Gewebe‘ oder ‚Flechtwerk‘ wieder zu entflechten, am höchsten. Um dies, unter Aussparung weiterer Nebengleise des Geschehens, zumindest anzudeuten:207 Astolfo, Marfisa (von der man später erfahren wird, dass sie die Schwester Ruggieros ist) und weitere Ritter geraten während einer Seefahrt in ein Unwetter. Sie stranden an einem Küstenstrich, der von männermordenden Frauen beherrscht wird, und geraten in deren Gefangenschaft. Um die Freiheit zu erlangen, müssen sie eine Reihe von Proben bestehen. Sie entkommen schließlich mit Hilfe von Guido Selvaggio, einem jüngeren Bruder Rinaldos (was freilich auch erst zu einem späteren Zeitpunkt offenbart wird). Marfisa, nachdem sie sich von den anderen getrennt hat, trifft auf Zerbino, mit dem sie sich duelliert. Zugleich setzt sich die bereits im 12. Gesang einsetzende Erzählung um 207 Zu einer systematischen Bestandsaufnahme dieser und anderer Sequenzen s. Brand 1977, bes. S. 524.

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die bösartige, mit ihrer Heimtücke viel Unheil stiftende Gabrina fort und endet mit deren gewaltsamen Tod im 24. Gesang. Unterdessen gelangt Astolfo, nachdem er mit dem Flügelpferd Ippogrifo ganz Europa bereist hat, zum Schloss des Magiers Atlante. Mit den ihm zu Verfügung stehenden magischen Utensilien bricht er den Zauber dieses Schlosses und befreit zahlreiche in ihm gefangen gehaltene Ritter, darunter Ruggiero und Bradamante, die auf diese Weise endlich – wenn auch nur vorübergehend – zusammenfinden. Beide befreien in der Folge die Ritter Aquilante, Grifone und Guidone aus unrühmlicher Knechtschaft. Bradamante verfolgt und tötet den intriganten Pinabello, verliert darüber aber Ruggiero wieder aus den Augen. Astolfo reist weiterhin auf dem Ippogrifo durch die Welt und Bradamante begibt sich in ihr Elternhaus in Montalbano. Zerbino wird unterdessen zu Unrecht angeklagt, Pinabello getötet zu haben. Orlando rettet Zerbino vor der Hinrichtung und führt ihn mit seiner Geliebten Isabella zusammen. In der Folge kommt es zu einem Duell zwischen Orlando und Mandricardo um den Besitz des Schwertes Durindana. Das Duell bleibt jedoch ohne einen Sieger, weil Mandricardos Pferd durchgeht. Anschließend stößt Orlando auf jene fatalen Inskriptionen, die das Liebesverhältnis Angelicas und Medoros verewigen; er verliert den Verstand, wird zur marodierenden Bestie und verwüstet ganze Landstriche. Zerbino, seinem Retter treu ergeben, verteidigt unterdessen Orlandos Waffen, deren dieser sich im Zustand des Wahns entledigt hatte, gegen die Ansprüche Mandricardos und verliert darüber sein Leben. Mandricardo und Rodomonte duellieren sich um die schöne Doralice, unterbrechen ihr Duell aber, um ihrem gemeinsamen König Agramante, der sie zu Hilfe gerufen hat, beizustehen. Ruggiero rettet Ricciardetto, den Zwillingsbruder der geliebten Bradamante, vor dem Scheiterhaufen. Ricciardetto erzählt, wie er in diese missliche Lage kam. Ruggiero schreibt einen Brief an Bradamante. Zusammen mit Marfisa und Ricciardetto kämpft er gegen die bösen Maganzesi. Es kommt zu mehreren Duellen, an denen u. a. Rodomonte, Mandricardo und Ruggiero beteiligt sind. Erneute Schlacht um Paris. Der Erzengel Michael stiftet persönlich Zwietracht im Lager der Sarazenen. Die von beiden umworbene Doralice entscheidet sich für Mandricardo und gegen Rodomonte. Dieser verlässt daraufhin verbittert das sarazenische Heerlager. Um seinen misogynen Zorn zu besänftigen, wird ihm in einem Gasthaus die Geschichte der treulosen Fiammetta erzählt (auf die ich sogleich ausführlich zurückkomme). Weiterziehend trifft Rodomonte auf die über den Tod ihres geliebten Zerbino verzweifelte Isabella und tötet sie unwillentlich. Zur Buße errichtet er ein Grabmal für das Liebespaar und fordert jeden, der sich diesem nähert, zum Duell. Der wahnsinnig gewordene, nackt umherstreifende Orlando stößt auf dieses Grabmal und liefert sich mit Rodomonte einen eher unritterlichen Ringkampf, bei dem beide in einen Fluss stürzen. Wenig später kommt es zu jener Begegnung Angelicas und des Orlando impazzito am Strand von Barcelona. Es gibt also in dieser Sequenz von zehn Gesängen einiges zu erzählen. Die extreme Verzögerung in der Re-Synchronisierung zweier Erzählstränge und damit der Aufklärung der kuriosen Strandszene mag in dieser Ereignisdichte eine gewisse Rechtfertigung und Plausibilität finden. Diese Plausibilität wird aber dadurch wieder in Frage gestellt, dass keinerlei handlungslogische Notwendigkeit oder die Spannung steigernde Funktion zu erkennen ist, welche es nahegelegt hätten, die

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Episode um Orlandos und Angelicas letzte Begegnung, die dann im 29. Gesang auserzählt wird, schon zehn Gesänge zuvor und auf so änigmatische Weise zu initialisieren und damit ohne Not die zu diesem Zeitpunkt ohnehin extrem komplexe Intrigenstruktur weiter zu verkomplizieren. Ganz offensichtlich liegt der intendierte Effekt dieser willkürlich und ‚unproportioniert‘ erscheinenden Distribution von Erzählzeit eben darin, den Fokus des Rezipienten – der jetzt nun unbedingt als Leser zu denken ist – auf das Verfahren selbst auszurichten, genauer gesagt, auf ein Erzählsubjekt, das über die Zeit der Geschichte verfügt, indem es über die Erzählzeit verfügt und diese nach Belieben kontrahieren oder, wie in diesem Fall, dilatieren kann. Die über zehn Gesänge zerdehnte Sequenz um den zum pazzo gewordenen Orlando und die vorzeitige ‚Präfiguration‘ dieses Zustands im narrativen Diskurs hat insgesamt nicht viel analytische Zuwendung erfahren. Ausführlich geht allerdings Marco Praloran in seiner Analyse der temporalen Strukturen des Furioso auf diese Sequenz ein.208 Praloran, der die bislang ambitionierteste und eingehendste Untersuchung der den Furioso bestimmenden Zeitordnung vorgelegt hat, akzentuiert diese Ordnung vor der Folie des mittelalterlichen Prosaromans, namentlich des Lancelot. In diesem sei, so Praloran, trotz der Komplexität des entrelacement und der Vielzahl ineinandergeschobener Handlungssequenzen, die Darstellung der Zeit objektiv; ein aufmerksamer Leser könne zeitliche und kausale Relationen des erzählten Geschehens als transparent und intelligibel erkennen: „the representation of time in the great medieval prose romances, above all in the Lancelot, is still aimed at making events intelligible.“209 Dagegen werde im Furioso „the idea of an objective temporality“ systematisch unterminiert;210 Ariosts Zeitkonzeption vereitele die Einsicht des Lesers in chronologische und logische Strukturen der polyphonen Erzählung: „Ariosto’s conception of time actually hinders the reader’s cognitive process.“211 Praloran kommt schließlich zu folgendem Befund: The representation of time, its form and organization, becomes an almost illegible cipher, subordinated to a narrative project that disables the causal interpretation of events by undermining the coherence of their temporal relations. If we are unable to say what happens first and what happens later, how can we formulate even the slightest interpretation of phenomena? Insofar as our understanding of the temporal priority of different strands of the plot is always belated, we cannot help but perceive the narrated world as chaos. Ariosto’s narrative technique is the formal correlative of this world-chaos, governed by the narrator and fully comprehended only by him: the narrator as artifex.212

Gegen Pralorans Analyse und Befund ergeben sich freilich Einwände.213 Selbst wenn man ihm die emphatische Einfühlungshermeneutik („we are unable to say“; 208 209 210 211

S. Praloran 1999, bes. S. 40–55. Praloran 2015, S. 181. S. auch Praloran 1999, S. 7. Ebd. S. 179. Ebd. S. 182. Zu der Annahme, dem Erzählen Ariosts läge eine „conception of time“ zugrunde, siehe oben, S. 68. 212 Ebd. S. 182. 213 Nicht näher eingehen will ich hier auf Pralorans Behauptung, im arthurischen Prosaroman komme eine ‚objektive‘ Zeit zu vollkommen transparenter Darstellung – eine These, die auch von Lot vertreten worden war, die aber neuerer Forschung durchaus anfechtbar zu sein scheint.

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„our understanding“; „we cannot help but“) als rhetorische Didaxe nachsieht, bleibt doch seine Modellierung des Lektüreprozesses irritierend. Der kognitive Prozess, von dem Praloran spricht und der angeblich von Ariosts „conception of time“ gestört oder sogar sabotiert werde, entfaltet sich ausschließlich in linearer Sukzession und ist tatsächlich eher der eines Hörers als der eines Lesers.214 Allenfalls einem Hörer, der darauf angewiesen ist, die schnell aufeinanderfolgenden Volten von Ariosts Erzählung in seinem Gedächtnis zu speichern, wäre die kognitive Resignation hinsichtlich der Verstehbarkeit der erzählten Welt, die Praloran konstatiert, zu konzedieren. Ein kompetenter Leser hingegen – und auch Praloran legt seinen Analysen ganz explizit einen solchen kompetenten oder sogar ‚idealen‘ Leser zugrunde, den er einem „lettore pigro e distratto, con la memoria corta“215 gegenüberstellt – würde, wenn er denn nicht über ein so exzeptionelles Gedächtnis verfügt, dass ihm die gesamte schon zurückgelegte Textstrecke sozusagen synoptisch gegenwärtig ist, die Option eines Zurückblätterns bis zu jener Mikroepisode im 19. Gesang, die seinem Gedächtnis wahrscheinlich bis zu ihrer Reprise im 29. Gesang längst entschwunden ist, nutzen; er nutzte mithin die Möglichkeit einer Relektüre der ganzen Sequenz, durch die überhaupt erst die Extravaganz der Ariost’schen Zeitdisposition in diesem konkreten Fall offenbar wird. Gleichfalls offenbar wird erst durch die Relektüre (oder jedenfalls durch retrospektive Vergegenwärtigung der Sequenz in ihrer Gesamtheit), dass die erzählten Verhältnisse zwar verwickelt sein mögen, aber durchaus intelligibel sind. Denn tatsächlich – und dies ist ein weiterer Einwand gegen Praloran – ist gegen die Logik von Ariosts Zeitdisposition in dieser Sequenz, wie weiter oben bereits konstatiert, nichts einzuwenden und die Chronologie und Kausalität der erzählten Ereignisse sind sehr wohl intakt. Die Feststellung, die „causal interpretation of events“ sei vereitelt, weil „the coherence of their temporal relations“ unterminiert sei, ist m. E. nicht zutreffend; freilich ist diese kausale Interpretation, weil sie sich – ganz so wie in der realen Welt – in der Zeit vollzieht, durch die Komplexität der erzählten Verhältnisse und ihrer zeitlichen Relationierung erschwert. Was Praloran hier und auch an anderer Stelle ausblendet oder jedenfalls in seiner Relevanz für die Textkonstitution unterschätzt, ist das Verhältnis von discours und histoire, von Erzählerdiskurs und erzähltem Geschehen. Der „cognitive process“, der von Strukturkomplikationen wie der hier besprochenen gefordert ist, richtet sich nicht oder nicht in erster Linie auf die Dechiffrierung der zwar komplexen, aber durchaus intelligiblen temporalen und kausalen Ordnung der erzählten Welt, sondern auf den Erzählvorgang und dessen Subjekt, das, als „figure of the S. hierzu etwa, mit Bezug auf den Prosa-Lancelot, Kennedy 1994, bes. S. 40 ff. Insbesondere die jüngere Mediävistik verwendet in ihrem Bestreben, die irreduzible Alterität mittelalterlicher Diskurse zu erweisen, viel Mühe darauf, für mittelalterliche Erzähltexte gerade eine Koexistenz oder vielmehr Interferenz ganz unterschiedlicher und aus moderner Sicht inkommensurabler – historischer, mythischer, subjektiver und objektiver – Zeitordnungen geltend zu machen. S. hierzu Störmer-Caysa 2007. 214 Dies verwundert umso mehr, als Praloran die zahlreichen Hörerapostrophen und überhaupt die fingierte oder simulierte Oralität des Erzählerdiskurses im Furioso, auf die ich in Kapitel 1 ausführlich eingegangen bin, ansonsten vollständig ausblendet. 215 Praloran 1999, S.12.

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poet“, als textinterne Agentur des Autors, für diese Ordnung verantwortlich ist. Nur scheinbar kommt Praloran am Ende des obigen Zitats zu einem ähnlichen Befund, wenn er vom „narrator as artifex“ spricht. Der Erzähler und überhaupt die Ebene des Erzählerdiskurses spielen aber ansonsten in Pralorans gesamter Analyse so gut wie keine Rolle, so dass dieses Resümee an dieser Stelle recht überraschend ist. Tatsächlich gelingt es Praloran in seinen zahlreichen und in großen Teilen instruktiven Publikationen zum Strukturwandel des entrelacement zwischen Lancelot en prose und Ariost zu der einschlägigen Formularik und damit zum Moment der Subjektivierung, das dieser inhärent ist, kaum ein Wort zu verlieren – und damit natürlich auch nicht zur Modifikation und Transformation dieser Formularik, die das Erzählsubjekt immer stärker ins Zentrum des Diskurses rücken lässt und es mit zunehmend größeren Vollmachten ausstattet. Unbeachtet und unreflektiert bleibt damit auch das Verhältnis von Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit, dessen Paradoxalisierung, wie ich zu zeigen versucht habe, die temporale Struktur des Ariost’schen Erzähluniversums nicht nur affiziert, sondern für sie konstitutiv ist.216 Der selbstreflexive Erzähler als dem Text eingeschriebenes operatives Agens des narrativen Diskurses liegt vollständig im toten Winkel von Pralorans Analyse. So verwundert auch nicht, dass Praloran die ostentative Aleatorik des Erzählerdiskurses ignoriert und offenkundig keinen Blick hat für dessen Ironie und Fiktionsironie. Als symptomatisch und vielleicht auch ursächlich für diese blinden Flecken erscheint mir, dass die cantari als eine wichtige Etappe in der Genealogie der Texte zwischen Lancelot und Orlando furioso bei Praloran nur als Verfallsstufe des entrelacement vorkommen, bevor Boiardo und Ariost die potentielle Komplexität dieser Erzählweise, die sie in den französischen Erzähltexten auszeichnete, mit neuen Elementen und nach veränderten Parametern wiederherstellen. Wenngleich es sicher zutrifft, dass in den Cantari das entrelacement zu einem weitgehend mechanisch eingesetzten Verfahren der bloßen aggregativen Aneinanderreihung disparater Erzählsequenzen trivialisiert wird, ist doch ebenso wahr, dass sie dem Erzählsubjekt gegenüber dem arthurischen Prosaroman eine größere Prominenz verleihen sowie dem epischen oder romanzesken Diskurs gleichsam die Register der Oralität als Stilelement verfügbar machen und damit erzählerische Optionen eröffnen, die zur ‚Renaissance‘ des entrelacement bei Boiardo und Ariost ganz entscheidend beitragen.217 Mit dem „narrator as artifex“ rekurriert Praloran lediglich auf einen spätestens seit Durling („deus occasionatus“) etablierten Topos der Ariost-Forschung, ohne dass dieser Rekurs durch eine vorhergehende Analyse vorbereitet und gedeckt wäre. Zugleich ist die Erkenntnis der Zentralstellung des Erzählers seltsam subjektlos. Wenn dem Leser (der, wie gesagt, bei Praloran nur mit den rezeptiven Kapazi216 Nur angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass die genealogische Programmatik und Erzählstruktur des Orlando furioso von Praloran ebenfalls komplett ignoriert werden; unter den Tisch fällt damit eine sehr spezifische und prinzipiell rigide, nämlich geschichtlicher Finalität unterworfene Relationierung von Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit, die zwar, wie gesehen, bei Ariost ‚dekonstruiert‘ wird, aber gleichwohl für die Zeitstrukturen, die Praloran untersucht, einen wesentlichen Parameter darstellt. 217 Grundlegend hierzu Cabani 1988. S. ferner Bruscagli 2003a, S. 31 f.

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täten eines Hörers ausgestattet ist) lediglich Ratlosigkeit oder auch fasziniertes Staunen über das Chaos der erzählten Welt zugebilligt wird – „we cannot help but perceive the narrated world as chaos“ – und dieses „world-chaos“ nur vom Erzähler wirklich verstanden – „fully comprehended“ – werden kann, wer (außer Praloran) bliebe dann, der zu eben dieser Einsicht noch imstande wäre und sie formulieren könnte? Tatsächlich wird aber genau diese Erkenntnis beim – vorzugsweise lesenden – Rezipienten durch die extravagante Zeitbehandlung in dieser Sequenz, die aufgeschobene Synchronisierung der Zeitzustände unterschiedlicher Geschehensfolgen, nicht etwa sabotiert, sondern befördert. Der Erzähler indessen „versteht“ die erzählte Welt nicht nur, sondern er bringt sie hervor, ist ihr, wie auch Praloran erkennt, artifex – oder aber ihr Regisseur, der seine Figuren auf die Bühne des Geschehens schickt oder von dieser abzieht, wie es ihm beliebt, eventuell auch zur Unzeit oder vorzeitig. In der Exponierung und Selbstinszenierung des Erzählsubjekts als souveräner oder sogar aleatorischer Schöpfer und Organisator der erzählten Welt und ihrer temporalen Struktur liegt die eigentliche Pointe dieser Sequenz bzw. ihrer extremen Zerdehnung und zugleich wohl auch der entscheidende Unterschied zur Zeitverwaltung des mittelalterlichen Romans, nicht aber in dessen angeblich größerer Transparenz oder Intelligibilität. Zugleich wird auch hier zu verstehen gegeben, dass die ‚Einheit‘ der Geschichte keine ihr inhärente Eigenschaft ist, sondern im ihr geltenden narrativen Diskurs erst generiert wird. 5.2 DIE FIAMMETTA-EPISODE (O. F. XXVII, 137–XXVIII, 75): ZIRKULARITÄT UND KONTINUITÄT Die durch ein langes Intervall von zehn Gesängen unterbrochene oder zerdehnte Episode um die Begegnung Angelicas und des mit Wahnsinn geschlagenen Orlando führt ein weiteres Mal und in diesem Fall besonders drastisch vor Augen, dass die Zeitenfolge der erzählten Welt und damit die Geschichte vollständig der Verfügungsmacht des Erzählers unterliegen. Die erzählte Vergangenheit und die Erzählgegenwart ziehen sich ihm, aber auch dem Leser – jedenfalls nachdem dieser die gesamte Textstrecke bewältigt hat – zu einer einzigen Gegenwart, zu einem Kontinuum zusammen, in dem die aufeinanderfolgenden Einzelereignisse einander kopräsent sind. Der Effekt einer Vergleichzeitigung von Erzählgegenwart und erzählter Vergangenheit kommt hier aber auf andere und diskretere Weise zustande als in jenen performativen und metaleptischen Interventionen des Erzählers, die ich in den vorangegangenen Kapiteln als Manifestationen einer ‚Poetik der Präsenz‘ behandelt habe. Noch einmal anders zeigt sich dieser Effekt im folgenden Beispiel, einer ausgedehnten Binnenerzählung. Binnenerzählungen oder Erzählungen zweiten Grades machen, wie beiläufig und indirekt auch immer, das Erzählen selbst zum Thema und tragen insofern metanarrative Valenzen. Insbesondere replizieren sie die Grenze zwischen erzählender und erzählter Welt (respektive die zwischen Fiktion und Realität oder Dichtung und Wahrheit) innerhalb der Fiktion selbst und machen diese Grenze dadurch schleifbar oder transgredierbar. Im Furioso gibt es zahlreiche, zum Teil umfangreiche und in der Forschung zumeist als ‚Novellen‘ bezeichnete Erzählungen zweiten Grades, deren Einsatz und Funktion sich signifi-

5.2 Die Fiammetta-Episode (O. F. XXVII, 137–XXVIII, 75)

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kant unterscheiden von seinen Vorgängertexten, einschließlich Boiardos Orlando innamorato.218 Eine der längsten und in ihrer Gestaltung aufwendigsten Binnenerzählungen des Furioso ist die Geschichte um den römischen Adligen Iocondo, den Langobardenkönig Astolfo (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Paladin und Protagonisten der Mondreise) und die schöne Fiammetta. Diese Geschichte, eine Quelle für Mozarts und Da Pontes Così fan tutte sowie zahlreicher Nacherzählungen und in der Literatur häufig als Fiammetta-Episode behandelt, soll exempelhaft belegen, dass selbst Frauen, deren Ruf als untadelig und deren Keuschheit als vorbildlich gilt, jederzeit verführbar und zu Treulosigkeit und Ehebruch aufgelegt sind.219 Die Episode fügt sich dem Horizont einer querelle des femmes ein, die im gesamten Orlando furioso immer wieder verhandelt wird und die als eines seiner, allerdings höchst widerspruchsreich verarbeiteten Hauptthemen betrachtet werden darf.220 Jedem Exempel kann umgehend ein anderes, das Gegenteil belegendes, gegenübergestellt werden, solchermaßen das Prinzip des exemplum selbst unterminierend. So folgt der Fiammetta-Episode auf dem Fuße das anrührende Beispiel Isabellas (deren Namenspatronin Isabella d’Este sein soll), das selbst dem aus grobem Holz geschnitzten und intransingenten Rodomonte den Beweis unbeirrbarer weiblicher Treue auch über den Tod des Geliebten hinaus liefert. Auch sonst wird eine verwirrende Vielzahl gegensätzlicher Auffassungen vertreten, die einerseits auf die Figuren der Handlung verteilt sind, andererseits aber in ihrer ganzen kontradiktorischen Spannweite vom Erzähler in propria persona vertreten werden, wodurch jede ‚Autorisierung‘ einer Position als die gültige nachhaltig vereitelt wird.221 Die in ihrer zentralen Aussage misogyne Fiammetta-Erzählung und vor allem ihre Exposition liefern dafür ein Beispiel von geradezu maliziöser Mehrdeutigkeit. Mir geht es hier allerdings nicht um die Gender-Thematik dieser Binnenerzählung, sondern um den recht komplizierten Modus ihrer fiktionsimmanenten Tradierung, der auch von einigem Aufschlusswert für die temporalen Strukturen und Hierarchien des Furioso ist. Die im Kontext der Frauendarstellung des Furioso häufig besprochene Fiammetta-Episode ist hinsichtlich ihrer besonderen Modalisierung eher unbeachtet geblieben, auch von Praloran, obwohl sie vielleicht eher als andere seiner Beispiele geeignet gewesen wäre, die These einer ‚illusionistischen‘ Zeitbehandlung Ariosts zu stützen. Der unmittelbare Handlungskontext der Episode wurde im vorangegangenen Teilkapitel bereits angedeutet: Der heidnische Ritter Rodomonte ist soeben von seiner Braut zugunsten eines Rivalen verlassen worden. Verbittert verlässt er daraufhin das sarazenische Heerlager und ergeht sich, ziellos umherirrend, in rüden Tiraden gegen das weibliche Geschlecht:

218 S. hierzu Gómez-Montero 1996 sowie Izzo 2008 und 2013. Ferner Bruscagli 2003a, S. 27 f. 219 Zur Fiammetta-Episode und Mozarts Così fan tutte s. Caruso 1994 sowie Anderson 2017. 220 S. hierzu Durling 1965, S. 150–176; Santoro 1973; Benson 1979; Hempfer 2002 (11983) u. 2013; Shemek 1998 und Shemek 2018; Finucci 1999; MacCarthy 2007a. 221 S. hierzu Hempfer 1989a und Hempfer 1995.

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5 Extravagante zeitliche Verhältnisse Credo che t’abbia la Natura e Dio produtto, o scelerato sesso, al mondo per una soma, per un grave fio de l’uom, che senza te saria giocondo: come ha produtto anco il serpente rio e il lupo e l’orso, e fa l’aer fecondo e di mosche e di vespe e di tafani, e loglio e avena fa nascer tra i grani. (O. F. XXVII, 119, 1–4)

Eben für diese verbalen Ausfälle seiner Figur entschuldigt sich der Erzähler in jener früher bereits zitierten und ausführlich besprochenen metaleptischen Einlassung bei seinem weiblichen Publikum und kündigt „con penna e con inchiostro“ zu vollziehende Vergeltung an.222 Rodomonte kehrt schließlich in einem Gasthaus ein. Dessen Wirt, in der Absicht, seinen aufgebrachten Gast zu beschwichtigen, indem er seine Ressentiments bestätigt, erzählt nun jene frivole und in ihren Details auch ungewöhnlich obszöne Geschichte, die eine universelle Promiskuität der Frauen bezeugen soll. In dem Proömium, das den die Fiammetta-Episode enthaltenden Gesang einleitet, rät der Erzähler seinem Publikum, das hier ein einziges Mal ausdrücklich als Lesepublikum adressiert wird („Passi, chi vuol, tre carte o quattro, senza leggerne verso“; O. F. XXVIII, 3, 1–2), vom Lesen der Geschichte nachdrücklich ab, wobei allerdings auch an dieser Stelle, in gewohnter Manier, die erwartete Rezeption sogleich wieder ‚auralisiert‘ wird („non date […] orecchia“): Donne, e voi che le donne avete in pregio, per Dio, non date a questa istoria orecchia […] (O. F. XXVIII, 1, 1–2)

Die vom Wirt vorgetragene Erzählung sei vulgär; nicht aus „malivolenzia“ füge er sie ein, sondern weil die testimoniale Quelle, aus der zu schöpfen er vorgibt, die Chronik des Erzbischofs Turpin, sie nun einmal enthalte. Nur um seiner Chronistenpflicht gerecht zu werden, so scheint er dem Leser oder Hörer Glauben machen zu wollen, trage auch er sie vor: Lasciate questo canto, che senza esso può star l’istoria, e non sarà men chiara. Mettendolo Turpino, anch’io l’ho messo, non per malivolenzia né per gara. (O. F. XXVIII, 2, 1–4)

Wer die Geschichte trotz dieser Warnung lesen wolle, bedenke, dass ihr nicht mehr Glauben zu schenken sei als „finzioni“ und „fole“ (ebd. 3, 4). Die Überlieferungsfolge für die erzählte Geschichte um Iocondo, Astolfo und Fiammetta stellt sich damit zunächst folgendermaßen dar: Der Erzähler beruft sich auf Turpin, dieser wiederum delegiert (wenn man die vom Erzähler behauptete Filiation beim Wort nehmen will) die Autorschaft der Geschichte an jenen Wirt. Der Wirt indessen weiß nun seinerseits eine Quelle für seine Geschichte anzugeben: Ein Gian Francesco 222 Siehe oben, S. 34 f. und S. 112.

5.2 Die Fiammetta-Episode (O. F. XXVII, 137–XXVIII, 75)

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Valerio, „gentilomo di Vinegia“ (O. F. XXVII, 137, 7), der einst als Gast bei ihm weilte, habe sie, neben weiteren „veri esempi“ (ebd. 5), zum Besten gegeben. Für die eingelegte Fiammetta-Erzählung ergibt sich damit eine recht aufwendige fiktive Tradierungssequenz: Der Erzähler beruft sich auf Turpin, dieser auf den Wirt, dieser wiederum auf Valerio – oder, anders gesagt: Der Erzähler erzählt, dass Turpin erzählt habe, dass der Wirt erzählt habe, dass Valerio erzählt habe. Ihre ironische Pointe findet diese Abfolge nun darin, dass es sich bei jenem Valerio um eine historisch referentialisierbare Gestalt handelt, und zwar einen unmittelbaren Zeitgenossen des Autors Ariost. Gian Francesco Valerio (oder, nach venezianischer Lesart, Valier), der u. a. mit Bembo, Castiglione und Bibbiena befreundet war, soll bedeutenden Anteil an der endgültigen toskanisierenden Redaktion von Castigliones Cortegiano gehabt haben.223 Valerio selbst präsentiert sich in einem Brief an Gian Francesco Gonzaga, auf den Bigi in seinem Kommentar (Ariosto 1982) dieser Stelle verweist, als Autor von „novelluzze“, die freilich nicht erhalten und auch nirgendwo sonst belegt sind. Wenngleich die amouröse Geschichte um den König Astolfo in wesentlichen Bestandteilen bereits vor Ariost bekannt war und im Druck zirkulierte,224 vermuten einige Kommentatoren in den verlorenen Novellen Valerios eine weitere Quelle Ariosts für die Fiammetta-Erzählung, in der verschiedene Stoffe kontaminiert werden, darunter auch eine Erzählung aus Tausendundeiner Nacht, die Ariost wohl unmittelbar nicht gekannt haben kann, da sie in Europa erst im 18. Jahrhundert in schriftlicher Fixierung belegt ist, die aber dem über Orientkontakte verfügenden Venezianer Valerio und über ihn auch Ariost zu Ohren gekommen sein könnte.225 Indizien für einen derartigen Überlieferungszusammenhang könnte man nicht zuletzt darin erkennen, dass die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht ihren Impuls bekanntlich ebenfalls in einem misogynen Generalverdacht gegen das weibliche Geschlecht finden und des Weiteren natürlich in der Verschachtelungsstruktur der Fiammetta-Episode, die Gattungsmerkmal schlechthin auch der Erzählungen Scheherazades ist. Dies alles ist freilich spekulativ. Immerhin sorgt Ariost dafür, dass über die Identität des vom Wirt zitierten Valerio kein Zweifel bestehen kann. Valerio begegnet dem Leser nämlich noch ein zweites Mal im Orlando furioso; in der schon mehrfach erwähnten Invokation des Schlussgesanges, die ein wohlwollendes und kompetentes Publikum aus Dichtern und Gelehrten für den seinem Finale zustrebenden Text beschwört, wird er vom Erzähler freundschaftlich als „il mio Valerio“ (O. F., XLVI, 16) apostrophiert und wiederum als Frauenverächter („quel che là s’è messo fuor de le donne“; ebd.) ausgewiesen. Valerio erscheint also sowohl als Figur der histoire wie auch als deren textimmanent namentlich aufgerufener Leser oder narrataire. Damit wird aber die behauptete Überlieferungsfolge als rekursiv kenntlich: Während die wohldefinierte zeitliche Distanz von Erzählergegenwart (Ferrara zur Zeit Alfonsos und Ippolitos d’Este) und erzähltem Geschehen (Zeit Karls des Großen) in säkularen Einheiten sich bemisst, soll Valerio zugleich an jenem Geschehen partizipiert haben wie auch als 223 S. Ghinassi 1963. 224 S. Beer 1987, S. 239 u. S. 255, A. 86. 225 S. Bigi im Kommentar der hier benutzten Ausgabe des Orlando furioso (Ariosto 1982), aber auch schon Rajna 1900, S. 387 f.

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5 Extravagante zeitliche Verhältnisse

potentieller Leser des Orlando furioso in Frage kommen. Die Quelle der Geschichte um die schöne Fiammetta wird also in einer ganzen Tradierungskaskade immer weiter in die Vergangenheit verlagert, um schließlich wieder an ihrem Ausgangspunkt, der Gegenwart des extradiegetischen Erzählers, anzugelangen.226 Zunächst dürfte es sich dabei einfach um ein scherzhaftes Spiel mit Namensreferenzen auf Zeitgenossen handeln, die zugleich potentielle Leser des Orlando furioso sind und bei denen es sich nicht um Herrscherfiguren wie Ippolito, Alfonso usw. handelt, sondern um dem Autor gleichrangige und deshalb für dergleichen vertrauliche Späße zur Verfügung stehende Personen. An anderer Stelle und auch in diesem Fall im Zusammenhang mit Autorisierungs- und Wahrheitsfragen wird etwa Federigo Fregoso, ein Teilnehmer des in Castigliones Cortegiano dargestellten Dialogs, herbeizitiert, wenn auch nicht, wie Valerio, als personaggio der Erzählfiktion selbst, sondern als deren Kritiker, dem es zu antworten gilt.227 Indem Ariost Valerio als Figur einer Binnenerzählung einführt, schlägt er darüber hinaus fiktionsironisches Kapital aus den spezifischen Möglichkeiten von Text-im-Text-Strukturen, nämlich zwischen den verschiedenen Ebenen der Erzählung, die immer auch unterschiedliche Wirklichkeitsebenen repräsentieren, Identitätsrelationen zu postulieren, die entweder logisch oder empirisch unmöglich sind. Im vorliegenden Fall werden dem real existierenden Valerio unterschiedliche ‚historische‘ Prädikate zugewiesen – Zeitgenosse sowohl Karls des Großen wie auch des Autors des Orlando furioso zu sein –, die offenkundig unvereinbar sind.228 Die primäre Pointe dieses ‚Scherzes‘ liegt natürlich darin, dass die ‚Autorisierung‘ der eingelegten Geschichte, die durch jene anscheinend gewissenhaft notierte Abfolge von ‚Quellen‘ gewährleistet sein soll, jetzt, nachdem diese Abfolge sich als zirkulär erweist, ad absurdum geführt ist. Ad absurdum geführt sind damit auch die ostentative Entrüstung und Apologie des Erzählers, der sich auf vorgeblich nur widerwillig erfüllte Chronistenpflichten berufen hatte. Die Position des Erzählers in der ‚Frauenfrage‘ bleibt also zumindest ambivalent. Zugleich wird aber der Versuch, diese Ambivalenz oder gar dezidierte Misogynie zu verschleiern, mit dreister Beiläufigkeit offengelegt. Daraus mag seinerseits eine Art Sympathiebonus für den Erzähler (und letztlich für den Autor) resultieren, der nichts mit seiner ideologischen Position in der Frauenfrage zu tun hat, sondern ausschließlich von der sprezzatura seines durchsichtigen argumentativen Manövers profitiert. Die donne, die hier explizit ad-

226 Als visuelle Veranschaulichung dieser rekursiven Abfolge mag man an bestimmte Graphiken M. C. Eschers denken, die etwa eine Treppe oder einen Wasserfall zeigen, die immer wieder in sich selbst einmünden und keinen Anfang und kein Ende zu haben scheinen. 227 S. hierzu unten, A. 411. 228 Ich habe an anderer Stelle die Fiammetta-Episode genauer und unter Aufbietung eines Diagramms (und vielleicht etwas pedantisch) analytisch aufgeschlüsselt, um an ihr ein Modell für Ebenentransgressionen zu gewinnen, die sich von metaleptischen oder (pseudo-)performativen Transgressionen pragmatischer Niveaus grundlegend unterscheiden. S. Häsner 2005, Kap. 3.6.2. Dort zeige ich auch, dass die viel ausgedehnteren und spektakuläreren Fiktionsbrüche im zweiten Buch des Don Quijote (Don Quijote und Sancho Pansa erfahren, dass Heldentaten, die sie noch gar nicht vollbracht haben, gleichwohl schon in einem Buch niedergeschrieben sind u. a.) im Prinzip ähnlich funktionieren wie die Fiammetta-Episode.

5.2 Die Fiammetta-Episode (O. F. XXVII, 137–XXVIII, 75)

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ressiert werden, dürften jedenfalls, sofern sie aufmerksame Leserinnen oder Zuhörerinnen waren, von diesem Manöver eher amüsiert als empört gewesen sein. Die zirkuläre Chronologie der Fiammetta-Episode hat aber, wie ich glaube, eine zusätzliche Pointe, die über einen bloßen Scherz hinausgeht und von der dahingestellt sei, ob sie auktorialer Intention entspringt oder einfach ein Sekundäreffekt spielerischen Umgangs mit den Möglichkeiten der Erzählung in der Erzählung ist. Der stets ironische Bezug auf Turpin erfährt in der Tradierungskette der Fiammetta-Episode eine weitere Variation. Während Turpin und seine Chronik ansonsten als ultimative, auf vorgeblicher Augenzeugenschaft beruhende schriftliche Quelle des erzählten Geschehens aufgerufen werden, sind in diesem Fall zusätzliche, nunmehr mündliche Quellen im Spiel, auf die Turpin seinerseits rekurriert haben soll. Eine dieser Quellen ist jener Wirt, den man sich als Zeitgenossen Turpins vorzustellen hat, die andere, wie gesehen, ein Zeitgenosse des Erzählers, und damit des Autors Ariost. In dieser rekursiven Tradierungschronologie kann man aber die Logik genealogischen Erzählens oder genealogischer Geschichtsschreibung, auf die Ariost im Proömium des Furioso sich zu verpflichten vorgibt, abgebildet und zugleich bloßgestellt finden. Diese Logik beruht auf dem Postulat unbedingter Kontinuität geschichtlichen Geschehens und dieses bezeugender, lückenloser Überlieferungsketten, die eine ruhmreiche Gegenwart mit einem ebenso ruhmreichen Ursprung verbinden. Diese Überlieferungsketten der Genealogie sind aber in Wirklichkeit Rückprojektionen aus der Perspektive der Gegenwart in eine weitgehend unbezeugt gebliebene und amorphe Vergangenheit, die erst durch ihre (Re-)Konstruktion a posteriori zu ‚Geschichte‘ wird. Bereits die Dichtungsapologie des Apostels Johannes legte diese Schlussfolgerung nahe, die von der zeitgenössischen Praxis des genealogischen Diskurses, in dessen Kontext der Orlando furioso zu sehen ist, bestätigt wird. Im folgenden Kapitel wird davon noch eingehender die Rede sein. Die beiden Sequenzen, die ich in diesem Kapitel vor allem hinsichtlich ihrer Zeitbehandlung untersucht habe, funktionieren durchaus unterschiedlich. Die mit der zunächst rätselhaften ‚Präfiguration‘ des irrsinnig gewordenen Orlando ihren Anfang nehmende Sequenz spielt mit dem Unerwarteten, die Fiammetta-Episode darüber hinaus mit dem Unmöglichen. Beide Episoden ähneln sich aber insofern in ihren Effekten, als sie in sinnfälliger und prägnanter Weise eine Manipulation zeitlicher Verhältnisse vorführen – die erste Episode eine Manipulation der Erzählzeit, die zweite eine Manipulation der erzählten Zeit. Im ersten Fall erscheint die zeitliche Ordnung irritiert durch den extremen Aufschub einer für die narrative Kohärenzstiftung unerlässlichen Informationsvergabe, ein Aufschub, der nicht als erzählökonomische Notwendigkeit, sondern ausschließlich als Ostentation erzählerischer Dispositionsgewalt plausibel wird. Im zweiten Fall, der Fiammetta-Episode, hat man es mit einer vollständigen Inversion der Chronologie zu tun – einer ‚Genealogie‘ von Erzählern oder ‚Quellen‘, in der die jüngste, der Gegenwart des Erzählers zugehörige Station zugleich an den Anfang der Tradierungssequenz rückt. In unterschiedlicher Weise bezeugen beide Episoden jene ‚Poetik der Präsenz‘, die ich bislang vor allem in der metaleptischen Performativierung des entrelacement sich manifestieren sah. Auch diese beiden Episoden lassen offenkundig wer-

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5 Extravagante zeitliche Verhältnisse

den, dass geschichtliche Kohärenz ein Effekt von Diskursen ist und damit das Werk eines Erzählers, dem sich die Sukzession geschichtlicher Zeitzustände zu einer einzigen Gegenwart komprimiert. Wirklich brisant wird dies natürlich erst, wenn die erzählerische Dispositionsgewalt auch für die reale Geschichte in Anspruch genommen wird bzw. fiktive und reale Geschichte als ein Kontinuum gedacht werden soll. Als ein solches Kontinuum fungiert im Orlando furioso die Genealogie der Este.

6 DER ORLANDO FURIOSO ALS GENEALOGISCHES EPOS 6.1 DIE ENKOMIASTISCHE HERKUNFTSERZÄHLUNG: KONZESSION, DIGRESSION ODER STRUKTURELEMENT? Die moderne Literaturwissenschaft hat sich zumeist schwer getan mit der genealogischen oder ‚dynastischen‘ Textschicht des Orlando furioso und war bemüht, diese, wenn sie sich nicht schlichtweg ignorieren ließ, zu einer quantité négligeable oder einer nur akzessorischen Komponente des Textes zu erklären.229 Insbesondere eine universalistische, überzeitliche ästhetische wie moralische Werte beschwörende Sicht auf literarische Werke, die nachhaltig erst durch die rezeptionsästhetische Wende infrage gestellt wurde, hatte mit der als opportunistisch und adulatorisch empfundenen Enkomiastik und Genealogie erhebliche Schwierigkeiten.230 Sowohl die risorgimentale und von Hegels Ästhetik bestimmte Literaturkritik eines Francesco De Sanctis wie auch die positivistische Pio Rajnas zeigten sich von dem Herrscherlob eher peinlich berührt. Namentlich De Sanctis wollte in seiner Storia della letteratura italiana (1870/72) Ariost zwar als Ersten unter den poetischen Artisten würdigen, ihm aber, unter den Vorzeichen eines emphatischen Dichtungsbegriffs romantischer Provenienz, den Titel des Dichters verweigern: L’arte italiana in questa semplicità e chiarezza ariostesca tocca la sua perfezione, ed è per queste due qualità che l’Ariosto è il principe degli artisti italiani, dico artisti e non poeti.231

Sowohl der Person Ariosts als widerwilligem, aber auch willfährigem cortegiano der Este wie auch seinem capolavoro attestiert De Sanctis Realitätsverweigerung im Zeichen eines L’art pour l’art avant la lettre: Niuna opera fu concepita né lavorata con maggior serietà. E ciò che la rendeva seria non era alcun sentimento religioso o morale o patriottico, di cui non era piú alcun vestigio nell’arte, ma il puro sentimento dell’arte, il bisogno di realizzare i suoi fantasmi.232

Ebenso wie an dem Zeitalter, dessen Gallionsfigur oder ‚Bannerträger‘ Ariost sein soll,233 beanstandet De Sanctis, der Anhänger und Kombattant des italienischen

229 Zu einem entsprechenden Befund kommt auch Remo Ceserani in Ceserani 1984, S. 503: „Intere zone del poema sono state ignorate, perché legate a motivi encomiastici o dinastici.“ Mit gleichem Tenor resümiert Giulio Ferroni, dass die wissenschaftlichen Leser des Furioso „préfèrent généralment glisser sur les longues insertions courtisanes et politiques, reléguées à la fonction de ‚digressioni encomiastiche‘, évidemment à ne pas lire.“ (Ferroni 1989, S. 324 f.) 230 S. hierzu Fortini 2000, S. 150 f. 231 De Sanctis 1971 (11870/72), Bd. 2, S. 519. 232 Ebd. S. 509. 233 „Ludovico e Dante furono i due vessilliferi di opposta civiltà. Posti l’uno e l’altro tra due secoli, prenunziati da astri minori, furono le sintesi in cui compí e si chiuse il tempo loro. In Dante finisce il medio evo; in Ludovico finisce il Rinascimento.“ (Ebd. S. 510)

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

Risorgimento, die angebliche weltanschauliche Indifferenz des Autors und das Fehlen jeglicher für universell gehaltener und realgeschichtlich wirksamer Ideale, jedes sentimento della patria, della famiglia, dell’umanità, e neppure dell’ amore, dell’onore.234

Vor dem Hintergrund seines Verständnisses des Ariost’schen Epos als ‚reines‘ und der Lebenswelt sich verweigerndes Kunstwerk, als „opera di pura arte“,235 erklärt sich auch, dass De Sanctis die Reflexion gegenwärtigen, vor allem kriegerischen Geschehens im Spiegel der erzählten Welt, die sich im Furioso allerorten findet, weitgehend ignoriert und dass ihm ferner die genealogisch-enkomiastische Erzählung, die nicht zuletzt als Einfallstor geschichtlicher Empirie in das vermeintliche „regno della pura arte“236 fungiert, als eine nur akzidentelle Textkomponente und als Konzession an den Zeitgeschmack gilt. Der panegyrische Anteil in Ariosts Epos sei dem Wunsch geschuldet, un po’ di secondare il gusto del secolo e toccare tutte le corde che gli erano gradite, un po’ di tessere la storia o piuttosto il panegirico di casa d’Este. Ma sono fini che rimangono accessorii, naufragati e dimenticati nella vasta tela.237

Ohne die weitausholende Begründung De Sanctis’ kommt auch Rajna zu einem ähnlichen Urteil; in Hinblick auf den genealogischen Katalog von Canto III, der in einer Sequenz von rund fünfunddreißig Oktaven die prominentesten männlichen Exponenten der Este-Sippe seit dem frühen Mittelalter Revue passieren lässt, erklärt er: Pur troppo qui si passa ad una parte, di cui il poema farebbe a meno con molto vantaggio.238

Diese Urteile wirken bis heute fort, auch wenn sich der ästhetisch-moralische Subtext zunehmend verliert. Herbert Frenzel etwa tadelt Pio Rajna und die ältere Quellenforschung zwar milde, weil sie „diese Stellen“, d. h. die genealogischen Stammtafeln, „gerne fortgewünscht“ hätten, findet aber selbst auch, dass es sich um „Einschiebsel“ handelt, die „nur einen verschwindenden Raum einnehmen“. Die erzählstrukturelle Funktion der Genealogie verkennt Frenzel vollständig, was auch daran sichtbar wird, dass er – erstaunlicherweise, kann doch an seiner genauen Kenntnis des Textes kein Zweifel bestehen – die Genealogie im Furioso „hauptsächlich“ auf den 3. Gesang begrenzt findet.239 Auch Mario Santoro möchte die Erzählung um Ruggiero und Bradamante lediglich als eine weitere, wenn auch exponierte und besonders ausgedehnte unter den zahllosen Episoden und Nebenhandlungen des Furioso sehen. Einen strukturstiftenden Rang für den Gesamttext, gleich dem der 234 Ebd. S. 525 f. S. auch ebd. S. 510: „Ludovico non ha niente da affermare, e niente da negare. Trova il terreno già sgombro, e senza opera sua. Non è credente, e non è scettico; è indifferente.“ Zu De Sanctis defizitärem Verständnis der Renaissance, die er auf ein moralisch indifferentes ästhetisches Projekt reduziert, das durch dieselben Prädikate charakterisiert sein soll wie Ariost und sein Epos, siehe die eingehende Auseinandersetzung bei Wellek 1977, bes. S. 111. 235 De Sanctis 1971 (11870/72), Bd. 2. S. 538. 236 Ebd. S. 528. 237 Ebd. S. 509 f. 238 Rajna 1900, S. 133. 239 Alle Zitate Frenzel 1963, S. 189.

6.1 Die enkomiastische Herkunftserzählung

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beiden Handlungsstränge, die in der propositio des Hauptproömiums angekündigt werden – der übergreifende Strang, der vom Krieg Agramantes, des sarazenischen Königs, gegen das fränkische Reich Karls des Großen erzählt und der titelgebende des Liebeswahns Orlandos – spricht er dieser Erzählung kategorisch ab oder mag er ihr äußerstenfalls aus didaktischen Gründen konzedieren: […] a noi sembra improprio e, forse, utile solo per una schematizzazione scolastica, considerare la storia di Ruggiero una ‚terza azione‘ sullo stesso piano delle due azione indicate nella proposizione.240

Die Begründung Santoros besteht im wesentlichen darin, dass die genealogische Ruggiero-Handlung erst im Kontext der dedicatio eingeführt werde und damit auf eine von der konventionalisierten epischen Exordialtopik abweichende und die Subalternität dieser Handlung signalisierende Weise – ein Argument, das für einen Text, der durch seine Devianz von der ‚klassischen‘ Epennorm geradezu definiert ist, kaum verfängt. Aber selbst wenn man dieses Argument gelten lassen wollte, wäre damit die schiere Omnipräsenz der genealogischen Erzählung um Ruggiero und Bradamante und ihre kohäsive Funktion im Gesamttext, die zumindest die der Orlando-Erzählung deutlich übersteigt, nicht ausgelöscht.241 Santoro beruft sich in seiner Argumentation auf Lanfranco Caretti, der seinerseits vom Furioso als einem „libro senza vera conclusione, come un libro perenne“ spricht.242 Carettis an diesen Befund sich anschließende Ausführungen, in denen er auf das die Aeneis zitierende Finale des Furioso – das Duell des dynastischen Helden Ruggiero mit dem ‚Erzbösewicht‘ Rodomonte, sein Sieg über letzteren und die damit erst ermöglichte Heirat mit Bradamante – Bezug nimmt, lassen deutlich werden, dass die Bedeutung der Genealogie nicht mehr aus Gründen moralischer Anfechtbarkeit oder wegen ästhetischer Vorbehalte negiert oder verkleinert wird, sondern weil sie als Finalität stiftendes Textelement einem Verständnis des Furioso als opera aperta entgegenstünde:243 Non c’è nel poema un vero e proprio congedo, proprio perché vi manca la catastrofe risolutiva. La morte di Rodomonte è, infatti, un ‚accidente‘, non una catastrofe; e il matrimonio tra Ruggiero e Bradamante serve appena come ‚lieto fine‘, già come conclusione perentoria […] di tutta la complessa storia ariostesca. Potremmo perciò definire il Furioso come l’aureo capitolo di una vicenda a cui è ignota qualsiasi forma di piano provvidenziale e nella quale si rispecchia piuttosto il senso libero, estroso, incalcolabile e inesauribile della vita.244

Caretti benennt hier zweifellos einen zentralen Aspekt des Furioso, vereinseitigt ihn aber und bleibt im Übrigen eine Begründung für die angeblich fehlende Konklusivität des Furioso und seines das finale Duell der Aeneis aufrufenden Abschlusses schuldig. Doch auch dann, wenn eine strukturstiftende Bedeutung der Genealogie nicht explizit bestritten wird, wirken die negativen Urteile De Sanctis und 240 Santoro 1989a, S. 48. Dagegen Bigi in seiner Anmerkung zu O. F. I, 4: „Ruggiero […] è con Orlando uno dei due personaggi centrali del Furioso.“ 241 In der ersten Fassung des Furioso sind diese Proportionen zugunsten der Ruggiero-Handlung noch deutlicher. S. Dorigatti 2000, S. 93 u. S. 122 f. 242 Caretti 2001 (11961), S. 36. 243 Caretti spricht von einer „struttura estremamente aperta“ (ebd., S. 35). 244 Ebd. S. 36 f.

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Rajnas häufig in der Weise nach, dass die genealogische Thematik und Textstruktur schlichtweg ignoriert oder auf Enkomiastik reduziert werden. Besonders ins Gewicht fällt dies, wenn – wie zuletzt in den Arbeiten Marco Pralorans – die Makrostruktur des Furioso Gegenstand der Untersuchung sein soll. Gerade für die Zeitstrukturen, die Praloran analysiert, wäre die genealogische Finalität ein nicht unbedeutender Parameter. Insgesamt ist die jüngere Forschung,245 auch im Zuge eines verstärkten Interesses an den außerliterarischen Bedingungen der Literaturproduktion und -rezeption, einschließlich der Funktionskontexte, in die literarische Texte eintreten können, gegenüber Genealogie und Enkomiastik im Furioso aber weitaus unbefangener und distanziert sich gelegentlich ausdrücklich von ihrer Nihilierung oder Marginalisierung in einem großen Teil der älteren Forschung. So erklärt Fortini die Verdikte De Sanctis’ und Rajnas zu bloßen Vorurteilen246 und Dorigatti stellt unter Verweis auf Rajna unzweideutig fest: A distanza di più di un secolo e dopo un rinnovato interesse per l’argomento, la componente genealogico-dinastica del Furioso […] non ha bisogno di esser giustificata […].247

An anderer Stelle betont Dorigatti die gegenüber Boiardo größere „structural function“ der Geschichte Ruggieros bei Ariost, so that in the 1516 Furioso it emerges as the poem’s central motif – one that is sustained throughout and scrupulous in its adherence to Boiardo’s indications. Ariosto’s treatment of the Rugiero story can thus be seen as a faithful attempt to carry out Boiardos legacy; indeed it may have been the very reason that induced Ariosto to continue Boiardo’s work.248

Gegen die Reduktion des genealogischen Erzählstrangs zur nur akzidentellen Episode, zur bloßen enkomiastischen Digression, formuliert Dorigatti die entscheidende Einsicht, dass Ariost, proprio del tema di Ruggiero […] farà l’arco portante della propria opera, estendolo da un capo all’altro della nuova costruzione: non dunque motivo accessorio, ma elemento primario, strutturale, l’unico in grado di fornire, tramite il matrimonio finale, la conclusione al pur variegato poema, con preponderanza della componente romanzesca nella prima edizione, epica nella terza.249

Bei seinem Nachweis für die von ihm postulierte strukturgebende Funktion der Genealogie beschränkt sich Dorigatti allerdings zu ausschließlich auf die explizit genealogischen Passagen mit ihren Katalogen von Ahnen und Nachfahren und ihren dynastischen Verlaufsgeschichten, während er, generell an erzähltechnisch relevanten Aspekten des Textes wenig interessiert, auf Verfahren narrativer Kohärenzbildung, auf die syntagmatische Verkettung der einzelnen Erzählstränge bzw. einzelner Sequenzen (und damit auf spezifische Funktionsaspekte des entrelacement) 245 Larivaille 1990; Floris 1998; Honnacker 1999a; Fortini 2000; Dorigatti 2000 und 2009b; Masi 2003; Jossa 2003; Venturi 2004; Bruscagli 2004 und 2015; Scianatico 2005; Montagnani 2005; Stimato 2009; Scipioni 2015. 246 S. Fortini 2000, S. 151. 247 Dorigatti 2009b, S. 52. 248 Dorigatti 2000, S. 109. 249 Dorigatti 2009b, S. 48. (Hervorhebung v. mir. B. H.)

6.2 Ruggiero und Bradamante bei Boiardo und Ariost

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sich so gut wie nicht einlässt. Weitgehend ignoriert werden von Dorigatti auch die ironischen Brüche und Ambiguisierungen innerhalb der genealogisch-enkomiastischen Erzählung, die den gesamten Diskurs des Furioso durchsetzen. Bezeichnend dafür ist, dass es Dorigatti gelingt, in seinen ansonsten sorgfältigen, von souveräner Textkenntnis zeugenden und instruktiven Bestandsaufnahmen und Analysen genealogisch-enkomiastischer Passagen im Furioso ausgerechnet die Mondepisode mit der Eloge Johannes’ auf Ippolito d’Este und Ferrara und des Apostels unmittelbar daran anschließende hochproblematische Dichtungsapologie, die jede rein affirmative Perspektive auf den enkomiastischen Diskurs zumindest in Frage stellt, mit keinem Wort zu erwähnen.250 Die von Dorigatti ignorierte Mondepisode und ihre Implikationen für die genealogische und enkomiastische Programmatik des Furioso habe ich in Kapitel 2 eingehend diskutiert. Im Folgenden fasse ich die konfliktuöse Relation dieser ‚epischen‘ Programmatik zur ‚romanzesken‘, durch das entrelacement geprägten Erzählweise Ariosts näher ins Auge – eine Relation, welche die Textstruktur des Furioso auf ebenso problematische wie produktive Weise bestimmt und die in jener Stelle um den ertrinkenden dynastischen Stammvater Ruggiero zur mise en abyme verdichtet ist. Nachdem ich vor allem im 4. Kapitel die Diversifikationen des entrelacement, seine Struktur und Funktion näher beleuchtet habe, geht es mir jetzt um den Furioso als dynastische Herkunftserzählung in enkomiastischer Funktion. Dabei folge ich Dorigatti und anderen Autoren, die in jüngerer Zeit diese lange vernachlässigte und in ihrer Bedeutung unzulässig marginalisierte und unterschätzte Textschicht von Ariosts Epos ins Zentrum ihrer Forschungen gestellt haben, berücksichtige aber auch strukturelle und funktionale Aspekte, die bei Dorigatti und jenen anderen Autoren unberücksichtigt bleiben oder aus meiner Sicht nicht hinreichend mitbedacht werden. Ausführlicher als es üblich ist, gehe ich auf den zeitgenössischen genealogischen Diskurs ein, den ich als ein plurigenerisches und plurimediales System beschreibe, dessen Teilelement oder Epiphänomen Texte wie der Orlando innamorato oder eben der Orlando furioso sind. Vor diesem Hintergrund interpretiere ich schließlich den Furioso als ein affirmatives genealogisches Epos, das zugleich einen fundamental genealogiekritischen Metadiskurs konstituiert. 6.2 RUGGIERO UND BRADAMANTE BEI BOIARDO UND ARIOST Die Figur des Ruggiero ist keine Erfindung Ariosts.251 Eingeführt als Ahnherr der Este, der seinerseits troianischer Herkunft sein soll, wurde sie von Tito Vespasiano Strozzi in dessen Borsias (zwischen 1460 und 1505) und von Matteo Maria Boiardo, Strozzis Neffen, im Orlando innamorato (1482/83–1495).252 Strozzi kündigt 250 Dies gilt sowohl für Dorigatti 2000 wie 2009b. 251 Ich verwende hier durchgehend die Schreibweise des Namens im Orlando furioso, auch wenn ich von Strozzis ‚Rugerius‘ oder Boiardos ‚Ruger‘ spreche. 252 S. hierzu und zum folgenden Ludwig 1977; Tissoni Benvenuti 1996; Honnacker 1999a; Dorigatti 2000 u. 2009b; Bruscagli 2004 u. 2015; Scipioni 2015, S. 33–41. Die Priorität Strozzis oder Boiardos für die ‚Erfindung‘ Ruggieros ist ungewiss; vielleicht handelt es sich,

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bereits zu Beginn die troianische Herkunft der Este als eines der Hauptthemen seines lateinischen Epos an und spricht in dessen Verlauf von der Ferrareser Herrscherfamilie als „Rugeria stirps“ und von Borso d’Este, dem Titelhelden, mehrfach als „Rugerius heros“.253 Den troianischen Ursprungsmythos konkretisierend, bezieht sich Strozzi auf eine bereits etablierte Tradition, die einen apokryphen, bei Homer nicht vorkommenden Sohn Hektors namens Francus als Stammvater der Franken und Vorfahren Kaiser Karls aufbietet. Im Umfeld des letzteren nimmt auch das Geschlecht der Este erste vage Konturen an.254 Boiardo hingegen lässt Ruggiero und damit die Este von Astyanax abstammen, den auch in der Ilias ‚beglaubigten‘ Sohn Hektors.255 Während jedoch Homer am Ende der Ilias das Schicksal Astyanax’ zwar als ein düsteres – Tod oder Versklavung – antizipiert, es aber letztlich offen lässt, sehen die meisten Fortführungen der Homerischen Erzählung zwischen Euripides und Seneca den Sohn Hektors beim Fall Troias ausdrücklich den Tod finden. Daneben gab es aber bereits in der Antike eine alternative Version, in der Astyanax durch eine List seiner Mutter Andromache, die ein anderes Kind für ihren Sohn ausgab, der Ermordung entging. An diese Version und die damit eröffnete Herkunftsoption schließen Boiardo und Ariost an, um sie über die selbst erfundene oder jedenfalls als Stammvater noch nicht etablierte Figur des Ruggiero auch mit den realhistorischen Etappen der Geschichte der Este kurzzuschließen. Bei der Fortführung der genealogischen Reihe zwischen Hektor und Ruggiero ist Boiardo wesentlich detaillierter als Strozzi – Ludwig spricht von einem genealogischen wie Ludwig nahelegt, um eine Kooperation von Onkel und Neffen. S. zu dieser Frage Ludwig 1977, S. 316–328; Tissoni Benvenuti 1996, S. 81 sowie Bruscagli 2015, S. 155 f. In jedem Fall gewinnt Ruggiero erst bei Boiardo die Statur einer ‚epischen‘, handelnden und sprechhandelnden Figur. Bereits in den Reali di Francia figuriert ein Riccieri („primo Paladino di Francia“) als eine der Hauptfiguren insbesondere der ersten beiden Bücher (s. hierzu Ludwig 1977, S. 324), und der Aspremont, ein cantare aus dem 14. Jahrhundert, erzählt von einem Riccieri di Risa, in beiden Fällen jedoch ohne jede Verbindung zu den Este. Boiardo kannte wahrscheinlich die Prosabearbeitung von Andrea da Barberino, Aspromonte (ca. 1420). Bei der Figur des Riccieri aus dem Aspromonte müsste es sich aus chronologischen Gründen um den Vater Ruggieros handeln, der in den genealogischen Katalogen Boiardos und Ariosts als Ruggiero II figuriert, während der genealogische Held der beiden Orlandi als Ruggiero III zählt. Ruggiero I firmiert in diesen Diagrammen als Enkel oder jedenfalls unmittelbarer Nachfahre des ersten Frankenkönigs Chlodwig und als der erste fränkische Herrscher von Reggio. Der Name Ruggiero (statt Riccieri) dürfte eine Reminiszenz an zwei realgeschichtliche, wenn auch sagenumwobene Herrschergestalten sein, Roger I und Roger II, die im 11. und 12. Jahrhundert auch in Reggio residierten. 253 Zit. n. Ludwig 1977, S. 105 (Borsias II, 502–506); S. 115 (ebd. III, 348); S. 120 f. (ebd. IV, 110 u. 130); S. 164 (ebd. VII, 139). 254 Francus soll eine Stadt am Schwarzen Meer gegründet haben; erst sein Sohn gelangt nach Frankreich, wo er von den ansässigen Galliern freudig aufgenommen wird und ein Geschlecht begründet, aus dem Pippin und Karl der Große und schließlich auch Ruggiero hervorgehen. Mit diesem Narrativ sollten verwandtschaftliche Bindungen an die regierenden französischen Könige und das Haus Valois beschworen werden, dem gegenüber die Este stets um privilegierte Beziehungen bemüht waren und das seinerseits troianische Ursprünge reklamierte (s. hierzu weiter unten, Kap. 6.8). 255 Laut Tissoni Benvenuti 1996, S. 87, rekurriert Boiardo dabei weniger auf antike Quellen denn auf mittelalterliche Hektor-Legenden und namentlich auf den Romanzo El Troiano.

6.2 Ruggiero und Bradamante bei Boiardo und Ariost

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„horror vacui“ Boiardos256 – und besetzt die einzelnen genealogischen Stationen sowohl mit frei erfundenen Figuren (die etwa Polidoro oder Flovian heißen) und bereits literarisiertem Personal (Buovo d’Antona) wie auch mit historischen Gestalten, darunter so herausragenden wie Konstantin und Karl dem Großen. Einen umfangreichen Abschnitt dieser genealogischen Erzählung legt Boiardo seinem Helden selbst in den Mund („Ruger sono io; da Troia è la mia iesta“; O. I., III, V, 18–37, hier: 37, 8). Hier und an anderen Stellen erfährt man, wie Ruggieros Vater, ein Ruggiero da Risa (i. e. Reggio di Calabria), durch Verrat ums Leben kam, wie seine mit ihm schwangere Mutter Galaciella über das Meer floh, wie sie schließlich bei seiner Geburt starb und das Kind von einem Magier gefunden wurde. Dieser Magier namens Atlante zog den Jungen wie seinen eigenen Sohn und in muslimischem Glauben auf – ein Glaube, von dessen Katechismus und Verbindlichkeiten für die Lebensführung freilich nirgendwo die Rede ist, auch nicht bei Ariost –und sorgte dafür, dass er alle erdenklichen ritterlichen Tugenden und Fähigkeiten erwerben konnte. Weitaus lakonischer als Strozzi ist Boiardo hingegen bei der Präzisierung der genealogischen Abfolge zwischen Ruggiero und der unmittelbaren Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit; hier beschränkt er sich auf einige wenige Namen.257 Der Anspruch auf eine troianische Provenienz war alles andere als eine Exzentrizität, sondern stellte im europäischen Kontext vielmehr die beinahe obligatorische dynastische Herkunftserzählung oder den genealogischen mainstream dar.258 Das von Strozzi und Boiardo erdachte oder jedenfalls literarisch elaborierte genealogische Konstrukt um den ‚troianisch-fränkischen‘ Ruggiero sollte an die Stelle eines älteren treten, das auf einen genealogischen Text des 14. Jahrhunderts, den Liber de generatione aliquorum civium urbis Paduae (1325) von Giovanni di Nono, zurückging und das die Este von Gano di Maganza, dem für Rolands Tod in Rencesval verantwortlichen Paladin Karls des Großen, abstammen ließ.259 Gegen die naheliegende Vermutung, dass mit der Figur des Ruggiero eine kompromittierende Herkunftserzählung verdrängt werden sollte, wurde allerdings zu bedenken gegeben, dass die ‚Maganzesi‘, trotz des Verräters in ihren Reihen, der in Dantes Inferno seine gerechte Strafe empfängt, eine durchaus prestigeträchtige Provenienz waren und dass diese Erzählung zwar gegen die Este vorgebracht werden, aber zugleich nobilitierenden Wert haben konnte und auch innerhalb des Ferrareser Hofs anscheinend ohne kritische Vorbehalte zirkulierte.260 Immerhin galten die Maganzesi – in der französischen Überlieferung: das Geschlecht der Ponthieu oder Pontrieux – als Abkömmlinge Pippins und damit als eines der ältesten und nobelsten fränkischen Adelshäuser und im Übrigen ist Gano – Ganelon – im Rolandslied eine 256 Ludwig 1977, S. 324. 257 Hilfreiche synoptische Tafeln mit den unterschiedlichen Deszendenzfolgen Strozzis, Boiardos und Ariosts finden sich bei Honnacker 1999a, S. 131, Dorigatti 2000, S. 96 u. 103 sowie bei Scipioni 2015, S. 168 ff. Zu den politischen Implikationen dieser genealogischen Reihen s. insbesondere Dorigatti 2000 u. 2009b. 258 S. hierzu weiter unten, Kapitel 6.8. 259 S. Ludwig 1977, S. 319; Bruscagli 2015, S. 153 sowie Tissoni Benvenuti 1996. 260 Tissoni Benvenuti 1996, S. 74, A. 14; Bruscagli 2005, S. 34; Bruscagli 2015, 153 f.; Scipioni 2015, S. 29–32.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

durchaus komplexe Figur und nicht der feige Verräter, zu dem ihn die spätere Überlieferung bis hin zu Ariost machte.261 Boiardo allerdings bringt das Haus der Maganza als eindeutig negativ besetzten Ursprung ins Spiel, wenn er in seinem Innamorato ankündigen lässt, dass Ruggiero dereinst und, wie sich versteht, nachdem das Geschlecht der Este erfolgreich begründet ist, einem tückischen Mordanschlag derer von Maganza zum Opfer fallen werde – der ‚neue‘ Stammvater also, wenn man so will, von seinen ‚Vorgängern‘ wieder beseitigt wird.262 Seine ebenso glorreiche wie am Ende düstere Zukunft wird Ruggiero im Innamorato von dem Magier Atlante eröffnet.263 Dieser ist, wie bereits erwähnt, zugleich der Ziehvater des verwaisten Ruggiero, der, um den frühen Tod seines Schützlings in prophetischer Vorausschau wissend und im vollen Bewusstsein der tragischen Vergeblichkeit seines Bemühens, unentwegt versucht, Ruggiero von jeglichen Abenteuern fernzuhalten. Atlante tritt auch bei Ariost wieder auf und erfüllt hier, mehr als bei Boiardo, eine wichtige erzählstrukturelle Funktion; seine hartnäckigen und von ihm mit großem magischen Aufwand ins Werk gesetzten Bestrebungen, Ruggiero von seinen ritterlichen venture und inchieste abzuhalten, um so den unerbittlichen Gang der Vorsehung aufzuhalten oder jedenfalls zu verzögern, werden zugleich als retardierendes Moment wirksam oder auch als Multiplikator möglicher Verzweigungen und Verwicklungen der histoire. Namentlich ein von Atlante eingerichtetes magisches und gänzlich illusorisches Schloss, eine veritable fata morgana, in deren Bann die meisten zentralen Ritterfiguren der Geschichte früher oder später geraten und dem sie sich nur durch Einsatz anderer magischer Kräfte wieder entziehen können, dient als eine Art Depot oder auch als Schaltwerk, um einzelne Handlungssequenzen und Konfliktkonstellationen vorübergehend zu stornieren oder ‚zwischenzulagern‘ und dadurch das komplexe ‚Gewebe‘ der Erzählung zu vereinfachen, oder sie aber bei passender Gelegenheit erneut ins Spiel zu bringen und der Geschichte neue Dynamik zu verleihen.264 Alles in allem übernimmt Ariost das bei Boiardo skizzierte curriculum vitae Ruggieros. Er ergänzt es aber um spätere Stationen und lässt den estensischen Stammvater zu einer deutlich differenzierteren Figur werden und ihn eine Entwicklung vom ‚romanzesken‘ Ritter, der Abenteuer um ihrer selbst willen sucht, zum seiner dynastischen Verantwortung zunehmend sich bewusst werdenden epischen Helden nehmen – eine Entwicklung, die freilich diskontinuierlich verläuft und von

261 Im Furioso spielt Gano keine Rolle; er ist aber die negative Hauptfigur in Ariosts Cinque Canti. Im Furioso figuriert hingegen Pinabello als besonders niederträchtiger Vertreter der Maganzesi; seine Entsprechung im Rolandslied, Pinabel, ist dort ein zwar hochmütiger, aber durchaus tapferer Ritter, der für die Ehre seines Onkels Ganelon in einem als Gottesurteil angesetzten Duell einsteht und dafür mit dem Leben büßt. 262 S. O. I. III, I, 3, 6–8: „[…] Gano di Maganza, / pien de ogni fellonia, pien de ogni fiele, / lo occise a torto, il perfido crudiele.“ 263 O. I. II, XXI, 53 ff. Auch in O. I. II, I, 4, 7–8 wird bereits auf Ruggieros frühen Tod durch Verrat verwiesen. 264 Der palazzo Atlantes wird eingeführt in Canto IV des Furioso und spielt dann v. a. in den Gesängen XII–XXII eine wichtige Rolle. Zur erzählstrukturellen Funktion des palazzo s. Calvino 1995, S. S. 75 f.

6.2 Ruggiero und Bradamante bei Boiardo und Ariost

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intermittierenden Rückfällen begleitet ist.265 In Hinblick auf diese Entwicklungsdynamik wurde Ruggieros Geschichte nicht unplausibel als Allegorie eines – wenn auch scheiternden – humanistischen Bildungscurriculums interpretiert,266 während ihre Charakterisierung als ‚Bildungsroman‘ wohl auf Überschätzung der psychologischen Binnendifferenzierung einer als Werkzeug der Vorsehung konzipierten und typologisch modellierten Figur beruhen und letztlich anachronistisch sein dürfte.267 Immerhin thematisiert Ariost ausführlich den Loyalitätskonflikt, der daraus resultiert, dass Ruggiero, in heidnischem Umfeld aufgewachsen und erzogen, dem sarazenischen König Agramante als dessen Vasall verpflichtet ist, zugleich aber die Christin Bradamante liebt und sich, um sie ehelichen zu können, taufen lassen und ins Lager Karls wechseln will. Vor allem aber führt Ariost die Geschichte Ruggieros, wenn auch auf stark mäandernden Wegen, bis an ihren dynastischen Zielpunkt, der Heirat mit Bradamante, während Boiardos Innamorato unter dem Druck äußerer Umstände vorzeitig abgebrochen wurde und auch unvollendet blieb.268 Auch Bradamante, die promessa sposa Ruggieros und zukünftige Urahnin der Este, ist eine Erfindung Boiardos, in diesem Fall eine exklusive, die keine Entsprechung bei Strozzi hat.269 Die Schwester Rinaldos – des notorischen Gegenspielers Rolands im christlichen Lager – und Nichte Karls des Großen sowie ebenfalls troianischen Ursprungs erscheint bei Boiardo und vor allem bei Ariost als gleichermaßen mit petrarkistisch orchestriertem Zartgefühl ausgestattete wie kampfesstarke Ritterin, die keinen männlichen Gegner fürchten muss.270 Bei Boiardo ist sie aber eine eher zweitrangige Figur und ihre Rolle als estensische Stammutter bleibt im265 Der spätere Tod Ruggieros wird auch bei Ariost nur als ein zukünftiges Ereignis berichtet (O. F. III, 24, 7–8; XXXVI, 64; XLI, 61–66). Die Intrigen Ganos di Maganza, die diesem Tod vorausgehen und ihn verursachen, sind Gegenstand der Cinque Canti, die entweder als Zusätze zum Furioso intendiert waren und dann von Ariost verworfen wurden oder Fragment eines als eigenständig geplanten epischen Textes sind. S. hierzu Ferroni 2008, S. 130 und S. 407–414 sowie David Quint in Ariosto 1996, S. 1–44. 266 Dies ist die zentrale These in Ascoli 1987. 267 S. Bruscagli 2015, S. 166; Fichter 1982. 268 Die letzten Verse des Orlando innamorato, verfasst angesichts des Einmarschs des französischen Königs Karl VIII. und seiner Truppen im Jahre 1494, lauten: (Mentre che io canto, o Dio redemptore, Vedo la Italia tutta a fiama e a foco Per questi Galli, che con gran valore Vengon per disertar non scìo che loco; Però vi lascio in questo vano amore Di Fiordespina ardente a poco a poco. Un’altra fiata, se mi fia concesso, Raconterovi el tutto per espresso). (O. I. III, IX, 26) Die in diesen Versen zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf eine spätere Fortsetzung seiner Dichtung erfüllte sich nicht; Boiardo starb im Jahr darauf. 269 Eingeführt wird Bradamante in O. I., II, VI, 23, 5. 270 Zu den verschiedenen petrarkistischen lamenti Bradamantes s. Ferroni 2008, S. 175f; zur komisch-pragmatischen Refunktionalisierung des petrarkistischen Diskurses in diesen lamenti s. Hempfer 1993c, S. 205–209.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

plizit.271 Bei Ariost dagegen wird sie in dieser Funktion ausführlich gewürdigt. Überhaupt ist sie im Furioso eine ebenso prominente und präsente Figur wie ihr männliches Pendant Ruggiero.272 Sie verkörpert ein Ideal weiblicher Treue, das im Furioso sowohl gefeiert wie auch in Frage gestellt wird, und sie ist zwar Zweifeln und Versagensängsten, aber anders als Ruggiero keinen Versuchungen ausgesetzt, vom ihr providentiell zugewiesenen Pfad abzuirren. Ruggiero gegenüber erscheint sie sogar als privilegiert, da sie weitaus früher und vollständiger als er in ihre dynastische und sozusagen ‚weltgeschichtliche‘ Berufung eingeweiht wird. Schließlich spielt sie in der Beziehung zu Ruggiero den ‚aktiven‘ Part, d. h. sie bemüht sich eher um ihn als umgekehrt, was zeitgenössisch als Verstoß gegen die convenevolezza für Irritationen sorgen konnte, denen etwa Tasso kritisch Ausdruck verlieh.273 6.3 DIE ANKÜNDIGUNG DER GENEALOGISCHEN ERZÄHLUNG IM PROÖMIUM DES FURIOSO Ariost übernimmt die von Strozzi und Boiardo partiell erfundene, aber um Abgleich mit bereits etablierten Genealogien bemühte estensische Herkunftserzählung,274 reichert sie aber um zusätzliches Personal an und baut sie vor allem seinen Vorgängern gegenüber mit weitaus größerer narrativer Stringenz aus. Einzig die von Boiardo recht detailliert gestaltete genealogische Etappe zwischen Astyanax und Ruggiero kommt im Furioso mit weniger personalen Konkretisierungen aus, während der Abschnitt zwischen Ruggiero, also der Zeit Karls des Großen, und der Erzählgegenwart, die nun in der Tat die unmittelbare Lebenswelt des Autors ist, umso dichter mit fiktivem wie historischem Personal bevölkert ist.275 Insgesamt ist die genealogische Erzählung im Furioso deutlich stärker final orientiert und strukturbestimmender als bei Boiardo, bei dem Ruggiero und mit ihm die ganze Erzählung von Herkunft und Filiation der Este überhaupt erst am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Buches des Innamorato (O. I. I, XXIX, 55, 4–56, 8; II, I, 4) eingeführt werden – dies allerdings als ein gegenüber der bis dahin im Mittelpunkt stehenden „storia amorosa“ (O. I. I, XXIX, 55, 5) weitaus bedeutenderes Geschehen, als „cossa assai magiore“ (ebd., 8). In typischen entrelacement-Wendungen heißt es: 271 S. Dorigatti 2000, S. 94, Anm. 5 und S. 114; Dorigatti 2009a, S. 34. 272 S. Shemek 1998, S. 72–125; Stoppino 2013, S. 34 f. Wenn Bradamante im Gegensatz zu Ruggiero im Proömium des Furioso nicht genannt wird, mag dies damit zusammenhängen, dass dem Leser zwar die dynastische Berufung Ruggieros bereits aus Boiardo hinreichend bekannt sein konnte, Bradamante jedoch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt war und der Leser ebenso wie sie selbst erst in ihre dynastische Rolle eingeführt werden mussten, was dann im 3. Gesang des Furioso auch geschieht. S. hierzu Dorigatti 2000, S. 114 sowie unten, Kap. 6.4 und 6.5. 273 S. Hempfer 1993c, S. 205. 274 S. hierzu Tissoni Benvenuti 1996, S. 72. 275 S. Honnacker 1999a, S. 128, sowie Montagnani 2005, die in diesem Zusammenhang feststellt: „[…] Ariosto si attiene con rigore alla realtà effettuale (o a quella che ritiene tale), mentre Boiardo opta per una narrazione / sommaria, condotta per grandi exempla.“ (ebd., S. 172 f.) Ferner Dorigatti 2000, S. 115.

6.3 Die Ankündigung der genealogischen Erzählung im Proömium des Furioso

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Ma poi la conteremo, in altro loco, Perché ’l cantar dela storia amorosa È necessario abandonar un poco Per ritornar a Carlo imperatore, E ricontarvi cossa assai magiore. Cosa magior, né di gloria cotanta Fo giamai scrita, né di più diletto, Ché dil novo Rugier quivi si canta, Qual fo d’ogni virtute il più perfeto Di qualunque altro che al mondo si vanta. (O. I. I, XXIX, 55, 4–56, 5)276

Offenkundig ruft Boiardo hier (bis in die polyptotonische Wiederholung des „cossa assai maggiore“ als „Cosa magior“ in der ersten Zeile der folgenden Oktave) Vergils berühmte, von einem Musenanruf („Nunc age […] Erato“, Aeneis VII, 37) gerahmte Zeilen „Maior rerum nascitur ordo, / maius opus moveo …“ (ebd., 44 f.) auf, mit denen in der Aeneis, nach weithin geteilter Auffassung, in einem ‚Zweiten Proömium‘ der Übergang von der „Odyssee“ des Aeneas zu dem der Ilias entsprechenden zweiten Teil markiert wird, in dem es um das Kampfgeschehen in Italien bzw. in Latium geht.277 Ariost zitiert seinerseits im Proömium von Canto III, zum Auftakt einer ersten genealogischen Bestandsaufnahme der Este, sowohl Boiardo als auch Vergil mit ihrer Beschwörung einer in der Folge zu bewältigenden, größeren epischen Herausforderung.278 Ich komme sogleich darauf zurück. Allerdings werden im Furioso die genealogische Erzählung und ihr Protagonist Ruggiero bereits im Eingangsproömium angekündigt und eingeführt und haben somit von Beginn an ein größeres Gewicht als im Orlando innamorato. Eingeleitet wird dieses Proömium mit einer ebenfalls die Aeneis zitierenden propositio – Le donne, i cavallier, l’arme, gli amori, le cortesie, l’audaci imprese io canto (O. F. I, 1–2)

– die das Erzählprogramm Vergils – „Arma virumque cano“ – einerseits unverkennbar aufruft, zugleich aber deutlich erweitert und ganz anders akzentuiert.279 Überwölbt wird das gesamte zu erzählende Geschehen von der Thematik einer krie276 Als „novo“ firmiert Ruggiero hier, weil er der Sohn dynastisch bedeutsamer Vorväter ist, die ebenfalls den Namen „Rugier“ trugen. 277 S. hierzu Suerbaum 1999, S. 144–149, der diese Zweiteilung zugleich in Frage stellt. In den mir vorliegenden kommentierten Ausgaben des Innamorato wird auf die wie mir scheint offenkundige und nicht ganz irrelevante Vergil-Referenz nicht verwiesen; sie mag der Legitimierung und Nobilitierung der späten Einführung Ruggieros und der estensischen Herkunftserzählung gedient haben, die andernfalls als Inkonsistenz hätte erscheinen können. 278 Während Vergil zur Unterstützung die Muse Erato anruft (zu dieser ungewöhnlichen Musenwahl s. Mack 1999), hofft Boiardo auf den Beistand Gottes: „Se Dio mi serva al fin la usata gratia.“ (O. I. I, XXIX, 56, 8). Ariost wendet sich an Apollo (s. u.). 279 S. Santoro 1989a. Zugleich lässt sich in den ersten beiden Zeilen ein Dante-Zitat erkennen: „Le donne, i cavallier, gli affanni e gli agi / che ne invoglia amore e cortesia […]“ (Purg. XIV, 109). Das Proömium und v. a. seine beiden ersten Verse sind häufig gattungspoetisch ausgedeutet worden, wobei sowohl die Opposition von Romanzo und Epos wie auch die von matière de France

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

gerischen Auseinandersetzung zwischen dem ‚heidnischen‘ König der Sarazenen, Agramante, und dem christlichen Kaiser Karl, einem Konflikt, dem allerdings weniger religiöse als vielmehr ‚persönliche‘ und affektgeleitete Motive zugrundeliegen, nämlich […] l’ire e i giovenil furori d’Agramante lor re, che si diè vanto di vendicar la morte di Troiano sopra re Carlo imperator romano. (O. F. I, 1, 5–8)

In der zweiten Oktave schließlich wird die titelgebende, nie zuvor erzählte Geschichte („cosa non detta in prosa mai né in rima“, ebd. 2, 2) Orlandos angekündigt – che per amor venne in furore e matto, d’uom che sì saggio era stimato prima; (O. F. I, 2, 3–4)280

– gefolgt von einer invocatio der Geliebten des Erzählers, die dessen Liebeswerben nicht hinreichend erwidert und ihn damit in einen Wahnsinn zu treiben droht, der dem des Titelhelden ähnelt und der den Dichter letztlich daran hindern könnte, das eben begonnene Werk zu vollenden; gelingen wird ihm dies nämlich nur – se da colei che tal quasi m’ha fatto, che ’l poco ingegno ad or ad or mi lima, me ne sarà però tanto concesso, che mi basti a finir quanto ho promesso. (ebd., 5–8)

– eine Befürchtung, die zumindest der lesende Rezipient durch die manifeste Präsenz des gedruckten und offenkundig abgeschlossenen Werkes bereits als widerlegt erkennen kann.281 Mit dieser Invertierung und Profanierung des ‚klassischen‘ Musenanrufs tritt zum ersten Mal der ironische und selbstironische Erzähler auf den Plan (der sich dann etwa auch in den schon mehrfach zitierten Versen um den beinahe ertrinkenden Ruggiero mit maliziösem Doppelsinn vernehmen lassen wird), dessen Erzählen hier wie auch an zahlreichen weiteren Stellen von lebensweltlichen, insbesondere erotischen Irritationen beeinträchtigt zu sein vorgibt.282 und matière de Bretagne, die in diesen Versen erkannt wurde, der Komplexität der generischen Referenzen nicht gerecht werden. Siehe hierzu Sangirardi 2009 und v. a. Hempfer 2013. 280 Zu der durch das „stimato“ angezeigten Distanzierung des Erzählers von einem Orlando ‚Weisheit‘ attestierenden Gemeinplatz der einschlägigen literarischen Tradition s. Petersen 1990, S. 197 f. sowie Santoro 1989a, ebd., S. 40. 281 Zur Brechung der hochepischen Diktion der ersten Strophe durch die komisch-parodistische der zweiten s. Hempfer 2013, S. 62 f. 282 In O. F. XXIV, 3 nimmt der Erzähler, in Auflösung eines performativen Widerspruchs, „lucidi intervalli“ in Anspruch, die ihm, der vom zuvor für unentrinnbar erklärten Liebeswahn längst selbst befallen ist, dennoch flüchtige Einsicht in das universelle Verhängnis gestatten; von einer weiteren Stelle (O. F. XXXV, 1–2), die den Erzähler seine eigene Verstandesminderung in auch poetologisch aufschlussreicher Weise mit der Orlandos vergleichen lässt, war weiter oben (Kap. 2) bereits die Rede.

6.3 Die Ankündigung der genealogischen Erzählung im Proömium des Furioso

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Dem Vergilschen priesterlichen Sänger, dem vates, der durch die initiale CantoFormel als Subjekt des epischen Diskurses aufgerufen schien, könnte dieser Erzähler und sein gleichsam ‚elegischer‘ Gestus nicht deutlicher kontrastieren.283 Eben dieser ‚labilen‘, angeblich ihren amourösen Affekten ausgelieferten, stets von Verstandesverlust bedrohten und ihres Reüssierens nicht gewissen Erzählinstanz ist aber auch das in deutlicher Analogie zur Aeneis konzipierte genealogische Erzählprogramm mit Ruggiero als dem zweiten Protagonisten des Epos anvertraut, das in den folgenden beiden Oktaven (die ich im ersten Kapitel schon einmal in Hinblick auf ihre ‚medialen‘ Implikationen zitiert hatte) unter expliziter Anrede des Widmungsträgers annonciert wird. Dieser wird zunächst als Nachkomme Ercoles I antonomastisch umschrieben, womit zugleich eine erste Referenz zum zeitgenössischen genealogischen Diskurs hergestellt ist, in diesem Fall zu einer geläufigen Herkunftslegende, die das Haus Este auf den mythischen Helden zurückführt;284 erst in der dritten Verszeile wird Ippolito d’Este namentlich angesprochen: Piacciavi, generosa Erculea prole, ornamento e splendor del secol nostro, Ippolito, aggradir questo che vuole e darvi sol può l’umil servo vostro. Quel ch’io vi debbo, posso di parole pagare in parte, e d’opera d’inchiostro; né che poco io vi dia da imputar sono; che quanto io posso dar, tutto vi dono. Voi sentirete fra i più degni eroi, che nominar con laude m’apparecchio, ricordar quel Ruggier, che fu di voi e de’ vostri avi illustri il ceppo vecchio. L’alto valore e’ chiari gesti suoi vi farò udir, se voi mi date orecchio, e vostri alti pensier cedino un poco, sì che tra lor miei versi abbiano loco. (O. F. I, 3–4)

Gerade in der Kontrastrelation zum beinahe burlesken Ton der vorangegangenen Strophe, mit dem der Titelheld Orlando und zugleich der Erzähler als eine angeblich den Kontingenzen der Lebenswelt ausgelieferte Dichterfigur eingeführt wurden, sticht hier die hochepische, syntaktisch komplexe und vom virtuosen Einsatz rhetorischer Figuren geprägte Diktion hervor, die, offenbar frei von Ironie und Doppelsinn, die Ernsthaftigkeit des genealogischen Unternehmens zu bekräftigen scheint.285 Als ‚unepisch‘ könnte allerdings die irreguläre (und, wie erwähnt, von 283 Zum ‚elegischen‘ Gestus s. Sangirardi 2006, S. 124 f. 284 S. weiter unten, Abschnitt 6.8. Zu dem Assoziationsraum, der durch diese Anspielung auf den antiken Herkules wie auch durch die Titelreferenz des Orlando furioso auf Senecas Tragödie Hercules furens eröffnet sein mag, s. die anregenden, wenn auch spekulativen Ausführungen in Ascoli 1987, S. 46–70. S. ferner Ferroni 2008, S. 137 u. 139. 285 Zu einer genaueren Analyse dieser beiden Strophen und ihrer rhetorischen Stilmittel sowie des gesamten Proömiums s. Hempfer 2013, S. 67 f.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

Santoro monierte bzw. als Indiz einer Abwertung der Ruggiero-Handlung verstandene) Einfügung einer weiteren propositio in die Zueignung an den Widmungsträger erscheinen. Vor allem aber wird hier erstmals im Text ein charakteristischer Ambiguisierungseffekt sichtbar, der aus einer für den Furioso schlechthin konstitutiven Überlagerung und Kontamination unterschiedlicher generischer Codes (die keinesfalls auf ‚Epos‘ und ‚Romanzo‘ reduzierbar sind) und ihnen assoziierter stilistischer Register resultiert. Allein die Disponibilität ganz gegensätzlicher Erzählhaltungen und Erzählerrollen – also etwa die eines epischen Sängers oder poeta vates und die eines romanzesken Erzählers mit dem stilisierten Gestus eines cantastorie oder giullare – mindert die Verbindlichkeit jeder einzelnen.286 Im konkreten Fall sind Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit der beiden Oktaven der dedicatio, wie ironiefrei diese für sich genommen sein und wie mustergültig sie auch der vom Epos geforderten Stilhöhe entsprechen mögen, doch davon beeinträchtigt, dass das ambitioniert sich gebende genealogische Projekt einer Erzählinstanz in die Hand gelegt ist, die, ihren Liebesaffekten ausgeliefert, eben noch befürchtete, ihr dichterisches Werk infolge Verstandestrübung vielleicht nicht vollenden zu können. Zu einer Neubewertung dieser Strophen wird man schließlich unweigerlich kommen, wenn man sie im Licht der ‚poetologischen‘ Darlegungen des Apostels Johannes liest, die er auf dem Mond vorträgt. 6.4 CANTO III: MUSENANRUF, GENEALOGISCHER KATALOG UND SELBSTPROPHEZEIUNG DES AUTORS Nachdem im Eingangsproömium das genealogische Projekt angekündigt worden ist, gibt es über den gesamten Text verteilt mehrere Passagen, einige davon umfangreich, in denen die einzelnen Stationen der estensischen Sippengeschichte erzählt oder benannt werden. Keine einzige dieser Stellen entfaltet die vollständige Chronik der Este zwischen Hektor und Ippolito, Troia und Ferrara; erst die Zusammenschau mehrerer dieser Stellen ergibt den kompletten genealogischen Zyklus. Dabei wird, wie schon erwähnt, die gesamte Etappe zwischen Hektor und Ruggiero nur sehr lapidar und summarisch abgehandelt; Ariost konnte hier wohl voraussetzen, dass seine Leser oder Hörer schon von Boiardo, der diesen genealogischen Abschnitt recht ausführlich von Ruggiero in propria persona erzählen lässt, hinreichend ins Bild gesetzt worden waren. Der weitaus größte Anteil der genealogischen Kataloge, Exkurse und Episoden des Furioso gilt der Etappe zwischen Ruggiero und den – auf die Erzählgegenwart bezogen – ‚aktuellen‘ Vertretern der Dynastie, Alfonso und Ippolito. Da die genealogische Abfolge der Nachkommen Ruggieros und Bradamantes ausschließlich von intradiegetischen Sprechern berichtet wird, die sich auf dem Zeitniveau der beiden Protagonisten Ruggiero und Bradamante befinden, müssen diese Sprecher über prophetisches Wissen verfügen. Ariost hat 286 Natürlich ist auch die mediale Ambivalenz der beiden Strophen, die den Erzähler sein Werk einerseits als „opera d’inchiostro“ ankündigen lässt, es zugleich aber zu Gehör bringen will („voi sentirete“; „se voi mi date orecchio“) mit der systematischen Hybridisierung von Diskursen zu verrechnen. S. hierzu Kapitel 1.

6.4 Canto III: Musenanruf, genealogischer Katalog und Selbstprophezeiung des Autors 147

für diese Funktion vor allem die Fee oder maga Melissa erfunden, eine der wenigen Figuren, die nicht bereits bei Boiardo vorkommen; weitere ‚prophetische‘ Instanzen sind Atlante, der Ziehvater Ruggieros, sowie der aus den arthurischen Erzählzyklen bekannte Magier Merlin.287 Schließlich ist, in einer kurzen, aber besonders exponierten Sequenz, der leibhaftige Apostel Johannes mit der Aufgabe prophetischer Vorausschau auf das Ferrara Ippolitos betraut. Diese Stelle, die nicht zuletzt wegen ihrer Anspielung auf das Johannesevangelium und dessen Logos-Prolog hervorsticht, habe ich weiter oben bereits ausführlich besprochen.288 Zu einer ersten prophetischen Szene kommt es im 3. Gesang. Eingeleitet wird dieser Gesang von einem Musenanruf. Nachdem im Eingangsproömium die widerspenstige Geliebte an die Stelle der Muse getreten war, und dies eher als Instanz potentieller Werkvereitelung denn als Inspirationsquelle, wird in diesem Binnenproömium, bevor der Erzähler sich anschickt, die ruhmreichen Ahnen seines Dienstherrn zu beschwören, ein scheinbar regelgerechter Musenanruf – genauer gesagt: eine Anrufung Apollos als Herrn der Musen – ‚nachgeholt‘: Chi mi darà la voce e le parole convenienti a sì nobil suggetto? chi l’ale al verso presterà che vole tanto ch’arrivi all’alto mio concetto? Molto maggior di quel furor che suole, ben or convien che mi riscaldi il petto; che questa parte al mio signor si debbe, che canta gli avi onde l’origine ebbe: di cui fra tutti li signori illustri, dal ciel sortiti a governar la terra, non vedi, o Febo, che ’l gran mondo lustri, più gloriosa stirpe o in pace o in guerrra; né che sua nobilitade abbia più lustri servata, e servarà (s’ in me non erra quel profetico lume che m’inspiri) fin che d’intorno al polo il ciel s’aggiri. E volendone a pien dicer gli onori, bisogna non la mia, ma quella cetra con che tu dopo i gigantei furori rendesti grazia al regnator de l’etra. S’instrumenti avrò mai da te migliori, atti a sculpire in così degna pietra, in queste belle immagini disegno porre ogni mia fatica, ogni mio ingegno.

287 Zur Figur des Merlin und zur erzählstrukturellen Funktion prophetischer Rede zwischen Artusdichtung und Orlando furioso s. Ihring 1999. 288 Die umfangreiche prophetische Sequenz im 33. Gesang (XXXIII, 1–57), eine Hinzufügung der Fassung von 1532, in der Bradamante von Merlin geschaffene Bilder betrachtet, die zukünftige und zumeist tragisch verlaufende ‚fränkische‘ Kriegszüge nach Italien darstellen, hat nur indirekt mit den Este und ihrer Genealogie zu tun. Zu dieser Sequenz und wie in ihr Fiktion und Geschichte in Beziehung gesetzt werden s. Hempfer 2000.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos Levando intanto queste prime rudi scaglie n’andrò con lo scarpello inetto: forse ch’ancor con più solerti studi poi ridurrò questo lavor perfetto. (O. F. III, 1–4, 4)

Der Erzähler bittet um Inspiration und Steigerung seines poetischen Furors, um seinem Vorhaben einer epischen Verherrlichung des Hauses Este gewachsen zu sein.289 Im Orlando furioso ist dies der einzige explizite Rekurs auf eine Inspirationspoetik platonischer oder neuplatonischer Provenienz und den damit assoziierten furor poeticus.290 Das „molto maggior“ dürfte, wie bereits notiert, die entsprechenden Syntagmen in den analogen Textstellen bei Boiardo und Vergil zitieren („assai maggiore“ und „cosa magior“ bei Boiardo; „maior“ bzw. „maius“ bei Vergil), wo sie ebenfalls eine Zäsur markieren und einen Neuanfang oder eine thematische Umorientierung hin zu einem gewichtigeren Thema und einen entsprechenden Registerwechsel der Diktion anzeigen.291 Bei Boiardo und Vergil fungieren diese Syntagmen aber als Prädikate des Redegegenstands, der besungenen oder zu besingenden ‚Sache‘, bei Ariost dagegen ist das „molto maggior“ Prädikat der vom Gegenstand geforderten Sprachgewalt, des elokutionären Vermögens, das der zu besingenden ‚Sache‘, der illustren Ahnenreihe seines „signor“ („gli avi onde l’origine ebbe“), würdig wäre. Es mag sein, dass diese Umwidmung des „molto maggior“ mit Durlings Beobachtung zu verrechnen ist, nach der bei Ariost der Musenanruf nicht mehr auf ein überlegenes und vollständigeres Wissen zielt, das ohne numinosen Beistand nicht zu erlangen wäre, sondern nur noch auf gelingende elocutio.292 In jedem Fall ist auch diese invocatio mit Ironie imprägniert. Obwohl (oder gerade weil) Apollo als Musagetes genannt wird, bleibt die Quelle der Inspiration ungewiss, und ob sie sich einstellt, erscheint als vage Möglichkeit. Vor allem wird die erbetene Erleuchtung in prätendierter Zaghaftigkeit unter einen Irrtumsvorbehalt gestellt: „s’in me non erra quel profetico lume che m’inspiri“ (III, 2, 6–7).293 Nur prätendiert und damit ironisch ist dieser Vorbehalt, weil die Vorhersa289 Bigi nennt in seinem Kommentar Boiardo und Vergil sowie Dante und Tibull als Quellen dieses Proömiums, Ceserani zusätzlich noch Statius; Ascoli bringt darüber hinaus Bembos Asolani ins Spiel (Ascoli 1987, S. 340). 290 S. Durling 1965, S. 137 und Ascoli 1987, S. 339. Ferner Chesney 1982, S. 195 f. 291 S. oben S. 143. 292 „[…] although the Poet is invoking Phoebus, it is only for help in elocution, not for knowledge. The Poet has an alto concetto – he does not need help in understanding the greatness of his patron, only in expressing it.“ (Durling 1965, S. 137) Durling erkennt in diesem Musenanruf überdies eine Inkompatibilität von Inspirationspoetik (furor poeticus) und Dichtung als techné, als die sie in den Versen III, 3,5–4,4 mit ihrer ‚skulpturalen‘ Dichtungsmetaphorik („sculpire in così degna pietra“) und ihrer Beschwörung von „solerti studi“ konzipiert zu werden scheint (ebd.). Der kontaminierende Rekurs auf sehr unterschiedliche Quellen, Formen des Musenanrufs und ihnen korrelative Dichtungskonzeptionen lässt dieses Proömium als überaus komplex, vielleicht auch als inkonsistent erscheinen. Eine Analyse, die den interferierenden oder sich in ihm kreuzenden Referenzen umfassend gerecht würde, fehlt m. E. bislang; meine hier vorgetragene kann und will dies ebenfalls nicht leisten. 293 S. hierzu Hempfer 2002 (11982), S. 102 f. sowie Hempfer 2010a, S. 53. Allerdings ist die Unzuverlässigkeit der Musen notorisch; sie können sowohl die Wahrheit künden als auch Trü-

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gen, in deren Genuss Bradamante kommt und die, nebenbei bemerkt, nicht von den Musen, sondern vom „profetico spirto“ Merlins (ebd., 9,4) ermöglicht werden, für den Erzähler und sein zeitgenössisches wie nachgeborenes Publikum keine Prophetien, sondern bereits Erinnerungen sind, vaticinia ex eventu, und deshalb auch nicht der spezifischen Irrtumsgefährdung von Vorhersagen unterliegen. Der Erzähler nimmt also ein fragiles prophetisches Vermögen in Anspruch, auf das er in keiner Weise angewiesen ist. Schließlich ist furor im Orlando furioso unweigerlich dem Zustand des Liebeswahns assoziiert und damit eine potentiell negative Kategorie; da überdies der Erzähler diesen Zustand, der den Titelhelden bereits ereilt hat, seit dem Eingangsproömium und dann immer wieder auch für sich selbst befürchtet, hat auch der an dieser Stelle vorgetragene Wunsch nach Steigerung seines Furors einen ironischen haut-goût. Unmittelbar anschließend an dieses Proömium folgt eine ausgedehnte Szene in einem unterirdischen Gewölbe oder einer Grotte, der Begräbnisstätte Merlins, des berühmten Magiers der arthurischen Erzähltradition. Bradamante war in diese Grotte gestürzt infolge einer List des maganzese Pinabello, des von Bradamante zunächst nicht erkannten Erbfeindes ihrer Familie, des Hauses Chiaramonte,294 der sie heimtückisch ums Leben bringen wollte (O. F. II, 34–76). Tatsächlich erweist sich der Schurke (der später – in O. F. XXII, 90–97 – für seinen inganno mit dem eigenen Leben bezahlen muss295) als Werkzeug des „voler divino“ (O. F. III, 9, 2), der Sorge trug, dass Bradamante an diesen Ort geriet und bei dem Sturz unversehrt blieb. In dieser Grotte wird Bradamante in der Folge eine Zukunftsschau gewährt, die ihr die ruhmreiche Generationenfolge des von ihr und Ruggiero noch zu begründenden Geschlechts szenisch, mit den Verfahren erzählerischer Evidentialisierung, vor Augen führt. Zunächst wird sie von der hier erstmals auftretenden Melissa sowie von dem aus dem Grabe zu ihr sprechenden Merlin über den Grund ihres vom „savio mago“ (ebd. 10,2) vorhergesehenen Sturzes in die Grabeshöhle und über ihre von der göttlichen Vorsehung verfügte Bestimmung belehrt (ebd. 8–20). In diesem Zusammenhang wird auch ein einziges Mal, und ohne in Einzelheiten zu gehen, von der troianischen Herkunft sowohl Ruggieros wie auch Bradamantes („L’antiquo sangue che venne da Troia, / per li duo miglior rivi in te commisto …“, ebd. 17, 1–2) gesprochen. Schließlich – Merlin ist unterdessen in sein Grab zurückgesunken und hat der maga das Feld überlassen – erlebt Bradamante gleichsam eine Epiphanie zukünftiger Vertreter der von ihr und Ruggiero noch zu begründenden ruhmreichen Herrscherfamilie. Die ganze Szene referiert auf die Unterweltgerisches, der Wahrheit nur Ähnelndes. S., mit Bezug auf Hesiod, Heitsch 2001 S. 23, sowie Albrecht 1994, Bd. 1, S. 227, A. 2: „Hesiods Musen können Wahrheit und/oder Lügen verkünden.“ Auch Ovid gibt in seinen Fasti (5,1–110) zu verstehen, dass es unterschiedliche Versionen der Wahrheit gibt, je nachdem, welche Muse gerade spricht. Der Vorbehalt ist bei Ariost überdies in Klammern gesetzt, was als eine dezidiert graphische Markierung vielleicht einen ironischen Kontrast zu der gerade an dieser Stelle emphatisch herausgestellten Mündlichkeit bzw. Klanglichkeit epischer Rede („Chi mi darà la voce“) herstellt. 294 „Tra casa di Maganza e di Chiarmonte / era odio antico e inimicizia intensa“ (O. F. II, 67, 1–2). 295 In Unstimmigkeit mit der ‚zyklischen‘ Chronologie, insofern Pinabello/Pinabel im Rolandslied, dessen Geschehen ja nach dem im Furioso erzählten sich ereignet, durchaus noch eine wichtige Rolle spielt (s. o. S. 140, A. 261).

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

reise Aeneas’ und die sogenannte „Heldenschau“ der Aeneis, bei der Anchises dem Sohn die Schatten seiner zukünftigen Nachfahren buchstäblich vor Augen führt.296 Während aber bei Vergil die Zukunftsschau dem Musenanruf vorangeht, ist es bei Ariost umgekehrt; in der Aeneis sind die Musen dem möglichst zuverlässigen, wahrheitsgetreuen, umfassenden Erinnern zugeordnet, bei Ariost dem – im Übrigen nur vorgetäuschten – Vorauswissen. Eine offenkundige Differenz zur Katabasis des Aeneas liegt ferner darin, dass bei Ariost einer weiblichen Heldin die Zukunftsschau gewährt wird. Begleitet von den Erläuterungen Melissas erscheinen Bradamante in geisterhafter Gestalt nacheinander und in halbwegs chronologischer Abfolge mehr als dreißig zukünftige Estensi, beginnend mit Ruggierino, dem Sohn Ruggieros und Bradamantes, der ebenso fiktiv ist wie seine Eltern, endend mit den höchst gegenwärtigen und realen Ippolito und Alfonso d’Este sowie den Söhnen des letzteren (ebd. 24–59). Die Revue der Nachkommen umfasst fiktive, legendäre und realgeschichtliche Gestalten, wobei die Zuschreibung illustrer Taten an letztere durchweg enkomiastisch übertrieben und zuweilen rein fiktional ist, und auch da, wo sie dies nicht ist und sich auf historisch bezeugte Personen und Geschehnisse bezieht, gelegentlich falsche Zuordnungen vornimmt.297 Am ausführlichsten werden die Vertreter der jüngsten Familiengeschichte bedacht, Borso d’Este (dem Strozzi ein ganzes Epos gewidmet hatte) zwar nur mit einer Oktave, Ercole I aber mit vier und die Brüder Alfonso und Ippolito insgesamt mit acht Strophen. Hiervon sind eine Strophe beiden zusammen, fünf Alfonso und nur zwei Ippolito gewidmet. Letzterer wird freilich in späteren Passagen des Furioso noch ausgiebig mit Ruhm überhäuft (v. a. in O. F. XXXV, 3–9 sowie XLVI, 81–97) und ist insgesamt der Hauptprofiteur der Ariost’schen Enkomiastik. Im Übrigen erscheint die Position Ippolitos in diesen beiden Strophen dadurch besonders markiert und hervorgehoben, dass er, wenn auch implizit, mit dem Kaiser Augustus verglichen wird. Wie diesem, so heißt es hier, wird auch Ippolito, dem „gran Cardinal de la Chiesa di Roma“ (O. F. III, 56, 4), dereinst sein „Maron“, also sein Vergil, erstehen. Mit „Maron“, dem Gentilnamen Vergils (Publius Vergilius Maro), mag auch auf Andrea Marone verwiesen sein, wie Ariost ein familiare Ippolitos, der einen nicht unbeträchtlichen Ruf als verseggiatore besaß, und der über jedes beliebige Thema in lateinischen Versen zu extemporieren imstande gewesen sein soll.298 Ariost erwähnt ihn ein zweites Mal in O. F. XLVI, 13, 8 und widmet ihm in einer seiner Satire (Satira I, 115–126 und 171) mehrere Verse. In dieser Anspielung auf Vergil indessen nicht zugleich auch eine Selbstprophezeiung Ariosts zu erkennen, wie es Bigi in seinem Kommentar empfiehlt, setzt allerdings, so scheint mir, eine geradezu übermenschliche Kraft zu interpretatorischer Urteilsenthaltung voraus, nachdem zu Beginn desselben Gesangs wie auch schon im Hauptproömium eben die epische Verherrlichung der Este in unverkennbarer Parallelbildung zur Aeneis als Ziel des eigenen Epos angekündigt worden war.299 Dass diese Parallelbildung zugleich bestän296 297 298 299

S. Aeneis VI, 751 ff. Näheres hierzu im detaillierten Kommentar Bigis. S. hierzu Calitti 2008. Bigi schreibt in seinem Kommentar: „l’affermazione […] relativa all’ esistenza di un nuovo Marone al tempo di Ippolito, dovrà essere intesa come una allusione scherzosa o sarcastica non

6.4 Canto III: Musenanruf, genealogischer Katalog und Selbstprophezeiung des Autors 151

dig unterlaufen und das ‚Modell‘ Aeneis mit anderen ‚Modellen‘ epischen Erzählens konterkariert oder ‚kontrapunktiert‘ wird, ist eine ganz andere Frage, die hier schon mehrfach angesprochen wurde und auf die ich auch später noch zurückkommen werde. Wie verbindlich ist nun dieser genealogische Katalog, der die Este verherrlichen soll, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Mondepisode und der paradoxalen Poetik des Apostels Johannes liest? Und wie ernst zu nehmen ist er, nachdem der Offenbarungsgestus epischen Herrscherlobs in der Exposition des Vorhabens von dessen ‚Sänger‘ unter Vorbehalt gestellt und letztlich ironisiert worden ist? Ich werde die Frage nach dem epistemischen Status, dem Geltungsanspruch und der Funktion der Ariostschen Genealogie später und vor dem Hintergrund ihrer Kontextualisierung in einem zeitgenössischen System des genealogischen Diskurses nochmals stellen und versuchen, sie zu beantworten. An dieser Stelle dazu einige erste Anmerkungen: Im Einklang mit den expliziten und impliziten poetologischen Propositionen der Mondepisode lässt sich das Proömium von Canto III, das den estensischen Ahnenkatalog ankündigt, als Absage an jegliche Inspirationspoetik und als Entsakralisierung des enkomiastisch-genealogischen Diskurses und seiner Konstrukte verstehen. Diese Konstrukte werden dadurch einerseits überhaupt erst weltlicher Kritik verfügbar, andererseits wird der Erzähler-Dichter als zwar autonomes, aber eben auch profanes, selbst irrtumsgefährdetes und damit profaner Kritik unterliegendes Subjekt genealogischer Diskurse eingesetzt. Wenn im Furioso die tradierten Modi enkomiastischer Herkunftserzählungen – deren autoritatives und im Proömium von Canto III zitiertes Modell natürlich die Aeneis ist – der Ironisierung und damit der Kritik anheimfallen, erfährt damit auch die enkomiastische Genealogie der Este eine Ambiguisierung, die ich für nicht auflösbar halte oder die, je nach Interpretationsperspektive, entweder nach der einen – kritisch-ironischen – oder der anderen – affirmativen – Seite hin auflösbar ist. Dennoch erkenne ich in dem eigentlichen Ahnenregister der Este, das Ariost seinen Erzähler im Anschluss an das inspirationsskeptische Proömium präsentieren lässt, keinerlei Ironie. Zwar all’A. stesso (come qualcuno pensa), ma all’improvvisatore Andrea Marone […].“ Auch Ceserani zeigt in seinem Kommentar eine seltsame Scheu, die Prophezeiung eines zweiten Vergil auf Ariost selbst zu beziehen: „È possibile che l’Ariosto accenni, con tono tra iperbolico e malizioso, all’improvvisatore Andrea Marone che visse alla corte estense […]. È possibile anche, ma ancor meno probabile, che egli accenni scherzosamente a se stesso, proclamandosi nuovo Virgilio.“ Tatsächlich ist die von Ceserani als ‚wenig wahrscheinlich‘ erwogene Referenz nicht nur logisch, sondern sie wird durch den unmittelbaren Kontext zwingend nahegelegt, was die andere Referenz, die auf Marone, keineswegs ausschließt. Weder Bigi noch Ceserani scheinen zu erkennen oder sich damit abfinden zu wollen, dass es, wie so oft im Furioso, auch hier um Interpretationsspielräume oder um unterschiedliche Referentialisierungsoptionen geht, die irreduzibel sind. Der Nachdruck mit dem einige Kommentatoren jener Stelle eine Selbstparallelisierung Ariosts (oder des Ariost’schen Erzählers) mit Vergil bestreiten, dürfte auf die oben bereits besprochene Lektüretradition zurückzuführen sein, die die Genealogie als ein akzidentelles Textelement verstehen möchte und ihr jede strukturgebende Relevanz, die den Furioso in eine Parallele zur Aeneis stellen würde, abspricht. Die Vereindeutigung zugunsten Andrea Marones hätte im übrigen den Nebeneffekt einer ironischen Diminuierung des ganzen genealogisch-enkomiastischen Projekts, das Ippolito d’Este als Antitypos des römischen Augustus in Szene setzt. Über diesen Effekt scheint sich Bigi gar nicht im Klaren zu sein.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

kann – spätestens nach Lektüre der Mondepisode – kein Zweifel daran bestehen, dass Ariost sich der Aleatorik genealogischer Konstrukte, die sie auch zeitgenössisch angreifbar machten, bewusst war, dennoch hält er sich mit seiner Este-Genealogie an den Mainstream der einschlägigen Geschichtsschreibung (ich komme darauf unter 6.8. ausführlich zurück), bereichert natürlich, gerade hinsichtlich der frühesten Etappen der estensischen Geschichte, um poetische Erfindungen und Konjekturen, wie sie auch einem Vergil zugestanden wurden, der in seiner Aeneis ebenfalls von einem Geschehen erzählt, das nach allgemeinem Verständnis im Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit in seinem Kern für historisch wahr galt. Dass der estensische Ahnenkatalog von Canto III trotz seiner ironisch imprägnierten Exposition grundsätzlich affirmativ intendiert ist, mag man gerade auch daran ablesen, dass dieser Katalog sich nicht auf die triumphalen Momente der Ferrareser Dynastie beschränkt. Ganz an seinem Ende werden auf Nachfrage Bradamantes („Chi son li dua sì tristi, / che tra Ippolito e Alfonso abbiamo visti?“; O. F. III, 60, 7–8) Giulio und Ferrante d’Este genannt, zwei Vertreter der jüngsten Este-Geschichte, die eine Verschwörung gegen die eigenen Brüder, Alfonso und Ippolito, angeführt hatten. Die Verschwörung wurde aufgedeckt und niedergeschlagen, die beiden aufrührerischen Brüder zunächst zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Kerkerhaft begnadigt. Ariost hatte bereits im Jahr dieser Verschwörung, 1506, eine Ekloge verfasst, in der er die Verschwörer mit harschen Worten geißelt und ihre strenge Bestrafung fordert.300 In den ihnen geltenden Versen aus dem Furioso (ebd. 60, 7– 62) erscheinen die Brüder dagegen als Opfer der Einflüsterungen von Bösewichtern („uomini rei“) und verdienen Gnade, wenn nicht aus Recht, so doch aus Barmherzigkeit. Der Ton gerade dieser letzten Verse der Bradamante gewährten Ahnenschau ist zweifellos ernst, wenn nicht bitter (Melissa zu Bradamante: „amareggiare al fin non te la voglia.“; ebd. 62,8) und bezeugt eher die Möglichkeit eines kritischen Blicks auf die Familiengeschichte als eine generelle Ironisierung ihrer Aufbereitung im Modus der Genealogie. 6.5 DIE WEIBLICHE AHNENREIHE DER ESTE UND WEITERE GENEALOGISCH-ENKOMIASTISCHE PASSAGEN Die Epiphanie illustrer Nachkommen, die Bradamante in der Grotte Merlins zuteil wird, bildet das Kernstück der Este-Genealogie, die dann in späteren, durchweg kürzeren genealogischen Passagen in ihrer zeitlichen Ausdehnung komplettiert und in ihrer ‚personalen‘ Besetzung ergänzt wird. Ihr unmittelbares Komplement und Pendant findet diese erste genealogische Musterung, die ausschließlich männliche Exemplare der Sippe aufmarschieren lässt, im 13. Gesang, in einer allerdings weitaus kürzeren Reihe ihrer weiblichen Vertreter (O. F. XIII, 56–73). Als Bradamante Melissa fragt, ob unter ihren Nachkommen sich auch illustre Frauen fänden, und sie bittet, doch auch von diesen zu berichten, will die Fee dieser Bitte zwar gerne nachkommen, tadelt aber Bradamante zunächst milde, weil sie es versäumt habe, bereits 300 S. hierzu Bacchelli 1958 (11930); Dorigatti 2000, S. 115–120.

6.5 Die weibliche Ahnenreihe der Este

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an Merlins Grab nachzufragen, als die Möglichkeit bestand, von jenen Frauen nicht nur zu reden, sondern sie auch visuell zu vergegenwärtigen. Ihre Aufzählung ‚estensischer‘ Frauen, die dann folgt, ist wesentlich kürzer als der ‚männliche‘ Katalog und will ausdrücklich nicht auf Vollständigkeit zielen, sondern nur einige exemplarische Vertreterinnen der Familiengeschichte vorstellen, wie Melissa mehrfach betont (O. F. XIII, 58; 65; 73). Ein Gegenstück zum Katalog der Männer ist diese weibliche ‚Musterkollektion‘ auch deshalb, weil sie die Chronologie umkehrt und von den jüngsten Repräsentantinnen des Hauses zuerst spricht. Sie beginnt mit Isabella d’Este (O. F. XIII, 59–61), der Ariost in besonderer Weise verbunden gewesen sein soll und die auch später noch einmal mit einer Eloge bedacht wird (s. O. F. XLII, 84).301 Anders als im Katalog der Männer werden hier ausschließlich historisch – wenn auch z. T. nur schwach – bezeugte Gestalten gewürdigt, zumeist noch lebende oder zumindest der jüngeren Geschichte zugehörige, neben Isabella etwa ihre Schwester Beatrice, Eleonora d’Aragona, die Frau Ercoles I, oder Lucrezia Borgia, die Papsttochter und Frau Alfonsos. Die frühesten Vertreterinnen der Familie, die genannt werden, sind eine Tochter Aldobrandinos III d’Este, die 1234 den ungarischen König Andreas II geheiratet hat, sowie eine Alda di Sassogna, die mit Alberto Azzo II d’Este (11. Jh.) verheiratet gewesen sein soll.302 Wenngleich die ‚weibliche‘ Liste kürzer ist und nur relativ wenige Frauen der Dynastie versammelt, die deren notorische Tugenden beispielhaft verkörpern, soll auch sie die Epochen überdauernde Kontinuität der dynastischen Sippe bezeugen. Neben den beiden umfangreichen genealogischen Katalogen in Canto III und XIII, die herausragende männliche und weibliche Vertreter der „Rugeria stirps“ Revue passieren lassen, gibt es weitere, zumeist kürzere Passagen, die einzelne Vertreter der Este – Isabella, Alfonso und vor allem Ippolito – enkomiastisch würdigen und dabei nochmals ihre von der göttlichen Providenz überwachte Herkunftsgeschichte akzentuieren. Größere Bedeutung kommt dabei jener hier bereits ausführlich analysierten Sequenz im Kontext der Mondreise Astolfos zu (O. F. XXXV, 3–9), die Ippolito zum Gegenstand hat und sich von den anderen genealogischen Enkomien des Furioso grundlegend unterscheidet; besonders aufschlussreich ist sie zum einen wegen ihrer syntagmatischen und semantischen Nachbarschaft zur Dichtungsapologie des Apostels Johannes und zum anderen, weil sie die dichterische Herrscherenkomiastik in allusive Beziehung zur biblischen Logos-Theologie stellt. Das weitaus umfangreichste Enkomion Ippolitos findet sich indessen im letzten, dem 46. Gesang des Furioso (O. F. XLVI, 81–97), dessen Verse das Bild des Kardi301 Isabella d’Este, die Schwester Ippolitos und Alfonsos und Gattin Ludovico Gonzagas, wird zudem mit der Figur der Isabella Reverenz erwiesen, die ihrem Liebsten über den Tod hinaus die Treue hält und deren Liebesverhältnis zu Zerbino vielleicht das einzige im Furioso ist, das durch keinerlei utilitaristische und sensualistische Nebenmotive und negativ konnotierte Affekte getrübt und vom Erzähler weitgehend ironiefrei gerühmt wird. Andererseits bekommt, wie auch Bigi in seinem Kommentar feststellt, der Vergleich Isabellas d’Este mit Penelope als dem Inbegriff ehelicher Treue (O. F. XIII, 60, 7–8) eine ambige Bedeutung, wenn man ihn mit O. F. XXXV, 27,8 konfrontiert, wo – in ausdrücklicher Umkehrung sämtlicher Topoi epischer Überlieferung – Penelope die Tugend der Keuschheit gerade abgesprochen wird. S. hierzu Regan 2005. 302 Nähere Angaben auch hier im Kommentar Bigis.

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nals als eines perfetto cortegiano im Sinne Castigliones zeichnen.303 Seine herausragenden Tugenden, seine Klugheit, Mut, Kraft, Freigiebigkeit und Anmut (grazia), die er schon als Kind zeigte, werden gepriesen, seine militärischen Verdienste – vor allem in der Schlacht von Polesella – werden betont und sein ‚detektivischer‘ Scharfsinn und seine staatstragende Selbstlosigkeit, die zur Aufdeckung der Verschwörung Giulios und Ferrantes d’Este führten und ihn an die Seite Ciceros als den Bezwinger Catilinas stellen, werden hervorgehoben. Dieses enkomiastische Résumé der Tugenden und Verdienste Ippolitos bietet sich auf der Hochzeit Bradamantes und Ruggieros den Augen des Brautpaars und der Hochzeitsgäste wiederum im Modus einer figurativen Prophetie dar. Wie schon in der Grotte Merlins sind zukünftige Ereignisse visuell dargestellt, hier nun aber nicht als performance geisterhafter Präfigurationen dereinst lebender Menschen, sondern als bildliche Darstellung auf den Wänden eines prächtigen Hochzeitszeltes. Dieses Zelt wurde eigens von der maga Melissa herbeigeschafft, die auch in diesem Fall den Betrachtern das Gesehene erläutert und auslegt. Ursprünglich befand sich das Zelt im Besitz des troianischen Hektor und die es ausschmückenden prophetischen Abildungen – kunstvolle Stickereien – sind ein Werk seiner Schwester, der seherisch begabten Kassandra. Auch Hektor war mithin, wie jetzt Ruggiero und Bradamante, bereits ein Blick auf seinen hervorragendsten (aus der Perspektive des diesem geltenden enkomiastischen Diskurses) Nachfahren vergönnt. Nochmals werden an dieser Stelle die troianische Herkunft Ippolitos und der Este bekräftigt und zugleich die entferntesten Pole der genealogischen Sequenz miteinander kurzgeschlossen. Diese troianische Herkunft wird nun zwar mehrfach herausgestellt,304 das genealogische Intervall zwischen Hektor und Ruggiero und die unmittelbare Vorgeschichte des Letzteren werden aber nur lapidar behandelt, im Wesentlichen in zwei Passagen. In der ersten (O. F. VII, 56–63) ist Ruggiero den trügerischen Reizen der bösen Fee Alcina erlegen und hat darüber seinen providentiellen Auftrag, über den er längst ins Bild gesetzt worden war, vergessen. Melissa, die in dieser Szene, die Gestalt Atlantes, des Magiers und Ziehvater Ruggieros angenommen hat, um ihrem Tadel mehr Autorität zu verleihen, schilt Ruggiero wegen seiner Selbstvergessenheit und mahnt ihn, seiner Bestimmung wieder gewahr zu werden. In diesem Zusammenhang, in dem von Troia explizit nicht die Rede ist, erfährt man von Ruggieros Kindheit unter der Obhut Atlantes, eine Episode, die im Innamorato von Ruggiero selbst erzählt wird (s. O. I. III, V, 35–37) und die ihm hier von Melissa (in der Gestalt Atlantes) ins Gedächtnis zurückgerufen und vorgehalten wird. Neben dieser Rückschau auf die unmittelbare Vergangenheit Ruggieros wird aber auch der zukünftige Glanz des von ihm zu begründenden Geschlechts gepriesen, unter erneuter Hervorhebung Alfonsos und Ippolitos d’Este. Die Herkunft aus Troia und der weitere genealogische Verlauf zwischen Astyanax, dem Sohn Hektors, und Ruggiero werden schließlich im 36. Gesang (O. F. XXXVI, 70–75) berichtet. Die Sequenz ist ebenfalls deutlich ausgerichtet an der entsprechenden Erzählung Ruggieros im Or303 S. Stimato 2009. 304 Neben den bereits angeführten Stellen etwa in O. F. XXVI, 19, wo Ruggiero als „Ettor nuovo“ figuriert oder ebd. 99, 3–4, wo es von ihm heißt: „Ruggier l’origine traea / dal fortissimo Ettor“. Ferner O. F. XLI, 64.

6.5 Die weibliche Ahnenreihe der Este

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lando innamorato (O. I. III, V, 18–34), wobei sich Ariost, wie gesagt, wesentlich kürzer fasst und die siebzehn Oktaven, die Boiardo in diese Erzählung investiert, unter Auslassung zahlreicher, zumeist fiktiver Glieder der genealogischen Kette, auf nur fünf Strophen komprimiert. Bekanntlich unterscheiden sich die beiden früheren Fassungen des Orlando furioso von 1516 und 1521 erheblich von der letzten Fassung von 1532, zum einen hinsichtlich ihrer sprachlichen Gestalt, zum anderen aber in ihrem Umfang, nachdem dieser letzten Fassung mehrere Sequenzen und Episoden hinzugefügt worden waren, die sie um über siebenhundert Oktaven oder von 40 auf 46 Gesänge anschwellen ließen.305 Kaum davon berührt sind allerdings die explizit genealogischenkomiastischen Passagen, die nur wenige Kürzungen bzw. Erweiterungen erfuhren. Die Veränderungen der letzten Fassung von 1532 sind von einigen Interpreten im Sinne einer Stärkung der ‚epischen‘ und ‚ernsthaften‘ Züge des Furioso zu Lasten seines ‚romanzesken‘ Charakters interpretiert worden, wobei dieser Befund natürlich davon abhängt, was man unter diesen als oppositiv verstandenen Attributen jeweils versteht.306 Zwischen der ersten und der letzten Fassung liegen darüber hinaus einige für den Furioso als genealogisches Epos relevante außerliterarische Ereignisse: Neben der Verschiebung der inneritalienischen Machtverhältnisse zugunsten einer spanischen Suprematie, wodurch auch der Status des stets ‚frankophilen‘ Ferrara und damit der Este tendenziell gemindert wurde, waren dies der Bruch Ariosts mit Ippolito im Jahr 1517 und vor allem der vorzeitige und unerwartete Tod des Kardinals, des vermeintlichen Ziel- und Höhepunkts der im Furioso besungenen dynastischen Familiengeschichte, im Jahre 1520. Dieser Tod hat in den Fassungen von 1521 und 1532 keinerlei explizite Spuren hinterlassen, er wird weder erwähnt noch beklagt und der Kardinal wird weiterhin angesprochen, als lebe er und hätte eine glorreiche Zukunft vor sich.307 Die Frage stellt sich, ob und inwieweit mit der Veränderung des referenzierten lebensweltlichen Kontextes auch Funktion und Bedeutung des Textes selbst sich ändern. Immerhin ist die Schließung von genealogischer Fiktion und unmittelbarer Gegenwart, deren für Ariost maßgeblicher Protagonist Ippolito war, mit dessen Tod aufgehoben oder zumindest geschwächt. Um dies nochmals an jener Stelle mit dem ertrinkenden Ruggiero zu verdeutlichen: Natürlich fungieren diese Verse auch nach dem Tod Ippolitos als mise en abyme der spezifischen Struktur einer mit ‚romanzesken‘ Mitteln realisierten genealogischen Herkunftserzählung. Zugleich verliert die Apostrophe Ippolitos („Ma mi parria, Signor“) an performativer Kraft, wenn der Leser weiß, dass ihr unmittelbarer Adressat nicht mehr lebt, nicht mehr in der Weise ‚kopräsent‘ ist, wie seine Anrede es suggeriert. Von diesem Effekt abgesehen, resultiert Ippolitos Tod auch in einer Falsifikation der gesamten genealogischen Prophetie, die diesen Tod, anders als den des Urahnen Ruggiero, eben nicht vorhersah. Ariost hätte, dem Vorbild Strozzis in dessen Borsias folgend, sein Epos entsprechend modifizieren kön305 S. Casadei 1988; Dorigatti 2011. 306 S. etwa Casadei 2003, S. 66 f.; Dorigatti 2009b, S. 48. 307 S. Dorigatti 2000, S. 122. Zu den geringfügigen Modifikationen der Darstellung Ippolitos in den drei Fassungen s. Casadei 1988, S. 24–27 sowie S. 75 f.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

nen, verzichtete jedoch darauf.308 Als Grund kann man sich alle möglichen trivialen und weniger trivialen Motive vorstellen. Es mag jedoch sein, dass der Tod Ippolitos eine Gratis-Pointe beisteuerte, die Ariost durchaus zu schätzen wusste: Gerade das Schweigen über den Tod des Kardinals in den späteren Fassungen des Furioso lässt diesen zum bloßen être de papier werden; es bezeugt die Souveränität des Dichters und bekräftigt die Maximen des Apostels Johannes, nach denen die vermeintlichen Protagonisten der Geschichte nur Kreaturen des ihnen geltenden (oder ihnen vorenthaltenen und sie damit nihilierenden) dichterischen Diskurses sind. 6.6 IPPOLITO UND ALFONSO D’ESTE ALS KRIEGSHERREN Weitere Passagen, in denen Ippolito und Alfonso gepriesen werden, sind nur mittelbar Teil der genealogischen Erzählung, jedoch für die Gewichtung dieser Erzählung und der Enkomiastik generell bedeutsam. Vor allem sind dies Stellen, an denen die beiden Este-Brüder als Kriegshelden und Feldherren gerühmt werden, Ippolito als Protagonist der Schlacht von Polesella, Alfonso insbesondere wegen seiner entscheidenden Rolle in der Schlacht von Ravenna. In der Schlacht von Polesella (1509) konnte sich Ferrara durch ein geschicktes taktisches Manöver, für das namentlich Ippolito verantwortlich war, gegen die Übermacht einer auf dem Po in Stellung gegangenen venezianischen Flotte spektakulär durchsetzen. Venedig erlitt bei dieser militärischen Auseinandersetzung verheerende Verluste an Menschen und an Kriegsmaterial, während Ferrara Teile seines Herrschaftsgebiets, auf das Venedig Anspruch erhoben hatte, u. a. das für die Salzproduktion wichtige Comacchio, konsolidieren konnte. In der Schlacht von Ravenna (1512), eine der blutigsten der Epoche, führte das beherzte Eingreifen Alfonsos und der geschickte Einsatz der Ferrareser Artillerie zu einer Wende des Kampfgeschehens zugunsten der Franzosen und des mit ihnen verbündeten Ferrara und zum Rückzug des spanischen und päpstlichen Heeres. Ein erstes Mal erwähnt werden beide Ereignisse im Kontext des großen genealogischen Katalogs im 3. Gesang (O. F. III, 55 u. 57). Wenngleich der Textsorte geschuldete Übertreibungen abgezogen werden müssen, wird der entscheidende Einsatz Ippolitos und Alfonsos in diesen beiden Schlachten auch von distanzierteren Zeitgenossen, u. a. von Guicciardini, bestätigt.309 Ich gehe hier nur auf die ausführliche Würdigung der Rolle Alfonsos in der Schlacht von Ravenna im Proömium des 14. Gesangs näher ein. Das Proömium beginnt mit einer Parallelisierung des gerade erzählten Geschehens – der Kampf zwischen den Heeren Agramantes und Karls um Paris – und des noch ganz gegenwärtigen und vom Erzähler in seinen Auswirkungen erfahrenen Gemetzels von Ravenna.310 Die dabei unter Beweis gestellte strategische Umsicht und persönliche Tapferkeit Alfonsos werden gepriesen, mehr aber noch seine Ritterlichkeit, die ihn 308 Zur Borsias s. Ludwig 1977. 309 S. etwa Guicciardini, Storia d’Italia X, 13, zur Schlacht von Ravenna. 310 An dem eigentlichen Kampfgeschehen nahm Ariost, der zu diesem Zeitpunkt in diplomatischer Mission unterwegs war, nicht teil. Er war aber tags darauf Augenzeuge der von ihm heftig beklagten (s. w. u.) Plünderung Ravennas durch die Franzosen.

6.6 Ippolito und Alfonso d’Este als Kriegsherren

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den in Gefangenschaft geratenen Heerführer der päpstlichen Truppen, Fabrizio Colonna, entgegen einer Forderung der verbündeten Franzosen nach dessen Auslieferung, die Freiheit geben ließ. Der Tenor des gesamten Proömiums ist aber keineswegs triumphal, sondern kontrastiert den militärischen Triumph mit den erlittenen Verlusten. Der glanzvolle Sieg Alfonsos – „più di conforto che d’allegrezza“ (O. F. XIV, 6, 1–2) – erscheint verdüstert von dem großen Blutzoll auf allen Seiten und vor allem von der brutalen Plünderung Ravennas durch die entfesselte französische Soldateska, die, wenn auch ungeplant, durch diesen Sieg erst möglich wurde. Die fatale Kausalität, die den ‚gerechten‘ Krieg zur Verteidigung Ferraras ‚ungerechte‘ Folgen haben lässt, wird deutlicher noch akzentuiert in dem knappen Resümee dieser Ereignisse im Kontext der prophetischen Sequenz des 33. Gesangs (s. o. S. 147, A. 288). Dort heißt es von der Schlacht bei Ravenna: Per virtú d’un Alfonso al fin si vede che resta il Franco, e l’Ispano cede, e che Ravenna saccheggiata resta. (O. F. XXXIII, 40, 7–41, 1)

Während man in diesen drei Verszeilen vielleicht Sarkasmus erkennen kann, ist das weitaus elaboriertere Enkomion Alfonsos im Proömium des 14. Gesanges frei von jeglicher Ironie; aber auch von vorbehaltloser und unkritischer Schmeichelei, die Ariost gelegentlich vorgeworfen wurde, kann nicht die Rede sein. Vielmehr mag man in dieser Sequenz – wie bereits Robert Durling überzeugend dargelegt hat – eine reflektierte und subtile Würdigung der Taten Alfonsos erkennen, die ihn einerseits als fähigen Beschützer der stets bedrohten Integrität Ferraras (an der auch Ariost ein vitales Interesse haben musste) feiert, die andererseits aber auch eine von Empathie für die Opfer getragene Reserve zum Ausdruck bringt, mit der die nichtintendierten katastrophalen Folgen der an sich rühmenswerten Taten des Herzogs, gleichsam eine ihnen inhärente Tragik, bilanziert werden: The Poet’s direct serious commentary on contemporary events, then, qualifies his courtly praise of his patrons and demands that the reader make manifold distinctions among levels of reservation.311

Ein analoger Befund ließe sich auch hinsichtlich Ippolitos und der Würdigung seiner Rolle in der Schlacht von Polesella (XV, 1–2; XXXVI, 1–2; XL, 1–5; XLVI, 97) erheben. Wie in Alfonso soll sich auch in Ippolito das Rittertum der Orlandi und der Ruggieri unmittelbar fortsetzen. Auch in diesen nicht explizit genealogischen Passagen wird also das Kontinuitätspostulat der Genealogie bekräftigt. Aber auch der große Triumph Ippolitos bei Polesella wird von seinen Kollateralschäden überschattet. Natürlich ist im Kontext dieser enkomiastischen Passagen keine offene Kritik zu erwarten, die sowohl dem der Textsorte geschuldeten decorum widerspräche wie auch – und vor allem – mit der Position Ariosts unvereinbar gewesen wäre. Die Fatalität, die Ariost in seinem differenzierten Resümee der Schlacht von Ravenna und der Rolle Alfonsos diagnostiziert, entspräche im Übrigen dem in der Mondepisode ausgestellten Geschichtsbild, das jegliche menschliche Anstrengun311 Durling 1965, S. 146.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

gen letztlich an ihrer Vergänglichkeit oder der ihnen inhärenten Wahnhaftigkeit scheitern sieht – es sei denn, die Dichtung nimmt sich dieser Anstrengungen an und verleiht ihnen Beständigkeit und Sinnhaftigkeit selbst dann, wenn ihnen diese Attribute eigentlich gar nicht zukommen. Diesen Zusammenhang sieht Durling allerdings nicht. Sein Befund einer ernsthaften und aufrichtigen, dabei implizit kritischen Würdigung Alfonsos in der Sequenz zur Schlacht von Ravenna führt ihn vielmehr dazu, die scheinbar skandalöse Dichtungslehre des Apostels Johannes für einen bloßen Scherz zu halten, dem kein Gewicht für den Status der Este-Enkomiastik zukomme: For to suppose that Ariosto meant to suggest that he was lying in praising his patrons is tantamount to thinking that he meant to suggest that the Evangelist lied about Christ.312

Abgesehen von der offenkundigen Zirkularität dieser Argumentation, verkennt Durling die spezifische Modalisierung der Rede des Apostels, die es weder zulässt, ihre Aussage einfach wörtlich zu nehmen noch sie als bloßen „joke“ und für obsolet zu erklären. Tatsächlich wird in dieser Rede, wenn auch im Modus paradoxaler Zuspitzung, ein substantielles Problem benannt, nämlich das Problem der Tradierung und diskursiven Zugänglichkeit historischer Wahrheit oder historischer Fakten, das von den Enkomien Alfonsos und Ippolitos, selbst wenn diese als ‚aufrichtig‘ gelesen werden können, keinesfalls widerlegt wird. Allerdings lassen sich die differenzierten und reflektierten Lobpreisungen Alfonsos und Ippolitos in der Tat als Korrektiv des epistemologischen Konstruktivismus oder Relativismus der apostolischen Dichtungslehre lesen: In dem Moment, in welchem Gegenstand des poetischen Diskurses nicht eine durch widersprüchliche Quellen bezeugte oder nur imaginierte Vergangenheit ist, sondern die unmittelbare und durch den Autor dieses Diskurses erfahrene Gegenwart, limitiert der Druck der Empirie jede dichterische Aleatorik oder setzt ihr sogar ein Ende. Die Evidenz des Gesehenen und Erfahrenen oder jedenfalls durch Augenzeugen Beglaubigten steht gegen die trügerische Evidenz des nur literarisch Tradierten.313

312 Ebd. S. 149. 313 Auch während der Schlacht von Polesella war Ariost in heikler diplomatischer Mission abwesend; jedoch wurden ihm die Ereignisse von glaubwürdigen, namentlich genannten Augenzeugen berichtet und nicht zuletzt bezeugten die zahlreichen Trophäen und Beutestücke den Sieg Ferraras. Im Furioso heißt es hierzu: Nol vide io già, ch’era sei giorni inanti, mutando ogn’ora altre vetture […] Ma Alfonsin Trotto, il qual si trovò in fatto, Annibal e Pier Moro e Afranio e Alberto, e tre Ariosti, e il Bagno e il Zerbinatto tanto me ne contar, ch’io ne fui certo: me ne chiarir poi le bandiere affatto, vistone al tempio il gran numero offerto, e quindice galee ch’a queste rive con mille legni star vidi captive. (O. F. XL, 3, 1–4, 8)

6.7 Die Genealogie als „arco portante“ des Furioso

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6.7 DIE GENEALOGIE ALS „ARCO PORTANTE“ DES FURIOSO Ohne Zweifel ist die Herkunftserzählung um Ruggiero und Bradamante keine bloße und sei es auch besonders ausgedehnte Nebenhandlung oder Digression, sondern eine Strukturkonstituente des gesamten Textes oder sogar, mit Dorigatti, sein „arco portante“.314 Wenn von der Aeneis als ein genealogisches Epos gesprochen werden kann, dann gilt dies unbedingt auch vom Orlando furioso, selbst wenn ihn, wie im übrigen auch die Aeneis, dieses Attribut gewiss nicht erschöpfend charakterisiert. Allerdings geht die strukturstiftende Funktion der Genealogie keineswegs auf in einzelnen Stellen explizit enkomiastisch-genealogischen Gehalts, und sie ist deshalb auch nicht über eine bloße Bestandsaufnahme und Typologie solcher Stellen hinreichend zu erfassen.315 Zum ‚Stützpfeiler‘ des gesamten Textes wird sie vielmehr aufgrund der wechselseitigen inchieste Ruggieros und Bradamantes als dem narrativ realisierten Teilsegment des gesamten genealogischen Zyklus zwischen Troia und dem Ferrara Ippolitos und Alfonsos, dessen sonstige Stationen durch die in den genealogischen Katalogen genannten historischen und fiktiven Figuren besetzt und markiert werden. Als Teilsegment dieses genealogischen Zyklus steht die inchiesta Ruggieros und Bradamantes unter einem Gelingensdruck, und zwar einem Gelingensdruck, der nicht nur von einschlägigen Gattungscodes (etwa denen einer „epopea nuziale“316) ausgeübt wird, sondern von der gegenwärtigen Realität selbst, genauer: von dem nicht zuletzt politischen Funktionszusammenhang, in den ein Text, der die Herkunftsgeschichte seines fürstlichen Widmungsträgers zu erzählen beansprucht, unweigerlich eintritt; ich komme darauf im folgenden Abschnitt (6.8) ausführlich zurück. Die inchiesta Ruggieros und Bradamantes unterliegt nun gewiss einer langen Reihe von Friktionen und Turbulenzen, in denen sich das Wirken Fortunas oder des Magiers Atlante manifestiert – oder vielmehr, wie die als mise en abyme verstandene Szene mit dem ertrinkenden Ruggiero paradigmatisch hat deutlich werden lassen, das Walten der Erzählinstanz. Ein Misslingen dieser inchiesta ist aber ausgeschlossen, d. h. sie muss mit der Hochzeit Ruggieros und Bradamantes und der Grundlegung der Este-Dynastie enden. Das Scheitern der inchiesta wäre letztlich ein ‚Scheitern‘ des Textes, der von ihr erzählt und an dessen Anfang dieses Scheitern ironisch als eine Möglichkeit angekündigt, im selben Moment aber durch die manifeste Präsenz dieses Textes als opera d’inchiostro widerlegt wird. Die angeblich providentiell garantierte Finalität des erzählten Geschehens verleiht dem Furioso eine Kohärenz und Konklusivität, die für den Romanzo oder die cantari, zu deren generischen Charakteristika gerade die losen Erzählfäden, die Tendenz zur zyklischen Proliferation und zur Evasivität gehören, eher untypisch sind. Dies gilt auch noch für Boiardos Orlando innamorato, dessen ‚Offenheit‘ ein 314 Dorigatti 2009b, S. 48. Die tatsächliche Dominanz der Ruggiero-Bradamante-Handlung konnte im Kontext des Romanzostreits kritisch als gegen die Ankündigung des Titels verstoßend ins Feld geführt werden. S. Hempfer 1987b, S. 62. 315 Dorigatti stellt den 11 Oktaven, die Boiardo dem Este-Stammbaum ab Ruggiero widmet, die – nach seiner Zählung – 139 Ariosts gegenüber (Dorigatti 2000, S. 115). 316 S. Levi 1933.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

strukturelles Merkmal ist und nicht nur Folge seines vorzeitigen Abbruchs.317 Dabei bleiben die beiden Haupterzählstränge – die inchieste Ruggieros und Bradamantes sowie die Erzählung um den dem Liebeswahn verfallenden und schließlich wieder geheilten Orlando – handlungslogisch eng aufeinander bezogen. Es ist eine Welt oder ein raum-zeitliches Kontinuum in dem sich die beiden Handlungsfolgen vollziehen. Ein großer Teil des Personals ist in beiden Erzählsträngen präsent; zwar treffen sich die beiden Hauptheroen erst ganz am Ende, bei der Hochzeit Ruggieros und Bradamantes, aber das Gelingen der einen Handlungskette – die Geschichte des dem Liebeswahn verfallenden und wieder geheilten Orlando – ist die Voraussetzung für den Abschluss der anderen – der Geschichte Ruggieros und Bradamantes –, mit dem eine teleologische Verheißung eingelöst wird. Die Finalität der genealogischen Ereignisfolge determiniert auch die des anderen Erzählstrangs: Das (christliche) Heer Karls muss über das (heidnische) Heer Agramantes den Sieg davongetragen haben, damit die (christliche) Dynastie der Este ihren Anfang nehmen kann. Ganz am Ende von Ariosts Epos kommt es zu einem Duell Ruggieros mit Rodomonte, dem letzten und kampfesstärksten und zugleich gottlosesten unter den heidnischen Rittern, der in die Hochzeitsfeierlichkeiten Ruggieros und Bradamantes platzt und Ruggiero zum Zweikampf herausfordert. Selbstverständlich geht Ruggiero aus diesem Duell, dessen eingehende, beinahe über dreißig Oktaven gehende Schilderung den finalen Zweikampf zwischen Aeneas und Turnus in der Aeneis zitiert, siegreich hervor;318 es besiegelt nicht nur den christlichen Sieg über die Heiden, sondern bezeugt einen zwar späten und auch nicht ‚militärisch‘ entscheidenden, aber doch symbolstarken Anteil des estensischen Dynastiengründers an diesem Sieg, nachdem er an dem Duell zwischen den sarazenischen und den christlichen Heerführern auf Lipadusa als Folge höherer Gewalt nicht hat teilnehmen können und dies auch nicht auf der ‚richtigen‘ Seite hätte tun können.319 Auch die komplexe Verschränkung der beiden Hauptstränge der Erzählung, also des Orlando- und des Ruggiero-Bradamante-Strangs, findet an der Stelle mit dem zu ertrinken drohenden Ruggiero ihre emblematische Verdichtung. Auf die Seereise nach Afrika hatte Ruggiero sich begeben, um seinem bedrängten Lehnsherrn, dem sarazenischen König Agramante, beizustehen. Längst entschlossen, das 317 S. hierzu etwa Dorigatti 2000, Ascoli 2005, S. 193 f. sowie Praloran 2015. 318 Zu den Vergil-Reminiszenzen im Finale des Furioso s. Javitch 2010. Javitch argumentiert in diesem Aufsatz mit guten Gründen gegen die beinahe zum Gemeinplatz gewordene Auffassung, in der zweiten Hälfte oder dem letzten Drittel des Furioso finde ein „generic shift“ vom Romanzo zum Epos statt. Zum nicht geringen Teil beruht diese Einschätzung auf einer (wie Javitch zeigt) unzulässigen Extrapolation der finalen Vergil-Reminiszenz auf das gesamte Duell Ruggiero-Rodomonte, das in der Tat völlig andere Prämissen und Kontexte hat als das Duell Aeneas-Turnus in der Aeneis. S. ebd., v. a. S. 401 ff. Gegen die These vom „generic shift“ lassen sich weitere Argumente vorbringen, was Javitch auch tut; ein aus meiner Sicht entscheidendes Argument fehlt bei ihm allerdings, nämlich die auch in der zweiten Hälfte des Furioso unverändert ‚unepische‘ Subjektivierung (s. Penzenstadler 1987) des Erzählerdiskurses und insbesondere die ironische Aleatorik der histoire-Konstitution, die ebenfalls durch das am Beginn dieses Kapitels angeführte Zitat aus dem 41. Gesang belegt ist, sich aber an zahlreichen anderen Stellen nachweisen ließe. S. hierzu Kapitel 4. 319 S. hierzu auch Ferroni 2008, S. 139.

6.7 Die Genealogie als „arco portante“ des Furioso

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Lager zu wechseln und sich taufen zu lassen, um endlich die geliebte Bradamante ehelichen zu können, will er zuvor, um nicht der Feigheit und Ehrlosigkeit geziehen zu werden und unter schweren Gewissensqualen, ein letztes Mal seiner Vasallenpflicht nachkommen. Die Intervention der Vorsehung in Gestalt des Sturms und der durch diesen verursachten Havarie des Schiffes befreit ihn nun aus dem moralischen Dilemma oder Loyalitätskonflikt. Überdies lässt sie den Schiffbrüchigen auf einer entlegenen Insel stranden, wo er bereits von einem frommen Einsiedler erwartet wird, der um Ruggieros Bestimmung (auch um seinen frühen Tod) weiß und ihn nun, nach zügiger Einweisung in den christlichen Katechismus, tauft (O. F. XLI, 47–67 und XLIII, 186–199). Während Ruggiero damit dem christlich-heidnischen Konflikt, in den er zu diesem Zeitpunkt nur auf der ‚falschen‘ Seite hätte eingreifen können, schuldlos und auch nur vorerst entzogen ist – er wird, wie gesagt, im finalen Duell gegen Rodomonte noch seinen Beitrag zum endgültigen Sieg der christlichen Partei leisten – partizipieren gleichwohl seine Waffen und sein Pferd an diesem Konflikt, und zwar auf der ‚richtigen‘ Seite, also der Seite Orlandos und seiner Gefährten, der sich Ruggiero längst zugehörig fühlt. Hinsichtlich der Art und des Grades der Integration beider Erzählstränge ist hier überdies zu bedenken, dass ritterliche Armaturen, aber auch Pferde im Furioso (und der vorangehenden Ritterepik) keine seelenlosen Werkzeuge sind, sondern gleichsam selbst Individuen sein und jedenfalls zu Persönlichkeitsmerkmalen ihres Trägers werden können. Eine entscheidende Motivation ritterlicher inchieste ist der Erwerb begehrenswerter, häufig Namen tragender Waffen – Durindana, das Schwert Orlandos, das einst Hektor gehörte, oder Fusberta, das Schwert Rinaldos – sowie von Pferden wie Rinaldos Baiardo oder Ruggieros Frontino, die dem Suchenden zuvor abhanden gekommen waren, die er begehrt und auf die er glaubt, ein Anrecht zu haben. Die Zirkulation von Waffen und anderen Requisiten zwischen einzelnen Rittern bzw. kriegführenden Parteien konstituiert eine eigene, für die entrelacement-Literatur charakteristische Leitmotivik, die paradigmatische Relationen zwischen einzelnen Sequenzen herstellt und den Verlauf des Geschehens spiegelt; der Verlust von Pferden oder Waffen – wie jener des den Verstand verlierenden Orlando – korrespondiert einer Schwächung der zugehörigen Konfliktpartei, ihre Wiedererlangung antizipiert die Niederlage des Gegners.320 Während also die mit Ruggieros Schiffbruch eingeleitete Sequenz einerseits handlungslogische Verflechtungen und paradigmatische Korrespondenzen zwischen den beiden Haupterzählsträngen sichtbar werden lässt, bezeugt sie zugleich eine Konkurrenz zwischen beiden: Der eine Erzählstrang kann nur auf Kosten des anderen erzählt werden. Wenn der Erzähler den einen Erzählstrang (den Orlandos) fortführen würde, käme der andere (der Ruggieros) an sein vorzeitiges Ende – ein Ende, das in der Tat zugleich das Ende der Geschichte wäre, nämlich der Geschichte der Este. Eben dies ist aber die eigentliche Pointe dieser drei Verszeilen. Die Geschichte und damit auch die genealogische Abfolge, durch die sie konstituiert wird, ist eine Funktion der (dichterischen) Rede über sie. Was diese Verse, denen sich zahlreiche andere an die Seite stellen lassen, implikativ und 320 S. Delcorno Branca 1973, S. 57–79. Zur ‚paradigmatischen‘ Verschränkung einzelner Erzählstränge und Episoden s. Kapitel 4.

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6 Der Orlando furioso als genealogisches Epos

sozusagen performativ zu verstehen geben, wird, wie gesehen, mit größerem diskursiven und rhetorischen Aufwand in der Mondepisode auch explizit gemacht, in der kein Geringerer als der Apostel Johannes erklärt, dass es die Dichter sind, die über die Geschichte oder das, was dafür gehalten wird, verfügen oder die Diskurshoheit über sie besitzen. Das überlieferte Bild der Geschichte ist ausschließlich ein Produkt dichterischer Aktivität. Im Folgenden möchte ich auf den als interdiskursives System zu begreifenden genealogischen Diskurs zur Zeit Ariosts (und darüber hinaus), dessen Epiphänomen der Orlando furioso als estensische Herkunftserzählung ist, näher eingehen, um dann die Position und Funktion von Boiardos und Ariosts genealogischer Erzählung in diesem System genauer zu bestimmen. Nachdem hier und auch in einem Großteil der einschlägigen Forschungsliteratur der Rekurs des Furioso auf die Genealogie im Wesentlichen als Einzeltextreferenz auf andere fiktionale Texte beschrieben wurde – als Intertextualitätsrelation namentlich zu Boiardos Innamorato als der Hauptquelle für das genealogische Personal und seine Interaktionen und zu Vergils Aeneis als dem Modell einer final orientierten Herkunftserzählung sowie der gebotenen elokutionären Ausstattung eines solchen genealogischen und zugleich enkomiastischen Projekts – ginge es jetzt darum, die genealogische Erzählung Ariosts als Systemreferenz ins Auge zu fassen: als Referenz auf das komplexe, nicht nur fiktionale und nicht einmal nur sprachliche Feld des genealogischen Diskurses im 15. und 16. Jahrhundert. Dieses diskursive Feld ist zur Zeit Boiardos und Ariosts – in Ferrara mehr noch als andernorts – von einer Präsenz, die man sich als ubiquitär vorstellen muss. Da auf diesem Feld in vielleicht paradigmatischer Weise die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität verhandelt und beständig neu definiert und verschoben wird, bietet es sich an als Folie für die Behandlung dieser Frage – des Verhältnisses von Dichtung und historischer Wahrheit – im Kontext der Mondepisode und im Furioso überhaupt. Darüber hinaus lässt die – wenn auch im vorliegenden Rahmen nur kursorische und auf das Format eines Exkurses begrenzte – Fokussierung auf den zeitgenössischen genealogischen Diskurs als interdiskursive Praxis die ‚existentielle‘ Bedeutung deutlich werden, die dieser Diskurs für die Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen hatte oder haben sollte;321 auch hier scheint das Beispiel der Este besonders pertinent zu sein. Sowohl für die moralische und ästhetische Gewichtung der genealogischen Erzählung des Furioso (die zumindest der älteren Forschung, wie gesehen, vielfach Unbehagen bereitete und die sie deshalb für misslungen oder akzessorisch erklären wollte oder schlichtweg ignorierte) wie auch für die Taxierung des Wahrheitsanspruches dieser Erzählung 321 S. hierzu auch Sangirardi 2006, S. 102: „I romanzi cavallereschi di Boiardo e Ariosto condividono con la storiografia di corte ferrarese una stessa vocazione passatista e genealogica […]: illustrare la gloria e l’antichità del casato d’Este, i suoi legami fantasiosi o reali con la Chiesa e con l’Impero, sembra vitale per uno Stato che da un lato ha costruito la sua identità su quella della famiglia signorile che ne controlla le istituzioni, dall’altro non dispone di un apparato amministrativo capace di governare il suo vasto territorio né di una forza economica e militare all’altezza delle potenze rivali […] e tende a sostituire tutto questo con il prestigio simbolico e con l’organizzazione del consenso dei sudditi. Questa prospettiva ci aiuta a capire il pathos di cui erano investite le ‚genealogie‘ estensi inserite nell’Innamoramento […] e più abbondantemente nel Furioso […], divenute aride e monotone per i posteri.“

6.8 Exkurs zum genealogischen Diskurs im 15. und 16. Jahrhundert

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und die Frage, wie affirmativ oder kritisch-ironisch sie sei, wäre ihr unmittelbarer soziokultureller Funktionskontext unbedingt zu berücksichtigen, zumal dieser Kontext – nicht ausschließlich aber in großem Umfang – seinerseits ‚Text‘ ist, oder ein System von Texten, zu denen genealogische Epen wie der Furioso einerseits selbst gehören, zu dem sie andererseits Beziehungen unterhalten, die sich partiell auch wieder als intertextuelle Beziehungen konkretisieren und verifizieren lassen. 6.8 EXKURS ZUM GENEALOGISCHEN DISKURS IM 15. UND 16. JAHRHUNDERT Genealogien sind seit jeher mit epischer Dichtung assoziiert, was freilich auch nicht erstaunt, wenn zutrifft, dass es sich beim genealogischen Denken und Erzählen um eine „Urform des Weltverstehens“ handelt.322 Göttergenealogien und genealogische Heldenkataloge sind allgegenwärtig in Homers Ilias und Odyssee ebenso wie in der Theogonie Hesiods, in Apollonius Rhodios’ Argonautica oder auch in den Metamorphosen Ovids. Zum Paradigma einer genealogischen Interpretation von Geschichte wurde allerdings vor allem Vergils Aeneis, doch auch in der mittelalterlichen Epik und namentlich in den Grals-Erzählungen, ebenfalls eine wichtige Referenz für den Romanzo und für Ariost, spielen konsanguinale Bindungen und genealogische Abfolgen eine bedeutsame Rolle, wenn auch in unterschiedlicher, nicht zuletzt christlich-eschatologischer Funktion.323 Während also dem Furioso eine lange Tradition genealogischer Dichtung vorausgeht, ist er auch in seinem unmittelbaren zeitgenössischen Umfeld keineswegs die erste und einzige Herkunftserzählung im epischen Format und auch nicht die letzte. Die Ingredienzen seiner Este-Genealogie hat Ariost, wie gesehen, aus Tito Strozzis Borsias und vor allem aus Boiardos unvollendet gebliebenem Orlando innamorato bezogen, die ihrerseits auf genealogische Fiktionen früherer cantari und romanzi wie etwa die Reali di Francia zurückgreifen konnten.324 Schon bevor Ariost die estensische Herkunftserzählung Boiardos zu Ende führte, gab es die „continuazioni“ des Innamorato von Niccolò degli Agostini (1505/1514) und Raffaele Valcieco (1514).325 Nach dem Erscheinen des Orlando furioso und seiner verschiedenen Fassungen wurde die Erzählung Boiardos und Ariosts um den estensischen Stammvater Ruggiero entweder fortgesetzt oder es wurden davon abweichende, aber nicht minder ‚gewagte‘ Deszendenzen modelliert, 322 Speyer 1976, Sp. 1148. S. auch Heck/Jahn 2000, S. 3, sowie Kellner 2004, S. 14 f. 323 Zu Genealogie und Geschichtsinterpretation in der Aeneis s. Suerbaum 1967 und Suerbaum 1999; Binder 1997; Schauer 2007. Zur mittelalterlichen genealogischen Literatur generell s. Duby 1988; Kellner 2004; zur Funktion der Genealogie in den Gralserzählungen s. Schmid 1986; Baumgartner 1994; Wyss 1999; Wolfzettel 2015, ferner Stevens 2015 zur Genealogie in Gottfrieds Tristan und Wolframs Parzival. 324 S. oben S. 137 f. und A. 252. Bereits zur Mitte des 14. Jahrhunderts gab es ein genealogisches Epos, La Guerra d’Attila von Nicolò da Casola, das von den Este zur Zeit des Niedergangs des Imperium Romanum als dem geschichtlichen Hintergrunds des eigenen Aufstiegs erzählt; in dieser historischen Situation setzen dann auch die gelehrten und ‚offiziellen‘ Este-Genealogien Fallettis und Pignas (s. u.) ein. S. hierzu Fortini 2000, S. 158. 325 S. Dorigatti 2000, S. 106 f.

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so etwa in Giraldi Cinzios Dell’Hercole (1557), der sich nicht scheute, die Este und namentlich den Widmungsträger Ercole II. d’Este auf den Herkules der griechischen Mythologie zurückzuführen.326 Noch in Tassos Gerusalemme liberata (1581) werden die Este in einem langen genealogischen Katalog (XVII, 64–94) gefeiert, der nunmehr aber den neuesten, durch philologische Forschung und antiquarische Recherche vorgeblich beglaubigten Este-Genealogien folgt und in dem von einem Ruggiero keine Rede mehr ist. Wenngleich die genealogisch-enkomiastische Epik in Italien vor allem in Ferrara floriert und die Este zum bevorzugten Gegenstand hat, werden auch die Ursprünge anderer Dynastien episch besungen, so etwa die des Hauses Valois und seiner Exponenten Franz I. und Heinrich II. in Luigi Alamannis Avarchide (1570) oder, noch 1615, die der Medici in Gabriello Chiabreras Firenze. Schließlich ist genealogisch-enkomiastisches Dichten kein italienisches Spezifikum, sondern bringt in anderen Ländern, etwa in Frankreich (Ronsard, Franciade, 1572; Garnier, Henriade, 1593/94 u. a.) oder in England (Spenser, Fairy Queen, 1590/96 u. a.), ebenfalls ambitionierte epische Texte hervor. Dabei muss die genealogische Erzählung freilich nicht immer im selben Maße strukturbildend für den gesamten Text sein wie im Furioso, sondern kann in der Tat jenen bloß episodischen oder ‚akzessorischen‘, u. U. auf den Paratext beschränkten Status haben, der ihr für Ariosts Epos zu Unrecht zugeschrieben wurde. Genealogische Dichtungen haben einerseits eine gemeinsame Schnittmenge mit der reichhaltigen panegyrischen Literatur der Epoche; andererseits sind sie Teilbereich eines breiten und ausdifferenzierten Diskursfeldes, das Herkunftsnarrative nicht nur in fiktionalen Gattungen hervorbringt, sondern auch, als gelehrter Diskurs, in dezidiert nicht-poetischen Textformen wie Historien, Annalen, Chroniken und Kommentaren, die um philologische oder ‚archäologische‘ Absicherung oder jedenfalls Plausibilierung der genealogischen Konstrukte bemüht sind. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei die vorrangig namensetymologische Ausdeutung von Grabinschriften oder anderer ‚antiquarischer‘ Artefakte wie etwa Münzen, die leidenschaftlich und mit großem Einsatz gesammelt (etwa von Ferraras Alfonso II.) und als testimoniale Beglaubigung bestimmter Deszendenzlinien aufgeboten, gegebenenfalls aber auch gefälscht oder manipuliert werden.327 Nicht zuletzt tritt der genealogische Diskurs als ein figurativer in Erscheinung, in Gestalt von Medaillons, Emblemen und Wappen ebenso wie aufwendiger piktoraler oder skulpturaler Darstellungen, die genealogischen Postulaten visuelle Evidenz und Suggestivität verleihen sollen.328 Insoweit „genealogisches Denken […] Bestehendes durch den Verweis auf Vorhergehendes“329 erklärt und die Genealogie nach Wolfgang Speyer sogar „den ältesten Versuch einer wissenschaftlich zu nennenden Systembildung darstellen 326 Giraldi übernimmt zwar von Boiardo und Ariost die Gründerfiguren Ruggiero und Bradamante sowie deren troianischen Ursprung, lässt aber Bradamante darüber hinaus von Herkules abstammen. S. Ludwig 1990; Venturi 2004; Bruscagli 2004, S. 276 f. S. hierzu auch unten S. 172. 327 S. Gregori 1990; Bizzocchi 1995, S. 203 f.; Marx 2003, S. 125. 328 S. hierzu, mit Bezug auf die Este, Marx 2003, S. 110 f. u. S. 132; s. auch unten, S. 173. 329 Heck/Jahn 2000, S. 3.

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[dürfte]“330, können prinzipiell alle Wissensgebiete genealogisch strukturiert werden, neben der Geschichte bevorzugt auch die Sprache: „Genealogie erscheint als Modell der Sprache und vice versa“.331 Beate Kellner erkennt denn auch für das Mittelalter die Genealogie als „zentrale Form der […] Gestaltung weitgespannter Kontinuitäten“,332 „als universales, interdiskursiv verwendetes Ordnungsmuster“ und sogar als „dominante mentale Struktur“.333 Die sichtbarste Manifestation genealogischen Denkens sind indessen genealogische Konstrukte des geschichtlichen Verlaufs, die Bizzocchi im 15. und 16. Jahrhundert ‚epidemisch‘ werden sieht.334 Genealogische Herkunftserzählungen konstruieren Geschichte als Kontinuum, als mehr oder weniger lückenlose Abfolge von Generationen, wobei die Kontinuität durch ein Prinzip der Konsanguinität, also der Blutsverwandtschaft und der Erbfolge, garantiert sein soll.335 Zugleich wohnt diesen Erzählungen ein Moment von Repetitivität oder sogar von Zyklizität inne, insofern in den späteren Exponenten der genealogischen Reihe immer nur die Tugenden und physiognomischen Eigenschaften zutage treten, die bereits der Archeget oder Spitzenahn vollständig verkörperte.336 Überdies können genealogische Konstrukte theologisch und teleologisch aufgerüstet und überhöht werden: Die genealogische Kausalität wird zu gottgewollter Finalität; die Abfolge der Ahnen wird als eine von den fata oder, unter christlichen Vorzeichen, von der göttlichen Providenz regierte, auf ein geschichtliches bzw. heilsgeschichtliches telos gerichtete ausgegeben. Das – von der biblischen abgesehen – wirkungsmächtigste Beispiel einer numinos inspirierten und einem prästabilierten Geschehen geltenden Ursprungserzählung dürfte Vergils Aeneis sein, in der Rom auf Troia und Augustus auf Aeneas zurückgeführt wird, wobei die ‚fatale‘ Ereignisfolge von so unerbittlicher Konsequenz sein soll, dass selbst der Göttervater ihr verpflichtet ist.337 330 331 332 333 334 335 336

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Speyer 1976, Sp.1148. Kellner 2004, S. 33; grundlegend hierzu Bloch 1983; s. auch Rothstein 1990. Kellner 2004, S. 474. Kellner 2004, S. 15. Kellner bezieht sich damit auf Howard Bloch (Bloch 1986), der ebenfalls von der Genealogie als „mental structure“ spricht. Bizzocchi spricht von einer „epidemia cinque e seicentesca delle genealogie incredibili.“ (Bizzocchi 1995, S. 263). Zur Qualifizierung dieser Genealogien als „incredibile“ s. u. S. 174–176. Daneben gab es immer auch die Vorstellung einer „geistigen Vaterschaft“, worauf ich hier aber nicht näher eingehe. Zur „Spiritualisierung des Bedeutungsfeldes“ schon in der Antike s. Speyer 1976, Sp. 1150; zum Mittelalter s. Kellner 2004, S. 20. S. Kellner 2004, S. 125: „Die Erinnerung an den Vorfahren kommt im Nachkommen zum Ausdruck, und vice versa trägt der Vorfahre den Keim des Nachkommens schon in sich. Insofern ist der einzelne durch seine genealogische Einbindung stets auch über den gegenwärtigen Augenblick hinausgehoben: Er verkörpert Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eines Geschlechts zugleich.“ Kellner möchte diese temporalen Relationen an die Zeitkonzeption von Augustinus rückbinden (s. ebd. S. 126 und S. 222 f.), eine Korrelierung, die mir nicht recht plausibel erscheint, zumal es solche zyklischen Relationen auch schon in genealogischen Texte vor Augustinus gibt, etwa in der Aeneis. Die ‚Transsubstantiation‘ generischer Qualitäten von Generation zu Generation wird auch im Furioso mehrfach thematisiert, am explizitesten zu Beginn des 41. Gesangs. Dort wird Ruggiero als Ahnherr der Este gepriesen, dessen herausragende Tugenden den künftigen Glanz des von ihm begründeten ‚Stamms‘ („L’inclita stirpe“, O. F. XLI, 3, 1) bereits vollständig präfigurierten („a principio buono era e perfetto“, ebd., 1, 8). S. Suerbaum 1999, S. 337 ff.; Schauer 2007, S. 102–121.

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Genealogische Herkunftserzählungen dieses Typs sind stets Partialgeschichten, selbst wenn sie von den Ursprüngen eines Weltreichs (wie im Falle der Aeneis), ganzer Völker oder Nationalstaaten erzählen. Von der universalgeschichtlichen Ursprungserzählung der Bibel unterscheiden sich diese genealogischen Konstrukte durch ihre Exklusivität und Distinktivität; sie erzählen nicht von der paradiesischen Genesis und der post-adamitischen Dispersion der gesamten Menschheit, sondern von der Herkunft eines Individuums, einer Familie oder Dynastie, einer sozialen Schicht wie des Adels, einer Stadt, eines Staates oder auch der Herkunft eines republikanischen Gemeinwesens in einer möglichst entfernten und zugleich prestigeträchtigen Vergangenheit.338 Herkunftserzählungen dieser Art sollen zum einen Ansprüche auf Titel, Besitztümer und Privilegien legitimieren sowie die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsausübung unter Beweis stellen. Zum anderen – und vielleicht vor allem – soll auf der ebenso fernen wie exklusiven Herkunft symbolisches Kapital aufgebaut werden: das Charisma ererbter Nobilität, der Abglanz der von den Ahnen vollbrachten Helden- und Wohltaten und das Fortleben der von ihnen verkörperten Tugenden in ihren Nachfahren, schließlich, aber nicht zuletzt die Verklärung durch einen mythischen Ursprung, in dem sich, wie bei Vergils Aeneas – immerhin ein Sohn der Aphrodite –, das Menschliche mit dem Göttlichen verbindet. Der so geschaffene Nimbus soll nicht nur nach außen wirken, sondern auch zur Identitätsbildung der dynastischen Familie selbst oder der republikanischen Gemeinschaft oder welcher sozialen Entität auch immer beitragen.339 Gerade in der Funktion eines genealogischen self- und community-fashioning dürfte für die Auftraggeber, Profiteure und primären Adressaten dieser Genealogien ein starkes Motiv gelegen haben, sie trotz aller offen zutage liegenden Ungereimtheit und Aleatorik dennoch für unverzichtbar und für prinzipiell wahr zu halten. Darauf wird zurückzukommen sein. Welches Legitimationspotential in der schieren Dauer von Herrschaft und dem damit verbundenen Stabilitätsversprechen liegt, lässt eine Stelle aus Machiavellis Il Principe deutlich werden. In dessen 2. Buch („De principatibus hereditariis“) nennt Machiavelli die Ferrareser Este als Beispiel dafür, wie allein die antiquità eines Prinzipats über Generationen hinweg dessen Erhalt zuverlässig garantiere und auch Fürsten von nur durchschnittlichen Fähigkeiten an der Macht halte.340 Selbst für einen Machiavelli scheint die Dauer von Herrschaft ein nicht hinterfragbares Attribut ihrer Legitimität zu sein. Dieses gegen Veränderungen immunisierende Potential kontinuierlicher Machtausübung erklärt das starke und zuweilen ‚frenetische‘ Interesse – so Barbara Marx zu den entsprechenden Aktivitäten der Este zu Zeiten 338 Zu den charakteristischen Unterschieden ‚republikanischer‘ und ‚despotischer‘ Herkunftsmythen s. Gundersheimer 2005 (11973), S. 197 f. 339 S. ebd., S. 199. 340 „Noi abbiamo in Italia, in exemplis, el duca di Ferrara, il quale non ha retto alli assalti de’ Viniziani nello 84, né a quelli di papa Iulio nel 10, per altre cagioni che per essere antiquato in quello dominio. Perché el principe naturale ha minori cagioni e minore necessità di offendere: donde conviene che sia più amato; e se estraordinarii vizii non lo fanno odiare, è ragionevole che naturalmente sia benevoluto da’ sua. E nella antiquità e continuazione del dominio sono spente le memorie e le cagioni delle innovazioni: perché sempre una mutazione lascia lo addentellato per la edificazione dell’altra.“ (Machiavelli 1992, S. 16)

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Alfonsos II.341 – der jeweils Mächtigen an genealogischer Absicherung ihrer Herrschaft und der poetischen, gelehrten und künstlerischen oder figurativen Beglaubigung von deren Konstanz. Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert war eine troianische Provenienz die mit Abstand verbreitetste und erfolgreichste Herkunftsprätention: „Alle wollen Trojaner sein“342 – die Merowinger und Karolinger ebenso wie die Welfen, die Habsburger, die Stauffer, das Haus Valois, die Herzöge der Normandie und Brabants, die englischen Könige und eben auch, neben etlichen weiteren, die Este. Troia als jenseits der historia sacra verankerter Ausgangspunkt „schuf […] eine Legitimation politischer Existenz, die von heilsgeschichtlichen Antizipationen unberührt bleiben konnte“.343 Diese allseitige Präferenz für Troia bedeutete allerdings tendenziell einen Verlust an Distinktivität des Ursprungsorts. Um dem entgegenzusteuern, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder eine Diversifizierung der troianischen Erzählung selbst, ihre Aufspaltung in verschiedene Ursprungskerne, oder aber eine andere Herkunftserzählung, die auf Troia verzichtete.344 So beriefen sich, um mit letzterem zu beginnen, die französischen Könige während des Hundertjährigen Krieges in Abgrenzung von der prätendierten troianischen Herkunft der englischen Widersacher auf gallische bzw. keltische Ursprünge. Jedoch wurde die gallische Herkunftserzählung alsbald mit der troianischen verschnitten (die Troianer wurden von der gallischen Urbevölkerung begeistert aufgenommen) – eine Version, die etwa Alamannis Avarchide, aber auch Ronsards Franciade propagierten.345 Eine der erfolgreichsten alternativen Herkunftserzählungen beschwor etruskische Ursprünge. Diese Erzählung wurde von Annio da Viterbo am Ende des 15. Jahrhunderts kreiert und in eine kohärente und offenkundig persuasive Form gebracht; gegenüber der ‚troianischen‘ Erzählung hatte sie den Vorzug, unmittelbar an die biblische Ursprungserzählung anzuschließen, Noah in der Toskana stranden und hier die Entwicklung aller Zivilisation ihren Anfang nehmen zu lassen. Obwohl Annios vermeintliche Quellen von ihm selbst erfunden worden waren und dies auch recht bald nachgewiesen wurde, erschienen die seinen Darlegungen beigefügten methodischen Maximen als so überzeugend, dass seine etruskische Genealogie anhaltende Resonanz auch außerhalb Italiens fand, insbesondere in deutschen reformatorischen Milieus, denen überdies die Tilgung Roms aus dem genealogischen Diagramm attraktiv erscheinen musste.346 Auf einen etruskischen Ursprung rekurrierte schließlich aus naheliegenden Gründen auch das republikanische, stadtbürgerliche Florenz, bevor die ‚kommunale‘ Genealogie durch die einer dynastischen Familie, der 341 Marx 2003, S. 122. 342 Borgolte 2001, S. 192. S. auch Kellner 2004, S. 132: „das Modell der genealogischen Rückführung auf die Troianer wurde vom 7. und 8. Jahrhundert an bis weit in die Frühe Neuzeit hinein traditionsbildend.“ Ferner: Melville 1987b; Graus 1989; Tanner 1993; Brückle 2000; Brunner 2001; Lienert 2001; Wolf 2009 (mit ausführlichem Forschungsbericht, ebd. S. 14–39); Bruscagli 2015, S. 154 f. (mit explizitem Bezug auf die Este). 343 Melville 1987b, S. 426. 344 S. Graus 1989, S. 38 f. 345 S. Graus 1989, S. 39 f. 346 S. Goez 1974; Bizzocchi 1995, S. 26–49 u. ö.; Bizzocchi 2004; Helmrath 2013, S. 195– 197; Grafton 1991a, S. 111–137 u. Grafton 1991b, Kap. 3, S. 76–103.

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Medici, verdrängt wurde, die glaubte, auf einen römisch-troianischen Ursprung nicht verzichten zu können, um dadurch ihre genealogische Kompatibilität mit anderen europäischen Adelshäusern zu begünstigen und die Optionen dynastischer Vernetzung zu erweitern.347 Die Diversifizierung der troianischen Ursprungserzählung brachte drei – teils komplementäre, teils konkurrierende – Stemmata hervor, die sich jeweils weiter verzweigen konnten. Zum einen die durch Vergil kanonisch gewordene Hauptlinie, die Julus alias Ascanius, den Sohn des Aeneas und Gründer von Alba Longa, als Spitzenahn der gens Julia installiert, der dann auch Caesar und Augustus entstammen. Eine Nebenlinie beginnt mit Silvius, dem zweiten Sohn des Aeneas, der aus dessen Verbindung mit Lavinia, der Tochter des latinischen Königs, hervorgeht. Dieser Linie entstammen sämtliche römischen Könige. Silvius Enkel Brutus – also ein Urenkel des Aeneas – wird wiederum zum Ausgangspunkt einer genealogischen Reihe, die über Artus zu den englischen Königen führt, eine Version, die auf die Historia regum Brittaniae (ca. 1136) von Geoffrey of Monmouth zurückgeht.348 In diesem Umfeld der in der Aeneis berichteten Vor- und Frühgeschichte Roms werden auch die Este ihren Ursprung lokalisieren, nachdem die ‚offiziellen‘ Historiographen der Herrscherfamilie die poetischen Herkunftserzählungen Boiardos, Ariosts und anderer als „fabulae et somnia“ disqualifiziert und verworfen hatten (s. hierzu weiter unten). Diese gelehrten und ostentativ der historischen Wahrheit sich verpflichtenden Genealogen, deren Beweisführung in großem Umfang auf namens-etymologischen Spekulationen und zum nicht geringen Teil auf gefälschten bzw. erfundenen Monumenten und Dokumenten beruht349, bringen die auch bei Vergil genannte gens Atii (Aeneis 5, 568 f.) als Stammbaum der Este in Stellung. Spitzenahn dieser Patrizierfamilie ist bei Vergil der Jugendfreund des Julus, Atys, selbst troianischer Herkunft, dessen entfernte Nachfahrin Atia wiederum die Mutter des Augustus ist. So hängt alles miteinander zusammen und – in dieser Hinsicht die ‚Märchen‘ und ‚Träumereien‘ Ariosts und anderer sogar noch übertreffend – stünde Ippolito d’Este nicht nur in typologischer Konjunktion mit dem römischen Augustus, sondern in einem soliden konsanguinalen Verwandtschaftserhältnis zu ihm. Eine weitere troianische Abstammungslinie geht von Hektor bzw. dessen Sohn Astyanax aus. Davon war in Zusammenhang mit Boiardo und Ariost bereits die Rede. Schließlich kommt hier auch jener oben bereits erwähnte Francus oder Francion ins Spiel, der in einigen Versionen sogar identisch mit Astyanax ist und der unter anderem in Strozzis Borsias und in Ronsards Franciade als Stammvater der fränkischen Könige figuriert. Franz I. soll sich als vierundsechzigster Nachkomme Hektors gesehen haben.350 Einige Varianten betonen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Hektor und dem einer Seitenlinie des troianischen Königshauses angehörenden Aeneas, was die Möglichkeit eröffnete, zwischen den beiden zunächst konkurrierenden Stammbäumen genealogische Querverbindungen herauszuarbeiten, wenn dies opportun erschien. Andererseits kann das Hektor-Stemma insofern 347 348 349 350

S. Bizzocchi 2004, S. 9 f. S. Bruscagli 2015, S. 156. S. Bizzocchi 1995, S. 203. S. Graus 1989, S. 36.

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durchaus als Versuch einer Überbietung von Vergils Erzählung verstanden werden, als Aeneas nach Hektor ja nur der zweite unter den troianischen Helden war und nach einigen Überlieferungen sogar eine zwiespältige Rolle beim Untergang Troias gespielt haben soll.351 Zugleich konnte bei Bedarf auch hier Rom als genealogische Etappe ausgespart werden. Die diverse Genealogien stiftende Diaspora troianischer Helden wird komplettiert durch die Figur des Antenor, der in der Ilias einige Male als Vermittler zwischen Troianern und Griechen in Erscheinung tritt (Ilias 3,203; 7,347) und deshalb auch von letzteren geschätzt und gemäß posthomerischer Scholien bei der Eroberung der Stadt verschont wurde, weshalb ihn in einer späteren Überlieferung ebenfalls der Verdacht treffen konnte, der Verräter Troias zu sein. Antenor führt das Volk der Heneter in das Gebiet des späteren Venetien und gründet dort, wie Vergil berichtet (Aeneis 1,242 ff.), die Stadt Padua.352 Die Rückführung der Este auf Antenor oder auf einen seiner Begleiter scheint die früheste Version einer troianisch-estensischen Herkunftserzählungen gewesen zu sein und sich einer gewissen Volkstümlichkeit erfreut zu haben, jedoch lässt auch Mario Equicola in seiner durchaus gelehrten Este-Genealogie (Genealogia de li signori da Este principi di Ferrara, 1516/17) Antenor als estensischen Urahn figurieren.353 Mithin waren alle troianischen Stammbäume in den verschiedenen Versionen der Este-Genealogie vertreten. Allen gemeinsam ist, dass sie selbstbewusst pagane und vorchristliche Ursprünge reklamieren und damit zugleich ein höheres Alter als jene Institution, die römische Kirche, deren Vasallen die Este de jure waren. Darüber hinaus ergaben die einzelnen troianischen Abstammungslinien, die sich jeweils noch vielfältig verzweigen konnten, gleichsam einen Bausatz unterschiedlicher genealogischer Module, die weitgehend frei miteinander kombinierbar waren und sich zu größeren genealogischen Narrativen ausbilden ließen, die der jeweiligen politischen Opportunität mehr oder weniger geschmeidig Rechnung trugen, darunter der Notwendigkeit, Allianzen zu festigen oder neu zu bilden und dabei auf gemeinsame Ursprünge verweisen zu können. Nicht zuletzt konnte es darum gehen, bislang fiktive oder speku351 S. Kellner 2004, S. 153 ff.; Dorigatti 2000, S. 101; Bruscagli 2005, S. 35. Ercole I d’Este soll eine Abneigung gegen die von seinem Vorgänger Borso präferierte Figur des Aeneas gehabt und Hektor bevorzugt haben. S. Scipioni 2015, S. 43. Für Borso wiederum war Aeneas nicht zuletzt deshalb eine optimale Besetzung der Ahnenrolle, weil der amtierende Papst Pius II. – Enea Silvio Piccolomini – den Namen des troianischen Helden trug und in einer Vorstellungswelt, in der Namen mehr als willkürliche Signaturen waren, die Namensgleichheit gemeinsame Ursprünge anzeigte oder jedenfalls evozierbar werden ließ und Raum für poetische Assoziationen schuf, den Strozzi in seiner Borsias denn auch zu nutzen verstand (s. Borsias I, 409–411: „Maximus hac etiam veniet de stirpe sacerdos, / Aeneas primum Aenea de nomine magni, / inde Pius tendens maiora ad munera dictus“. Zit n. Ludwig 1977, S. 87). Hektor wiederum, der schon während des Mittelalters als Inbegriff des ritterlichen Kämpfers galt und von dem man glaubte, dass er seinem Widersacher Achill nur durch List und Verrat habe unterliegen können (eine Version, der auch Ariost folgt, s. O. F. XLVI, 82, 1), konnte einem Fürsten wie Ercole I, der gerade zwei militärische Niederlagen zu verantworten hatte, als Stammvater besonders opportun erscheinen (s. Scipioni 2015, S. 49). 352 In Orlando furioso XLI, 63 wird auf Antenor als den Gründer Paduas Bezug genommen. 353 Zu Parallelen und eventuellen Bezügen zwischen Equicolas Genealogia und dem Orlando furioso s. Floris 1998. S. hierzu aber auch die Einwände in Montagnani 2005, S. 164, A. 11.

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lative genealogische Verbindungen durch eine entsprechende Heiratspolitik a posteriori zu einem Faktum werden zu lassen. Vor dem skizzierten Hintergrund erscheint Ferrara als ein für die machtpolitische Funktionalisierung des genealogischen Diskurses besonders aufschlussreicher Fall. Vor allem bildet sich in den aufwendigen genealogischen Aktivitäten der Este der Ehrgeiz ab, ein Defizit an realer militärischer und ökonomischer Potenz gegenüber rivalisierenden Staaten wie Venedig und erst recht gegenüber den französischen bzw. spanischen Imperialmächten durch die Akkumulation symbolischen Kapitals zu kompensieren. Die genealogische ‚Forschung‘ und Propaganda, die nach Barbara Marx namentlich in der Regierungszeit Alfonsos II. und im Angesicht des drohenden (und schließlich eintretenden) Verlusts des Ferrareser Dominiums obsessive Züge annimmt,354 trägt zu diesem symbolischen Kapital ebenso bei wie die ambitionierte ‚Kulturpolitik‘ der estensischen Herzöge, die Investition in eine Festkultur und in architektonische, künstlerische, musikalische und andere Projekte, nicht zuletzt die Gründung einer Universität, die Ferrara im Verlauf des 15. Jahrhunderts zu einem kosmopolitischen kulturellen Zentrum Italiens und sogar Europas aufsteigen ließ. Die – seit Muratoris Antiquitates estenses (1717/40) – jenseits genealogischer Fiktionen und Spekulationen durch valide Quellen gesicherten Ursprünge der Este nehmen im 9. und 10. Jahrhundert Konturen an, als die Familie der Obertenghi, ein Clan langobardischer (und keineswegs troianisch-römischer) Herkunft, sich zunächst in der nördlichen Toskana und dann auch im Veneto niederließ und in diesen Regionen schnell beträchtlichen Einfluss gewann.355 Im 10. Jahrhundert sind ein Oberto als Markgraf von Ligurien, seine Söhne als Markgrafen von Mailand, Tortona und Genua bezeugt. Den Namen Este erhielt die Familie durch den Urenkel Obertos, Alberto Azzo II, der 1056 in dem nahe Padua gelegenen Este eine Burg erbaute und diese und seine Familie fortan mit dem Namen der Stadt belegte. Einer der Söhne Azzos, Guelfo d’Este, wurde durch Adoption zum Herzog von Kärnten und zum Begründer einer ‚welfischen‘, deutschen Este-Linie, die bis heute fortbesteht und über das Haus Hannover bis in das englische Könighaus reicht. Die italienische Linie hingegen ist im 19. Jahrhundert erloschen. Vertreter der Este erscheinen im 11. und 12. Jahrhundert zunächst als Marchesi von Modena und Verona und schließlich, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, etablieren sie sich als Marchesi von Ferrara, wo sie zuvor bereits mit anderen Familien erbittert um die Macht konkurriert hatten. Ferrara beherrschen die Este dann, von einem kurzen Intermezzo in den Jahren 1312/17 abgesehen, in ununterbrochener Folge bis 1598, seit 1471 mit dem Herzogtitel. 1598, nachdem der letzte Herzog Alfonso II. in mehreren Ehen kinderlos geblieben war, erlischt dieser Titel und Ferrara fällt als kirchliches Lehen an den Kirchenstaat zurück und zugleich auf den Status einer Provinzstadt, die es vor der Este-Ära war.356 354 Marx 2003, S. 128. 355 Hierzu und zum Folgenden s. Piromalli 1975; Sestan 1975; Chiappini 2001; Gundersheimer 2005 (11973); Emich 2005; Casciu/Toffanello (Hg.) 2014. 356 S. hierzu Gundersheimer 2005 (11973), S. 3 sowie die monumentale Untersuchung Birgit Emichs (Emich 2005, hier insbesondere S. 1083–1096) über das post-estensische Ferrara nach 1598, mit einer allerdings differenzierteren Bilanz.

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Die über einige Jahrhunderte reichende Kontinuität der estensischen Herrschaft über Ferrara war in Italien fast beispiellos – nur die Montefeltro in Urbino konnten in dieser Hinsicht mithalten – und vielleicht, wie dies auch Machiavelli in dem bereits zitierten Kapitel seines Principe nahelegt, das wichtigste Pfund, mit dem die Este wuchern konnten, um den stets prekären Status ihres Herrschaftsgebiets aufrechtzuerhalten. Ein bedeutendes Datum für das estensische Ferrara ist, wie erwähnt, die Verleihung des erblichen Herzogtitels 1471 an Borso d’Este durch Papst Paul II. Der Titel brachte eine lukrative Statuserhöhung innerhalb des italienischen und europäischen Adels mit sich, von der die Este nicht zuletzt auf dem Heiratsmarkt profitierten, standen jetzt doch Königs- und Papsttöchter als Ehepartner zur Verfügung und eröffneten sich neue dynastische Perspektiven.357 So heiratete Ercole I. d’Este, der Halbbruder und Nachfolger Borsos, Eleonora von Aragon, die Tochter des Königs von Neapel, Alfonso I. ehelichte Lucrezia Borgia, die Tochter des Papstes Alexander VI., und Ercole II. eine Tochter des französischen Königs Ludwigs XII. Mit dem Herzogtitel tritt die genealogische Aktivität der Este in eine neue Phase, der auch die enkomiastischen Epen Strozzis, Boiardos und schließlich Ariosts zuzurechnen sind. Dazu gehören ferner nicht-poetische genealogische Unternehmungen wie die Historia Ferrariae oder Annales Ferrarienses (1490–1505) von Pellegrino Prisciani, eine nur fragmentarisch und als Autograph erhaltene Sammlung von Dokumenten, Verträgen, Urkunden, die laut Bezner vor allem zusammengetragen wurde, um Argumente für Territorialansprüche der Este bereitzustellen.358 Priscianis Historia konstituiert keine kohärente Erzählung; eine solche scheint hingegen Ippolito d’Este in einem an den Rat der Stadt Ferrara gerichteten Brief von 1517 zu fordern. Während andere Städte wie Florenz und Mailand eine ihrer würdige Geschichtsschreibung längst vorzuweisen hätten, „dämmert der größte Teil unserer Vergangenheit im Dunkel des Unwissens vor sich hin“ („la maggior parte [de le cose memorabili] essere sospita ne le tenebre de la Ignorantia“), und dies wegen eines Mangels an Autoren („per inopia de Scriptor“).359 Schließlich schlägt Ippolito vor (d. h. er dekretiert), der Humanist Celio Calcagnini möge mit einer solchen geschichtlichen Darstellung, die selbstverständlich die Geschichte Ferraras mit der des Domus Estensis zusammenfallen lässt, beauftragt werden.360 Der mit Ariost befreundete und als skrupulös geltende Calcagnini kam allerdings über erste Entwürfe für eine solche Geschichte nicht hinaus.361 Die von Ippolito geforderte Geschichtsschreibung wurde erst lange nach dem Tod des Kardinals Wirklichkeit mit Il libro delle historie ferraresi von 1556 von Gaspare Sardi und Giambattista Giraldi Cinzios De Ferraria et Atestinis principibus commentariolum aus demselben Jahr, das alsbald auch ins Ita357 S. Bruscagli 2015, S. 152; Bestor 2005. 358 S. Bezner 2011, S. 56 f., ferner Marx 2003, S. 114 f. Auf Priscianis Historia rekurriert wahrscheinlich auch Ariost in seinen genealogischen Katalogen, insbesondere in Canto III. S. hierzu und zu anderen „Storie ferraresi“, derer sich Ariost im Orlando furioso bedient haben dürfte, die instruktive Studie von Laura Fortini (Fortini 2000, hier: S. 160 ff.), ferner Montagnani 2005. 359 Zit. n. Bezner 2011, S. 41 f. 360 Ebd. 361 Ebd, S. 42–44.

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lienische übersetzt wurde. Giraldi resümiert die verschiedenen Auffassungen über den Ursprung der Este folgendermaßen: Alcuni pigliano (come scrive il Prisciano) i principi della Casa Este da quei primi antichi tempi che il mondo fu liberato dal diluvio dell’acqua, che l’haveva sommerso e dicono che uno di coloro che discesero da Noè fu autore della famiglia da Este. Alcuni altri dicono ch’essi furono generati in Italia, in quel tempo che […] Antenore havendo passato il mare illirico edificò Padova, nel Paese degli Euganei, perciocché affermando che un certo Marco suo compagno generò la Casa d’Este, perciocché essi presero il titolo di Marchesi dal nome del loro antico. Altri tengono poi, che un certo Azzo tedesco venne in Italia con l’Imperatore Ugo e che egli produsse i Principi da Este … Io vengo talhora pensando e credo che la famiglia da Este sia discesa dall’antico Ercole.362

Einen Höhepunkt erreicht die genealogische Aktivität der Este schließlich im Kontext der sogenannten „disputa di precedenza“, einer Auseinandersetzung mit Florenz um die Rangfolge der italienischen Signorien gegenüber dem Kaiser; nicht zuletzt ging es dabei um das Privileg, Zeremonien in maximaler Nähe zum Kaiser beizuwohnen sowie um die Hierarchie der jeweiligen Botschafter am kaiserlichen Hof.363 Im Kontext dieses vier Jahrzehnte währenden Streits kam es, wie Bezner pointiert resümiert, zu einer kalkulierten Konstruktion, ja Produktion von Geschichte, bei der verschiedene Medien und Gattungen ineinandergriffen, um das höhere Alter der beiden Herzogtümer über genealogische Spekulation und historische Recherche zu erweisen und vor allem auch zu promulgieren: zur Historiographie eines Pigna oder Falletti trat dabei antiquarische Gelehrsamkeit sowie künstlerische Projekte; koordiniert wurde diese – sich wechselseitig beeinflussende und stützende – Produktion von Geschichte von einem einflussreichen Netzwerk um Herzog Alfonso, das durch gezielte Druckpolitik, Oratoren und Bestechung an Kaiserhof und Kurie auch für die notwendige Verbreitung der eigenen Geschichte sorgte.364

Im Kontext des Präzedenzstreits ist auch der Versuch Alfonsos II. zu sehen, familiäre Bindungen an die sächsischen Kurfürsten – der bereits erwähnte deutsch-welfische Zweig der Este – zu festigen und dadurch eine stärkere Position gegenüber den von Karl V. favorisierten Medici zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund wurde der Jurist und Diplomat Girolamo Falletti (1518–1564) mit einer Geschichte der Este seit dem Untergang des Römischen Reiches beauftragt, die ihren Vorrang gegenüber den Medici belegen und die tradierten genealogischen Entwürfe revidieren sollte, um den gemeinsamen Ursprung der Este und der sächsischen Welfen deutlicher herauszustellen.365 Der troianische Ursprung in seinen verschiedenen Versionen wird von Falletti explizit verworfen („fabulae et somnia“). Allerdings konstruiert auch er, nicht zuletzt mittels gefälschter oder erfundener Epigraphe,366 eine Abstammungslinie zu eben jenem bereits erwähnten Patriziergeschlecht der Atii, 362 G. B. Giraldi Cinzio, Commentario delle cose di Ferrara et de’ Principi da Este, übers. v. L. Domenichi, Venedig o. J., S. 14–18, zit. n. Gregori 1990, S. 11. S. hierzu auch Tristano 2012, S. 97 f. 363 S. Marx 2003, S. 121; Bizzocchi 2004, S. 7. 364 Bezner 2011, S. 69. 365 S. Marx 2003, S. 121 f. 366 Ein zentrales Beweisstück Fallettis, ein lateinisches Epigraph, wurde erst 1990 als Fälschung nachgewiesen. S. Gregori 1990, ferner Bizzocchi 1995, S. 214; Marx 2003, S. 125.

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die schon in Roms Vorgängerstadt, dem von Aeneas Sohn Julus gegründeten Alba Longa, eine bedeutende Position eingenommen haben sollen. Implizit kommt also Troia doch wieder ins Spiel. Fallettis Annales Estenses blieben unvollendet; seine Manuskripte und Materialien gingen auf Anordnung des Herzogs an Giambattista Pigna, der aus ihnen seine Historia de’ Principi di Este von 1570 destillierte, die, mit einem imposanten Quellenapparat („Tavola delle Auttorità“) ausgestattet und umgehend ins Lateinische, Deutsche, Spanische und Französische übersetzt, weite Verbreitung fand.367 Auch bei Pigna figurieren die Atii als römischer Ursprung der Este. Namentlich konkretisiert und in ununterbrochener Folge fortgeführt wird der Stammbaum aber erst seit dem 5. Jahrhundert, als sich die Atii in Person eines bereits von Falletti identifizierten Caio Atio im Veneto niedergelassen haben sollen, um gegen die Invasion der Barbaren zu kämpfen.368 Dieser Version folgt, wie beiläufig angemerkt sei, auch Tasso in der Gerusalemme liberata (XVII, 66). Pignas Historia blieb die ‚offiziöse‘ Geschichte der Este und Ferraras bis zu Muratoris Antiquitates Estenses (1717/40), der (obgleich er Pigna schätzte) feststellt, dass „fra i romanzi e le genealogie non passava gran divario“369 und der mit den selben Worten – „sogni“ und „favole“370 – die Falletti noch für seine Vorgänger reserviert hatte, mit der kompletten früheren Este-Historiographie aufräumt, einen langobardischen Ursprung der Este nachweist und darüber hinaus zeigt, dass der gesamte italienische und europäische Adel keine römischen, sondern germanisch-barbarische Ursprünge hat.371 Neben den gelehrten, Urkunden, Dokumente und antiquarische Artefakte aufbietenden genealogischen Konstrukten Fallettis, Pignas und früherer Autoren stehen künstlerische und architektonische Projekte, die mit skulpturalen und piktoralen Mitteln den Glanz des Hauses Este mehren und dem argumentativen, philologische und archivarische Beweisstücke vorlegenden genealogischen Diskurs der Gelehrten mit der Wucht performativer Evidenz assistieren sollen. Insbesondere das Castello Estense in Ferrara wurde 1577 mit Darstellungen der Vorfahren der Este ausgeschmückt, nachdem bereits Borso und Ercole I d’Este den Palazzo Schifanoia, die Grande Loggia der Villa Copparo und andere Palazzi mit Stemmata der Este und anderen genealogischen Darstellungen hatten ausmalen lassen.372 Auf diese ‚figurative‘ Dimension des genealogischen Diskurses kann ich hier nur hinweisen, obwohl sie, nicht zuletzt in Hinblick auf den ekphrastischen und ‚performativen‘ Charakter der meisten genealogischen Prophetien im Furioso, eine eingehendere Behandlung verdient hätte. Auch im Hinblick auf die Entmystifizierung historischer ‚Wahrheiten‘, die Ariost seinem Apostel Johannes in den Mund legt, stellt sich die Frage, welcher Wahrheitsstatus diesen Herkunftserzählungen überhaupt zugestanden wurde. Schon angesichts der beständigen Modifikationen und Revisionen, denen sie unterworfen 367 368 369 370 371 372

S. hierzu Tristano 2012, S. 99–103. S. Bizzocchi 1995, S. 14 f. und S. 197 f. Zit. n. Imbruglia 2012. Muratori 1717, Bd.1, S. 68. S. Imbruglia 2012; Tristano 2012. S. Lodi 1987; Farinella 2014, S. 119 f.; S. 499–503 passim; Scipioni 2015.

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wurden, muss auch den Zeitgenossen offenkundig gewesen sein, dass es sich, vorsichtig gesagt, um gewagte Konjekturen, um mehr oder weniger spekulative Interpretationen von Geschichte handelte. Andererseits ist im Auge zu behalten, dass die Grenze zwischen Fiktion und dem für historisch wahr Gehaltenen anders verlief als nach heutiger Einschätzung; Priamos und Aeneas galten als Figuren der Realgeschichte und der troianische Krieg als ein welthistorisches Ereignis, dessen Historizität freilich weniger durch Homers Ilias als durch die Prosaerzählungen des Dictys (Ephemeridos belli Troiani) und des Dares (De excidio Troiae historia) für belegt galt, die sich als Augenzeugenberichte gaben und auch als solche gelesen wurden, obwohl sie in Wirklichkeit spätantiken Ursprungs waren.373 Der Anspruch auf einen bis nach Troia zurückreichenden Stammbaum, wenngleich er durchaus angezweifelt werden konnte und auch wurde, erschien nicht in gleichem Maße als fantastisch oder sogar als absurd, wie dies aus heutiger Sicht der Fall sein mag – und er galt auch nicht per se als unglaublich oder als unglaubwürdig. Mit diesem, im Italienischen ebenso wie im Deutschen mehrdeutigen Attribut – „incredibile“ – belegt indessen Roberto Bizzocchi die genealogischen Konstrukte der Frühen Neuzeit in seiner kenntnisreichen, stimulierenden und nicht nur in Italien zur einschlägigen Referenz avancierten Monographie.374 In Bizzocchis als Essay deklarierter und auf Systematik explizit verzichtender Studie („Il libro è stato pensato non come un trattato, ma come un saggio“375) bleibt allerdings durchgehend unklar, welcher Rezeptionsperspektive – einer zeitgenössischen oder einer modernen – er dieses Verdikt der incredibilità attestiert. Dem neuzeitlichen Blick auf diese Genealogien ein solches Urteil zuzuordnen wäre einigermaßen trivial, wenn nicht falsch oder jedenfalls unpräzise: Im Lichte heutiger Kenntnis historischer Fakten und moderner, für die Validität historiographische Rekonstruktion einstehender methodologischer Prämissen erscheinen diese Genealogien keineswegs als unglaubwürdig, sondern schlicht als falsch: Wir wissen, dass sie nicht den geschichtlichen Tatsachen entsprechen oder entsprechen können. ‚Unglaublich‘ (im emphatischen oder exklamatorischen Sinn) mag uns erscheinen, dass diese Genealogien für wahr gehalten werden konnten. Denn für das zeitgenössische Verständnis sind die genealogischen Herkunftserzählungen, woran Bizzocchis Untersuchung auch keinen Zweifel lässt, keineswegs notwendig unglaubwürdig.376 Angefochten werden zwar bestimmte Ausgestaltungen oder Konkretisierungen genealogischer Reihen, nicht aber zwangsläufig die Prätention antiker oder weit zurückliegender Ursprünge oder gar 373 S. hierzu Eisenhut 1983, ferner Graus 1989, S. 28 f.; Brunner 2001, S. 221; Lienert 2001, S. 204 f. Prinzipiell als historisch galten auch König Artus und die Ritter seiner Tafelrunde, wenngleich die einzelnen ihnen zugeschriebenen Episoden als favole erkannt werden konnten. S. hierzu und generell zum Verhältnis von storia und favola im dichtungstheoretischen Diskurs des 16. Jahrhunderts Hempfer 1987b, S. 178–186. 374 Bizzocchi 1995. Bizzocchis Monographie ist unterdessen (2009), um eine „Postfazione“ erweitert, neu aufgelegt worden. Außerdem ist eine französische Übersetzung (Généalogies fabuleuses, Paris 2010) erschienen. 375 Bizzocchi 1995, S. 7. 376 Bizzocchi betont überdies (ebd. S. 203), dass die heute als gefälscht erkannten ‚Beweisstücke‘ auch von ansonsten kritischen Zeitgenossen durchaus als ‚authentisch‘ anerkannt sein konnten. S. hierzu oben, A. 366.

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die genealogische Interpretation von Geschichte schlechthin. Dabei kann die Kritik an einzelnen Herkunftserzählungen ebenso interessengeleitet sein wie ihr Gegenstand und bloßes Vorspiel für eigene genealogische Fiktionen. So konnten die Medici in der Person Cosimos I. zwar die genealogischen Aspirationen der Este mit hellsichtigem Spott kommentieren und den durch eigene Tüchtigkeit erlangten Rang gegen den ererbten der Este ausspielen;377 dies hielt sie aber nicht davon ab, ihrerseits bei einem Florentiner Humanisten eine eigene Familiengenealogie in Auftrag zu geben, für die sich denn auch ein Paladin Karls des Großen rekrutieren ließ, der als Bezwinger eines leibhaftigen Riesen einen hinreichend würdigen Stammvater für die Medici abgab und auch ihnen das begehrte troianisch-fränkische Herkunftsprädikat verschaffte.378 Neben einer eher okkasionellen Kritik waren allerdings auch grundsätzliche Einwände möglich. Einerseits Kritik theologischer Observanz, die eine Unvereinbarkeit säkularer und exkludierender Genealogien mit der biblischen Herkunftserzählung anprangerte, nach der alle Menschen gleichen Ursprungs seien; andererseits aber methodische Einwände, die das Fehlen schriftlicher Zeugnisse sowie anderer valider Quellen und überhaupt einer belastbaren Überlieferung monierten und die Haltlosigkeit vieler genealogischer Konstrukte auch detailliert und zwingend nachwiesen.379 Sowohl die theologischen wie die methodologisch-philologi377 Cosimo kommentiert hier die Meldung („novelluccia“) seines eigenen Botschafters, der ambasciatore Ferraras am Hof Karls V. habe des Kaisers huldvolle Entgegennahme einer Serviette aus der Hand Ercoles I im Sinne einer Präzedenz der Este gegenüber den Medici interpretiert: „Cosa da increscere vie più a ciascuno della morte del Ariosto, che non habbi potuto mettere questo atto ancora nel Orlando Furioso, nel quale libbro quello ambasciatore debbe avere studiata et imparata la nobiltà et antiquità della casa da Esti. Et in questa parte, in verità, non posso negare che non sia inferiore la illustrissima casa nostra, non havendo havuto un poeta tale che l’habbi celebrata dandole un sì chiaro et nobile principio: dico di quel Ruggieri el quale extinse lo splendore di Orlando e di tutti li altri paladini, come fa el sole, quando nasce, el lume del altre minori stelle. Quanto al mio particulare, io non posso, né mi curo molto di poter, dire di essere nato d’un duca di Firenze, non essendo bene ancora resoluto qual sia di maggior laude o el nascere o el doventare in quel modo che ho fatto io.“ Zit. n. Bizzocchi 1995, S. 259f; s. auch Bizzocchi 2004, S. 12 f. Laut Speyer war Adelskritik, die Leistung gegen Abkunft ausspielte, bereits zur Spätzeit der römischen Republik ein literarischer Topos (Speyer 1976, Sp. 1200). Cicero als ein Protagonist dieser Kritik legte allerdings selbst großen Wert darauf, einer „stirps antiquissima“ zu entstammen (ebd. Sp.1195). 378 Ebd. S. 9; s. auch Bizzocchi 1995, S. 255–262; Bruscagli 2015, S. 167. 379 S. Bizzocchi 1995, S. 189–193, am Beispiel der Auseinandersetzung Vincenzo Borghinis mit der ‚etruskischen‘ Genealogie Annios. Bizzocchi betont, dass die Konstruktion von Geschichte auf der Basis von Fälschungen oder Manipulation von Dokumenten oder deren hochspekulative Interpretation einerseits, die ‚Entlarvung‘ dieser Konstrukte andererseits nur zwei Seiten einer Medaille sind; beide Aktivitäten markierten den Beginn kritischer Geschichtswissenschaft: „la preoccupazione che domina molti autori di genealogie incredibili per le prove dei loro discorsi li rende pienamente partecipi di una caratteristica saliente della storiografia moderna.“ (Ebd. S. 194). Ähnlich hatte bereits Anthony Grafton (Grafton 1991a und 1991b), u. a. am Beispiel Annios, eine Komplementarität von Fälschung und deren Entlarvung in der Frühen Neuzeit postuliert und am Beispiel von Erasmus und Carlo Sigonio, ebenso versierte Entlarver wie auch Produzenten von Fälschungen, geltend gemacht, dass beide Aktivitäten dieselbe Kompetenz voraussetzen.

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schen Einwände konnten assoziiert sein mit einer Kritik des genealogischen Kontinuitätspostulats, die sich auf pagane Autoren wie Platon und Seneca ebenso wie auf Boethius oder die Kirchenväter berufen konnte und Geschichte als prinzipiell diskontinuierlichen und kontingenten Ereigniszusammenhang verstand; im Lichte einer Auffassung von Geschichte als „mare concitato da’ venti“380 und als Domäne der Fortuna, des blinden Schicksals, das nicht nur ganze Zivilisationen, sondern auch deren Spuren auslöschte, mussten Geschichtskonstrukte, die lückenlose dynastische Abfolgen behaupteten, als anmaßend und zum Scheitern verurteilt erscheinen.381 Ich erinnere daran, dass eben dieses Geschichtsbild in der Mondepisode, insbesondere in der Sequenz des ‚Tals der verlorenen Dinge‘, seine allegorische Veranschaulichung findet, unmittelbar vorhergehend dem teleologischen Optimismus der Ippolito-Lobpreisung aus dem Munde des Apostels Johannes, so dass hier die beiden oppositiven Geschichtsauffassungen in einem allegorischen Narrativ zusammengespannt sind. Auch im Falle einer so gearteten Kritik der Genealogie wäre aber das Attribut „incredibile“ unangemessen, weil diese Kritiken gleichfalls nicht aus einer Position skeptischen Zweifels und schon gar nicht fassungslosen Staunens, sondern (vermeintlich) überlegenen Wissens geübt werden. Insgesamt scheinen mir Bizzocchis Qualifizierung frühneuzeitlicher genealogischer Herkunftserzählungen als „incredibile“ wie auch seine recht anekdotische Behandlung der Thematik das Phänomen zu sehr in eine Sphäre des Kuriosen oder Bizarren zu versetzen und eine adäquate Taxierung seines epistemischen Status wie seiner pragmatischen Funktion eher zu behindern. Generell werden nach meinem Eindruck Attribute, die das – aus heutiger Sicht – fundamental Wahrheitsferne jener Genealogien betonen, in dem hier thematisierten Kontext etwas zu leichtfertig vergeben.382 Denn wenn Genealogien die starken Funktionen, die ihnen zugedacht waren, tatsächlich zu erfüllen vermochten, wenn sie also als Argument wirksam werden und die Superiorität, Legitimität etc. einer Familie erfolgreich reklamieren konnten, müssen sie von jemandem geglaubt, mithin in irgendeiner, natürlich näher zu bestimmenden Weise, für wahr oder plausibel oder eben für glaubwürdig gehalten worden sein. Tatsächlich bezeugt der große plurimediale und plurigenerische Aufwand, der getrieben wurde, um Genealogien zu etablieren, ja gerade, dass der genealogische Diskurs prinzipiell durchaus als wahrheitsfähig galt und dass genea380 Francesco Guicciardini, Storia d’Italia I, 1, S. 1. Zur Geschichtsauffassung Guicciardinis, der immer wieder die „spesse variazioni della fortuna“ (ebd.) oder die „varietà de’ tempi e delle cose“ (ebd. I, 4, S. 29) beschwört, s. Gilbert 1965, S. 288 f. 381 S. Bizzocchi 1995, S. 95–103; S. 214 f.; Jahn 2000. Aber auch eine Historiographie, die Geschichte als prinzipiell diskontinuierlich auffasst – ein Modell, das von der humanistischen Florentiner Geschichtsschreibung favorisiert wird – kann mit politischen Interessen assoziiert sein. S. hierzu Tristano 2012, S. 82. 382 Ich nenne als Beispiel nur die Untersuchung von Cristina Scipioni (Scipioni 2015), die einerseits detailliert aufzeigt, welche Funktionen die beständig modifizierten Genealogien der Este in den sich verändernden machtstrategischen Kontexten jeweils erfüllten oder erfüllen sollten, zugleich aber nicht müde wird, diese Genealogien bei jeder Gelegenheit als „fantasioso“ oder „immaginoso“ auszuweisen oder eben auch mit dem von Bizzocchi bezogenen Prädikat „incredibile“ zu belegen; s. etwa S. 28, 29, 35 u. ö. Das heißt, die Funktionen oder Zwecke werden unter zeitgenössischer, die Mittel aber unter heutiger Perspektive beurteilt.

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logische Konstrukte mit Adressaten rechnen konnten, die sie zu überzeugen vermochten. Die Frage sollte also lauten: Welche Bedingungen mussten erfüllt sein, damit genealogische Herkunftserzählungen zeitgenössisch nicht als ‚incredibile‘ galten, sondern für ‚historisch wahr‘ oder jedenfalls für ‚credibile‘ gehalten werden konnten, zumindest in einer hinreichend großen und vor allem hinreichend relevanten sozialen Gruppe von Adressaten? Keineswegs waren diese Erzählungen – jedenfalls nicht primär – an den „sciocco vulgo“ (O. F. VII, 1,5), das ‚unwissende Volk‘ gerichtet, um es zu beeindrucken und auf die Herrschenden einzuschwören, sondern vielmehr an eine Elite – zum einen an eine Machtelite, der gegenüber die eigene Anciennität und der daraus resultierende Rang geltend gemacht und die entweder auf Distanz gehalten oder aber als Bündnispartner gewonnen werden sollte, zum anderen an eine Bildungselite, die über die historischen, philologischen und rhetorischen Kenntnisse verfügte, um derartige Konstrukte kompetent zu würdigen, zu rezensieren oder sogar selbst zu produzieren. Vor diesem Hintergrund ist durchaus anzunehmen, dass auch die Produzenten, Auftraggeber und Profiteure genealogischer ‚Inszenierungen‘, obwohl unmittelbar in deren Hervorbringung involviert und ihre Konstitutionsbedingungen durchschauend, dennoch an ihre Wahrheit glaubten, zugleich aber ein deutliches Bewusstsein davon gehabt haben müssen, dass diese Wahrheit eine zu konstruierende sei, dass es um die angemessene Diskursivierung und Evidentialisierung einer immer schon präsupponierten und in ihrem Kern unantastbaren Faktizität ging. Bizzocchi beschreibt diese Evidenzproduktion, die Erzeugung von beweiskräftigen Argumenten und Dokumenten als eine Art systematischer petitio principii: […] in una radicale ma logica conseguenza delle regole presuppositive delle genealogie, il documento esiste sempre; perché al limite, un limite finché si vuole paradossale, esso esiste anche in assenza. Nella presupposizione dell’antichissima origine di una famiglia nobile, il più convincente documento per provarla è la presupposizione stessa, è di per sé la sua tradizione.383

Dass dieser einer „epistemologia della presupposizione“384 verpflichtete genealogische Konstruktivismus indessen nicht unbedingt als paradoxal gelten muss, lässt eine aus der einschlägigen Memoirenliteratur des 19. Jahrhunderts bekannte Anekdote deutlich werden, die auch von Bizzocchi wiedergegeben wird und die, obwohl sie in den 90iger Jahren des 18. Jahrhunderts und damit über 200 Jahre nach dem hier interessierenden Zeitraum spielt, doch auch für diesen noch signifikant und aufschlussreich sein dürfte.385 Diese Anekdote berichtet von einer Begegnung Napoleon Bonapartes mit einem Vertreter des römischen Adels, Camillo Francesco Massimo. Bonaparte bestreitet bei dieser Gelegenheit ebenso herablassend wie apodiktisch die Wahrheit eines ihm zu Ohren gekommenen Anspruchs der Familie der Massimo, sie stamme von dem römischen Konsul Fabius Quintus Maximus, dem zeitweiligen Widersacher Hannibals, ab: „Si dice, signore, che voi discendete da Quinto Fabio Massimo. Questo non è vero“. Die Replik des römischen Adligen auf diesen Vorhalt könnte eleganter nicht sein; er vermöge, so erklärt er, in der Tat 383 Bizzocchi 1995, S. 216. 384 Ebd., S. 213. 385 Ebd., S. 268 f. S. hierzu auch Büchel 2004.

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keine Beweise für diese Behauptung beizubringen, es handele sich einfach um eine Geschichte, die in seiner Familie seit ungefähr 1200 Jahren von Generation zu Generation weitergegeben werde: „In effetti non potrei provarlo: è una voce che corre nella mia famiglia da dodici secoli appena“. Die nur scheinbar demütige Antwort des Marchese stellt zwar die Herkunft vom römischen Konsul nonchalant dahin, dies aber mit der Souveränität einer Anciennitätsgewissheit, die sich nicht darauf einlassen muss, mit einem Parvenü über ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger zu streiten. Darüber hinaus lässt die Replik Massimos aber auch die ‚Logik‘ und die Gelingensbedingungen genealogischer Herkunftskonstruktionen transparent werden. Offenkundig geht es darum, ein Herkunftsnarrativ zu etablieren, das im Idealfall belastbar genug ist, um im Zuge seiner Tradierung an die Stelle der von ihm behaupteten Fakten zu treten. Selbst noch die Zurücknahme oder Relativierung der Herkunftsprätention vermag diese durch den Verweis auf ihre ‚transepochale‘ Konstanz zu bekräftigen. In der als Anekdote überlieferten Szene zwischen Bonaparte und dem Marchese Massimo fungiert die innerfamiliäre Überlieferung (für die der Marchese im generischen Rahmen der Anekdote und ihrer Lizenz zu pointierter Kürze natürlich jeden Beweis und jede Konkretisierung schuldig bleiben darf) als alleiniger Träger der Herkunftserzählung und als Medium ihrer Fixierung. Die Familie oder Sippe erscheint nicht nur als Urheber und Sprachrohr der Erzählung, sondern auch als ihr eigentlicher oder jedenfalls wichtigster Resonanzraum. Der Geltungsbereich dieser Erzählungen, der Radius, innerhalb dessen sie für ‚wahr‘ gehalten werden, dürfte zunächst mehr oder weniger zusammenfallen mit dem der Gemeinschaft, innerhalb derer sie eine Funktion der Identitätsvergewisserung und des dynastischen community-fashioning erfüllen. Wenn aber durch die Umstände gefordert war, der genealogischen Erzählung Evidenz über den Kreis der dynastischen Sippschaft und ihrer unmittelbaren Trabanten hinaus zu verschaffen und ihren Geltungsradius zu vergrößern, bedurfte es offenkundig größerer interdiskursiver Anstrengungen, des Einsatzes eines ganzen Arsenals unterschiedlicher Textsorten und Medien, um ihr eine hinreichend starke Präsenz, gleichsam eine kritische Masse oder Dichte zu verschaffen, die imstande war, immer mehr faktische oder fiktive Überlieferungsdetails zu absorbieren. War eine genealogische Erzählung einmal in dieser Weise etabliert, war sie auch durch beständige réécriture und den Nachweis widersprüchlicher Details nur schwer zu erschüttern oder zu verdrängen; noch die diachrone und synchrone Konkurrenz extrem divergierender Versionen – wie im Falle der Este – bekräftigte letztlich das entscheidende präsupponierte Faktum und das zentrale Persuasionsziel: die dynastische antiquitas des Herrscherhauses und seine über Äonen unter Beweis gestellte Kompetenz zur Machtausübung. Gleichwohl dürften für die Etablierung genealogischer Traditionen gerade jene Herkunftserzählungen besonders überzeugend und wirkmächtig gewesen sein, in denen das Flickwerk, das heterogene Material der konkurrierenden und widerstreitenden Überlieferungen zu einer mehr oder weniger kohärenten Erzählung synthetisiert bzw. inkompatibles Material ausgesondert wurden. Das mögen einerseits historiographische Texte wie Pignas Historia de’ Principi di Este geleistet haben, andererseits aber gerade auch fiktionale Erzählungen wie die Orlandi Boiardos und Ariosts, die gar keinen historiographischen Wahrheitsanspruch

6.9 Dynastische Herkunftserzählung und genealogiekritischer Metadiskurs

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erheben, aber für den Nimbus der Este möglicherweise nachhaltiger wirksam waren als jene ‚ernsthaften‘, die historische Wahrheit reklamierenden, aber immer durch Falsifizierbarkeit gefährdeten und früher oder später tatsächlich falsifizierten – oder schlichtweg vergessenen – gelehrten Werke.386 6.9 DYNASTISCHE HERKUNFTSERZÄHLUNG UND GENEALOGIEKRITISCHER METADISKURS Vor dem soeben skizzierten Hintergrund erscheinen Texte wie Boiardos Orlando innamorato oder der Orlando furioso zunächst als bloße Epiphänome oder als einzelne ‚Stimmen‘ eines breit orchestrierten Diskurses, der gerade aus seiner plurigenerischen und plurimedialen Auffächerung Durchschlagskraft und persuasive Wirkung bezieht – anders gesagt, der gerade durch seine interdiskursive Ubiquität und Massierung ein komplexes und nicht unbedingt widerspruchsfreies historisches Narrativ hervorbringt, das den Geltungsstatus tatsächlichen Geschehens beansprucht. Die spezifische und insbesondere von den Auftraggebern oder Widmungsadressaten geschätzte und geförderte Funktion poetischer und fiktionaler Genealogien liegt gewiss vor allem darin, den Resonanzraum der genealogischen Propaganda zu vergrößern, und dies sowohl in der synchronen Breite wie auch in der diachronen Tiefe. Denn viel eher als der gelehrte Diskurs beinhaltet die genealogische Dichtung das Versprechen, nicht nur den Ruhm der illustren Vorfahren zu verbreiten und zu bewahren, sondern auch den der Lebenden mit poetischer Eloquenz, mit der Suggestionskraft von Vers und Metrum in die Zukunft zu verlängern – ihnen also, wie Johannes auf dem Mond mahnt, Unsterblichkeit zu verschaffen, wenn sie nur zu Lebzeiten die Dichter sich gewogen machen. Es versteht sich, dass dabei der größere Rezeptionsradius der Dichtung ins Gewicht fällt, zumal unter den noch neuartigen Bedingungen der Typographie, deren Möglichkeiten Ariost sich bereits souverän zu bedienen wusste.387 Bekanntlich war gerade der Orlando furioso eines der meistgedruckten volkssprachlichen und profanen Bücher der Epoche und wurde auch jenseits lesekundiger Schichten und nicht nur innerhalb Italiens breit rezipiert: gelesen, rezitiert, musikalisch aufbereitet, dramatisiert, illustriert und recht bald auch übersetzt, zunächst, um nur die ‚großen‘ Sprachen zu nennen, ins Französische (1543), wenig später ins Spanische (1549) und schließlich ins Englische (1591).388 Die frühen Rezeptionszeugnisse bezeugen zumeist, wie 386 Cosimos oben zitierter Kommentar zur ‚Servietten-Affäre‘ (s. A. 377) lässt ja, bei allem Sarkasmus, durchaus ein Bedauern erkennen, dass die eigene „illustrissima casa“ über keinen Dichter vom Kaliber eines Ariost verfügte. 387 S. Fahy 1989; Richardson 1999, S. 85–89. 388 Zur musikalischen und ‚theatralen‘ Rezeption des Furioso s. weiter oben, S. 26, A. 32. Zur Rezeption des Furioso in den bildenden Künsten, die gerade in jüngerer Zeit, zuletzt auch im Zuge der Feierlichkeiten zum 500. ‚Geburtsjahr‘ des Orlando furioso, auf starkes Forschungsinteresse gestoßen ist, s. Gnudi 1994; Farinella 2014; Bolzoni 2014; Caneparo 2015; Cogotti u. a. (Hg.) 2016. Zur zeitgenössischen Rezeption in Frankreich s. Cioranescu 1939; in Spanien Chevalier 1966; in Deutschland Aurnhammer 2000.

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weiter oben (Kap. 3) bereits angesprochen, überaus selektive Lektüren, die einzelne Textelemente privilegieren und jene integrativen Textstrukturen, auch Diskrepanzstrukturen, auf die moderne Interpreten des Furioso zielen, gerade verfehlen.389 Diese selektiven Lektüren betreffen auch die genealogische Textschicht. Beispielhaft sei hier nur auf den ersten englischen Übersetzer des Furioso verwiesen, Sir John Harington, der dem langen genealogischen Katalog des 3. Gesangs mit aufschlussreicher Argumentation attestiert, von nur geringem Interesse für den Leser zu sein:390 […] the rest of the book [c. III] is in a manner all a true historie, and is a repeticion of the pedegrue of Alfonso duke of Ferrara with some brief touches out of ancient histories of their great exploites in Italy: the exposition of all which I will not pursue at length, as being needlesse to the learned that have read those stories, and not verie pleasant to the ignorant, nor familiar to our nation.391

Dennoch deutet nichts darauf hin, dass seine genealogische Thematik, die De Sanctis, Rajna und ihre Nachfolger als bloßen Ballast sehen wollten, den Erfolg des Furioso in irgendeiner Weise behindert hätte. Wenn Ariosts Epos sehr wohl auch als dynastische Herkunftserzählung goutiert wurde, dürfte dies nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass diese Erzählung zugleich eine Liebeserzählung war, die Geschichte zweier sich suchender und schließlich zueinander findender Liebender. Eine solche Überlagerung von Diskursen – in diesem Fall einer Herkunftserzählung und einer amourösen queste – hatte die gelehrte genealogische Literatur ebenfalls nicht zu bieten. Die Frage ist nun, ob Ariosts Romanzo darin aufgeht, den genealogischen Diskurs der Epoche als ein affirmativer discours du pouvoir im Sinne Foucaults zu bereichern und zu verstärken,392 oder ob er – stattdessen oder zugleich – zu diesem Diskurs auf kritische Distanz geht, ihn ironisiert, parodiert, dekonstruiert oder subvertiert und, wenn ja, auf welche Weise er dies tut. Beide Lesarten, die ‚affirmative‘ wie die ‚kritische‘, wurden und werden in unterschiedlichen Formen und Abstufungen vertreten. Die ‚kritischen‘ Lektüren rekurrieren erwartungsgemäß auf die Kategorie der Ironie, wenn es darum geht, das Ambivalente, Nicht-Ernsthafte, das Distanzierte oder das Subversive des enkomiastischen Diskurses Ariosts herauszustellen.393 Die Genealogie wird dabei, wie beiläufig angemerkt sei, zumeist der Enkomiastik subsumiert, obwohl beides im Furioso zwar aufeinander bezogen ist, aber nicht zusammenfällt. Kritik der Enkomistik muss nicht zwangsläufig auch Kritik der Genealogie bedeuten und vice versa. Ebenfalls kaum differenziert werden Kritik an der 389 Zur Privilegierung ‚elegischer‘ Textelemente in der frühen, von Sprachbarrieren kaum behinderten Rezeption in Deutschland s. Aurnhammer 2000. 390 Aufschlussreich nicht zuletzt, weil Harington die grundsätzliche historische Wahrheit dieses Katalogs in keiner Weise in Frage stellt und seine nur geringe Interessantheit u. a. damit begründet, dass zumindest dem gebildeten Leser die historischen Fakten dieses Katalogs ohnehin bekannt seien. 391 Sir John Harington, Lodovico Ariosto. „Orlando furioso“ in English Historical Verse, London 1591, S. 22, zit. n. Everson 2016, S. 210. 392 S. Bruscagli 2015, S. 155. 393 S. Honnacker 1999a, S. 129 f.

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höfischen Welt und dem Fürsten einerseits, Kritik am enkomiastischen und/oder genalogischen Diskurs andererseits. ‚Ironie‘ wird bekanntlich spätestens seit Hegel als eine zentrale Eigenschaft von Ariosts Epos erkannt und ist – zunächst in ihrer Fassung bei De Sanctis und vor allem bei Croce (bei dem der Begriff letztlich mit dem der armonia zusammenfällt394) – zu einem, zuweilen auch stark überdehnten, Schlüsselbegriff nicht nur der wissenschaftlichen Ariost-Rezeption geworden.395 Ich kann mich hier nicht näher auf das weitläufige und komplexe Thema der ‚ariostschen Ironie‘ einlassen und will deshalb nur einige Aspekte benennen, die für die Genealogie- und Enkomiastikkritik als relevant erscheinen. Bei De Sanctis und bei Croce hat die Ironie Ariosts keine kritische Funktion, schon gar nicht in Bezug auf die genealogische Enkomiastik, die, wie gesehen, für De Sanctis ohnehin nur ein akzidentelles Textelement ist und für Croce bloßes Spielmaterial einer in sich vollendeten, ganz im Zeichen der Harmonie, der vollkommenen Kongruenz von forma und contenuto stehenden Dichtung, die jeden Versuch, ihr eine Referenz in der historischen oder gegenwärtigen Wirklichkeit zuzuweisen, als ein inadäquates und müßiges Unterfangen kompromittiere.396 Wenn die Kategorie der Ironie in der post-crocianischen Ära, nunmehr als kritische Distanznahme vom eigenen Diskurs oder von anderen Diskursen verstanden, auf die genealogisch-enkomiastische Erzählung Ariosts angewandt wird, kann sich dies zum einen auf die Ebene der histoire beziehen, indem etwa konstatiert wird, dass der Autor seinen dynastischen Helden sich entschieden unheroisch verhalten lässt. Ironie kann weiterhin Funktion einer das rhetorische aptum verletzenden (bzw. eine neue Art von aptum konstituierenden) Kombination unterschiedlicher, u. U. gegensätzlicher Diktionen und Stilgesten sein, wie man dies etwa im Proömium sehen konnte mit seiner Juxtaposition hochepischer und burlesker Rede oder im Musenanruf von Canto III, der ebenfalls eine Disponibilität divergenter Diktionen bezeugt, jede einzelne Sprechweise als bloßes diskursives Rollenspiel erscheinen lässt und damit die Verbindlichkeit des durch sie Gesagten unterminiert. Am deutlichsten aber manifestiert sich enkomiastik- und genealogiekritische Ironie in den aleatorischen Eingriffen des Erzählers in das Geschehensgefüge, die dessen angeblich providentiell bestimmte Ordnung ad absurdum führen, und schließlich kann sie in Kommentaren sowohl des Erzählers wie der Figuren greifbar werden, die das genealogische Unternehmen diskreditieren. Eine Schlüsselsequenz in dieser Hinsicht ist natürlich die Reise zum Mond, in deren Kontext der Apostel Johannes jene kaum zu disambiguierende Rede über die Korrumpierbarkeit der Dichter hält, um sich, den Verfasser eines Evangeliums und Verkünder des Gotteswortes, zugleich selbst als Dichter auszuweisen – dies mit verstörenden Implikationen für die Glaubwürdigkeit des Neuen Testaments ebenso wie für die des Furioso und seines genealogisch-enkomiastischen Diskurses. Eher moderat sind die Schlussfolgerungen, die Ferroni aus dieser Passage, die ich in Kapitel 2 ausführlich besprochen habe, zieht – moderat, zugleich etwas vage („sem394 S. Sangirardi 2014, S. 192. 395 Zur Ironie bei Ariost s. Petersen 1990; Forni 2007; Ferroni 2008, S. 214–215; Sangirardi 2014; Rivoletti 2014; Jossa 2016b. 396 Croce 1963 (1918), S. 50–59. Zur Kritik s. Durling 1965, S. 250 f. Anm. 5; Jossa 2009, S. 134 f.; Sangirardi 2016, S. 21–39.

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bra dirci l’autore“) und letztlich folgenlos für seine Sicht auf Ariosts Epos, für die der genealogische Diskurs auch nur ein Nebenaspekt ist: Tutto il discorso di san Giovanni suggerisce peraltro una lettura „alla rovescia“ del tema encomiastico del Furioso: esso costituisce anche una svalutazione ironica dell’intento celebrativo del poema. Se ogni lode è menzogna prezzolata, allora anche la destinazione encomiastica di questo poema (sembra dirci l’autore) non dovrà essere presa sul serio.397

Die Rede des Apostels hat namentlich Interpreten dekonstruktivistischer Provenienz dazu verführt, die Enkomiastik insgesamt für ironisch oder dissimulativ zu halten. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang einer der Architexte dekonstruktivistischer Ariost-Lektüren, ein Aufsatz David Quints über Astolfos Mondreise.398 Quints Interpretation sieht in der Mondepisode mit ihrer komplexen Spiegelungsoder Signifikationsbeziehung zwischen Erde und Mond eine dekonstruktivistische Semiotik avant la lettre Gestalt annehmen; im Furioso komme eine Welt zur Darstellung „in which true meaning is impossible precisely because the instrument of meaning, the text, is shown to be autonomous, a set of signs which point ultimately to their identity as signs“.399 Auf die estensische Herkunftserzählung als Strukturkonstituente des Furioso geht Quint nicht näher ein; er bezieht aber zu Recht Stellung gegen Durling, der entschieden bestritten hatte, dass Johannes’ Rede auf den enkomiastischen Diskurs des Furioso extrapoliert werden dürfe. Durling hatte dies, wie gesehen, mit enkomiastischen Passagen begründet – vor allem die Würdigung der Rolle Alfonsos in der Schlacht von Ravenna –, die er zuvor eingehend analysiert hatte und die nach seinem Befund keine flattery betreiben.400 Demgegenüber kommt Quint zu dem – angesichts des ambitionierten analytischen Aufwands – allerdings recht dürftigen Ergebnis, die verbindliche Botschaft der Mondepisode einschließlich der Rede des Apostels über die Dichtung sei „that poets lie“; während aber die topische Gleichsetzung von Dichtern und Lügnern zu ihrer apologetischen Kompensation eine höhere Wahrheit in Anspruch nehme, der die poetische Lüge letztlich diene, verweigere Ariost gewissermaßen diesen Trost.401 Eine Zuspitzung der Position Quints bietet James Thomas Chiampi in seiner Interpretation der Mondepisode, wenn er im Furioso, in bekannter dekonstruktivistischer Manier, ein einziges, jede extratextuelle Referentialisierbarkeit unterlaufendes oder sabotierendes Spiel der Signifikanten erkennt. Damit wäre natürlich auch der Genealogie, auf die Chiampi nicht explizit eingeht, jegliche affirmative Verbindlichkeit abgesprochen.402 Weder Quint noch Chiampi lassen sich auf andere und schwerlich als ‚iro397 Ferroni 2008, S. 208. Mit ähnlichem Tenor Honnacker 1999a, S. 130: „Questo discorso […] pare mettere in discussione la credibilità di tutta l’epica classica rappresentata dai suoi massimi esponenti, Virgilio ed Omero, e con essa anche la valenza encomiastica del Furioso. Se si suppone che le lodi di Augusto e di Achille siano fasulle, quale attendibilità potrebbero rivelare gli elogi della dinastia estense?“ 398 Quint 1983. Der ursprüngliche Aufsatz von 1977 wurde 1983 in modifizierter Form als Buchkapitel veröffentlicht; ich zitiere hier nach dieser späteren Fassung. 399 Quint 1983, S. 91. 400 Durling 1965, S. 149. 401 Quint 1983, S. 91. 402 Chiampi 1983.

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nisch‘ zu lesenden Textpassagen ein, zum Beispiel auf die empathischen Kommentare des Erzählers zu gegenwärtigen, Ferrara und die Este involvierenden kriegerischen Ereignissen oder auf die genealogischen Kataloge; sie würden dies vielleicht damit begründen, dass mit der Mondepisode und der paradoxen difesa della poesia des Apostels Johannes (in ihrer dekonstruktivistischen Lesart) eine Metaebene in den Text eingeschrieben sei, die letztlich die Lektürekonditionen für jede andere Textebene oder Textstelle, an der eventuell auf weniger kompromittierende Weise von den Este gesprochen werde, vorschreibe. Weniger dogmatisch als Quint und vor allem als Chiampi argumentiert Lene Waage Petersen, kommt aber schließlich ebenfalls zu dem Ergebnis, der genealogisch-enkomiastische Diskurs des Furioso könne nur als ironisch verstanden werden.403 Gegen die forciert ‚kritischen‘ Lektüren wäre nicht zuletzt einzuwenden, dass sie, ihren postmodernen Prämissen entsprechend, die Bedeutung der Genealogie und Enkomiastik im Text und für den Text ausschließlich aus dem Zusammenspiel inter- und intratextueller Bezüge erschließen wollen und nicht-literarische Kontexte stillschweigend oder auch erklärtermaßen ignorieren.404 Sie verkennen damit, dass der Furioso Teil einer als System zu verstehenden sowohl literarischen wie nicht-literarischen genealogischen Praxis ist, auf die er beständig referiert, zu der er auch intertextuelle Beziehungen unterhält und in deren Verwendungs- und Funktionszusammenhang er unweigerlich eintritt, selbst wenn dies nicht den Intentionen des Autors entsprochen haben sollte. Letzteres erscheint freilich als höchst unwahrscheinlich. Zu fragil war Ariosts Stellung als familiare der Este, als dass es schon unter Gesichtspunkten der Opportunität glaubhaft erschiene, er hätte sich von der Genealogie als einer Strategie dynastischer Identitätsvergewisserung und Herrschaftslegitimierung, die gerade für die Este von vitaler Bedeutung war, grundsätzlich distanzieren können. Wenig glaubhaft aber auch deshalb, weil er sich damit zugleich von eben dem Projekt distanziert hätte – dem Orlando furioso als eine, wenn auch ironisch distanzierte und auf gänzlich ‚unepische‘ Erzählweisen zurückgreifende, Vergil-aemulatio – mit dem er seinen Status gegenüber den Este und innerhalb der höfischen Hierarchie zweifellos hoffte aufwerten zu können. Tatsächlich lassen alle verfügbaren Dokumente, vor allem seine Briefe und seine Satiren, darauf schließen, dass sich Ariost, wenn auch begleitet von kritischen Vorbehalten, durchaus als Teil des in jenem genealogisch-enkomiastischen Diskurs gefeierten höfischen Systems sah und dass dessen Lobpreisung nicht nur taktischer Natur war, sondern einem Zivilisationsmodell galt, dessen Bestand er durch dieses höfische und auf dynastischer Kontinuität beruhende System am 403 Petersen 1990. 404 Quint wie Chiampi gehen weder auf die genealogische Enkomiastik als Strukturelement des Textes und auf den zeitgenössischen genealogischen Diskurs als eine Systemreferenz ein noch auf die lebensweltliche Situation Ariosts und deren spezifische Zwänge. Anders Petersen, die eine Rekonstruktion des sozio-kulturellen und ‚philosophischen‘ Kontextes des Furioso zwar befürwortet, zugleich aber meint, dass „tale contestualizzazione storica non sia necessaria per il funzionamento della strategia ironica“. (Petersen 1990, S. 202). Für die Frage, ob es sich überhaupt um eine „strategia ironica“ handelt und was ihr Gegenstand wäre, scheint mir der Kontext aber durchaus relevant zu sein.

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ehesten garantiert sah.405 Die explizite Fürsten- und Hofkritik, die man in Ariosts Texten, vor allem seinen Satire und in Briefen, aber auch im Furioso selbst findet, z. B. im Kontext der Mondepisode, ist durchweg Kritik des schlechten, geizigen und ungerechten Fürsten sowie schmeichlerischer und intriganter Höflinge, aber keine Systemkritik. Obwohl Ariosts genealogischer und panegyrischer Diskurs zweifellos von gegenläufigen Stimmen durchzogen wird, die diesen Diskurs relativieren oder sogar konterkarieren und seinen Geltungsanspruch desavouieren, dürfte er mehr zum perennierenden Ruhm der Este beigetragen haben als irgendein anderer mittelalterlicher oder rinascimentaler Beitrag zur Verherrlichung Ferraras und seines Herrscherhauses. Insoweit ist Baillet als dem prononciertesten Vertreter einer ‚affirmativen‘ Lesart zuzustimmen, der den Orlando furioso als „poème dynastique“ und „‚ferrarisation‘ de l’Enéide“ interpretiert.406 Auf die Aeneis als den dynastischen Referenztext Ariosts und überhaupt auf den literarischen Traditionszusammenhang, in den sich der Orlando furioso einträgt, geht Baillet allerdings kaum ein, so dass ihm auch die Distanznahmen zu diesen unterschiedlichen Erzähltraditionen entgehen. Generell ignoriert Baillet in seiner Interpretation entweder gegenläufige Textstellen oder unterzieht sie einer forciert harmonisierenden Lektüre; bezeichnend ist seine Argumentation gegenüber der paradoxalen Dichtungsapologie des Apostels Johannes, bei der es sich, ähnlich wie bei Durling, letztlich um eine petitio principii handeln dürfte: Faut-il en conclure qu’il démolit là tout ce qu’il construit par ailleurs? Assurément pas. Comment pourrait-il en effet tenter de persuader ses seigneurs de confier le soin d’assurer leur renommé à un émule de Virgile – comme lui – et dénoncer en même temps la légèreté, voire la malhonnêteté des grands poètes épiques? Ce serait absurde.407

Auch ein großer Teil der jüngeren Forschung liest die genealogisch-enkomiastische Erzählung des Furioso affirmativ und interessiert sich vor allem für die Filiation und Modifikation der genealogisch-enkomiastischen Motive und die ‚Geschichte‘ der tragenden Figuren Ruggiero und Bradamante zwischen Strozzi, Boiardo, Ariost und auch darüber hinaus.408 Zugleich richtet sich ihr Fokus jenseits der rein poetischen Referenzen auf das, was ich hier als ‚System‘ des genealogischen Diskurses bezeichnet habe, also auf die gesamte und nicht nur poetische Praxis des genealogisches Herrschaftsdiskurses und seine Funktion. Beides wurde in der älteren For405 S. hierzu die älteren, aber immer noch unentbehrlichen biographischen Darstellungen von Michele Catalano (Catalano 1930) und Riccardo Bacchelli (Bacchelli 1953 (11931)), sowie, die biographische Forschung prägnant zusammenfassend, Looney 2016. S. ferner Masi, der u. a. feststellt: „Ariosto’s bond to the court was not […] merely one of passive dependence, but rather had broad human and literary ramifications.“ (Masi 2003, S. 76). S. auch Larivaille 1990, S. 19, mit ähnlichem Tenor. Zum sozialen und ökonomischen Status Ariosts siehe ferner den ‚klassischen‘ Aufsatz von Carlo Dionisotti „Chierici e laici“ (Dionisotti 1999 (11967), bes. S. 71–73.) 406 Baillet 1977, S. 152; ähnlicher Tenor bei Fichter 1982. Zur Kritik Hempfer 2002 (11983), S. 26, A. 109; Petersen 1990, S. 210. 407 Baillet 1982, S. 94. 408 S. u. a. Dorigatti 2000 u. 2009b; Fortini 2000; Bruscagli 2004 u. 2015.

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schung höchstens beiläufig erwähnt. Die Frage nach der moralischen Legitimität der Ariostschen Enkomiastik, die noch in den sie als ironisch und eben dadurch als moralisch absolviert auffassenden Lektüren mitschwingt, stellt sich der jüngeren Forschung indessen überhaupt nicht mehr.409 Während aber die ‚ironischen‘ und dekonstruktivistischen Interpreten der genealogischen Erzählung Ariosts in Unkenntnis ihres politischen und generell ihres soziokulturellen Kontextes oder in methodologisch begründeter Leugnung von dessen Relevanz sowie in Folge einer stark selektiven Lektüre gerade die potentiell ‚subversiven‘ Aspekte dieser Erzählung betonen und letztlich überbetonen, bleiben diese Aspekte in der neueren motivgeschichtlichen und textgenetischen Forschung ein weitgehend blinder Fleck. Wie bereits angemerkt, geht etwa Dorigatti charakteristischerweise auf die Mondepisode mit keinem Wort ein. Ähnliche Enthaltsamkeit üben auch die einschlägigen Publikationen Bruscaglis und anderer zum Thema, ganz als wolle man sich der Volatilität der johanneischen Rede, die jeder Möglichkeit zur Vereindeutigung den Boden entzieht und so viele gegensätzliche Interpretationen stimuliert hat, als einer Zumutung verweigern.410 Generell fällt in neueren Publikationen ein fast schon ostentatives Desinteresse für die besondere Modalisierung des Ariost’schen Diskurses auf, sein raffiniertes Spiel mit der Intertextualität, seine Autoreflexivität und seine paradoxen Selbstreferenzen, Rahmenbrüche und ironischen Fußangeln, die ‚postmoderne‘ Leser des Furioso, so unterschiedlich und so anfechtbar ihre Lektüren im Einzelnen auch sein mögen, fasziniert haben und die damit zweifellos den Blick auf Textphänomene geöffnet haben, die zuvor unbemerkt oder unterbelichtet geblieben waren und die jetzt anscheinend wieder unbemerkt bleiben sollen. Mir geht es nun im Folgenden nicht darum, eine der hier resümierten Positionen gegen die andere zu verfechten, sondern nach den strukturinhärenten Ermöglichungsbedingungen kritischer Distanzierung vom eigenen Projekt zu fragen: Welche diskursiven, insbesondere erzählerischen Verfahren und Strategien lassen in einem Epos mit offenkundig affirmativer genealogischer Programmatik und Tendenz zugleich eine Ebene kritischer Distanz zu eben dem Herrschaftsdiskurs sich ausbilden, zu dem der Autor, der die ideologischen Prämissen dieses Diskurses vermutlich weitgehend teilt, im Exordium seiner „opera d’inchiostro“ sich verpflichtet hat? Die große Amplitude gegensätzlicher Lesarten, die im Orlando furioso entweder vorbehaltlose Affirmation der genealogischen Enkomiastik (Baillet) oder aber 409 S. die weiter oben (S. 136) zitierten Stellungnahmen Fortinis und Dorigattis. 410 Scianatico 2005 verweist auf den „discorso paradossale sulla storia/letteratura del canto lunare“ (ebd. S. 236), vertagt die Auseinandersetzung mit dieser Rede aber auf einen späteren Zeitpunkt; Stimato 2009 geht zwar auf das Ippolito-Enkomion Giovannis ein (ebd. S. 214 ff.), nicht aber auf den anschließenden „discorso paradossale“ (Scianatico) des Apostels, der dieses Enkomion in eine völlig neue Perspektive rückt. Fortini 2000 erwähnt das ‚lunare‘ IppolitoEnkomion (ebd. S. 153 und 167), schweigt aber über Johannes’ Dichtungsapologie und ihre Invertierung geschichtlicher Überlieferung vollständig. Auch Jossa 2003 ignoriert die Mondepisode und andere, seiner dezidiert ‚affirmativen‘ Interpretation entgegenlaufenden Aspekte komplett. Ebenso Looney 2016, der den Status Ariosts als cortegiano und sein Verhältnis zum Ferrareser Hof ins Auge fasst. Alle genannten Autorinnen und Autoren haben kaum einen Blick für die erzählsubjektzentrierte und metanarrative Dimension des von ihnen untersuchten Textes und die daraus resultierenden Implikationen für den genealogisch-enkomiastischen Diskurs.

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deren radikale Dekonstruktion (Quint) erkennen wollen, legt ohnehin die Vermutung nahe, jede Vereindeutigung, jede Festschreibung einer Position könnte letztlich unangemessen sein. Überhaupt erscheint es als wenig wahrscheinlich, ein so komplexer und außerordentlich vielstimmiger Text wie der Furioso, dessen Autor einerseits in einem für ihn praktisch unentrinnbaren und ‚existentiellen‘ Abhängigkeitsverhältnis zum primären Adressaten, Gegenstand und Profiteur dieses Textes, dem Herrscherhaus der Este, steht und der andererseits höchst souverän und virtuos von den spezifischen Lizenzen dichterischer und fiktionaler Rede zu profitieren weiß, könne auf eine unzweideutige propositionale Haltung in der Frage der Fürstenenkomiastik heruntergebrochen werden. Zu diesen Lizenzen, über die gelehrte Textsorten, Historien, Annalen, Kommentare, gar nicht oder nicht im selben Umfang verfügen, gehören natürlich in erster Instanz die Register der uneigentlichen Rede, der Ironie, der Satire, der Parodie und der Paradoxie, die auf semantische Ambivalenzen und Polyvalenzen zielen und damit Spielräume der Referentialisierung und der Interpretation eröffnen. Die mal drastischen, mal subtilen Interferenzen von Ernst und Komik, von Affirmation und ironischer Negation, die daraus resultieren, bedeuten für die moderne Rezeption nicht nur von Ariosts Romanzo, sondern von Renaissancetexten überhaupt, eine prinzipielle und notorische Schwierigkeit. Im Orlando furioso, in dem eine Vielzahl von Diktionen und Modi – von den Stillagen der antiken Epik über die des petrarkistischen Diskurses bis hin zu den kolloquialen und burlesken der Cantari, der Novellistik, der lukianschen Satire, der Komödie und sogar den rhetorischen Versatzstücken agonaler gelehrter Gattungen wie der Disputation411 – zum Einsatz kommt, begegnet man dieser irreduziblen Verschränkung von Ernst und Ironie oder, um einen zeitgenössischen Terminus aufzugreifen, einem serio ludere, in exzeptionellem Maße. Dabei ist das serio ludere im Orlando furioso nur der Sonderfall jener „Diskrepanzstruktur“, von der hier im Anschluß an Klaus W. Hempfer bereits die Rede war.412 Gemeint ist damit ein für den gesamten Text konstitutiver und auf seinen verschiedenen Strukturebenen nachweisbarer Rekurs auf divergente Diskurs- und Gattungstraditionen sowie ihnen zugehörige argumentative, stilistische und generell diskursive Register, deren Neben- und Gegeneinander in Antinomien und Paradoxien resultieren und unaufgelöst bleiben kann. In Anbetracht teils derselben, teils anderer Textphänomene wie bei Hempfer und in offenkundiger Antithese zu Croces Formel von Ariost als dem Dichter der armonia und seines Epos als deren poetischer Verherrlichung, charakterisiert auch Giulio Ferroni den Furioso als „poema della 411 Letzteres etwa in O. F. XLII, 21; gegen den angeblichen Einwand eines Lesers gegen die topographischen Kenntnisse des Erzählers antwortet dieser: „Alla quale obiezion così rispondo“. Bei dem kritischen Leser soll es sich um Federico Fregoso handeln, einen der Hauptsprecher in Castigliones Libro del Cortegiano, dem wohl berühmtesten Beispiel des rinascimentalen Dialogs als einer schriftlichen und humanistisch-höfischen Sublimationsform der primär oralen universitären Disputationskultur, in der Opponenten- bzw. Proponentenrollen durch eben solche formelhaften Wendungen, die Ariost hier offenkundig zitiert, explizit gemacht wurden. Zum Verhältnis von Disputation und Dialog s. Traninger 2012 sowie, am Beispiel Tassos, Häsner 2015. 412 S. oben, S. 78.

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contraddizione“.413 Ebenso wie für die Enkomiastik lassen sich derartige textuell inszenierte und keineswegs als Inkohärenz zu verbuchende Diskrepanzen oder contraddizioni auch für andere Themen und Motive, Sequenzen und Episoden bis hin zu mikrostrukturellen Einheiten oder einzelnen Syntagmen aufzeigen; letzteres etwa in folgender Passage, in der sich der Erzähler anschickt, die kapitale Bestrafung zu kommentieren, die Pinabello (der oben erwähnte Exponent des Hauses Maganza im Orlando furioso) durch die Hand Bradamantes erlitten hat, nachdem er dieser eine tödliche Falle gestellt hatte, der die estensische Urahnin allerdings durch göttliche Fügung entgehen konnte, um stattdessen einer ersten Offenbarung ihrer glorreichen dynastischen Zukunft teilhaftig zu werden: Or vedi quel ch’a Pinabello avviene per essersi portato iniquamente: è giunto in somma alle dovute pene, dovute e giuste alla sua ingiusta mente. E Dio, che le più volte non sostiene veder patire a torto uno innocente, salvò la donna; e salverà ciascuno che d’ogni fellonia viva digiuno (O. F. XXIII, 2)

Die propositionale Diskrepanz, die von diesen Versen erzeugt wird und die Irritation, die von ihnen ausgeht, liegt in dem „le più volte“, das die Güte und Gerechtigkeit des göttlichen Waltens, die als absolut und notwendig zu denken sind, zu einem okkasionellen und letztlich kontingenten Ereignis werden lässt und damit en passant grundlegend in Frage stellt.414 Besonders vielschichtig und prägnant manifestiert sich die Diskrepanzstruktur im Kontext einer querelle des femmes, von der im Zusammenhang der Fiammetta-Episode bereits die Rede war und in der die mal misogynen, mal ‚feministischen‘ Positionsnahmen des Erzählers brüsken, angeblich affektgesteuerten Oszillationen unterliegen.415 Krasse Antithetik solcher und ähnlicher Art kann als diskursiver Niederschlag epistemischer Turbulenzen im Zeichen unbewältigter Pluralisierung verstanden werden,416 zumal diese Antithetik auch andere Diskurse und Gattungen der Epoche auszeichnet, etwa den erotischen Diskurs417 oder den Dialog als eine der zeitgenössisch präferierten Gattungen des theoretischen Diskurses, dessen oft komplexe Agonalität geradezu als Epochensignatur gelten kann, insbesondere in seiner lukianesken Spielart.418 413 Ferroni 2008, Kap. VIII, S. 178–215. 414 S. hierzu auch Petersen 1990, S. 200. Weitere Beispiele für die beiläufige Relativierung oder Unterwanderung von Gewissheiten wären das „stimato“ aus O. F. I, 2, 2, mit dem das topische Attribut Orlandos, ‚weise‘ zu sein, zur anfechtbaren Meinung degradiert wird (s. o. S. 144, A. 280) oder die in einem Nebensatz erwogene Irrtumsgefährdung numinosen Offenbarungswissens in III, 2, 6–7 (s. o. S. 148). 415 Siehe hierzu oben Kap. 5.2. Dort auch entsprechende Literaturhinweise. 416 S. Hempfer 1987a, 1993a und 2010b. 417 S. Hempfer 1988. 418 S. Hempfer 1987a, 1993b und 2004; Häsner 2002 und 2004. Zum lukianesken Dialog s. Häsner/Lozar 2006. Zu Rekursen auf Lukian und auf lukianeske Texte im Furioso (insbesondere in der Mondepisode) s. Häsner 1989.

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Im Orlando furioso ist diese Diskrepanzstruktur nicht zuletzt Funktion einer Liaison von an sich kaum kompatiblen und kommensurablen Gattungen und Diskurstypen, die in den cantari als dem literaturhistorischen Vorlauf des Romanzo gerade durch deren ‚Volkstümlichkeit‘, gering ausgeprägtes Gattungsbewusstsein und überhaupt relativ schlichte, poetologisch nicht-kodifizierte Literarizität möglich oder jedenfalls begünstigt wurde. Im sogenannten romanzo d’autore, bei Pulci, Boiardo, Cieco da Ferrara und vor allem bei Ariost, ist die Kombination, Überlagerung, aber auch Agglutination unterschiedlicher Gattungen, Diskurse und korrespondierender Diktionen und Stillagen dagegen zum hochartifiziellen und virtuos beherrschten Diskursspiel geworden. Die Hybridität des Romanzo und insbesondere des Furioso wurde bereits von den Zeitgenossen oder jedenfalls der zweiten Rezipientengeneration vermerkt und konnte, als nicht harmonisierbar mit den Kategorisierungen der Aristotelischen Poetik, zum gattungspoetischen Problem werden.419 In der Forschung spielt der Aspekt der Gattungsmischung oder -hybridisierung und überhaupt der verschiedenen generischen Provenienzen des Romanzo spätestens seit Pio Rajnas Quellenforschung ebenfalls eine überragende, wenn auch nicht mehr – zumindest nicht explizit – als normpoetisches Problem verstandene Rolle.420 Allerdings wird die Frage der Gattungshybridisierung häufig immer noch auf zu einfache binäre und längst widerlegte Formeln gebracht, die etwa den Romanzo aus einer Verschmelzung von Karlsepik und höfischem Roman (matière de France und matière de Bretagne) hervorgehen oder in strikter Opposition zum Epos sehen,421 während tatsächlich, insbesondere für den Furioso, weitaus mehr konsti419 S. Hempfer 1987b; Javitch 1991; Jossa 2002; Ferroni 2008, S. 132–136. 420 Daniel Javitch macht allerdings geltend, dass eine normative Gewichtung, die das Epos gegenüber dem Romanzo als die gediegenere und überlegene Gattung priorisiert, auch noch die moderne Sichtweise vielfach bestimme (Javitch 2010, S. 391 f.) Ich halte diese Beobachtung, die Javitch an Versuchen festmacht (er nennt insbesondere Quint 1979 und Zatti 1990), den Furioso als Epos zu ‚retten‘ (siehe die folgende A. 421) für zutreffend. Die Ausweisung des Orlando furioso aus dem weltliterarischen Kanon (zuletzt ganz explizit bei Harold Bloom, The Western Canon, New York 1994) dürfte, neben anderen Gründen, damit zu tun haben, dass er Erwartungen, die sich an ‚Epizität‘ heften, vor allem eine gewisse ‚weltanschauliche‘ Verbindlichkeit und Erbaulichkeit, enttäuscht. Bereits Jakob Burckhardt hat sich über eine falsche Erwartungshaltung gegenüber dem Orlando furioso und Ariost lustig gemacht, die (obgleich Burckhardt dies so nicht sagt) sowohl auf eine anachronistische Perspektive wie auf ein gattungspoetisches Missverständnis verweisen dürfte: „[…] von einem so gewaltig begabten und berühmten Dichter nämlich hätte man gerne überhaupt etwas anderes als Rolandsabenteuer u. dgl. Er hätte sollen in einem großen Werke die tiefsten Konflikte der Menschenbrust, die höchsten Anschauungen der Zeit über göttliche und menschliche Dinge, mit einem Worte: eines jener abschließenden Weltbilder darstellen, wie die göttliche Komödie und der Faust sie bieten.“ (Burckhardt 1976 (11860), S. 303). Wenn die Chronologie dies nicht ausschlösse, könnte man meinen, Burckhardts Sarkasmus richte sich unmittelbar gegen De Sanctis, der, wie oben erwähnt, Ariost zwar einen ersten Preis in poetischer Artistik zuerkennen, ihm das Prädikat des wahrhaften Dichters wegen des angeblich fehlenden Wertekanons aber vorenthalten wollte. 421 S. hierzu kritisch Sangirardi 2009 und Hempfer 2013 sowie Hartung 1991. Ferner Javitch, der zu Recht gegen die verbreitete Auffassung argumentiert (Javitch bezieht sich v. a. auf Carne-Ross 1976 und Quint 1979), die generische Hybridität des Furioso manifestiere sich als makrostrukturelle Zweiteilung des Textes in einen ersten ‚romanzesken‘ und einen zweiten ‚epischen‘ Teil (Javitch 2010; s. auch oben, S. 160, A. 318 sowie die vorangehende Anm. 420).

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tutive generische Referenzen im Spiel sind. Die Frage der Hybridisierung wird im Übrigen weitgehend auf poetische Gattungen beschränkt, während es dabei ebenso, wie hinsichtlich des genealogischen Diskurses beispielhaft deutlich werden konnte und wie sich auch in Hinblick auf den religiösen Diskurs zeigen lässt, um eine Überlagerung oder Verschränkung distinkter Diskursbereiche von unterschiedlicher epistemischer Valenz gehen kann.422 Ferner steht im Kontext der Gattungsund Hybridisierungsthematik vorwiegend die trans- oder intertextuelle Zirkulation von Sujets und Motiven im Vordergrund, Elementen der histoire und höchstens noch Aspekte der elocutio, der unterschiedlichen rhetorisch-stilistischen Arsenale, aus denen Ariost schöpft, nicht aber die Aneignung, Verknüpfung, Modulation oder Transformation differenter gattungsspezifischer Erzählweisen und Erzähllogiken. So fehlen weitgehend Untersuchungen, die etwa das Erzählsubjekt oder, allgemeiner gesprochen, die Vermittlungsinstanzen in Epos, chanson de geste, höfischem Roman und Romanzo vergleichend in den Blick nehmen oder, damit zusammenhängend, unterschiedliche Weisen der narratorialen Zeitdisposition, Formen der Evidentialisierung und generell der temporalen Strukturen in den einzelnen epischen Genera.423 Auf einige dieser Punkte, vor allem auf damit zusammenhängende mikro- und makrostrukturelle Aspekte des entrelacement, bin ich in den Kapiteln 4 und 5 näher eingegangen. Zunächst – und natürlich weiterhin mit Bezug auf den Furioso als genealogisches Epos – möchte ich einen makrostrukturellen Effekt hervorheben, der aus der Überlagerung und Kontamination von Erzähltraditionen resultiert, denen jeweils höchst unterschiedliche, vielleicht sogar inkompatible Geschehensdynamiken und Erzähllogiken zuzuordnen sind. Mit der Genealogie nimmt Ariost ein spezifisches Modell historiographisch-narrativer Komplexitätsreduktion in Anspruch, das für den geschichtlichen Verlauf ein Maximum an Kohärenz reklamiert, indem es ihn an ein Prinzip der Konsanguinität, der familiären Erbfolge bindet. Die genealogische Reihe soll gleichsam einen lichten, begehbaren und lückenlosen Pfad in das Dickicht der Geschichte legen, zumal wenn die dynastische Abfolge, in religiöser Überhöhung, unter dem Segen der göttlichen Vorsehung steht. Dieses Geschichtsmodell kontrastiert nun in größtmöglicher Weise der charakteristischen histoire-Struktur des Romanzo, eben der des entrelacement, die er von der altfranzösischen Ritterepik ‚geerbt‘ und zugleich transformiert hat. Während die genealogische Erzählung, deren autoritatives und auch von Ariost vorran422 S. hierzu auch Hempfer 2010b, bes. S. 83 f. 423 Zum Erzählsubjekt des Furioso s. die nach wie vor maßgeblichen Arbeiten von Klaus W. Hempfer (Hempfer 2002 (11982), 1995 und 1999) und Franz Penzenstadler (Penzenstadler 1987). Zu den metaleptischen oder ‚performativen‘ Aspekten des Ariostschen Erzählens s. auch Häsner 2005. Zuletzt hat Marco Praloran Erzählstrukturen und Zeitordnungen in der arthurischen Epik einerseits, bei Boiardo und Ariost anderseits vergleichend untersucht. Pralorans zahlreiche Arbeiten zum Thema gehen deutlich über frühere Forschungen (etwa Delcorno Branca 1968 u. 1973) hinaus, die vor allem Motivfiliationen untersucht und nur sehr rudimentär erzähltechnische Konstanten und Differenzen herausgearbeitet haben. Praloran betont zu Recht die weithin unterschätzte Bedeutung der arthurischen Tradition, gerade auch hinsichtlich der Erzählweise. Dafür kommt bei ihm allerdings die antike Epik zu kurz, ebenso die semiorale cantari-Tradition. Auch ist, worauf ich bereits hingewiesen habe, sein entrelacement-Begriff subkomplex, u. a. weil ihm der Aspekt der Subjektivierung fehlt.

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gig referenziertes episches Modell die Aeneis ist, auf einen einzelnen Helden oder auf eine Abfolge von einzelnen Helden fokussiert und Digressionen meidet, setzt die Erzählweise des entrelacement ihren Ehrgeiz gerade in die Generierung polyzentrischer und figurenreicher Erzählwelten, in denen sich eine Vielzahl von Geschichten oder, Calvino paraphrasierend,424 von ‚Schicksalen‘ kreuzen und durchkreuzen; in der für diese Erzählweise typischen Vielsträngigkeit und Digressivität werden komplexe Kausalitäten, ein von multiplen und gegenläufigen Faktoren bestimmtes Bedingungsgefüge zur Darstellung gebracht, das von den meisten Bewohnern dieser erzählten Welt als schiere Kontingenz, als blindes Walten der Fortuna erfahren wird und sich nur wenigen Privilegierten als providenzgeleitetes Geschehen in seiner Notwendigkeit offenbart – im Furioso sind dies vor allem Ruggiero und Bradamante, aber auch Astolfo, der Protagonist der Mondreise, sowie die Feen Melissa und Logistilla, die Magier Atlante und Merlin sowie der Apostel Johannes, die als Träger eines ‚höheren‘ Wissens die zunächst noch Unerleuchteten unterweisen.425 Die Erzählweise des entrelacement, zumal in ihrer Ariost’schen Interpretation, ist gleichsam das narrative Korrelat einer Vorstellung von Geschichte als kontingentem und diskontinuierlichem Geschehenszusammenhang, in deren Namen die genealogische Geschichtskonstruktion, wie gesehen, grundsätzlicher Kritik verfallen konnte. Angesichts der Kette von militärischen und politischen Katastrophen, deren Zeugen sowohl Boiardo wie auch Ariost waren, wird man sagen können, dass es sich dabei durchaus auch um eine erfahrungsbasierte Vorstellung handelt. Der Konflikt zwischen linear-zielgerichteter genealogischer und insofern ‚epischer‘ Erzählung sowie der ‚romanzesken‘ Pluralisierung erzählter Ereignisketten, der bereits bei Boiardo virulent ist, wird nun im Furioso zugespitzt und manifest. Einerseits wird bei Ariost das genealogische Erzählprogramm viel stringenter umgesetzt als bei Boiardo. Vor allem nutzt Ariost die Möglichkeit einer genealogischen Erzählung, Vergangenheit und Gegenwart als Kontinuum, als lückenlose Sequenz von Personen und Ereignissen darzustellen, ungleich konsequenter als sein Vorgänger, nicht zuletzt dadurch, dass er die genealogische Reihe in seine unmittelbare Erzählgegenwart einmünden lässt und damit ihre epistemische Verbindlichkeit, aber natürlich auch Falsifizierbarkeit stärkt. Andererseits wird im Furioso aber auch die Erzählweise des entrelacement, der Dynamik seiner Ausdifferenzierung folgend, radikalisiert. Radikalisiert wird diese Erzählweise vor allem dadurch, dass ein ihr von Beginn an – d. h. seit dem höfischen Roman – inhärentes Moment der Subjektivierung, der mehr oder weniger diskreten Präsenz eines Erzählsubjekts als dem diskursiven Verwalter der zu erzählenden Materie, deutlich gestärkt erscheint. Gestärkt zum einen hinsichtlich einer (gegenüber dem höfischen Roman) höheren Frequenz seiner Interventionen oder autoreflexiven Kommentare, die eine Folge potenzierter Vielsträngigkeit, der Vermehrung zu erzählender Seiten- und Nebensträngen der histoire ist; zum anderen erscheint das Erzählsubjekt mit größeren Kompetenzen ausgestattet und schließlich mit ‚performativer‘ Wirkmacht, so dass 424 Calvino, Il castello dei destini incrociati (1969). 425 Erst ganz am Ende, im Kontext des padiglione nuziale, trifft diese Unterweisung auf ein größeres Publikum.

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es als der Urheber nicht mehr nur der Erzählung und ihrer diskursiven Organisation, sondern des erzählten Geschehens und der genealogischen Reihe selbst auftritt, mithin an die Stelle der Providenz rückt. Eben dieser Effekt einer paradoxen Koinzidenz von res und verba konnte auch in der mehrfach zitierten Szene um den zu ertrinken drohenden Ruggiero im Format von drei Verszeilen auf prägnante Weise deutlich werden. Bei Ariost stiftet die Genealogie nicht nur Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das Kontinuum von Vergangenheit und Gegenwart wird zum Kontinuum von Fiktion und Wirklichkeit; im Orlando furioso wird zwischen beiden ein Bedingungsverhältnis geltend gemacht, das jene als Ursache dieser einsetzt, also die Fiktion priorisiert. Dies ließe sich zwar aus kritischer Perspektive – etwa der Muratoris, wenn er den geringen divario zwischen den poetischen Genealogien und denen der Historiker konstatiert – über den genealogischen Diskurs generell sagen, bei Ariost aber wird diese ‚verkehrte‘ Kausalität transparent und als unhintergehbar einsichtig. Die Genealogie, realisiert mit den Mitteln und im Modus eines radikalisierten, in seinen Möglichkeiten erweiterten entrelacement, wird kenntlich als eine narrativen Strategie der Entgrenzung von Fiktion und Nicht-Fiktion. Im Furioso überlagern oder verschränken sich also zwei alternative Weisen, Geschichte bzw. Geschichten zu erzählen, zwei Erzählmodelle, die auf unterschiedliche ‚Weltmodelle‘ verweisen: zum einen Geschichte als lineare, auf ein prästabiliertes Ziel ausgerichtete Ereignisfolge; zum anderen Geschichte als ein komplexes Gewebe einzelner Erzählfäden oder als Netzwerk scheinbar zufällig sich kreuzender und durchkreuzender Kausalketten. Die Überlagerung dieser beiden Erzählweisen oder Erzähllogiken resultiert in einem narrativen Diskurs, der fortwährend mit seiner Alternative konfrontiert ist und dadurch zu seinem eigenen Kommentar wird. Anders gesagt: Indem Ariost das entrelacement als eine Erzählweise, deren Strukturprinzip die Digression und die Aktualisierung potentiell unendlicher Erzählmöglichkeiten ist, auf ein genealogisches Sujet appliziert, das strikte Notwendigkeit und Linearität des final orientierten erzählten Geschehens einfordert und dessen Verzweigung gerade zu vermeiden sucht, konstituiert er einen Metadiskurs. Dieser zumeist implizite, gelegentlich und punktuell aber auch explizit werdende Metadiskurs führt vor, dass die genealogische Erzählung (also die Geschichte Ruggieros und Bradamantes) eine weitgehend arbiträre Selektion aus einem gänzlich heterogenen Ereigniskontinuum ist, das sich der strikten Finalität der genealogischen Serie nicht fügt – anders gesagt: Er führt vor, dass die genealogische Erzählung nur eine von zahlreichen Möglichkeiten ist, Geschichte zu konstruieren. Dies ist, so scheint mir, nicht dasselbe wie eine bloße ironische Subvertierung der Genealogie und ihrer enkomiastischen Funktionalisierung und auch nicht dasselbe wie deren Dekonstruktion über ein selbstreferentielles Spiel von Signifikanten, in dem jeder Bezug auf eine historische Realität außerhalb der Texte aufgelöst wäre. Der genealogiekritische Metadiskurs des Furioso diskreditiert die Genealogie und die Enkomiastik nicht, sondern er ersetzt ihr Subjekt. Er lässt sichtbar werden, dass geschichtliche Kontinuität und Kohärenz und damit die Intelligibilität, die der genealogische Diskurs postuliert, eine Diskursfunktion sind und keine Eigenschaft des geschichtlichen Verlaufs selbst; sie sind weder auf providentielles Walten

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noch auf die konsanguinale Weitergabe von Tatkraft, Weisheit, Großmut und anderen Herrschertugenden zurückzuführen, sondern auf diskursive Aktivitäten, namentlich solche der Dichter. Dieser Metadiskurs macht damit nicht nur die Konstitutionsbedingungen von Geschichte transparent, sondern überführt zugleich Herrscherenkomiastik in Dichterenkomiastik.

7 SCHLUSS Der Orlando furioso ist zweifellos ein Gipfelwerk epischen Erzählens in seinen postantiken Ausprägungen und konnte, wenngleich kontrovers diskutiert, bereits von seinen Zeitgenossen innerhalb wie außerhalb Italiens als ein solches erkannt werden. In seinem unmittelbaren Entstehungs- und Rezeptionskontext fungiert Ariosts romanzo cavalleresco aber zugleich als konstitutiver Beitrag zu einem genealogischen Diskurs, den man sich in Mittelalter und Früher Neuzeit als allgegenwärtig vorzustellen hat und der seine Adressaten von den Ursprüngen gegenwärtiger Herrschaft in weit zurückliegenden, vorzugsweise troianischen Zeiten überzeugen oder sie in dieser Überzeugung bestärken soll. Im estensischen Ferrara, das sich stets darauf angewiesen sah, realpolitische Schwäche durch die Bildung symbolischen Kapitals zu kompensieren, wurde der legitimatorische Diskurs der Genealogie offenkundig mit besonderer Intensität verfolgt. Die im Zeichen der Genealogie betriebene dynastische Geschichtskonstruktion der Este wie auch anderer Herrscherhäuser hat die Konturen eines interdiskursiven Systems, einer plurimedialen und plurigenerischen Überzeugungsoffensive, die nicht zuletzt durch ihre schiere Massierung und Omnipräsenz historische Evidenz produzieren soll. Der Furioso ist Teil dieses Systems und erfüllt in ihm die spezifischen affirmativen Funktionen eines poetischen, insbesondere eines epischen enkomiastischen Textes: Vor allem überführt er die Fragmente der zu glorifizierenden Familiengeschichte in eine kohärente Herkunftserzählung, die zugleich einen fiktiven Ereignisraum für die den dynastischen Protagonisten auferlegten Bewährungsproben schafft, deren mehr oder weniger brillantes Bestehen ihre Befähigung zur Herrschaft unter Beweis stellen soll; damit und indem er der dynastischen Propaganda den Wohlklang und die Suggestivität poetischer Rede verleiht, vergrößert er ferner ihren Resonanzraum und ihre Überzeugungskraft. Schließlich und nicht zuletzt betreibt Ariosts Romanzo die dichterische Immortalisierung des vergangenen wie des gegenwärtigen dynastischen Personals und zielt darüber hinaus auf die Immortalisierung und Nobilitierung seiner selbst und seines Autors, der sein eigenes genealogisches Erzählprojekt zugleich in eine Genealogie illustrer epischer Texte stellt. Während also der Furioso Teil dieses Systems genealogischer Herrschaftspropaganda ist, überschreitet er gleichzeitig dessen Grenzen und legt, die besonderen Möglichkeiten und Freiheiten des poetischen Diskurses nutzend, die Konstitutionsund Geltungsbedingungen dieser Propaganda offen. Er tut dies zum einen ganz explizit mit einer dem Apostel Johannes in den Mund gelegten Apologie der Dichtung, die – wenn auch unter den Kautelen einer paradoxalen Lobrede stehend – dem Dichter nichts Geringeres als absolute Diskurshoheit über die Geschichte bescheinigt. Zum anderen spitzt diese Rede, die ihrerseits die Klimax eines mit komplexen Systemreferenzen orchestrierten metapoetischen Tableaus ist, nur programmatisch zu, was der Furioso im Vollzug seines narrativen Diskurses von Beginn an vorführt. Zentral ist dabei die Erzählweise des entrelacement, die in ihrer Anwen-

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dung auf das sowohl gattungsgeschichtlich – insbesondere durch Vergils Aeneis – wie auch ideologisch präformierte und politisch riskante genealogische Narrativ selbst zum poetologischen oder metanarrativen statement wird; dem Kontinuitätspostulat und der finalistischen Logik der Genealogie stellt diese Erzählweise das Abbild einer chaotischen Welt gegenüber, die von einer Vielzahl sich kreuzender oder durchkreuzender und scheinbar kontingenter Kausalitäten bestimmt wird, deren jeweilige Priorisierung ganz und gar den Entscheidungen der Erzählinstanz unterliegt. Transparent wird damit, dass die Geschichte eine poetische Konstruktion ist – die, wenn nicht willkürliche, so doch wahrheitsindifferente Selektion aus einem Kontinuum lebensweltlich erfahrenen bzw. literarisch tradierten, fiktiven wie faktischen ‚geschichtlichen‘ Materials und dessen mehr oder weniger interessenund perspektivengeleitete Proliferation und Rekombination. Der Furioso lässt offenkundig werden, dass auch das, was am genealogischen und generell am historiographischen Diskurs verifizierbaren Tatsachen entsprechen mag, unweigerlich einem Gewebe von Fiktionen eingelagert ist. Die dichterischen Erfindungen oder Konjekturen sind allerorten fundierend für die dynastischen ‚Fakten‘, und erst diese Erfindungen und Konjekturen verhelfen dem genealogischen Konstrukt zu seiner unabdingbaren Kohärenz. Nur die Dichtung, die ohnehin als Einzige Zugang zu den frühesten Anfängen der dynastischen Geschichte hat, kann die Einlösung des genealogischen Kontinuitätspostulats garantieren. Anders gesagt: Die politischen Fakten ruhen selbst auf einem Fundament poetischer Fiktionen; die Dichtung geht der Realität (oder was jeweils dafür gehalten wird) voraus, beides bildet ein Kontinuum. Die vom Apostel Johannes explizit gemachte Beförderung des Dichters zum Hegemon der Geschichte gibt zugleich zu verstehen, dass der ‚Sinn‘ der Geschichte, anders als in den enkomiastischen Herrschergenealogien reklamiert oder präsupponiert, nicht vorgegeben, nicht durch die göttliche Providenz oder eine andere, ihr immanente Finalität, deren Sprachrohr der Dichter wäre, verbürgt ist. Vielmehr ist jeglicher ‚Sinn‘ der Geschichte eine Konstruktion post festum, deren prädestinierter Urheber eben der Dichter ist. ‚Prädestiniert‘ ist er freilich nicht durch numinose, sondern durch rein professionelle Berufung, durch exklusive Kompetenzen und Lizenzen, die es ihm erlauben, der Geschichte als opera d’inchiostro gültige und definitive Gestalt zu verleihen. Sowohl die Geschichte wie auch der von ihr erzählende Dichter erfahren damit eine rigorose Profanierung. Eben darin wird man vielleicht ein Moment von Aufklärung avant la lettre erkennen und in diesem Sinne den Furioso zwar nicht als postmoderne, aber als neuzeitliche Einsichten oder Einstellungen vorwegnehmende frühneuzeitliche Dichtung lesen können. Die durchaus gewagte und über die ihrerseits schon selbstbewussten humanistischen Poetiken hinausgehende Positionierung des Dichters und der Dichtung hat ein erzähltechnisches Korrelat, das zunächst auf mikrostruktureller Ebene zu situieren ist, aber auf die Makrostruktur des Textes durchschlägt: eine ‚Performativierung‘ der Erzählweise des entrelacement, deren unmittelbare Effekte ich auf die Formel einer implizit bleibenden ‚Poetik der Präsenz‘ gebracht habe. Diese Poetik geht darin über die klassische rhetorische evidentia hinaus, dass sie das Erzählte nicht lediglich mit dem Ziel der Empathiesteigerung als ein zu Imaginierendes „vor Augen stellt“, sondern es als eine im Akt des Erzählens gezeugte Welt kenntlich

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werden lässt, die so substanzhaft sein soll, dass sie ihrerseits Wirkungen in der erzählenden Welt hervorbringt. Dabei ist Ariosts Innovation nicht voraussetzungslos; sie knüpft vielmehr unmittelbar an die ‚performative‘ Umwandlung der entrelacement-Formularik in den cantari sowie bei Pulci, Boiardo und Cieco an, transferiert diese aber auf ein ‚ernsthafteres‘ und poetologisch gewichtigeres Niveau. Vor allem lässt sie das performative Erzählen und seine brisanten Effekte strukturbildend werden, indem sie es auf das Sujet der Este-Genealogie und damit auf einen ‚historischen‘ und zugleich ideologisch und politisch brisanten Gegenstand appliziert. Ariost hat im Orlando furioso dem Erzählen als einem spezifischen „way of worldmaking“ (im Sinne Nelson Goodmans) neue Möglichkeiten erschlossen: Die Darstellung einer Welt als komplexes Bedingungsgefüge, in dem keine einzelne Kausalkette priorisiert ist und deren Einheit sich nur unter der Perspektive des diese Welt erzählenden Betrachters herstellt, wobei diese Perspektive notwendig eine vollständig immanente ist, die auf Erleuchtung durch transzendente Instanzen nicht hoffen kann und dieser auch nicht bedarf. Das ‚Neue‘ dieses Erzählens hat man sich aber keineswegs als Umsetzung oder als Exemplifikation vorgängiger poetologischer Programme oder sonstiger theoretischer Konzepte oder ideologischer Dispositionen vorzustellen, sondern primär als Effekt eines ‚Durchspielens‘ oder spielerischer Erprobung narrativer Möglichkeiten, als performance eines sich aus unterschiedlichen Erzähltraditionen speisenden und souverän über diese verfügenden dichterischem knowing how. Das soll selbstverständlich nicht heißen, Ariost hätte nicht gewusst, was er tat. Vielmehr darf man davon ausgehen, dass er sich der Effekte und Implikationen seiner erzählerischen ‚Experimente‘, vor allem der Unterminierung einer der Geschichte angeblich inhärenten stringenten Logik, mehr oder weniger bewusst war und sie auch in den Grenzen der ihm verfügbaren Konzepte thematisiert. Namentlich in der Mondepisode, in der Rede des Apostels Johannes, wird die paradoxale oder metaleptische Kausalität, die den historischen res die poetischen verba vorangehen lässt, explizit gemacht. Vorbereitet und flankiert wird diese Rede überdies durch die Zitation von Sinnsystemen – der divinatorischen Astrologie sowie der biblisch-neuplatonischen Logostheologie –, die gleichfalls die Relation von Zeichen und Bezeichnetem zugunsten des Zeichens und im Sinne einer Genesis oder Kausalität als performativem Sprechakt hierarchisieren. Wenngleich also die Mondepisode als gültiger Kommentar zur Erzählpraxis des Furioso gelesen werden kann, wobei der Kommentar erst im Licht dieser Praxis sein eigentliches Gewicht erhält, gibt es doch keine völlige Kongruenz zwischen dem in dieser Episode greifbar werdenden poetologischen und epistemologischen knowing that und dem narrativen knowing how, das in Ariosts Epos so brillant zur Vorführung kommt. Vielmehr stiftet dieses knowing how Sinnverknüpfungen, Ambivalenzen und alternative Referentialisierungsoptionen, die von den poetologisch relevanten Explikationen, die sich im Text finden, nicht oder nur partiell eingeholt werden. Vor allem bestimmt Johannes’ paradoxale Dichtungsapologie das Verhältnis von Fiktion und Geschichte viel rigider und weniger komplex zugunsten der Fiktion, als der Text dies in seiner Gesamtheit tut. Insbesondere in den vielen Bezugnahmen des Erzählers auf die widerständige Empirie der unmittelbaren Schreibgegenwart gewinnt eine Realität ‚jenseits‘ des Textes Konturen, die sich dichterischer Aleatorik nicht fügt.

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Klaus W. Hempfer (Hg.) Möglichkeiten des Dialogs Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien 2002. XV, 312 S., kt. ISBN 978­3­515­07953­2 Klaus W. Hempfer / Helmut Pfeiffer (Hg.) Spielwelten Performanz und Inszenierung in der Renaissance 2002. XIV, 163 S., kt. ISBN 978­3­515­07907­6 Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn (Hg.) Petrarca-Lektüren 2003. 246 S., kt. ISBN 978­3­515­08083­5 Marc Föcking / Bernhard Huss (Hg.) Varietas und Ordo Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock 2003. XV, 251 S., kt. ISBN 978­3­515­08258­7 Michael Schwarze Generische Wahrheit – Höfischer Polylog im Werk Jean Froissarts 2003. 341 S., kt. ISBN 978­3­515­08244­0 Susanne Zepp Jorge Luis Borges und die Skepsis 2003. 156 S., kt. ISBN 978­3­515­08343­0 Klaus W. Hempfer (Hg.) Poetik des Dialogs Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis 2004. 191 S., kt. ISBN 978­3­515­08576­2 Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn / Sunita Scheffel (Hg.) Petrarkismus-Bibliographie 1972–2000 2005. XIII, 214 S., kt. ISBN 978­3­515­08618­9 Roger Friedlein (Hg.) Der Renaissancedialog auf der iberischen Halbinsel 2005. 146 S., kt. ISBN 978­3­515­08777­3 Klaus W. Hempfer (Hg.) Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs 2006. 203 S., kt. ISBN 978­3­515­08991­3

25. Ulrike Schneider Der weibliche Petrarkismus im Cinquecento Transformationen des lyrischen Diskurses bei Vittoria Colonna und Gaspara Stampa 2007. 364 S., kt. ISBN 978­3­515­09047­6 26. Klaus W. Hempfer / Anita Traninger (Hg.) Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit Von der Antike bis zur Aufklärung 2010. 374 S., kt. ISBN 978­3­515­09247­0 27. Klaus W. Hempfer (Hg.) Sprachen der Lyrik Von der Antike bis zur digitalen Poesie 2008. 464 S., kt. ISBN 978­3­515­09204­3 28. Barbara Ventarola Kairos und Seelenheil Textspiele der Entzeitlichung in Francesco Petrarcas Canzoniere 2008. 347 S., kt ISBN 978­3­515­08800­8 29. Philipp Jeserich Musica naturalis Tradition und Kontinuität spekulativ­ metaphysischer Musiktheorie in der Poetik des französischen Spätmittelalters 2008. 504 S., kt. ISBN 978­3­515­9219­7 30. Susanne Dürr Die Öffnung der Welt Sujetbildung und Sujetbefragung in Cervantes’ Novelas ejemplares 2010. 303 S., kt. ISBN 978­3­515­09272­2 31. Henning S. Hufnagel Ein Stück von jeder Wissenschaft Gattungshybridisierung, Argumentation und Erkenntnis in Giordano Brunos italienischen Dialogen 2009. 320 S., kt. ISBN 978­3­515­07605­8 32. Ulrike Schneider / Anita Traninger (Hg.) Fiktionen des Faktischen in der Renaissance 2010. 232 S., kt. ISBN 978­3­515­09675­1 33. Anita Traninger Disputation, Deklamation, Dialog Medien und Gattungen europäischer Wis­ sensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus

2012. 332 S. mit 13 Abb., kt. ISBN 978­3­515­10250­6 34. Klaus W. Hempfer Lyrik Skizze einer systematischen Theorie 2014. 91 S., kt. ISBN 978­3­515­10643­6 35. Katharina Kerl Die doppelte Pragmatik der Fiktionalität Studie zur Poetik der „Gerusalemme Liberata“ (Torquato Tasso, 1581) 2014. 417 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978­3­515­10717­4 36. Roger Friedlein Kosmovisionen Inszenierungen von Wissen und Dichtung im Epos der Renaissance in Frankreich, Portugal und Spanien 2014. 214 S. mit 3 Abb. und 14 Tabellen, kt. ISBN 978­3­515­10896­6

37.

Corinna Albert Sehen im Dialog Bedeutungsdimensionen intermedialer Phänomene in den spanischen Renais­ sancedialogen zu Kunst und Malerei 2017. 265 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978­3­515­11711­1 38. Dirk Brunke Das romantische Epos am Río de la Plata Subjektivität und Lyrisierung 2018. 289 S., kt. ISBN 978­3­515­12095­1

Der Orlando furioso ist eine der glanzvollsten Dichtungen der Renaissance und zugleich ein Schlüsselwerk europäischer Erzählliteratur. Nicht zuletzt durch seinen Reichtum an Figuren und Handlungsverläufen hat Ariosts Romanzo stets fasziniert. In seiner Interpretation dieses Textes zeigt Bernd Häsner, wie die virtuose Verflechtung einer Vielzahl von Handlungssträngen und Konstellationen ideologische Prämissen, denen auch der Autor Ariost durchaus verpflichtet war, unterläuft und in Zweifel zieht. Am offenkundigsten wird dies in

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der Herkunftsgeschichte der Este-Dynastie, die Ariost im Orlando furioso zu erzählen beansprucht. Indem er sie jedoch im Modus hochfrequenter Digression erzählt, setzt er sie ‚zentrifugalen‘ Kausalitäten aus, die jede der genealogischen Abfolge angeblich inhärente Logik sabotieren, und die nur im Diskurs, also durch den Erzähler, beherrschbar sind. Explizit gemacht wird diese Poetik vom Apostel Johannes, den Ariost in einer auf dem Mond spielenden Szene verkünden lässt, es seien die Dichter, die über die Geschichte herrschten.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag